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German Pages [328] Year 2020
Marcel Warmt
Konsequentialismus und besondere Pflichten
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ALBER THESEN
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Marcel Warmt
Konsequentialismus und besondere Pflichten
Verlag Karl Alber Freiburg / München
https://doi.org/10.5771/9783495820643 .
Marcel Warmt Consequentialism and Special Obligations Moral action is shaped by two intuitions: 1) we have special obligations towards what is ours and who belongs to our peer group; 2) moral action, however, also requires us to be impartial. As can readily be seen these two intuitions regularly come into conflict. This book shows that a multi-level-consequentialism is capable of resolving the conflict between the two intuitions. In this way Marcel Warmt’s new book also refutes commonplace objections against consequentialism, which claim consequentialism is implausible for its supposed failure to consider special obligations appropriately.
The Author: Marcel Warmt, born in 1985, undertook vocational studies in philosophy, politics and economics at the University of Kassel. He received his PhD from the University of Vechta where he was a research assistant.
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Marcel Warmt Konsequentialismus und besondere Pflichten Moralisches Handeln ist durch zwei Intuitionen geprägt: Wir haben besondere Pflichten gegenüber den Unsrigen, und zum moralischen Handeln gehört die Einnahme eines unparteiischen Standpunktes. Allerdings geraten diese Intuitionen in zahlreichen Situationen in Konflikt miteinander. In dieser Arbeit wird gezeigt, dass der MultiEbenen-Konsequentialismus den Konflikt zwischen den beiden Intuitionen aufzulösen vermag. Im Zuge dessen wird der Einwand, dass konsequentialistische Theorien unplausibel seien, weil sie besondere Pflichten nicht angemessen berücksichtigen, zurückgewiesen.
Der Autor: Marcel Warmt, geb. 1985, studierte an der Universität Kassel die Fächer »Philosophie« und »Politik und Wirtschaft« für das Lehramt an Gymnasien und promovierte als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Vechta.
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Alber-Reihe Thesen Band 77
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Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2019 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-49071-6 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-82064-3
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Inhalt
Teil 1: Grundlagen Kapitel 1: Einleitung: Überzeugende Ideen und deren Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausgangsthese und Vorgehen . . . . . . . . . . . . . . . . . Kriterien zur Bestimmung der Plausibilität einer normativen Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Kapitel 2: Der Besondere-Pflichten-Einwand . . . . . . . . Vier Begriffspaare . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wie der Besondere-Pflichten-Einwand zu verstehen ist . . . . Ergebnis des 2. Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Kapitel 3: Gegeneinwände und Anpassungen . . . . . . . . Gegeneinwände . . . . . . . . . . Theorieübergreifende Anpassungen Theorieabhängige Anpassungen . . Ergebnis des 3. Kapitels . . . . . .
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Teil 2: Theorie Kapitel 4: Grundprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Aggregationsgut . . . . Aggregationsprinzip . . Konsequenzprinzip . . Ergebnis des 4. Kapitels
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Inhalt
Kapitel 5: Sekundärprinzip und Tertiärprinzip . . . . . . . . 148 Zwei Situationstypen in der realen Welt . . . Situationen des ersten Typs: Tertiärprinzip . . Situationen des zweiten Typs: Sekundärprinzip Ergebnis des 5. Kapitels . . . . . . . . . . . .
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148 149 165 172
Kapitel 6: Zuständigkeitsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . 175 Problemanalyse und Lösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zuständigkeitsprozedur und Zuständigkeitsprinzip . . . . . . Ergebnis des 6. Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
176 183 188
Kapitel 7: Handlungscharakterisierung . . . . . . . . . . . . 190 Erlaubte Handlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Supererogatorische Handlungen . . . . . . . . . . . . . . . . Ergebnis des 7. Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
192 195 203
Kapitel 8: Eine plausible Form des Konsequentialismus?
204 205 210
. . Der Multi-Ebenen-Konsequentialismus und Bykvists Kriterien Ergebnis des 8. Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Teil 3: Anwendung Kapitel 9: Besondere Pflichten im Multi-EbenenKonsequentialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 Die Rechtfertigung der Parteilichkeit aus der Unparteilichkeit . Argument der menschlichen Natur . . . . . . . . . . . . . . Argumente der Effizienz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ergebnis des 9. Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
215 216 217 225
Kapitel 10: Individueller Akteur
226 226 229 234
. . . . Anwendung der Argumente . . . . . . . Besondere Pflichten: Individueller Akteur Ergebnis des 10. Kapitels . . . . . . . . .
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Inhalt
Kapitel 11: Familie
. . . . . . . . Was ist unter Familie zu verstehen? Anwendung der Argumente . . . . Besondere Pflichten: Familie . . . . Ergebnis des 11. Kapitels . . . . . .
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Kapitel 12: Freundschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 Was ist unter Freundschaft zu verstehen? Anwendung der Argumente . . . . . . . Besondere Pflichten: Freundschaft . . . . Ergebnis des 12. Kapitels . . . . . . . . .
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Kapitel 13: Kooperationspartner im engeren Sinne . . . . . 265 Was ist unter Kooperationspartner im engeren Sinne zu verstehen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anwendung der Argumente . . . . . . . . . . . . . . . . . Besondere Pflichten: Kooperationspartner im engeren Sinne Ergebnis des 13. Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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265 267 271 272
Kapitel 14: Kooperationspartner im weiten Sinne . . . . . . 273 Was ist unter Kooperationspartner im weiten Sinne zu verstehen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anwendung der Argumente . . . . . . . . . . . . . . . . Besondere Pflichten: Kooperationspartner im weiten Sinne Ergebnis des 14. Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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273 275 281 283
Kapitel 15: Zurückweisung des Besondere-PflichtenEinwandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 Was bedeutet »in angemessener Weise«? . . . . . . . Besondere Pflichten: Kanu-Szenario . . . . . . . . . . Besondere Pflichten: Weltarmutsproblem . . . . . . . Einwände gegen die Verankerung besonderer Pflichten Ergebnis des 15. Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
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Kapitel 16: Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . Was bleibt vom Bild der konzentrischen Kreise? . . . . . . .
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Bibliographie
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Teil 1: Grundlagen
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Kapitel 1: Einleitung: Überzeugende Ideen und deren Konsequenzen
Konsequentialismus ist der Oberbegriff für eine Gruppe normativer Theorien, nach denen die moralische Richtigkeit und Falschheit einer Handlung ausschließlich von den Konsequenzen abhängt. 1 Nach Scheffler liegt konsequentialistischen Theorien eine einfache, aber prima facie überzeugende Idee zugrunde: Consequentialism in its purest and simplest form is a moral doctrine which says that the right act in any given situation is the one that will produce the best overall outcome, as judged from an impersonal standpoint which gives equal weight to the interests of everyone. […] One thing they [the consequentialist theories] all share, however, is a very simple and seductive idea: namely, that so far as morality is concerned, what people ought to do is to minimize evil and maximize good, to try, in other words, to make the world as good a place as possible. 2
In diesem Sinne kann es gemäß dem Konsequentialismus niemals moralisch richtig sein, einen schlechten Zustand gegenüber einem besseren Zustand vorzuziehen. In diesem Sinne schreibt beispielsweise Foot: What is it, let us now ask, that is so compelling about consequentialism? It is, I think, the rather simple thought that it can never be right to prefer a worse state of affairs to a better. 3 Häufig wird der Begriff Konsequentialismus auch direkt als Bezeichnung einer normativen Theorie verwendet. In diesem Sinne würde der erste Satz lauten: Der Konsequentialismus ist eine normative Theorie, gemäß der die moralische Richtigkeit und Falschheit einer Handlung ausschließlich von den Konsequenzen abhängt. Im Grunde genommen ist dies aber ungenau, da der Konsequentialismus keine (vollständige) normative Theorie ist, sondern nur einen Rahmen für diese bereitstellt, den es auszufüllen gilt. Da der Begriff Konsequentialismus in der Literatur aber häufig im Sinne einer normativen Theorie verstanden wird, werde ich diesen Begriff sowohl in dieser als auch in der von mir dargestellten Form verwenden. 2 Scheffler 1988, 1, vgl. auch Bykvist 2010, 1. 3 Foot 1985, 198. 1
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1 · Einleitung
Demgegenüber liegt nach Brink die Attraktivität des Utilitarismus, der die wohl am häufigsten diskutierte Form des Konsequentialismus ist, in seinem Konzept der Unparteilichkeit, welches ein zentrales Element jeder plausiblen Form des Konsequentialismus ist: My own view is that the chief attraction of utilitarianism lies in its interpretation of the concept of impartiality. It is a salient feature of modern conceptions of morality that they aim to overcome parochial concern. It is common to think of the moral point of view as one that asks an agent to transcend his own private concerns and allegiances. 4
Doch während die einen in der strengen Unparteilichkeit des Konsequentialismus eine der größten Stärken sehen, sehen andere darin eine der größten Schwächen: On the one hand, there is no doubt that consequentialism is a deeply impartial moral theory; on the plausible and popular assumption that a moral theory must be deeply impartial, consequentialism meets this criterion with flying colors. […] On the other hand, the impartial demands of consequentialism are so strict and so extreme that some critics have found them unacceptable: consequentialism, they claim, simply demands too much and must therefore be rejected. 5
Letztlich lassen sich sowohl aus der strengen Unparteilichkeit als auch aus der überzeugenden Grundidee zahlreiche Einwände gegen konsequentialistische Theorien vorbringen. So wird beispielsweise eingewendet, dass insbesondere utilitaristische Varianten des Konsequentialismus die Getrenntheit der Personen missachten. In diesem Sinne lautet der bekannte kontraktualistische Einwand: Whereas balancing goods and harms may be acceptable within a life, many think that it is not acceptable to balance goods and harms across lives. On the aggregative conception individual claims may simply be outvoted by a majority. In order to respect the separateness of persons, critics claim, distributions of benefits and harms must be acceptable, in the relevant sense, to each. 6
Brink 2006, 393–394, Hervorhebung im Original. Jollimore 2014, 16, Hervorhebung im Original. Die Seitenangabe bei Jollimore 2014 bezieht sich auf die PDF-Version der Mitglieder der Freunde der SEP Society im A4Format. 6 Brink 2001, 155, Hervorhebung im Original. Vgl. auch insbesondere Rawls 1979, 48. 4 5
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1 · Einleitung
Darüber hinaus wird vorgebracht, dass konsequentialistische Theorien zurückzuweisen sind, weil gemäß diesen Theorien zahlreiche Handlungen als moralisch richtig zu bewerten sind, die gemeinhin als moralisch falsch angesehen werden. 7 Beispielhaft zu nennen ist, dass man innerhalb einer konsequentialistischen Theorie neben dem lügenhaften Versprechen auch zu Mord an Unschuldigen sowie zur Versklavung und allerhand weiteren Gräueltaten moralisch verpflichtet sein kann. Ferner wird eingewendet, dass im Konsequentialismus kein angemessener Platz für zentrale moralische Konzepte wie Gerechtigkeit, Supererogation und dergleichen mehr besteht. 8 Obwohl es wert ist, sich mit jedem einzelnen dieser Einwände näher zu beschäftigen, wird es in dieser Arbeit hauptsächlich um einen bestimmten Einwand gehen, der häufig gegen konsequentialistische Theorien vorgebracht wird, und zwar um den BesonderePflichten-Einwand. In einer ersten Annäherung besagt dieser, dass alle plausiblen Formen des Konsequentialismus kontraintuitiv und somit zurückzuweisen sind, weil sie nicht dazu in der Lage sind, geteilte Intuitionen hinsichtlich besonderer Pflichten und daraus ableitbarer Prinzipien in angemessener Form in ihrer Theorie aufzunehmen. 9 Dabei lassen sich besondere Pflichten mit Scheffler allgemein als jene Pflichten verstehen, die wir aufgrund einer besonderen Beziehung oder vorausgehenden Handlung nur bestimmten Personen schulden, während wir allgemeine Pflichten allen schulden. 10
Vgl. beispielsweise Williams 1979 und Nida-Rümelin 1995b. Eine gute Übersicht mit Fokus auf einen utilitaristischen Konsequentialismus findet sich in Schroth 2016, 21–26 und Scheffler 1988, 2–4. 9 Eine genauere Fassung des Besondere-Pflichten-Einwandes erfolgt im sich anschließenden 2. Kapitel. Siehe auch Shaw 1999, 272, Jeske und Fumerton 1997, 146–147, Brink 2001, 153, Arneson 2003, 382 und Murphy 2011, 1030. Ein interessanter Aspekt, der im Rahmen des Besondere-Pflichten-Einwands häufig vernachlässigt wird, lautet, dass auch andere normative Theorien, wie zum Beispiel die kantische Theorie oder eine auf Rechte basierende Theorie, Probleme haben, besondere Pflichten bzw. gerechtfertigte Parteilichkeit anzuerkennen (vgl. beispielsweise Keller 2013, 5). Dementsprechend ließe sich der Besondere-Pflichten-Einwand auch gegen diese Theorien vorbringen. Da es mir in dieser Arbeit aber nur darum geht, den Besondere-PflichtenEinwand hinsichtlich des Konsequentialismus zu besprechen, und dieser Einwand vorwiegend gegen den Konsequentialismus vorgebracht wird, werde ich den Besondere-Pflichten-Einwand so behandeln, als ob er sich nur gegen den Konsequentialismus richtet. 10 Vgl. Scheffler 2001, 49–50. Eine genauere Differenzierung der besonderen Pflichten erfolgt im Abschnitt Allgemeine Pflichten und Besondere Pflichten. 7 8
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1 · Einleitung
Die Schwierigkeit, besondere Pflichten in konsequentialistische Theorien aufzunehmen, resultiert aus der Kombination der strengen Unparteilichkeit mit der Ansicht, dass das Wohlergehen jedes Individuums den gleichen intrinsischen Wert hat. Jede plausible Form des Konsequentialismus wird beide Elemente enthalten. Doch dann ergibt sich das folgende Problem: If my friend’s wellbeing is no more intrinsically valuable than the wellbeing of any other person, then I ought to be impartial, at least in my actions, between promoting the good of my friend and promoting the good of a complete stranger. Thus, the mere fact that someone is my friend (or my mother, or my colleague, or my fellow citizen) does not imply that I have any obligations to such a person that I do not have to any and all persons. 11
Doch dass wir gegenüber den Unsrigen keine stärkeren oder erweiterten Pflichten haben als gegenüber Fremden, ist nach Jeske und Fumerton kontraintuitiv und führt zu Ergebnissen, die die wenigsten Menschen zu tragen bereit sind: Consider a situation in which your child is in grave danger but the only way you can aid your child is at the expense of other children. Suppose, for example, you took your child canoeing. After taking the wrong fork in the river, your canoe overturns in the rapids. As it turns out, another canoe with two children has been caught in the same rapids and has suffered the same fate. You judge (correctly) that you can either save your child or save the two strangers but you cannot do both. (The two other children are relatively close to you but you will be unable to save your child who has drifted further away if you first save those other children.) What should you do? 12
Mit Blick auf die überzeugende Idee des Konsequentialismus und auf das Konzept der Unparteilichkeit kann der Konsequentialist offensichtlich nur zu einem Ergebnis kommen: Während die Rettung der beiden fremden Kinder moralisch richtig bzw. verpflichtend ist, ist die Rettung des eigenen Kindes moralisch falsch bzw. verboten. Doch genau darin liegt die Kontraintuitivität: Dass es in einem derartigen Szenario nicht moralisch erlaubt sein soll, das eigene Kind zu retten, erscheint vielen als eine inakzeptable Konsequenz des Konsequentialismus. Die meisten Menschen haben die feste Intuition, dass wir geJeske 2014, 2–3. Die Seitenangabe bei Jeske 2014 bezieht sich auf die PDF-Version der Mitglieder der Freunde der SEP Society im A4-Format. 12 Jeske und Fumerton 1997, 146. 11
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1 · Einleitung
genüber unseren Familienmitgliedern besondere Pflichten haben, die eine derartige Nutzenkalkulation außer Kraft setzen: Common sense morality seems to understand us as having special obligations to those to whom we stand in some sort of special relationship, e. g., our friends, our family members, our colleagues, our fellow citizens, and those to whom we have made promises or commitments of some sort. 13
Diesbezüglich hat Shue mit Hilfe des Bildes von konzentrischen Kreisen eingängig beschrieben, wie sich die meisten Menschen die Strukturierung ihrer moralischen Pflichten vorstellen: We often see our duties from the point of view of a pebble dropped into a pond: I am the pebble and the world is the pond I have been dropped into. I am at the center of a system of concentric circles that become fainter as they spread. The first circle immediately around me is strong, and each successive circle is weaker. My duties are exactly like the concentric ripples around the pebble: strongest at the center and rapidly diminishing toward the periphery. My primary duties are to those immediately around me, my secondary duties are to those next nearest, my tertiary duties to those next, and so on. 14
Während man die Relevanz des Besondere-Pflichten-Einwands bei konstruierten Szenarien wie dem eben dargestellten Kanu-Szenario für die reale Welt bestreiten kann, stellt sich der Besondere-Pflichten-Einwand im Kontext der Weltarmut als besonders schwerwiegend heraus. 15 Auf die moralischen Pflichten eines (konsequentialistischen) Akteurs im Hinblick auf die Weltarmut hat insbesondere Singer hingewiesen. Dabei geht er von der empirischen Annahme aus, dass ein Großteil der Leiden, insbesondere in den »weit entfernten« Entwicklungsländern, durch ein angemessenes Verhalten der zur Hilfe fähigen Menschen gemildert oder gar verhindert werden könnte. Für Singer ist es somit nicht nur faktisch möglich zu helfen, sondern auch moralisch gefordert. Diese Forderung ergibt sich aus zwei Prämissen: Die erste lautet, »dass Leiden und Tod aufgrund von Nah-
Jeske 2014, 1. Shue 1988, 691. Zu erwähnen ist allerdings, dass Shue selbst dieses Bild als eine angemessene Wiedergabe unserer moralischen Pflichten ablehnt. Vgl. auch Brink 2001, 160 sowie Arneson 2003, 382 und Weitner 2013, 120. 15 Ich werde das Problem der Weltarmut im Unterkapitel Besondere Pflichten: Weltarmutsproblem genauer besprechen. 13 14
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1 · Einleitung
rungsmittelmangel, Obdachlosigkeit und medizinischer Unterversorgung etwas Schlechtes sind.« 16 Die zweite Prämisse ist sein bekanntes Sacrifice Principle: Wenn es in unserer Macht steht, etwas Schlechtes zu verhindern, ohne dabei etwas von vergleichbarer moralischer Bedeutung zu opfern, so sollten wir dies, moralisch gesehen, tun. 17
In Verbindung mit der empirischen Annahme, dass der individuelle Akteur dazu fähig ist, beispielsweise durch Spenden Leid und Tod zu verhindern, ohne dabei etwas von vergleichbarer moralischer Bedeutung zu opfern, ergibt sich, dass die zur Hilfe fähigen Menschen auch eine moralische Pflicht zum Helfen haben. In diesem Sinne ist Spenden nicht nur eine wohltätige Handlung, sondern eine, zu der jede fähige Person verpflichtet ist. Wie viel der individuelle Akteur genau zu spenden hat, hängt davon ab, was unter »vergleichbarer moralischer Bedeutung« verstanden wird. Innerhalb einer konsequentialistischen Theorie, wie zum Beispiel Singers Utilitarismus, kann dies bedeuten, dass so viel und so lange zu spenden ist, bis der Grenzwert erreicht ist, an dem weiteres Spenden dazu führt, dass mehr Schaden zugefügt wird, als durch das Spenden verhindert wird. 18 Damit führt das Problem der Weltarmut zum Kern des Besondere-Pflichten-Einwands: Eine derartige Aufopferung, so lässt sich argumentieren, ist zu viel gefordert, unter anderem weil wir auch besondere Pflichten gegenüber den engsten Angehörigen haben, denen wir mit einem solchen Prinzip nicht angemessen nachkommen können. 19 Oder anders ausgedrückt: Die extreme Ausweitung der moralischen Pflichten des individuellen Akteurs im Rahmen einer konsequentialistischen Theorie führt zur faktischen Einschränkung der besonderen Pflichten des individuellen Akteurs. 20
Ausgangsthese und Vorgehen Die Ausgangsthese dieser Arbeit lautet, dass der Besondere-Pflichten-Einwand zurückzuweisen ist, weil es mindestens eine plausible 16 17 18 19 20
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Singer 2007, 39. Singer 2007, 39. Vgl. Singer 2007, 48–49. Vgl. Feltham 2010, 3. Vgl. Scheffler 2001, 36–38.
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Ausgangsthese und Vorgehen
Form des Konsequentialismus, den Multi-Ebenen-Konsequentialismus, gibt, gegenüber der der Besondere-Pflichten-Einwand nicht vorgebracht werden kann. Im Wesentlichen orientiert sich meine Zurückweisung des Besondere-Pflichten-Einwandes an den zwei Möglichkeiten, die bereits Brink aufgezeigt hat: A common consequentialist response to such criticisms is to acknowledge the anti-consequentialist intuitions but to argue either that the consequentialist can, after all, accommodate the allegedly recalcitrant intuitions or that, where accommodation is impossible, the recalcitrant intuition can be dismissed for want of an adequate philosophical rationale. 21
In diesem Sinne werde ich zum einen zeigen, dass die Kernintuitionen, die dem Besondere-Pflichten-Einwand zugrunde liegen, vom Multi-Ebenen-Konsequentialismus aufgenommen werden können, und zum anderen werde ich argumentieren, dass über diese Kernintuitionen hinausgehende Intuitionen bezüglich besonderer Pflichten nicht stark genug sind, um den Besondere-Pflichten-Einwand aufrechtzuerhalten. Oder anders ausgedrückt werde ich in dieser Arbeit dafür argumentieren, dass innerhalb des Multi-Ebenen-Konsequentialismus, der eine plausible Form des Konsequentialismus darstellt, Folgendes widerspruchsfrei möglich ist: Dem Akteur ist es in einer relevanten Anzahl an Fällen erlaubt – in einigen Fällen ist er sogar dazu verpflichtet –, eine Handlung auszuführen, die sich als Erfüllung einer besonderen Pflicht verstehen lässt, obwohl er davon auszugehen hat, dass diese Handlung nicht zur größtmöglichen Annäherung an das optimale Aggregationsergebnis führt. Dies gilt selbst dann, wenn die alternative Handlung das Wohlergehen aller Beteiligten tatsächlich maximieren würde. Darüber hinaus werde ich zeigen können, dass es sich dabei nicht nur um eine zwar moralisch falsche, aber nicht zu tadelnde Handlung handelt, sondern dass diese Handlung für den moralischen Akteur moralisch richtig ist und dass sich diese Bewertung außerdem nicht damit widerspricht, dass sie aus einer unparteiischen Perspektive bei Vorliegen aller relevanten Informationen moralisch falsch ist. Um dies zeigen zu können, werde ich im zweiten Teil (Kapitel 4– 6) dieser Arbeit darstellen, wie der Multi-Ebenen-Konsequentialismus als eine plausible Form des Konsequentialismus aufgebaut ist. Doch bevor ich mich mit der inhaltlichen Ausgestaltung des Multi21
Brink 2001, 153. Siehe auch Keller 2013, 125–129 und Jollimore 2014, 17.
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1 · Einleitung
Ebenen-Konsequentialismus befassen kann, ist es notwendig, einige weitere Grundlagen zu legen. Zunächst muss dargestellt werden, was überhaupt unter einer plausiblen Form einer normativen Theorie bzw. unter einer plausiblen Form des Konsequentialismus zu verstehen ist. Dies wird im sich anschließenden Unterkapitel dargestellt. Im 2. Kapitel muss der Besondere-Pflichten-Einwand genauer besprochen werden. Das heißt, es muss analysiert werden, was mit diesem Einwand tatsächlich eingewendet werden kann und was nicht, und es muss erläutert werden, welche Begriffe bzw. Begriffspaare im Kontext des Besondere-Pflichten-Einwands relevant sind und wie diese zu verstehen sind. Im 3. Kapitel werden in einem ersten Schritt Gegeneinwände gegen besondere Pflichten und damit gegen den Besondere-Pflichten-Einwand besprochen; in einem zweiten Schritt wird gezeigt, welche theorieunabhängigen Argumente konsequentialistischen Theorien zur Verfügung stehen, um besondere Pflichten bzw. entsprechende Korrelate wie Prinzipien und Regeln aufzunehmen. Anschließend werden in einem dritten Schritt konsequentialistische Theorien besprochen, mit denen der Besondere-Pflichten-Einwand (vermeintlich) zurückgewiesen werden kann. Allerdings wird deren Analyse ergeben, dass sich diese Theorien nicht als plausible Form des Konsequentialismus verstehen lassen. Lediglich das Ergebnis von zwei Formen – dem Regelkonsequentialismus und dem ZweiEbenen-Konsequentialismus – wird zunächst offengelassen und auf spätere Kapitel verschoben. Den Auftakt des zweiten Teils (Kapitel 4–8) bildet das 4. Kapitel. Zusammen mit den Kapiteln 5 und 6 besteht dessen Aufgabe darin, die Grundstruktur des Multi-Ebenen-Konsequentialismus darzustellen. Im 7. Kapitel werde ich dann zeigen, dass der Multi-Ebenen-Konsequentialismus in der realen Welt anwendbar ist. Dies wird insbesondere daran erkennbar, dass der individuelle moralische Akteur bestimmen kann, welche Handlung moralisch erlaubt, verpflichtend, verboten und ggf. supererogatorisch ist. Im Anschluss daran wird im 8. Kapitel gezeigt, dass es sich beim Multi-Ebenen-Konsequentialismus tatsächlich um eine plausible Form des Konsequentialismus handelt. Bereits an dieser Stelle sei erwähnt, dass es jedoch nicht darum gehen wird zu zeigen, dass konsequentialistische Theorien im Allgemeinen oder der Multi-Ebenen-Konsequentialismus im Besonderen überhaupt eine plausible Form normativer Theorien sind. 22 22
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Für eine Rechtfertigung konsequentialistischer bzw. utilitaristischer Theorien
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Kriterien zur Bestimmung der Plausibilität einer normativen Theorie
Der dritte Teil (Kapitel 9–15) der Untersuchung widmet sich der Frage, inwieweit der Multi-Ebenen-Konsequentialismus besondere Pflichten bzw. entsprechende Korrelate wie Prinzipien und Regeln generieren kann und ob er tatsächlich den Besondere-Pflichten-Einwand zurückweisen kann. Hierzu werde ich zunächst im 9. Kapitel allgemein auf einige theorieunabhängige Argumente aus dem 3. Kapitel zurückgreifen und zeigen, zu welchen Ergebnissen sie innerhalb des Multi-Ebenen-Konsequentialismus führen. Bereits im Rahmen dieser Diskussion können einige Prima-facie-Prinzipien gerechtfertigt werden, deren Pflichtenkorrelate sich als besondere Pflichten verstehen lassen. In den sich anschließenden fünf Kapiteln werde ich jeweils mit Fokus auf eine andere besondere Beziehung, in der sich der moralische Akteur befinden kann, untersuchen, welche besonderen Pflichten sich darüber hinaus aus diesen Beziehungen ergeben. Dabei konzentriere ich mich auf die Beziehung des Akteurs zu sich selbst, zu seinen Familienmitgliedern, zu Freunden, zu Kooperationspartnern im engeren Sinne (Vereinsmitgliedern und Kollegen) sowie zu Kooperationspartnern im weiten Sinne (Landsleuten). Das Ziel von Kapitel 15 besteht im Nachweis, dass der Besondere-Pflichten-Einwand mit dem Multi-Ebenen-Konsequentialismus zurückgewiesen werden kann. Hierzu werde ich zwei zentrale Fälle diskutieren, die ich einleitend bereits angesprochen habe: das Kanu-Szenario und das Problem der Weltarmut. Den Abschluss der Arbeit bildet eine Zusammenfassung der Ergebnisse, in dessen Rahmen ich ein mehrstufiges Argument zur Zurückweisung des Besondere-Pflichten-Einwandes formuliere. Doch zunächst kehre ich zur Frage zurück, anhand welcher Kriterien die Plausibilität einer normativen Theorie bestimmt werden kann.
Kriterien zur Bestimmung der Plausibilität einer normativen Theorie Wie lässt sich bestimmen, ob eine normative Theorie oder in diesem Fall spezifischer: eine konsequentialistische Theorie plausibel ist? Einen sinnvollen Vorschlag, dem ich folgen werde, hat Bykvist ge-
siehe beispielsweise Mill 2006, 104–123, Kupperman 1981, Sinnott-Armstrong 1992, Hare 1992, 39–140, Singer 1994, 29–31 und Birnbacher 2016. Konsequentialismus und besondere Pflichten
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macht. 23 Bykvist unterscheidet zunächst zwischen theoretischen und praktischen Fragen: While theoretical questions concern the theoretical aim of a moral theory, that is, the aim of finding a plausible account of the right- and wrong-making features, practical questions concern how a theory is put into action. 24
Dabei sei angemerkt, dass sich zwar die theoretischen und praktischen Fragen trennen lassen und dies auch sinnvoll ist, sich aber notwendig Überschneidungen ergeben, da eine moralische Theorie beispielsweise nicht in der Praxis anwendbar ist, wenn sie hinsichtlich ihrer theoretischen Elemente unklar oder unstimmig ist. Im Detail sehen die einzelnen Kriterien wie folgt aus: Die theoretischen Fragen: (a) Klarheit: Hinsichtlich der Klarheit stellen sich beispielsweise Fragen danach, ob die Theorie auf Begriffen und Konzepten basiert, die unzweideutig sind. (b) Einfachheit: Unter sonst gleichen Bedingungen ist eine Theorie mit weniger bzw. weniger komplexen Prinzipien vorzuziehen. (c) Erklärungskraft und Reichweite: Hier geht es um Fragen danach, ob die Theorie nur die richtigen Prinzipien darstellt oder ob sie auch erklären kann, warum diese Prinzipien richtig sind. (d) Interne Stimmigkeit: Hiermit ist gemeint, ob es beispielsweise logische Widersprüche gibt, wie zum Beispiel, dass eine Handlung insgesamt sowohl moralisch richtig als auch moralisch falsch ist. (e) Moralische Stimmigkeit: Zentrale Fragen sind beispielsweise, ob die Theorie Prinzipien liefert, die wir nach einer geeigneten Reflexion anerkennen können, oder ob die Theorie zu fordernd ist, oder – im Gegenteil – ob zu viele Handlungen erlaubt sind, die wir intuitiv als verboten ansehen. Die praktischen Fragen: (a) Anwendbarkeit: Hier ist zu fragen, ob die Theorie eine Vorschrift liefert, der man folgen kann. Das sind vor allem Fragen danach, ob der moralische Akteur klar zwischen erlaubten, verbotenen, verpflichtenden und ggf. supererogatorischen Handlungen unterscheiden kann.
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Eine Alternative dazu liefert Hooker (2000, 4). Bykvist 2010, 12.
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(b) Informationsaufwand: Hiermit sind Fragen danach gemeint, ob der Akteur zur Bestimmung der moralisch richtigen Handlung zu viele Informationen benötigt oder Informationen benötigt, die sehr schwierig zu erhalten sind. (c) Bestimmungsaufwand: Bei diesem Element geht es um Fragen danach, ob die Bestimmung der moralisch richtigen Handlung ein Maß an Berechnung erfordert, das die Fähigkeit des gewöhnlichen Akteurs übersteigt. (d) Anforderungsstärke: Hier ist beispielsweise zu fragen, ob unrealistisch hohe motivationale Kapazitäten benötigt werden, um die moralisch richtigen Handlungen auszuführen. 25
Wichtig zu beachten ist, dass es kaum möglich sein wird, dass eine normative Theorie alle Kriterien vollumfänglich erfüllt. 26 Ein Problem ergibt sich bereits beim Kriterium der moralischen Stimmigkeit. Vage ist hier bereits der Begriff der geeigneten Reflexion. Es ist kaum davon auszugehen, dass es einen Konsens darüber geben wird, wann eine geeignete Reflexion vorliegt und wann nicht. Doch in dem Maße, wie sich die Kriterien für die geeignete Reflexion unterscheiden, wird sich auch unterscheiden, ob man die moralische Stimmigkeit als gegeben oder nicht gegeben ansieht. 27 Ähnlich problematisch ist der Aspekt der Anforderungsstärke. Auch hier lässt sich fragen, ab wann die benötigten motivationalen Kapazitäten zu hoch sind und wann sie einfach sehr hoch sind. Bei anderen Theorien wird es wiederum der Fall sein, dass sie eine gewisse Einfachheit für eine bessere Anwendbarkeit opfern usw. Aus diesen Gründen kann es nicht darum gehen, dass alle Kriterien optimal erfüllt werden, sondern dass sie in einem ausreichenden Maße erfüllt werden. Ob dies der Fall ist, lässt sich wiederum am einfachsten in Kontrast zu ähnlichen Theorien, in diesem Fall zu anderen konsequentialistischen Theorien ermitteln. Daher werde ich insbesondere im 3. Kapitel Bykvists Kriterien auf andere konsequentialistische Theorien anwenden, um im 8. Kapitel eine qualifizierte Aussage treffen zu können, ob es sich beim Multi-Ebenen-Konsequentialismus um eine plausible Form des Konsequentialismus handelt. Die Frage danach, wie die Plausibilität einer normativen Theorie festzustellen ist, kann nun wie folgt zusammengefasst werden: Eine 25 26 27
Vgl. Bykvist 2010, 12–14. Vgl. Bykvist 2010, 14–15. Vgl. Bykvist 2010, 15.
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normative Theorie ist plausibel, wenn sie in ausreichendem Maße zentrale Kriterien erfüllt. Dazu gehören Klarheit, Einfachheit, Erklärungskraft und Reichweite, interne Stimmigkeit, moralische Stimmigkeit, Anwendbarkeit, Informationsaufwand, Bestimmungsaufwand und Anforderungsstärke.
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Kapitel 2: Der Besondere-Pflichten-Einwand
In diesem Kapitel geht es um die Frage, wie der Besondere-PflichtenEinwand zu verstehen ist. Zuvor müssen jedoch die zentralen Begriffe, um die es in der Debatte um besondere Pflichten geht, erläutert werden. Darauf aufbauend wird in einem zweiten Schritt dargestellt, auf welche drei Intuitionen sich der Besondere-Pflichten-Einwand stützt und was dementsprechend die eigentliche Kritik dieses Einwandes ist.
Vier Begriffspaare Die Debatte um besondere Pflichten dreht sich um vier zentrale Begriffspaare: erstens um Parteilichkeit und Unparteilichkeit, zweitens um besondere Pflichten und allgemeine Pflichten, drittens um Reduktionismus und Nicht-Reduktionismus sowie viertens um akteurrelative Gründe und akteur-neutrale Gründe. Im Folgenden werden diese Begriffspaare der Reihe nach dargestellt.
Parteilichkeit und Unparteilichkeit Eine klassische Formulierung der Unparteilichkeit im Rahmen einer konsequentialistischen Theorie findet sich bei Mill: Ich muss noch einmal auf das zurückkommen, was die Gegner des Utilitarismus nur selten zur Kenntnis nehmen wollen: dass das Glück, das den utilitaristischen Maßstab des moralisch richtigen Handelns darstellt, nicht das Glück des Handelnden selbst, sondern das Glück aller Betroffenen ist. Der Utilitarismus fordert von jedem Handelnden, zwischen seinem eigenen Glück und dem der anderen mit ebenso strenger Unparteilichkeit zu entscheiden wie ein unbeteiligter und wohlwollender Zuschauer. 28 28
Mill 2006, 53.
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In diesem Sinn lässt sich unter Parteilichkeit im Utilitarismus bzw. in einer konsequentialistischen Theorie verstehen, dass ein Handelnder das Glück von bestimmten Personen, zum Beispiel sich selbst oder von seinen engsten Vertrauten, stärker gewichtet als das Glück von Fremden. Um den Besondere-Pflichten-Einwand sowie seine Reichweite und die mit besonderen Pflichten einhergehenden Probleme besser zu verstehen, ist es sinnvoll, wenn die Begriffe Parteilichkeit und Unparteilichkeit zunächst vom Utilitarismus bzw. vom Konsequentialismus entkoppelt werden. Einen in diesem Sinn entkoppelten Begriff der Parteilichkeit hat Sarah Stroud wie folgt definiert: [P]artiality is special concern for the interests of certain people. By ›special‹ I mean specifically ›greater‹ : the idea is that S shows greater deference to the interests of those to whom she is partial than to the interests of those to whom she is not partial. 29
Demnach handelt ein Akteur parteiisch, wenn er auf der Basis dieser größeren Sorge um die Interessen bestimmter Personen seine Zeit und seine Energie vorrangig in die Erfüllung dieser Interessen investiert. 30 In Anlehnung daran ist unter Unparteilichkeit zu verstehen, dass es keine besondere Berücksichtigung der Interessen bestimmter Personen gibt und entsprechend die zur Verfügung stehende Zeit und Energie nicht vorrangig in die Erfüllung der Interessen bestimmter Personen investiert wird. 31
Allgemeine Pflichten und besondere Pflichten Wie bereits dargestellt sind besondere Pflichten jene Pflichten, die wir im Gegensatz zu allgemeinen (oder natürlichen) Pflichten nur bestimmten Personen schulden. Mit Murphy lässt sich sagen: General or natural duties are duties that are owed to all human beings on the basis of our shared humanity. […] Such duties are understood to be universal in form, that is, the principles and derivative duties must hold for all cases; and must also be universal in scope, that is, they are owed to all persons everywhere […]. Special obligations, on the other hand, are parStroud 2010, 134, Hervorhebung im Original. Vgl. Stroud 2010, 145. 31 Eine weitere Ausdifferenzierung der Begriffe Parteilichkeit und Unparteilichkeit findet sich im Abschnitt Parteilichkeit und Unparteilichkeit. 29 30
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Vier Begriffspaare
ticular in scope, that is, they hold between a delimited set of persons. They can be either particular or universal in form. 32
Relevanten Beziehungen, in denen ein individueller Akteur stehen kann, hat beispielsweise Ross aufgelistet: […] in der Beziehung desjenigen, dem ein Versprechen gegeben worden ist, zu dem, der das Versprechen gegeben hat, in der Beziehung des Gläubigers zum Schuldner, der Ehefrau zum Ehemann, des Kindes zu den Eltern, des Freundes zum Freund, des Landmanns zum Landmann und dergleichen […]. 33
Doch bei Ross werden zwei zentrale Arten von besonderen Pflichten vermischt, die es zu trennen gilt: Interaktionspflichten und assoziative Pflichten. In Anlehnung an Dworkin versteht Weitner unter assoziativen Pflichten jene Pflichten, die durch eine moralisch relevante Beziehung generiert werden, die zu reziproken Pflichten aller Mitglieder dieser Beziehung führt. 34 Mit Seglow lässt sich ergänzen: Associative duties are duties between duty-bearers and duty-holders who enjoy a social relationship, and associative duties are grounded in that relationship. Associative duties are directed duties, and in meeting them we mark out some people as special, at least to us, and we maintain and strengthen our relationship with them. 35
Die häufigsten Beispiele für derartige Beziehungen sind die Beziehungen zu Familienmitgliedern, Freunden und Landsleuten. Demgegenüber sind unter Interaktionspflichten jene Pflichten zu verstehen, die aus einer bestimmten vorausgehenden Interaktion resultieren, beispielsweise durch ein gegebenes Versprechen. Nach Weitner lassen sich Interaktionspflichten in drei Unterkategorien ausdifferenzieren: Schädigt ein Handelnder eine andere Person, hat er ihr gegenüber Wiedergutmachungs- oder Reparationspflichten. Dankbarkeitspflichten hat ein Handelnder gegenüber Personen, die in irgendeiner Weise sein Wohlergehen befördert haben, z. B. ihm in einer Notsituation geholfen oder bei der Bewältigung einer Aufgabe unterstützt haben. Eine weitere Untergruppe Murphy 2011, 1028. Ross 2003, 255. 34 Vgl. Weitner 2013, 123–124. Siehe auch den Abschnitt Reziprozität und Dankbarkeit. 35 Seglow 2013, 10. 32 33
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von Interaktionspflichten sind Vertragspflichten. Eine Person ist durch eine Vertragspflicht an die Ausführung einer Handlung gebunden, wenn sie freiwillig und informiert das Versprechen abgegeben hat, diese Handlung in Zukunft zu vollziehen. 36
Neben den assoziativen Pflichten und den Interaktionspflichten lässt sich mit Pettit und Goodin eine weitere Kategorie von besonderen Pflichten herausarbeiten, nämlich die Pflichten gegenüber sich selbst: They involve duties to develop his capacities and talents; to guarantee his physical, psychological and social welfare; and to remain true to his basic projects and principles, refusing to compromise them just because some higher moral cause may thereby be served. 37
Insbesondere im dritten Teil dieser Arbeit werde ich auf alle drei Formen der besonderen Pflichten zurückkommen.
Reduktionismus und Nicht-Reduktionismus Ein weiteres zentrales Begriffspaar im Kontext des Besondere-Pflichten-Einwandes ist das des Reduktionismus und Nicht-Reduktionismus. Reduktionisten gehen davon aus, dass es ein Set von allgemeinen moralischen Pflichten – im strengsten Fall genau eine allgemeine moralische Pflicht – gibt, aus denen besondere Pflichten abgeleitet werden können. Das heißt, besondere Pflichten werden auf allgemeine Pflichten zurückgeführt bzw. reduziert. 38 Analog gilt für die gerechtfertigte Parteilichkeit, dass diese aus der Unparteilichkeit selbst gerechtfertigt werden kann. Demgegenüber gehen Nicht-Reduktionisten davon aus, dass sich die Prinzipien der Parteilichkeit unabhängig vom Prinzip der Unparteilichkeit rechtfertigen lassen bzw. dass es neben allgemeinen Pflichten weitere Pflichten gibt, die nicht auf all-
Weitner 2013, 124. Zu Dankbarkeitspflichten siehe auch den Abschnitt Reziprozität und Dankbarkeit; zu den Vertragspflichten, die ich unter dem Begriff der selbstauferlegten Verpflichtungen fasse, siehe den Abschnitt Selbstauferlegte Verpflichtungen. 37 Pettit und Goodin 1986, 652. 38 Mit Scheffler lässt sich sagen, dass sich auch voluntaristische Konzeptionen von besonderen Pflichten, wie die von Diane Jeske, als reduktionistisch verstehen lassen, weil sich alle besonderen Pflichten auf Zustimmung oder eine andere freiwillige Handlung zurückführen lassen (vgl. Scheffler 2001, 98–99). 36
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gemeine Pflichten zurückgeführt werden können, sondern sich beispielsweise aus dem Wert der sozialen Beziehungen ableiten lassen: This is the view that some partiality principles cannot be explained via deduction and facilitation from normative principles none of which is itself a partiality principle: that some partiality principles are, in that sense, basic. 39
Letztlich ist im Rahmen einer konsequentialistischen Theorie der Reduktionismus bereits vorgegeben. Zwar gibt es keine harten Argumente für oder gegen den Reduktionismus bzw. Nicht-Reduktionismus, soweit ich sehe, ist der Reduktionismus jedoch insgesamt leicht im Vorteil. Mit Blick auf Bykvists zweites Kriterium zur Bestimmung der Plausibilität einer normativen Theorie lässt sich beispielsweise argumentieren, dass er mit weniger Annahmen ebenso in der Lage ist, eine gewisse Parteilichkeit zu rechtfertigen. Hinzu kommt, dass mit dem Reduktionismus die Frage, wem gegenüber aus welchen Gründen parteiisch gehandelt werden darf bzw. gegenüber wem besondere Pflichten bestehen, klar beantwortet werden kann. 40 Im Rahmen des Konsequentialismus lautet die Antwort, dass die Parteilichkeit gerechtfertigt ist bzw. besondere Pflichten gegenüber denjenigen bestehen, bei denen ein Handeln gemäß diesen Pflichten zu einer besseren Annäherung an das optimale Aggregationsergebnis führt. Aufgrund der aus der Unparteilichkeit abgeleiteten Parteilichkeit lässt sich die gerechtfertigte Parteilichkeit mit Goodin treffend als zugewiesene Parteilichkeit beschreiben. 41 Eine positive Nebenfolge des Reduktionismus ist, dass sich etwaige Pflichtenkonflikte zwischen allgemeinen und besonderen Pflichten in der Regel leichter auflösen lassen, weil die Auflösung der Konflikte eng mit der Generierung der besonderen Pflichten verknüpft ist. Demgegenüber argumentieren Nicht-Reduktionisten, dass mit dem Reduktionismus nicht das vollständige Spektrum von gerechtfertigter Parteilichkeit und besonderen Pflichten erfasst werden kann. 42 Eines der stärksten Argumente für den Nicht-Reduktionismus ist die größere intuitive Plausibilität bzw. eine gewisse Kontraintuitivität bei der Ableitung besonderer Pflichten aus allgemeinen Pflichten. Intuitiv scheint es plausibler zu sein, dass im Konflikt mit anderen Pflichten eher der Freundin zu helfen ist, weil sie die Freun39 40 41 42
Kolodny 2010a, 42. Vgl. Kolodny 2010b, 172–173. Vgl. Goodin 1988, 678–686. Vgl. Kolodny 2010b, 173–174.
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din ist und Freundschaft nun einmal bestimmte Pflichten mit sich bringt, die gegenüber anderen Menschen nicht bestehen. Demgegenüber wirkt es künstlich zu sagen, dass man der Freundin helfen soll, weil es sich aus einer unparteiischen Perspektive rechtfertigen lässt, dass man Freunden einen gewissen Vorrang einzuräumen hat. 43
Akteur-relative Gründe und akteur-neutrale Gründe Abschließend ist darzustellen, was unter akteur-relative und akteurneutrale Gründe zu verstehen ist. 44 Mit Betzler lässt sich sagen: Die Form oder Struktur akteur-relativer Gründe besteht darin, dass sie in dem, was sie zu tun oder zu unterlassen gebieten, einen Bezug zu der handelnden Person enthalten. Das, was sie tun oder unterlassen soll, soll sie deshalb tun oder unterlassen, weil das Ziel ihres Handeln in relevanter Hinsicht in Bezug zu ihr steht: weil sie etwas Schlechtes tun würde, oder weil es ihre Kinder sind, oder weil es ihre Projekte sind, scheint es geboten bzw. erlaubt, das Wohlergehen aller bzw. das Gute nicht zu maximieren. 45
Demgegenüber sind akteur-neutrale Gründe diejenigen Gründe, die die persönliche Perspektive nicht berücksichtigen und sich stattdessen aus einem gemeinsamen Ziel ableiten: »Akteur-neutrale Gründe sind folglich Gründe, das unpersönlich verstandene Gute, wie etwa das Wohlergehen aller, bestmöglich hervorzubringen.« 46 In konsequentialistischen Theorien geht es, wie gemeinhin argumentiert wird, darum, akteur-neutrale Werte zu erreichen. Somit wird die moralische Richtigkeit einer Handlung durch akteur-neutrale Gründe bestimmt. 47 Demgegenüber wird das Realisieren von
Vgl. Seglow 2013, 8–12. Siehe auch den One-Thought-Too-Many-Einwand von Williams (1984, 26–27). 44 Ein Problem bei der Unterscheidung von akteur-relativen Gründen und akteurneutralen Gründen besteht darin, dass diese Begriffe in der Literatur nicht einheitlich gefasst werden (vgl. Feltham 2010, 3). Eine Gegenüberstellung von drei prominenten Fassungen – von Parfit, Nagel und Pettit – findet sich in Betzler 2009, 201. 45 Betzler 2009, 203, Hervorhebung im Original. Demgegenüber ergibt sich die Akteur-Relativität bei akteur-relativen Gründen nach Keller aus den geteilten akteurneutralen Gründen »plus some obvious facts about our differing circumstances« (Keller 2013, 18). 46 Betzler 2009, 196. 47 Nach Howard-Snyder besteht in dieser Akteur-Neutralität sogar das eigentliche bzw. besondere Element, das eine Theorie konsequentialistisch werden lässt (vgl. Ho43
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Wie der Besondere-Pflichten-Einwand zu verstehen ist
guten Freundschaften oder einer guten Beziehung zu seinen Familienmitgliedern als akteur-relativer Wert verstanden, der akteur-relative Gründe liefert. 48 Diese akteur-relativen Gründe sind jedoch zur Bestimmung der moralischen Richtigkeit und Falschheit einer Handlung zumindest für den klassischen Konsequentialismus nicht relevant.
Wie der Besondere-Pflichten-Einwand zu verstehen ist Nach der Darstellung der zentralen Begriffspaare kann im Folgenden der Kern des Besondere-Pflichten-Einwands besprochen werden. Dieser Einwand bringt zunächst einmal eine seltsame Eigentümlichkeit mit sich. Für gewöhnlich empfinden Menschen moralische Pflichten – vielleicht mit Ausnahme derjenigen Pflichten, die für ein friedliches Zusammenleben notwendig sind – eher als etwas Lästiges, weil sie uns häufig davon abhalten, unseren eigenen Interessen nachzugehen. Bei besonderen Pflichten scheint dies aber häufig – insbesondere dann, wenn sie uns von Pflichten gegenüber den Ärmsten der Welt »entlasten« – anders zu sein. 49 In diesem Sinne hat Giesinger treffend formuliert: »Das Recht auf Elternschaft ist […] als Recht auf Pflichten zu verstehen […].« 50 Zu beachten ist, dass die Unparteilichkeit nicht nur ein zentrales Element konsequentialistischer Theorien ist – seit Bentham lautet das ward-Snyder 1993, 271). Meines Erachtens ist diese Analyse falsch. Siehe hierzu den Abschnitt Regelkonsequentialismus. 48 Vgl. Arneson 2003, 383. 49 Vgl. beispielsweise Cottingham 1983, 89, Mackie 1990, 132 und Hooker 2010, 33. Demgegenüber weist Goodin auf ein zentrales Problem besonderer Pflichten hin, das häufig vernachlässigt wird: »Notice that there is a presumption, running through all those standard discussions of special duties, that the special treatment due to those who are linked to us by some special relation is especially good treatment. We are said to be obliged to do more for those people than for unrelated others in an effort to spare them harm or to bring them benefits. […] Agreed, special relations do sometimes permit (and sometimes even require) us to treat those specially related to us better than we need to, absent such a link. Other times, however, special relations permit (and perhaps even sometimes require) us to treat those thus linked to us worse than we would be obliged to treat them, absent such a link.« (Goodin 1988, 666, Hervorhebung im Original) Besonders deutlich wird dies bei einigen Pflichten gegenüber Landsleuten, wie der Wehrpflicht, der Pflicht, Steuern zu zahlen, usw. (vgl. Goodin 1988, 668–669). 50 Giesinger 2015, 126, Hervorhebung im Original. Konsequentialismus und besondere Pflichten
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häufig vorgebrachte Diktum: »Jeder zählt für einen, keiner für mehr als einen« 51 –, sondern vielmehr ein fundamentaler Bestandteil normativer Theorien. 52 In diesem Sinne erscheint die Anerkennung besonderer Pflichten eher als eine halbherzige Ad-hoc-Antwort, die im Konflikt mit diesem zentralen Element des Konsequentialismus liegt. Der Konsequentialismus wäre demnach nicht widersprüchlich, wenn er keine besonderen Pflichten generieren könnte; vielmehr scheint es konsequenter und ebenso im Sinne von Bykvists Kriterium der Einfachheit zu sein, keine besonderen Pflichten zu generieren. Der Besondere-Pflichten-Einwand kann also nicht ausschließlich darauf gründen, dass Konsequentialisten keine besonderen Pflichten generieren können. Um diesen Einwand vorzubringen, muss bereits vorausgesetzt werden, dass zu einer normativen Theorie entsprechende Pflichten gehören. Auf diese Weise wird beispielsweise mit Blick auf die Common-Sense-Moral argumentiert: [According to the commonsense morality] persons have special obligations, consequentialism cannot accommodate such obligations, therefore consequentialism is false. 53
Doch ob eine normative Theorie derartige Pflichten anerkennen sollte, ist eine offene Frage. Der Konsequentialist könnte das Argument auch in die entgegengesetzte Richtung drehen: Nach dem Konsequentialismus haben Akteure keine besonderen Pflichten. Die Common-Sense-Moral generiert trotzdem besondere Pflichten, daher ist die Common-Sense-Moral falsch. Der Fehler beider Argumente besteht offensichtlich darin, dass bereits vorausgesetzt wird, dass die eigene Theorie bzw. die eigenen Ergebnisse richtig und entsprechend alle abweichenden Ergebnisse falsch sind. Da die Vertreter dieser Theorien in diesem Fall aber die Einwände gegenseitig adressieren können, ohne auf der Basis einer gemeinsamen Prämisse zu argumentieren, nämlich welche Theorie als Ausgangspunkt zu nehmen ist, laufen die Argumente jeweils ins Leere. Damit ein Einwand gegen eine andere Theorie trifft, ist es notwendig, dass die Diskussion von einer gemeinsamen Prämisse bzw. einer geteilten Überzeugung oder Intuition startet. Damit der Besondere-Pflichten-Einwand den Konsequentialisten treffen kann, muss seine Grundlage demnach eine ge51 52 53
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Zitiert nach Mill 2006, 185. Vgl. beispielsweise Scheffler 2010, 99. Jeske 2014, 12.
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Wie der Besondere-Pflichten-Einwand zu verstehen ist
meinsame Überzeugung sein. Es muss etwas geben, dem auch Konsequentialisten zustimmen oder grundsätzlich zustimmen können. Und in der Tat: Eine derartig gemeinsame Überzeugung gibt es. Mit Railton lässt sich sagen: [W]e must recognize that loving relationships, friendships, group loyalties, and spontaneous actions are among the most important contributors to whatever it is that makes life worthwhile; any moral theory deserving serious consideration must itself give them serious consideration. 54
Die Gemeinsamkeit besteht also in einer spezifischen Intuition, genauer gesagt in drei verschiedenen Intuitionen, die auch Konsequentialisten, zumindest in einer allgemeinen Form, teilen. Worin die Gemeinsamkeit allerdings offensichtlich nicht (mehr) besteht, ist, dass die besonderen Pflichten nicht von allgemeinen Pflichten abgeleitet sein können. Es gibt keine geteilte Intuition darüber, dass es neben allgemeinen Pflichten auch nicht abgeleitete besondere Pflichten geben muss.
Erste Intuition: Für die Unsrigen sorgen Die meisten Menschen haben das klare Gefühl, dass es moralisch nicht falsch bzw. verboten oder verwerflich ist, zugunsten des eigenen Kindes zu handeln, obwohl man mit anderen Handlungen das Glück oder Wohlergehen einer fremden Person etwas mehr fördern könnte. Mit Keller lässt sich sagen: »We take ourselves to have reasons to give special treatment to our friends, children, parents, and so on […].« 55 Dass es sogar moralisch verboten sein soll, zugunsten der Unsrigen zu handeln, oder mehr noch: dass es geboten sein kann, zum Schaden der Unsrigen zu handeln, ist ein quälender Gedanke. Mit einer Moral, die fordert, einem geliebten Menschen nicht zu helfen, obwohl man es könnte, scheint etwas nicht zu stimmen. 56 Eine überzeugende Darstellung dieser Intuition findet sich beispielsweise in Charles Dickens Bleak House, in der Mrs. Jellyby ihre eigenen Kinder vernachlässigt, weil sie ihre gesamte Energie für verarmte, aber fremde Kinder im
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Railton 1984, 139. Keller 2013, 24. Vgl. Betzler und Bleisch 2015, 14.
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weit entfernten Afrika einsetzt. 57 Dabei dient Mrs. Jellyby gewissermaßen als Prototyp einer konsequentialistischen Akteurin. Diese Intuition, dass es falsch ist, sich derartig für Fremde einzusetzen, wenn es dadurch den engsten Angehörigen und Vertrauten schlecht geht, ist es, die der Besondere-Pflichten-Einwand mit der ersten Intuition einzufangen versucht. Häufig sind es dabei nicht einmal die großen Probleme der Welt, bei denen wir uns auf der Basis von (vermeintlich) besonderen Pflichten gerechtfertigt fühlen, zugunsten der Unsrigen zu handeln, sondern Alltagsangelegenheiten: Unter bestimmten Umständen wäre es unverantwortlich, lieblos oder sogar grausam, wenn ich mein eigenes Kind nicht gegenüber den Kindern anderer Leute begünstigen würde. Zum Beispiel organisiere ich für mein eigenes Kind eine Geburtstagsfeier und helfe meinem eigenen Kind bei den Hausaufgaben. Für das Kind der Nachbarn tue ich das nicht. 58
Demnach wird mit dem Besondere-Pflichten-Einwand in der ersten Version daran appelliert, auf unser tief verwurzeltes Gefühl, dass wir für die Unsrigen sorgen müssen, zu hören. Auf den Konsequentialismus bezogen bedeutet dies, dass es – zumindest in einigen Fällen – moralisch erlaubt oder verpflichtend sein muss, zum Wohle der Seinigen zu handeln, obwohl es eine Alternativhandlung gibt, die in dieser Situation (vermeintlich) zu einer besseren Annäherung an das optimale Aggregationsergebnis führt. Der Konsequentialist kann diese Intuition teilen, weil er dem gewahr wird, wie Railton ausgeführt hat, dass persönliche Beziehungen zu Freunden und Familie zu den wichtigsten Aspekten eines wertvollen Lebens zählen und damit eine zentrale Bedeutung für das individuelle und somit auch für das aggregierte Wohlergehen haben. Dabei ist zu beachten – und das müssen auch Nicht-Konsequentialisten anerkennen –, dass sich dieser Vorrang nur auf bestimmte und nicht auf alle Situationen beziehen kann. Andernfalls würden besondere Pflichten bereits ihre intuitive Plausibilität verlieren. Es wäre wenig plausibel zu fordern, dass ein Vater seinen Sohn, von dem bekannt ist, dass er mordend durch die Lande zieht, zu decken und zu verstecken hat, wenn er davon ausgehen muss, dass sein Sohn dadurch weitere Morde begehen wird. Der Vorrang der besonderen
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Siehe insbesondere das 4. Kapitel in Dickens Bleak House (2003). Hursthouse 2014, 325.
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Wie der Besondere-Pflichten-Einwand zu verstehen ist
Pflichten ist also kein absoluter Vorrang, sondern begrenzt. 59 Wie die Grenzen zu setzen sind, muss jeweils in Abhängigkeit von der normativen Ausgangstheorie bestimmt werden.
Zweite Intuition: Moralische Relevanz vorausgehender Handlungen In eine ähnliche Richtung geht die zweite Intuition. Die meisten Menschen haben das klare Gefühl, dass es moralisch zumindest erlaubt, wenn nicht gar verpflichtend ist, vorausgehenden Handlungen ein moralisches Gewicht beizumessen. In diesem Sinne können auch Konsequentialisten die Intuition teilen, dass man beispielsweise ein Versprechen auch dann zu halten hat, wenn es eine alternative Handlung gibt, die in dieser Situation (vermeintlich) zu einer etwas besseren Annäherung an das optimale Aggregationsergebnis führt. Der Konsequentialist kann diese Intuition teilen, weil er den Wert vorausgehender Handlungen, insbesondere mit Blick auf die koordinierende Wirkung, die damit einhergehen kann, erkennt. Natürlich ist abermals zu beachten, dass der Vorrang kein absoluter, sondern ein begrenzter Vorrang ist. Und ebenso wie bei der ersten Intuition hängt es von der normativen Ausgangstheorie ab, wie die Grenzen zu setzen sind.
Dritte Intuition: Moralische Relevanz akteur-relativer Gründe Eine dritte Version des Besondere-Pflichten-Einwandes, die auf einer weiteren Intuition gründet, wird im Rahmen der dargestellten Unterscheidung zwischen akteur-neutralen und akteur-relativen Gründen bzw. Werten vorgebracht. Wie dargestellt bestimmt sich die moralische Richtigkeit einer Handlung zumindest im klassischen Konsequentialismus anhand der akteur-neutralen Werte und Gründe. Mit Stroud lässt sich dann aber das folgende Problem herausstellen: The easiest ›threat‹ to envisage here is a thoroughgoing act-consequentialist morality that demands that each of us maximize agent-neutral value in all our actions. Such a view clearly threatens partial practices: not by forbidding them de jure, as it were, but by presenting us with untempered deVgl. auch Keller 2013, 128. Dies gilt auch für die zweite Intuition, gemäß der vorausgehende Handlungen moralisch relevant sind.
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2 · Der Besondere-Pflichten-Einwand
mands to improve the universe, which will probably occupy all our time de facto.60
In diesem Sinne wird eingewendet, dass es in manchen Situationen geboten oder erlaubt sein muss, nicht den (vermeintlich) besten Zustand zu befördern. Das heißt, zumindest in einigen Fällen sind es vorrangig die akteur-relativen Werte und die darauf basierenden Gründe, die die moralische Richtigkeit und Falschheit einer Handlung bestimmen. 61 Insofern allerdings die moralische Richtigkeit einer Handlung vorrangig von den akteur-relativen Gründen abhängt, obwohl ihr ggf. akteur-neutrale Gründe entgegenstehen, gibt es eine legitime Einschränkung der Unparteilichkeit, auf deren Basis sich eine gewisse Parteilichkeit rechtfertigen lässt oder sogar gefordert ist. 62 Mit Betzler lässt sich festhalten: Dabei ergibt sich für Konsequentialisten, sofern sie die Intuitionen des Common Sense nicht bestreiten (und das tun sie nicht), folgendes Rätsel: Wie kann begründet werden, dass wir manchmal weniger Gutes tun als wir sollten? 63
Nach Betzler lässt sich dieses Rätsel für Konsequentialisten nicht angemessen auflösen, da entweder der Sinn von akteur-relativen Gründen entleert wird oder sowohl der Informationsgehalt als auch die Autorität konsequentialistischer Theorien aufgegeben wird. 64 Ebenso wie bei den beiden anderen Intuitionen kann der Konsequentialist die Intuition, dass sich zumindest in einigen Situationen die moralische Richtigkeit einer Handlung vorrangig aus den akteur-relativen Gründen ergibt, teilen, weil die Realisierung von akteur-relativen Werten einen erheblichen Einfluss auf das individuelle Wohlergehen hat, dessen Eintreten – zumindest für den individuellen Akteur – nicht zuletzt häufig wahrscheinlicher ist als das Wohlergehen, das aus der Realisierung von akteur-neutralen Werten resultiert. 65
Stroud 2010, 134, Hervorhebung im Original. Vgl. Betzler 2009, 196–197 und Scheffler 1988, 2. 62 Vgl. Stroud 2010, 135–136 und Kolodny 2010b, 169. 63 Betzler 2009, 198. 64 Vgl. Betzler 2009, 199. Mit dem letzten Aspekt spielt Betzler auf die Methode der Konsequentialisierung an. Siehe hierzu den Abschnitt Konsequentialisierung und Common-Sense-Konsequentialismus. 65 Siehe hierzu den Abschnitt Akteur-neutrale und akteur-relative Gründe. 60 61
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Ergebnis des 2. Kapitels
Ergebnis des 2. Kapitels In diesem Kapitel wurden zwei zentrale Ergebnisse herausgearbeitet. Erstens: Die Grundlage des Besondere-Pflichten-Einwandes sind drei Intuitionen, die auch Konsequentialisten teilen bzw. teilen können. Die erste Intuition lautet, dass für die Unsrigen zu sorgen ist. Das heißt, zumindest bei einigen Handlungen muss es selbst dann moralisch erlaubt sein, eine Handlung zugunsten der Unsrigen auszuführen, wenn eine alternative Handlung das Wohlergehen aller Beteiligten in dieser Situation (voraussichtlich) besser aggregieren würde. Die zweite Intuition lautet, dass vorausgehende Handlungen moralisch relevant sind. So muss es zumindest bei einigen Handlungen selbst dann moralisch erlaubt sein, eine Handlung auf der Basis vorausgehender Handlungen auszuführen, wenn eine alternative Handlung das Wohlergehen aller Beteiligten in dieser Situation (voraussichtlich) besser aggregieren würde. Die dritte Intuition lautet, dass akteur-relative Gründe moralisch relevant sind. Das heißt, dass sich die moralische Richtigkeit und Falschheit einer Handlung nicht ausschließlich auf akteur-neutrale Gründe zurückführen lässt; die moralische Richtigkeit und Falschheit einer Handlung muss zumindest in einigen Fällen auch von akteur-relativen Gründen abhängig sein. Darüber hinaus konnte zweitens gezeigt werden, dass es für die Zurückweisung des Besondere-Pflichten-Einwands ausreicht, diese Intuitionen in angemessener Weise aufzunehmen. Das heißt zum einen, dass nicht alle Intuitionen bezüglich besonderer Pflichten aufgenommen werden müssen und zum anderen, dass keine genuin besonderen Pflichten generiert werden müssen; sie können auch reduktionistisch gerechtfertigt sein. Insofern eine plausible konsequentialistische Theorie in der Lage ist, die drei Intuitionen angemessen zu berücksichtigen, ist der Besondere-Pflichten-Einwand zurückgewiesen. 66
Zur Frage, was unter »angemessen zu berücksichtigen« zu verstehen ist, siehe das Unterkapitel Was bedeutet »in angemessener Weise«?.
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Kapitel 3: Gegeneinwände und Anpassungen
Wie dargestellt basiert der Besondere-Pflichten-Einwand auf Intuitionen, die nicht nur bei Kritikern des Konsequentialismus vorliegen, sondern auch von Konsequentialisten geteilt werden bzw. geteilt werden können. Daher überrascht es nicht, dass in der konsequentialistischen Tradition zahlreiche Versuche unternommen wurden, um zu zeigen, dass sich der Besondere-Pflichten-Einwand nicht aufrechterhalten lässt. Um die eigenen Untersuchungsergebnisse von diesen Ansätzen abzugrenzen, ist es notwendig, die wichtigsten Ansätze diesbezüglich darzustellen und zu diskutieren. Hierfür wird im Folgenden zunächst auf die Versuche eingegangen, mit denen gezeigt werden soll, dass sich bei gründlicher Abwägung besondere Pflichten nicht rechtfertigen lassen bzw. dass sie in Konflikt mit anderen moralischen Prinzipien geraten, die als grundlegender anzusehen sind. Anschließend wird auf die von Brink angesprochene Anerkennung besonderer Pflichten innerhalb konsequentialistischer Theorien eingegangen. 67 Hierfür wird zum einen diskutiert, wie sich zentrale Begriffe genauer fassen lassen, damit sie nicht weiter in Konflikt mit konsequentialistischen Theorien geraten. Zum anderen werden theorieunabhängige Argumente geprüft, über die sich ggf. besondere Pflichten in konsequentialistischen Theorien rechtfertigen lassen. Schließlich werden verschiedene Formen konsequentialistischer Theorien diskutiert, die den Intuitionen nach besonderen Pflichten Rechnung tragen. Bevor ich die Gegeneinwände und Anpassungsmöglichkeiten diskutiere, ist es erhellend, einen kurzen Blick in die Geschichte, genauer auf Godwin, zu werfen. Godwin gilt einerseits als radikaler Vertreter der Unparteilichkeit und wird andererseits als Prototyp eines Utilitaristen verstanden. Daher ist es sinnvoll, sich zunächst die zentrale Textstelle anzuschauen, die als paradigmatisch für das 67
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Siehe hierzu Anmerkung 21.
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Gegeneinwände
Verhältnis von Konsequentialismus und gerechtfertigter Parteilichkeit bzw. besonderen Pflichten angesehen werden kann. 68 A man is of more worth than a beast; because, being possessed of higher faculties, he is capable of a more refined and genuine happiness. In the same manner the illustrious archbishop of Cambray was of more worth than his chambermaid, and there are few of us that would hesitate to pronounce, if his palace were in flames, and the life of only one of them could be preserved, which of the two ought to be preferred. […] Of consequence that life ought to be preferred which will be most conducive to the general good. In saving the life of Fenelon, suppose at the moment when he was conceiving the project of his immortal Telemachus, I should be promoting the benefit of thousands who have been cured by the perusal of it of some error, vice and consequent unhappiness. […] Supposing I had been myself the chambermaid, I ought to have chosen to die, rather than that Fenelon should have died. The life of Fenelon was really preferable to that of the chambermaid. […] Supposing the chambermaid had been my wife, my mother or my benefactor. This would not alter the truth of the proposition. The life of Fenelon would still be more valuable than that of the chambermaid; and justice, pure, unadulterated justice, would still have preferred that which was most valuable. […] What magic is there in the pronoun ›my,‹ to overturn the decisions of everlasting truth? My wife or my mother may be a fool or a prostitute, malicious, lying or dishonest. If they be, of what consequence is it that they are mine? 69
Gegeneinwände Lexikalischer-Vorrangseinwand Eine erste Möglichkeit, Teile des Besondere-Pflichten-Einwands zurückzuweisen, besteht darin, zu argumentieren, dass es zwar möglich ist, assoziative Pflichten zu rechtfertigen, dass diese aber nur als ergänzende Pflichten zu den allgemeinen Pflichten hinzukommen und Wie allerdings Singer, Cannold und Kuhse (1995) gezeigt haben, muss bereits das Bild von Godwin als ein radikaler Vertreter der Unparteilichkeit revidiert werden. Letztlich lassen sich bereits bei Godwin Anpassungen auf die Einwände seiner Kritiker finden, mit denen Konsequentialisten noch heute zu zeigen versuchen, dass der Besondere-Pflichten-Einwand zurückzuweisen ist. Siehe hierzu auch Shaw 1999, 269. 69 Godwin 2013, 53–54. Zu einer Kritik an Godwin und insbesondere an der rhetorischen letzten Frage siehe Cottingham 1983. Auf die rhetorische Frage komme ich im Abschnitt Akteur-neutrale und akteur-relative Gründe zurück. 68
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entsprechend schwach ausgeprägt sind. Genauer gesagt sind sie so schwach, dass immer dann, wenn sie in Konflikt mit allgemeinen Pflichten geraten, Letzteren ein lexikalischer Vorrang gebührt. In diesem Sinne heißt es bei Pogge: »special relationships can increase what we owe our associates, but they cannot decrease what we owe to everyone else.« 70 Formalisieren lässt sich dieser Einwand nach Lazar folgendermaßen: 1. 2. 3. C1.
Additional duties are lexically secondary to baseline duties. General duties are baseline duties. Associative duties are additional duties. So associative duties are lexically secondary to general duties. 71
In diesem Sinne ließe sich aus konsequentialistischer Sicht einwenden, dass assoziative Pflichten in der realen Welt zu keinen Handlungen verpflichten bzw. berechtigen, zu denen nicht auch Konsequentialisten berechtigt sind. Denn entweder liegen die assoziativen Pflichten im Konflikt mit allgemeinen Pflichten – dann gebührt Letzteren auch für andere normative Theorien ein lexikalischer Vorrang – oder sie liegen nicht mit diesen in Konflikt – dann sind sie aber auch für den Konsequentialisten unproblematisch. Fraglich ist allerdings, ob assoziative Pflichten sinnvollerweise als ergänzende Pflichten zu verstehen sind. Wie Lazar zeigen konnte, sind die Prämissen 1 und 3 problematisch. 72 Ungewiss ist diesbezüglich, was genau unter additional zu verstehen ist und ob assoziative Pflichten nicht aus einem anderen Ursprung als dem der allgemeinen Pflichten entstehen können. Darüber hinaus ließe sich Folgendes einwenden: Insofern nur mit bestimmten besonderen Beziehungen ganz bestimmte wertvolle Güter realisiert werden können 73, ist es nicht unplausibel zu behaupten, dass diese Beziehungen Pflichten generieren, die im Konfliktfall stärker zu gewichten sind als einige allgemeine Pflichten. In der Summe ist daher nicht zu sehen, warum Vertreter von assoziativen Pflichten verpflichtet sein sollen, diese nur als ergänzende Pflichten anzusehen. Dementsprechend ist der Lexikalische-Vorrangseinwand zurückzuweisen. Insofern aber allgemeinen Pflichten kein lexikalischer Vorrang vor besonderen Pflichten zukommt, stellt sich ein anderes Problem: 70 71 72 73
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Pogge 2002, 90–91. Lazar 2009, 95. Vgl. Lazar 2009, 95–96. Vgl. insbesondere Keller 2015.
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Gegeneinwände
Once we allow non-derivative, genuinely special obligations in our moral theory, we are left with the question as to whether we can ever know when a special obligation outweighs another special obligation or a natural duty. Moral philosophers such as Ross give us no answer to this question, and it is plausible to suppose that there is no general rule that we can use for weighing duties against one another. 74
Mit Blick auf Bykvists Kriterien ließe sich dann argumentieren, dass eine Theorie, die nicht zeigen kann, wie sich der Pflichtenkonflikt auflösen lässt, für den moralischen Akteur nicht anwendbar ist und somit erheblich an Plausibilität verliert. An dieser Stelle kann ich nicht untersuchen, ob diese Theorien tatsächlich keine Möglichkeiten haben, aufzuzeigen, wann eine besondere Pflicht und wann eine allgemeine Pflicht, die im Konflikt zueinander stehen, stärker zu gewichten ist. Vorsichtshalber werde ich davon ausgehen, dass eine entsprechende Regelung grundsätzlich möglich ist.
Parteilichkeitseinwand und Verteilungseinwand Insofern assoziative Pflichten nicht nur als ergänzende Pflichten verstanden werden, droht darüber hinaus ein Konflikt mit dem Prinzip der Unparteilichkeit. Auch wenn das Prinzip der Unparteilichkeit im Konsequentialismus besonders stark vertreten wird, wird es von nahezu allen zentralen ethischen Theorien vertreten. So heißt es bei Betzler und Bleisch: Die prominentesten ethischen Theorien – wie etwa Konsequentialismus, Kontraktualismus und Deontologie kantischer Provenienz – definieren jedoch den Standpunkt der Moral gerade durch Unparteilichkeit. 75
In diesem Sinne lässt sich folgern, dass das Unparteilichkeitsprinzip – neben einigen anderen Prinzipien wie der Universalisierbarkeit – selbst nach gründlicher Reflexion eines der zentralen Prinzipien ist, die eine plausible Moral ausmachen: Furthermore, this respect for universality and impartiality is no mere quirk of currently fashionable moral doctrines. Arguably, at least, those are defin-
Jeske 2014, 27. Betzler und Bleisch 2015, 14. Vgl. auch: Jollimore 2014, 4–5, Feltham 2010, 2 und Double 1999, 152–153.
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ing features of morality itself. That is to say, they arguably must be embodied in any moral code in order for it to count as a moral code at all. 76
Mit Birnbacher lässt sich dann folgern, dass »weder die räumliche und zeitliche noch die genalogische und soziale Distanz als Unterscheidungsmerkmal für eine moralische Differenzierung gelten« 77 kann. In diesem Sinne lässt sich aber gegen die besonderen Pflichten im Sinne der ersten Version – den assoziativen Pflichten – ein Parteilichkeitseinwand vorbringen. Bei assoziativen Pflichten wird zwischen verschiedenen Gruppen ein Unterschied allein aufgrund der sozialen Nähe und Distanz gemacht. Dies widerspricht dem Unparteilichkeitsprinzip bzw. der Einnahme eines unparteiischen Standpunktes. 78 Eng verknüpft mit diesem Parteilichkeitseinwand ist Schefflers Verteilungseinwand. 79 Denn diese Parteilichkeit führt beispielsweise im Rahmen von Familienbeziehungen, aber auch bei Freundschaften usw. dazu, dass diejenigen, die bereits mit einem bestimmten Gut ausgestattet sind (beispielsweise mit dem Gut der Freundschaft), noch einen weiteren Vorteil erhalten, nämlich denjenigen, der aus dem zusätzlichen Engagement, welches die vermeintlichen besonderen Pflichten erfordern, resultiert. Demgegenüber kommen bei knappen Ressourcen alle anderen, die nicht über das erste Gut verfügen, auch nicht in den Genuss dieses zweiten Gutes:
Goodin 1988, 664. Birnbacher 2003, 413–414. 78 Vgl. Weitner 2013, 130. Relevanz gewinnt dieser Einwand insbesondere hinsichtlich bestimmter besonderer Beziehungen, beispielsweise gegenüber Landsleuten. Hier ließe sich einwenden, dass die Parteilichkeit auf willkürlichen bzw. zufälligen Umständen basiert, wie zum Beispiel dem Geburtsort oder der Nationalität. In diesem Sinne wird der Parteilichkeitseinwand auch als Willkürlichkeitseinwand gefasst (vgl. Murphy 2011, 1029). 79 Vgl. Scheffler 2001, 56–59. Ein weiterer Einwand, der bei Scheffler häufig in Verbindung mit dem Verteilungseinwand gebracht wird, ist der voluntaristische Einwand (voluntarist objection); gemäß diesem können besondere Pflichten einem Akteur nicht einfach zufallen, ohne dass der Akteur diesen in einer gewissen Form zugestimmt hat (vgl. Scheffler 2001, 54). Allerdings scheint mir die Annahme, dass uns Pflichten nur durch eine Form der Zustimmung oder Freiwilligkeit zufallen können, grundsätzlich fraglich (vgl. auch Scheffler 2001, 105). Darüber hinaus wird mit dem voluntaristischen Einwand nicht grundsätzlich gegen besondere Pflichten argumentiert, sondern nur gegen eine bestimmte Grundlage besonderer Pflichten. Daher gehe ich im Folgenden nicht weiter auf diesen Einwand ein. 76 77
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[T]he problem with such responsibilities is […] that they may confer unfair benefits. The objection turns on the observation that special responsibilities give the participants in rewarding groups and relationships increased claims to one another’s assistance, while weakening the claims that other people have on them. 80
In diesem Sinne fassen auch Graham und Lafollette zusammen: Personal relationships, at least at first glance, are at odds with ideals of impartiality and fairness, because it seems that personal relationships are partial and cosmically unfair by nature. Two people have a personal relationship only if they see each other as special, not merely as one person among many. 81
Ich gehe davon aus, dass sowohl der Parteilichkeitseinwand als auch der Verteilungseinwand grundsätzlich gerechtfertigt sind. Allerdings ist die Reichweite jeweils stark begrenzt. Zunächst einmal ist fraglich, ob besondere Pflichten überhaupt zum Nachteil Dritter und in der Summe zum Vorteil derjenigen sind, gegenüber denen diese Pflichten bestehen. Wie gezeigt lassen sich beispielsweise besondere Pflichten auch so konstruieren, dass sie nur ergänzend zu den allgemeinen Pflichten hinzukommen, jedoch im Konflikt mit diesen untergeordnet werden. Darüber hinaus ist ein zweiter Aspekt relevant: Die assoziativen Pflichten bestehen in den seltensten Fällen nur in eine Richtung. Beispielsweise hat nicht nur der Freund gegenüber einem selbst eine besondere Pflicht, sondern diese besondere Pflicht obliegt einem auch gegenüber dem Freund. Damit führen besondere Pflichten aber auch zu einer Mehrbelastung, die in der Gesamtbilanz nicht zwangsläufig zum eigenen Vorteil ist und nicht zum Nachteil Dritter sein muss. Wie bereits dargestellt, ist es aber fraglich, ob besondere Pflichten nur als ergänzende Pflichten verstanden werden sollten. Um aber dem Parteilichkeits- und Verteilungseinwand zu entgehen, ist es nicht einmal notwendig, besondere Pflichten als ergänzende Pflichten zu verstehen. Im Rahmen einer konsequentialistischen Theorie kann beispielsweise dafür argumentiert werden, dass die Verankerung besonderer Pflichten zu einer besseren Annäherung an das optimale Aggregationsergebnis führt, wodurch besondere
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Scheffler 2001, 99 vgl. auch Betzler und Bleisch 2015, 35. Graham und LaFollette 1989, 9.
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Pflichten wiederum selbst gerechtfertigt wären. 82 Darüber hinaus ließe sich im Rahmen einer nicht-konsequentialistischen Theorie argumentieren, dass die Basis von assoziativen besonderen Pflichten wertvolle Güter sind, die sich nur über besondere Beziehungen realisieren lassen. Damit gibt es einen relevanten Unterschied von Menschen, mit denen man eine besondere Beziehung hat, gegenüber Fremden, der über die bloße soziale Nähe hinausgeht. 83 Letztlich ist es daher nicht möglich, mit dem Parteilichkeits- und Verteilungseinwand besondere Pflichten direkt zurückzuweisen. Vielmehr zeigen beide Einwände eine gewisse Anforderung an die Rechtfertigung besonderer Pflichten auf.
Paradoxieeinwand In Anlehnung an die Unterscheidung zwischen akteur-neutralen und akteur-relativen Gründen lässt sich bezüglich daraus resultierender akteur-neutraler und akteur-relativer Gebote und Verbote ein weiterer Einwand vorbringen. Zunächst einmal lässt sich mit Betzler sagen: Das, was moralisch zu tun geboten ist, wird unpersönlich und unparteilich, d. h. unabhängig vom spezifischen Standpunkt des jeweiligen Akteurs bestimmt. Bisweilen wird dies auch als das, was »objektiv besser« ist, gefasst. Weil etwas »objektiv besser« ist, haben alle Personen einen Grund, es unabhängig von ihren jeweiligen persönlichen Interessen zu verfolgen oder zu befördern. 84
Hängt demgegenüber die moralische Richtigkeit und Falschheit einer Handlung von akteur-relativen Geboten und Verboten ab, stellt sich ein Einwand, der gemeinhin als Paradox der Deontologie bekannt ist: Akteur-relative Gebote und Verbote darf man (in einer nicht-absolutistischen Deontologie bis zu einem bestimmten Schwellenwert) nicht verletzen, selbst wenn ihre (einmalige) Verletzung die Zahl der Verletzungen desselben Ge- oder Verbots minimieren würde. 85 82 Siehe hierzu insbesondere den Abschnitt Argument der Effizienz sowie das Unterkapitel Argumente der Effizienz. 83 Vgl. beispielsweise Keller 2013, 106–108. Vgl. auch die weitere Diskussion in Scheffler 2001, 90–93 und 107–110. Eine weitere Möglichkeit wird mit Baron im Abschnitt Parteilichkeit und Unparteilichkeit diskutiert. 84 Betzler 2009, 195. 85 Betzler und Schroth 2014, 283.
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Doch das ist paradox: Warum sollte es rational sein, eine Vielzahl von moralisch verwerflichen Handlungen nicht durch eine einzige moralisch verwerfliche Handlung der gleichen Qualität zu verhindern? 86 Mit Betzler und Schroth lässt sich das Paradox der Deontologie auf besondere Pflichten bzw. gerechtfertigte Parteilichkeit übertragen: Auch die Pflichten der Parteilichkeit scheinen ein solches Paradox zu generieren: Man darf das Gebot, sich um seine Kinder zu kümmern, nicht verletzen, selbst wenn eine (einmalige) Verletzung dieses Gebots die Zahl der Verletzungen desselben Gebots durch andere minimieren würde. 87
Nach Hurley könnten Verteidiger der deontologischen Verbote, die zum Paradox der Deontologie führen, beispielsweise gegen die Plausibilität der teleologischen Theorie der Werte argumentieren, um auf diese Weise dem Paradox zu entgehen: They need not deny that it is always right to do what is best; they can maintain that it is always right to do what it is best to do, the action supported by decisively good reasons. However, they deny that what it is best to do is always what promotes the best overall thing that can happen. Thus, the defender of restrictions may recognize that we have both impartial moral reasons to keep promises and impartial moral reasons to prevent promises from being broken. However, in cases in which the moral reasons to keep promises are decisive, the best thing to do will be to keep my promise even though others will then break their own. 88
Insofern dieser Weg erfolgreich ist, lässt sich dies auch auf das Paradox hinsichtlich der Pflichten der Parteilichkeit anwenden. Fraglich ist aber, wie eine alternative Theorie der Werte aussehen kann, die plausibel ist und nicht selbst wieder in andere Paradoxien gerät. 89 Ohne diese alternative Theorie der Werte, die Hurley nicht liefert, bleibt die Auflösung des Paradoxes der Deontologie eine rein theoretische Möglichkeit, die nicht auf die reale Welt anwendbar ist und entsprechend auch nicht hinsichtlich der besonderen Pflichten und gerechtfertigten Parteilichkeit hilft. Sind akteur-relative Gebote und Verbote zurückzuweisen? Nach Betzler und Schroth steht man vor einem Dilemma, bei dem man in eines von zwei Hörnern stoßen muss: Vgl. insbesondere Nozick 1974, 41–42 und Hurley 2013, 3790, aber auch Scheffler 1988, 8–9. 87 Betzler und Schroth 2014, 284. 88 Hurley 2013, 3792. 89 Vgl. Hurley 2013, 3792–3793. 86
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Obwohl akteur-relative Gebote und Verbote für den paradoxen Charakter der Deontologie verantwortlich sind, sind sie es, die die Vereinbarkeit der Deontologie mit unseren moralischen Intuitionen garantieren. Akteur-neutrale Gebote dagegen sind dafür verantwortlich, dass der Konsequentialismus nicht mit unseren moralischen Intuitionen vereinbar ist, da sie manchmal Handlungen gebieten, die wir intuitiv für moralisch falsch halten. Andererseits sind akteur-neutrale Gebote mit der bestechenden Idee des Konsequentialismus vereinbar, während akteur-relative Verbote damit unvereinbar sind. […] Es scheint daher nur die Wahl zu bleiben zwischen einer an der bestechenden Idee festhaltenden akteur-neutralen Theorie, die kontraintuitiv ist, und einer zu unseren Intuitionen passenden akteur-relativen Theorie, die die bestechende Idee ablehnen muss und paradox ist. 90
In diesem Sinne wohnt der dritten Version des Besondere-PflichtenEinwands 91 aber eine gewisse Schwäche inne. Denn insofern Betzler und Schroth recht haben, muss man, um diese Version des Besondere-Pflichten-Einwandes angemessen in einer Theorie berücksichtigen zu können, wiederum eine Theorie vertreten, die paradox ist. 92 Fraglich ist dann aber, warum es besser sein soll, eine paradoxe Theorie anstatt einer kontraintuitiven Theorie zu vertreten. 93
Betzler und Schroth 2014, 284 Siehe hierzu den Abschnitt Dritte Intuition: Moralische Relevanz akteur-relativer Gründe. 92 Insofern meine Analyse richtig ist, besteht kein notwendiges Dilemma. Siehe hierzu das Unterkapitel Einwände gegen die Verankerung besonderer Pflichten. 93 Aus dem Umstand, dass eine Theorie Paradoxien enthält, lässt sich zunächst einmal kein direkter Einwand gegen diese Theorie formulieren. Ohne es an dieser Stelle begründen zu können, erscheint mir jedoch eine Theorie umso weniger plausibler, je mehr Paradoxien sie enthält. Ein direkter Einwand ergibt sich erst, wenn man zeigen kann, dass es sich nicht nur um eine Paradoxie, also etwas Unerwartetes bzw. Sonderbares, sondern entweder um einen Widerspruch handelt – siehe hierzu den sich anschließenden Selbstwidersprüchlichkeitseinwand – oder aber wenn man zeigen kann, dass es in einer gewissen Hinsicht unvernünftig ist, entsprechend paradoxe Elemente in der Theorie zu haben (vgl. beispielsweise Nozick 1974, 41). Die Frage, ob die akteurrelativen Gebote und Verbote in deontologischen Theorien tatsächlich widersprüchlich oder unvernünftig sind, geht über das Thema dieser Arbeit hinaus. Daher werde ich nicht versuchen, sie an dieser Stelle zu beantworten, und lasse es entsprechend offen, ob man aus dem Umstand der Paradoxie tatsächlich einen Einwand gegen besondere Pflichten ziehen kann. 90 91
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Selbstwidersprüchlichkeitseinwand 94 Ein weiterer Einwand gegen assoziative Pflichten lässt sich mit Parfit vorbringen. Demnach werden besondere Pflichten verankert, um bestimmte Ziele zu erreichen, beispielsweise, dass es den Unsrigen möglichst gut geht oder dass die akteur-relativen Werte möglichst optimal verwirklicht werden. Insofern allerdings die Verankerung besonderer Pflichten dazu führt, dass diese Ziele schlechter verwirklicht werden, sind sie aufgrund ihrer Selbstwidersprüchlichkeit zurückzuweisen. Mit Blick auf Schefflers Verteilungseinwand lässt sich schnell sehen, dass insbesondere assoziative Pflichten in diese Selbstwidersprüchlichkeit geraten können. Durch die Verankerung besonderer Pflichten hat nicht nur ein einzelner Akteur besondere Pflichten gegenüber den Seinigen, sondern auch andere Akteure gegenüber den Ihrigen. Insofern besondere Pflichten allgemeine Pflichten übertrumpfen können, also nicht nur ergänzend sind, wird es häufig zu Situationen kommen, bei denen aufgrund der Verankerung besonderer Pflichten das Ergebnis im Sinne des zugrundeliegenden Ziels schlechter ausfällt als bei einer Theorie, in der keine besonderen Pflichten verankert sind. Allgemeiner ausgedrückt bedeutet dies, dass es zwar für den einzelnen Akteur oder den Seinigen gut sein kann, wenn er gemäß den besonderen Pflichten handelt, dass das Ergebnis aber schlechter ausfällt, wenn alle Akteure gemäß den besonderen Pflichten handeln. Mehr noch, das Ergebnis kann sogar schlechter sein, als wenn niemand gemäß den besonderen Pflichten handelt. 95 In diesem Sinne gilt nach Parfit: [A Theory T is] directly collectively self-defeating when it is certain that, if all rather than none successfully follow T, we will thereby cause the T-given aims of each to be worse achieved. […] Such cases may occur when (a) theory T is agent-relative, giving to different agents different aims, (b) the achievement of each person’s aim partly depends on what others do, and (c) what each does will not affect what these others do.96
Nach Parfit lässt sich eine derartige Selbstwidersprüchlichkeit besonderer Pflichten beispielsweise im Rahmen eines Gefangenendilem94 95 96
Vgl. auch Weitner 2013, 131–134, der den Einwand Konsistenzeinwand nennt. Vgl. Parfit 1979, 539–542. Parfit 1979, 555, Hervorhebung im Original.
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mas mit zwei oder mehr Personen demonstrieren, in denen die Akteure nicht (in ausreichendem Maße) kommunizieren können und dementsprechend aufgrund der daraus resultierenden Unkenntnis ihre Handlungen nicht koordinieren können, obwohl weiterhin eine Interdependenz besteht. Ebenso gilt für die reale Welt Folgendes: It is often true that, if all rather than none give priority to our own children, that will either be worse for all our children, or will enable each to benefit his children less. Thus there are many outcomes which would benefit our children whether or not we help to produce them. It can be true of each parent that, if he does not help, that will be better for his own children. He can spend what he saves – whether in money, time, or energy – directly on them. But if none help, that will be worse for all our children than if all do. […] Similar remarks apply to all similar obligations – such as those to pupils, patients, clients, or constituents. 97
In diesem Sinn lässt sich der Einwand vorbringen, dass Theorien, die besondere Pflichten enthalten bzw. die moralische Richtigkeit an akteur-relative Gründe koppeln, direkt selbstwidersprüchlich sind. 98 Parfits Einwand trifft einen wichtigen Kern bzw. stellt an jede rationale Moral eine wichtige Anforderung. Dennoch ist die Reichweite des Einwandes stark begrenzt. Zunächst einmal trifft der Selbstwidersprüchlichkeitseinwand nur dann, wenn zahlreiche Faktoren erfüllt sind: Akteure verfolgen unterschiedliche Ziele, das Erreichen der individuellen Ziele hängt von den Handlungen der anderen ab, die Handlungen der verschiedenen Akteure beeinflussen nicht die Handlungen der anderen Akteure und (nahezu) alle Akteure handeln im jeweiligen Sinn moralisch. Nur in Situationen, in denen diese Kombination von Merkmalen vorliegt, ist der Selbstwidersprüchlichkeitseinwand relevant. Mit Parfit lässt sich sagen, dass dies zunächst einmal ein Problem der idealen Theorie ist, in der davon ausgegangen werden kann, dass sich alle Akteure moralisch verhalten. 99 Wie die Textstelle von Parfit zeigt, lässt sich dieses Problem aber auch auf die reale Welt übertragen. Die plausibelste Lösung ist meines Erachtens, dass in allen Situationen, in denen diese Merkmale vorliegen, die moralische Richtigkeit einer Handlung an akteur-neutrale Gründe gekoppelt wird bzw. dass besondere Pflichten, die in Konflikt mit allgemeinen Pflichten geraten, in diesen Fällen untergeordnet wer97 98 99
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Parfit 1979, 558. Vgl. Parfit 1979, 559. Vgl. Parfit 1979, 559–560.
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den. 100 In diesem Sinne sind besondere Pflichten offensichtlich nicht per se durch den Selbstwidersprüchlichkeitseinwand ausgeschlossen. Vielmehr wird ihre Stärke für eine bestimmte Gruppe von Situationen beschränkt.
Universalisierbarkeitseinwand Auch das Prinzip der Universalisierbarkeit ist ein zentrales Element normativer Theorien, insbesondere für deontologische Theorien kantischer Prägung. 101 Mit Norcross lässt es sich wie folgt wiedergeben: If action x is wrong, then an action y done by someone in exactly similar circumstances, with the same intention and the same consequences, is also wrong. 102
Demgegenüber haben besondere Pflichten nach Pettit und Goodin gemäß dem Common Sense zwei Merkmale. Erstens sind sie relativised und zweitens independent. Eine Pflicht ist nach Pettit und Goodin relativised, if and only if the content is identified by back-reference, usually employing a pronominal device, to the bearer. It is the obligation laid on A that he do such and such or that such and such be done to him or his. What is crucial is that the person mentioned in the content of the duty – by ›he,‹ ›him,‹ or ›his‹ – is picked out by referring back to the duty’s bearer. 103
Eine Pflicht ist independent, if and only if its content engages – and, if not overridden, obligates – an agent on its own intrinsic merits. That is, it does not engage him just because of his being bound by some other duty whose fulfilment requires that it be honoured. 104
Aus der Kombination relativised und independent folgt aber mit Blick auf das Prinzip der Universalisierbarkeit ein Problem, denn eine
Siehe hierzu auch das Unterkapitel Einwände gegen die Verankerung besonderer Pflichten. Alternativ kann auch versucht werden, das gleichzeitige Auftreten der Elemente (b) und (c) zu verhindern (vgl. Weitner 2013, 133–134). 101 Vgl. Jollimore 2014, 26. 102 Norcross 2006, 225, Hervorhebung im Original. 103 Pettit und Goodin 1986, 655, Hervorhebung im Original. 104 Pettit und Goodin 1986, 656. 100
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Pflicht, die relativised und independent ist, ist zumindest prima facie nicht universalisierbar 105: (K3a) Zwei Akteure, A und B, sind von einem perfiden Versuchsleiter gefangen genommen. Sie müssen sich entscheiden, ob sie entweder der Person C oder D durch Drücken eines entsprechenden Knopfes einen immensen Schaden zufügen. Person C ist das Kind von A und Person D ist das Kind von B. Während Person A die besondere Pflicht hat, sich vorrangig um C zu kümmern, hat Person B die vorrangige Pflicht, sich um Person D zu kümmern.
Person A und B befinden sich in den gleichen relevanten Umständen, und den Handlungen liegt die gleiche Intention – »Ich muss mich vorrangig um mein Kind kümmern« – zugrunde. Darüber hinaus führen die jeweiligen Handlungen zu den gleichen Konsequenzen: Entweder wird C oder D ein immenser Schaden zugefügt. Dennoch ist jeweils für A und B eine unterschiedliche Handlung moralisch richtig bzw. falsch, weil sich die entsprechende Pflicht jeweils auf den Pflichtenträger zurückbezieht. Gemäß dem independent-Merkmal lässt sich die Pflicht auch nicht auf eine übergeordnete Pflicht zurückführen, die sich wiederum universalisieren lässt. Daraus lässt sich folgern, dass besondere Pflichten nicht universalisierbar sind. In Anlehnung an Bykvists Kriterien einer plausiblen Theorie lässt sich dann aber einwenden, dass Pflichten, die nicht universalisierbar sind, im Rahmen einer universalistischen Moral gegen die interne Stimmigkeit verstoßen und somit die Theorie durch die besonderen Pflichten unplausibel wird. Allerdings lässt sich die Frage stellen, ob besondere Pflichten überhaupt so verstanden werden müssen, wie es Pettit und Goodin dargestellt haben. Mit Blick auf die zentralen Begriffspaare in der Debatte um besondere Pflichten wurde bereits herausgestellt, dass sich besondere Pflichten auch reduktionistisch rechtfertigen lassen. Insofern besondere Pflichten aber reduktionistisch gerechtfertigt werden, sind sie nicht mehr im Sinne von Pettit und Goodin independent. Insofern sie aber nicht mehr independent sind, lassen sie sich auf eine übergeordnete Pflicht zurückführen, die wiederum universalisierbar ist. Auf diese Weise lässt sich der Universalisierbarkeitseinwand im
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Vgl. Pettit und Goodin 1986, 660–661.
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Rahmen einer reduktionistischen Rechtfertigung besonderer Pflichten zurückweisen. 106
Stimmigkeitseinwand Ein weiterer Einwand gegen besondere Pflichten lautet, dass besondere Pflichten Handlungen erfordern können, die selbst kontraintuitiv sind bzw. mit Bykvist gesprochen entweder gegen die interne oder die moralische Stimmigkeit verstoßen. In diesem Sinne werde ich diesen Einwand den Stimmigkeitseinwand nennen. Ein klassisches Beispiel für den Stimmigkeitseinwand hat Cicero in Bezug auf Freundschaften geliefert. So lässt er Laelius darüber berichten, wie Gaius Blossius, ein Anhänger und Freund des gescheiterten Tiberius Gracchus, zu ihm ging, um für seine Taten Abbitte zu leisten: So wollen wir, wenn es euch recht ist, zuerst feststellen, wie weit die Liebe in der Freundschaft gehen darf. […] Er [Gaius Blossius] kam zu mir […] und wollte eine Abbitte leisten. […] Ich entgegnete ihm: »Hättest du auch das Kapitol für ihn [Tiberius Gracchus] angezündet?« Er antwortete: »Das hätte Gracchus niemals gewollt; aber wenn, dann hätte ich ihm gehorcht.« 107
In Anlehnung an den Film Death In Brunswick schildern Cocking und Kennett einen weiteren Fall. In Panik ruft Carl seinen besten Freund Dave an und bitte ihn um Hilfe, die Leiche von Mustapha, der bei einer vorausgegangenen Auseinandersetzung mit Carl ums Leben kam, verschwinden zu lassen. 108 Wäre Carl ein Fremder für Dave, wäre es Daves Pflicht, an der Aufklärung des Verbrechens mitzuwirken oder sich zumindest nicht selbst in der Verschleierung zu verstricken. Doch Carl ist Daves bester Freund und Dave hat eine besondere Pflicht gegenüber Carl. Sollte Dave also Carl helfen, die Leiche fortzuschaffen und dadurch bzw. infolgedessen Handlungen begehen, die unter anderen Umständen und nach gründlicher Reflexion moralisch falsch sind? Insofern besondere Pflichten nicht nur ergänzend zu allgemeinen Pflichten hinzukommen, sondern Letztere im 106 Für eine weitere Möglichkeit der Zurückweisung siehe auch Pettit und Goodin 1986. 107 Cicero 1976, 42–43. 108 Vgl. Cocking und Kennett 2000, 279–280.
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Konflikt übertrumpfen können, kann dies tatsächlich eine Folge aus der Verankerung besonderer Pflichten sein. Doch dass ein moralischer Akteur dazu verpflichtet sein soll, dem Freund zu helfen, eine Leiche verschwinden zu lassen und dabei ggf. weitere Handlungen zu begehen, die gewöhnlich moralisch verboten sind, ist nun selber eine kontraintuitive Folge von besonderen Pflichten. 109 Gegen dieses Szenario kann unter anderem eingewendet werden, dass ein wahrer Freund kein derartiges Verbrechen begeht oder dass ein wahrer Freund einen nicht um einen derartigen Gefallen bitten würde. Doch eine derartig anspruchsvolle Konzeption von Freundschaft ist wenig plausibel. 110 Der Freund kann über Jahre stets diejenigen Eigenschaften gezeigt haben, die einen »wahren« Freund ausmachen. Doch dann ist diese eine Situation passiert und die blanke Panik hat die Kontrolle über sein Handeln übernommen. Dass jemand aufgrund einer Handlung in einer derartigen Situation kein »wahrer« Freund mehr sein kann, ist kaum verständlich. 111 Selbst wenn dem so sein soll, lässt sich das Szenario ohne weiteres abwandeln. Es kann das eigene Kind oder die Ehefrau sein, die sich meldet. Diesen kann man nicht absprechen, dass sie nach dieser Tat keine »wahren« Kinder oder »wahren« Ehefrauen sind. Weiter kann eingewendet werden, dass besondere Pflichten keine Handlungen erfordern können, die wir als moralisch verwerflich ansehen. 112 Doch wie gezeigt wurde, ist es notwendig, um die Intuitionen zu befriedigen, die zur Verankerung besonderer Pflichten führen, dass besondere Pflichten stark genug sind, um in einigen Fällen auch allgemeine Pflichten zu übertrumpfen. Doch dann lässt sich mit Jeske sagen: However, there will be other times such that our special obligations are weighty enough that we ought to do that which, in other circumstances, would be immoral for us to do. 113
109 Natürlich können entsprechende unmoralische Handlungen von viel geringerer Bedeutung sein, beispielsweise ein Versprechensbruch oder eine Lüge zugunsten eines Freundes (vgl. Cocking und Kennett 2000, 286–287). Diese harmlosen Fälle kommen im realen Leben viel häufiger vor. Trotz des »geringeren« Vergehens gewinnt der Einwand damit aber noch an Relevanz. 110 Vgl. das Unterkapitel Was ist unter Freundschaft zu verstehen?. 111 Vgl. auch Cocking und Kennett 2000, 281. 112 Vgl. mit Blick auf Interaktionspflichten Macleod 2012, insbesondere 132–135. 113 Jeske 2014, 38. Siehe auch Scheffler 2001, 52–53, gemäß dem die stärkere Gewich-
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Sind besondere Pflichten dementsprechend zurückzuweisen? Vermutlich nicht, denn letztlich läuft es auf die Abwägung zwischen zwei kontraintuitiven Folgen hinaus. Entweder kann es in Einzelfällen für den Akteur moralisch verpflichtend sein, Handlungen zu begehen, die er für moralisch falsch hält, oder er ist zur Unterlassung von anderen Handlungen verpflichtet, von denen er überzeugt ist, dass deren Ausführung zumindest moralisch erlaubt ist. Insofern in eines der beiden Hörner zu stoßen ist, kann auf der Basis des Stimmigkeitseinwandes der Besondere-Pflichten-Einwand nicht zwingend zurückgewiesen werden. Aber – und das ist ebenso eine wichtige Konsequenz – im gleichen Sinne kann mit dem Besondere-PflichtenEinwand nicht der Konsequentialismus aufgrund seiner kontraintuitiven Folgen zurückgewiesen werden, nur weil er den besonderen Pflichten nicht das gleiche Gewicht beimisst, wie es andere Theorien zu tun pflegen. Mehr noch: Im Rahmen eines Konsequentialismus, in dem beispielsweise besondere Pflichten gegenüber Freunden reduktionistisch abgeleitet wurden, weil sie zu einer besseren Annäherung an das optimale Aggregationsergebnis führen, müssen derartige Handlungen, im Gegensatz zu einer kantischen Theorie, nicht einmal als moralisch falsch verstanden werden. 114
Soziale-Rollen-Einwand Ein weiterer Versuch, assoziative Pflichten zurückzuweisen, kann in der Hinterfragung der zugrundeliegenden Intuitionen bestehen. In diesem Sinne lässt sich fragen, warum wir glauben, besondere Pflichten gegenüber nahestehenden Menschen zu haben. Eine plausible Antwort darauf lautet, dass wir in sozialen Beziehungen nicht umhinkommen, bestimmte Rollen 115 einzunehmen, und dass mit diesen Rollen bestimmte Erwartungen einhergehen. Diese Erwartungen sind letztlich der Ursprung unserer besonderen Pflichten, genauer tung besonderer Pflichten dazu führen kann, dass positive Pflichten negative Pflichten übertrumpfen. 114 Vgl. Cocking und Kennett 2000, 293. Siehe hierzu auch das Unterkapitel Einwände gegen die Verankerung besonderer Pflichten. 115 In Anlehnung an Hardimon verstehe ich unter »Rolle« im Folgenden die soziale und nicht die biologische Rolle. In diesem Sinne muss die soziale Rolle entweder freiwillig übernommen worden sein oder zumindest rückblickend akzeptabel sein (vgl. Hardimon 1994, 334). Konsequentialismus und besondere Pflichten
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der assoziativen Pflichten. Das heißt, Menschen, die beispielsweise die Rolle der Eltern übernommen haben, haben zugleich die Erwartung geweckt, dass sie sich vorrangig um ihre Kinder kümmern, und entsprechend wird ihnen dies als besondere Pflicht zugeschrieben. Hinzu kommt, dass uns die »Richtigkeit« dieser Pflichtzuschreibung nicht nur von unseren eigenen Eltern vorgelebt wurde, sondern auch durch Erzählungen unserer Eltern und Großeltern weitergetragen und von unseren Freunden und anderen gesellschaftlichen Mitgliedern bestätigt wurde. Kurzum: Die besonderen Pflichten, die beispielsweise mit der Rolle des Elternseins einhergehen, scheinen eine gesellschaftliche und geschichtliche Notwendigkeit zu sein, zu denen es keine relevante Alternative gibt, und unsere Gefühle und Intuitionen sind ein Ausdruck dieser gerechtfertigten Rollenerwartung und der damit einhergehenden Pflichtzuschreibung. Doch an dieser Stelle kann der Konsequentialist seine Kritik einbringen: Soziale Rollen, insbesondere in Familien- und Verwandtschaftsverhältnissen, sind, wie insbesondere Gestrich gezeigt hat, historisch starken Wandlungen unterworfen, und dementsprechend ist eine bestimmte Rollenzuweisung nicht notwendig. 116 Auch wenn es beispielsweise eine Kernfamilie gibt, bestehend aus dem Elternpaar und den Kindern, ist es nicht richtig, von einem einheitlichen Familiensystem auszugehen, in dem die Rollen der Familienmitglieder und damit letztlich ihre korrelierenden Pflichten durchgehend gleich bleiben: Die Kontexte für die Entfaltung und Formung persönlicher Gefühle sind komplex und eng verknüpft mit dem allgemeinen gesellschaftlichen Wandel. Dies trifft auch auf die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern zu. 117
Unterschiedliche Verwandtschaftssysteme führen zu unterschiedlichen Strukturmerkmalen, die Einfluss auf die familiäre Solidarität und die Stellung von Mann und Frau haben. Von der Struktur der Verwandtschaftsverhältnisse ist aber auch die Ausgestaltung der besonderen Pflichten, die mit den sozialen Rollen einhergehen, betroffen. 118 In patrilinearen Gesellschaften 119 werden beispielsweise Cousins bis zu einem bestimmten Grad als Brüder bezeichnet; demVgl. Gestrich, Krause und Mitterauer 2003, 5. Gestrich, Krause und Mitterauer 2003, 15. 118 Vgl. Scheffler 2001, 123. 119 Bei patrilinearen Gesellschaften werden die verwandtschaftlichen Verhältnisse über die Abstammung der Väter gebildet. Patrilineare Gesellschaften sind beispiels116 117
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gegenüber werden Verwandte der Mutter nur als Freunde verstanden, die keine Bedeutung für Solidaritätsbeziehungen haben. 120 Der Wandel der Rollen führt aber nicht nur zu einem Wandel der korrelierenden Pflichten. In dem Maße, wie sich ein gesellschaftlicher Wandel vollzieht, verändern sich auch die Gefühle zu den Familienmitgliedern und den nahen Verwandten: Familien im Sinne der kernfamilialen Einheit eines Elternpaares und seiner Kinder sind immer eingebettet in größere Verwandtschaftszusammenhänge. […] Wie Verwandtschaft jeweils bestimmt wird, ist – vom ElternKindverhältnis abgesehen – kulturspezifisch sehr unterschiedlich. 121
Daraus lässt sich ableiten, dass sich die inhaltliche Zuschreibung der besonderen Pflichten mit dem Wandel von Familien- und Verwandtschaftsverhältnissen verändert 122; feste soziale Rollen mit ihren korrelierenden besonderen Pflichten lassen sich unter diesem Aspekt aber nicht mehr als eine notwendige Zuschreibung rechtfertigen. Nicht nur die Wandelbarkeit der Familie, sondern die Wandelbarkeit und Vielfältigkeit der sozialen Rollen insgesamt führen dazu, dass es gemäß der Common-Sense-Moral ein nahezu unüberschaubares Spektrum an besonderen Pflichten gibt, die zum Teil nur von jenen getragen werden, die tatsächlich die entsprechenden Rollen übernommen haben. 123 Von einer klar geteilten Intuition, welche sozialen Rollen tatsächlich besondere Pflichten auslösen und was der Inhalt dieser besonderen Pflichten ist, kann demnach nicht die Rede sein. Vielmehr gilt es zu prüfen, welche Intuitionen sich rechtfertigen lassen und welche nicht. Insbesondere mit Blick auf das Prinzip der Unparteilichkeit bieten Konsequentialisten einen entsprechenden Rechtfertigungsversuch an. In Anlehnung an Bykvists Kriterien der Erklärungskraft und internen Stimmigkeit kann es aber nicht mehr überraschen, dass nur wenige bis keine sozialen Rollen überbleiben, die besondere Pflichten generieren. 124 Damit ist zwar die tief verwurweise – wenn auch rückläufig – im Balkanraum beheimatet (vgl. Gestrich, Krause und Mitterauer 2003, 173–175). 120 Vgl. Gestrich, Krause und Mitterauer 2003, 6–8. 121 Gestrich, Krause und Mitterauer 2003, 6. 122 Vgl. auch Hardimon 1994, 337. 123 Vgl. Scheffler 2001, 51. Zu beachten ist, dass Scheffler an dieser Stelle nicht von sozialen Rollen, sondern von persönlichen Beziehungen spricht. Soweit ich sehe, lassen sich die Ergebnisse aber übertragen. 124 Eine andere Rechtfertigungsstrategie, mit der ebenso zahlreiche soziale Rollen als besondere Pflichten generierend zurückgewiesen werden, findet sich bei VoluntarisKonsequentialismus und besondere Pflichten
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zelte Intuition, für die Unsrigen sorgen zu müssen, nicht verschwunden, aber es konnte gezeigt werden, dass diese Intuition auf problematischen Annahmen beruht. Dem können jedoch die Verteidiger von besonderen Pflichten entgegenhalten, dass auch dann, wenn die Zurückweisung der (unreflektierten) Common-Sense-Moral schlüssig ist, dies nicht zwangsläufig zu einer generellen Zurückweisung besonderer Pflichten führt. Dass sich die inhaltliche Ausgestaltung sozialer Rollen und die damit einhergehenden besonderen Pflichten verändern können, ist nicht mit einem allgemeinen Nichtbestehen besonderer Pflichten gleichzusetzen. 125 Die Zurückweisung der Common-Sense-Annahmen ist im besten Fall dazu geeignet, einige besondere Pflichten zurückzuweisen oder sie ggf. zu modifizieren. Sie kann aber besondere Pflichten schon deshalb nicht grundsätzlich verwerfen, weil deren Begründung nicht notwendigerweise und nicht ausschließlich von der Rollenzuschreibung abhängt. Darüber hinaus ist fraglich, ob sich die zugeschriebenen Rollen und die daraus resultierenden Erwartungen nicht einfach auf Handlungen wie das freiwillige Eingehen von Verpflichtungen usw. zurückführen lassen. 126 In der Regel haben sich Eltern dafür entschieden, ein Kind zu bekommen und entsprechende Pflichten zu übernehmen. Ähnliches ließ sich über Freunde sagen. In diesem Sinne sind die besonderen Pflichten, die aus den sozialen Rollen resultieren, vielmehr als Interaktionspflichten und nicht als assoziative Pflichten zu verstehen.
Zuordnungseinwand Mit Godwin lässt sich ein weiterer Einwand gegen den BesonderePflichten-Einwand vorbringen. Gemäß diesem Einwand werden mit dem Besondere-Pflichten-Einwand moralisch falsche bzw. moralisch richtige Handlungen mit Handlungen verwechselt, die zu loben oder zu tadeln sind: A wrong action may be done from a right disposition; in that case we condemn the action, but approve the actor. If the disposition by which a man is ten im Rahmen des voluntaristischen Einwandes. Siehe hierzu beispielsweise Jeske 2008 und Scheffler 2001, 68. 125 Vgl. dazu Rachels 2008, 260–264. 126 Vgl. Hardimon 1994 und Jeske 2008.
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governed have a systematical tendency to the benefit of his species, he cannot fail to obtain our esteem, however mistaken he may be in his conduct. 127
In diesem Sinne lässt sich sagen, dass es in den meisten Fällen moralisch richtig ist, sich beispielsweise für Familienmitglieder und Freunde einzusetzen. Der Disposition, sich um die Seinigen zu kümmern, wohnen positive Konsequenzen inne. Daher ist es auch ggf. zu loben, wenn ein Akteur entsprechend handelt. 128 In der realen Welt kann es aber Fälle geben, bei denen die größtmögliche Annäherung an das optimale Aggregationsergebnis durch eine Handlung erreicht wird, die im Widerspruch zu dieser Handlungsdisposition steht. Dennoch zugunsten der Familienmitglieder oder Freunde zu handeln ist in diesem Sinne moralisch falsch, obwohl es dennoch richtig sein kann, den Akteur für diese Handlung zu loben, eben weil er gemäß einer nützlichen Disposition gehandelt hat, die verstärkt werden soll. Wie ich in späteren Kapiteln zeigen werde, trifft dieser Einwand einen wichtigen Punkt. Allerdings ist die Reichweite abermals stark begrenzt; genauer genommen ist er – wenn überhaupt – auf den Konsequentialismus begrenzt. Im Konsequentialismus werden Lob und Tadel funktionalistisch gefasst und sind entsprechend von der moralischen Richtigkeit und Falschheit einer Handlung entkoppelt. Doch das muss in anderen Moraltheorien nicht ebenso der Fall sein, und der Konsequentialist hat kein starkes Argument, um zu zeigen, dass Lob und Tadel funktionalistisch zu fassen sind. Insofern Lob und Tadel aber an die moralische Bewertung gekoppelt sind, läuft der Einwand ins Leere. Denn in diesem Fall spielt es eben doch eine Rolle, ob die Handlung erlaubt bzw. moralisch richtig war. Hinzu kommt ein weiteres Problem. Denn dieser Einwand ist auch im Rahmen des Konsequentialismus nicht erfolgversprechend. In der Analyse des Besondere-Pflichten-Einwands wurde gezeigt, dass es – zumindest in einigen Fällen – moralisch erlaubt oder verpflichtend sein muss, zum Wohle der Seinigen zu handeln. Mit dem Verweis darauf, dass es moralisch falsch ist, entsprechend zu handeln, auch wenn die Handlung ggf. nicht zu tadeln oder gar zu loben ist, würde die konsequentialistische Antwort der geteilten Intuition wei-
127 Godwin 2013, 62. Vgl. auch Sidgwick 1981, 428–429 und Smart und Williams 1973, 53–56. 128 Vgl. zum eigenen Verständnis von Lob und Tadel den Abschnitt Lob und Tadel.
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terhin widersprechen und nur bestätigen, was dem Konsequentialismus vorgeworfen wird. Daher ist auch der Zuordnungseinwand zurückzuweisen.
Analogieeinwand Eine weitere Möglichkeit, die Intuition, die den besonderen Pflichten bzw. der gerechtfertigten Parteilichkeit zugrunde liegt, zurückzuweisen, besteht in einer Analogie mit Fällen der Parteilichkeit, bei denen nach gründlicher Reflexion davon auszugehen ist, dass es sich um keine gerechtfertigte Parteilichkeit handelt. So beinhaltet beispielsweise der Familismus, die Parteilichkeit gegenüber Familienmitgliedern, nach Hursthouse: (a) zwischen Mitgliedern der eigenen Familie und anderen zu unterscheiden; und (b) in bestimmten Fällen, in bestimmten Hinsichten, Mitglieder der eigenen Familie zu bevorzugen. 129
Für Hursthouse ist der Familismus »offensichtlich manchmal falsch und manchmal richtig« 130. Gleiches ließe sich über den Freundismus 131, die Parteilichkeit gegenüber Freunden, sagen. Der Freundismus beinhaltet dann: (a) zwischen Mitgliedern des eigenen Freundeskreises und anderen zu unterscheiden; und (b) in bestimmten Fällen, in bestimmten Hinsichten, Mitglieder des eigenen Freundeskreises zu bevorzugen.
Auch der Freundismus ist manchmal richtig und manchmal falsch. Dies würden viele auch über den Patriotismus sagen; er beinhaltet: (a) zwischen Mitgliedern der eigenen Nation und anderen zu unterscheiden; und (b) in bestimmten Fällen, in bestimmten Hinsichten, Mitglieder der eigenen Nation zu bevorzugen.
Familismus, Freundismus und Patriotismus lassen sich auf ein Prinzip zurückführen: Jemand hat Grund, zwischen Mitglieder, der eigenen Gruppe und jenen, die nicht Mitglieder dieser Gruppe sind, zu
Hursthouse 2014, 325. Hursthouse 2014, 325. 131 Ich benutze diese Wortschöpfung in Anlehnung an Hursthouses Familismus und Speziesismus. 129 130
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unterscheiden, und es ist in bestimmten Fällen, in bestimmten Hinsichten, richtig, die Mitglieder der eigenen Gruppe zu bevorzugen. 132 Das Problem mit diesem Prinzip ist allerdings, dass daraus weitere Parteilichkeiten ableitbar sind. So ist zunächst mit Hursthouse der Speziesismus hinzuzufügen; dieser beinhaltet wiederum (a) zwischen Mitgliedern der eigenen Spezies und anderen zu unterscheiden; und (b) in bestimmten Fällen, in bestimmten Hinsichten, Mitglieder der eigenen Spezies zu bevorzugen. 133
Auch der Speziesismus ist nach Hursthouse manchmal richtig und manchmal falsch. 134 Anlog beinhaltet auch der Rassismus (a) zwischen Mitgliedern der eigenen Rasse und anderen zu unterscheiden; und (b) in bestimmten Fällen, in bestimmten Hinsichten, Mitglieder der eigenen Rasse zu bevorzugen.
Und der Sexismus beinhaltet (a) zwischen Mitgliedern des eigenen Geschlechts und anderen zu unterscheiden; und (b) in bestimmten Fällen, in bestimmten Hinsichten, Mitglieder des eigenen Geschlechts zu bevorzugen.
Allerdings würden die wenigsten nach gründlicher Reflexion sagen, dass Rassismus und Sexismus offensichtlich manchmal richtig und manchmal falsch sind. Rassismus und Sexismus sind vielmehr immer falsch; sie sind ein Paradebeispiel für ungerechtfertigte Parteilichkeit. Doch wenn Rassismus und Sexismus falsch sind und sich aus demselben Prinzip ableiten wie Familismus, Freundismus und Patriotismus, dann ist das Prinzip offenkundig ungeeignet, um gerechtfertigte Parteilichkeit zu generieren. In diesem Sinne kann der Konsequentialist einwenden, dass die Intuition bezüglich des Familismus, Freundismus und Patriotismus auf der Basis dieses Prinzips zu verwerfen ist. Allerdings beruht dieser Einwand selbst auf zweifelhaften Annahmen und ist letztlich zurückzuweisen. Zunächst einmal ist es fraglich, ob Rassismus und Sexismus wirklich immer oder nur in den allermeisten Fällen falsch sind. Angenommen, das gemeinsame Prinzip wird im Sinne des Utilitarismus reduktionistisch verstanden 132 133 134
Vgl. auch Kolodny 2010a, 39. Hursthouse 2014, 325. Vgl. Hursthouse 2014, 324–325.
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und bedeutet so viel wie: Wenn durch die Bevorzugung der Mitglieder der eigenen Gruppe das Wohlergehen insgesamt gesteigert werden kann, ist die Bevorzugung richtig; andernfalls ist sie falsch. 135 Dann kann es einige wenige Konstellationen geben, in denen Rassismus und Sexismus richtig sind, beispielsweise wenn in einer bestimmten Gesellschaft zu erwarten ist, dass es bei einer nicht-rassistischen oder nicht-sexistischen Handlung zu massiven Ausschreitungen kommt, die sich bedauerlicherweise zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht verhindern lassen. In diesen Fällen wären Rassismus und Sexismus ebenso richtig und widersprechen nicht mehr dem gemeinsamen Prinzip. 136 Damit lassen sich Familismus, Freundismus und Patriotismus aber nicht mehr auf der Basis der Analogie zurückweisen. Fraglich ist auch, ob das gemeinsame Prinzip überhaupt das relevante Prinzip für die gerechtfertigte Parteilichkeit ist oder ob sich diese nicht aus einem anderen Prinzip rechtfertigen lässt und das vermeintlich gemeinsame Prinzip nur zufällig korreliert. Wenn das relevante Prinzip beispielsweise lautet, dass nur durch diese Parteilichkeit bestimmte wertvolle Güter generiert werden können, dann mag dies für Familismus und Freundismus, aber ggf. nicht für Sexismus und Rassismus gelten. 137 Aus diesen Gründen sehe ich auch den Analogieeinwand als gescheitert an.
Zwischenfazit An dieser Stelle bietet es sich an, ein Zwischenfazit aus den dargestellten Einwänden zu ziehen. Zunächst konnte gezeigt werden, dass der Lexikalische-Vorrangseinwand, der Zuordnungseinwand und der Analogieeinwand zurückgewiesen werden können. Im Wesentlichen gilt dies auch für den Soziale-Rollen-Einwand; dieser kann lediglich als Korrektiv für einige assoziative Pflichten dienen, nicht jedoch als pauschale Zurückweisung aller entsprechenden Pflichten. Ernst zu nehmen sind demgegenüber die anderen Einwände. Sie treffen jeweils einen wichtigen Punkt hinsichtlich verschiedener Grundannahmen. Allerdings lassen sich diese Einwände jeweils mit einer Vgl. Kolodny 2010a, 40. Siehe hierzu exemplarisch das libanesische Konfessionsproporzwahlsystem (vgl. Jung 1991, 237–242). 137 Vgl. auch Hursthouse 2014, 324–325 für weitere Gründe. 135 136
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theorieinternen Begründung zurückweisen. Beispielsweise kann der Parteilichkeitseinwand umgangen werden, in dem aufgezeigt wird, welchen moralisch relevanten Unterschied es zwischen bestimmten besonderen Beziehungen und anderen Beziehungen gibt. Ebenso kann der Universalisierungseinwand beispielsweise dadurch umgangen werden, dass besondere Pflichten reduktionistisch gerechtfertigt werden. Und der Selbstwidersprüchlichkeitseinwand kann zumindest theoretisch umgangen werden, indem in Situationen, in denen die Selbstwidersprüchlichkeit droht, die moralische Richtigkeit ausschließlich von akteur-neutralen Gründen abhängt. Am schwersten wiegen jedoch der Paradoxieeinwand und der Stimmigkeitseinwand. Mit dem Paradoxieeinwand konnte gezeigt werden, dass insbesondere deontologische Theorien mit akteur-relativen Geboten und Verboten die besonderen Pflichten mit einer paradoxen Theorie erkaufen. Mit dem Stimmigkeitseinwand konnte gezeigt werden, dass die Verankerung besonderer Pflichten selbst zu kontraintuitiven Handlungen verpflichtet bzw. gegen die interne oder moralische Stimmigkeit verstößt. Letztlich ist keiner der Einwände geeignet, um besondere Pflichten und damit den Besondere-Pflichten-Einwand insgesamt zurückzuweisen. Allerdings zeigen insbesondere die letzten beiden Einwände, dass die Verankerung besonderer Pflichten selbst problematisch ist, und zwar so sehr, dass der Besondere-Pflichten-Einwand deutlich an Stärke einbüßt. Das heißt nicht, dass er nicht trotzdem erhoben werden kann und unbedeutend ist. Daher ist es wertvoll, der Frage nachzugehen, ob konsequentialistische Theorien nicht doch besondere Pflichten aufnehmen können. Insofern dies in einer konsequentialistischen Theorie möglich ist, ohne dass sie dabei an Plausibilität einbüßt, trägt dies deutlich zur Attraktivität dieser konsequentialistischen Theorie und des Konsequentialismus insgesamt bei. Daher wird im Folgenden der Frage nachgegangen, ob sich besondere Pflichten im Konsequentialismus verankern lassen. Hierzu werden zunächst theorieübergreifende Anpassungen untersucht und im Anschluss daran einzelne Theorien dargestellt und kritisch hinterfragt.
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Theorieübergreifende Anpassungen Keine moralischen Pflichten Eine erste mögliche Anpassung besteht in dem Versuch zu zeigen, dass wir zwar besondere Pflichten haben, dass diese jedoch keine moralischen Pflichten sind. 138 Auf diese Weise könnte der Konsequentialist an der überzeugenden Idee festhalten, dass es niemals moralisch richtig sein kann, einen schlechteren Zustand gegenüber einem besseren Zustand zu bevorzugen und dennoch besondere Pflichten anerkennen. Obwohl eine entsprechende Sichtweise verlockend ist, handelt sich der Konsequentialist damit jedoch neue und schwerwiegende Probleme ein, die er vermeiden kann und sollte. Hinzu kommt, dass selbst dann, wenn diese Probleme zufriedenstellend gelöst werden, die Ausgliederung der besonderen Pflichten aus der moralischen Sphäre nicht hilfreich ist, um den Besondere-Pflichten-Einwand zurückzuweisen. Ich werde meine Analyse auf assoziative Pflichten beschränken. Zunächst ist insbesondere aus konsequentialistischer Perspektive zu klären, warum es sich bei derartigen Pflichten – bzw. Handlungen, die daraus resultieren – nicht um moralische Pflichten handeln soll, obwohl sie hinsichtlich der relevanten Merkmale identisch sind. Die daraus resultierenden Handlungen haben beispielsweise einen Einfluss auf das Aggregationsergebnis. In diesem Zuge wäre ebenso zu klären, wie sich nicht-moralische Pflichten überhaupt begründen lassen. Darüber hinaus muss gezeigt werden, welche Pflichten im Falle eines Konfliktes Vorrang genießen. Für gewöhnlich werden moralische Pflichten als grundlegender angesehen, und dementsprechend wird diesen ein Vorrang zugewiesen. Mit Bykvist lässt sich sagen, dass wir für gewöhnlich das Overridingness-Prinzip akzeptieren: »In deciding what to do all things considered, moral reasons overrides any other kind of reason.« 139 Um nicht-moralischen besonderen Vgl. Bykvist 2010, 117–118, Cocking und Kennett 2000, siehe ebenso Jeske 2014, 36–38. Siehe auch Jackson, der eine ähnliche Strategie erwähnt hat, ohne sie selber weiter zu verfolgen. Gemäß dieser ließe sich sagen, dass der Wert von Freunden und Familien für unser Leben nicht hinsichtlich einer moralischen Perspektive relevant ist, sondern hinsichtlich eines guten Lebens. In diesem Sinne ließe sich folgern: »Doing what is morally right or morally required is one thing; doing what makes life worth living is another.« (Jackson 1991, 461) 139 Bykvist 2010, 101, Hervorhebung im Original. 138
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Pflichten überhaupt eine relevante Stärke einzuräumen, müsste das Overridingness-Prinzip fallen gelassen werden. Doch das ist wenig plausibel. 140 Behält man das Overridingness-Prinzip aber bei, dann dürfte im Konfliktfall niemals im Sinne der nicht-moralischen besonderen Pflichten gehandelt werden und die nicht-moralischen besonderen Pflichten wären nur noch für Situationen relevant, in denen ohnehin kein Konflikt mit anderen moralischen Pflichten vorliegt. Eine derartige Konstellation ließe sich aber wie bereits gezeigt eleganter lösen, nämlich indem besondere Pflichten als ergänzende (moralische) Pflichten verstanden werden. Auf diese Weise würde man sich die ersten beiden Probleme ersparen. Doch das entscheidende Problem mit besonderen Pflichten als nicht-moralischen Pflichten besteht darin, dass damit nicht einmal der Besondere-Pflichten-Einwand zurückgewiesen werden kann, da mit diesem gerade behauptet wird, dass konsequentialistische Theorien die moralische Relevanz, für die Unsrigen zu sorgen, oder die moralische Relevanz vorausgehender Handlungen bzw. die moralische Bedeutung akteur-relativer Gründe verkennen. Ob es darüber hinaus in einem nicht-moralischen Sinne richtig oder falsch ist, zum Wohle der Angehörigen zu handeln, bzw. ob es in einem nicht-moralischen Sinne weitere Pflichten gibt, zugunsten von nahestehenden Personen zu handeln, wird vom Besondere-Pflichten-Einwand nicht berücksichtigt.
Akteur-neutrale und akteur-relative Gründe Erfolgsversprechender ist eine genauere Fassung des Begriffspaares der akteur-neutralen und akteur-relativen Gründe. Wie dargestellt beziehen sich die akteur-relativen Gründe auf die persönliche Perspektive bzw. auf die akteur-relativen Werte, während die akteur-neutralen Gründe die persönliche Perspektive vernachlässigen. Mit der Zurückführung der akteur-relativen Gründe auf »mein«, aus Sicht des individuellen Akteurs, lässt sich mit Godwin erneut fragen: »What magic is there in the pronoun ›my,‹ to overturn the decisions of everlasting truth?« 141
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Vgl. Bykvist 2010, 102. Godwin 2013, 54.
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Obwohl Godwin diese Frage rhetorisch meinte, ist eine angemessene Antwort auf diese Frage insbesondere für den Konsequentialisten von Bedeutung, weil sie zeigen kann, warum akteur-relative Gründe kein Problem für eine konsequentialistische Theorie sein müssen. Einen wichtigen ersten Hinweis zur Beantwortung der Frage, welche Magie hinter »mein« steht, lässt sich bei Scheffler finden: »There are few things to which people attach greater value than their personal projects and interpersonal relationships.« 142 Die Erreichung dieser Werte, also die Erfüllung der eigenen Projekte, zu denen es beispielsweise zählen kann, ein guter Vater oder ein verlässlicher Freund zu sein, und das Ausleben von zwischenmenschlichen Beziehungen, ist für das Wohlergehen des einzelnen Akteurs von herausragender Bedeutung. 143 Insofern ein Akteur die entsprechenden Ziele und Werte vertritt, hat er akteur-relative Gründe, diese zu erfüllen, ohne dass andere Akteure ebenso diese Gründe haben. Da die entsprechenden Handlungen aber offensichtlich dazu geeignet sein können, zu einer Annäherung an das optimale Aggregationsergebnis beizutragen, sind sie auch aus einer unparteiischen Perspektive gerechtfertigt. 144 In diesem Sinne lässt sich folgern, dass es akteur-neutrale Gründe gibt, gemäß akteur-relativen Gründen zu handeln, da die Erreichung von akteur-relativen Werten zu einer Annäherung an das optimale Aggregationsergebnis führt. Mit Gaynesford lässt sich ein zweiter Aspekt ergänzen: But unless I am related to this situation in certain ways, so that I can think of it as mine, and unless I am related to these reasons in certain ways, so that I can think of them as mine, reasons for me to act, those reasons will neither motivate me in that situation to act as I do, nor explain why I act as I do. 145
Dementsprechend sind akteur-relative Gründe zudem relevant, weil sie eine motivationale Funktion haben, die akteur-neutrale Gründe nicht haben. 146 Das erklärt auch, warum die Einsicht in die moralisch richtige Handlung nicht immer dazu motiviert, diese auch auszuführen. Damit akteur-neutrale Gründe eine motivationale Kraft haben, müssen sie an akteur-relative Gründe gekoppelt sein. Diese akteur142 143
Scheffler 2010, 105. Siehe auch Scheffler 2001, 122. Für besondere Beziehungen als »Projekte« siehe beispielsweise Keller 2013, 33–
35. 144 145 146
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Vgl. auch Betzler 2009, 205–207. Gaynesford 2010, 90, Hervorhebung im Original. Vgl. auch Scheffler 2010, 103–104.
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relativen Gründe können ganz verschiedene sein, beispielsweise, dass man nicht getadelt werden möchte oder dass man sich selbst als moralischer Akteur versteht und es in diesem Sinne einen Wert hat, moralisch zu handeln, also sein Handeln an akteur-neutralen Gründen auszurichten; oder aber, dass es der eigene Freund oder die Ehefrau ist, die Hilfe benötigt. 147 In diesem Sinne kann man umgedreht akteur-relative Gründe haben, um gemäß akteur-neutralen Gründen zu handeln. Wichtig zu sehen ist, dass der individuelle Akteur insbesondere in Situationen, in denen er spontan handeln muss, nur begrenzt dazu fähig sein wird, eine ausreichende Motivation für Handlungen aufzubringen, wenn diese nicht mit akteur-relativen Gründen verknüpft sind oder stärker noch, wenn eine alternative Handlung von akteurrelativen Gründen gestützt wird. In diesem Sinne sei an das Prinzip »Sollen impliziert Können« erinnert. Wenn die Voraussetzung einer Handlung ein motivationales Potenzial ist, der Akteur dieses Potenzial jedoch nicht aufbringen kann, weil die Handlung gar nicht oder zu schwach mit akteur-relativen Gründen verbunden ist, dann kann der Akteur diese Handlung schlichtweg nicht ausführen. 148 Auf diesen Aspekt muss bei der Frage danach, an welchem Kernbestand moralischer Prinzipien der Akteur sein Handeln ausrichten soll, Rücksicht genommen werden. Etwas überspitzt ausgedrückt kann Godwins Frage demnach dahingehend beantwortet werden, dass die Magie, die hinter dem Pronomen »mein« steckt und fähig ist, die Entscheidung der »ewigen Wahrheit« umzustürzen, die Motivation zum Handeln ist. Zusammenfassend ergibt sich folgendes Ergebnis: Akteur-neutrale Gründe sind die relevanten Gründe, die eine Handlung mora147 Eine lesenswerte Analyse, wie sich unparteiliche Gründe und Motive durch zusätzliche Informationen in parteiische Gründe und Motive wandeln können, findet sich in Keller 2013, 90–93. 148 Vgl. Bykvist 2010, 91–93. Die Frage, inwieweit sich ein Akteur dazu »motivieren kann«, eine Handlung auszuführen, führt zu Fragen im Bereich der Willensfreiheitsdebatte. Eine angemessene Untersuchung würde den Rahmen dieser Arbeit überschreiten. Vereinfacht gehe ich davon aus, dass es Handlungen gibt, zu denen sich ein individueller Akteur nicht motivieren kann. Hier ist beispielsweise an Fälle zu denken, bei denen der Akteur nur unter akuter eigener Lebensgefahr versuchen kann, andere Menschen zu retten. Einige Menschen mögen dazu in der Lage sein, andere jedoch nicht. Demgegenüber gibt es andere Fälle, bei denen der Akteur die entsprechende Motivation aufbringen würde, wenn er es nur versucht (vgl. Bykvist 2010, 93 und 103–104).
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lisch werden lassen. Allerdings stehen akteur-neutrale und akteur-relative Gründe in einem wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis. Oder anders ausgedrückt: Akteur-relative Gründe sind moralisch relevant. Das heißt, dass sich die moralische Richtigkeit und Falschheit einer Handlung nicht ausschließlich auf akteur-neutrale Gründe zurückführen lässt; die moralische Richtigkeit und Falschheit einer Handlung hängt zumindest in einigen Fällen auch von akteur-relativen Gründen ab. Im Laufe der folgenden Kapitel muss gezeigt werden, wie stark die Abhängigkeit der akteur-neutralen Gründen von akteur-relativen Gründen tatsächlich ist, oder, anders ausgedrückt, untersucht werden, ob die Abhängigkeit stark genug ist, um die dritte Intuition, die dem Besondere-Pflichten-Einwand zugrunde liegt, angemessen zu berücksichtigen. 149
Parteilichkeit und Unparteilichkeit Eine weitere wichtige Möglichkeit zur Integration gerechtfertigter Parteilichkeit bzw. besonderer Pflichten besteht in der genaueren Analyse des Begriffspaares Parteilichkeit und Unparteilichkeit. Mit Sen lassen sich zunächst zwei Formen der Unparteilichkeit unterscheiden: die offene und die geschlossene Unparteilichkeit. With closed impartiality, the procedure of making impartial judgments invokes only the members of the focal group itself. […] In contrast, in the case of open impartiality, the procedure of making impartial judgments can (and in some cases, must) invoke judgments inter alia form outside the focal group. 150
In diesem Sinne ließe sich argumentieren, dass das Prinzip der Unparteilichkeit auch dann eingehalten werden kann, wenn man sich gegenüber einer bestimmten Gruppe parteiisch verhält, nämlich wenn man innerhalb dieser Gruppe unparteiisch handelt, also im Sinne der closed impartiality. 151 Doch insbesondere für konsequentialistische Theorien trägt dieser Ausweg kaum etwas ein, da er nicht zu erklären 149 Siehe auch Sinnott-Armstrong 2015, 23–25 für eine allgemeine Übersicht zur Integration der Akteur-Relativität in eine konsequentialistische Theorie. Die Seitenangabe bei Sinnott-Armstrong bezieht sich auf die PDF-Version der Mitglieder der Freunde der SEP Society im A4-Format. 150 Sen 2002, 445–446, Hervorhebung im Original. 151 Vgl. auch Jollimore 2014, 36–37.
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vermag, warum beispielsweise das utilitaristische Wohlergehen nur innerhalb einer bestimmten Gruppe unparteiisch maximiert werden sollte und nicht insgesamt. Eine andere Möglichkeit schlägt Baron vor, indem sie auf ein wichtiges Versäumnis aufmerksam macht: But it is, I think, rooted more deeply in an error, specifically, in a failure to distinguish different points or »levels« at which impartiality might be deemed requisite. Critics suppose that impartialists insisting on impartiality at the level of rules or principles are committed to insisting on impartiality at the level of deciding what to do in one’s day-to-day activities. […] Failure to pay close attention to which level it is at which impartiality is recommended easily leads to confusion as to what impartialists hold (or must, on pain of inconsistency, hold). 152
Damit zeigt Baron einen wichtigen Weg auf, der später bei der Darstellung einer plausiblen konsequentialistischen Theorie von Bedeutung sein wird. Um nicht gegen das Prinzip der Unparteilichkeit zu verstoßen, ist es in diesem Sinne nicht notwendig, sich in der alltäglichen Entscheidung darüber, was zu tun ist, am Prinzip der Unparteilichkeit zu orientieren. Wichtig ist lediglich, dass die Auswahl der Prinzipien, mit denen wir unsere alltäglichen Entscheidungen treffen, mit dem Prinzip der Unparteilichkeit vereinbar ist. 153 Ein Vorteil derartiger Rechtfertigungen ist, dass damit zugleich der Parteilichkeitseinwand umgangen wird. Demgegenüber mag eingewendet werden, dass die Rechtfertigung der Parteilichkeit aus der Unparteilichkeit mit der Quadratur des Kreises vergleichbar ist: To try to prove that ethical universalism can justify certain kinds of ethical particularism may therefore seem like trying to square the circle, for it involves showing that impartiality toward all persons can justify partiality toward some persons, that equality of consideration can sanction inequality of consideration. 154
Baron 1991, 842–843. Vgl. auch Jollimore 2014, 6 und 40–41 sowie Hooker 2010, 37–38. 153 In diesem Sinne argumentiert beispielsweise auch Singer, indem er vorschlägt, dass besondere und damit parteiische Pflichten dann als legitim anzuerkennen sind, wenn sie aus einer unparteiischen Perspektive gerechtfertigt werden können (vgl. Singer 2004a, 14). Siehe hierzu auch das Kapitel 5: Sekundärprinzip und Tertiärprinzip. 154 Gewirth 1988, 283. 152
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Doch dass es durchaus Parteilichkeitsprinzipien gibt, die aus der Unparteilichkeit gerechtfertigt werden können, hat beispielsweise Hare gezeigt: Hätten Mütter einen Hang dazu, sich um alle Kinder dieser Welt gleich viel zu kümmern, so ist es unwahrscheinlich, daß Kinder auch nur so gut behandelt würden wie derzeit. Die Verantwortung wäre bis zur Nichtexistenz verdünnt. 155
Um unparteiisch das Wohl aller Kinder zu fördern, ist es demnach geboten, dass Mütter, bzw. allgemeiner Eltern, parteiisch handeln und ihren Kindern einen gewissen Vorrang einräumen. 156 Natürlich muss gezeigt werden, unter welchen Bedingungen sich Parteilichkeit ganz allgemein aus der Unparteilichkeit rechtfertigen lässt und zu welcher gerechtfertigten Parteilichkeit bzw. zu welchen besonderen Pflichten dies im Detail führt. Zwei Argumentationsstränge sind dabei von besonderer Relevanz: das Argument der menschlichen Natur 157 und das Argument der Effizienz. Beide Argumente sind miteinander verknüpft 158. Mir scheint es aber sinnvoll zu sein, sie getrennt voneinander zu besprechen. Zunächst werde ich das Argument der menschlichen Natur vorstellen. Im Anschluss daran 155 Hare 1992, 199–200. Siehe auch die klassischen Stellen bei Aristoteles: »Was sehr vielen gemeinsam zugehört, für das wird am wenigsten Sorge getragen. Am meisten denkt man an seine eigenen Angelegenheiten, an die gemeinsamen weniger oder doch nur soweit, als sie den einzelnen berühren. Denn abgesehen von anderen Gründen nimmt man die Sache hier leichter, weil man denkt, ein anderer werde schon dafür sorgen, ähnlich wie bei den häuslichen Diensten einem mitunter viele Bedienten schlechter aufwarten als wenige.« (Aristoteles 1995, 34–35 [Pol II, 3]) Und ebenso: »Denn zwei Dinge sind es, die vor allem die Sorge und Teilnahme des Menschen für sich gewinnen: das Eigene und das Geliebte« (Aristoteles 1995, 37 [Pol II, 4]). 156 Abermals ließe sich mit Goodin anführen, dass eine entsprechende Parteilichkeit am besten als zugewiesene Parteilichkeit zu verstehen ist. Siehe hierzu Anmerkung 41. 157 Vgl. auch Keller 2013, 147. 158 In einem gewissen Sinne kann man auch das Argument der menschlichen Natur als Effizienzargument verstehen. Wenn es dem Menschen aufgrund seiner Natur nicht möglich ist, auf eine bestimmte Art und Weise zu handeln, dies jedoch dennoch von ihm gefordert wird, dann wird diese Überforderung zu Frustration führen, durch die letztlich das Aggregationsergebnis schlechter ausfallen wird, als wenn diese Forderung nicht erhoben worden wäre. Effizienter wäre es demnach, diese Forderung erst gar nicht zu stellen. Allerdings ist diese Form der Effizienz deutlich mittelbarer als bei den Effizienzargumenten. Und selbst wenn diese Überforderungen keinen negativen Effekt hätten, sondern lediglich neutral wären, ließe sich im Sinne von »Sollen impliziert Können« dafür argumentieren, diese Forderungen nicht zu stellen.
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gehe ich auf das Argument der Effizienz sowie eine Alternative dazu ein.
Argument der menschlichen Natur Eine zentrale Frage in der Debatte um gerechtfertigte Parteilichkeit und daraus resultierende besondere Pflichten lautet, ob (gewöhnliche) Menschen überhaupt dazu in der Lage sind, einen derartigen unparteiischen Standpunkt einzunehmen, wie er von den meisten moralischen Theorien (vermeintlich) gefordert wird. In diesem Sinne schreibt Cottingham mit Bezug auf die von Godwin geforderte Unparteilichkeit aus dem Eingangszitat: The first and most obvious question to ask about such an ethical blueprint (which, surely, no human being has ever remotely attempted to adhere to), is whether it is psychological possible. Personal bonds, ties of affection, family ties, are, like the intimate concern one necessarily has for one’s own body, an unavoidable part of what it is to be a human being. 159
In diesem Sinne lässt sich folgern, dass auch dann, wenn das Ideal einer Theorie eine strenge Unparteilichkeit fordert, sich diese Forderung bzw. dieses Ideal nicht vollständig auf die reale Welt niederschlagen kann; es bleibt ein Ideal. Hierfür lassen sich im Wesentlichen zwei Gründe anführen. Zunächst einmal stellt eine strenge Unparteilichkeit im Konsequentialismus den Akteur vor epistemische Probleme, denn er muss ermitteln, was die genauen Anforderungen der Unparteilichkeit sind. Um die Aufgabe vollständig zu erfüllen, bräuchte er ein Wissen, das über jenes eines gewöhnlichen Akteurs weit hinausgeht. 160 Da der moralische Akteur in der realen Welt nicht dazu in der Lage ist, dieses Wissen zu erhalten, müssen die Anforderungen geringer sein. In der realen Welt muss sich der Akteur auf jene Informationen beschränken, die ihm zur Verfügung stehen, bzw. jene Informationen, die er relativ leicht erhalten kann. Mit Sidgwick lässt sich dann sagen: Besides, each person is for the most part, from limitation either of power or knowledge, not in a position to do much good to more than a very small
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Cottingham 1983, 89. Vgl. Jollimore 2014, 33–34.
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number of persons; it therefore seems, on this ground alone, desirable that his chief benevolent impulses should be correspondingly limited. 161
Mit Blick auf die modernen Kommunikations- und Transaktionstechnologien muss diese Aussage jedoch sicherlich relativiert werden. 162 Aber dennoch wird der Akteur in der realen Welt nicht in jeder Situation streng unparteiisch handeln können, sondern nur unparteiisch gegenüber jenen, von denen er entsprechende Kenntnis besitzt oder ohne größere Schwierigkeiten besitzen könnte. Darüber hinaus lässt sich zweitens mit Mackie sagen, dass ein nicht unwesentlicher Anteil der menschlichen Natur durch Egoismus geprägt ist: But why, it may be asked, are such moralities of universal concern impracticable? Primarily because a large element of selfishness – or, in an older terminology, self-love – is a quite ineradicable part of human nature. 163
Mit Hooker lässt sich ergänzen, dass dieser Egoismus sowie die Parteilichkeit für die Unsrigen sich wiederum auf die Evolution des Menschen zurückführen lässt: Most humans have an immediate and intense special concern for themselves, their family, and their friends. Such partiality is widespread in the animal kingdom, and the theory of evolution easily explains this. Since humans evolved from animals, it is hardly surprising that a fairly high degree of partiality is instinctual in humans. 164
Und mit Scheffler lässt sich dies allgemein auf Gruppen, Vereinigungen und Organisationen übertragen: Human beings are social creatures, and we express our social natures through participation in a rich variety of formal and informal groups, assoSidgwick 1981, 434. Vgl. hierzu die Diskussion im Abschnitt Argument der moralischen Arbeitsteilung. 163 Mackie 1990, 132. 164 Hooker 2010, 33. Siehe auch Singer, Cannold und Kuhse: »Our feelings for our spouses, children, lovers, or close friends have their roots deep in our human nature. We have evolved as mammals living in small and relatively stable social groups. This means that we are concerned to protect our kin, and liable to form long-lasting reciprocal relationships with others who are not related to us […] Since utilitarians want an ethic that brings about good consequences when applied by real human beings, utilitarians should give broad support to systems of rules or principles that are suited for human beings as they are, or at least as there is some hope that they may become in the foreseeable future.« (Singer, Cannold und Kuhse 1995, 84) 161 162
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ciations, and organizations. This is one of the basic ways in which we find fulfillment. So it is not at all surprising that we should value our membership in groups. 165
Mackies, Hookers und Schefflers Gründe für den Egoismus und die Parteilichkeit dürfen aber nicht in dem Sinne missverstanden werden, dass behauptet wird, dass deshalb, weil der Mensch von Natur aus egoistisch und parteiisch ist, Parteilichkeit für die Unsrigen gerechtfertigt ist und wir daraus besondere Pflichten ableiten können. Das wäre ein Sein-Sollen-Fehlschluss. Allerdings sind der natürliche Egoismus und der Hang zur Parteilichkeit über einen Umweg dennoch für die Frage relevant, an welchen moralischen Prinzipien der individuelle Akteur seine täglichen Entscheidungen auszurichten hat. Für die Annäherung an das optimale Aggregationsergebnis wird es notwendig sein, dass der Kernbestand an moralischen Prinzipien als starke Intuitionen und Handlungsdispositionen im moralischen Akteur verankert wird. 166 Die Verankerung derartiger Prinzipien als Intuitionen und Handlungsdispositionen erzeugt aber wiederum Internalisierungskosten, so zum Beispiel die Sanktionskosten durch Tadel und andere Strafen bei der moralischen Erziehung. Sind die Internalisierungskosten für ein bestimmtes Prinzip sehr hoch, dann kann es im Sinne einer Annäherung an das optimale Aggregationsergebnis selbst dann besser sein, dieses Prinzip nicht zu verankern, wenn das verankerte Prinzip an sich zu einer Annäherung an das optimale Aggregationsergebnis führen würde. 167 Dies ist dann der Fall, wenn die Internalisierungskosten den Gewinn, der aus der Verankerung entsteht, überschreiten. In diesen Fällen wird es besser sein, ein alternatives Prinzip mit deutlich geringeren Internalisierungskosten zu verankern, wenn es dadurch insgesamt zu einer besseren Annäherung an das optimale Aggregationsergebnis kommt. An dieser Stelle kommen der Egoismus und der Hang zur Parteilichkeit in der menschlichen Natur ins Spiel. Je stärker die menschliche Natur zum Egoismus und zur Parteilichkeit tendiert, desto höher sind die Internalisierungskosten von Prinzipien, die dem Egoismus und der Parteilichkeit entgegenstehen. Mit Hooker ist zu sagen: The difficulty would come from getting the rule infused into people’s motivations. For getting that one rule internalized amounts to getting people to 165 166 167
Scheffler 2010, 107. Vgl. insbesondere Hare 1992, 94. Vgl. auch Birnbacher 2016, 229–230.
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be disposed always to do what would be impartially best. To get people to be always perfectly impartial is to push them a very long way from natural biases towards themselves and their loved ones. Of course, there are benefits to be gained from getting people to care about others, and to be willing to make sacrifices for those outside their circle of family and friends. But the time, energy, attention, and psychological conflict that would be needed to get people to internalize an overriding impartial altruism would be immense. 168
Aus diesem Grund kann die menschliche Natur dazu führen, dass sich eine gewisse Parteilichkeit aus der Unparteilichkeit rechtfertigen lässt, nämlich weil die Internalisierung einer starken Unparteilichkeit zu hohe Kosten erzeugen kann. Hinzu kommt, dass nicht nur die reinen Internalisierungskosten beträchtlich wären, sondern, wie bereits an anderer Stelle dargestellt, weitere Kosten berücksichtigt werden müssen: The cost of having equal concern for all is that there would be no more than weak concern for any. To have but weak concern for others would preclude the obtaining of deep personal attachments. To lack deep personal attachments would in itself be a loss. In addition, it would deprive us of much pleasure and of much of our sense of security. 169
Das wird insbesondere an der Fähigkeit zu lieben deutlich, die ein zentrales Element der menschlichen Natur ist. 170 Mit Slote lässt sich sagen, dass Liebe ein Motiv ist, das langfristig zu sehr viel Wohlergehen führt, voraussichtlich sogar zu mehr als der Versuch, immer den besten Zustand direkt zu erzielen: Thus a person who really loves his child will in some circumstances favour that child rather than perform an act that would do more good, impersonally considered. […] Yet such a tendency may have better long-run consequences than a love-precluding tendency always to prefer optimific actions, i. e., than a total and absorbing commitment to doing what is right by the act-consequentialist standard. 171
Es mag widersprüchlich klingen, dass eine parteiische Handlung, die »offensichtlich« weniger zur Annäherung an das optimale AggregaHooker 2000, 95. Hooker 2000, 141. Siehe auch die zitierten Aristotelesstellen in der Anmerkung 156 auf Seite 54. 170 Vgl. Stocker 1998, 23–27. 171 Slote 1985, 93. Eine Handlung ist optimific, wenn sie das Aggregationsgut optimal aggregiert. 168 169
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tionsergebnis führt als eine unparteiische Alternativhandlung, das langfristige Aggregationsergebnis verbessern soll. Doch mit Shaw lässt sich eine einfache Erklärung geben, wie es zu diesem vermeintlichen Paradox kommt: […] the affection we feel for them makes it more likely that we will in fact attempt to benefit them and that we will stick to long-term endeavors aimed at promoting their good. Because my well-being is often closely tied to theirs, acting to advance the interests of friends and loved ones – unlike acting to promote the interests of strangers – may involve little or no sacrifice on my part. 172
Weil die Internalisierung eines strengen Unparteilichkeitsprinzips (voraussichtlich) zu einer schlechteren Annäherung an das optimale Aggregationsergebnis führt und weil die Verankerung einer gewissen Parteilichkeit (voraussichtlich) zu einer Annäherung an das optimale Aggregationsergebnis führt, lässt sich aufgrund der menschlichen Natur innerhalb einer konsequentialistischen Theorie eine gewisse Parteilichkeit aus der Unparteilichkeit rechtfertigen. 173 Zu welcher gerechtfertigten Parteilichkeit bzw. zu welchen besonderen Pflichten dies genau führt, ist letztendlich von der spezifischen Theorie abhängig. 174
Argument der Effizienz Ein weiteres wichtiges Mittel des Konsequentialisten, um eine gewisse Parteilichkeit aus der Unparteilichkeit – und damit besondere Pflichten – zu rechtfertigen, besteht im Argument der Effizienz bzw. im Argument der moralischen Arbeitsteilung, wie es insbesondere bei nicht-konsequentialistischen Theorien genannt wird. 175 Mit Koller lässt sich sagen: Shaw 1999, 271. Vgl. auch Kupperman 1981, 309 und Shaw 1999, 130, der den Fokus allerdings auf den Altruismus und nicht auf die Unparteilichkeit legt. 174 Die Theorie wird in Teil 2 dargestellt und die sich daraus ergebenden besonderen Pflichten in Teil 3. 175 Siehe auch Gosepath 2001, 146. Im Rahmen dieses Überblicks werde ich das Argument der Effizienz und das Argument der moralischen Arbeitsteilung synonym verwenden. Ab Kapitel 9: Besondere Pflichten im Multi-Ebenen-Konsequentialismus werde ich das Argument der moralischen Arbeitsteilung lediglich als einen Teil der Effizienzargumente behandeln. 172 173
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Moralische Arbeitsteilung kann vielfältige Formen annehmen, die aber zwei Bedingungen erfüllen müssen, um aus unparteiischer Sicht annehmbar zu sein. Die in Betracht stehenden spezifischen Rechte und Pflichten müssen erstens, was das interne Verhältnis der beteiligten Personen betrifft, zweckmäßig in dem Sinne sein, daß sie es jenen Personen möglich machen, ihre grundlegenden Ziele besser oder zumindest nicht viel schlechter als auf anderen Wegen zu erreichen, und sie müssen zweitens, was ihre externen Auswirkungen auf andere Menschen angeht, verallgemeinerungsfähig sein, d. h. auch dann noch akzeptabel scheinen, wenn sie Teil einer allgemeinen geübten sozialen Praxis sind. 176
Das grundlegende Ziel eines moralischen Akteurs innerhalb einer konsequentialistischen Theorie wurde mit der überzeugenden Idee des Konsequentialismus ausgedrückt und besteht demnach darin, die Welt so gut wie möglich zu machen. Mit Sidgwick lässt sich dann erneut sagen, dass es insgesamt häufig besser ist, parteiisch zu handeln, weil wir zum einen mehr Freude aus der Interaktion mit unseren engsten Vertrauten ziehen und zum anderen in der Regel häufig besser wissen, was unseren engsten Vertrauten tatsächlich nützt. Zudem sind wir – zumindest in der Regel – in einer optimalen Lage, ihnen zu helfen. 177 In diesem Sinne lässt sich folgern, dass es im Sinne einer Annäherung an das optimale Aggregationsergebnis effizient sein wird, wenn Menschen das klare Gefühl haben, besondere Pflichten gegenüber den Ihrigen zu haben. Diese Gefühle können viel Gutes in Bereichen bewirken, die von anderen Institutionen nicht ähnlich gut abgedeckt werden können bzw. kostenintensiv wären. 178 Auf diese Weise lässt sich beispielsweise die erste Intuition, dass wir für die Unsrigen sorgen sollen, in einem gewissen Umfang konsequentialistisch einfangen. Und da sich die genannten Effizienzaspekte auch auf selbst eingegangene Verpflichtungen, wie ein gegebenes Versprechen, insbesondere mit Blick auf den koordinierenden Effekt, der mit diesen selbst eingegangenen Verpflichtungen einhergeht, übertragen lassen, kann auch die zweite Intuition, dass vorausgehende Handlungen moralisch relevant sind, in einem gewissen Umfang konsequentialistisch eingefangen werden. Allerdings reicht das Argument der Effizienz in dieser Form noch nicht aus, um die beiden ersten Versionen des Besondere-Pflich-
176 177 178
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Koller 2002, 211, Hervorhebung im Original. Vgl. Sidgwick 1981, 431–439. Vgl. auch Gheaus 2015, 89–90.
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ten-Einwands zurückzuweisen. Zunächst müsste geklärt werden, wie weit diese Gefühle und die entsprechenden Prinzipien bzw. besonderen Pflichten überhaupt zu reichen haben. Wahrscheinlich wären Gefühle gegenüber den eigenen Kindern und dem Ehepartner bzw. der Ehepartnerin sowie gegenüber engen Freunden zu rechtfertigen. Aber wie sieht es mit dem Cousin vierten Grades aus oder dem Arbeitskollegen, den man nur in der Mittagspause trifft? Zweitens müsste geklärt werden, zu was diese Gefühle einen überhaupt berechtigen. Eventuell darf man seine eigenen Kinder zuerst aus einer bedrohlichen Situation retten. Doch darf man dies auch, wenn dies den Tod von drei anderen Kindern verursacht? Oder darf man seine Amtsposition auch dafür gebrauchen, um Familienmitglieder in vorteilhafte Jobs zu bringen? Bei diesen Fragen kommt insbesondere im Rahmen einer konsequentialistischen Theorie die von Koller angesprochene zweite Bedingung, nämlich die der Verallgemeinerungsfähigkeit, ins Spiel. Mit Brink lässt sich zudem einwenden, dass es insbesondere mit Blick auf das Weltarmutsproblem häufig nicht einmal stimmt, dass die Hilfe gegenüber den Unsrigen effizienter ist als gegenüber Fremden: Moreover, often – where the beneficiaries are near at hand and the benefits in question are fairly obvious – I am just as well positioned epistemically and causally to benefit strangers as to benefit my associates. When this is so, the classical utilitarian has no reason to regard an agent’s investments in his friends as a more efficient use of his resources. 179
In diesem Sinne wäre nicht einmal die Zweckmäßigkeit gegeben. Inwieweit bestimmte besondere Pflichten tatsächlich zweckmäßig und verallgemeinerungsfähig sind, lässt sich nur im Rahmen einer spezifischen konsequentialistischen Theorie beantworten, die ich erst im zweiten Teil vorstellen werde. Daher ist es notwendig, die Diskussion an dieser Stelle zu unterbrechen und nach der Vorstellung einer plausiblen Form des Konsequentialismus fortzuführen. 180
Brink 2006, 400. Siehe insbesondere das Unterkapitel Argumente der Effizienz, vgl. aber auch die Kapitel 10–15. 179 180
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Das Prinzip des Schutzes der Verwundbaren Eine interessante Variation zum Argument der Effizienz hat Goodin mit seinem Prinzip des Schutzes der Verwundbaren (principle of protecting the vulnerable) 181 vorgestellt. Nach Goodin ist die Verletzbarkeit der zentrale Rechtfertigungsgrund für besondere Pflichten 182 und, zumindest in der Regel, bereits in konsequentialistischen Theorien enthalten: On any welfare-consequentialist reckoning, the more strongly and directly our actions affect someone else’s welfare interests, the more heavily those effects on that person should weigh with us in deciding our own course of action. From the simple fact that we are in an especially good position to protect those who are particularly vulnerable to us, it follows that we should give them »special consideration« of this sort. 183
Offensichtlich sind verschiedene Personen von uns in besonderer Weise verletzbar (zum Beispiel Familienmitglieder, Freunde und Wohltäter), weil sie von uns abhängig sind (zum Beispiel Kinder), weil sie emotional an uns gebunden sind (beispielsweise Freunde) oder wir ihnen aufgrund einer vorausgehenden Handlung etwas schuldig sind (wie einem Kreditgeber). 184 Aus dieser Verwundbarkeit lässt sich nach Goodin das Prinzip des Schutzes der Verwundbaren ableiten, welches sich aus drei Teilprinzipien zusammensetzt. First Principle of Individual Responsibility: If A’s interests are vulnerable to B’s actions and choices, B has a special responsibility to protect A’s interests; the strength of this responsibility depends strictly upon the degree to which B can affect A’s interests. 185 Principle of Group Responsibility: If A’s interests are vulnerable to the actions and choices of a group of individuals, either disjunctively or conjunctively, then that group has a special responsibility to (a) organize (formally or informally) and (b) implement a scheme for coordinated action by members of the group such that A’s interests will be protected as well as they can be by that group, consistently with the group’s other responsibilities. 186
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Vgl. Goodin 1985. Vgl. Goodin 1985, 109. Goodin 1985, 114–115. Siehe Goodin 1985, 70–107. Goodin 1985, 118, Hervorhebung im Original. Goodin 1985, 136, Hervorhebung im Original.
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Second Principle of Individual Responsibility: If B is a Member of a group that is responsible, under the Principle of Group Responsibility, for protecting A’s interests, then B has a special responsibility: a. to see to it, so far as he is able, that the group organizes a collective scheme of action such that it protects A’s interests as well as it can, consistently with the group’s other responsibilities; and b. to discharge fully and effectively the responsibilities allocated to him under any such scheme that might be organized, insofar as doing so is consistent with his other moral responsibilities, provided the scheme protects A’s interests better than none at all. 187
Doch letztlich ist es auch mit Goodins Prinzip nicht möglich, den Besondere-Pflichten-Einwand zurückzuweisen bzw. über Brinks Einwand gegen die Tragfähigkeit des Arguments der Effizienz hinauszugehen. So sind beispielsweise die Interessen der Menschen in absoluter Armut in hohem Maße davon abhängig, wie sich der moralische Akteur in den wohlhabenden Staaten verhält. Spendet er beispielsweise einen Großteil seiner Einkünfte an eine Organisation, die sich darauf spezialisiert hat, Menschen in absoluter Armut zu helfen, kann dies eine gewisse Anzahl an Menschen helfen, absolute Armut zu überwinden. In diesem Sinne hat der moralische Akteur die Verantwortung, die Interessen der Menschen in absoluter Armut zu schützen, und dies heißt letztlich, ihnen so weit wie möglich zu helfen, die absolute Armut zu überwinden. In diesem Sinne lässt sich mit Goodin zusammenfassen: »In short, the argument for protecting the vulnerable is first and foremost an argument for aiding those in dire need.« 188 Insbesondere für den Akteur in der westlichen Welt dürfte es aber nur selten der Fall sein, dass sich die Seinigen in entsetzlicher Not befinden. Demgegenüber wird es voraussichtlich immer andere, fremde Menschen geben, die sich stattdessen in einer entsetzlichen Not befinden.
Entscheidungstheoretischer Ansatz Eine der wohl prominentesten Antworten auf den Besondere-Pflichten-Einwand hat Jackson geliefert. Die Ausgangslage für seine Über187 188
Goodin 1985, 139, Hervorhebung im Original. Goodin 1985, 111.
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legung bildet eine Abwandlung seines bekannten Doktor-Jill-Szenarios 189: Jill has three patients, A, B, and C, and one drug, and only enough of that drug to administer to a single patient. […] For we are given that she knows that patient A will derive considerable benefit from the drug without being completely cured, and also that one or other of patients B and C would be completely cured by the drug. However, she also knows that one or other of patients B and C would be killed by the drug. She has no way of telling which of B and C would be the one completely cured and which would be the one killed. What ought Jill to do? 190
Nach Jackson hat Jill die Medizin dem Patienten A zu geben, obwohl sie weiß, dass es eine Handlung gibt, die zu einem besseren Ergebnis führen würde, nämlich entweder die Medizin dem Patienten B oder dem Patienten C zu geben. Allerdings ist ihr offensichtliches Problem, dass sie nicht weiß, welche dieser Handlungen zum optimalen und welche zum desaströsen Ergebnis führt. 191 Die Entscheidung darüber, wem Jill die Medizin geben soll, basiert auf dem entscheidungstheoretischen Ansatz, der sich nach Jackson folgendermaßen zusammenfassen lässt: Generalizing, the proposal is to recover what an agent ought to do at a time according to consequentialism from consequentialism’s value function – an assignment of value that goes by total consequent happiness, average consequent preference satisfaction, or whatever it may be in some particular version of consequentialism – together with the agent’s subjective probability function at the time in question […]. That is to say, the rule of action is to maximize ΣiPr(Oi/Aj) � V(Oi) where Pr is the agent’s probability function at the time, V is consequentialism’s value function, Oi are the possible outcomes, and Aj are the possible actions. 192 189 »Jill is a physician who has to decide on the correct treatment for her patient, John, who has a minor but not trivial skin complaint. She has three drugs to choose from: drug A, drug B, and drug C. Careful consideration of the literature has led her to the following opinions. Drug A is very likely to relieve the condition but will not completely cure it. One of drugs B and C will completely cure the skin condition; the other though will kill the patient, and there is no way that she can tell which of the two is the perfect cure and which the killer drug.« (Jackson 1991, 462–463) 190 Jackson 1991, 472. 191 Vgl. Jackson 1991, 472–473. 192 Jackson 1991, 463–464, Hervorhebung im Original. Siehe auch Bykvist: »(1) List the possible outcomes of an action; (2) For each possible outcome, ask yourself how probable you think it is that the action will have that outcome (i. e., how strongly you believe that the action will have that outcome); (3) For each outcome, multiply the
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In diesem Sinne gibt es im dargestellten Doktor-Jill-Szenario drei Ergebnisse zu berücksichtigen: Erstens, Patient A erhält die Medizin: Pr(teilweise Heilung von A/A erhält die Medizin) � V(teilweise Heilung von A) + Pr(keine Veränderung bei B/ A erhält die Medizin) � V(keine Veränderung bei B) + Pr (keine Veränderung bei C/A erhält die Medizin) � V(keine Veränderung bei C) Zweitens, Patient B erhält die Medizin: Pr(keine Veränderung bei A/B erhält die Medizin) � V(keine Veränderung bei A) + Pr(vollständige Heilung von B/B erhält die Medizin) � V(vollständige Heilung von B) + Pr(Tod von B/ B erhält die Medizin) � V(Tod von B) + Pr(keine Veränderung bei C/B erhält die Medizin) � V(keine Änderung bei C) Drittens, Patient C erhält die Medizin: Pr(keine Veränderung bei A/C erhält die Medizin) � V(keine Veränderung bei A) + Pr(keine Veränderung bei B/C erhält die Medizin) � V(keine Änderung bei B) + Pr(vollständige Heilung von C/C erhält die Medizin) � V(vollständige Heilung von C) + Pr(Tod von C/C erhält die Medizin) � V(Tod von C)
Da der Unterschied zwischen einer teilweisen Genesung und vollständiger Genesung nicht so groß ist wie der Unterschied zwischen einer vollständigen Genesung und dem Tod, hat sich Jill dazu zu entscheiden, die Medizin dem Patienten A zu geben. In diesem Sinne folgert Jackson mit Bezug auf den Besondere-Pflichten-Einwand zunächst einmal, dass das Handeln zugunsten einer kleinen Gruppe von Personen, wie unserer Familie oder unseren Freunden, auch dann nicht zeigen muss, dass wir auf der Basis von ungerechtfertigten Präferenzen gehandelt haben, wenn es eine alternative Handlung gegeben hat, die zu einem besseren Ergebnis geführt hätte. 193 Darüber hinaus rechtfertigt Jackson über das Argument der Effizienz und das Argument der menschlichen Natur, dass die Unsrigen häufig dem Patienten A entsprechen, dem man zwar helfen kann, aber nicht so gut wie anderen. Demgegenüber kann es sein, dass beim Versuch, immer dort zu helfen, wohin der Fokus des Akteurs fällt,
subjective probability of the outcome with the value you think it has in terms of total well-being; (4) Sum these products and you have the subjective expected total wellbeing of the action; (5) Repeat this procedure for all alternative actions.« (Bykvist 2010, 85) 193 Vgl. Jackson 1991, 473. Konsequentialismus und besondere Pflichten
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blinde Flecken entstehen, die nicht berücksichtigt werden, oder aber sich die Helfer gegenseitig blockieren und dergleichen mehr. In diesem Sinne entsprechen andere Menschen, die beispielsweise in Armut leben, häufig den Patienten B und C. 194 Wie ist Jacksons Zurückweisung des Besondere-Pflichten-Einwands zu bewerten? Dagegen, dass der Einwand mit Jackson zurückgewiesen werden kann, sprechen drei Probleme. So lässt sich zunächst einmal einwenden, dass Jacksons entscheidungstheoretischer Ansatz zu subjektiv ist, weil er der Wahrscheinlichkeitsbewertung des individuellen Akteurs einen zu großen Raum einräumt. Zwar ist Doktor Jill in den jeweiligen Doktor-Jill-Szenarien nahezu vollständig informiert, das heißt, sie kennt die exakten Wahrscheinlichkeiten, aber dies muss und wird in der realen Welt nicht immer der Fall sein. Akteure können schlicht und ergreifend (schuldhaft) völlig fehlinformiert sein. 195 Dies ist zwar ein ernst zu nehmender Einwand, allerdings lässt sich Jacksons Ansatz leicht anpassen, indem die subjektive Wahrscheinlichkeitsfunktion in eine epistemische Wahrscheinlichkeitsfunktion geändert wird, die dann jene Wahrscheinlichkeit zugrunde legt, für die der Akteur gute Gründe hat. 196 Da Jacksons Argument zu einem wesentlichen Teil auf dem Argument der Effizienz und dem Argument der menschlichen Natur basiert, läuft er jedoch zweitens in die gleichen Einwände bzw. Probleme, die mit diesen beiden Argumenten einhergehen. Mit Brink lässt sich erneut sagen, dass, wenn es offensichtlich ist, dass eine Handlung zugunsten von Fremden zu einem besseren Ergebnis führt, sich der Akteur für die Handlung zugunsten der Fremden zu entscheiden hat. Jackson gesteht dies im Rahmen eines anderen Beispiels auch ein: As the point is sometimes put, though it would be quite wrong to neglect family and friends in order to achieve a small increase in welfare elsewhere, it would be quite proper to neglect them in order to achieve peace in the Middle East. 197
194 Vgl. Jackson 1991, 473–475. Jackson sagt nicht direkt, dass Freunde und Familienmitglieder dem Patienten A und Fremde den Patienten B und C entsprechen, allerdings ergibt sich dies aus der Argumentation. 195 Vgl. Bykvist 2010, 86. 196 Vgl. Bykvist 2010, 87. 197 Jackson 1991, 474.
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In Anbetracht des Weltarmutsproblems steht der Akteur aber durchgängig vor diesem Problem. Eine Linderung der absoluten Armut für eine Vielzahl von Menschen ist auch nicht nur eine kleine, sondern eine erhebliche Verbesserung. Jackson sieht das Problem und versucht sich mit einer Antwort auf ein Szenario von Railton daraus zu entziehen. In diesem Szenario überlegt Juan, der mit seiner Frau in einer Fernbeziehung lebt, ob er sie in einer depressiven Phase häufiger besucht, was mit höheren Kosten einhergeht. Jackson verweist zum einen darauf, dass es im Sinne des entscheidungstheoretischen Ansatzes nicht darauf ankommt, ob eine Handlung bessere Konsequenzen hat, sondern wie groß das Produkt aus diesem Wert der Handlung und der Wahrscheinlichkeit ist, dass dieser Wert tatsächlich erreicht wird, im Vergleich zu einem alternativen Produkt. Zum anderen verweist er darauf, dass eine isolierte Wohltätigkeitshandlung ggf. nicht einmal etwas Gutes bewirkt. It is important here to remember that the relevant consequence of sending, say, $ 500, should not be approached by asking what $ 500 will buy in the Third World, but by addressing the likely differences between what would we achieved by the sum Oxfam would have without Juan’s $ 500, and what would be achieved by the sum with Juan’s $ 500. 198
Eventuell hat Jackson sogar recht: Es kann durchaus sein, dass eine 500-$-Spende an Oxfam überhaupt keinen Unterschied macht, weil durch diese Summe kein neues Projekt angestoßen wird und auch kein bestehendes Projekt mehr Geld erhält; vielleicht werden die 500 $ nur für die Aufstockung einer Reserve verwendet, die nie benötigt wird. Fraglich ist aber dennoch, was diese Argumentation austrägt, weil vermutlich ein relevanter Teil der Spenden an Oxfam durch derartige Einzelspenden zusammengekommen ist, die in der Summe eben doch dazu führen, dass Oxfam mit diesem Geld viel Positives erreichen kann, was ohne die Einzelspenden nicht möglich wäre. 199 Aber selbst wenn Jackson mit diesem Punkt grundsätzlich recht hat, hilft er ihm nicht weiter. Juan muss die eingesparten 500 $ nicht an Oxfam oder eine vergleichbar große Organisation geben, bei der nicht klar ist, ob seine 500 $ einen entscheidenden Unterschied machen. Er kann das Geld auch einer Organisation spenden, von der er weiß oder zumindest annehmen kann, dass sein Geld einen rele198 199
Jackson 1991, 477, Hervorhebung im Original. Vgl. beispielsweise Cottingham 2010, 82–83.
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vanten Unterschied macht. Zu denken ist beispielsweise an lokale Organisationen, die sich für Bedürftige einsetzen. Dies kann beispielsweise ein örtlicher Verein sein, der sich für die professionelle Betreuung von depressiven Menschen einsetzt. Im besten Fall ist der erzielte Nutzen wahrscheinlich geringer als im besten Fall bei Oxfam, aber die Pointe des entscheidungstheoretischen Ansatzes ist gerade, dass es nicht auf den tatsächlichen Nutzen ankommt, sondern auf die Verrechnung mit der Wahrscheinlichkeit des Eintretens. Doch selbst wenn die Ergebnisse in derartigen Situationen für die Handlung zugunsten der Unsrigen sprechen sollten, ist es fraglich, ob dies überhaupt gegen den Besondere-Pflichten-Einwand hilfreich ist. Es stellt sich nämlich ein drittes Problem, welches offensichtlich wird, wenn zwischen zwei Fragen deutlich unterschieden wird: Erstens kann gefragt werden, welche Handlung moralisch richtig ist, bzw. allgemeiner, was die richtigmachenden Merkmale einer Handlung sind. Zweitens kann aber auch gefragt werden, für welche Handlung sich ein Akteur entscheiden soll, wenn er nicht weiß, welche Handlung moralisch richtig ist – obwohl er ggf. weiß, was die richtigmachenden Merkmale einer Handlung sind. 200 Mir scheint, dass Jackson eine Antwort auf die zweite Frage zu geben versucht. Die Doktor-Jill-Beispiele sind so konstruiert, dass es eine Handlung gibt, die zu einem optimalen Ergebnis führt und dementsprechend als moralisch richtig zu bewerten ist. Doch Jill weiß jeweils nicht, welche Handlung das Kriterium erfüllt, und muss daher ihre Handlung an einer alternativen Entscheidungsprozedur – Jacksons entscheidungstheoretischem Ansatz – ausrichten. In diesem Fall kann es zwar richtig sein, dass man sich für eine Handlung zugunsten der Seinigen entschieden hat, dass diese Handlung aber dennoch als moralisch falsch zu bewerten ist. Jill weiß, dass es moralisch richtig wäre, die Medizin denjenigen Patienten zu geben, der dadurch vollständig geheilt wird. Aber nur weil sie nicht weiß, welcher Patient dies ist, hat sie sich für eine andere Handlung zu entscheiden. Doch in dieser Form hilft Jacksons entscheidungstheoretischer Ansatz nicht mehr gegen den Besondere-Pflichten-Einwand, gemäß dem es moralisch erlaubt sein muss, für die Unsrigen zu sorgen, bzw. gemäß dem die vorausgehenden Handlungen moralisch relevant sind. 201 Ob diejenige Handlung, für die sich der Akteur entscheiden soll, gleichzeitig als 200 201
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Siehe hierzu insbesondere das 5. Kapitel Sekundärprinzip und Tertiärprinzip. Vgl. auch Betzler und Schroth 2014, 283.
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moralisch richtig zu charakterisieren sind, ist von der jeweiligen Theorie abhängig. Ich halte dies für möglich, sehe aber nicht, dass dies bei Jackson der Fall ist. Im Rahmen der jeweiligen Theorie muss auch ein weiteres Problem gelöst werden: Vielfach wird es für den individuellen Akteur nicht möglich sein, die von Jackson vorgeschlagene Berechnung sinnvoll durchzuführen, insbesondere nicht im Rahmen der epistemischen Wahrscheinlichkeitsfunktion. Woher weiß Juan beispielsweise, wie wahrscheinlich es ist, dass Oxfam sein Geld nicht verwenden wird? Geklärt werden muss in diesem Sinne ebenso, für welche Handlung sich der Akteur in derartigen Situationen zu entscheiden hat. Dies läuft auf die allgemeine Frage hinaus, wie eine ideale Entscheidungsprozedur aussieht. Einen Hinweis darauf, auf den ich indirekt im zweiten und dritten Teil zurückkommen werde, hat Eggleston gegeben: The principle underlying their answer is simple: for any given person, the ideal decision procedure is the one whose possession and employment by that person would maximize overall well-being. For most people, the ideal decision procedure is probably some variant of common-sense morality: a decision procedure giving considerable weight to values such as honesty, the keeping of promises, the special ties constitutive of love and friendship, and so on. 202
Zwischenfazit In diesem Unterkapitel wurden sieben Argumente bzw. begriffliche Anpassungen diskutiert, mit denen besondere Pflichten bzw. gerechtfertigte Parteilichkeit in Einklang mit dem Konsequentialismus gebracht werden können. Dabei musste das Argument, dass besondere Pflichten nicht als moralische Pflichten zu verstehen sind, insbesondere deshalb zurückgewiesen werden, weil dieser Anpassungsversuch grundsätzlich am Besondere-Pflichten-Einwand vorbeigeht, da mit diesem dem Konsequentialismus gerade vorgeworfen wird, dass er nicht in der Lage ist, die moralische Relevanz besonderer Pflichten anzuerkennen. In ein ähnliches Problem droht Jacksons entscheidungstheoretischer Ansatz zu laufen, nämlich dann, wenn damit eine Antwort auf die Frage gegeben wird, für welche Handlung sich ein 202
Eggleston 2014, 140.
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Akteur entscheiden soll, wenn er nicht weiß, welche Handlung moralisch richtig ist. Allerdings muss Jacksons entscheidungstheoretischer Ansatz nicht in dieser Form verstanden werden; er kann auch als eine Antwort auf die Frage verstanden werden, welche Merkmale eine Handlung moralisch richtig machen. Unabhängig davon, auf welche Frage der entscheidungstheoretische Ansatz eine Antwort gibt, hängt das Ergebnis zusätzlich von zwei weiteren Argumenten ab: dem Argument der Effizienz und dem der menschlichen Natur. Diese Abhängigkeit teilt sich Jacksons Ansatz mit Barons Verweis darauf, dass Parteilichkeit in einer unparteiischen Moral auf einer niedrigeren Ebene gerechtfertigt werden kann. Dies ist möglich, wenn eine gewisse Parteilichkeit bzw. besondere Pflichten direkt aus der Unparteilichkeit gerechtfertigt werden. Insofern dies möglich ist, kann der Konsequentialist in der Tat eine gewisse Parteilichkeit und ggf. auch besondere Pflichten rechtfertigen. Ob dies möglich ist, hängt letztlich jedoch von der spezifischen Theorie ab, beispielsweise, ob sie verschiedene Ebenen zulässt. Was das Argument der Effizienz und der menschlichen Natur für den Konsequentialisten mit Blick auf den Besondere-PflichtenEinwand so wertvoll macht, ist beim Argument der Effizienz der Verweis darauf, dass es häufig für eine Annäherung an das optimale Aggregationsergebnis effizienter ist, wenn sich der Akteur um die Seinigen kümmert. Darüber hinaus kann mit dem Argument der menschlichen Natur gezeigt werden, dass aufgrund der menschlichen Natur die Internalisierungskosten für eine strenge Unparteilichkeit zu groß wären und es daher ebenso effizienter ist, wenn sich Menschen in einem gewissen Umfang vorrangig um die Ihrigen kümmern. Zu welcher gerechtfertigten Parteilichkeit bzw. zu welchen besonderen Pflichten das Argument der Effizienz und der menschlichen Natur führt, ist wiederum von der jeweiligen Theorie abhängig. Eine zentrale Frage ist beispielsweise, ob die daraus ableitbaren Handlungsregeln eine eigene moralische Relevanz haben oder ob sie nur als Faustregeln ohne eigene moralische Relevanz zu verstehen sind. Mit Blick auf die dritte Intuition, die dem Besondere-PflichtenEinwand zugrunde liegt, ist eines der wichtigsten Ergebnisse dieses Unterkapitels, dass akteur-relative Gründe auch im Rahmen einer konsequentialistischen Theorie moralisch relevant sind, weil akteurneutrale Gründe und akteur-relative Gründe in einem wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis stehen. Insgesamt werden damit zwei Punkte aus diesem Abschnitt offensichtlich: Erstens hält der Kon84
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sequentialismus bzw. ein angemessenes Verständnis der grundlegenden Begriffe weitreichende Ressourcen bereit, um eine gewisse Parteilichkeit bzw. besondere Pflichten zu rechtfertigen, und zweitens hängt die Reichweite dieser Rechtfertigung maßgeblich von der spezifischen Theorie ab. Entsprechend werde ich in den folgenden Abschnitten verschiedene konsequentialistische Theorien darstellen, mit denen (vermeintlich) der Besondere-Pflichten-Einwand zurückgewiesen werden kann.
Theorieabhängige Anpassungen Satisficing-Konsequentialismus Eine erste Möglichkeit, den Besondere-Pflichten-Einwand mit Hilfe einer Anpassung der Theorie zurückzuweisen, besteht mit dem Satisficing-Konsequentialismus. Ausgearbeitet und vorgestellt wurde dieser insbesondere von Slote. 203 Beim Satisficing-Konsequentialismus wird das Kriterium der moralischen Richtigkeit nicht, wie beispielsweise bei einem utilitaristischen Maximierungsprinzip, erst dann erfüllt, wenn das Aggregationsgut optimal aggregiert wird; vielmehr ist es bereits erfüllt, wenn eine bestimmte Schwelle überschritten wurde. Die Handlung muss in diesem Sinne nur gut genug sein. Durch diese Strategie schafft es der Satisficing-Konsequentialist, verschiedene Intuitionen, die gegen konsequentialistische Theorien sprechen, mit seiner Theorie zu vereinbaren. In diesem Sinne kann beispielsweise ein Akteur, der vor der Wahl steht, eine Handlung zu seinen eigenen Gunsten oder zugunsten einer anderen Person zu vollziehen, auch ohne moralisch falsch zu handeln, die Handlung zugunsten der anderen Person vollziehen, wenn nicht diese, sondern die Handlung zu seinen eigenen Gunsten optimal gewesen wäre – zumindest dann, wenn die Handlung zugunsten der anderen Person noch immer gut genug ist. Dies entspricht dem Gemeinsinn, gemäß dem es nicht moralisch falsch ist, einen Teil seines eigenen Glückes zum Wohle anderer zu opfern. Demgegenüber wäre diese Handlung nach einer (klassischen) Maximierungsvariante des Konsequentialismus moralisch falsch und verboten.
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Slote 1985.
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Auf diese Weise kann der Satisficing-Konsequentialismus weitere Einwände, wie zum Beispiel den Besondere-Pflichten-Einwand, entkräften. Bezüglich des Kanu-Szenarios 204 kann es eben gut genug und damit moralisch richtig sein, das eigene Kind zu retten. Prima facie ist ein derartiger Satisficing-Konsequentialismus deutlich attraktiver als ein Maximizing-Konsequentialismus. Mit Hooker lässt sich sagen: One of the great attractions of satisficing act utilitarianism in comparison with maximizing act utilitarianism is that satisficing act utilitarianism leaves the agent with a larger range of morally permissible alternatives. […] The other great attraction of satisficing act utilitarianism is that it typically requires less self-sacrifice of the agent than does maximizing act utilitarianism. 205
Doch die Attraktivität des Satisficing-Konsequentialismus wird mit theoretischen Problemen erkauft, die letztlich dazu führen, dass der Satisficing-Konsequentialismus zurückzuweisen ist. So stellt sich zunächst einmal die Frage, wann eine Handlung genau gut genug ist. Im Wesentlichen gibt es zwei Möglichkeiten, um dies zu bestimmen: Entweder wird ein fixer Punkt festgelegt, wann das Kriterium erfüllt ist, oder aber »gut genug« wird in Relation zur bestmöglichen Handlung bestimmt. Das heißt, dass eine Handlung beispielsweise dann gut genug ist, wenn das Aggregationsergebnis nicht schlechter ist als das 0,8-Fache der bestmöglichen Handlung. 206 Beide Varianten sind jedoch – nicht zuletzt aufgrund der unvermeidlichen Willkürlichkeit bei der Festlegung des entsprechenden Wertes – problematisch. Darüber hinaus stellt sich die Frage, wie ein Akteur in der realen Welt wissen kann, wann eine Handlung gut genug ist. Doch selbst wenn diese Probleme befriedigend gelöst werden können, stellen sich weitere. Denn nun muss gezeigt werden, dass der Satisficing-Konsequentialismus nach dieser Beantwortung seine Attraktivität behält, indem er beispielsweise dem moralischen Akteur mehr erlaubte Alternativen lässt und deutlich weniger Selbstaufopferung von ihm verlangt. Ob ihm das gelingt, ist allerdings fraglich, denn der Akteur ist noch immer dazu aufgefordert, ein Ergebnis hervorzubringen, das mindestens gut genug ist. Bis dieses »gut genug« Siehe Anmerkung 12. Hooker 2014, 281–282. 206 Zu einer Diskussion der Probleme mit dieser zweiten Variante siehe beispielsweise Dreier 2011, 107–109. 204 205
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erreicht ist, können aber noch immer substanzielle Einschnitte gefordert sein. 207 Unterscheidet sich der Satisficing-Konsequentialismus auf der anderen Seite substanziell vom Maximierungs-Konsequentialismus, dann bedeutet dies, dass der Akteur auch dann eine Handlung mit deutlich schlechteren Konsequenzen wählen kann, wenn eine Alternativhandlung mit besseren Konsequenzen für ihn keinen Mehraufwand bedeutet hätte, also in keiner Hinsicht mehr fordernd ist. Diese Konsequenz scheint im höchsten Maße irrational zu sein und widerspricht zusätzlich der überzeugenden Idee des Konsequentialismus. 208 Eine Möglichkeit, dieser Kritik zu entgehen, wäre eine Anpassung dahingehend, dass die Handlung mit den schlechteren Konsequenzen nur dann erlaubt ist, wenn die Alternativhandlung nur unter großen eigenen Opfern möglich ist. Doch auch das kann für den Konsequentialisten keine Option sein. Denn damit wird eines der zentralen Prinzipien, die Unparteilichkeit, verletzt. Das Wohlergehen des Akteurs sollte dasselbe Gewicht haben wie das Wohlergehen aller anderen Personen. 209 Auf der Basis von Bykvists Kriterien lassen sich entsprechend diesen Kritikpunkten zahlreiche Mängel nachweisen, die in der Summe nahelegen, dass der Satisficing-Konsequentialismus zurückzuweisen ist. Zunächst einmal fehlt eine Klarheit hinsichtlich der relevanten Frage: Wann erfüllt eine Handlung das Kriterium »gut genug« bzw. wann ist sie satisficing oder moralisch richtig? Ohne diese Klärung bleibt es vage, wann eine Handlung ausreichend ist und wann nicht. Fraglich ist bereits, woran sich die Bestimmung des Kriteriums überhaupt orientieren soll; wenn nicht am Maximum, scheint jegliche Festsetzung willkürlich zu sein und zeugt von mangelnder Erklärungskraft. Solange diese Frage jedoch nicht beantwortet ist, bietet die Theorie auch keine Vorschrift, die der moralische Akteur befolgen kann. Hinzu kommt, dass die Theorie in eines von zwei Hörnern stoßen muss, die die moralische Stimmigkeit betreffen. Entweder ist die Bedingung für »gut genug« in der Nähe des utilitaristischen Kriteriums, dann liefert die Theorie Prinzipien, die wir ggf. Vgl. Bykvist 2010, 102. Vgl. Eggleston 2014, 131 sowie Bradley 2006, 101–104 und Vessel 2010, 303. 209 Vgl. Bykvist 2010, 161. Vorausgesetzt ist, dass sich eine entsprechende Parteilichkeit nicht aus der Unparteilichkeit rechtfertigen lässt. Wenn ich im Folgenden davon spreche, dass das Prinzip der Unparteilichkeit verletzt wird, dann gehe ich zugleich davon aus, dass sich die entsprechende Parteilichkeit nicht auf einer niedrigeren Stufe rechtfertigen lässt. 207 208
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nach geeigneter Reflexion nicht anerkennen können, weil sie zu fordernd sind. In diesem Fall wird das Problem der unrealistisch hohen motivationalen Kapazitäten relevant. Oder das Kriterium ist deutlich weniger fordernd; dann wird sie aber ebenso Handlungen als erlaubt zulassen, die intuitiv als verboten angesehen werden. Ohne eine genaue Bestimmung dessen, wann eine Handlung gut genug ist, kann zudem nicht beantwortet werden, ob ein moralischer Akteur dazu in der Lage ist, diese Informationen zu erhalten und entsprechend zu berechnen. Aufgrund der dargestellten Probleme halte ich den Satisficing-Konsequentialismus daher für keine plausible Ausformulierung einer konsequentialistischen Theorie, was gleichzeitig bedeutet, dass mit ihr der Besondere-Pflichten-Einwand nicht zurückgewiesen werden kann.
Skalarer Utilitarismus Einen weiteren Vorschlag zur Modifikation des Konsequentialismus hat Norcross vorgeschlagen. Dieser basiert auf zwei wesentlichen Feststellungen: Erstens lässt das utilitaristische Maximierungskriterium, nach dem die Richtigkeit und Falschheit einer Handlung bestimmt wird, offensichtlich keine Grade zu. Zweitens hängt die Beantwortung der Frage, ob eine Handlung moralisch richtig oder falsch ist, von der Eigenschaft ab, wie viel Gutes in Abhängigkeit von den verfügbaren Alternativen produziert wird. Dies lässt jedoch verschiedene Grade zu. 210 In diesem Sinne stellt Norcross die Frage: »Why, then, is rightness and wrongness not a matter of degree?« 211 Dementsprechend lautet Norcross’ These: »from the point of view of a consequentialist, actions should be evaluated purely in terms that admit of degrees.« 212 Zur Begründung verweist Norcross auf einige Probleme des Utilitarismus, die durch die Nicht-Anerkennung von Graden entstehen: So sei zum Beispiel ein Akteur angenommen, der von seinem Einkommen einen bestimmten Betrag, in diesem Fall 10 Prozent, zu spenden hat. Der Unterschied, ob er 8 oder 9 Prozent spendet, ist offensichtlich in etwa der gleiche wie der Unterschied zwischen 9 oder 10 Prozent und ebenso zwischen 11 oder 210 211 212
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Vgl. Norcross 2006, 217. Norcross 2006, 217. Norcross 2006, 217.
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12 Prozent. Die Ähnlichkeit sollte sich nach Norcross auch in moralischen Ähnlichkeiten widerspiegeln: A moral theory which says that there is a really significant moral difference between giving 9 percent and 10 percent, but not between giving 11 percent and 12 percent, looks misguided. 213
Demgegenüber muss eine Alles-oder-nichts-Theorie wie der Maximierungsutilitarismus eine Art Grenzwert annehmen – im konkreten Fall liegt dieser bei 10 Prozent des Einkommens – und muss darüber hinaus gleiche Unterschiede unterschiedlich bewerten. In diesem Sinne macht die Spendendifferenz eines Akteurs einen großen Unterschied, wenn sie zwischen 9 und 10 Prozent liegt, aber einen kleinen Unterschied, wenn sie zwischen 8 oder 9 Prozent oder zwischen 11 oder 12 Prozent liegt, obwohl die Abstände jeweils gleich sind; nach Norcross ist dies wenig plausibel. 214 Hinzu kommt, dass es schwierig zu sehen ist, wie zwischen dem richtigen Betrag und einem, der unwesentlich kleiner ist (vielleicht um 0,1 Prozent), ein relevanter Unterschied bestehen kann. 215 Ein weiteres Problem ist, dass die Wahl des Grenzwertes willkürlich ist. Dies gilt nach Norcross nicht nur für einen Satisficing-Konsequentialismus, sondern auch für einen Maximierungs-Konsequentialismus. 216 Um diese Schwierigkeiten zu vermeiden, kommt Norcross zu folgendem Ergebnis: My suggestion is that utilitarianism should be treated simply as a theory of the goodness of states of affairs and of the comparative value of actions, which rates alternative possible actions in comparison with each other. This system of evaluation yields information about which alternatives are better than which and by how much. 217
In diesem Sinne lautet die Bewertung einer Handlung entweder, dass sie schlicht besser ist als eine andere, oder aber, insofern man an den Begriffen richtig oder falsch festhalten will, dass eine Handlung »richtiger« ist als eine alternative Handlung. 218 Norcross 2006, 220, Hervorhebung im Original. Vgl. Norcross 2006, 220–221. 215 Vgl. Norcross 2006, 222. 216 Vgl. Norcross 2006, 221. Siehe auch: »But why should a utilitarian be concerned with maximal utility, or any other specific amount?« (Norcross 2006, 223). 217 Norcross 2006, 223. Natürlich lässt sich dieses Ergebnis auch auf andere konsequentialistische Theorien übertragen, weshalb ich im Folgenden die Begriffe Utilitarismus und Konsequentialismus synonym verwende. 218 Fraglich ist bereits, inwiefern eine Handlung richtiger als eine andere richtige 213 214
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Zunächst einmal mag die Frage gestellt werden, worin der relevante Unterschied zwischen dem skalaren Utilitarismus bzw. Konsequentialismus und dem Satisficing-Konsequentialismus besteht. Mit Norcross lässt er sich wie folgt zusammenfassen: Satisficing versions of utilitarianism, no less than the traditional ones, assume that the rightness of an action is an all-or-nothing property. If an action does not produce at least the required amount of good, then it is wrong; otherwise it is right. 219
Damit liegt der Satisficing-Konsequentialismus näher am Maximierungs-Konsequentialismus als an einem skalaren Konsequentialismus, weil beiden Theorien gemeinsam ist, dass der Akteur entweder die notwendige Menge an Gutem erreicht hat und die Handlung entsprechend moralisch richtig ist oder aber, die notwendige Menge an Gutem wurde nicht erreicht, so dass die Handlung moralisch falsch ist. 220 Auf diese Weise läuft der Satisficing-Konsequentialismus in die gleiche Kritik von Norcross wie der Maximizing-Konsequentialismus. Hinsichtlich der gerechtfertigten Parteilichkeit bzw. der besonderen Pflichten kommt der skalare Utilitarismus in Verbindung mit dem Argument der Effizienz und dem Argument der menschlichen Natur zu folgendem Ergebnis: Offensichtlich sind Handlungen zugunsten der Unsrigen bzw. Handlungen, für die es akteur-relative Gründe gibt, dazu geeignet, zu einer Annäherung an das optimale Aggregationsergebnis zu führen. Demgegenüber mag es sein, dass andere Handlungen zu einer besseren Annäherung an das optimale Aggregationsergebnis führen. Gemäß dem skalaren Utilitarismus ist die alternative Handlung zwar »richtiger« (oder besser) als die Handlung gemäß den besonderen Pflichten, aber Letztere ist noch immer ein »wenig richtig« oder einfach etwas schlechter als die alternative Handlung. In diesem Sinne handelt der Akteur nicht moralisch falsch, wenn er zugunsten der Seinigen handelt, sondern lediglich »weniger richtig« oder weniger gut.
Handlung sein kann. Norcross selbst lehnt die Bewertung in richtig oder falsch ab, hält es aber für möglich, aus Nützlichkeitsgründen daran festzuhalten (vgl. Norcross 2006, 228). Vgl. demgegenüber auch Lawlor 2009. 219 Norcross 2006, 219. 220 Vgl. Norcross 2006, 219–220.
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Doch an dieser Stelle werden die Probleme des skalaren Utilitarismus offensichtlich, denn für welche Handlung hat sich der Akteur nun zu entscheiden? Reicht es, wenn er sich für diejenige Handlung entscheidet, die immer noch ein »wenig richtig« oder ein wenig gut ist? Oder muss er sich immer für die beste oder »richtigste« Handlung entscheiden? Zunächst einmal stellt Norcross im Rahmen der Diskussion von supererogatorischen Handlungen 221 dar, dass es keine Pflichten im skalaren Utilitarismus gibt: [T]he scalar utilitarian will deny the existence of duty as a fundamental moral category, and so will deny the possibility of actions that go »beyond« our duty, in the sense of being better than whatever duty demands. 222
Demnach kann der moralische Akteur nicht verpflichtet sein, sich für die beste oder »richtigste« Handlung zu entscheiden. Norcross ist sich bewusst, dass die Zurückweisung von Pflichten den Einwand der fehlenden Handlungsleitung der moralischen Theorie provoziert. Diesen versucht er vorab in zwei Schritten zurückzuweisen. Erstens definiert und begrenzt er die grundsätzliche Aufgabe des Utilitarismus neu: Utilitarianism should not be seen as giving an account of right action, in the sense of an action demanded by morality, but only as giving an account of what states of affairs are good and which actions are better than which other possible alternatives and by how much. The fundamental moral fact about an action is how good it is relative to other available alternatives. Once a range of options has been evaluated in terms of goodness, all the morally relevant facts about those options have been discovered. There is no further fact of the form »x is right,« »x is to-be-done,« or »x is demanded by morality.« 223
Zweitens versucht er zu zeigen, dass auch ein skalarer Utilitarismus handlungsleitend ist: The fact that one action is better than another gives us a moral reason to prefer the first to the second. Morality thus guides action in a scalar fashion. 224
221 Zur Diskussion supererogatorischer Handlungen im Multi-Ebenen-Konsequentialismus siehe auch das Unterkapitel Supererogatorische Handlungen. 222 Norcross 2006, 227. 223 Norcross 2006, 228, Hervorhebung im Original. 224 Norcross 2006, 231.
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Hinsichtlich des Besondere-Pflichten-Einwands läuft der skalare Utilitarismus damit jedoch in eine Sackgasse. Zunächst einmal ist die Rede von besonderen Pflichten als Pflichten im skalaren Utilitarismus nach Norcross hinfällig, weil Pflichten als fundamentale moralische Kategorie verworfen werden. Zum anderen ist es fraglich, was es genau bedeuten soll, dass eine bessere Handlung einen moralischen Grund liefert, diese Handlung zu bevorzugen. Wird dieser moralische Grund beispielsweise mit dem Overridingness-Prinzip 225 verknüpft, dann stellt sich das Grundproblem erneut, dass der Akteur immer dann nicht zugunsten der Seinigen handeln kann, wenn eine andere Handlung besser ist. Wird demgegenüber das OverridingnessPrinzip nicht vertreten, stellt sich erneut das Problem der Handlungsleitung. Wie ist die Theorie mit Bykvists Kriterien zu bewerten? Zunächst einmal ist fraglich, ob das Kriterium der Klarheit erfüllt ist. Was bedeutet es beispielsweise, dass eine Handlung richtiger ist als eine andere Handlung, die immer noch richtig, aber weniger richtig ist? Zwar kann Norcross diese Schwierigkeit umgehen, indem er die Begriffe richtig und falsch fallen lässt. Damit aber werden die Probleme hinsichtlich der Reichweite bzw. Anwendbarkeit umso größer. Fallen gelassen werden nicht nur zentrale Begriffe, wie zum Beispiel der Pflicht, sondern allgemein Begriffe, die wichtig für die Handlungsleitung sind – fraglich ist beispielsweise, wann eine Handlung verboten oder eben verpflichtend ist. Will der skalare Utilitarismus die handlungsleitende Funktion nicht aufgeben, muss er klären, was darunter zu verstehen sein soll, dass ein Akteur zwar nicht die Pflicht hat, eine Handlung auszuführen, er aber dennoch moralische Gründe dazu hat. Insofern die bessere Handlung aber, wie Norcross es darstellt, moralische Gründe liefert, läuft sie, insofern das Overridingness-Prinzip akzeptiert wird, offensichtlich in die gleichen Überforderungseinwände wie der klassische Utilitarismus. Doch wie dargestellt, ist der Utilitarismus nach Norcross überhaupt nicht als eine Theorie zu verstehen, die irgendetwas fordert. An dieser Stelle ist unklar, wie Norcross die verschiedenen Aspekte zusammenbringen kann, zumal er zentrale Begriffe aufgibt. Aus diesen Gründen gehe ich davon aus, dass der skalare Utilitarismus als unplausible Form des Konsequentialismus zurückzuweisen ist.
225
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Siehe Anmerkung 140.
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Social Proximity Utilitarianism und Intrinsic Value Utilitarianism Mit dem Social Proximity Utilitarianism (SPU) hat Feldman einen weiteren Vorschlag gemacht, wie sozial näherstehenden Menschen ein größeres Gewicht beigemessen werden kann. 226 Dies wird im Social Proximity Utilitarianism erreicht, indem die Nützlichkeitsberechnung eines gewöhnlichen Handlungsutilitarismus leicht abgewandelt wird, ohne dabei das Maximierungsprinzip aufzugeben: We count the pleasures and pains of those socially near to us more heavily than we do the pleasures and pains of those socially more distant. The pleasures and pains of my immediate family count very heavily; those of distant starving children in Bangladesh hardly at all. 227
Gemäß einer derartigen Modifikation kann insbesondere der ersten Intuition bezüglich des Besondere-Pflichten-Einwandes Rechnung getragen werden: The theory is designed to reflect intuitions such as the intuition that other things being equal, I have a greater moral obligation to guard the welfare of my own child than I have to guard the welfare of some unknown, distant child. 228
Nach Vessel lässt sich der Social Proximity Utilitarianism wie folgt formalisieren: »SPU: an alternative, A, is morally right iff no alternative to A has a higher social proximity-adjusted hedonic utility than A has.« 229 Ganz allgemein funktioniert der Social Proximity Utilitarianism wie folgt: Jeder Personengruppe wird ein Multiplikator zwischen 0 und 1 zugeordnet. Je größer die soziale Nähe ist, umso größer ist der Multiplikator. Im Übrigen verhält sich der Social Proximity Utilitarianism wie ein gewöhnlicher Handlungsutilitarismus, nur dass am Ende nicht der hedonische Nutzen (HU) einer Handlung, sondern der Social Proximity-Adjusted Hedonic Utility (SP-Adjusted HU) verglichen wird.
226 Zu beachten ist, dass Feldman diesen Vorschlag nur vorbringt, jedoch nicht für diesen argumentiert oder zu zeigen versucht, dass man diese Spielart des Utilitarismus akzeptieren sollte. 227 Feldman 1988, 141. 228 Feldman 1988, 141. 229 Vessel 2010, 312, Hervorhebung im Original.
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Auf das Kanu-Szenario 230 von Jeske und Fumerton angewandt, würde der Social Proximity Utilitarianism wie folgt funktionieren: Das eigene Kind steht dem Akteur sehr nahe und würde einen entsprechend hohen Multiplikator (MEK) von 0,9 erhalten. Die beiden fremden Kinder stehen dem Akteur deutlich weniger nahe und würden einen entsprechend niedrigeren Multiplikator (MFK) von beispielsweise 0,4 erhalten. Dem Akteur stehen im Wesentlichen zwei Handlungen (H1 und H2) zur Verfügung: Entweder (H1) er rettet sein eigenes Kind (EK) und die beiden fremden Kinder (FK1, FK2) sterben, oder (H2) er lässt sein eigenes Kind sterben, damit er die beiden fremden Kinder retten kann. Angenommen, der Tod eines Kindes bedeutet einen Nutzen (N) von 0, während das Überleben mit einem Nutzen von 600 bewertet wird, dann ergibt sich unter sonst gleichen Bedingungen: H1: SP-Adjusted HU = (NEK * MEK) + (NFK1 * MFK) + (NFK2 * MFK) = (600 * 0,9) + (0 * 0,4) + (0 * 0,4) = 540 + 0 + 0 = 540 H2: SP-Adjusted HU = (NEK * MEK) + (NFK1 * MFK) + (NFK2 * MFK) = (0 * 0,9) + (600 * 0,4) + (600 * 0,4) = 0 + 240 + 240 = 480
Demnach wäre die Handlung H1 moralisch richtig, weil sie den höheren SP-Adjusted HU hervorbringt. In diesem Sinne ist der Social Proximity Utilitarianism geeignet, den Besondere-Pflichten-Einwand zumindest teilweise zu entkräften. 231 Allerdings sind sowohl die theoretischen als auch die praktischen Schwierigkeiten des SPU gravierend. Zwei davon, die in der Summe ausreichen, den Social Proximity Utilitarianism sofort zurückzuweisen, seien hier genannt. Erstens: Mit Sidgwick lässt sich kritisieren, dass die Multiplikatoren dagegen verstoßen, dass jedes Individuum als gleich wichtig zu betrachten ist: For Utilitarianism is sometimes said to resolve all virtue into universal and impartial Benevolence: it does not, however, prescribe that we should love all men equally, but that we should aim at Happiness generally as our ultimate end, and so consider the happiness of any one individual as equally important with the equal happiness of any other, as an element of this total; and should distribute our kindness so as to make this total as great as possible, in whatever way this result may be attained. 232 230 231 232
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Siehe Anmerkung 12. Vgl. Vessel 2010, 310–311. Sidgwick 1981, 241, Hervorhebung geändert.
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In diesem Sinne ist nicht ersichtlich, wie die Zuweisung von unterschiedlichen Multiplikatoren in Abhängigkeit von der sozialen Nähe damit vereinbar ist, dass alle Individuen als gleich wichtig berücksichtigt werden. Im Gegenteil, fremden Menschen wird offensichtlich ein Nachteil auferlegt, der umso größer ist, je größer die soziale Distanz ist. Eine stärkere Gewichtung derjenigen Menschen, die dem Akteur sozial näherstehen, lässt sich weder aus dem Argument der Effizienz noch aus dem Argument der menschlichen Natur rechtfertigen; diese setzen gewissermaßen einen Schritt später an und zeigen, dass es selbst bei der Gleichgewichtung häufig effizienter ist, parteiisch zu handeln. Daraus lässt sich aber nicht ableiten, dass von vornherein den sozial Näherstehenden ein größeres Gewicht beizumessen ist. Diese Form der Parteilichkeit lässt sich demnach nicht aus der Unparteilichkeit rechtfertigen. In diesem Sinne lässt sich folgern, dass es keinen relevanten Grund gibt, diejenigen, die sozial näherstehen, von vornherein stärker zu gewichten. Gegen diesen Einwand lässt sich mit Bykvist eine abgewandelte Version vorbringen, die ich den Intrinsic Value Utilitarianism (IVU) nenne. Die Grundidee ist folgende: Es kann als ein positiver intrinsischer Wert aufgefasst werden, dass man nicht von irgendeiner (fremden) Person gerettet wird, sondern von einer ganz bestimmten Person, so zum Beispiel, dass das Kind von den eigenen Eltern gerettet wird. More generally, it is good that children are saved by their parents because this expresses the intrinsic value of parental care. This is consistent with utilitarianism if we add that it is good in itself for children to be the object of parental care. 233
Auf diese Weise wird den eigenen Kindern kein größerer Wert zugeschrieben und mit Blick auf das Kanu-Szenario ließe sich dennoch argumentieren, dass es erlaubt – und sogar stärker noch: verpflichtend – ist, das eigene Kind zu retten, wenn der mit dem intrinsischen Wert angepasste Nutzen (IV-Adjusted U), der sich aus der Rettung des eigenen Kindes ergibt, den IV-Adjusted U, der sich aus der Rettung der beiden fremden Kinder ergibt, übersteigt. Dies ist dann der Fall, wenn die Summe des Wohlergehens, dass aus der Rettung des eigenen Kindes plus des intrinsischen Wertes, dass das eigene Kind
233
Bykvist 2010, 120, Hervorhebung im Original.
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durch den eigenen Vater gerettet wurde, den Wohlergehensverlust der beiden fremden Kinder aufwiegt. Angenommen, der intrinsische Wert, von den eigenen Eltern gerettet zu werden (IVEE), liegt bei 650, der intrinsische Wert, von jemand Fremdes oder gar nicht gerettet zu werden (IV0), hingegen bei 0. Im Kanu-Szenario von Jeske und Fumerton ergibt sich dann erneut, dass dem Vater die bereits dargestellten Handlungen (H1 und H2) zur Verfügung stehen. Unter sonst gleichen Bedingungen gelangt man zum folgenden Ergebnis: H1: IV-Adjusted U = (NEK + IVEE) + (NFK1 + IV0) + (NFK2 + IV0) = (600 + 650) + (0 + 0) + (0 + 0) = 1250 + 0 + 0 = 1250 H2: IV-Adjusted U = (NEK + IV0) + (NFK1 + IV0) + (NFK2 + IV0) = (0 + 0) + (600 + 0) + (600 + 0) = 0 + 600 + 600 = 1200
Während der IVU zwar dem dargestellten Einwand entgeht, läuft er aber zusammen mit dem SPU in einen weiteren Einwand. Zweitens lässt sich einwenden, dass noch immer zu klären bleibt, wie groß der jeweilige Multiplikator bzw. der intrinsische Wert ist. Angenommen, der Multiplikator liegt für die fremden Kinder nicht bei 0,4, sondern bei 0,5, und der intrinsische Wert, von seinen eigenen Eltern gerettet zu werden, liegt nicht bei 650, sondern »nur« bei 550, dann sieht die Bewertung im Kanu-Szenario folgendermaßen aus: H1: SP-Adjusted HU = (EK * MEK) + (FK1 * MFK) + (FK2 * MFK) = (600 * 0,9) + (0 * 0,5) + (0 * 0,5) = 540 + 0 + 0 = 540 H2: SP-Adjusted HU = (EK * MEK) + (FK1 * MFK) + (FK2 * MFK) = (0 * 0,9) + (600 * 0,5) + (600 * 0,5) = 0 + 300 + 300 = 600 H1: IV-Adjusted U = (NEK + IVEE) + (NFK1 + IV0) + (NFK2 + IV0) = (600 + 550) + (0 + 0) + (0 + 0) = 1150 + 0 + 0 = 1150 H2: IV-Adjusted U = (NEK + IV0) + (NFK1 + IV0) + (NFK2 + IV0) = (0 + 0) + (600 + 0) + (600 + 0) = 0 + 600 + 600 = 1200
In diesem Fall ist aber jeweils die Handlung H2 moralisch richtig. Eine überzeugende Begründung, warum der jeweilige Multiplikator oder der intrinsische Wert einen bestimmten Wert haben soll, kann nicht geliefert werden. 234 Jedwede Festlegung wird in einem bedeu234
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Vgl. auch Bykvist 2010, 119.
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tenden Maße willkürlich sein und das Ausmaß dieser Willkür wird noch größer sein, wenn der entsprechende Akteur den Multiplikator in der entsprechenden Situation selbst bestimmen muss. Hinzu kommt, dass, wie in den Beispielen gezeigt, bereits kleine Änderungen zu unterschiedlichen Bewertungen führen können. Solange der entsprechende Multiplikator oder intrinsische Wert jedoch nicht feststeht, ist für den individuellen Akteur in einer realen Situation nur selten zu erkennen, welche Handlung er ausführen soll. 235 Mit Bykvists Kriterien lässt sich dann eine größtenteils identische Kritik wie beim Satisficing-Konsequentialismus vorbringen. Zunächst einmal fehlt ebenso eine Klarheit hinsichtlich der Frage, wie hoch der relevante Faktor bzw. Wert ist. Ohne diese Klärung bleibt das zentrale Element erneut vage und nicht für den Akteur anwendbar. Hinzu kommt abermals, dass beide Theorien in eines von zwei Hörnern stoßen müssen, die die moralische Stimmigkeit betreffen. Entweder ist der Faktor bzw. der intrinsische Wert so gering, dass er praktisch irrelevant ist und nur als eine Art Tie-Breaker dient; dann liefern die Theorien aber ebenso Prinzipien, die wir ggf. nach einer geeigneten Reflexion nicht anerkennen können, weil sie zu fordernd sind und unrealistisch hohe motivationale Kapazitäten erfordern. Oder der Faktor bzw. der intrinsische Wert ist so hoch, dass Handlungen verpflichtend werden, die intuitiv als verboten angesehen werden. Zudem vergrößern diese Theorien ein ohnehin bestehendes Problem des Handlungsutilitarismus. Für die Berechnung der moralisch richtigen Handlung sind sehr viele, teils schwer zu erhaltende Informationen nötig. Darüber hinaus wird der Bestimmungsaufwand nochmals erhöht, was dazu führen wird, dass die Bestimmung der moralisch richtigen Handlung seltener möglich sein wird. Aus diesen Gründen ist sowohl der Social Proximity Utilitarianism als auch der Intrinsic Value Utilitarianism keine plausible Ausformulierung einer konsequentialistischen Theorie. 236 235 Dies wäre lediglich dann der Fall, wenn der einzig relevante Unterschied zwischen den alternativen Handlungen darin besteht, dass eine Handlung zugunsten der näherstehenden Person ausfällt, während es keine Unterschiede hinsichtlich der Anzahl der betroffenen Personen und des Einflusses auf das jeweilige Wohlergehen gibt. 236 Einen weiteren Weg, Parteilichkeit zu rechtfertigen, schlägt Scheffler mit seinem Ansatz des agent-centered prerogatives vor. Gemäß diesem darf ein Handelnder seinen eigenen Interessen ein proportional größeres Gewicht einräumen und ist somit nicht verpflichtet, immer den besten Zustand in der Welt hervorzubringen (vgl.
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Konsequentialisierung und Common-Sense-Konsequentialismus Eine weitere Möglichkeit, besondere Pflichten innerhalb einer konsequentialistischen Theorie zu integrieren, ist die der Konsequentialisierung, die in den letzten Jahren insbesondere von Portmore 237 vertreten wurde. Die zentrale These von Portmore lautet, that any plausible nonconsequentialist theory can be consequentialized, which is to say that, for any plausible nonconsequentialist theory, we can construct a consequentialist theory that yields, in every possible world, the exact same set of deontic verdicts that it yields. 238
Die Grundidee besteht darin, über die Methode der Konsequentialisierung die Intuition einzufangen, dass es Handlungen gibt, die intrinsisch falsch sind, obwohl sie ggf. gute Konsequenzen haben, und es entsprechend moralisch verboten sein sollte, diese auszuführen und gleichzeitig die überzeugende Idee des Konsequentialismus beizubehalten. 239 Über den Weg der Konsequentialisierung ist es somit sowohl möglich, deontologische Pflichten – und dazu zählen letztlich auch besondere Pflichten – als auch akteur-relative Werte und Gründe innerhalb einer konsequentialistischen Theorie zu integrieren. Wie die Konsequentialisierung funktioniert, lässt sich am Beispiel
Scheffler 2003, 5). Obwohl Schefflers Ansatz ein wichtiger Beitrag in der Debatte um gerechtfertigte Parteilichkeit darstellt, werde ich aus zwei Gründen nicht detailliert auf diesen eingehen. Der wichtigste Grund ist der offensichtliche Umstand, dass Schefflers Argumentation nur im Rahmen einer nicht-konsequentialistischen Theorie Anwendung findet, während sich diese Arbeit eben genau auf diese konsequentialistischen Theorien bezieht. Zweitens lässt sich mit Sarah Stroud einwenden, dass Schefflers agent-centered prerogatives im Grunde genommen keine allgemeine Rechtfertigung für eine Parteilichkeit bzw. für besondere Pflichten liefert, sondern nur für eine gerechtfertigte Parteilichkeit zugunsten der eigenen Interessen und Projekte, zu denen Freunde und Verwandte nicht unbedingt zählen müssen. In diesem Sinne handelt es sich um eine Parteilichkeit für sich selbst, die keineswegs den Umfang der gerechtfertigten Parteilichkeit, die mit dem Besondere-Pflichten-Einwand ausgedrückt wird, abdeckt (vgl. Stroud 2010, 137–138). 237 Siehe insbesondere Portmore 2011, vgl. aber auch Dreier 2011. 238 Portmore 2011, 84. Siehe auch die Äquivalenzthese von Dreier: »each plausible moral view has an equivalent consequentialist view« (Dreier 2011, 97). Letztlich läuft dies mit einigen anderen Thesen auf die Behauptung hinaus, dass jede plausible Moraltheorie eine konsequentialistische Theorie ist (vgl. Dreier 2011, 98). Allerdings bleibt bei Dreier offen, was genau unter plausibel zu verstehen ist (vgl. Dreier 2011, 105–106). 239 Portmore 2011, 84–85.
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der Konsequentialisierung einer nicht-konsequentialistischen Theorie in eine Version des maximierenden Handlungskonsequentialismus skizzieren: For any act that the nonconsequentialist theory takes to be morally permissible, deny that its outcome is outranked by that of any other available act alternative. For any act that the nonconsequentialist theory takes to be morally impermissible, hold that its outcome is outranked by that of each permissible act alternative. And, for any act that the nonconsequentialist theory takes to be morally obligatory, hold that its outcome outranks that of every other available act alternative. 240
Da sich diese Methode ebenso auf besondere Pflichten anwenden lässt, können mittels der Konsequentialisierung all jene Intuitionen angemessen berücksichtigt werden, die die Grundlage des Besondere-Pflichten-Einwands bilden. 241 Allerdings ist es mehr als fraglich, ob die Konsequentialisierung zu einer plausiblen Form des Konsequentialismus führt. Eine prägnante Kritik an dieser Methode, an der ich mich im Folgenden orientieren werde, haben Betzler und Schroth 242 vorgelegt. Zunächst einmal lässt sich mit Betzler und Schroth einwenden, dass ein derartiger Konsequentialismus zwar das Konsequentialisierungs- und Maximierungsgebot beibehält, aber unter anderem »die intuitionsfreie Anwendung des konsequentialistischen Moralkriteriums« 243 aufgibt. Dadurch kommt es letztlich zu moralischer Beliebigkeit. Mit Betzler und Schroth lässt sich sagen, dass ein derartiger Common-Sense-Konsequentialismus 244 im Grunde nur noch das Skelett eines Konsequentialismus ist, das beliebig befüllt werden kann und muss, da es ihm an einer Theorie des Guten – genauer:
240 Portmore 2011, 86. Um beispielsweise Theorien zu konsequentialisieren, die akteur-relative Verbote enthalten, ist es darüber hinaus notwendig, dass die Rangfolge der Ergebnisse akteur-relativ ist (vgl. Portmore 2011, 86–87). Für eine alternative Beschreibung der Konsequentialisierung siehe Dreier 2011. 241 Vgl. Portmore 2011, 97–103. 242 Siehe Betzler und Schroth 2014. 243 Betzler und Schroth 2014, 292. 244 Der Begriff Common-Sense-Konsequentialismus lässt sich auf Portmores Buch Commonsense Consequentialism: Wherein Morality Meets Rationality zurückführen und meint eine Theorie, die entsprechend der Konsequentialisierung konsequentialisiert wurde.
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einer akteur-relativen Theorie des Guten – fehlt. 245 Hinzu kommt, dass sich der Konsequentialist nicht nur einige Vorteile der deontologischen Ethik erkauft, sondern auch Nachteile. Deutlich wird dieses Problem unter anderem bei Fragen danach, wann das Verhindern einer zu großen Opferzahl eine intrinsisch schlechte Handlung, beispielsweise das Foltern eines Terroristen, überwiegt. Der klassische Konsequentialist hat darauf eine einfache Antwort. Dieser Punkt ist dann erreicht, wenn das entsprechende Aggregationsgut durch eine Handlung (voraussichtlich) besser aggregiert wird. Dem CommonSense-Konsequentialismus steht diese Möglichkeit aber nicht offen; er ist mit den gleichen Schwellenwertproblemen konfrontiert wie die deontologischen Theorien. 246 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der moralische Gehalt des Commonsense Konsequentialismus vollständig von der deontologischen Theorie (bzw. von unseren vortheoretischen moralischen Überzeugungen) übernommen wird und er als Moraltheorie selbst keinerlei moralischen Gehalt beisteuert. 247
Doch damit ist der Common-Sense-Konsequentialismus nur ein Übersetzungsverfahren, das keinerlei Hilfe bei der Frage bietet, wie der Inhalt einer plausiblen Moraltheorie aussieht; anders ausgedrückt: Auf die Frage, »welche deontologische Theorie wir konsequentialisieren sollen« 248, liefert der Common-Sense-Konsequentialismus keine Antwort. Letztlich gibt der Common-Sense-Konsequentialismus nach Betzler und Schroth sogar die überzeugende Idee des Konsequentialismus auf, weil es im Common-Sense-Konsequentialismus nicht mehr das Gute und den besten Zustand, sondern nur noch das Gute vom Standpunkt des Akteurs, das Gute vom Standpunkt der Betroffenen und das Gute vom Standpunkt eines Beobachters [gibt]. 249
Doch dann »gibt es keinen unparteiisch bestimmten besten Zustand mehr, auf den wir alle hinarbeiten sollen, um die Welt zum bestmöglichen Ort zu machen.« 250 245 246 247 248 249 250
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Vgl. Betzler und Schroth 2014, 292. Vgl. Betzler und Schroth 2014, 294–295. Betzler und Schroth 2014, 296. Betzler und Schroth 2014, 296. Betzler und Schroth 2014, 298, Hervorhebung im Original. Betzler und Schroth 2014, 301.
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Theorieabhängige Anpassungen
Mit Bykvists Kriterien lassen sich gegen die Konsequentialisierung und damit gegen den Common-Sense-Konsequentialismus zwei schwerwiegende Einwände vorbringen. Erstens ist das Kriterium der Einfachheit nicht erfüllt. Wie dargestellt lässt sich der CommonSense-Konsequentialismus letztlich nur als eine Übersetzung einer (beliebigen) deontologischen Theorie verstehen, ohne dabei einen relevanten Mehrwert zu liefern. In diesem Sinne kommt eine rein deontologische Theorie mit weniger Prinzipien aus und ist vorzuziehen. Zweitens ist die Erklärungskraft und Reichweite stark begrenzt. Ohne eine akteur-relative Theorie des Guten kann nicht überzeugend klargemacht werden, warum bestimmte Prinzipien richtig sind bzw. warum es zu einer entsprechenden Rangfolge von Konsequenzen kommt. Hinzu kommt, dass die überzeugende Idee des Konsequentialismus mit der Konsequentialisierung aufgegeben wurde, was dem Common-Sense-Konsequentialismus die größte Attraktivität nimmt. Daher ist die Methode der Konsequentialisierung und entsprechend der Common-Sense-Konsequentialismus keine plausible Form des Konsequentialismus.
Regelkonsequentialismus Eine weitere Möglichkeit für den Konsequentialisten, dem Besondere-Pflichten-Einwand zu entgehen, besteht in der Verteidigung eines indirekten Konsequentialismus. Die am meisten diskutierte Form eines indirekten Konsequentialismus, auf die ich mich an dieser Stelle beschränken werde, ist der Regelkonsequentialismus. Während nach dem Handlungskonsequentialismus eine Handlung dann moralisch richtig ist, wenn ihre Konsequenzen mindestens so gut sind wie die Konsequenzen jeder alternativen Handlung, ist im Regelkonsequentialismus eine Handlung dann moralisch richtig, wenn sie den verankerten Regeln entspricht. Das Set der verankerten Regeln wird wiederum beispielsweise danach ausgewählt, welche Regeln im Falle ihrer kollektiven Befolgung (voraussichtlich) zu einer Annäherung an das optimale Aggregationsergebnis führen. Die Stärke des Regelkonsequentialismus ist, dass er das Argument der Effizienz und der menschlichen Natur voll ausspielen kann und somit weitreichende Intuitionen bezüglich besonderer Pflichten angemessen aufnehmen kann. So lässt sich sagen, dass in Anbetracht der Tatsache, wie viel Wohlergehen Menschen aus stabilen Freundschaften und wohlgeordKonsequentialismus und besondere Pflichten
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neten Familienbeziehungen schöpfen, zu einem idealen Set auch Regeln gehören werden, die zur (teilweisen) Bevorzugung von Freunden und Familienmitgliedern verpflichten. Gleiches lässt sich auf vorausgehende Handlungen, wie eines gegebenen Versprechens, übertragen. In der konkreten Situation kommt es nach dem Regelkonsequentialismus für den moralischen Akteur dann nicht mehr darauf an, jene Handlung auszuführen, die den zu aggregierenden Wert (voraussichtlich) maximiert, sondern jene Handlung, die im Einklang mit den Regeln des idealen Sets stehen. Für den Fall, dass im idealen Set also die Regel enthalten ist, sich vorrangig um die eigenen Kinder zu kümmern, ist es beispielsweise für den Regelkonsequentialisten in der Kanu-Situation 251 moralisch richtig, das eigene Kind zu retten. In diesem Sinne ist der Regelkonsequentialismus in der Lage, die ersten beiden Intuitionen des Besondere-Pflichten-Einwandes aufzunehmen. Mit Howard-Snyder lässt sich zudem argumentieren, dass der Regelkonsequentialismus dazu in der Lage ist, die dritte Intuition aufzunehmen. Nach Howard-Snyder enthält der Regelkonsequentialismus (RC), insofern er plausibel formuliert ist, notwendig ein akteur-relatives Element. RC tells the agent to produce the state of affairs: the agent behaves in accordance with a rule such that if that rule were generally accepted at least as much good would be produced as would be produced if some other rule were generally accepted. 252
Interessanterweise ist nach Howard-Snyder damit der Regelkonsequentialismus keine konsequentialistische, sondern vielmehr eine deontologische Theorie. Denn nach Howard-Snyder ist das zentrale Element des Konsequentialismus seine ausschließliche Akteur-Neutralität: »What is crucial to the account of consequentialism that I have been discussing is that a view is consequentialist if it does not include any agent-centered element.« 253 Demgegenüber ist es nach Howard-Snyder gerade das zentrale Element deontologischer Theorien, dass diese auch akteur-relativ sein können, weshalb der Regelkonsequentialismus im Grunde genommen eine deontologische Theorie ist. 254 Insofern Howard-Snyder damit recht hätte, würde sich
251 252 253 254
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Siehe Anmerkung 12. Howard-Snyder 1993, 272, Hervorhebung im Original. Howard-Snyder 1993, 274, Hervorhebung im Original. Howard-Snyder 1993, 272–273.
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der Regelkonsequentialismus als konsequentialistische Theorie, mit der der Besondere-Pflichten-Einwand zurückgewiesen werden kann, disqualifizieren, da mit dem Regelkonsequentialismus eben nicht mehr gezeigt werden könnte, dass eine plausible Form des Konsequentialismus in der Lage ist, die drei grundlegenden Intuitionen des Besondere-Pflichten-Einwands aufzunehmen, sondern nur, dass der Regelkonsequentialismus als deontologische Theorie dazu in der Lage ist. Allerdings ist die Prämisse von Howard-Snyder, dass das entscheidende Kriterium für konsequentialistische Theorien die AkteurNeutralität ist, wenig plausibel. Vielmehr besteht das entscheidende Kriterium im Konsequenzprinzip, d. h. dass die moralische Richtigkeit und Falschheit einer Handlung ausschließlich von den Konsequenzen abhängt. 255 Bei der weiteren Frage danach, welche Konsequenzen genau relevant sind, können durchaus akteur-relative Kriterien gewählt werden, so zum Beispiel, wenn das Konsequenzprinzip in einem egoistischen Sinne genauer gefasst wird. 256 Damit wird die Theorie direkt akteur-relativ. Zwar ist diese Theorie mit Blick auf Bykvists Kriterien aller Voraussicht nach wenig plausibel, aber noch immer eine konsequentialistische Theorie. 257 Darüber hinaus gesteht Howard-Snyder ein, dass die These, dass überhaupt kein akteur-relatives Element enthalten sein darf, zu stark ist. Vielmehr geht es darum, dass das akteur-relative Element kein zentrales Element ist. 258 Doch dann lässt sich wiederum mit Hooker argumentieren, dass regelkonsequentialistische Theorien zwar akteur-relativ Elemente enthalten, diese Akteur-Relativität jedoch ebenso wenig zentral ist, da sie nur abgeleitet ist: Clearly, the agent-relativity in rule-consequentialism is derivative. Agentrelative rules are justified by their role in promoting agent-neutral value. So although Howard-Snyder is right that rule-consequentialism contains an agent-relative element at the level of requirements on action, rule-con-
Vgl. auch Dreier: »Since ›consequentialism‹ is a term of art used in various ways, there is no correct way to define it, but I will suppose that a view is consequentialist iff the deontic status it assigns an act (such as permissible) is a function of the goodness it assigns the consequences of that act, with the deontically superior acts having the better consequences.« (Dreier 2011, 97, Hervorhebung im Original) 256 Vgl. Sinnott-Armstrong 2015, 5–6 und 23–25 sowie Dreier 2011, 99. 257 Vgl. hierzu auch Howard-Snyder 1993, 274–275. 258 Vgl. Howard-Snyder 1993, 272. 255
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sequentialism contains no agent-relative element at the deeper level where alternative systems of rules are assessed. 259
Aus diesen beiden Gründen gehe ich davon aus, dass sich der Regelkonsequentialismus nicht sinnvollerweise als deontologische Theorie verstehen lässt, sondern weiterhin als eine Form des Konsequentialismus. Allerdings – und das ist für diese Ausarbeitung der wichtigere Punkt – bleibt der zweite Aspekt von Howard-Snyder, den Hooker bestätigt, bestehen: Der Regelkonsequentialismus enthält ein akteurrelatives Element und ist damit in der Lage, auch die dritte Intuition des Besondere-Pflichten-Einwands aufzunehmen. Allerdings lassen sich gegen den Regelkonsequentialismus andere gewichtige Einwände vorbringen, mit denen bestritten wird, dass es sich beim Regelkonsequentialismus um eine plausible Form des Konsequentialismus handelt. Hier ist insbesondere an die Einwände zu denken, dass er entweder in einen Handlungskonsequentialismus kollabiert oder aber inkonsistent ist. Da im 4. Kapitel auf die Frage zurückgekommen wird, ob die moralische Richtigkeit einer Handlung sinnvollerweise direkt von den Handlungen oder indirekt von den Regeln abhängt, und die Diskussion an der dortigen Stelle sinnvoller ist, werde ich an dieser Stelle nicht weiter auf den Regelkonsequentialismus eingehen. Vorweggenommen sei lediglich, dass der Regelkonsequentialismus nicht überzeugend aus den beiden dargestellten Einwänden herauskommt und daher nicht als plausible Form des Konsequentialismus den Besondere-Pflichten-Einwand zurückweisen kann. Allerdings – auch das wird ein Ergebnis der späteren Untersuchung sein – trägt der Regelkonsequentialismus einen wichtigen Aspekt zu einer plausiblen konsequentialistischen Theorie bei.
Zwei-Ebenen-Konsequentialismus Eine weitere prominente Variante, um gerechtfertigte Parteilichkeit und besondere Pflichten im Konsequentialismus zu integrieren, ist die Verteidigung eines Zwei-Ebenen-Konsequentialismus. Auf diese Weise kann die bereits diskutierte Rechtfertigung der Parteilichkeit aus der Unparteilichkeit, nämlich auf der zweiten Ebene erreicht werden. Der prominenteste Vertreter einer derartigen Zwei-Ebene-Theo259
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Hooker 1994, 94.
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Theorieabhängige Anpassungen
rie innerhalb des Konsequentialismus ist sicherlich Hare mit seinem Zwei-Ebenen-Utilitarismus, den er ausführlich in Moralisches Denken. Seine Ebenen. Seine Methode. Sein Witz 260 vertritt. Im Kern kann eine Zwei-Ebenen-Theorie als Versuch verstanden werden, die Vorzüge des Regel- und Handlungskonsequentialismus zu retten, ohne die Probleme zu übernehmen. Die Methode hierfür sieht wie folgt aus: Zunächst wird definiert, welche Merkmale eine Handlung grundsätzlich moralisch richtig machen und was demnach das moralische Grundprinzip dieser Theorie ist, wobei im Ergebnis ein handlungskonsequentialistisches Prinzip herauskommt. In einem zweiten Schritt wird dafür argumentiert, dass dieses Prinzip nicht für den Akteur in der realen Welt anwendbar ist und es zu einer besseren Annäherung an das optimale Aggregationsergebnis führt, wenn der einzelne Akteur sein Handeln stattdessen an einem bestimmten Set moralischer Regeln ausrichtet. Auf diese Weise wird eine zweite Ebene mit einem regelkonsequentialistischem Prinzip gerechtfertigt. Während also bei der ersten Ebene mit dem Grundprinzip Handlungen unparteiisch abgewogen werden (und so dem Prinzip der Unparteilichkeit entsprochen wird), lassen sich auf der zweiten Ebene eine gewisse Parteilichkeit und besondere Pflichten rechtfertigen. Die entscheidende Frage, die zu klären bleibt, ist, welchen moralischen Status die Prinzipien und Pflichten auf der zweiten Ebene haben, also ob sich diese nur im Sinne einer Entscheidungshilfe verstehen lassen, die nichts darüber aussagen, ob die Handlung auch moralisch richtig ist, oder ob beispielsweise ein Akteur, der gemäß der zweiten Ebene hätte handeln sollen, moralisch falsch handelt, wenn er (zufällig) eine Handlung ausführt, die gemäß der ersten Ebene moralisch richtig ist, aber nicht jene Handlung ist, für die er sich gemäß der zweiten Ebene hätte entscheiden sollen. Wie ich im zweiten Teil dieser Arbeit zeigen werde, bildet eine derartige Zwei-Ebenen-Theorie die Grundlage für eine plausible Form des Konsequentialismus, der allerdings um mindestens zwei weitere Ebenen zu ergänzen ist. Daher verschiebe ich – wie beim Regelkonsequentialismus – die Diskussion auf ein späteres Kapitel, in diesem Fall auf das 5. Kapitel. 260 Hare 1992. Vgl. aber auch Singer, Cannold und Kuhse 1995, 84, die dafür argumentieren, dass sich eine Zwei-Ebenen-Theorie bereits bei William Godwin nachweisen lässt.
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Zwischenfazit Singer, Cannold und Kuhse äußern das Gefühl, dass einige Vertreter der Unparteilichkeit bei der Anpassung ihrer Theorie auf die Einwände von Parteilichkeitsvertretern über das Ziel hinausgeschossen sind und Theorien vertreten haben, die sich kaum mehr als welche charakterisieren lassen, bei denen das Prinzip der Unparteilichkeit vertreten wird. 261 Eine derartige Kritik lässt sich ebenso auf Vertreter eines Konsequentialismus übertragen, die bei der Anpassung der Theorie auf etwaige Einwände über das Ziel hinausgeschossen sind und zu einer Theorie gelangt sind, die sich nicht mehr als eine plausible Form des Konsequentialismus verstehen lässt. Dies gilt insbesondere für den Common-Sense-Konsequentialismus von Portmore, den Satisficing-Konsequentialismus von Slote, den skalaren Utilitarismus von Norcross sowie den Social Proximity Utilitarianism und den Intrinsic Value Utilitarianism. Auf einem besseren Weg ist demgegenüber der Zwei-Ebenen-Konsequentialismus, in dem der Regelkonsequentialismus aufgeht. Mit diesem ist es möglich, an der überzeugenden Idee des Konsequentialismus festzuhalten und dennoch über das Argument der Effizienz und der menschlichen Natur besondere Pflichten zu rechtfertigen. Mit Blick auf die dritte Intuition, die dem Besondere-Pflichten-Einwand zugrunde liegt, ist ein wichtiges Ergebnis, dass der Regelkonsequentialismus – und damit auch ein Zwei- oder MultiEbenen-Konsequentialismus, bei dem sich eine Ebene regelkonsequentialistisch verstehen lässt – akteur-relative Elemente enthält. Genauer untersucht werden muss allerdings, welchen moralischen Status die besonderen Pflichten auf der niedrigeren Ebene haben und ob sich eine Ebene im Multi-Ebenen-Konsequentialismus tatsächlich regelkonsequentialistisch verstehen lässt. Entsprechend wird im nächsten Teil der Arbeit der Frage nachgegangen, wie eine plausible Form des Konsequentialismus im Detail aufgebaut ist.
Ergebnis des 3. Kapitels In diesem Kapitel wurden vier zentrale Ergebnisse erzielt. Erstens ist die Verankerung besonderer Pflichten von theorieinternen Problemen begleitet, die es fraglich machen, ob eine entsprechende Theorie 261
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Vgl. Singer, Cannold und Kuhse 1995, 83.
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Ergebnis des 3. Kapitels
tatsächlich plausibler ist als eine vergleichbare Theorie ohne besondere Pflichten. Dies gilt insbesondere im Rahmen einer nicht-reduktionistischen Rechtfertigung besonderer Pflichten. Hier sei beispielsweise an die theorieinternen Paradoxien erinnert sowie an das Problem, dass besondere Pflichten den moralischen Akteur zu kontraintuitiven Handlungen verpflichten können, und an die drohende Gefahr der Selbstwidersprüchlichkeit. 262 Zweitens konnte gezeigt werden, dass es theorieunabhängige Argumente gibt, zum Beispiel das Argument der menschlichen Natur und das Argument der Effizienz, mit deren Hilfe es konsequentialistischen Theorien möglich ist, die ersten beiden Intuitionen, die dem Besondere-Pflichten-Einwand zugrunde liegen, aufzunehmen. Insbesondere über eine genauere Analyse von akteur-neutralen und akteur-relativen Gründen konnte drittens gezeigt werden, dass akteur-neutrale Gründe teilweise von akteur-relativen Gründen abhängen. Die moralische Richtigkeit und Falschheit einer Handlung hängt daher auch in konsequentialistischen Theorien zumindest in einigen Fällen von akteur-relativen Gründen ab. Eng mit dem zweiten und dritten Ergebnis verbunden konnte viertens gezeigt werden, dass es einigen konsequentialistischen Theorien tatsächlich möglich ist, die entsprechenden Intuitionen aufzunehmen. Allerdings konnte ebenso gezeigt werden, dass diese Theorien – mit Ausnahme des Regelkonsequentialismus und Hares ZweiEbenen-Theorie, bei denen die Diskussion verschoben wurde – sich im Rahmen von Bykvists Kriterien nicht als plausible (konsequentialistische) Theorien verstehen lassen und somit nicht dazu geeignet sind, den Besondere-Pflichten-Einwand zurückzuweisen.
262
Siehe auch Murphy 2011, 1028.
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Teil 2: Theorie
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Kapitel 4: Grundprinzip
Nachdem in den vorausgegangenen Kapiteln gezeigt wurde, wie der Besondere-Pflichten-Einwand zu verstehen ist und welchen argumentativen Spielraum konsequentialistische Theorien ganz allgemein haben, um besondere Pflichten zu verankern, geht es in den folgenden Kapiteln um die Darstellung einer plausiblen Form des Konsequentialismus. In diesem Kapitel wird der Frage nachgegangen, wie ein plausibles Grundprinzip einer konsequentialistischen Theorie aussieht. Das ist die Frage danach, welche Merkmale eine Handlung grundsätzlich moralisch richtig machen. Was sind nun die Merkmale, die eine Handlung im Rahmen einer konsequentialistischen Theorie grundsätzlich moralisch richtig oder falsch machen? Wie bereits mehrfach dargestellt, lässt sich unter einer konsequentialistischen Theorie eine normative Theorie verstehen, gemäß der die moralische Richtigkeit und Falschheit einer Handlung ausschließlich von den Konsequenzen abhängt. Mit dieser formalen Definition ist jedoch nicht viel gewonnen. Wie gezeigt gibt es verschiedene Möglichkeiten der Ausgestaltung einer konsequentialistischen Theorie. Im Wesentlichen lassen sich die Unterschiede auf die Beantwortung von drei Fragen zurückführen: 1. 2. 3.
Was ist das Aggregationsgut? Was ist das Aggregationsprinzip? Welche Konsequenzen sind relevant? 1
In den folgenden Abschnitten werden diese Fragen der Reihe nach beantwortet. Aus diesen Teilantworten ergibt sich dann die Antwort auf die Frage, welche Merkmale eine Handlung grundsätzlich moralisch richtig oder falsch machen. Eine lesenswerte Darstellung, wie die Fragen im klassischen Konsequentialismus bzw. Utilitarismus beantwortet werden bzw. welche (zahlreichen) Behauptungen überhaupt vertreten werden, findet sich in Sinnott-Armstrong 2015, 2–4.
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Aggregationsgut Worauf es bei der Suche nach einem angemessenen Aggregationsgut ankommt, ist das Aufzeigen eines moralisch relevanten Gutes, das intrinsisch wertvoll ist. 2 In diesem Sinne ließe sich auch fragen, was die zugrunde liegende Theorie des Guten ist. Das entsprechende Gut wird im Folgenden als Wohlergehen bezeichnet, ohne an dieser Stelle vorwegzunehmen, was unter Wohlergehen genau zu verstehen ist. Mit Mill lässt sich beispielsweise sagen, dass Lust und das Freisein von Unlust die einzigen Dinge sind, die als Endzwecke wünschenswert sind, und dass alle anderen wünschenswerten Dinge […] entweder deshalb wünschenswert sind, weil sie selbst lustvoll sind oder weil sie Mittel sind zur Beförderung von Lust und zur Vermeidung von Unlust. 3
Damit lässt sich Mills Verständnis eines angemessenen Aggregationsgutes als ethischer Hedonismus 4 verstehen. Oder anders ausgedrückt: Mill vertritt eine mentale Zustandstheorie des Guten (mental state theory), bei der es um mentale Zustände geht. Positive Zustände wie Lust sollen vermehrt, negative Zustände wie Schmerz vermieden werden. Neben dieser mentalen Zustandstheorie gibt es zwei weitere relevante Theorien: die Präferenztheorie des Guten (desired based theory), bei der es um die Befriedigung von Interessen geht, und die objektive Listentheorie des Guten (objective list theory), bei der es um die Realisierung von objektiven Gütern wie zum Beispiel Gesundheit, Reichtum und Freundschaft geht. Anhänger der mentalen Zustandstheorie gehen davon aus, dass Lust der einzig intrinsisch positive Zustand und Schmerz der einzig intrinsisch schlechte Zustand ist. Ein Zustand ist in diesem Sinne intrinsisch besser als ein anderer, wenn die Lust abzüglich der empfun-
Zwar gehe ich davon aus, dass das entsprechende Gut das einzig intrinsisch wertvolle Gut ist, aber dies ist für den Multi-Ebenen-Konsequentialismus keine notwendige Annahme. Es könnte ebenso angenommen werden, dass das entsprechende Gut das einzig moralisch relevante Gut ist, dass es daneben aber weitere intrinsisch wertvolle Güter gibt (vgl. Schroth 2016, 11–12). 3 Mill 2006, 25. 4 Den ethischen Hedonismus verstehe ich im Folgenden im Sinne von Feldman: »I take ethical hedonism to be a theory about personal welfare or wellbeing. To be more precise, I take it to be the view that a person’s welfare is directly proportional to the amount of sensory pleasure-minus-pain that he experiences.« (Feldman 2011, 67–68) 2
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Aggregationsgut
denen Unlust größer ist als bei einem alternativen Zustand. 5 Der wohl stärkste Einwand gegen dieses hedonistische Verständnis des Wohlergehens ist im Rahmen von Nozicks Gedankenexperiment einer Erlebnismaschine vorgebracht worden. Für die folgende Diskussion ist es wertvoll, dieses Gedankenexperiment wiederzugeben. Man stelle sich eine Erlebnismaschine vor, die einem jedes gewünschte Erlebnis vermittelt. Super-Neuropsychologen können das Gehirn so reizen, daß man glaubt und das Gefühl hat, man schriebe einen großen Roman, schlösse eine Freundschaft oder läse ein interessantes Buch. Dabei schwimmt man die ganze Zeit in einem Becken und hat Elektroden ans Gehirn angeschlossen. Sollte man sich lebenslang an diese Maschine anschließen lassen, so daß alle künftigen Erlebnisse im voraus festgelegt sind? Wenn man sich Sorgen macht, es könnten einem wünschenswerte Erlebnisse entgehen, so können wir annehmen, daß das Leben vieler anderer von Firmen gründlich durchforscht worden ist. Man kann aus ihrem riesigen Katalog oder smorgasbord solcher Erlebnisse auswählen und die eigenen Erlebnisse etwa für die nächsten zwei Jahre festlegen. Danach kommt man zehn Minuten oder Stunden aus dem Becken heraus und kann sich seine Erlebnisse für die nächsten zwei Jahre aussuchen. Während man im Becken schwimmt, weiß man natürlich nichts davon; man glaubt, alles, was man erlebt, geschähe wirklich. Auch andere können sich anschließen lassen und sich die gewünschten Erlebnisse verschaffen; es braucht also niemand unangeschlossen zu bleiben, um für andere da zu sein. […] Würdest du dich anschließen lassen? Was könnte denn für uns von Bedeutung sein außer dem, wie unser Leben von innen erlebt wird? 6
Die implizite These von Nozick lautet, dass sich der Leser nicht freiwillig an diese Maschine anschließen lassen würde. Wenn dem aber so ist, kann die mentale Zustandstheorie des Guten bzw. der Hedonismus keine sinnvolle Ausformulierung des relevanten Aggregationsgutes sein, weil mentale Zustände wie Lust und das Freisein von Unlust offensichtlich nicht intrinsisch wertvoll sind. Nicht zuletzt aufgrund dieser Kritik gewannen die Präferenztheorie des Guten und die objektive Listentheorie als Gegenentwurf an Bedeutung. Im Folgenden wird zunächst auf diese beiden Alternativen eingegangen, bevor zur mentalen Zustandstheorie und Nozicks Erlebnismaschine zurückgekommen wird.
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Vgl. Shaw 1999, 38. Nozick 1974, 52, Hervorhebung im Original.
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Etwas genauer gefasst lautet die grundlegende Annahme der Präferenztheorie des Guten: something benefits a person, promotes her well-being, or enhances her welfare if and only if it satisfies her desires […] In other words, what is good for a person is not a certain sort of mental state or experience such as enjoyment or pleasure, but rather her getting what she wants, whatever it is. 7
Auf diese Weise kann die Präferenztheorie des Guten dem Einwand aus der Erlebnismaschine entgehen, weil die jeweilige Person eben nicht bekommt, was sie wünscht, sondern nur glaubt, dass sie bekommt, was sie wünscht. Demgegenüber ist die offensichtliche Stärke der objektiven Listentheorie, dass ein Handeln gemäß dieser Theorie nicht dazu führen kann, dass etwas zu einem guten Leben fehlt. Denn wenn etwas fehlen sollte, kann dies einfach auf der Liste ergänzt werden. 8 Nach Shaw gehen aber sowohl mit der Präferenztheorie des Guten als auch mit der objektiven Listentheorie des Guten ernste Schwierigkeiten einher. Die Präferenztheorie des Guten hat beispielsweise mit folgenden Problemen zu kämpfen: (1.) Wünsche können sich ändern: Es ist nicht klar, wie in der Präferenztheorie des Guten mit vergangenen Wünschen umzugehen ist. Diese können nicht nur deshalb diskriminiert werden, weil sie vergangen sind. Allerdings trägt deren Erfüllung offensichtlich auch nichts zum guten Leben der jeweiligen Person bei. 9 (2.) Wünsche können auch auf falschen Überzeugungen beruhen, beispielsweise weil sie von falschen Annahmen über andere Personen ausgehen. Eine Befriedigung derartiger Wünsche trägt ebenso nichts zu einem guten Leben der Person bei. 10 (3.) Wünsche können befriedigt werden, ohne dass es von der jeweiligen Person bemerkt wird: Auch diese Befriedigung trägt nichts zu einem guten Leben der Person bei. 11 (4.) Für ein bestmögliches Ergebnis wäre es rational, möglichst viele, leicht zu erfüllende Wünsche zu kultivieren. Doch es ist wenig plausibel, Wünsche nur deshalb zu kultivieren, um sie zu erfüllen. 12 Vgl. Shaw 1999, 53. Vgl. Bradley 2014, 226. 9 Vgl. Shaw 1999, 54. 10 Vgl. Shaw 1999, 54–55. 11 Vgl. Shaw 1999, 55. 12 Vgl. Shaw 1999, 55. 7 8
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Eine häufige Antwort von Vertretern der Präferenztheorie des Guten lautet, dass nur Wünsche zählen, die gewisse Bedingungen erfüllen: Sie müssen rational sein, die Akteure müssen angemessen informiert sein usw. Die Schwierigkeit und vielleicht nicht zu lösende Aufgabe besteht dann darin, zu zeigen, warum die Präferenztheorie des Guten mit derartig idealisierten Interessen, deren Befriedigung zu einer Wohlergehenssteigerung im Sinne der mentalen Zustandstheorie führt, nicht in diese kippt. Alternativ müsste dafür argumentiert werden, dass die vermeintlichen Probleme auch ohne Anpassung weniger schwerwiegend sind als die Probleme der mentalen Zustandstheorie. Doch wenn die Präferenzerfüllung nicht zu einem besseren Zustand der Person beiträgt, »kann man jedoch stets fragen, warum es schlecht sein soll, dass sich ein Wunsch nicht erfüllt.« 13 Ebenso stehen die Vertreter der objektiven Listentheorie des Guten vor schwerwiegenden Problemen. Diese beginnen bereits mit der Begründung, welche Elemente auf der Liste zu stehen haben und welche nicht. 14 Im Wesentlichen müssen sich die Befürworter dabei auf ihre Intuition darüber verlassen, was gut für Menschen ist bzw. was das Leben wertvoll macht. 15 Doch daraus ergibt sich bereits ein zweites Problem, denn Intuitionen über das gute Leben sind äußerst unterschiedlich. So stellt sich beispielsweise die Frage, wie es zu bewerten ist, wenn jemand etwas von der Liste erreicht und es ihm dennoch nicht besser geht. 16 Insofern sich allerdings die moralische Richtigkeit und Falschheit einer Handlung davon ableiten lässt, ob ein Gut von dieser Liste realisiert wurde, obwohl es keinen Einfluss auf das Leben eines von dieser Handlung Betroffenen hat, machen sich die Vertreter der objektiven Listentheorie, in Anlehnung an Smarts Rule-Worship-Einwand, einer Güteranbetung schuldig. 17 Mit Neuerungen in der Theorie ist immer der Anspruch verbunden, dass sie relevante Probleme des alten Ansatzes besser lösen können, ohne dabei neue Probleme der gleichen Qualität zu erzeugen. Bezüglich der Präferenztheorie des Guten und der objektiven Listentheorie des Guten ist allerdings nicht zu erkennen, wie sie diesem Anspruch gerecht werden. Mehr noch: Der vermeintlich stärkste EinRippe 2012, 340. Vgl. Bradley 2014, 226. 15 Vgl. Brink 2006, 391 und Shaw 1999, 57. 16 Vgl. Bradley 2014, 228. 17 Vgl. auch in einem etwas anderen Kontext Scheffler 2010, 102. Zum Rule-Worship-Einwand siehe Smart 1956, 348–349 und in diesem Teil Anmerkung 68. 13 14
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wand, der sich gegen die mentale Zustandstheorie richtet – also der Einwand, der sich aus dem Szenario der Erlebnismaschine ableiten lässt –, ist bereits selbst fraglich. So lassen sich zunächst einige allgemeine Kritiken gegen das Erlebnismaschinen-Szenario vorbringen. Es ist nämlich bereits fraglich, ob es überhaupt in der realen Welt zu einer Ablehnung der Erlebnismaschine kommen würde. Eine bedeutende Anzahl an Menschen in der realen Welt nimmt beispielsweise bewusstseinserweiternde Drogen zu sich, um genau einen derartigen Zustand, wie ihn die Erlebnismaschine liefert, zu erreichen. 18 Wenn Menschen aber schon dazu bereit sind, diese Drogen in dem Wissen zu nehmen, dass das Lustgefühl nur von begrenzter Dauer ist und ggf. negative Zustände nachträglich auftreten können, dann ist die Annahme, dass der Leser den Anschluss an die Erlebnismaschine ablehnen wird, zweifelhaft. Noch zweifelhafter wird es mit einem Blick auf die bereits bestehenden technischen und pharmazeutischen Möglichkeiten. Virtual-RealityBrillen und Antidepressiva sind vermutlich erst der Anfang zu einer Optimierung des Menschen. In naher Zukunft wird deren Kombination der nozickschen Erlebnismaschine vermutlich sehr nahekommen. Eine grundsätzliche Ablehnung dieser Optionen ist allerdings nicht erkennbar. 19 Hinzu kommt eine weitere Schwierigkeit, auf die Konsequentialisten fast standardmäßig verweisen: Unsere Intuitionen sind geprägt von unseren Erfahrungen und unserer Erziehung in dieser Welt. In einer anderen Welt mit anderen Erfahrungen und einer anderen Erziehung hätten wir (voraussichtlich) andere Intuitionen bezüglich bestimmter Fragestellungen ausgebildet. Das heißt auch, dass sich unsere Intuitionen nicht einfach auf Szenarien übertragen lassen, zu denen es keine Erfahrungswerte gibt. Doch genau dies geschieht bei Nozicks Erlebnismaschine. In diesem Sinne ist nicht klar, inwieweit Folgerungen aus diesem fiktiven Szenario überhaupt eine relevante Auskunft über das geben, was wir als intrinsisch wertvoll empfinden. Ferner hat Feldman gezeigt, warum der Einwand, der aus der Erlebnismaschine gezogen werden kann, auch aus einer theoretischen Perspektive äußerst fraglich ist. Hierzu hat er zunächst die Schlussfolgerung, die man aus diesem Gedankenexperiment ziehen kann, in Vgl. Tännsjö 1998, 112. Siehe auch alternativ die Debatte um Neuro-Enhancement, beispielsweise in Schöne-Seifert et al. 2009 und Kipke 2011.
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Aggregationsgut
Form eines Argumentes rekonstruiert. Dabei steht »LEM« für »life on the experience machine« und »LA« für »your actual life«: 1. If you were in the Nozick Scenario you would not plug in so as to get LEM. You would stick with LA. 2. If (1), then LEM does not have greater welfare value than LA. 3. If LEM does not have greater welfare value than LA, then ethical hedonism is false. 4. Therefore, ethical hedonism is false. 20
Nach Feldman gibt es allerdings keinen Grund, die zweite Prämisse zu akzeptieren. Denn ein Grund, warum sich jemand nicht an die Erlebnismaschine anschließen lassen will, könnte sein, dass er sich in der realen Welt nicht sicher ist, ob die Maschine wie versprochen funktioniert. Vielleicht handelt es sich um Betrug oder sie hat Fehlfunktionen. Selbst wenn dieser epistemische Zweifel ausgeschlossen wird – was in der realen Welt nur bedingt möglich sein wird –, kann es Gründe geben, sich nicht anschließen zu lassen, beispielsweise weil dies für andere Personen wie die engsten Angehörigen Nachteile hätte. Vielleicht hat man einigen Personen bestimmte Versprechen gegeben, wie zum Beispiel, dass man immer für sie da sein wird. 21 Daher reicht das Argument in dieser Form nicht aus und muss erweitert werden: 1. If you were in the Nozick Scenario, and you knew beyond doubt that LEM would be more pleasant than LA, and you were welfare selfish, still you would not plug in so as to get LEM. You would stick with LA. 2. If (1), then LEM does not have greater welfare value than LA. 3. If LEM does not have greater welfare value than LA, then ethical hedonism is false. 4. Therefore, ethical hedonism is false. 22
Aber auch in dieser Form könnte es Gründe geben, warum sich jemand nicht an die Erlebnismaschine anschließen lässt, beispielsweise weil er den Gedanken, daran angeschlossen zu sein, aus irrationalen Gründen »eklig und abstoßend« findet. Selbst wenn er völlig rational ist, könnte es weitere Auswege geben: Er könnte beispielsweise selbst jemand sein, der den ethischen Hedonismus für falsch hält. Aus die-
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Feldman 2011, 68. Vgl. Feldman 2011, 68–69. Feldman 2011, 69–70.
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ser Perspektive ist das Nicht-Anschließen aber kein Einwand mehr gegen die mentale Zustandstheorie bzw. den ethischen Hedonismus. Daher muss die erste Prämisse erneut erweitert werden; der Leser muss rational und axiologically insightful sein, das heißt, er zieht ein Leben dem anderen nur dann vor, wenn dieses Leben tatsächlich besser ist als das andere. 1. If you were in the Nozick Scenario and you knew beyond doubt that LEM would be more pleasant than LA, and you were completely welfare selfish, and you were rational, and you were axiologically insightful, still you would not plug in so as to get LEM. You would stick with LA. 2. If (1), then LEM does not have greater welfare value than LA. 3. If LEM does not have greater welfare value than LA, then ethical hedonism is false. 4. Therefore, ethical hedonism is false. 23
Im Rahmen dieses Argumentes scheint es zwar keine Möglichkeit mehr zu geben, P2 zurückzuweisen, allerdings ist nicht mehr klar, wie überhaupt P1 wahr werden kann. 24 Kurzum: In der realen Welt gibt es auch für Vertreter der mentalen Zustandstheorie verschiedene Gründe, warum sie sich nicht an die Erlebnismaschine anschließen lassen. Diese Gründe liefern jedoch kein Argument dafür, dass die mentale Zustandstheorie bzw. der ethische Hedonismus falsch sind. Auf theoretischer Ebene können zwar alle diese Gründe wegdefiniert werden; dann kann aber nicht mehr gezeigt werden, wie sich jemand nicht an die Erlebnismaschine anschließen lässt. Insbesondere mit der Zurückweisung der Schlussfolgerung, die aus Nozicks Gedankenexperiment gezogen werden kann, ist nicht mehr zu sehen, warum die Präferenztheorie des Guten oder die objektive Listentheorie des Guten der mentalen Zustandstheorie überlegen ist. Darüber hinaus lässt sich mit Birnbacher auch ein direktes Argument zugunsten dieser Theorie vorbringen. Hierzu wird zunächst einmal festgehalten, dass mit den Normen einer moralischen Theorie ein Allgemeingültigkeitsanspruch einhergeht. Dies bedeutet wiederum Folgendes: Die Rationalitätsbedingung der beanspruchten Allgemeingültigkeit erfordert nicht nur, dass das normative Gerüst der Moral, sondern auch die mit
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Feldman 2011, 71. Vgl. Feldman 2011, 72.
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ihnen zusammengehenden Annahmen darüber, was als intrinsisch wertvoll gelten soll, den Anspruch erheben, von im Prinzip jedermann verstanden, eingesehen und akzeptiert zu werden. 25
Das entsprechende Gut muss demnach »eine Chance haben, von allen als intrinsisch wertvoll akzeptiert zu werden.« 26 Das einzige Gut, das diese Bedingung zu erfüllen vermag, sind die von einem Subjekt als positiv bewerteten Bewusstseinszustände: Dass es grundsätzlich besser ist, dass jemand sich seiner eigenen Einschätzung nach besser als schlechter fühlt, ist eine elementare Wertannahme, die allen axiologischen Systemen in Vergangenheit und Gegenwart ungeachtet ihrer sonstigen Meinungsverschiedenheiten zugeschrieben werden kann. 27
Mit Blick auf die Schwierigkeiten hinsichtlich nicht wahrgenommener Präferenzerfüllungen oder Elementen, die in der objektiven Listentheorie enthalten sind, lässt sich nicht erkennen, wie diese Güter die Chance haben sollten, »von allen als intrinsisch wertvoll akzeptiert zu werden.« 28 Daher gehe ich mit Birnbacher im Folgenden davon aus, dass mit der mentalen Zustandstheorie eine sinnvolle Ausformulierung des gesuchten Aggregationsgutes geliefert wird. Ferner ist zu beachten, dass mit dem Vertreten einer mentalen Zustandstheorie nicht behauptet wird, dass Präferenzerfüllung oder die Realisierung bestimmter Güter wie Gesundheit oder Freundschaft unbedeutend sind. Denn es ist wenig plausibel anzunehmen, dass jemand eine Annäherung an das optimale Wohlergehensniveau erreicht, wenn seine Interessen permanent frustriert werden bzw. er über keine stabilen Freundschaften verfügt, langfristig schwer erkrankt ist usw. 29 In diesem Sinne stimme ich mit Hooker überein, dass es in der Praxis kaum einen relevanten Unterschied zwischen diesen drei Theorien gibt. 30
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Birnbacher 2016, 225. Birnbacher 2016, 226. Birnbacher 2016, 227. Birnbacher 2016, 226. Vgl. auch Birnbacher 2016, 227–229. Vgl. Shaw 1999, 64. Vgl. Hooker 2000, 42.
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Aggregationsprinzip Das Maximierungsprinzip Nachdem geklärt wurde, was unter Wohlergehen bzw. unter dem zu aggregierenden Aggregationsgut zu verstehen ist, muss die Frage geklärt werden, wie dieses Gut zu verteilen ist. Im Wesentlichen lassen sich drei Aggregationsprinzipien unterscheiden: Erstens das egalitaristische Prinzip: Für Egalitaristen besteht die moralisch richtige Verteilung in einer Gleichverteilung. Demnach sollte der moralische Akteur dafür sorgen, dass das Wohlergehen aller Menschen nach Möglichkeit auf der gleichen Stufe ist. Zweitens das utilitaristische Prinzip: Für Utilitaristen ist diejenige Verteilung moralisch richtig, bei der beispielsweise die Gesamtsumme 31 des Wohlergehens aller Individuen insgesamt am größten ist. Hierbei spielt es nur eine untergeordnete Rolle, wie sich das Wohlergehen auf die einzelnen Individuen verteilt. Drittens das Maximin-Prinzip: Bei diesem Prinzip wird die moralische Richtigkeit einer Handlung daran festgemacht, ob sie den Schlechtestgestellten so gut wie möglich stellt.
Nicht zuletzt aufgrund der historischen Anfänge des Konsequentialismus im klassischen Utilitarismus ist das utilitaristische Prinzip das wohl am weitesten akzeptierte und in der Fachliteratur am meisten diskutierte konsequentialistische Aggregationsprinzip. Im Rahmen des Konsequentialismus bringt dieses, zumindest prima facie, eine gewisse Anfangsplausibilität mit. Wenn es darum geht, Wohlergehen zu fördern oder zu verteilen, dann scheint mehr Wohlergehen irgendwie »richtiger« zu sein als weniger Wohlergehen. 32 Dieser Anfangsplausibilität stehen allerdings gewichtige Einwände gegenüber, so zum Beispiel Rawls Einwand zur Missachtung der Getrenntheit der Personen. 33 Dieser besagt, dass aufgrund der interpersonellen Nutzenverrechnung im Utilitarismus die elementarsten individuellen Rechte nicht gesichert werden können, weil beispielsweise durch Siehe auch den Abschnitt Das Actually-Existing-People-Prinzip. Vgl. Driver 2011, 38. 33 Vgl. hierzu Anmerkung 6 in Teil 1: Grundlagen. Siehe demgegenüber Bykvist 2010, 159, der den Einwand für ungerechtfertigt hält. Fraglich ist ebenso, ob dieser Einwand nicht auch beispielsweise gegen Rawls gerichtet werden kann. Siehe hierzu Nagel 2010, 118 Anmerkung 10. 31 32
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Aggregationsprinzip
die Opferung eines einzigen Menschen und einer sich anschließenden Entnahme der Organe das Wohlergehen insgesamt maximiert werden könnte. Nach Rawls würden allerdings rationale Individuen diesem Prinzip in einer ursprünglichen Situation der Gleichheit, dem Urzustand, nicht zustimmen und sich stattdessen für das MaximinPrinzip entscheiden. 34 Für Rawls ist diese Annahme dadurch begründet, dass es in einer entsprechend modellierten Ausgangssituation rational ist, eine Wahl zu treffen, mit der zukünftige Risiken möglichst minimiert werden. Doch diese Annahme ist fraglich. So hat beispielsweise Harsanyi die Irrationalität einer entsprechenden Risikovermeidung gezeigt und dafür argumentiert, dass in einer an Rawls angelehnten Ausgangssituation das utilitaristische Maximierungsprinzip gewählt werden würde. 35 Mit Hooker lässt sich zusammenfassen: That argument of Rawls’s has widely been thought to be unpersuasive. Why exactly does rational choice require risk aversion? 36
Doch selbst wenn das Maximin-Prinzip über einen anderen Weg gerechtfertigt wird, der keine entsprechende Risikoaversion beinhaltet 37, steht es den kontraintuitiven Konsequenzen des utilitaristischen Prinzips in nichts nach. Insofern beispielsweise das Wohlergehen der am schlechtesten gestellten Person nur minimal, genau gesagt kaum
Vgl. Rawls 1979, 81 und 336–337. Hinzu kommt bei Rawls ein System von Grundfreiheiten, das einen lexikalischen Vorrang genießt. Wichtig zu erwähnen ist außerdem, dass Rawls an dieser Stelle lediglich der Frage nachgeht, wie (gerechte) Institutionen einer Gemeinschaft beschaffen sein sollen. Davon zu trennen ist die Frage, wie die individuelle Moral beschaffen sein sollte (vgl. hierzu Nagel 2010, 116). Diesen Umstand werde ich im Folgenden ebenso ignorieren wie das System der Grundfreiheiten. Im Folgenden geht es lediglich um das Maximin-Prinzip im Unterschied zum utilitaristischen Maximierungsprinzip. 35 Vgl. Harsanyi 1975. 36 Hooker 2014, 288 37 So greift beispielsweise Pfannkuche auf Kants Instrumentalisierungsverbot zurück, aus dem er den Begriff der vermeidbaren Instrumentalisierung generiert: »Die Regeln einer Gesellschaft sind dann in vermeidbarem Ausmaß instrumentalisierend, wenn – ihre Anwendung dazu führt, daß ein Teil der Gesellschaft auf einem Wohlbefindensniveau W1 leben muß, und wenn – ein anderer Satz von Regeln möglich ist, der dazu führen würde, daß jeder auf einem Wohlbefindensniveau leben kann, das höher ist als W1.« (Pfannkuche 2000, 169–170) Über den Begriff der vermeidbaren Instrumentalisierung gelangt Pfannkuche schließlich zum Prinzip der Minimierung der Instrumentalisierung, welches nach Pfannkuche so auszulegen ist, dass »das geringste Niveau des Wohlbefindens so hoch wie möglich ist« (Pfannkuche 2000, 196, Hervorhebung im Original). 34
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wahrnehmbar verbessert werden kann, indem das Wohlergehen der bessergestellten Person drastisch reduziert wird, müsste dies gemäß dem Maximin-Prinzip moralisch richtig bzw. gefordert sein. Oder anders ausgedrückt, in der folgenden Tabelle ist gemäß dem MaximinPrinzip die Verteilung B der Verteilung A vorzuziehen 38: T4.1 Verteilung A
Verteilung B
Person A
500
1,0000005
Person B
1
1,0000001
Doch die Verteilung B der Verteilung A vorzuziehen ist nicht weniger kontraintuitiv als einige Folgen, die sich aus dem utilitaristischen Maximierungsprinzip ergeben. Das Problem des Maximin-Prinzips wird an einem Aspekt deutlich, den Pfannkuche eigentlich als Argument für dieses Prinzip herausarbeitet: Ein Moralsystem verlangt von seinen Mitgliedern, daß sie sich bei der Verfolgung ihrer Ziele in gewissen Hinsichten freiwillig einschränken. Doch wenn jemand freiwillig auf ein Element seiner Glückseligkeit verzichten soll, dann muß er dabei zumindest hoffen, etwas ebenso Wichtiges oder gar Wichtigeres zu gewinnen. 39
Wie die Tabelle T4.1 deutlich macht, kann den Mitgliedern eines Moralsystems, das das Maximin-Prinzip enthält, aber keine Hoffnung – oder zumindest keine bessere Hoffnung als mit dem alternativen utilitaristischen Prinzip – gegeben werden, dass sie etwas ebenso Wichtiges oder Wichtigeres für die Aufgabe eines Teils ihrer Glückseligkeit gewinnen. Dafür ist der Unterschied bei der Person B von Verteilung A zu Verteilung B einfach zu gering. Für diese Hoffnung müsste eine signifikante Verbesserung garantiert sein. Doch damit verließe man das Maximin-Prinzip.40
Vgl. Bykvist 2010, 69–70. Pfannkuche 2000, 169. 40 Ein Prinzip, das die signifikanten Verbesserungen aufnehmen kann, ist der Prioritarismus. Dessen Grundidee lässt sich folgendermaßen wiedergeben: »Nutzensteigerungen sind um so wichtiger, je schlechter gestellt der Begünstigte ist.« (Lumer 2011, 177) Für eine Kritik siehe beispielsweise Bykvist 2010, 71–72 und Hooker 2015, 11– 12. Die Seitenangabe bei Hooker 2015 bezieht sich auf die PDF-Version der Mitglieder der Freunde der SEP Society im A4-Format. 38 39
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Der letzte Einwand ähnelt dem leveling-down-Einwand der häufig gegen den Egalitarismus 41 vorgebracht wird, auf den ich mich im Folgenden beziehe. 42 Der Egalitarismus basiert auf der Grundannahme, dass Ungleichheit intrinsisch schlecht und Gleichheit intrinsisch gut ist. Doch wenn dem so ist, dann ist ein Zustand, in dem es einigen oder sogar allen Menschen vermeidbar schlechter geht als in einem alternativen Zustand, trotzdem besser, wenn in diesem Zustand eine größere Gleichheit herrscht als bei der Alternative. 43 Ein anschauliches Beispiel liefert folgende Überlegung: Statistisch gesehen leben Frauen ein paar Jahre länger als Männer. Wenn Gleichheit intrinsisch wertvoll ist und die Lebensspanne der Männer nicht entsprechend erhöht werden kann, dann ist es aus egalitaristischer Sicht geboten, die Lebensspanne von Frauen zu verkürzen, beispielsweise indem die medizinische Versorgung ab einem bestimmten Alter eingeschränkt wird. 44 Insofern innerhalb des egalitaristischen Aggregationsprinzips dieses kontraintuitive Ergebnis nicht ausgeräumt werden kann, ist nicht zu erkennen, warum es dem utilitaristischen Prinzip überlegen sein soll. Aufgrund der größeren Anfangsplausibilität sehe ich daher das utilitaristische Prinzip als das angemessenere Aggregationsprinzip an und gehe im Folgenden von einem utilitaristischen Aggregationsprinzip aus.
Das Actually-Existing-People-Prinzip Hinsichtlich des Aggregationsprinzips ist eine weitere zentrale Frage zu klären, nämlich wie sich das Wohlergehen, das maximiert werden soll, zusammensetzt. Die prominentesten Vorschläge hierzu liefern das Gesamtnutzenprinzip und das Durchschnittsnutzenprinzip. Insofern die Bevölkerung stabil bleibt, besteht zwischen diesen beiden Prinzipien kein relevanter Unterschied; jede Handlung, die gemäß dem Gesamtnutzenprinzip richtig ist, wird auch gemäß dem Durchschnittsnutzenprinzip richtig sein und umgekehrt. Aber insbesondere Letztlich ist Rawls natürlich ebenso als ein Vertreter des Egalitarismus zu klassifizieren. Da ich mich bei meiner Betrachtung aber auf den Aspekt des Maximin-Prinzips beschränkt habe, kann ich diesen Umstand hier vernachlässigen. 42 Vgl. beispielsweise Bykvist 2010, 69. 43 Vgl. Bykvist 2010, 68–69. 44 Vgl. Pfannkuche 2000, 195–196. 41
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bei Fragen, bei denen es um das Leben nehmen oder Leben geben geht, also bei Handlungen durch die die Anzahl der relevanten Individuen verändert werden kann, werden die Unterschiede deutlich. Vereinfacht dargestellt ergibt sich der Gesamtnutzen aus der Summe aller Wohlergehenseinheiten und der Durchschnittsnutzen aus der Summe aller Wohlergehenseinheiten geteilt durch die Anzahl der Einheiten. Beide Prinzipien bringen starke kontraintuitive Folgen mit sich. So läuft beispielsweise das Gesamtnutzenprinzip in die repugnant conclusion 45, die besagt, dass die Weltbevölkerung so lange zu erhöhen ist, bis die Erzeugung eines zusätzlichen Individuums den Gesamtnutzen reduziert. Bis dieser Punkt erreicht ist, werden sich aber alle oder fast alle anderen Menschen auf einem miserablen Wohlergehensniveau befinden. Gemäß der repugnant conclusion gibt es also eine Zeugungspflicht, wenn zu erwarten ist, dass durch das neu gezeugte Kind das Gesamtwohlergehen steigt, auch wenn das Wohlergehen jedes einzelnen Individuums (minimal) sinkt. 46 Demgegenüber lässt sich aus dem Durchschnittsnutzenprinzip folgern, dass es moralisch richtig ist, Menschen, deren Wohlergehen unter dem Durchschnittswohlergehen liegt, zu töten, wenn dadurch das Durchschnittswohlergehen steigt. 47 Dies gilt selbst dann, wenn es dadurch keiner einzigen Person tatsächlich besser geht, und auch dann, wenn es einigen wenigen Menschen dadurch etwas schlechter geht, das Durchschnittswohlergehen aber (leicht) steigt. Die Stärke der jeweiligen kontraintuitiven Folgen scheint mir in etwa gleich zu sein, und auch wenn diese kontraintuitiven Folgen keine harten Einwände gegen diese Prinzipien darstellen, sind beide Prinzipien aufgrund dieser Folgen unbefriedigend. Im Zuge dessen wurden verschiedene Vorschläge vorgebracht, die Prinzipien zu verfeinern oder zu mixen bzw. zu erklären, warum die Intuitionen an dieser Stelle irreführend sind. 48 Eine relevante Alternative hat beispielsweise Shaw diskutiert: Aggregiert werden soll lediglich das Wohlergehen der tatsächlich existierenden Menschen. 49 In diesem Sinne werde ich das entsprechende Prinzip als Actually-ExistingPeople-Prinzip 50 bezeichnen. 45 46 47 48 49 50
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Vgl. Parfit 1989, 387–390. Vgl. beispielsweise Shaw 1999, 33. Vgl. demgegenüber Birnbacher 2016, 213. Vgl. beispielsweise Schroth 2016, 14. Vgl. Driver 2011, 71. Vgl. Shaw 1999, 33. In der Literatur finden sich weitere Begriffe für dieses bzw. für ähnliche Prinzipien.
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Aggregationsprinzip
Hinter dem Actually-Existing-People-Prinzip steht die Idee, dass eine moralische Theorie wie der Utilitarismus nicht versuchen sollte, glückliche Menschen zu schaffen, sondern Menschen glücklich zu machen. Dabei interpretiere ich das Actually-Existing-People-Prinzip folgendermaßen: Im Kern handelt es sich um ein eingeschränktes Gesamtnutzenprinzip. Die Einschränkung besteht darin, dass nur mögliche, das heißt aktuell noch nicht existierende Menschen – genauer: empfindungsfähige Lebewesen – moralisch nicht zählen und dass das In-die-Existenz-Bringen eines empfindungsfähigen Lebewesens moralisch neutral ist, insofern dies keinen Einfluss auf die bereits existierenden empfindungsfähigen Lebewesen hat. 51 Für diese Einschränkungen lassen sich drei Gründe anführen. Erstens lässt sich gemäß dem Modal Actualism sagen, dass es keine nicht tatsächlichen Dinge gibt. 52 In diesem Sinne lässt sich zweitens nicht sinnvoll sagen, dass jemandem geschadet wurde, der nicht in die Existenz gebracht wurde. 53 Und drittens ist nicht zu erkennen, warum die bloße Vergrößerung der Anzahl der Menschen unter sonst gleichen Bedingungen moralisch relevant sein sollte. 54 Die Attraktivität dieses Prinzips besteht nun darin, dass es sowohl die kontraintuitiven Konsequenzen des Gesamtnutzenprinzips als auch des Durchschnittsnutzenprinzips umgeht. Zu zeigen bleibt, ob dieses Prinzip den beiden Alternativen tatsächlich überlegen ist. Um dies zu klären, wird im Folgenden anhand von zwei paradigmatischen Fällen gezeigt, inwieweit Shaws Ansatz den kontraintuitiven Folgen des Gesamtnutzenprinzips und des Durchschnittsnutzenprinzips entgeht. Im Anschluss daran werden Einwände gegen das Actually-Existing-People-Prinzip diskutiert. Der Unterschied zum Gesamtnutzenprinzip kann anhand des folgenden Szenarios verdeutlicht werden:
So findet sich beispielsweise bei Bykvist die Bezeichnung person-affecting restriction (vgl. Bykvist 2010, 65–66, siehe auch in diesem Sinne die Bezeichnung person-affecting utilitarianism bei Schroth 2016, 14). Demgegenüber verwendet Roberts den Begriff moral actualism, worunter sie die Auffassung versteht, »that the merely possible do not matter morally« (Roberts 2010, 41). 51 Zu beachten ist, dass Shaw letztlich nicht ausführt, was er im Detail unter dem actually-existing-people-Prinzip versteht. 52 Vgl. Hare 2007, 499. 53 Vgl. Shaw 1999, 34; siehe auch Archard 2015, 85. 54 Vgl. Shaw 1999, 34. Konsequentialismus und besondere Pflichten
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(K4a) Zum Zeitpunkt t1 leben auf der Welt zwei Menschen (A und B). Das Wohlergehensniveau von A und B liegt bei 600. Durch das Zeugen eines Kindes würden zum Zeitpunkt t2 auf der Welt drei Menschen (A, B und C) leben. Das Wohlergehensniveau von A und B würde auf 550 sinken, das Wohlergehen von C würde ebenso 550 entsprechen. Durch die Zeugung weiterer Kinder würden die Eltern den Gesamtnutzen viele Male weiter erhöhen können, jedoch würde jeweils das individuelle Wohlergehen der bereits existierenden Menschen etwas sinken.
Gemäß dem Gesamtnutzenprinzip wären die Eltern zum Zeitpunkt t1 verpflichtet, das Kind zu zeugen; ebenso wären sie zu späteren Zeitpunkten dazu verpflichtet, so lange weitere Kinder zu zeugen, bis der Gesamtnutzen nicht weiter steigt. Gemäß dem Actually-ExistingPeople-Prinzip gelangt man jedoch zu einem anderen Ergebnis, weil der Zustand in t2 nicht einfach deshalb bevorzugt werden kann, weil der Gesamtnutzen erhöht wurde. Die Erhöhung wird nur durch die In-Existenz-Bringung eines weiteren Menschen, nämlich C, erreicht. Stattdessen muss jedoch gemäß dem Actually-Existing-People-Prinzip danach gefragt werden, wie sich das In-die-Existenz-Bringen von C auf A und B auswirkt. Da die Zeugung von C das Wohlergehen von A und B senkt und gemäß dem Actually-Existing-People-Prinzip der mögliche Mensch C so lange nicht zählt, wie er nicht tatsächlich existiert, was zum Zeitpunkt t1 nicht gegeben ist, ist gemäß dem ActuallyExisting-People-Prinzip zum Zeitpunkt t1 die Zeugung von C moralisch falsch. Damit ist die repugnant conclusion durchbrochen. In diesem Sinne geht Shaw davon aus, dass mit dem Actually-ExistingPeople-Prinzip keine Zeugungspflicht einhergeht. 55 Allerdings ist dies ein voreiliger Fehlschluss, denn es gibt, wie ich später ausführen werde, auch im Actually-Existing-People-Prinzip eine Zeugungspflicht, nämlich dann, wenn die Zeugung eines Kindes dazu führt, dass das Gesamtwohlergehen der bereits existierenden Menschen steigt. Mit einem zweiten Beispiel kann der Unterschied zum Durchschnittsnutzenprinzip verdeutlicht werden: (K4b) Zum Zeitpunkt t1 leben auf der Welt drei Menschen (A, B, C). Das Wohlergehensniveau von A und B liegt bei 800. Aufgrund einer schweren Behinderung befindet sich das Wohlergehensniveau von C 55
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Vgl. auch Shaw 1999, 34.
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lediglich auf dem Niveau von 500. Würden A und B nicht einen Anteil ihrer Freizeit für die Versorgung von C opfern, würde C sterben. In diesem Fall wäre das Wohlergehensniveau von C zum Zeitpunkt t2 mit 0 zu bewerten, das Wohlergehen von A und B würde allerdings auf das Niveau von 850 steigen.
In K4b liegt zum Zeitpunkt t1 der Durchschnittsnutzen bei 700 und der Gesamtnutzen bei 2100. Würden A und B die Person C sterben lassen, dann läge der Durchschnittsnutzen zum Zeitpunkt t2 bei 850, aber der Gesamtnutzen nur noch bei 1700. Gemäß dem Durchschnittsnutzenprinzip wäre das Sterbenlassen von C demnach moralisch richtig, gemäß dem Gesamtnutzenprinzip allerdings moralisch falsch. Wie dargestellt verhält sich das Actually-Existing-PeoplePrinzip wie ein eingeschränktes Gesamtnutzenprinzip. Da die Einschränkung in diesem Szenario nicht relevant ist, entspricht die Bewertung des Actually-Existing-People-Prinzips in diesem Fall der Bewertung des Gesamtnutzenprinzips. Gemäß dem Actually-Existing-People-Prinzip wäre das Sterbenlassen von C demnach moralisch falsch, weil die Wohlergehensverluste von C die Wohlergehensgewinne von A und B übersteigen. Als Zwischenergebnis lässt sich demnach festhalten, dass das Actually-Existing-People-Prinzip tatsächlich den kontraintuitiven Folgen des Gesamtnutzenprinzips und des Durchschnittsnutzenprinzips entgeht. Doch ist zugegebenermaßen auch das Actually-Existing-People-Prinzip nicht unproblematisch. Der vermutlich stärkste Einwand gegen dieses Prinzip lässt sich mit Hare vorbringen. Im Kern entspricht er der bereits angesprochenen Zeugungspflicht innerhalb des Actually-Existing-People-Prinzips. Ich passe den Fall von Hare leicht an: (K4c) Der kinderlose George hat zum Zeitpunkt t1 die Möglichkeit, ein Kind zu zeugen. Falls George die Möglichkeit ergreift, wird das Kind ein äußerst miserables Leben führen, welches in der Summe von mehr Leid als Freude gekennzeichnet ist. Allerdings wird dadurch das Gesamtwohlergehen der gegenwärtig existierenden Menschen minimal gesteigert. Was sollte George tun? 56
Gemäß dem Actually-Existing-People-Prinzip ist es für Georg moralisch richtig, das Kind zu zeugen. Da das Kind zum Zeitpunkt t1 nicht 56
Vgl. Hare 2007, 499.
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tatsächlich existiert, ist es zunächst aus der moralischen Erwägung auszuklammern. Ebenso wie nicht sinnvoll gesagt werden kann, dass es dadurch geschädigt worden wäre, wenn es nicht in die Existenz gebracht worden wäre, obwohl es ein gutes Leben gehabt hätte, lässt sich nicht sinnvoll sagen, dass es dadurch geschädigt wurde, dass es in die Existenz gebracht wurde, obwohl es ein schlechtes Leben haben wird. Dass es aber moralisch richtig ist, ein Kind zu zeugen, dem es derartig miserabel gehen wird, ist wiederum eine kontraintuitive Folge, diesmal des Actually-Existing-People-Prinzips. 57 Hat dieses Prinzip damit seinen Vorteil gegen das Gesamtnutzen- und Durchschnittsnutzenprinzip eingebüßt? Die vorsichtige Antwort lautet: Eher nein, denn dieses Szenario hat weit weniger praktische Konsequenzen, als dies beispielsweise beim Gesamtnutzenprinzip mit der repugnant conclusion der Fall ist, vor der die zeugungsfähigen Akteure gewissermaßen durchgängig stehen. Zunächst einmal ist Folgendes zu beachten: Der Ausschluss aus der moralischen Erwägung gilt nur so lange, wie das Kind ein bloß mögliches Kind ist. Ab dem Moment, ab dem das Kind tatsächlich existiert, bzw. ab dem Zeitpunkt, ab dem es empfindungsfähig ist, fällt ihm die gleiche moralische Beachtung zu wie allen anderen tatsächlich existierenden Lebewesen. Das heißt auch, dass es ab diesem Zeitpunkt regulär in die Handlungsabwägungen einzubeziehen ist und dementsprechend Handlungen zu unternehmen sind, die das Leiden des Kindes verringern. Zweitens: Mit Blick auf die reale Welt stellt sich zudem die Frage, warum dieses Kind ein derartig miserables Leben führen wird und was der Grund dafür sein kann, dass es den existierenden Menschen dennoch besser geht. Die plausibelste Annahme für Letzteres lautet, dass George nicht weiter an seiner Kinderlosigkeit leidet und aus seiner Vaterschaft eine gewisse Wohlergehenssteigerung zieht. Doch warum sollte das Kind ein derart miserables Leben führen müssen? Vermutlich weil es mit schweren körperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen zu kämpfen hat, die sein Leben derart miserabel machen. Doch dann ist schwer zu sehen, wie die Rechnung des Wohlergehensüberschusses in der realen Welt aufgehen soll. Wenn das Kind mit schweren körperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen zu kämpfen hat, wird es einen erhöhten Bedarf an bestimmten begrenzten Ressourcen haben. Derartige Ressourcen sind aber knappe 57
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Vgl. Driver 2011, 70–71; siehe auch Bykvist 2010, 66.
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Güter und der zusätzliche Einsatz für dieses Kind wird in den meisten Fällen dazu führen, dass jemand anderes, der vor der Zeugung bereits existiert, weniger von diesen Ressourcen erhält und einen entsprechenden Wohlergehensverlust erleidet. Vielleicht könnte man argumentieren, dass dieser wiederum durch die Wohlergehenssteigerung bei George wettgemacht wird. Aber auch das ist wenig plausibel: Das eigene Kind leiden zu sehen gehört mit Sicherheit zu den quälendsten Dingen des Elternseins. Ein Kind zu haben, bei dem man tagtäglich miterlebt, in welch miserablem Zustand es ist und wie es sich Tag für Tag quält, wird die aus dem Elternsein generierte Freude massiv einschränken. Das heißt nicht, dass in der Summe nicht die positiven Elemente aus dem Elternsein überwiegen können, aber sie werden kaum so deutlich überwiegen, dass sie den Verlust, den eventuell andere Familien erleiden, beispielsweise weil deren Kind weniger aus dem Topf der knappen Ressourcen erhält, wettmachen können. 58 In Bezug auf die Frage, ob das Actually-Existing-People-Prinzip dem Gesamtnutzenprinzip überlegen ist, ist der zentrale Aspekt jedoch der folgende: Das Gesamtnutzenprinzip wird bei Fällen wie dem kinderlosen George in der Regel zum gleichen Ergebnis kommen. Lediglich beim Spezialfall, bei dem sich der Unterschied dadurch ergibt, dass das fragliche Kind einmal in die Berechnung mit einbezogen wird (Gesamtnutzenprinzip) und einmal herausgenommen wird (Actually-Existing-People-Prinzip), können sich die Bewertungen der beiden Prinzipien unterscheiden. Das wäre der Fall, wenn das Kind ein negatives Wohlergehensniveau erreichen würde und es derartig negativ wäre, dass es den Wohlergehensgewinn bei George (und den übrigen Menschen) mehr als ausgleichen würde. Wie dargestellt ist es allerdings unwahrscheinlich, dass in derartigen Fällen der Gesamtnutzen der existierenden Menschen steigt. Daher sehe ich das Actually-Existing-People-Prinzip weiterhin im Vorteil. Allerdings lässt sich der Einwand in einer leicht abgewandelten Form, dem asymmetrical case von Hare, vorbringen. (K4d) Kate muss zwischen zwei Optionen wählen: Entweder sie wählt die erste Option und wird das Baby Jack zur Welt bringen, welches ein kurzes und äußerst miserables Leben führen wird, oder sie wählt die zweite Option und wird das Baby Jane zur Welt bringen, welches Ich gehe nicht davon aus, dass es diese Fälle in der realen Welt nicht geben kann. Allerdings sind sie viel weniger verbreitet als beispielsweise die Fälle, in denen die repugnant conclusion beim Gesamtnutzenprinzip greift.
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ein durchweg glückliches und gesundes Baby sein wird. Darüber hinaus hat die Entscheidung von Kate keinen Einfluss auf die gegenwärtig existierenden Menschen. Wie sollte sich Kate entscheiden? 59
So wie das Szenario von Hare konstruiert ist – nämlich dass Kates Handlung keinen Einfluss auf die gegenwärtig existierenden Menschen hat –, steht Kate gemäß dem Actually-Existing-People-Prinzip im Grunde genommen vor keinem moralischen Problem. Zum fraglichen Zeitpunkt sind sowohl Jack als auch Jane nur mögliche, aber keine tatsächlich existierenden Menschen. Daher spielen sie für die moralische Abwägung keine Rolle. Und auf die gegenwärtig existierenden Menschen hat Kates Entscheidung keinen Einfluss. Dass es aber moralisch irrelevant sein soll, so könnte eingewendet werden, dass jemand mit einem miserablen Leben in die Existenz gebracht wird, obwohl es möglich gewesen wäre, stattdessen jemanden mit einem guten und gesunden Leben in die Existenz zu bringen, ist kontraintuitiv. Macht sich das Actually-Existing-People-Prinzip also doch einer vergleichbaren Kontraintuitivität schuldig? Abermals lautet die Antwort: Eher nein, denn im Grunde genommen liegt die Kontraintuitivität direkt im Szenario selbst und nicht im Actually-ExistingPeople-Prinzip. So lässt sich fragen, wie es möglich sein kann, dass beide Fälle völlig ohne Einfluss auf die tatsächlich existierenden Menschen sein sollen. Das Leiden von Babys erfüllt die meisten Menschen und insbesondere die Eltern mit Trauer, während ein glückliches und gesundes Kind den meisten Menschen und insbesondere den Eltern ein angenehmes Gefühl bereitet, welches das Wohlergehen steigert. Abermals lässt sich wie beim Kinderlosen-George-Szenario auf die knappen Ressourcen verweisen, die durch das In-die-Existenz-Bringen von Baby Jack vermutlich anderen bereits existierenden Menschen vorenthalten werden. Allerdings lässt sich die Kritik, die den Szenarien K4c und K4d zugrunde liegt, als ein genereller Einwand verallgemeinern, den es wert ist zu besprechen. Denn insofern von einer Handlung keine tatsächlich existierenden Individuen betroffen sind, kann das ActuallyExisting-People-Prinzip offensichtlich keine Fragen bezüglich zukünftiger Generationen beantworten. Doch in diesem Sinne ließe sich mit Bykvist kritisieren, dass die Erklärungskraft und Reichweite einer 59
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Vgl. Hare 2007, 504–506.
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Theorie mit dem Actually-Existing-People-Prinzip deutlich begrenzter ist als beispielsweise mit dem Gesamtnutzenprinzip oder Durchschnittsnutzenprinzip. Zu klären bleibt daher, ob mit einer Theorie, die das Actually-Existing-People-Prinzip enthält, Fragen zu zukünftigen Generationen beantwortet werden können. Gemäß der bisherigen Argumentation ist Hares These zuzustimmen, wonach zukünftige Generationen – und damit auch die zukünftig tatsächlich existierenden Menschen – nicht von einer Theorie mit Actually-Existing-People-Prinzip erfasst werden können, wenn die Handlungen keinen Einfluss auf die gegenwärtig tatsächlich existierenden Menschen haben: The viable remaining alternative is to say that the interests of no actual future people count, no matter how near or far in the future they are, no matter whether they would or would not exist whatever I do. The moral status of a present action is determined by whether it is good or bad for actual people who do or have existed. 60
Allerdings sind die Konsequenzen, die sich daraus ergeben, nahezu irrelevant, weshalb sich der Einwand bezüglich der mangelnden Erklärungskraft und Reichweite nicht stellt. Relevant ist die Frage in Bezug auf zukünftige Generationen offensichtlich nur dann, wenn es um vermeidbare Schädigungen bzw. vorenthaltene Wohlergehensgewinne zukünftiger Generationen geht. Doch damit ist ein grundsätzliches Problem verbunden: Was bedeutet es überhaupt, dass eine zukünftige Generation, von der noch niemand existiert, durch jetzige Handlungen geschädigt wird? Wäre in der Gegenwart eine alternative Handlung ausgeführt worden, die nicht zur (vermeintlichen) Schädigung zukünftiger Generationen geführt hätte, dann ließe sich argumentieren, dass diese zukünftige Generation gar nicht existiert hätte, sondern andere Menschen an ihrer Stelle. 61 Doch wie sollte dann die Anklage der vermeintlich geschädigten Generation aussehen? Vielleicht so: »Was wir euch vorwerfen, ist nicht, dass ihr uns geschädigt habt, sondern dass ihr die Möglichkeit versäumt habt, an unserer statt eine Generation vorzubringen, der es im Vergleich zu uns besser gehen würde.« Damit nimmt der Einwand die Struktur von K4d an. Allerdings lässt sich – zumindest prima facie – nicht im gleichen Sinne dafür argumentieren, dass die Kontraintuitivität di60 61
Hare 2007, 511. Vgl. demgegenüber Shaw 1999, 33 und Driver 2011, 83. Vgl. Pogge 2007, 113–114.
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rekt im Szenario steckt. Dies bedeutet jedoch nicht, dass der Einwand nicht zurückzuweisen ist. Zunächst einmal ist Folgendes zu beachten: Es gibt kaum Handlungen, die gegenwärtig existierende Menschen ausführen können, die positiv oder neutral für diese sind, aber negativ für zukünftige Generationen. Zu den jetzt existierenden Menschen zählen auch die Jüngsten unter uns, die erst wenige Tage oder Stunden alt sind. Viele von diesen werden ein Alter von 70 oder 80 Jahren überschreiten, voraussichtlich wird ein erheblicher Teil sogar über 100 Jahre alt werden. 62 Das heißt, die fraglichen Handlungen müssen welche sein, deren positive oder neutrale Effekte weit über 100 Jahre anhalten, deren negative Effekte aber erst nach über 100 Jahren auftreten. Es ist schwierig zu sehen, welche Handlungen hier gemeint sein könnten. Eventuell ließen sich komplexe Prozesse des Klimawandels oder die Nutzung von Atomkraft anführen. Doch auch der Teil des Klimawandels, der erst durch gegenwärtige Handlungen verursacht wird, wird seine negativen Effekte nicht erst in über 100 Jahren hervorbringen, sondern eine erhebliche Anzahl an derzeit existierenden Menschen betreffen. Auch die negativen Folgen der Nutzung von Atomkraft werden Menschen betreffen, die bereits existieren. Die Kosten für die Atommülllagerung bzw. -entsorgung sind bereits jetzt zu tragen und bisweilen kommt es auch zu einem Reaktorunfall mit anschließender atomarer Verseuchung. Damit ist aber bereits fraglich, ob ein Akteur eine entsprechende Handlung ausführen kann. Viel wichtiger ist jedoch folgender Aspekt: Selbst dann, wenn zukünftige Generationen im strengen Sinn nicht moralisch zählen, bedeutet dies nicht, dass deren Schicksal nicht über Umwege in die Verrechnung mit einfließt. Für den gewöhnlichen Menschen hat beispielsweise die Vorstellung, wie es seinen Kindern und Enkelkindern und teilweise sogar deren Enkelkindern einmal gehen wird, einen relevanten Einfluss auf das eigene Wohlergehen. Dies ist selbst dann der Fall, wenn die Kinder, Enkelkinder oder deren Enkelkinder noch nicht existieren. Aber die Personen, auf die die Vorstellungen einen Einfluss haben, gehören zu den tatsächlich existierenden Menschen.
Man vergleiche hierzu die aktuelle Debatte um (einfache) Lebensverlängerung und radikale Lebensverlängerung. Zur Frage der radikalen Lebensverlängerung im Kontext ethischer Erwägungen siehe beispielsweise Hainz 2014 und Knell und Weber 2009. Für eine ausführliche Diskussion des gegenwärtigen Stands der Forschung bezüglich des Alterns siehe Fahy et al. 2010.
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Aggregationsprinzip
In einem abgeschwächten Sinne gilt dies sogar unabhängig von der eigenen Familienlinie. Die Beunruhigung, die dieser Einwand auszulösen vermag, ist der beste Beleg dafür. Insofern also von Handlungen absehbar ist, dass sie das Leben der zukünftigen Generationen drastisch verschlechtern werden, wird sich dies auf das Wohlergehen der bereits existierenden Menschen auswirken. Auf diese Weise haben die moralisch nicht relevanten (noch nicht) existierenden Menschen dennoch in einem gewissen Umfang einen Einfluss auf die Bestimmung der moralisch richtigen Handlung. In diesem Sinne lässt sich sagen, dass mit dem Actually-Existing-People-Prinzip zukünftige Generationen zumindest mittelbar berücksichtigt werden können. Eine noch stärkere Berücksichtigung zukünftiger Generationen, wie zum Beispiel beim Gesamt- oder Durchschnittnutzenprinzip, droht den Einwand sogar ins Gegenteil zu drehen. Denn dann müsste jede Handlung darauf geprüft werden, welchen Einfluss sie auf eine noch so weit entfernte zukünftige Generation hätte. Mit Bykvists Kriterien lässt sich dann aber kritisieren, dass der individuelle Akteur an diese Daten nur schwer bis gar nicht herankommt und zusätzlich einen enormen Berechnungsaufwand zu leisten hätte. Die praktische Anwendbarkeit einer Theorie mit einem entsprechenden Prinzip wäre deutlich geringer als mit dem Actually-Existing-People-Prinzip. In diesem Sinne ist Julia Driver zuzustimmen, dass es vermutlich eine sehr gute Wahl ist, zu versuchen, vorrangig das Leben der bereits existierenden Menschen zu verbessern: [I]t seems very likely that improving the lives of already existing people is a very good bet, and doing so evenly insures against disastrous utility losses. 63
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es mit dem Actually-Existing-People-Prinzip möglich ist, auf zentrale Fragen der Bevölkerungsveränderung zu antworten, ohne die kontraintuitiven Folgen des Durchschnittsnutzenprinzips und des Gesamtnutzenprinzips zu übernehmen. Insgesamt ist daher das Actually-Existing-People-Prinzip als überlegen anzusehen und ein Teil desjenigen Sets an Merkmalen, die eine Handlung moralisch richtig machen.
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Driver 2011, 78.
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Konsequenzprinzip Mit der Bestimmung des Aggregationsgutes und des Aggregationsprinzips sind wichtige Merkmale dessen benannt, was eine Handlung moralisch richtig macht. Darzustellen bleibt allerdings, welche Konsequenzen relevant sind. Hier lassen sich zwei Richtungen ausdifferenzieren: die Unterscheidung zwischen direktem und indirektem sowie zwischen subjektivem und objektivem Konsequentialismus. Begonnen wird mit der Betrachtung zwischen direktem oder indirektem Konsequentialismus.
Handlungskonsequentialismus oder Regelkonsequentialismus 64 Die Unterscheidung zwischen direktem und indirektem Konsequentialismus lässt sich an folgender Frage festmachen: Muss das Wohlergehen bei jeder einzelnen Handlung maximiert werden oder muss die Handlung gemäß einer Regel oder eines Motives oder dergleichen erfolgen, welche für gewöhnlich das Wohlergehen maximiert? Dass dies nicht zwangsläufig aufs Gleiche hinausläuft, kann mit der folgenden Situation verdeutlicht werden: (K4e) Ein Vater hat seinem Kind versprochen, eine Kanufahrt auf dem örtlichen Fluss zu machen. Kurz bevor er mit seinem Kind aufbricht, meldet sich ein guter, aber weit entfernt lebender Freund, der ihn darum bittet, ihm kurzfristig die örtliche Universität zu zeigen. Der Vater kann nur einer der beiden Tätigkeiten nachgehen und weiß, dass entweder sein Kind enttäuscht sein wird, wenn er sein Versprechen nicht hält, oder dass sein Freund von der Zurückweisung gekränkt wäre. Vor diese Situation gestellt, fragt sich der Vater: Was soll ich tun? 65
Angenommen, der Vater kann in K4e mehr Wohlergehen erzeugen, indem er sein Versprechen nicht hält und mit seinem Freund die hiesige Universität besucht, dann wäre es gemäß dem Handlungskonsequentialismus moralisch richtig, das Versprechen nicht zu halten und stattdessen mit dem Freund die Universität zu besuchen. GleichMit diesem Abschnitt nehme ich die Diskussion des Regelkonsequentialismus aus dem 3. Kapitel wieder auf. Siehe hierzu den Abschnitt Regelkonsequentialismus. 65 Vgl. Hare 1992, 71. 64
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Konsequenzprinzip
zeitig ist aber davon auszugehen, dass das Wohlergehen in der Welt langfristig maximiert wird, wenn die Regel, dass freiwillig gegebene Versprechen zu halten sind, fest verankert ist. In diesem Sinne würde gemäß dem Regelkonsequentialismus die Regel »Halte deine Versprechen« verankert werden und es wäre moralisch richtig, in K4e das Versprechen zu halten, obwohl in dieser konkreten Situation eine gegenteilige Handlung mehr Wohlergehen erzeugen würde. Sowohl für als auch gegen beide Positionen sprechen gewichtige Argumente. Einerseits ist es richtig, wie beispielsweise Nida-Rümelin ausführte, dass das Versprechen für den Menschen eine fundamentale Regel der Handlungskoordination ist und dass daher anzunehmen ist, dass das Wohlergehen in einer Gesellschaft abnehmen würde, »wenn sich die Institution des Versprechens nicht aufrechterhalten ließe.« 66 Die Institution des Versprechens kann aber nur aufrechterhalten werden, wenn Akteure davon ausgehen können, dass sich der Versprechensgeber selbst dann noch an sein Versprechen hält, wenn er mit einer anderen Handlung mehr Wohlergehen erzeugen könnte. Durch diese Sicherheit könnte ein für den Handlungskonsequentialismus schwerwiegendes Koordinationsproblem gelöst werden, was letztlich zu einer besseren Annäherung an das optimale Aggregationsergebnis führen würde und dementsprechend für den Regelkonsequentialismus spricht. 67 Aber wie sieht es in einem Fall aus, in dem es selbst unter Berücksichtigung aller relevanten Fakten, also auch der langfristigen Folgen, besser ist, sein Versprechen nicht zu halten? Wäre es dann nicht irrational, sich an die Regel zu halten? Die klassische Formulierung dieses Einwandes, der als Rule-Worship-Einwand bezeichnet wird, findet sich bei Smart: Suppose that there is a rule R and that in 99 % of cases the best possible results are obtained by acting in accordance with R. Then clearly R is a useful rule of thumb; if we have not time or are not impartial enough to assess the consequences of an action it is an extremely good bet that the thing to do is to act in accordance with R. But is it not monstrous to suppose that if we have worked out the consequences and if we have perfect faith in the impartiality of our calculations, and if we know that in this instance to break R will have better results than to keep it, we should nevertheless obey the rule? Is it not to erect R into a sort of idol if we keep it when breaking it will prevent, say, some avoidable misery? Is not this a form of superstitious
66 67
Nida-Rümelin 1995a, 46. Vgl. Hooker 2000, 115.
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rule-worship (easily explicable psychologically) and not the rational thought of a philosopher? 68
An dieser Stelle stehen dem Regelkonsequentialisten zwei Optionen offen. Zunächst einmal kann er seine Regel spezifizieren und entsprechend an derartige Situationen anpassen. Zweitens kann er akzeptieren, dass die Befolgung seiner Regeln nicht in allen Situationen zu einer größtmöglichen Annäherung an das optimale Aggregationsergebnis führt. Er würde lediglich darauf verweisen, dass diese Ausnahmen selten sind, und behaupten, dass das Wohlergehen insgesamt durch die Regelbefolgung besser maximiert wird. Aus den folgenden Gründen ist jedoch keine der beiden Optionen für das Grundprinzip einer konsequentialistischen Theorie angemessen. Die Bereitschaft, die Regel jeweils so zu spezifizieren, dass durch ihre Befolgung eine Annäherung an das optimale Aggregationsergebnis erreicht wird, lässt den Regelkonsequentialismus in einen Handlungskonsequentialismus kollabieren und stößt darüber hinaus an praktische Grenzen. 69 Für jede modifizierte Version einer Regel könnte ein neues Szenario vorgebracht werden, das zu weiteren Modifikationen bzw. Spezifizierungen führt. Insofern der Regelkonsequentialist die Spezifizierung konsequent bis zum Ende geht, kommt er zu einer Version, die hinsichtlich der geforderten Handlung extensional identisch mit dem Handlungskonsequentialismus ist und im Rahmen der begrenzten Fähigkeiten der Menschen auch ihre koordinierende Wirkung einbüßt. 70 Mit Bykvists Kriterien lässt sich dann einwenden, dass der Handlungskonsequentialismus vorzuziehen ist, weil er für das gleiche Ergebnis mit weniger Regeln auskommt. 71 Hinzu kommt die empirische Tatsache, dass Menschen nur eine begrenzte Fähigkeit haben, Regeln zu internalisieren. Das spricht dafür, die Spezifizierung an einer bestimmten Stelle abzubrechen und die Regeln auf eine Komplexität zu begrenzen, die es (nahezu) allen Menschen ermöglicht, diese auch zu internalisieren. 72 Auf diese Weise droht der Regelkonsequentialismus nicht in den Handlungskonsequentialismus zu kolla-
Smart 1956, 348–349, Hervorhebung im Original. Vgl. demgegenüber Bykvist 2010, 144–146. 70 Vgl. beispielsweise Hare 1992, 90. 71 Vgl. auch Hooker 2015, 35–36. 72 Vgl. beispielsweise Hooker 2000, 84, der von einer Internalisierungsrate von etwa 90 Prozent der Mitglieder einer jeden neuen Generation ausgeht. 68 69
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bieren. 73 Dafür droht er aber in Smarts Rule-Worship-Einwand zu laufen, und mit Blick auf die überzeugende Idee des Konsequentialismus ließe sich dann sagen, dass ein derartiger Konsequentialismus inkonsistent wäre. 74 Die Inkonsistenz bestünde darin, dass der Regelkonsequentialismus der Maximierung des Guten verpflichtet ist, bei einigen Handlungen diese Verpflichtung jedoch nicht einlöst. 75 Die wohl elaborierteste Entgegnung gegen den InkonsistenzEinwand hat Hooker geliefert. Nach diesem muss der Regelkonsequentialismus der Maximierung des Guten nämlich überhaupt nicht verpflichtet sein: For the best argument for rule-consequentialism is not that it derives from an overarching commitment to maximize the good. The best argument for rule-consequentialism is that it does a better job than its rivals of matching and tying together our moral convictions, as well as offering us help with our moral disagreements and uncertainties. […] Rule-consequentialists need not have maximizing the good as their ultimate moral goal. They could have a moral psychology as follows. Their fundamental moral motivation is to do what is impartially defensible. They believe acting on impartially justified rules is impartially defensible. They also believe that rule-consequentialism is on balance the best account of impartially justified rules. 76
Allerdings gehen mit Hookers Ausführung mehrere Probleme einher. Zunächst einmal ist unklar, inwieweit Hooker damit recht hat, dass der Regelkonsequentialismus die moralischen Überzeugungen besser in Einklang bringt als rivalisierende Theorien, zu denen er auch nicht-konsequentialistische Theorien zählt. 77 Was jedoch am schwersten wiegt, ist, dass Hooker dem zentralen Einwand nicht entVgl. Miller 2014, 151. Vgl. Miller 2014, 162. Interessanterweise trennt Hooker den Rule-Worship-Einwand vom Inkonsistenz-Einwand, indem er davon ausgeht, dass sich der Rule-Worship-Einwand nur auf Szenarien bezieht, bei denen die Regelbefolgung zu einem Desaster führt. Die Verhinderung eines Desasters lässt sich allerdings durch eine eigene Regel erreichen, die einen Vorrang gegenüber anderen Regel genießt und die besagt, dass Desaster zu verhindern sind (vgl. Hooker 2015, 39–40). Allerdings kann ich bei Smarts Rule-Worship-Einwand nicht erkennen, warum sich dieser nur auf »Desastersituationen« beziehen soll. 75 Vgl. Hooker 2015, 38. 76 Hooker 2000, 101, Hervorhebung im Original. 77 Vgl. Hooker 2000, 5–9, siehe auch Schroth 2004, 91. 73 74
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kommt, jedenfalls nicht, ohne in einen neuen Einwand zu geraten, der ebenfalls dafür spricht, den Handlungskonsequentialismus dem Regelkonsequentialismus vorzuziehen, jedenfalls solange der Regelkonsequentialismus als genuin konsequentialistische Theorie zu verstehen ist. Doch genau so möchte Hooker den Regelkonsequentialismus verstanden haben. Das wird deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, auf welchen Behauptungen nach seiner Meinung der Regelkonsequentialismus ausschließlich fußt: So, even if rule-consequentialist agents need not have an overriding commitment to maximize expected good, does their theory contain such a commitment? No, rule-consequentialism is essentially the conjunction of two claims: (1) that rules are to be selected solely in terms of their consequences and (2) that these rules determine which kinds of acts are morally wrong. This is really all there is to the theory – in particular, there is not some third component consisting in or entailing an overriding commitment to maximize expected good. 78
Da es keine dritte Behauptung gibt, wonach die moralische Falschheit einer Handlung bestimmt werden kann, ist die zweite Behauptung sinnvollerweise so zu verstehen, dass ausschließlich diese Regeln bestimmen, welche Handlung moralisch falsch ist. In Verbindung mit der ersten Behauptung lässt sich dann schließen, dass das für den Konsequentialismus zentrale Konsequenzprinzip erfüllt ist. 79 Damit bleiben zwei Fragen offen, die geklärt werden müssen. Erstens: Wie wird das ideale Set an Regeln ausgewählt? Zweitens: Welche Form von Regelkonsequentialismus ergibt sich daraus für Hooker? Zur ersten Frage schreibt Hooker: Rule-consequentialism evaluates codes by their consequences. Rule-consequentialism holds that the code whose collective internalization has the best consequences is the ideal code. 80
Zur zweiten Frage schreibt er:
Hooker 2015, 39. Dies entspricht auch der Position, die Hooker in Is Rule Consequentialism a Rubber Duck? (1994) vertritt. Allerdings ist die erste Behauptung von Hooker in dieser Form problematisch, denn Regeln an sich haben keine Konsequenzen (vgl. SinnottArmstrong 2015, 25–26 und Bykvist 2010, 143). Mit Blick auf die von Hooker favorisierte Version des Regelkonsequentialismus ist dieses Problem aber vernachlässigbar. 80 Hooker 2000, 1–2. 78 79
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An act is wrong if it is forbidden by the code of rules whose internalization by the overwhelming majority of everyone everywhere in each new generation has maximum expected value in terms of well-being (with some priority for the worst off). 81
Allerdings ergibt sich für Hooker das folgende Problem: Entweder muss er an einer zentralen Stelle doch auf die überzeugende Idee des Konsequentialismus im Sinne der Maximierung des Guten zurückgreifen, oder er kann nicht begründen und damit nur postulieren, wie das ideale Set an Regeln ausgewählt wird. Im ersten Fall ist die Verpflichtung, das Gute zu maximieren, zwar nicht beim Regelkonsequentialisten enthalten, aber in einer zentralen Stelle des Regelkonsequentialismus. 82 Doch das macht für den Inkonsistenzeinwand keinen relevanten Unterschied. 83 Vielleicht lässt sich weiterhin bestreiten, dass der Regelkonsequentialismus auf die Verpflichtung, das Gute zu maximieren, zurückgreifen muss. Doch dann lässt sich im Rahmen von Bykvists Kriterien einwenden, dass nicht ausreichend erklärt werden kann, warum genau ein bestimmtes Set – beispielsweise das Set, das Hooker präferiert – das ideale Set sein soll und nicht ein anderes Set. Warum ist nicht beispielsweise jenes Set von Regeln ideal, das dem individuellen Akteur die größtmögliche Freiheit gewährt, die mit allen anderen vereinbar ist? Dieser Umstand ist insbesondere mit Blick auf den Handlungskonsequentialismus relevant. Denn wie Hooker selbst schreibt: But act-consequentialism tells us to make the vast majority of our moral decisions by recourse to rules – indeed, much the same rules that rule-consequentialism endorses. This blurs the contrast between act-consequentialism and rule-consequentialism. 84
Wenn die Handlungen, für die sich der Regelkonsequentialist und der Handlungskonsequentialist in einer Situation zu entscheiden haben, letztlich die gleichen sind, hat der Handlungskonsequentialismus Hooker 2000, 32. Vgl. auch Card 2007, 247. 83 Nach Card ließe sich argumentieren, dass die überschreibende Verpflichtung, das Gute zu maximieren, erst dann in der Theorie existiert, wenn sie sowohl auf der Ebene vorhanden ist, auf der die Regeln ausgewählt werden, als auch auf der Ebene, auf der sich für die Handlung entschieden wird. Wie Card allerdings zeigt, hält Hooker auch diese Trennung nicht völlig durch, weshalb diese Möglichkeit an dieser Stelle vernachlässigt werden kann (vgl. Card 2007, 247–249). 84 Hooker 2000, 142. 81 82
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zumindest einen theoretischen Vorteil: Denn der Handlungskonsequentialist kann über die überzeugende Idee, im Sinne der Verpflichtung das Gute zu maximieren, erklären, wie er zu den entsprechenden Regeln kommt. 85 Keine der beiden Optionen ist geeignet, um den Inkonsistenzeinwand sinnvoll zurückzuweisen. 86 Daher könnte eine letzte Strategie des Regelkonsequentialisten darin bestehen, von der Verteidigung der eigenen Position zu einem Aufzeigen der Schwächen des Handlungskonsequentialismus überzugehen und zu argumentieren, dass der Regelkonsequentialismus aufgrund dieser Schwächen insgesamt überlegen ist. Einer der direktesten Einwände gegen den Handlungskonsequentialismus ist der Verweis darauf, dass es unmöglich ist, diesen in jeder Alltagssituation anzuwenden. Für den Menschen ist es nicht möglich, für jede einzelne Handlung die langfristigen Konsequenzen zu ermitteln. In diesem Sinne lässt sich mit Parfit sagen, dass ein reiner Handlungskonsequentialismus indirekt selbstzerstörerisch ist, weil die Akteure in der realen Welt oftmals scheitern werden, die besten Ergebnisse zu erreichen. 87 Mit Bykvists Kriterien ließe sich dann argumentieren, dass der Handlungskonsequentialismus hinsichtlich der praktischen Ebene deutlich schlechter aufgestellt ist. Praktikabler ist es demgegenüber, sich an einigen festen Regeln zu orientieren, auch wenn diese nicht immer zum optimalen Aggregationsergebnis führen. Hinzu kommt, dass der Handlungskonsequentialismus offenbar in das angesprochene Koordinierungsproblem läuft: Man kann sich nicht mehr auf ein erhaltenes Versprechen verlassen, weil man immer davon ausgehen muss, dass dieses für eine (vermeintlich) bessere Handlung gebrochen wird. Hinzu kommen die bekannten anderen Probleme des Handlungskonsequentialismus, wie die permanente Furcht, dass man zum Wohle anderer beim Arztbesuch »ausgeschlachtet« wird usw. 88 All dies sind wiederum vermeidbare Wohlergehensverluste, die in dieser Form beim Regelkonsequentialismus nicht auftreten. Und mit Bykvists Kriterium der Vgl. Schroth 2004, 93–94. Mit Howard-Snyder ließe sich abermals eine dritte Möglichkeit diskutieren, nämlich dass der Regelkonsequentialismus gar keine konsequentialistische Theorie ist, weil er an zentraler Stelle akteur-relative Elemente zulässt: Es ist der Akteur, der seine Versprechen halten soll usw. Siehe hierzu aber meine Diskussion im Abschnitt Regelkonsequentialismus, siehe auch Card 2007, 255–257. 87 Vgl. Parfit 1979, 554. 88 Vgl. Eggleston 2014, 136–139. 85 86
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moralischen Stimmigkeit ließe sich argumentieren, dass der Handlungskonsequentialismus Prinzipien liefert, die wir nach einer geeigneten Reflexion nicht anerkennen können, bzw. dass gemäß dieser Theorie zu viele Handlungen erlaubt sind, die intuitiv verboten sind. Ist der Regelkonsequentialismus demnach doch die plausiblere Theorie? Eher nicht; vielmehr haben beide Ansätze ihre Berechtigung, jedoch auf einer unterschiedlichen moralischen Ebene. 89 Hierzu sei noch einmal ein Blick auf einen Ausschnitt von Smarts Rule-Worship-Einwand geworfen: […] if we have worked out the consequences and if we have perfect faith in the impartiality of our calculations, and if we know that in this instance to break R will have better results than to keep it […]. 90
Damit es rational wird, die Regeln zu brechen, müssen Bedingungen erfüllt sein, die in der realen Welt kaum erfüllbar sind. In der realen Welt wird es für gewöhnlich niemandem gelingen, alle (relevanten) Konsequenzen herauszuarbeiten, zu wissen, dass das Brechen der Regel bessere Resultate, auch langfristig, mit sich bringt und sich dabei sicher zu sein, dass diese Kalkulation streng unparteilich ist. Demgegenüber bezieht sich die Kritik der Regelkonsequentialisten gerade auf diese menschliche Schwäche, nämlich dass reale Menschen in der Regel nicht dazu fähig sind, diese Bedingungen zu erfüllen. In diesem Sinne lässt sich folgern, dass die Frage, auf die die Handlungskonsequentialisten eine Antwort geben, die Frage danach ist, was eine Handlung grundsätzlich moralisch richtig macht. Demgegenüber ist die Frage, die von Regelkonsequentialisten beantwortet wird, die Frage danach, woran wir unsere moralischen Handlungen in Anbetracht unserer menschlichen Schwächen ausrichten sollen bzw. welche Handlungen moralisch richtig ist, wenn wir nicht wissen, welche Handlung grundsätzlich moralisch richtig ist, obwohl wir die richtigmachenden Merkmale kennen. Wie dargestellt fallen diese beiden Fragen nicht zusammen. Für die hier zu klärende Frage – was die grundsätzlichen Merkmale sind, die eine Handlung richtig machen – gibt der Handlungskonsequentialist eine plausible Antwort, ohne dabei die überzeugende Idee des Konsequentialismus zu opfern. Daher ist das Prinzip des Handlungskonsequentialismus das hier gesuchte Prinzip. Um die praktischen Probleme des Handlungskonsequentia89 90
Vgl. Hare 1992, 90. Smart 1956, 348.
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lismus zu umgehen, ist es allerdings notwendig, diesen durch (mindestens) eine weitere Ebene zu ergänzen. Auf dieser Ebene hat der Regelkonsequentialismus seine Berechtigung. 91 Wie im Laufe der Arbeit durch die Zurückweisung des Besondere-Pflichten-Einwands gezeigt wird, ist es in einem entsprechenden Multi-Ebenen-Konsequentialismus, in dem die handlungskonsequentialistische Komponente im Grundprinzip enthalten ist, möglich, die praktische Anwendbarkeit der Theorie zu gewährleisten, ohne dabei in die Probleme des Regelkonsequentialismus zu laufen. Aus all den genannten Gründen ist davon auszugehen, dass es im Grundprinzip darum geht, mit jeder einzelnen Handlung direkt das Wohlergehen zu maximieren.
Objektiver Konsequentialismus oder subjektiver Konsequentialismus Eine zweite wichtige Frage hinsichtlich der Konsequenzen lautet, ob es um die wahrscheinlichen oder tatsächlichen Konsequenzen geht. Das ist die Frage zwischen subjektivem und objektivem Konsequentialismus. Der subjektive Konsequentialismus behauptet, dass eine Handlung dann richtig ist, wenn die wahrscheinlichen Konsequenzen einer Handlung mindestens genauso gut sind wie die wahrscheinlichen Konsequenzen jeder zur Verfügung stehenden Alternative; andernfalls ist die Handlung moralisch falsch. Demgegenüber behauptet der objektive Konsequentialismus, dass eine Handlung dann richtig ist, wenn ihre tatsächlichen Konsequenzen mindestens so gut sind wie die Konsequenzen jeder zur Verfügung stehenden Alternative; andernfalls ist sie moralisch falsch. 92 Im Folgenden wird davon ausgegangen, dass für das Grundprinzip der objektive Konsequentialismus das angemessenere Kriterium zur Verfügung stellt, auf einer niedrigeren Ebene hingegen der subjektive Konsequentialismus. Der Grund dafür liegt in einem spezifischen Problem des subjektiven Konsequentialismus. Bei diesem hängt die Bewertung der moralisch richtigen Handlung von der Perspektive bzw. dem Wissensstand des Akteurs ab. Durch ein (unverschuldetes) Informationsdefizit bei einem Akteur kann es der Fall sein, dass zwei oder mehr Vergleiche auch die Methode zur Begründung eines Zwei-Ebenen-Konsequentialismus im Abschnitt Zwei-Ebenen-Konsequentialismus. 92 Vgl. beispielsweise Railton 1984, 152. 91
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Akteure in der gleichen Situation eine Handlung unterschiedlich bewerten, weil aufgrund der unterschiedlichen Informationen andere Konsequenzen wahrscheinlich sind. Dies bringt wiederum das Problem mit sich, dass ein und dieselbe Handlung in einer Situation sowohl moralisch richtig als auch moralisch falsch sein kann. Auf die Frage, welche Handlung letztendlich moralisch richtig ist, kann der subjektive Konsequentialist nur noch in zwei Richtungen antworten: Entweder er argumentiert, dass jene Handlung, die über die bessere Datenlage verfügt, die eigentlich moralisch richtige Handlung ist. Oder er räumt ein, dass er diese Frage nicht beantworten kann, weil sie explizit akteur-unabhängig gestellt ist, seine Antwort aber nur akteur-abhängig sein kann. Bei der ersten Antwort hat der subjektive Konsequentialist implizit die akteur-relative Perspektive aufgegeben, weil es nicht mehr darum geht, was aus der subjektiven Perspektive des individuellen Akteurs moralisch richtig ist, sondern was gemäß möglichst objektiven Daten moralisch richtig ist. Doch für jeden Zustand gibt es – abgesehen von dem Zustand, bei dem alle Daten vorliegen – einen Zustand, bei dem das Informationsdefizit geringer ist. In diesem Sinne gibt es – mit Ausnahme derjenigen Bewertung, die auf der Basis vollständiger Informationen getroffen wird – für jede Bewertung einer moralisch richtigen Handlung eine höherrangige Bewertung, welche Handlung »richtiger« ist. Doch die Bewertung auf der Basis vollständiger Informationen ist wiederum extensional identisch mit der Bewertung des objektiven Konsequentialismus. Wählt der subjektive Konsequentialist demgegenüber den zweiten Weg, dann kann eine Handlung insgesamt sowohl moralisch richtig als auch moralisch falsch sein. Doch dann lässt sich mit Bykvist die interne Stimmigkeit einer entsprechenden Theorie kritisieren. Beide Antwortmöglichkeiten des subjektiven Konsequentialisten sind unbefriedigend, und mit Mason lässt sich demgegenüber in Bezug auf den objektiven Konsequentialismus sagen: »Objectivism has the advantage of being clear.« 93 Mason 2014, 194. Man beachte aber auch folgende Textstelle bei Mason: »We must be careful not to conflate rightness and goodness. Goodness is independent of agents – the option that has the most goodness has the most goodness regardless of what agents think about it. But rightness is a different sort of thing. Rightness is rightness-for-particular-agents, and so we should not worry that it varies with them. The objectivist assumes that there is a simple relationship between rightness and goodness, that what has the most goodness simply is right. But, arguably, we should take into account the position of the agent, and different agents will be in different posi-
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Einen wichtigen Einwand gegen den objektiven Konsequentialismus hat demgegenüber Singer vorgebracht: In other words, actual consequence utilitarianism requires you to know the actual consequences of acts never performed, to compare with the actual consequences of the one performed. But if an act was never performed it has no actual consequences, hence it has no consequences, hence no comparison can be made, and hence, on this criterion, no judgment can be made. I conclude from this that actual consequence utilitarianism is incoherent, absolutely and totally and completely. 94
Wenn Singer mit seiner Analyse richtig liegt, ist der objektive Konsequentialismus nicht zu halten. Und in der Tat kann in der realen Welt nur eine Handlung ausgeführt werden und das Ergebnis dieser Handlung werden die einzigen tatsächlichen Konsequenzen sein. Doch Singers Kritik geht am eigentlichen Problem vorbei, was sich mit dem folgenden Szenario verdeutlichen lässt: (K4f) Aus der Perspektive des Akteurs A liegt das wahrscheinliche Wohlergehensniveau der Handlungen m, n und o bei 800, 900 bzw. 1000, aus der Perspektive des Akteurs B bei 900, 1000 bzw. 800. Das tatsächlich erreichte Wohlergehensniveau der Handlungen m, n und o liegt bei 1000, 800 bzw. 900.
In derartigen Szenarien läuft Singers Kritik offensichtlich ins Leere. Wenn alle relevanten Informationen vorliegen, lassen sich sehr wohl die tatsächlichen Konsequenzen vergleichen. Worum es beim Vergleich des objektiven Konsequentialismus geht, ist der Vergleich der tatsächlichen Konsequenzen, die eingetreten wären, wenn die entsprechende Handlung ausgeführt worden wäre. Aus der Tatsache, dass nur eine Handlung ausgeführt werden kann und entsprechend in der realen Welt nur von einer Handlung gesagt werden kann, was die tatsächlichen Konsequenzen sind, kann demnach nicht gefolgert werden, dass es grundsätzlich nicht möglich ist, die tatsächlichen Konsequenzen verschiedener Handlungen zu vergleichen. In K4f tions.« (Mason 2014, 179–180) Damit werden allerdings nicht die beiden aufgezeigten Probleme des subjektiven Konsequentialismus gelöst. Die Berücksichtigung der unterschiedlichen Positionen der unterschiedlichen Akteure ist aber, wie insbesondere im sich anschließenden Kapitel gezeigt wird, dennoch relevant und kann auch innerhalb eines Konsequentialismus eingefangen werden, dessen Grundprinzip auf das tatsächliche und nicht auf das wahrscheinliche Wohlergehen ausgerichtet ist. 94 Singer 1977, 72–73.
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können die tatsächlichen Konsequenzen, die aus den verschiedenen Handlungen resultieren würden, verglichen werden. Dass dies in der realen Welt nicht möglich ist, liegt lediglich daran, dass Menschen ein begrenztes Wissen haben. Welche Konsequenzen tatsächlich aus einer Handlung resultieren, erfahren die Menschen immer erst im Nachhinein. Dass Menschen die tatsächlichen Konsequenzen, die aus verschiedenen Handlungen resultieren würden, nicht in der realen Welt vergleichen können, scheint Singers eigentliche Kritik zu sein. Dies wird daran deutlich, wie er seinen Einwand fortführt: Even its defenders admit that before the fact actual consequence utilitarianism cannot provide a criterion for distinguishing right from wrong or determining what one ought to do, since there is no sufficiently reliable way of determining beforehand what the consequences will actually be. The most we can determine beforehand is what they probably will be. 95
Doch dass der moralische Akteur in der realen Welt nicht im Voraus erkennen kann, welche Handlung gemäß dem objektiven Konsequentialismus moralisch richtig ist, ist ein gänzlich anderer Einwand. In diesem Sinne lässt sich als zweiter Einwand formulieren, dass es im Rahmen des objektiven Konsequentialismus für keinen moralischen Akteur in der realen Welt möglich ist, aus sich heraus immer das moralisch Richtige zu tun, weil er nicht bestimmen kann, welche Handlung die tatsächlich besten Konsequenzen haben wird. Zwar ist davon auszugehen, dass dies wahrscheinlich ohnehin nie jemandem sein ganzes Leben über gelungen ist, jedoch sollte eine ethische Theorie dies ermöglichen; so ließe sich der Einwand mit Jackson und Paragetter fortsetzen. 96 In diesem Sinne lässt sich im Rahmen von Bykvists Kriterien die Kritik ergänzen, dass der objektive Konsequentialismus nicht praktisch anwendbar ist. Mit Blick auf die bereits getroffene Unterscheidung der Fragen, welche Merkmale eine Handlung grundsätzlich moralisch richtig machen und welche Handlung moralisch richtig ist, wenn ein Akteur nicht erkennen kann, welche Handlung die entsprechenden Merkmale erfüllt, lässt sich dieser Einwand jedoch zurückweisen. Denn der objektive Konsequentialismus sagt zunächst einmal nichts darüber aus, für welche Handlung sich ein Akteur entscheiden soll, wenn er nicht weiß, welche Handlung grundsätzlich moralisch richtig ist. 95 96
Singer 1977, 73. Vgl. Jackson und Pargetter 1986, siehe auch Hooker 2000, 72.
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Er gibt eben lediglich eine Antwort darauf, welches Merkmal eine Handlung grundsätzlich moralisch richtig macht. Die Anwendbarkeit der Theorie hängt demnach nicht davon ab, wie die erste Frage beantwortet wird, sondern wie die zweite Frage beantwortet wird. In den Fällen, in denen der Akteur nicht erkennen kann, welche Handlung die richtigmachenden Merkmale erfüllt bzw. in diesem Fall, welche Handlung tatsächlich moralisch richtig ist, wird es langfristig zu einer Annäherung an das optimale Aggregationsergebnis führen, jene Handlung zu wählen, die das Wohlergehen wahrscheinlich maximiert. Damit kommt der subjektive Konsequentialismus zurück, aber auf einer anderen Ebene. 97 Mit dieser Verankerung des subjektiven Konsequentialismus auf einer niedrigeren Ebene ist die Eingangsfrage danach, welche Handlung bei einem unterschiedlichen Wissensstand die wirklich richtige Handlung ist, kein Problem mehr, weil sie auf der höheren Ebene durch den objektiven Konsequentialismus beantwortet werden kann. In diesem Sinne ist auch Shaw zuzustimmen, dass der Unterschied zwischen einer Theorie, gemäß der die tatsächlichen Konsequenzen die moralische Richtigkeit einer Handlung bestimmen, und einer Theorie, gemäß der die wahrscheinlichen Konsequenzen einer Handlung die moralische Richtigkeit bestimmen, in der Praxis nicht sehr groß ist: In practice, however, there is little difference between actual-outcome utilitarianism and expected-outcome utilitarianism. Because we are not omniscient and never know for certain the exact outcomes of the various actions we could perform, actual-outcome utilitarians will say that the reasonable way for us to proceed is by trying to maximize probable or expected happiness. 98
Ergebnis des 4. Kapitels Damit ist das Set von Merkmalen, die eine Handlung grundsätzlich moralisch richtig machen, zusammengetragen. Das Grundprinzip der konsequentialistischen Theorie, mit der der Besondere-Pflichten-Einwand geprüft werden soll, lautet in diesem Sinne:
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Vgl. Bykvist 2010, 91. Shaw 1999, 30.
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Ergebnis des 4. Kapitels
Grundprinzip: Moralisch richtig ist eine Handlung dann, wenn es für den Akteur keine mögliche alternative Handlung gibt, die das tatsächliche Wohlergehen – verstanden im Sinne des ethischen Hedonismus – der von einer Handlung betroffenen wohlergehensfähigen Lebewesen, die gegenwärtig tatsächlich existieren, besser aggregiert. Andernfalls ist die Handlung moralisch falsch.
Mit diesem Ergebnis kann und muss im folgenden Kapitel auf die bereits mehrfach angesprochene Frage eingegangen werden, für welche Handlung sich der moralische Akteur entscheiden soll, wenn er nicht bestimmen kann, welche Handlung gemäß dem Grundprinzip moralisch richtig ist.
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Kapitel 5: Sekundärprinzip und Tertiärprinzip
Ein wiederkehrendes Problem hinsichtlich des Grundprinzips war, dass einem moralischen Akteur zwar durchaus bewusst sein kann, was die Merkmale sind, die eine Handlung grundsätzlich moralisch richtig machen, bzw. wie das Grundprinzip lautet, dass er in der realen Welt in der Regel allerdings nicht wissen kann, welche Handlung gemäß diesem Grundprinzip moralisch richtig ist. Doch für welche Handlung hat sich ein Akteur dann zu entscheiden? In einer derartigen Situation muss er sein Handeln an alternativen Prinzipien bzw. an alternativen Ebenen des moralischen Denkens ausrichten. Wie diese Prinzipien aussehen, wird in diesem Kapitel dargelegt. Das Ergebnis dieser Untersuchung wird die Rechtfertigung von zwei weiteren Kernprinzipien des Multi-Ebenen-Konseqeuentialismus sein.
Zwei Situationstypen in der realen Welt In den folgenden Abschnitten wird dafür argumentiert, dass sich zwei verschiedene Situationstypen unterscheiden lassen, bei denen der moralische Akteur nicht erkennen kann, welche Handlung gemäß dem Grundprinzip moralisch richtig ist und dementsprechend das Wohlergehen maximiert. Zunächst einmal gibt es Situationen, in denen dem moralischen Akteur nicht alle relevanten Informationen zur Verfügung stehen und er nicht genügend Zeit hat, um alle Alternativen gründlich zu durchdenken: (K5a) Smith bekommt einen Anruf von seinem besten Freund James. James ist in einem äußerst labilen psychischen Zustand und bittet Smith darum, sofort zu ihm zu kommen. Der von Sorge erfüllte Smith willigt in dem Wissen, dass James kürzlich einige Selbsttötungsversuche unternommen hat, ein und macht sich mit seinem Auto unverzüglich auf den Weg. In der Hektik vergisst er jedoch sein Mobiltele-
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fon mitzunehmen und fährt, um Zeit zu sparen, über einen verbotenen Feldweg. Bei einer abgelegenen Kurve entdeckt er einen verletzten Mann am Straßenrand. Es ist nicht davon auszugehen, dass in nächster Zeit eine weitere Person an dieser Stelle vorbeikommt. Wenn sich Smith allerdings zunächst um den Verletzten kümmert, würde er jedoch voraussichtlich bei einem erneuten Selbsttötungsversuch von James zu spät kommen.
Zwar kommen derartige Extremsituationen im realen Leben selten vor, nicht so schwerwiegende Szenarien jedoch häufig, zum Beispiel die Überlegung, im Bus seinen Platz einem anderen anzubieten. Zu diesem Situationstyp lassen sich außerdem Situationen zählen, in denen der Akteur zwar in der Lage ist, verschiedene Handlungen zu bewerten, aber aus verschiedenen Gründen Gefahr läuft, keine unparteiische Abwägung vorzunehmen und entsprechend das Ergebnis zurechtzufrisieren. 99 Von diesem Situationstyp lässt sich ein zweiter Typ unterscheiden: Hier stehen dem moralischen Akteur zwar nicht alle relevanten Informationen zur Bestimmung der moralisch richtigen Handlung im Sinne des Grundprinzips zur Verfügung, aber er hat die Zeit, verschiedene Alternativen gründlich zu durchdenken, und ist voraussichtlich dazu fähig, eine unparteiische Abwägung durchzuführen. Diese Situationen entsprechen den bereits diskutierten Doktor-JillSzenarien von Jackson. 100 Dr. Jill fehlt die relevante Information, welches Medikament die vollständige Heilung bringt bzw. zum Tod der Patienten führt. Dennoch hat Dr. Jill genügend Zeit, um gründlich über alle Alternativen nachzudenken und die Folgen abzuwägen. Derartige Situationen kommen im realen Leben beispielsweise beim Abwägen vor, wie viel Geld man von seinem Gehalt für gemeinnützige Zwecke spenden soll oder wie viel Zeit man von seiner Freizeit für sich oder für die Interessen seiner Familienmitglieder verwenden soll.
Situationen des ersten Typs: Tertiärprinzip Wie bereits bei den theorieabhängigen Anpassungen dargestellt, ist insbesondere Hare ein Vertreter einer Zwei-Ebenen-Theorie. Die
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Vgl. Hare 1992, 84–85. Siehe hierzu den Abschnitt Entscheidungstheoretischer Ansatz.
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Grundlage seiner Ausarbeitung, an die im Folgenden angeknüpft wird, ist die Unterscheidung zwischen der intuitiven und der kritischen Ebene bzw. dem intuitiven und dem kritischen Denken. Während das vollständige kritische Denken übermenschliche Fähigkeiten voraussetzt, sowohl hinsichtlich des Erkennens der moralisch richtigen Handlung als auch hinsichtlich der Motivation, diese Handlungen auszuführen 101, kann mit dem intuitiven Denken bzw. der intuitiven Ebene die Frage beantwortet werden, welche Handlung der moralische Akteur ausführen soll, wenn er nicht weiß, welche Handlung gemäß dem Grundprinzip bzw. bei Hare gemäß der kritischen Ebene moralisch richtig ist. Der reale Mensch braucht das intuitive Denken, weil er in der Regel nicht dazu in der Lage ist, zu bestimmen, welche Handlung gemäß dem Grundprinzip moralisch richtig ist, und außerdem das Erkennen der moralisch richtigen Handlung keine zuverlässige Motivation liefert, die als richtig erkannte Handlung tatsächlich auszuführen. Mit Shaw lässt sich ergänzen, dass selbst dann, wenn es für den Menschen möglich wäre, für nahezu jede Handlung den tatsächlichen Nutzen zu berechnen, der hierfür erforderliche Aufwand zu einer ineffizienten Aggregation führen würde. In wiederkehrenden Alltagssituationen würde nämlich ein ständiges Innehalten, um die Konsequenzen einer Handlung zu berechnen, langfristig zu einem schlechteren Ergebnis führen als ein Handeln gemäß den Erfahrungen, Intuitionen oder Handlungsdispositionen. 102 Der Grund liegt in dem Zeitverlust, der durch die einzelnen Berechnungen entstünde, und in dem Umstand, dass zahlreiche Situationen eine nahezu unmittelbare Handlungsentscheidung und -ausführung erfordern. Hinzu kommt, dass durch eine breite Akzeptanz dieser alternativen Prinzipien weitere Probleme für den Konsequentialisten lösbar sind, so zum Beispiel das Koordinationsproblem: In dem Maße, wie diese alternativen Prinzipien von den Akteuren als Basis ihrer Handlungen verwendet werden, können sich andere Akteure darauf verlassen, dass der Akteur gemäß diesen Prinzipien handelt. Auf diese Weise werden Handlungen Dritter vorhersehbar, so dass das eigene Handeln daran ausgerichtet werden kann. 103 Zusammenfassen lässt sich also, dass der reale Mensch Prinzipien – ich werde sie im Folgenden Prima-facie101 102 103
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Vgl. Hare 1992, 91. Vgl. Shaw 1999, 144. Vgl. Shaw 1999, 146, siehe auch Hooker 2000, 142–143.
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Prinzipien nennen – benötigt, die als feste Intuitionen und Handlungsdispositionen zu verankern sind, um eine größtmögliche Annäherung an das optimale Aggregationsergebnis zu gewährleisten. 104 Durch die Verankerung entsprechender Prima-facie-Prinzipien lässt sich zugleich die größte Schwäche eines Ein-Ebenen-Konsequentialismus, der nur aus dem Grundprinzip bestehen würde, beseitigen, nämlich die praktische Anwendbarkeit. Die grundlegende Aufgabe des intuitiven Denkens ist es demnach, moralische Handlungen in Situationen anzuleiten, in denen der Akteur nicht in der Lage ist, alle wesentlichen Aspekte der Situation zu erfassen, oder Gefahr läuft, Situationsmerkmale zu seinen Gunsten zurechtzufrisieren. 105 Anders ausgedrückt besteht die Aufgabe der intuitiven Ebene darin, unter ungünstigen Bedingungen die größtmögliche Annäherung an das optimale Aggregationsergebnis zu gewährleisten. Um dies zu leisten, müssen im intuitiven Denken, das heißt beim einzelnen Akteur, Prinzipien verankert werden, die verschiedene Eigenschaften aufweisen: Zum einen müssen sie leicht erlernbar bzw. internalisierbar sein, das heißt in einem gewissen Sinn einfach sein, was sowohl die Anzahl als auch die Komplexität der Prinzipien begrenzt, und zum anderen müssen sie unspezifisch genug sein, um für den Alltag relevant zu sein. 106 Durch die Einfachheit und Unspezifizität dieser Prinzipien ist es allerdings möglich, dass sie in Konflikt zueinander geraten; einen solchen gilt es aufzulösen. 107 Prinzipien der intuitiven Ebene sind daher nicht als unumstößlich festgeschriebene Prinzipien, sondern als Prima-facie-Prinzipien zu verstehen. 108
104 Für eine Kritik daran siehe insbesondere die Kritik an Hares Zwei-Ebenen-Theorie und seine Gegenkritik in Fotion und Seanor 1988, Fehige und Meggle 1995a sowie Fehige und Meggle 1995b. 105 Vgl. Hare 1992, 84–85. 106 Vgl. Hare 1992, 81–82. Inwieweit die Prinzipien internalisierbar sind, hängt von den individuellen Fähigkeiten der einzelnen Akteure ab. Am deutlichsten wird dies bei der moralischen Entwicklung vom Kleinkind zum Erwachsenen. Vgl. hierzu beispielsweise Kohlberg 2014. Siehe auch die Diskussion im Abschnitt Ein (vorläufiges) Set von Prima-facie-Prinzipien zu unterschiedlichen Sets von Prima-facie-Prinzipien. 107 Vgl. Hare 1992, 86 und 98–99. 108 Vgl. Hare 1992, 85. Da die kritische Ebene von Hare in dieser Arbeit durch die erste Ebene mit dem Grundprinzip ersetzt wird, verzichte ich auf eine gesonderte Darstellung der kritischen Ebene.
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Ein (vorläufiges) Set von Prima-facie-Prinzipien Die entscheidende Frage ist dann, welche Prima-facie-Prinzipien zu verankern sind. An dieser Stelle kann es nicht das Ziel sein, ein vollständiges Set an Prima-facie-Prinzipien zu liefern. Doch für die spätere Diskussion, inwieweit sich besondere Pflichten in dieser Form des Konsequentialismus verankern lassen, ist es erforderlich, dass zumindest einige Prima-facie-Prinzipien bzw. daraus ableitbare Primafacie-Pflichten angegeben werden. Ohne es im Detail zu begründen, wird im Folgenden davon ausgegangen, dass die Internalisierung der folgenden Prinzipien zu einer Annäherung an das optimale Aggregationsergebnis führen würde und diese Prinzipien daher – wenn auch vielleicht in abgewandelter Form – als Prima-facie-Prinzipien auf der intuitiven Ebene zu verankern sind: – – – – – – – –
Töte nicht! Füge kein vermeidbares Leiden zu! 109 Lüge nicht! Betrüge nicht! Stiehl nicht! Sei hilfsbereit! Hilf Menschen in Not! Verhindere Desaster! 110
Wichtig zu beachten ist dabei Folgendes: Diese Prinzipien und die daraus resultierenden Pflichten sind nicht deshalb zu verankern, weil sie ohnehin zu den Prinzipien und Pflichten gehören, die die meisten Menschen für moralisch angemessen halten, also dem Common Sense entsprechen, sondern weil davon auszugehen ist, dass die Befolgung dieser Prinzipien in der Regel zu Handlungen führt, die das Wohlergehen aller Beteiligten maximieren. 111 Hierunter verstehe ich sowohl physisches Leiden als auch psychisches Leiden. Vgl. auch die Prinzipien bzw. Regeln bei Gert 1983, 176 und Hooker 2000, 98. Ggf. ist es sinnvoll, einige dieser Prinzipien weiter aufzugliedern, um den Interpretationsspielraum und die Interpretationsnotwendigkeit zu verringern. Beispielsweise ließe sich das Prinzip »Füge kein vermeidbares Leid zu!« aufgliedern in die Prinzipien »Entführe niemanden!«, »Greife niemanden körperlich an!«, »Beleidige niemanden!« »Äußere nichts, von dem du ausgehst, dass ein anderer davon gekränkt wird!« usw. Da mein Interesse in dieser Arbeit nicht darin besteht, einen vollständigen Prima-facie-Prinzipien-Katalog zu erstellen, werde ich dieser Frage nicht weiter nachgehen. 111 Siehe auch Schroth 2016, 19–20 bezüglich des Problems der Bestimmbarkeit, wel109 110
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Eine Frage, die zu klären bleibt, ist, ob es unterschiedliche Sets von Prima-facie-Prinzipien für unterschiedliche Gruppen geben sollte oder ob alle Gruppen demselben Set unterworfen sind. Nach Hooker spricht einiges dafür, dass es nur ein Set von Prima-facie-Prinzipien geben sollte: First of all, there are advantages in having just one code for internalization by everyone. These advantages include convenience. Secondly, the idea of relativizing codes to groups is on the road to relativizing them to subgroups, and at the end of that road is relativizing them to individuals. 112
Insbesondere der zweite Aspekt ist hinsichtlich des Koordinierungsproblems relevant. Offensichtlich droht dieses erneut, wenn es derart viele Sets von Prima-facie-Prinzipien gibt, dass der individuelle Akteur in der konkreten Situation nicht mehr überblicken kann, gemäß welchem Set sein Gegenüber handelt. Allerdings droht dieses Koordinierungsproblem zunächst einmal nur. Und offensichtlich ist die Gefahr umso größer, je mehr Sets es gibt und je weniger bekannt ist, wer nach welchem Set handelt. Solange es eine begrenzte Anzahl an Sets gibt, deren Inhalte klar bekannt sind, die in einem hohen Maße mit den anderen Sets übereinstimmen und solange zudem bekannt ist, wer gemäß welchem Set handeln wird, können angepasste Sets zu einer besseren Annäherung an das optimale Aggregationsergebnis führen. Zwei Beispiele – Soldaten und Kinder – seien hier kurz angesprochen, bei denen ein alternatives Set voraussichtlich zu einem besseren Aggregationsergebnis führen wird. Häufig sind Kinder schlechter dazu in der Lage, bestimmte Prinzipien angemessen anzuwenden, obwohl auch von ihnen ein bestimmtes moralisches Handeln erwartet wird. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn diese Prinzipien hinsichtlich gewisser Aspekte vage sind und erst durch eine gewisse Lebenserfahrung an Inhalt und Struktur gewinnen. Dies ist beispielsweise beim Prinzip »Verhindere Desaster!« der Fall. Bis zu einem gewissen Alter werden Kinder mit dem Begriff des Desasters nichts anfangen können, und selbst dann, wenn sie verstanden haben, was darunter zu verstehen ist, wird sich ein »kindliches Desaster« aller Voraussicht nach deutlich von einem »erwachsenen Desaster« unterscheiden. Wenn aber zu er-
che Prinzipien tatsächlich zu einer größtmöglichen Annäherung an das optimale Aggregationsergebnis führen. 112 Hooker 2000, 87, Hervorhebung im Original. Konsequentialismus und besondere Pflichten
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warten ist, dass von einem Kind das Desasterverhinderungsprinzip häufiger auf Situationen angewandt wird, in der kein Desaster vorliegt, und dieses Kind sich entsprechend an einem falschen Prinzip orientiert, dann wird es langfristig besser sein, wenn im kindlichen Set der Prima-facie-Prinzipien dieses Prinzip noch nicht verankert ist. Demgegenüber ist es sinnvoll, ein anderes Prinzip zu verankern, das ggf. nur im kindlichen Set enthalten sein sollte, zum Beispiel das Prinzip »Gehorche deinen Eltern!«. Demgegenüber wird dieses Prinzip bei einem erwachsenen Menschen mit einem normalen Reflexionsvermögen voraussichtlich nicht zu einer Annäherung an das optimale Aggregationsergebnis führen. 113 Auch für bestimmte Berufsgruppen, wie Soldaten, können alternative Sets an Prima-facie-Prinzipien zu einer besseren Annäherung an das optimale Aggregationsergebnis führen. So haben offensichtlich die Prinzipien »Töte nicht!« und »Füge kein vermeidbares Leiden zu!« im militärischen Kontext einen anderen Stellenwert und sind zumindest stark zu modifizieren. Demgegenüber kann das Prinzip »Niemand wird zurückgelassen!« in einer militärischen Vereinigung äußerst nützlich sein, während es als allgemein verankertes Prinzip nutzlos ist und daher aufgrund der zusätzlichen Internalisierungskosten nicht zu verankern ist. Im Kontext einer militärischen Einheit mag aber gerade das Bewusstsein über die Gültigkeit eines derartigen Prinzips zu einem Gemeinschaftsgefühl bzw. einer Motivation führen, die ohne dieses Prinzip nicht erreicht werden könnte. Das daraus resultierende Gemeinschaftsgefühl bzw. das Vertrauen in die Unterstützung dieser Gemeinschaft wird wiederum äußerst nützlich sein. Sowohl Kinder als auch Soldaten sind als Gruppenmitglieder, bei denen ein sich unterscheidendes Set vorliegt, meist klar zu erkennen. Und in der Tat erwarten wir von Soldaten und Kindern häufig andere (moralische) Handlungen als von jemandem, der nicht zu diesen Gruppen gehört. Darüber hinaus unterscheidet sich das Set jeweils nur hinsichtlich bestimmter Prinzipien. In der Summe stellt es den gewöhnlichen Akteur nicht vor allzu große Schwierigkeiten, wenn für diese Gruppen ein angepasstes Set von Prima-facie-Prinzipien gültig ist. In der Summe ist daher davon auszugehen, dass eine begrenzte Anzahl unterschiedlicher Sets von Prima-facie-Prinzipien zu einer besseren Annäherung an das optimale Aggregationsergebnis führt. Im Folgenden wird es allerdings nur um das allgemeine Set an 113
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Vgl. hierzu auch Bykvist 2010, 155.
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Prima-facie-Prinzipien gehen, welches immer dann gültig ist, wenn keine Zugehörigkeit zu einer entsprechenden Gruppe vorliegt bzw. die entsprechende Rolle nicht ausgeführt wird.
Konflikt von Prima-facie-Prinzipien: Gewichtungsregeln Unabhängig davon, wie viele verschiedene Sets von Prima-facie-Prinzipien angemessen sind oder welcher Akteur gemäß welchem Set handelt, können Prima-facie-Prinzipien bzw. die Handlungen, die aus ihnen folgen, miteinander in Konflikt geraten. Eine zentrale Frage ist daher, wie ein derartiger Konflikt aufgelöst werden kann. Ein naheliegender Vorschlag innerhalb einer konsequentialistischen Theorie mit dem genannten Grundprinzip liegt darin, dass der moralische Akteur sein Handeln an einer Gewichtungsregel wie der folgenden auszurichten hat 114: –
Räume jener Handlung ein größeres Gewicht ein, von der zu erwarten ist, dass sie zur größtmöglichen Annäherung an das optimale Aggregationsergebnis führt.
Eine derartige Gewichtungsregel stößt jedoch auf mehrere Schwierigkeiten. Zunächst einmal bricht damit das Koordinierungsproblem erneut auf. Wenn beispielsweise jeder davon ausgehen müsste, dass er bestohlen wird, sobald ein anderer Akteur davon ausgeht, dass das Stehlen im Konflikt mit einem weiteren Prima-facie-Prinzip 115, wie zum Beispiel »Sei hilfsbereit!«, voraussichtlich zu einem besseren Ergebnis führt, dann ist das Prinzip »Stiehl nicht!« im Sinne der Handlungskoordination wertlos, weil niemand davon ausgehen kann, dass sich die anderen daran halten werden, obwohl diese ggf. mit bestem
114 Ein anderer, aber nicht zwangsläufig entgegengesetzter Vorschlag findet sich bei Hare 1992, 98–100. 115 Es kann auch eine alternative Handlung aus dem gleichen Prinzip folgen; dann handelt es sich nicht um einen Interprinzipienkonflikt, sondern um einen Intraprinzipienkonflikt. Dies ist beispielsweise im Kanu-Szenario von Jeske und Fumerton der Fall, bei dem es darum geht, entweder das eigene Kind oder die beiden fremden Kinder zu retten. Die Rettungspflicht basiert jeweils auf dem Prinzip »Hilf Menschen in Not!«. Ich werde die Prinzipienkonflikte hauptsächlich im Rahmen des Interprinzipienkonfliktes diskutieren, gehe aber davon aus, dass sich die Ergebnisse auf den Intraprinzipienkonflikt übertragen lassen.
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Wissen und bester Motivation moralisch handeln. Gleiches gilt für die meisten anderen Prima-facie-Prinzipien. Darüber hinaus birgt eine entsprechende Gewichtungsregel eine zweite Gefahr, die bereits als eine Grundlage der intuitiven Ebene angesprochen wurde. Menschen neigen dazu, Situationsdetails für sich zurechtzubiegen. Sie erliegen häufig dem Schein, dass es insgesamt wohlergehensmaximierend ist, wenn sie zu ihren eigenen Gunsten oder zugunsten derjenigen, die ihnen wichtig sind, handeln. Aus diesem Grund ist davon auszugehen, dass eine entsprechende Gewichtungsregel dazu führt, dass die dringlicheren Prima-facie-Prinzipien häufig deshalb keine Anwendung finden, weil Akteure fälschlicherweise davon ausgehen, dass eine Handlung gemäß einem anderen Prinzip, welches eine Handlung zu ihren Gunsten ermöglicht, zu einem besseren Aggregationsergebnis führt. Insgesamt ist daher anzunehmen, dass die diskutierte Gewichtungsregel nicht zu einer größtmöglichen Annäherung an das optimale Aggregationsergebnis führt, sondern das Ergebnis eher verschlechtert. Dass aber dennoch eine Gewichtungsregel vonnöten ist, die auf das zu erwartende Aggregationsergebnis fokussiert, lässt sich am folgenden Szenario verdeutlichen: (K5b) Ein Vater will seinem Kind helfen, sich auf einen Wettkampf vorzubereiten, indem er mit ihm eine Kanufahrt auf dem örtlichen Fluss macht. Kurz bevor er mit seinem Kind aufbricht, besucht ihn ein guter, aber weit entfernt lebender Freund. Nachdem der Vater seinem Freund von der versprochenen Kanufahrt berichtet hat, will sich der Freund alleine auf den Weg zur hiesigen Universität machen. Doch beim Verlassen des Hauses stolpert er und zieht sich beim Sturz eine schwere Kopfverletzung zu. Die schnellste Hilfe wird er erhalten, wenn der Vater ihn direkt ins Krankenhaus bringt, aber dann wird es für die Kanufahrt zu spät sein.
Innerhalb eines Konsequentialismus mit dem dargestellten Grundprinzip ist es offensichtlich die einzig angemessene Lösung, den Prinzipienkonflikt zwischen »Sei hilfsbereit!« und »Hilf Menschen in Not!« dahingehend aufzulösen, dass derjenigen Handlung ein größeres Gewicht beigemessen wird, die zu einem besseren Aggregationsergebnis führt. Zwischen der Nichtberücksichtigung und der vollständigen Berücksichtigung der Konsequenzen wird es die plausibelste Strategie sein, einen Mittelweg einzuschlagen, auch wenn dieser mit einer ge156
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wissen, nicht aufzulösenden Vagheit einhergeht. Entsprechend gehe ich davon aus, dass eine Gewichtungsregel zu verankern ist, die demjenigen Prima-facie-Prinzip einen Vorrang einräumt, von der zu erwarten ist, dass die daraus resultierende Handlung in dieser Situation zu einer deutlich besseren Wohlergehensaggregation führt. Ein deutlicher Unterschied liegt beispielsweise vor, wenn die eine Handlung nur zu einem kurzzeitigen Wohlergehensverlust führt, wie einer nicht erhaltenen Hilfe, aber die andere Handlung zu einem langfristigen Wohlergehensverlust, wie einer ernsthaften körperlichen oder seelischen Verletzung. In diesem Sinne ist die folgende Gewichtungsregel zu verankern: –
Räume jener Handlung ein größeres Gewicht ein, von der zu erwarten ist, dass sie zu einem deutlich besseren Aggregationsergebnis führt.
Neben dieser Gewichtungsregel ist es sinnvoll, weitere Gewichtungsregeln zu verankern: In einigen Situationen wird der moralische Akteur beispielsweise vor einem Prinzipien- bzw. Pflichtenkonflikt stehen, bei dem er davon ausgehen kann, dass die Unterlassung der einen Handlung durch einen zweiten Akteur kompensiert wird, während er nicht davon ausgehen kann, dass die alternative Handlung ebenso von einem anderen Akteur kompensiert wird. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn in K5b eine weitere Person anwesend ist, die den Freund stattdessen ins Krankenhaus fahren kann, aber nicht dazu in der Lage ist, die Kanufahrt mit dem Kind zu unternehmen. In einer derartigen Situation wäre es unter sonst gleichen Bedingungen ineffizient, wenn der Vater den Freund ins Krankenhaus fährt. Entsprechend ist eine zweite Gewichtungsregel zu verankern: –
Räume jener Handlung ein geringeres Gewicht ein, von der auszugehen ist, dass sie von einem anderen Akteur kompensiert wird.
Mit Ridge lässt sich eine dritte Gewichtungsregel begründen, mit der der negative Effekt von unfairen Mehrbelastungen verhindert werden soll: Eine Reihe von Pflichten, die sich aus den Prima-facie-Prinzipien ergeben, fällt dem individuellen Akteur nur zu bzw. in einem erhöhten Ausmaß zu, weil andere Akteure ihrer Pflichten nicht nachkommen bzw. nicht ihren fairen Anteil beitragen. Daraus lässt sich die Frage ableiten, wie in derartigen Situationen zu verfahren ist, also ob der individuelle Akteur über seinen fairen Beitrag, den er bereits Konsequentialismus und besondere Pflichten
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geleistet hat, hinauszugehen hat. Mit Verweis auf Scanlon äußert Ridge die berechtigten Bedenken, dass ein Set von Regeln und Prinzipien, mit dem implizit oder explizit verlangt wird, dass die moralisch willigen Akteure jeweils den »fehlenden Betrag« auszugleichen haben, kontraproduktiv ist. Denn dies würde zum einen die Anzahl der Nicht-Unterstützer voraussichtlich vergrößern und zum anderen viele nützliche Kooperationen verhindern, weil der individuelle Akteur davon ausgehen muss, dass er im Zweifelsfall deutlich größere Lasten zu tragen hätte, als die Kooperation eigentlich von ihm verlangt. 116 Demgegenüber kann eingewendet werden, dass ein solches Set nicht notwendigerweise kontraproduktiv ist, weil davon auszugehen ist, dass aufgrund von moralischem Lob und Tadel sowie der Gefahr des Verlustes der eigenen Vertrauenswürdigkeit die Zahl der NichtBefolger begrenzt wird und außerdem durch die Übernahme der Pflichten auch positive Effekte generiert werden. Hinzu kommt, dass die aus Fairnessgründen resultierende Nichtübernahme von dringenden Pflichten kontraintuitiv ist: Niemand würde die Rechtfertigung eines fähigen, aber tatenlosen Zuschauers gelten lassen, der zugesehen hat, wie ein Kind ertrinkt, wenn diese Rechtfertigung in der Feststellung besteht, dass es die Aufgabe der Eltern gewesen wäre, das Kind zu retten. 117 Ebenso würde niemand die Rechtfertigung von jemandem gelten lassen, der ohne größere Anstrengungen ein zweites Kind hätte retten können, wenn diese Rechtfertigung darin besteht, dass er bereits ein Kind gerettet hat und damit seinen fairen Anteil erfüllt hat. Aus Fairnessgründen allein lässt sich demnach die Nichtübertragung der Pflichten nicht begründen. Doch das ist nicht die Situation in einem Pflichten- bzw. Prinzipienkonflikt. In diesem geht es nicht darum, ob überhaupt eine Pflicht vorliegt, die zu erfüllen ist, sondern darum, welche Pflicht zu erfüllen ist bzw. welcher Handlung ein stärkeres Gewicht zukommt. Eine entsprechende Gewichtungsregel übernimmt lediglich die Funktion eines Tie-Breakers, dessen nützlicher Nebeneffekt eine erhöhte Motivation der anderen Akteure ist, ihre eigene Pflicht zu erfüllen, da sie im geringeren Maße davon ausgehen können, dass ein anderer Akteur diese Pflichterfüllung übernimmt. Dementsprechend ist eine dritte Gewichtungsregel zu verankern: 116 117
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Vgl. Ridge 2010, 215. Vgl. Goodin 1985, 134.
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Räume jener Handlung ein geringeres Gewicht ein, deren ursprüngliche Pflicht, auf die sie sich zurückführen lässt, einem anderen Akteur oblag.
Die Liste der Gewichtungsregeln beansprucht an dieser Stelle, ebenso wie das bereits dargestellte Set von Prima-facie-Prinzipien, keine Vollständigkeit. 118 Durch die Verankerung mehrerer Gewichtungsregeln ergeben sich allerdings zwei Schwierigkeiten, auf die im Folgenden eingegangen werden muss. Zunächst einmal ist zu fragen, um wie viel größer oder geringer jeweils die Gewichtung einer Handlung auszufallen hat. Auf diese Frage lässt sich aber offensichtlich keine vollständige Antwort geben, denn die Gewichtung muss situationsspezifisch erfolgen. Doch dann lässt sich einwenden, dass die bestehende Vagheit unbefriedigend ist und die Theorie in einem zentralen Aspekt unplausibel wird. Mit Hooker lässt sich dem entgegenhalten, dass eine genauere Fassung dieser Gewichtungsregeln nicht dazu beiträgt, die Theorie insgesamt plausibler zu machen. 119 Wie groß sollte beispielsweise der Faktor sein, der bei der ersten Gewichtungsregel ausreicht, um eine Handlung als »deutlich« besser auszuweisen? Wie gezeigt, kann er nicht einfach mit größer als 1 festgelegt werden. Doch wo liegt er dann? Bei 1,25? Das scheint nicht »deutlich« größer zu sein; jedoch liefe man noch immer in die Gefahr, dass das Koordinationsproblem erneut aufbricht. Bei größer als 2? Das kann durchaus eine mögliche Entsprechung von »deutlich« sein. Warum dann nicht 1,9? Andere mögen den Faktor vielleicht erst bei 3 sehen, um das Kriterium zu erfüllen. Problematisch ist bei einem festgesetzten Faktor auch, dass der Akteur in den meisten Situationen nicht genau bestimmen kann, wie groß der Unterschied in der konkreten Situation genau ist, also ob der Faktor erfüllt ist oder nicht. Aber: Jeder Akteur wird bei einem gewissen Faktor das Kriterium erfüllt sehen. Durch Lob und Tadel der moralischen Gemeinschaft werden weniger plausible Faktoren mit der Zeit voraussichtlich nur noch selten vertreten. Es wird sich ein gewisses Spektrum ergeben, bei dem sich sagen lässt, dass das Kriterium erfüllt ist; vielleicht liegt das Spektrum zwischen 2 und 5, vielleicht auch in einem anderen Bereich. Durch ein derartig 118 Eine weitere Gewichtungsregel wird im Anschluss an die Diskussion der besonderen Pflichten begründet. Siehe hierzu insbesondere das Unterkapitel Besondere Pflichten: Familie. 119 Vgl. Hooker 2000, 135–136.
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flexibles Spektrum ist die Anwendbarkeit der Gewichtungsregeln, durch die begrenzten Informationen, die der moralische Akteur in derartigen Situationen hat, voraussichtlich besser gegeben, als wenn ein exakter Wert festgelegt wird, von dem der Akteur in der konkreten Situation nicht sagen kann, ob er erfüllt ist oder nicht. In diesem Sinne macht eine geringere Vagheit die Theorie nicht unbedingt plausibler, sondern ggf. sogar weniger plausibel. 120 Darüber hinaus lässt sich einwenden, dass eine allgemeine Verrechnung der Gewichtung problematisch ist, wenn die erste Gewichtungsregel – Räume jener Handlung ein größeres Gewicht ein, von der zu erwarten ist, dass sie zu einem deutlich besseren Aggregationsergebnis führt! – greift. In derartigen Fällen, so könnte eingewendet werden, sollte die erste Gewichtungsregel im Sinne des Grundprinzips die anderen Gewichtungsregeln dominieren. Doch auch dies ist wenig überzeugend, denn wenn gleichzeitig die zweite Gewichtungsregel greift – Räume jener Handlung ein geringeres Gewicht ein, von der auszugehen ist, dass sie von einem anderen Akteur kompensiert wird! –, würde eine Dominanz der ersten Gewichtungsregel offensichtlich zu genau jener Ineffizienz führen, die die zweite Gewichtungsregel zu verhindern sucht. Daher ist es vermutlich die sinnvollste Lösung, dass der Akteur in der konkreten Situation eine Handlung gemäß einem Prima-faciePrinzip auszuführen hat, von der er ausgeht, dass es keine alternative Handlung gibt, die sich ebenso auf ein Prima-facie-Prinzip zurückführen lässt und gemäß den Gewichtungsregeln stärker zu gewichten ist. Dem moralischen Akteur steht also ein gewisser Spielraum zur Verfügung und die Situation kann von unterschiedlichen Akteuren, in einem begrenzten Rahmen, unterschiedlich bewertet werden. Dies ist sicherlich keine völlig zufriedenstellende Lösung, in Anbetracht 120 Man beachte beispielsweise den Unterschied zum Social Proximity Utilitarianism, bei dem kritisiert wurde, dass bekannt sein muss, wie groß der entsprechende Faktor ist. Der entscheidende Unterschied besteht darin, dass sich die Vagheit bei den Gewichtungsregeln selbst begründen lässt, denn diese Vagheit ist es, die die Anwendbarkeit überhaupt erst möglich macht. Hinzu kommt ein weiterer wichtiger Aspekt, und zwar, dass in den Fällen, in denen nicht bekannt ist, ob eine entsprechende Handlung im oder über dem fraglichen Bereich liegt, ein Ergebnis hinsichtlich der Frage erzielt wird, welche Handlung moralisch richtig ist. Denn selbst wenn keine einzige Gewichtungsregel zu einer unterschiedlichen Gewichtung führt (beispielsweise weil sich keine Gewichtungsregel anwenden lässt oder sich die Gewichtung in der Waage hält), ist bestimmbar, welche Handlung moralisch richtig und welche moralisch falsch ist; siehe hierzu die Formulierung des Tertiärprinzips.
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der zur Verfügung stehenden Alternativen jedoch die beste, die zur Verfügung steht. Es darf nicht vergessen werden, dass eine möglichst genaue Gewichtung und akteur-neutrale Auflösung des Konfliktes ein erhebliches Maß an Zeit und kritisches Denken erfordert. In den entsprechenden Situationen – also Situationen des ersten Typs – hat der individuelle Akteur diese Zeit und die kognitiven Kapazitäten allerdings nicht. In einer Situation, in der man beispielsweise sofort handeln muss, können nicht alle Situationsmerkmale gründlich abgewogen werden. 121 Die unangenehme Wahrheit ist diese: Für den Menschen, wie er nun einmal beschaffen ist, wird es in komplexen Situationen nicht möglich sein, immer die beste Option auszuwählen. Die verankerten Prima-facie-Prinzipien bieten eine erste Sicherheitsmaßnahme, um sich dem optimalen Aggregationsergebnis anzunähern. Die Gewichtungsregeln bieten eine zweite Sicherheit und der Prozess von Lob und Tadel eine dritte Sicherheit, um die größten Ineffizienzen, die durch die menschliche Natur bedingt sind, auszuschalten.
Das Tertiärprinzip Aus der Diskussion des ersten Situationstyps lässt sich neben dem Grundprinzip ein weiteres Prinzip begründen. Wie in Kürze dargestellt wird, lässt sich auch aus dem zweiten Situationstyp ein eigenes Prinzip begründen. Dieses hat zwar einen niederen Rang als das Grundprinzip, aber einen höheren Rang als jenes Prinzip, das sich aus dem ersten Situationstyp ergibt. Daher werde ich das Prinzip, das aus der eben geführten Diskussion resultiert, Tertiärprinzip nennen und das Prinzip, das sich aus dem zweiten Situationstyp ergibt, Sekundärprinzip. Aus der bisherigen Diskussion würde sich das folgende Tertiärprinzip ergeben: (vorläufiges) Tertiärprinzip: Moralisch richtig ist eine Handlung dann, wenn sie sich aus einem Prima-facie-Prinzip ableiten lässt und es für den Akteur keine erkennbare alternative Handlung gibt, die sich ebenso aus einem Prima-facie-Prinzip ableiten lässt und der in
121 Vgl. Hare 1992, 202, der beanstandet, dass häufig so getan wird, als ob der moralische Akteur in einer Situation sein kann, in der er sofort handeln muss, aber dennoch fähig sein soll, vollständig kritisch zu denken.
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dieser Situation ein höheres Gewicht beizumessen ist. Andernfalls ist die Handlung moralisch falsch.
Aus der Struktur dieses Tertiärprinzips ergibt sich jedoch ein Problem, das kurz besprochen werden muss und das zu einer Ergänzung des Tertiärprinzips führt. Angenommen, ein Akteur versucht zu ermitteln, welche Handlung gemäß dem (vorläufigen) Tertiärprinzip moralisch richtig ist. Dann kann es sein, dass die fragliche Handlung aus keinem Primafacie-Prinzip resultiert, obwohl sie offenkundig einen Einfluss auf das Wohlergehen des Akteurs hat. (K5c) Ein körperlich gesunder Akteur überlegt, ob er am Frühstückstisch zum Schokoladenaufstrich oder zum Quarkaufstrich greifen soll. Er ist sich sicher, dass er den Schokoladenaufstrich deutlich mehr genießen würde.
In einer derartigen Situation ist nicht bestimmbar, welche Handlung gemäß dem Tertiärprinzip moralisch richtig ist, weil sich die entsprechende Handlung nicht auf ein Prima-facie-Prinzip zurückführen lässt. Offenkundig ist es auch wenig sinnvoll, für solche Situationen ein extra Prima-facie-Prinzip zu verankern, wie zum Beispiel »Iss immer, was dir besser schmeckt!« oder »Iss immer nur, wovon du ausgehst, dass es gesünder ist!«. Weder die konsequente Befolgung des einen noch des anderen Prinzips wird zu einer größtmöglichen Annäherung an das optimale Aggregationsergebnis führen. Hinzu kommt, dass nicht für jede Situation vorab ein entsprechendes Prima-facie-Prinzip verankert werden kann. Dies kann den Schluss nahelegen, dass es sich bei Situationen, in denen das Tertiärprinzip das zuständige Prinzip ist, nicht um Situationen handelt, die moralisch relevant sind. Doch in Anbetracht der Tatsache, dass die entsprechenden Handlungen einen Einfluss auf das Wohlergehen aller Beteiligten haben, ist dieser Ausweg wenig plausibel. Im Rahmen des Grundprinzips ließe sich genau sagen, welche Handlung moralisch richtig ist und welche nicht. Daher ist davon auszugehen, dass es im Rahmen des Tertiärprinzips möglich sein muss, die moralische Richtigkeit entsprechender Handlungen zu bewerten. Die plausibelste Strategie ist die folgende Anpassung des Tertiärprinzips: Tertiärprinzip: Moralisch richtig ist eine Handlung entweder, wenn sie sich aus einem Prima-facie-Prinzip ableiten lässt und es für den Akteur keine erkennbare alternative Handlung gibt, die sich ebenso
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aus einem Prima-facie-Prinzip ableiten lässt und der in dieser Situation ein höheres Gewicht beizumessen ist, oder insofern sich die Handlung nicht aus einem Prima-facie-Prinzip ableiten lässt, es für den Akteur keine erkennbare alternative Handlung gibt, die sich stattdessen aus einem Prima-facie-Prinzip ableiten lässt und der erstgenannten Handlung entgegensteht. Andernfalls ist die Handlung moralisch falsch.
Gegen die Zusatzbedingung in diesem Prinzip liegt der folgende Einwand nahe: Bei dieser Erweiterung ist es offenkundig möglich, dass der Akteur eine Handlung wählt, von der er ausgeht, dass sie nicht zu einer Annäherung an das optimale Aggregationsergebnis führt. Aus Sicht des Grundprinzips ist dies aber nicht plausibel. Stattdessen wäre eine Erweiterung notwendig im Sinne von: Insofern sich die Handlung nicht aus einem Prima-facie-Prinzip ableiten lässt, ist jene Handlung moralisch richtig, von der der Akteur ausgehen kann, dass sie das Wohlergehen aller Beteiligten maximiert. Allerdings gibt es gute Gründe, nicht diese, sondern die dargestellte Erweiterung zu verwenden. Zunächst einmal lässt sich feststellen, dass die entsprechende Maximierungserweiterung in jeder Situation greift, in der das Tertiärprinzip zuständig ist und keine anderen Prima-facie-Prinzipien zur Verfügung stehen. Dies trifft nicht nur auf K5c zu, sondern auf nahezu jede Alltagssituation. Jedes einzelne Mal zu ermitteln, welche Handlung vermeintlich das Wohlergehen maximiert, überfordert den menschlichen Akteur. Des Weiteren ist zu erwarten, dass diese Erweiterung in mehrfacher Hinsicht kontraproduktiv ist. Mit Shaw lässt sich sagen: »If you aim directly at happiness, it is likely to elude you. This is sometimes called the paradox of hedonism.« 122 Ein damit verwandtes zusätzliches Problem ist, dass die Maximierungserweiterung voraussichtlich häufig bewirkt, dass eine Handlung ausgeführt wird, die langfristig zu einer schlechteren Annäherung an das optimale Aggregationsergebnis führt. (K5d) Ein Akteur überlegt, ob er den Feierabend ruhig ausklingen lassen kann oder ob er nicht doch die restlichen Stunden des Tages damit verbringt, Arbeiten für einen wohltätigen Zweck auszuführen, die andernfalls nicht ausgeführt werden würden. 122 Shaw 1999, 267, Hervorhebung im Original. Siehe auch Betzler und Schroth 2014, 282–283.
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Voraussichtlich wird in den allermeisten Fällen die Arbeit für den wohltätigen Zweck als jene Handlung eingestuft, von der zu erwarten ist, dass sie das Wohlergehen aller Beteiligten maximiert. 123 Doch damit besteht die Gefahr, dass durch die schleichende Ermüdung die (moralische) Leistungsfähigkeit langfristig gesenkt wird. Es mag dem Akteur zwar bewusst sein, dass er Pausen für Regeneration benötigt, um seine (moralische) Leistungsfähigkeit zu erhalten, doch da nicht klar ist, an welchem Punkt er genau welche Regeneration benötigt, wird dieser Punkt vermutlich häufig überschritten werden. Als historisches Beispiel mag der junge Mill gelten: Nach der Übernahme einiger utilitaristischer Werte von seinem Vater, aber insbesondere nach dem Lesen von Benthams Schriften wurde er im Alter von 15 Jahren zu einem »active writer, debater, and organizer in the cause of utilitarian social reform« 124. Nachdem er aber festgestellt hatte, dass das Umsetzen seiner utilitaristischen Ziele ihn nicht glücklich machte, fiel er in eine mehrjährige Depression, die ihn von einem effektiven Wirken abhielt. Mill ist dabei keine Ausnahme. Wie Bykvist anführt, litt auch Mutter Theresa an Depressionen und viele Wohltätigkeitsarbeiter klagen über die Anstrengungen, kranken und sterbenden Menschen zu helfen. In diesem Sinne lässt sich folgern, dass der permanente Versuch, das Wohlergehen zu maximieren, dazu führt oder zumindest die Gefahr stark erhöht, auszubrennen. 125 Vermutlich stimmt es, wie Heyd kritisiert, dass viele Menschen eher zu viel Regenerationszeit als zu wenig veranschlagen. 126 Doch insbesondere mit Blick auf psychische Probleme wie Burnout dürfte klar sein, dass es eine relevante Zahl an Menschen gibt, die die eigenen Grenzen nicht richtig einschätzen. Darüber hinaus lässt sich mit Bykvist ein weiterer wichtiger Aspekt ergänzen: We tend to miss this obvious fact [that some periods of relaxation will make you a more efficient promoter of total well-being] because we think about 123 Es mag eingewendet werden, dass in Situationen mit Blick auf die absolute Armut immer ein Prima-facie-Prinzip vorliegt, nämlich »Hilf Menschen in Not!«. Wie allerdings im Unterkapitel Besondere Pflichten: Weltarmutsproblem gezeigt wird, lässt sich begründen, dass man die daraus resultierenden Pflichten erfüllen kann, ohne dass das Problem der absoluten Armut beseitigt ist. Daher gehe ich davon aus, dass in K5d nicht das entsprechende Prima-facie-Prinzip greift. 124 Shaw 1999, 266. 125 Vgl. Bykvist 2010, 103. 126 Vgl. Heyd 1982, 82.
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our options as immediate one-shot actions: Should I now save this child from illness? Should I now donate one pound to charity? But our options often include plans of actions that stretch into the future. So, the question is not whether I should now donate this pound or save this child; the question is whether I should include in my plan for the future a certain amount of charity work. 127
Es wäre hilfreich, wenn das Tertiärprinzip klare Kriterien dafür vorgibt, wann sich der Akteur Zeit für sich selbst nehmen soll. Doch genau dies ist im Grunde genommen bereits geschehen, nämlich mit der Verankerung der Prima-facie-Prinzipien. Die Aufgabe der Primafacie-Prinzipien besteht gerade darin, zu einer größtmöglichen Annäherung an das optimale Aggregationsergebnis zu führen. Wenn das Set richtig bestimmt ist, besteht demnach kein Bedarf für die Maximierungserweiterung. Vielmehr ist zu befürchten, dass diese Maximierungserweiterung langfristig eher zu einer schlechteren Annäherung an das optimale Aggregationsergebnis führt. Daher ist die Maximierungserweiterung zu verwerfen. Wenn die dritte Ebene zuständig ist, dann sind all jene Handlungen als moralisch richtig zu bewerten, die keine (stärker zu gewichtenden) Prima-facie-Prinzipien verletzen.
Situationen des zweiten Typs: Sekundärprinzip Damit kann zum zweiten Situationstyp übergegangen werden, den Situationen, in denen der Akteur genügend Zeit hat, um Handlungen gründlich abzuwägen, und in denen davon ausgegangen werden kann, dass er zu einer unparteiischen Abwägung fähig ist. Mit Blick auf diese Situationen sind die bereits dargestellten Prinzipien – das Grundprinzip und das Tertiärprinzip – offensichtlich unpassend. Einerseits ist der moralische Akteur in der realen Welt auch in diesen Situationen nicht dazu in der Lage, jene Handlung zu erkennen, die tatsächlich zur größtmöglichen Annäherung an das optimale Aggregationsergebnis führt, und andererseits wäre es unzureichend, die Handlung lediglich an Prima-facie-Prinzipien auszurichten, wenn gründliches und unparteiisches Abwägen ergeben hat, dass eine Handlung, die nicht auf einem entsprechenden Prima-facie-Prinzip
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Bykvist 2010, 103, Hervorhebung im Original.
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beruht, voraussichtlich zu einem besseren Aggregationsergebnis führt. Woran hat also beispielsweise Dr. Jill aus dem Jackson-Szenario ihre Handlung auszurichten? 128 Einen sinnvollen Vorschlag hat diesbezüglich Feldmann geliefert. Demnach muss Dr. Jill ihre Handlung an einer Entscheidungsprozedur ausrichten, die fünf Angemessenheitskriterien zu erfüllen hat: (1.) Die Entscheidungsprozedur muss bei der Auswahl der Handlung hilfreich sein. (2.) Die Entscheidungsprozedur darf nicht zur Auswahl einer Handlung führen, die verwerflich oder widerlich im Hinblick auf das Grundprinzip ist. (3.) Die Handlung, die aus der Entscheidungsprozedur folgt, muss moralisch sein. (4.) Die Handlung, die aus der Entscheidungsprozedur folgt, muss eine sein, von der der moralische Akteur glaubt, dass er sie ausführen kann. (5.) Die Handlung, die aus der Entscheidungsprozedur folgt, muss vor gewissen Formen des Tadels schützen. 129
Im Folgenden werden diese Kriterien diskutiert, um auf dieser Basis eine eigene Entscheidungsprozedur zu formulieren.
Zum ersten und vierten Angemessenheitskriterium Das erste Angemessenheitskriterium ergibt sich aus der Idee der Entscheidungsprozedur. Wenn der moralische Akteur nicht erkennen kann, welche Handlung moralisch richtig ist, dann ist ihm nicht mit einem Sekundärprinzip geholfen, bei dem er nicht erkennen kann, welche Handlung er nach diesem zu vollziehen hat. Mit Bezug auf Siehe hierzu den Abschnitt Entscheidungstheoretischer Ansatz. Vgl. Feldman 2012, 152–160. Für eine Alternative siehe beispielsweise Smith 2010. Im Grunde genommen gelten diese Kriterien ebenso für das Tertiärprinzip. Da Feldman aus diesen Kriterien allerdings eine Entscheidungsprozedur ableitet – mit deren Hilfe er jene Handlung bestimmt, die auf einer niedrigeren Ebene moralisch richtig ist –, die der Struktur der in dieser Arbeit vertretenen Sekundärprozedur sehr ähnlich ist, diese Sekundärprozedur aber auf das Tertiärprinzip zurückgreift, scheint mir diese Reihenfolge der Darstellung angemessener zu sein. Soweit ich erkennen kann, erfüllt das Tertiärprinzip alle Angemessenheitskriterien von Feldman. 128 129
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das Grundprinzip wäre ein derartiges Sekundärprinzip, das dem Akteur nicht weiterhilft, beispielsweise: Moralisch richtig ist eine Handlung genau dann, wenn sie von einem Akteur, der alle relevanten Informationen besitzt und zum unparteiischen Handeln fähig ist, gewählt werden würde, weil es keine mögliche alternative Handlung gibt, die das tatsächliche Wohlergehen der von einer Handlung gegenwärtig tatsächlich existierenden Betroffenen besser aggregiert. Andernfalls ist die Handlung moralisch falsch.
Worauf es ankommt, ist nach Feldman, dass das Sekundärprinzip für die konkrete Situation wirklich handlungsleitend ist. 130 Hiermit geht einher, dass die Handlung, die aus dem Sekundärprinzip folgt, nicht zwingend diejenige Handlung sein muss, die gemäß dem Grundprinzip die moralisch richtige Handlung ist. Hinsichtlich der handlungsleitenden Funktion arbeitet Feldman mit seinem vierten Kriterium eine weitere Bedingung heraus, die ein entsprechendes Sekundärprinzip erfüllen muss: »if, as of some time, t, an agent, S, has a practical level obligation to perform an act, a, then, as of t, S must think that a is one of his alternatives.« 131 Der Grund für dieses zusätzliche Kriterium, das scheinbar im Kriterium »handlungsanleitend« enthalten ist, ist, dass folgende Situation eintreten kann: Suppose a utilitarian thinks – mistakenly, as it happens – that he has certain alternatives; suppose it seems to him that one of them would be the best one to perform; but suppose that one is in fact one that he cannot perform. 132
Mit Blick auf das Prinzip »Sollen impliziert Können« wird deutlich, worauf Feldman hinauswill: Ohne die zusätzliche Bedingung ließe sich argumentieren, dass ein entsprechendes Sekundärprinzip nicht handlungsleitend ist, weil der Fall eintreten kann, dass der Akteur zwar glaubt verpflichtet zu sein, eine bestimmte Handlung ausführen zu müssen, weil sie moralisch richtig ist, diese Handlung aber von ihm gar nicht ausführbar ist und er entsprechend auch nicht dazu verpflichtet sein kann, sie auszuführen. Aufgrund der menschlichen
130 131 132
Vgl. Feldman 2012, 154–155. Feldman 2012, 159, Hervorhebung im Original. Feldman 2012, 159.
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Schwächen wird der moralische Akteur aber nicht immer dazu fähig sein, richtig zu bestimmen, zu welchen Handlungen er fähig ist. Daher kann das Prinzip »Sollen impliziert Können« hinsichtlich des Ersatzprinzips nicht in einer objektiven Form gelten, sondern nur in einer subjektiven Form, nämlich unter der oben dargestellten Bedingung. 133 Fraglich ist allerdings, was genau darunter zu verstehen ist, dass der Akteur denkt, dass seine Handlung zu seinen Alternativen gehört. Reicht es, dass der Akteur S denkt, dass es rein logisch möglich ist, dass er die Handlung a ausführen kann? Oder muss S denken, dass er das Wissen darüber hat, wie a auszuführen ist? 134 Ein anschauliches Beispiel lässt sich in Anlehnung an Carlson geben: (K5f) S kann durch a – das Öffnen eines Tresors mit einem zehnstelligen Code – das Wohlergehen von P maximieren; S kennt jedoch nicht den Code für a. 135
Rein logisch ist es für S kein Problem, den Tresor zu öffnen: Er hat die physischen Fähigkeiten, seine Finger entsprechend zu bewegen, und die kognitiven Fähigkeiten, um das Tastenfeld zu bedienen. In diesem Sinne kann S denken, dass er a ausführen kann. Das widerspricht jedoch unseren sprachlichen Intuitionen darüber, was es heißt, etwas tun zu können. Etwas tun zu können meint vielmehr ein qualifiziertes Können, dem ein Wissen oder zumindest ein berechtigter Glaube zugrunde liegt. Im Folgenden wird daher davon ausgegangen, dass »S must think that a is one of his alternatives« im qualifizierten Sinn zu verstehen ist. Das heißt natürlich nicht, dass sich S nicht irren kann. Vielleicht hat im Szenario K5f der Besitzer des Tresors S gesagt, dass der zehnstellige Code für Notfälle in einem verschlossenen Brief auf seinem Schreibtisch liegt. Nach langem Suchen stellt S jedoch fest, dass es diesen Brief nicht gibt. Dennoch sollte S, solange er nicht feststellt, dass der Brief nicht existiert, den Brief suchen. 136
Vgl. Feldman 2012, 159. Vgl. zu dieser Frage Howard-Snyder 1997. 135 Vgl. Carlson 1999, der seine Diskussion an einem ähnlichen Tresorbeispiel aufbaut. 136 Vgl. Feldman 2012, 159. 133 134
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Zum zweiten Angemessenheitskriterium Das zweite Angemessenheitskriterium, das Feldman anführt, ist das der Nicht-Verwerflichkeit. Hierunter versteht Feldman, dass der moralische Akteur die Handlung, die aus dem Sekundärprinzip folgt, nicht auf Basis seines Grundprinzips moralisch verwerflich finden darf. 137 Wichtig ist dabei abermals, dass dies nicht bedeuten kann, dass das Sekundärprinzip genau diejenige Handlung ausgibt, welche das Grundprinzip ausgeben würde, da eben nicht bekannt ist, welche Handlung gemäß dem Grundprinzip moralisch richtig ist. 138 Doch wonach sollte sich der Akteur dann vorrangig richten? Mit Blick auf das Grundprinzip ist die intuitiv plausibelste Lösung, dass jene Handlung zu wählen ist, die am wahrscheinlichsten das tatsächliche Wohlergehen aller Beteiligten maximiert. Im Doktor-Jill-Szenario von Jackson würde dies bedeuten, dass Jill entweder Pille B oder C verabreichen müsste, weil sie sicher weiß, dass Pille A nicht das tatsächliche Wohlergehen maximiert. Da sie nicht weiß, welche der beiden Pillen den Tod und welche die vollständige Heilung bringt, müsste sie zwischen den beiden Pillen zufällig wählen. Doch genau aus diesem Grund ist dieser Lösungsvorschlag trotz der Eingangsplausibilität zu verwerfen – jedoch nicht, wie Feldman annimmt, aufgrund des nicht notwendigen Risikos, dem Dr. Jill ihren Patienten aussetzt 139, sondern aufgrund der langfristigen Folgen eines entsprechenden Prinzips. Angenommen, Dr. Jill würde immer nach diesem Prinzip handeln, und angenommen, eine solche Situation träte bei verschiedenen Patienten häufiger auf: Dann würde das Verfahren dazu führen, dass nach 1000 Wiederholungen etwa 500 Patienten gestorben wären, während etwa 500 Patienten vollständig genesen wären. Dieses Ergebnis ist aber offenkundig schlechter, als wenn Dr. Jill im Sinne von Jacksons entscheidungstheoretischem Ansatz den Erwartungsnutzen bestimmen und entsprechend jedes Mal die Pille A verabreichen würde. In diesem Fall wären nach 1000 Wiederholungen alle 1000 Patienten, wenn auch mit leichten Beschwerden, am Leben. Die Verwendung des Erwartungsnutzens führt also (voraussichtlich) zu einem besseren tatsächlichen Ergebnis. Das ist der entscheidende 137 138 139
Vgl. Feldman 2012, 157. Vgl. Feldman 2012, 156–157. Vgl. Feldman 2012, 160–162.
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Punkt, an dem das Nicht-Verwerflichkeitskriterium greift. Aus der Sicht des Grundprinzips ließe sich nämlich argumentieren, dass ein Prinzip, das bei 1000 Anwendungen zu etwa 500 Todesfällen führt, obwohl ein alternatives Prinzip jeden einzelnen Todesfall verhindern würde, verwerflich ist. Das ist die Stelle, an dem der subjektive Konsequentialismus seine Stärke ausspielt. Wenn es dem moralischen Akteur nicht möglich ist, jene Handlung auszuführen, die tatsächlich zum optimalen Aggregationsergebnis führt, dann ist es innerhalb einer konsequentialistischen Theorie geboten, dass der Akteur jene Handlung mit dem größten epistemischen Erwartungsnutzen 140 ausführt. Der einfachste Fall liegt vor, wenn der moralische Akteur für alle Handlungsalternativen den epistemischen Erwartungsnutzen berechnen kann. Allerdings wird er in der realen Welt nicht durchgängig bzw. nicht sinnvollerweise Gebrauch davon machen können. Häufig liegen weder Informationen darüber vor, wie wahrscheinlich das Eintreten eines Falles ist, noch darüber, welche Wohlergehensveränderungen sich aus dem Eintreten ergeben. Demgegenüber hat der Akteur aber manchmal gute Gründe anzunehmen, dass bei einer Handlung ein bestimmtes Ergebnis eintreten wird und bei der Alternativhandlung ein Ergebnis, das mit Bezug auf die erste Handlung besser oder schlechter sein wird. In derartigen Fällen kann der moralische Akteur häufig auch ohne bekannte Wohlergehenswerte bestimmen, welche Handlung einen höheren relationalen Wert hat. 141 In derartigen Fällen wird es im Sinne des Grundprinzips sein, jene Handlung auszuführen, die den höchsten relationalen Wert hat. Sowohl für den epistemischen Erwartungsnutzen als auch für den relationalen Wert braucht es zwar keine vollständigen Daten, wie sie für die Bestimmung der moralisch richtigen Handlung beim
140 Siehe hierzu den ersten Einwand gegen Jacksons entscheidungstheoretischen Ansatz. In diesem Sinne verstehe ich vereinfacht gesagt unter einem epistemischen Erwartungsnutzen den Wert eines Ergebnisses multipliziert mit der Wahrscheinlichkeit des Eintretens, zu denen der Akteur gute Gründe hat. Die entscheidende Frage lautet dann, was genau unter »gute Gründe« zu verstehen ist. In der realen Welt bereitet diese Frage lediglich an den äußeren Rändern Probleme. In philosophischer Hinsicht ist die Frage deutlich komplizierter. Ohne dieser Frage weiter nachzugehen, gehe ich an dieser Stelle davon aus, dass eine sinnvolle Antwort gegeben werden kann. 141 Es kann beispielsweise davon ausgegangen werden, dass ein kräftiger Klaps ins Gesicht eines Kindes, insbesondere ohne ersichtlichen Grund wie ein Fehlverhalten, schlechtere Folgen haben wird, als diesen Klaps zu unterlassen.
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Grundprinzip notwendig sind, aber es werden noch immer komplexe Daten benötigt, die dem moralischen Akteur häufig nicht zur Verfügung stehen. Daher ist es wahrscheinlich, dass diese beiden Verfahren häufig nur dazu führen, aus dem Set von relevanten Alternativen bestimmte Alternativen zu streichen, während andere Alternativen übrigbleiben. Da der Akteur nicht ganuer bestimmen kann, welche Handlung voraussichtlich zu einem besseren Aggregationsergebnis führt, muss er auf ein drittes Auswahlprinzip zurückgreifen. Die sinnvollste Lösung wird sein, dass er aus den übriggebliebenen Alternativen jene Handlung wählt, die auch gemäß dem Tertiärprinzip zu wählen ist. Im Kern unterscheidet sich damit das Sekundärprinzip vom Tertiärprinzip vor allem dadurch, dass eine qualifizierte Vorauswahl der zu berücksichtigenden Alternativen getroffen wird. Deshalb ist diese Ebene des moralischen Denkens auch höherrangig als die zuvor skizzierte Ebene.
Zum dritten und fünften Angemessenheitskriterium Letztlich geht es beim Sekundärprinzip darum, herauszufinden, zu welcher Handlung der Akteur moralisch verpflichtet ist, wenn er nicht weiß, welche Handlung gemäß dem Grundprinzip moralisch richtig ist. Daher reicht der Wechsel zu Prinzipien der Etikette oder zum juridischen Recht nach Feldman nicht aus. Es geht ebenso wie beim Tertiärprinzip noch immer um ein moralisches Sollen, auch wenn es nicht mehr das Sollen des Grundprinzips ist, sondern ein Sollen einer untergeordneten Ebene. Wenn der Akteur nicht weiß, wozu er in der ersten Instanz moralisch verpflichtet ist, dann muss er durch das Sekundärprinzip herausfinden, wozu er in der zweiten Instanz moralisch verpflichtet ist. 142 Da das Sekundärprinzip selbst ein Prinzip mit moralischem Gewicht ist, muss eine Handlung gemäß diesem Prinzip – wenn es das Prinzip ist, das für die entsprechende Situation zuständig ist – auch vor einer gewissen Form des Tadels schützen, nämlich vor dem Tadel, eine Handlung ausgeführt zu haben, die (voraussichtlich) nicht das Wohlergehen aller Beteiligten maximiert.
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Vgl. Feldman 2012, 157.
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Die Sekundärprozedur und das Sekundärprinzip In Anlehnung an Feldman lässt sich aus der Diskussion der Angemessenheitskriterien die Sekundärprozedur des Sekundärprinzips ableiten: 1. Schritt: Erwäge (in handlungsleitenden Begriffen) die Handlungen, die du für deine Alternativen hältst. 2. Schritt: Ermittle dann, soweit es dir möglich ist, welchen epistemischen Erwartungsnutzen bzw. relationalen Wert die Handlungsalternativen haben. Wenn du von allen Handlungsalternativen den epistemischen Erwartungsnutzen bzw. den relationalen Wert kennst und eine Handlungsalternative alleine den höchsten epistemischen Erwartungsnutzen oder relationalen Wert hat, dann wähle diese Handlung aus; andernfalls mache mit dem 3. Schritt weiter. 3. Schritt: Aus der Gruppe derjenigen Handlungsalternativen, die den höchsten epistemischen Erwartungsnutzen bzw. relationalen Wert haben, und denjenigen Handlungsalternativen, deren epistemischen Erwartungsnutzen oder relationalen Wert du nicht kennst, sind all jene Handlungen auszuwählen, die gemäß dem Tertiärprinzip moralisch richtig sind. 143
Entsprechend lautet das Sekundärprinzip: Sekundärprinzip: Moralisch richtig ist eine Handlung dann, wenn sie gemäß der Sekundärprozedur auszuwählen ist. Andernfalls ist die Handlung moralisch falsch.
Ergebnis des 5. Kapitels In diesem Kapitel konnte gezeigt werden, dass sich mit Hilfe des Sekundär- und Tertiärprinzips bestimmen lässt, welche Handlung für den moralischen Akteur richtig ist, wenn er nicht bestimmen kann, welche Handlung gemäß seinem Grundprinzip moralisch richtig ist. Jedes Prinzip entspricht dem Denken auf einer unterschiedlichen moralischen Ebene und damit einem Kernprinzip des Multi-Ebenen143 Vgl. Feldman 2012, 166–167. Wertvolle Hinweise zu Inhalt und Formulierung der konsequentialistischen Entscheidungsprozedur verdanke ich Christoph Fehige, Jens Schnitker und Matthias Katzer.
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Ergebnis des 5. Kapitels
Konsequentialismus. Um die verschiedenen Grade der moralischen Richtigkeit unterscheiden zu können, werden im Folgenden die Begriffe der moralischen Richtigkeit mit einem tiefergestellten Index versehen. 144 In diesem Sinne lassen sich die drei Kernebenen des Multi-Ebenen-Konsequentialismus wie folgt zusammenfassen: Erste Ebene (Grundprinzip): Moralisch richtig1 ist eine Handlung dann, wenn es für den Akteur keine mögliche alternative Handlung gibt, die das tatsächliche Wohlergehen – verstanden im Sinne des ethischen Hedonismus – der von einer Handlung betroffenen wohlergehensfähigen Lebewesen, die gegenwärtig tatsächlich existieren, besser aggregiert. Andernfalls ist die Handlung moralisch falsch1. Zweite Ebene (Sekundärprinzip): Moralisch richtig2 ist eine Handlung dann, wenn sie gemäß der Sekundärprozedur auszuwählen ist. Andernfalls ist die Handlung moralisch falsch2. Dritte Ebene (Tertiärprinzip): Moralisch richtig3 ist eine Handlung entweder, wenn sie sich aus einem Prima-facie-Prinzip ableiten lässt und es für den Akteur keine erkennbare alternative Handlung gibt, die sich ebenso aus einem Prima-facie-Prinzip ableiten lässt und der in dieser Situation ein höheres Gewicht beizumessen ist, oder insofern sich die Handlung nicht aus einem Prima-facie-Prinzip ableiten lässt, es für den Akteur keine erkennbare alternative Handlung gibt, die sich stattdessen aus einem Prima-facie-Prinzip ableiten lässt und der erstgenannten Handlung entgegensteht. Andernfalls ist die Handlung moralisch falsch3.
Mit Blick auf einige Spielarten des Regelkonsequentialismus, wie zum Beispiel desjenigen von Hooker, bei dem letztlich, wie bereits dargestellt, in etwa das gleiche Set an Prima-facie-Prinzipien unter dem Begriff der Regeln zu internalisieren ist und die ebenso im Konfliktfall abzuwägen sind, lässt sich in Anlehnung an Hare abermals feststellen, dass die dritte Ebene einer Form des Regelkonsequentialismus entspricht bzw. in diesen umgewandelt werden kann. 145 In Verbindung mit Howard-Snyders Analyse bezüglich der Akteur-Relati-
144 Zum Verständnis, dass eine Handlung auf verschiedenen Ebenen als moralisch richtig bezeichnet werden kann, wobei sich die moralische Richtigkeit der verschiedenen Ebenen unterscheiden kann, siehe insbesondere Smith 2010, 64–71 und Feldman 2012. 145 Vgl. Hare 1992, 90.
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vität in regelkonsequentialistischen Theorien lässt sich damit wiederum sagen, dass ein entsprechender Multi-Ebenen-Konsequentialismus dazu in der Lage ist, die dritte Intuition des Besondere-Pflichten-Einwandes aufzunehmen.
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Kapitel 6: Zuständigkeitsprinzip
Das folgende Szenario illustriert, warum es einer weiteren Ebene bedarf: (K6a) Ein Akteur will seinem Nachbarn helfen, die Garage zu entrümpeln. Als Termin haben sie sich das kommende Wochenende ausgesucht; allerdings gibt es keinen besonderen Grund dafür, dass dies genau an diesem Wochenende geschehen muss. Als der Akteur am Dienstag vor dem Wochenende nach Hause kommt, befindet sich auf seinem Anrufbeantworter eine Nachricht eines befreundeten Sportlehrers. In dieser wird er gefragt, ob er helfen kann, am besagten Wochenende zwei Kinder zu einem Sportwettkampf zu fahren. Die Eltern dieser Kinder haben, wie sich der Sportlehrer etwas enttäuscht ausdrückt, mal wieder »Wichtigeres« zu tun. Ohne die Unterstützung des Akteurs können die Kinder daher nicht am Wettkampf teilnehmen, worüber beide Kinder sehr enttäuscht wären. Des Weiteren bittet ihn der Sportlehrer um eine Antwort bis Freitag. Noch am selben Abend, bevor er mit seinem Nachbarn gesprochen hat, ruft der Akteur den Sportlehrer zurück und teilt ihm mit, dass er leider nicht helfen kann, weil er bereits seinem Nachbarn helfen wird.
Gemäß dem Tertiärprinzip handelt der Akteur moralisch richtig3. Es stehen zwei Handlungen im Konflikt, die sich auf dasselbe Prima-facie-Prinzip zurückführen lassen (Sei hilfsbereit!). Darüber hinaus greift lediglich die (Fairness-)Gewichtungsregel, weil es primär die Aufgabe der Eltern ist, die Kinder zum Sportwettkampf zu fahren. Ein deutlich größerer Wohlergehensunterschied ist nicht zu sehen und die aus den Prinzipien resultierenden Pflichten werden voraussichtlich von niemandem übernommen. Das Problem ist allerdings, dass für diese Situation die dritte Ebene mit dem Tertiärprinzip offensichtlich nicht zuständig war. Der Akteur hatte Zeit für seine Abwägung, und es lässt sich nicht sinnvoll argumentieren, dass er bis Freitag zu keiner unparteiischen Abwägung fähig gewesen wäre. Konsequentialismus und besondere Pflichten
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6 · Zuständigkeitsprinzip
Demnach wäre aber das Sekundärprinzip für den Akteur in K6a zuständig gewesen. Da es keinen besonderen Grund dafür gab, dass die Garage an diesem Wochenende entrümpelt werden muss, liegt der Schluss nahe, dass es gemäß dem Sekundärprinzip moralisch richtig2 gewesen wäre, die Kinder zum Sportwettkampf zu fahren. Das tatsächliche Ergebnis kann offenbleiben, weil es an dieser Stelle um die Frage geht, wie es zu bewerten ist, dass der Akteur sein Handeln an einer falschen Ebene ausgerichtet hat. Wichtig zu beachten ist, dass das eigentliche Problem nicht jenes ist, dass die Handlung, die gemäß der dritten Ebene moralisch richtig war, nicht auch (vermutlich) gemäß der zweiten Ebene moralisch richtig war. Solange jede Ebene mit Blick auf das Grundprinzip angemessen ist, ist es kein Problem, dass unterschiedliche Ebenen auf Basis unterschiedlicher Informationen und Prozeduren zu unterschiedlichen Bewertungen gelangen. 146 Worum es in K6a tatsächlich geht, ist die richtige Auswahl der zuständigen Ebene. Dies ist von zentraler Bedeutung, weil ein Handeln gemäß der jeweiligen Ebene nur für bestimmte Situationen zu einer größtmöglichen Annäherung an das optimale Aggregationsergebnis führt. Dem Akteur kann also nicht vorgeworfen werden, dass er eine Handlung ausgeführt hat, die moralisch falsch2 war – sie hätte zufälligerweise auch moralisch richtig2 sein können, ohne dass sich etwas an der Kritik ändert –, sondern dass er sein Handeln an einer falschen Ebene ausgerichtet hat. In diesem letzten Sinn hat der Akteur falsch gehandelt.
Problemanalyse und Lösung Doch woran kann die Falschheit der Entscheidung des Akteurs festgemacht werden bzw. nach welchen Kriterien ist zu entscheiden, welche Ebene zuständig ist? Im Grunde besteht die Antwort darin, ob der Akteur genügend Zeit für das gründliche Durchdenken der Alternativen hat und ob er zu einem unparteiischen Handeln fähig ist. Während die Beantwortung dieser Frage bei K6a trivial erscheinen mag, ist dies in anderen Situationen nicht der Fall: (K6b) Ein Akteur will seinem Nachbarn helfen, die Garage zu entrümpeln. Als Termin haben sie sich das kommende Wochenende aus146
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Vgl. Feldman 2012, 157–158.
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Problemanalyse und Lösung
gesucht; allerdings gibt es keinen besonderen Grund dafür, dass dies genau an diesem Wochenende geschehen muss. Als der Akteur am späten Freitagabend vor dem Wochenende nach Hause kommt, befindet sich auf seinem Anrufbeantworter eine Nachricht eines befreundeten Sportlehrers. In dieser wird er gefragt, ob er helfen kann, am besagten Wochenende zwei Kinder zu einem Sportwettkampf zu fahren. Die Eltern dieser Kinder haben, wie sich der Sportlehrer etwas enttäuscht ausdrückt, mal wieder »Wichtigeres« zu tun. Ohne die Unterstützung des Akteurs können die Kinder daher vermutlich nicht am Wettkampf teilnehmen, worüber beide Kinder sehr enttäuscht wären. Da die Teilnahme verbindlich zu- oder abgesagt werden muss, bittet ihn der Sportlehrer um eine Antwort bis 20 Uhr; hierfür verbleiben dem Akteur etwa 15 Minuten. Soweit der Akteur erkennen kann, ist der Nachbar noch auf Arbeit oder auf dem Weg nach Hause. Ob und wann der Nachbar beispielsweise telefonisch zu erreichen ist, ist dem Akteur nicht bekannt.
Kann der Akteur in K6b alle Handlungen gründlich abwägen und eine unparteiische Entscheidung treffen? Hierzu müssen verschiedene Fragen beantwortet werden, beispielsweise wie sehr der Nachbar über die kurzfristige Absage bzw. Verschiebung des Termins verärgert wäre. Zu klären wäre auch, ob es nicht doch eine Alternative gibt, nämlich die Garage zu entrümpeln und zugleich die beiden fremden Kinder zum Wettkampf zu bringen. Die Beantwortung dieser Fragen kann mitunter derart aufwendig sein, dass die verbleibenden 15 Minuten nicht ausreichen, um die Sekundärprozedur des Sekundärprinzips zu durchlaufen. Doch für welche Ebene soll sich der Akteur entscheiden, wenn er nicht sicher ist, ob er genügend Zeit hat, festzustellen, welche Handlung moralisch richtig2 ist? Wenn er nicht dazu in der Lage ist, dann ist die dritte Ebene zuständig; falls er es doch ist, die zweite Ebene. Für die Beantwortung dieser Frage wird es hilfreich sein, wenn der Akteur auf eine Entscheidungsprozedur zurückgreifen kann, die ihm hilft, in derartig unklaren Situationen eine Entscheidung zu treffen, gemäß welcher Ebene er sein Handeln auszurichten hat. Bei dieser Entscheidungsprozedur müssen mindestens die folgenden Fragen abgearbeitet werden: Wie viel Zeit steht (voraussichtlich) zur Verfügung? Ist es zu erwarten, dass in dieser Zeit die Sekundärprozedur zu durchlaufen ist? Inwieweit ist davon auszugehen, dass man zu einer unparteiischen Entscheidung fähig ist? Konsequentialismus und besondere Pflichten
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6 · Zuständigkeitsprinzip
In einigen Situationen wird bereits die Beantwortung einiger dieser Fragen schwierig sein. Dies gilt insbesondere für die Frage, ob die Sekundärprozedur in der entsprechenden Zeit durchlaufen werden kann. Um beispielsweise den epistemischen Erwartungsnutzen zu berechnen, kann es erforderlich sein, weitere Daten einzuholen. Aber wie lange wird das Einholen dieser Daten benötigen? Letztlich stellt sich damit erneut die Frage, wie dieses nächste Set von Fragen zu beantworten ist, wenn die Lage derart unklar ist. Die plausibelste Strategie ist vermutlich, auf eine weitere Entscheidungsprozedur zurückzugreifen. Doch damit droht an dieser Stelle ein infiniter Regress: Wenn zur Beantwortung einer Frage nicht alle Informationen zur Verfügung stehen und man daher auf eine Entscheidungsprozedur zurückgreifen muss, in der Fragen zu beantworten sind, zu denen man nicht alle Informationen hat und deshalb auf eine Entscheidungsprozedur zurückgreifen muss, in der Fragen zu beantworten sind usw. usf. 147 Wenn aber die Frage, für welche Ebene sich der Akteur zu entscheiden hat, in einen infiniten Regress führt, dann ist nicht zu sehen, wie man dem Akteur aus K6a einen gerechtfertigten Vorwurf machen kann. Denn entweder, so könnte er sich verteidigen, trifft man an irgendeiner Stelle im Prozess eine willkürliche Entscheidung, um aus dem infiniten Regress auszusteigen, oder man kommt schlicht und ergreifend zu keinem Ergebnis. Im letzten Fall läuft es darauf hinaus, dass der Akteur aufgrund eines Zeitproblems gemäß der dritten Ebene handeln muss. In diesem Fall hätte sich der Akteur aber nicht mehr für die falsche Ebene entschieden, so dass ihm kein Vorwurf gemacht werden kann. Im ersten Fall kann dem Akteur aber ebenso kein Vorwurf gemacht werden, weil der Ausstieg aus dem Regress eine notwendig willkürliche Entscheidung ist. Weder im ersten noch im zweiten Fall, so ließe sich der Einwand abschließen, kann dem Akteur vorgeworfen werden, dass er sich für die falsche Ebene entschieden hat. Hat sich der Akteur aus K6a also doch richtig oder zumindest nicht schuldhaft falsch entschieden?
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Vgl. Lipman 1991, 1105–1106.
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Problemanalyse und Lösung
Ein Lösungsvorschlag Mit einem ähnlichen Problem hat sich Smith beschäftigt. 148 Für die Beantwortung der eigenen Frage ist es sinnvoll, zunächst Smiths Behandlung des Problems des infiniten Regresses zu rekonstruieren. Auf dieser Basis kann dann eine vierte Ebene mit dem Zuständigkeitsprinzip und einer Zuständigkeitsprozedur gerechtfertigt werden. Smith unterscheidet zwischen zwei Formen der Informationsbeschaffung: Überlegung (deliberation) und Forschung bzw. Nachforschung (research). Dabei meint sie mit Überlegung die Offenlegung aller implizit vorhandenen Informationen, zum Beispiel die Erinnerung an gespeicherte Informationen sowie Ableitungen aus diesen Informationen. Demgegenüber versteht sie unter Forschung bzw. Nachforschung die Beschaffung von Informationen, über die der Akteur noch nicht verfügt, zum Beispiel das Lesen von Fachzeitschriften und die Durchführung von Experimenten. 149 Ihre eigene Untersuchung beschränkt sie dabei auf den Prozess der Überlegung. Die Frage, um die es Smith im Detail geht, ist, ob der drohende infinite Regress die rationale Entscheidungsfindung bedroht. Im Hintergrund steht die Annahme, dass die Rationalität einer Überlegung von der Rationalität der vorausgehenden Handlung abhängt. 150 Da die Zielhandlung beispielsweise in den Szenarien K6a und K6b aber nicht unbegrenzt hinausgeschoben werden kann, stellt sich das Problem der Universal Irrationality: »Universal Irrationality: the regress problem entails that there is no action which it is rational to perform.« 151 Die These der Universal Irrationality wird nach Smith durch zwei Argumente gestützt: Erstens: Keine Handlung ist rational, weil es immer eine höherrangige Handlung gibt, die durchzuführen rationaler wäre, nämlich die Informationsbeschaffung über die fragliche Handlung. Da die Informationsbeschaffung eine Handlung ist, trifft dies auch auf die Informationsbeschaffung zu. 152 Zweitens: Um den infiniten Regress zu vermeiden, muss irgendeine Entscheidung ohne ein relevantes Prinzip der Entscheidungshilfe 148 Vgl. Smith 1991. Ich verdanke Christoph Fehige, dass er mich auf das grundsätzliche Problem und diese Literatur aufmerksam gemacht hat. 149 Vgl. Smith 1991, 194–195. 150 Vgl. Smith 1991, 197. 151 Smith 1991, 197, Hervorhebung im Original. 152 Vgl. Smith 1991, 197.
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getroffen werden. Diese Entscheidung ist dann aber willkürlich bzw. irrational, was alle Folgeentscheidungen, die auf ihr beruhen, ebenfalls irrational werden lässt. 153 Das Regress-Problem kann nach Smith nun wie folgt auftreten: Aufgrund der vielfältigen und unterschiedlichen Informationen und Überzeugungen der Akteure über ihre Handlungsmöglichkeiten reicht ein einziges Prinzip für die Entscheidungshilfen nicht aus. Je nach verfügbaren Informationen bedarf es daher einer Vielzahl an Entscheidungshilfen, die hierarchisch geordnet sind. Gemäß Smith ist eine Wahl dann rational, wenn sie nach der höchstmöglichen zur Verfügung stehenden Entscheidungshilfe stattfand. 154 Das Metaprinzip für eine rationale Entscheidung ist demnach: M. It is rational to choose an action at ti for performance at tn if and only if that action is prescribed by the highest decision guide that the agent is capable of using at ti to make her decision. 155
Wie dargestellt, kann ein Akteur gute Gründe haben, tiefere Überlegungen anzustrengen, zum Beispiel um angemessenere Überzeugungen darüber zu erhalten, was die höchste zur Verfügung stehende Entscheidungshilfe ist. Nach Smith ist dabei aber zu beachten, dass längeres Nachdenken nicht nur Vorteile, sondern auch Nachteile bringt, insbesondere in Form von Opportunitätskosten. Da der Überlegungsprozess Zeit kostet, könnte der Akteur auf die Überlegung kommen, sich vorher Gedanken darüber zu machen, welche Entscheidungshilfe er verwenden soll. 156 Demnach könnte der Akteur zum Zeitpunkt t1 mit der Überlegung beginnen, von welchen Überlegungen bzw. von welcher Entscheidungsprozedur er sich zum Zeitpunkt t2 leiten lassen soll. Da aber auch diese Überlegung Kosten verursacht, könnte er den gleichen Prozess noch eine Stufe früher beginnen usw. 157 Gemäß dem ersten Argument entsteht nun das Problem, dass es immer eine höherrangige Alternativhandlung gibt, nämlich über diese Handlung mehr Informationen zu beschaffen. Nach Smith bedarf dieses Argument jedoch folgender Prämisse: Jeder Akteur hat zu jeder Zeit eine unbegrenzte Anzahl an Alternativen, wovon jede 153 154 155 156 157
180
Vgl. Smith 1991, 197. Vgl. Smith 1991, 198. Smith 1991, 199, Hervorhebung im Original. Vgl. Smith 1991, 202. Vgl. Smith 1991, 203.
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Problemanalyse und Lösung
Alternative eine Überlegung über eine Überlegung auf niedrigerer Stufe enthält. 158 Fraglich ist allerdings, ob dies tatsächlich der Fall ist, denn jede Handlung braucht eine bestimmte Menge an Zeit. Demnach kann der Akteur aber nicht unbegrenzt viele Handlungen bzw. Überlegungen bis zu seiner Zielhandlung ausführen. Zu irgendeinem Zeitpunkt kann keine höherstufige Überlegung mehr angestellt werden, wenn die Zielhandlung nicht unbegrenzt hinausgeschoben werden kann. 159 Theoretisch ließe sich durch das Überspringen einzelner Grade der Grad der Überlegung dennoch ins Unendliche steigern. Demnach gibt es für jeden gegebenen Level von Überlegungen weiterhin eine alternative Überlegung auf den höheren Ebenen. Allerdings ist zum einen nicht zu erkennen, warum eine derartig lückenhafte Sequenz überhaupt rational sein sollte, und zum anderen gerät sie schnell an empirische Grenzen: Der normale Akteur hat eine begrenzte kognitive Kapazität und wird dementsprechend nicht in der Lage sein, seine Überlegung über ein bestimmtes Level hinaus anzustellen. 160 In diesem Sinne wird der mögliche Grad der ausführbaren Entscheidungshilfen nicht durch die Zeit, sondern durch die kognitive Fähigkeit des Akteurs begrenzt, wodurch diese theoretische Möglichkeit praktisch irrelevant wird. Der entscheidende Punkt ist nun der folgende: Damit eine Handlung gemäß dem Metaprinzip M rational ist, müssen nach Smith zwei Bedingungen erfüllt sein. Erstens muss es mindestens eine legitime Entscheidungsprozedur geben, die ein Akteur nutzen kann, um zu einer Entscheidung zu gelangen. Zweitens muss es eine Handlung geben, die von der höchsten zur Verfügung stehenden Entscheidungsprozedur vorgeschrieben wird. Nach Smith kann die zweite Bedingung auch dann erfüllt sein, wenn es eine unbegrenzte Anzahl an Alternativen gibt. 161 Der Grund liegt in der bereits dargestellten Annahme, dass jede Überlegung mit Opportunitätskosten verbunden ist, das heißt, Überlegungen erzeugen für den Akteur einen gewissen Negativnutzen. In diesem Sinne gilt: Je länger die Überlegung dauert, desto größer ist der Negativnutzen; ebenso gilt: Je höher der Grad der Überlegung, desto größer ist der Negativnutzen. 162 Demnach kann
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Vgl. Smith 1991, 203. Vgl. Smith 1991, 197. Vgl. Smith 1991, 204–205. Vgl. Smith 1991, 206. Vgl. Smith 1991, 207.
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eine Entscheidung für eine Handlung in t1 rational sein, wenn nicht zu erwarten ist, dass weiteres Nachdenken zu substanziell positivem Nutzen führt und gleichzeitig die höchste zur Verfügung stehende Entscheidungsprozedur eine Handlung vorschreibt. In diesem Sinne kommt Smith in Bezug auf das erste Argument für die These der Universal Irrationality zum Ergebnis, dass es eine Klasse von Fällen gibt, bei denen das Regressproblem nicht zeigt, dass es keine rational wählbare Handlung gibt; daher ist die These der Universal Irrationality (teilweise) zurückzuweisen. 163 Zum gleichen Ergebnis kommt Smith bei der Besprechung des zweiten Arguments: Auch dieses ist fehlerhaft. Für den Nachweis unterscheidet sie zwei Szenarien: Erstens den unwahrscheinlichen Fall, dass der Akteur in Bezug auf seine Optionen in t1 keine Entscheidung vor t0 gemacht hat. In derartigen Szenarien kann zum Zeitpunkt t0 keine Entscheidung gemacht werden, die durch frühere Entscheidungen »verdorben« ist. Trotz dieses Informationslecks, so führt Smith weiter aus, kann der Akteur aber dennoch richtigerweise glauben, dass eine bestimmte Entscheidungshilfe die höchste zur Verfügung stehende Entscheidungshilfe ist. Aus diesem richtigen Glauben kann er eine Vorschrift für seine Entscheidung zum Zeitpunkt t1 ableiten, so dass diese Entscheidungsprozedur für ihn verwendbar ist. Zusammengenommen heißt das aber, dass er eine Anfangsentscheidung getroffen hat, die von einem relevanten Entscheidungshilfeprinzip geleitet ist. 164 Zweitens: Häufiger sind Situationen, in denen der Akteur eine willkürliche Entscheidung getroffen hat, die nicht durch eine Entscheidungshilfe geleitet war. Doch auch diese willkürliche Entscheidung muss nicht zwangsläufig die darauf basierenden Entscheidungen verderben: Beispielsweise kann sich der Akteur willkürlich dafür entscheiden, zum Zeitpunkt t0 einen Artikel über Entscheidungshilfen zu lesen, was ihn dazu führt, dass er zum Zeitpunkt t1 eine Entscheidung gemäß der am höchsten zur Verfügung stehenden Entscheidungshilfe trifft. Diese Handlung kann dann nicht mehr als irrational gelten, weil sie eben durch die höchste zur Verfügung stehende Entscheidungshilfe getroffen wurde. 165
163 164 165
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Vgl. Smith 1991, 208–209. Vgl. Smith 1991, 209–210. Vgl. Smith 1991, 210.
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Zuständigkeitsprozedur und Zuständigkeitsprinzip
Zuständigkeitsprozedur und Zuständigkeitsprinzip Damit kann die Frage beantwortet werden, ob der Akteur aus K6a damit recht hat, dass jegliche Entscheidung darüber, an welcher Ebene er sein Handeln auszurichten hat, notwendig irrational ist. Mit Smith kann dies verneint werden, wenn gezeigt werden kann, dass es rational ist, den Entscheidungsprozess, gemäß welcher Ebene die Handlung ausgerichtet werden soll, an einer bestimmten Stelle abzubrechen, und dass dennoch die höchste zur Verfügung stehende Entscheidungshilfe angewendet wird. Im Folgenden wird dafür argumentiert, dass dies mit Hilfe einer Zuständigkeitsprozedur möglich ist. Zunächst ist folgender Punkt zu beachten: Die Zuständigkeitsprozedur muss gewährleisten, dass der Akteur auch in Situationen handlungsfähig bleibt, in denen er unmittelbar handeln muss. Das sind diejenigen Situationen, für die die dritte Ebene zuständig ist. In derartigen Situationen würde ein zeitaufwendiges Durchlaufen einer Meta-Entscheidungsprozedur, wie sie die Zuständigkeitsprozedur ist, nicht zu einer Annäherung an das optimale Aggregationsergebnis führen, weil der Zeitpunkt, an dem die Zielhandlung ausgeführt werden muss, durch den Überlegungsprozess, der im Rahmen der Zuständigkeitsprozedur ausgeführt wird, überschritten wird. Daher muss der erste Schritt der Zuständigkeitsprozedur die Handlungsfähigkeit gemäß der dritten Ebene gewährleisten. Das wird erreicht, indem der Akteur zunächst die folgende Frage beantwortet: Ist in dieser Situation ein unmittelbares Handeln notwendig? Wenn diese Frage nicht mit Nein beantwortet wird, dann ist es richtig, gemäß der dritten Ebene zu handeln und keine weiteren Überlegungen darüber anzustellen, welche Ebene zuständig ist. In der Frage, ob ein unmittelbares Handeln notwendig ist, steckt ein zu klärendes Element: Was heißt es, dass ein »unmittelbares Handeln« notwendig ist? Es gibt einige Fälle, in denen diese Bedingung klar erfüllt bzw. nicht erfüllt ist. Erfüllt ist sie beispielsweise im folgenden Szenario: (K6c) Ein durchschnittlich gesunder junger Mann sitzt nahe des Eingangsbereichs in einem Bus, in dem alle Sitzplätze belegt sind. Kurz vor dem Abfahren an der aktuellen Haltestelle nimmt er eine gerade eingestiegene Person wahr, die sich kaum auf den Beinen halten kann. Er sitzt dieser Person am nächsten. Konsequentialismus und besondere Pflichten
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Mit jeglicher Verzögerung steigt das Risiko, dass diese Person beim Anfahren des Busses stürzt und zu Schaden kommt, beträchtlich. Daher ist ein unmittelbares Handeln notwendig. Anders sieht es im Fall K6a aus, in dem der Akteur von Dienstag bis Freitag Zeit hat, um sich zu überlegen, welche Handlung moralisch richtig ist. Im Kern geht es bei der unmittelbar notwendigen Handlung darum, was mit der konditionalen Bedingung »wenn du den nächsten Bus erreichen willst, dann musst du dich sofort auf den Weg machen« ausgedrückt wird. Obwohl das »dann musst du dich sofort auf den Weg machen« in einer gewissen Form vage ist 166, versteht jeder gewöhnliche Akteur diese Aussage. Mit Blick auf das Tertiärprinzip lässt sich die konditionale Bedingung folgendermaßen umformulieren: »Wenn du die größtmögliche Annäherung an das optimale Aggregationsergebnis erreichen willst, dann musst du dein Handeln sofort an der dritten Ebene ausrichten.« Das »sofort« in der umformulierten konditionalen Bedingung entspricht dem »sofort« aus der ersten konditionalen Bedingung. Der Akteur aus K6a muss sich jedoch nicht »sofort« entscheiden; er hat dafür bis Freitag Zeit. Auch der Akteur aus K6b muss sich nicht unmittelbar entscheiden. Er hat etwa 15 Minuten Zeit, über das Problem nachzudenken. Nur falls die Antwort der ersten Frage Nein ist, müssen weitere Überlegungen darüber erfolgen, gemäß welcher Ebene gehandelt werden soll. An dieser Stelle steht noch nicht fest, dass nur die erste oder zweite Ebene zuständig ist. Denn trotz der zur Verfügung stehenden Zeit gibt es mehrere Gründe, warum noch immer die dritte Ebene zuständig sein kann. Das lässt sich an K6b verdeutlichen: Der Akteur hat zwar 15 Minuten Zeit, um eine Entscheidung zu treffen, allerdings ist es nicht klar, ob er es schafft, in dieser Zeit die Sekundärprozedur zu durchlaufen. Denn dazu gehört ein erheblicher Teil an Informationsbeschaffung, zum Beispiel das Herausfinden darüber, wie sein Nachbar zu einem Aufschub steht und ob es nicht eine Alternative gibt, die Kinder zum Sportwettkampf zu fahren. Wenn aber abzusehen ist, dass in der zur Verfügung stehenden Zeit die Sekundärprozedur nicht durchlaufen werden kann, dann ist in der gegebenen Situation die dritte Ebene zuständig. 166 Sie ist im folgenden Sinne vage: Der Akteur kann ggf. auch ein oder zwei Minuten später losgehen, nämlich dann, wenn er nicht nur zügig zum Bus geht, sondern die Strecke im Dauerlauf absolviert. Wenn er die gesamte Distanz sprintet, hat er vielleicht noch drei oder vier Minuten mehr Zeit.
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Zuständigkeitsprozedur und Zuständigkeitsprinzip
Demnach muss der moralische Akteur in einem weiteren Schritt die folgenden Fragen beantworten: Wie viel Zeit steht voraussichtlich mindestens zur Verfügung, um sich für eine Zielhandlung zu entscheiden? Und: Wie viel Zeit wird voraussichtlich benötigt, um gemäß der zweiten Ebene eine Entscheidung zu treffen? Wenn die Antwort der letzten Frage einen Wert ergibt, der nicht kleiner ist als der Wert aus der Beantwortung der zweiten Frage, dann ist ebenfalls die dritte Ebene zuständig. 167 Die ersten beiden Fragen sichern ab, dass weitere Überlegungen nicht dazu führen, dass der Zeitpunkt, an dem die Zielhandlung auszuführen ist, überschritten wird. Allerdings kann eine weitere Bedingung erfüllt sein, die dazu führt, dass das Handeln an der dritten Ebene auszurichten ist, obwohl voraussichtlich genügend Zeit besteht, um zu ermitteln, welche Handlung moralisch richtig2 ist. Insofern der Akteur nämlich davon ausgehen kann, dass er zu keiner unparteiischen Handlung fähig ist, hat er sein Handeln ebenso an der dritten Ebene auszurichten. Das heißt, er muss sich fragen, ob er in dieser Situation dazu fähig ist, einen unparteiischen Standpunkt einzunehmen und entsprechend zu handeln. Beantwortet er diese Frage nicht mit Ja, dann ist die Handlung an der dritten Ebene auszurichten. 168 167 Natürlich kann es sein, dass dem Akteur beim Abschätzen der benötigten Zeiten Fehler unterlaufen und er während des Durchlaufens der Sekundärprozedur feststellt, dass die Zeit zum vollständigen Durchlaufen nicht ausreicht. In diesem Fall bleibt ihm nichts anderes übrig, als die Bearbeitung abzubrechen und auf die dritte Ebene zu wechseln. Allerdings dürfte dies nicht der Regelfall sein. Denn das Denken des Akteurs, wie auch Smith gezeigt hat, beginnt bei derartigen Problemen für gewöhnlich nicht bei null. In den allermeisten Situationen werden die moralischen Akteure, die sich eine derartige Frage stellen, bereits über reichhaltige Erfahrungen verfügen, die ihnen helfen, eine sinnvolle Prognose anzustellen. Damit lässt sich die Frage stellen, ob die Universal Irrationality mit einer Zuständigkeitsprozedur tatsächlich zurückgewiesen werden kann. Um beispielsweise zu wissen, wann ein angemessener Zeitpunkt für den Wechsel von der zweiten zur dritten Ebene ist, so könnte eingewendet werden, müsste der Akteur theoretisch nach jeder neu erhaltenen oder bewusst gewordenen Information die Zuständigkeitsprozedur erneut durchlaufen, um zu testen, ob die neue Information zu einem anderen Ergebnis und damit zu einem Wechsel der Ebenen führt. Dieser Einwand kann jedoch mit Smith zurückgewiesen werden. Jedes Durchlaufen der Zuständigkeitsprozedur ist mit Kosten verbunden. Daher ist davon auszugehen, dass es nicht zu einer Annäherung an das optimale Aggregationsergebnis führt, wenn die Zuständigkeitsprozedur bei jeder neuen Information durchlaufen wird, sondern nur zu bestimmten Zeitpunkten. Diese betreffen die erste Auswahl der zuständigen Ebene und ggf. den Zeitpunkt, an dem dem Akteur bewusst wird, dass seine frühere Prognose nicht mehr aufrechtzuerhalten ist. 168 Es mag eingewendet werden, dass der Akteur dies nicht wissen kann. Allerdings
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Insofern jedoch diese Frage mit Ja beantwortet wurde, kann vorerst ausgeschlossen werden, dass die dritte Ebene für die vorliegende Situation zuständig ist: Es besteht keine Notwendigkeit, unmittelbar zu handeln; es ist davon auszugehen, dass die Sekundärprozedur durchlaufen werden kann, und es muss nicht davon ausgegangen werden, dass sich der Akteur die relevanten Situationsmerkmale zugunsten eines präferierten Ausgangs zurechtlegt. Als Letztes muss die Frage gestellt werden, ob der Akteur davon ausgehen kann, dass alle relevanten Informationen zur Verfügung stehen und dementsprechend die erste Ebene zuständig ist, oder ob mindestens eine relevante Information nicht zur Verfügung steht und dementsprechend die zweite Ebene zuständig ist. Wie bereits dargestellt wurde, kann in der realen Welt nicht davon ausgegangen werden, dass alle relevanten Informationen vorliegen, weil der Akteur für gewöhnlich nicht wissen kann, welche Konsequenzen eine Handlung tatsächlich hat. Lediglich bei konstruierten Szenarien, bei denen es ein festgeschriebenes Set von möglichen Handlungen gibt und alle relevanten Informationen gegeben sind, kann bestimmt werden, welche Handlung moralisch richtig1 ist. Entsprechend muss in allen anderen Fällen ermittelt werden, welche Handlung moralisch richtig2 ist. Aus der vorangegangenen Diskussion ergibt sich damit die folgende Zuständigkeitsprozedur: 1. Schritt: Erwäge, ob in dieser Situation eine unmittelbare Handlungsausführung notwendig ist. Wenn die Antwort nicht Nein ist, dann entscheide dich dafür, deine Handlung gemäß der dritten Ebene auszurichten; mache ansonsten mit dem 2. Schritt weiter. 2. Schritt: Erwäge, wie viel Zeit du voraussichtlich hast, um dich für eine Zielhandlung zu entscheiden, und erwäge, wie viel Zeit du voraussichtlich benötigst, um die Sekundärprozedur zu durchlaufen. Wenn die Antwort der zweiten Frage einen Wert ergibt, der kleiner ist als der Wert aus der Beantwortung der ersten Frage, dann ist die dritte Ebene zuständig; ansonsten mache mit dem 3. Schritt weiter. 169
wird er, ebenso wie bei der Abschätzung, wie lange er für die Durcharbeitung der Sekundärprozedur benötigt, über einen gewissen Erfahrungsschatz verfügen, bei welchen Situationsmerkmalen er sich eventuell ungerechtfertigterweise parteiisch verhalten hat. 169 Genau genommen müsste die Zeit hinzugerechnet werden, die dafür benötigt wird, um die weitere Zuständigkeitsprozedur zu durchlaufen. Da der Zeitumfang allerdings dafür vernachlässigbar ist, werde ich diesen Aspekt ebenso vernachlässigen.
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3. Schritt: Erwäge, ob du in der gegebenen Zeitspanne zu einer unparteiischen Urteilsfindung gemäß der ersten oder zweiten Ebene fähig bist. Wenn die Antwort nicht Ja ist, dann entscheide dich dafür, deine Handlung gemäß der dritten Ebene auszurichten; ansonsten mache mit dem 4. Schritt weiter. 4. Schritt: Erwäge, ob dir alle relevanten Informationen zur Verfügung stehen, um zu berechnen, welche Handlung gemäß dem Grundprinzip moralisch richtig1 ist. Nur wenn die Frage mit Ja beantwortet wird, ist die erste Ebene zuständig, andernfalls die zweite Ebene.
Mit dieser Zuständigkeitsprozedur lässt sich bestimmen, ob die Entscheidung, sein Handeln an einer bestimmten Ebene auszurichten, moralisch richtig oder falsch ist. Vierte Ebene (Zuständigkeitsprinzip): Moralisch richtig4 ist die Entscheidung, sein Handeln an einer bestimmten Ebene auszurichten, dann, wenn sie aus der Zuständigkeitsprozedur folgt. Andernfalls ist die Entscheidung moralisch falsch4.
Ein Einwand Gegen das Zuständigkeitsprinzip und die zugrundeliegende Zuständigkeitsprozedur lässt sich einwenden, dass es im Grunde genommen nicht um moralische Richtigkeit und Falschheit geht, sondern um die Richtigkeit oder Falschheit einer anderen Kategorie. So ließe sich beispielsweise sagen, dass es zwar hinsichtlich von Klugheits- oder Rationalitätserwägungen richtig oder falsch war, sein Handeln an einer bestimmten Ebene auszurichten, nicht jedoch hinsichtlich der moralischen Sphäre. Wie das folgende Szenario aber illustriert, ist dieser Einwand zurückzuweisen: (K6d) Ein Akteur steht vor der Wahl, entweder die Handlung A oder die Handlung B auszuführen. Die Situationsdetails sind relativ überschaubar und er muss die Handlung auch nicht unmittelbar ausführen. Um zu bestimmen, gemäß welcher Ebene er sein Handeln ausrichten soll, durchläuft der Akteur die Zuständigkeitsprozedur. Während des Durchlaufens dieser Prozedur erahnt er jedoch, dass gemäß dem Sekundärprinzip die Handlung A moralisch richtig2 ist und die Handlung B moralisch falsch2. Allerdings ist Handlung A Konsequentialismus und besondere Pflichten
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für den Akteur deutlich beschwerlicher als die Handlung B. Aus Unlust heraus, die zusätzliche Mühe aufzubringen, entscheidet sich der Akteur dazu, seine Handlung gemäß der dritten Ebene auszurichten, obwohl es gemäß der vierten Ebene richtig4 gewesen wäre, das Handeln an der zweiten Ebene auszurichten. Gemäß der dritten Ebene ist Handlung B moralisch richtig3 und Handlung A moralisch falsch3.
Gemäß dem Einwand hat sich der Akteur aus K6d zwar irgendwie falsch entschieden, nämlich unklug oder irrational, jedoch war seine Entscheidung nicht moralisch falsch. Das Problem ist allerdings, dass auf der zweiten und dritten Ebene diejenigen Prinzipien verankert sind, von denen zu erwarten ist, dass sie unter den gegebenen Umständen langfristig zu einer größtmöglichen Annäherung an das optimale Aggregationsergebnis führen. Entscheidet sich ein Akteur dafür, seine Handlung an einer Ebene auszurichten, die für diese Situation nicht zuständig ist, dann entscheidet er sich dazu, eine Handlung zu wählen, von der er ausgehen kann, dass sie unter den gegebenen Umständen nicht zu einer größtmöglichen Annäherung an das optimale Aggregationsergebnis führt. Langfristig wird ein derartiges Entscheidungsverhalten dazu führen, dass es zu einer vermeidbar schlechteren Annäherung an das optimale Aggregationsergebnis kommt. Innerhalb einer konsequentialistischen Theorie ist aber eine derartig vermeidbare Inkaufnahme einer schlechteren Aggregation als moralisch falsch zu bewerten.
Ergebnis des 6. Kapitels In diesem Kapitel wurde ein weiteres Kernprinzip, das Zuständigkeitsprinzip mit der Zuständigkeitsprozedur, gerechtfertigt: Vierte Ebene (Zuständigkeitsprinzip): Moralisch richtig4 ist die Entscheidung, sein Handeln an einer bestimmten Ebene auszurichten, dann, wenn sie aus der Zuständigkeitsprozedur folgt. Andernfalls ist die Entscheidung moralisch falsch4.
Die Zuständigkeitsprozedur lautet: 1. Schritt: Erwäge, ob in dieser Situation eine unmittelbare Handlungsausführung notwendig ist. Wenn die Antwort nicht Nein ist, dann entscheide dich dafür, deine Handlung gemäß der dritten Ebene auszurichten; mache ansonsten mit dem 2. Schritt weiter.
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Ergebnis des 6. Kapitels
2. Schritt: Erwäge, wie viel Zeit du voraussichtlich hast, um dich für eine Zielhandlung zu entscheiden, und erwäge, wie viel Zeit du voraussichtlich benötigst, um die Sekundärprozedur zu durchlaufen. Wenn die Antwort der zweiten Frage einen Wert ergibt, der kleiner ist als der Wert aus der Beantwortung der ersten Frage, dann ist die dritte Ebene zuständig; ansonsten mache mit dem 3. Schritt weiter. 3. Schritt: Erwäge, ob du in der gegebenen Zeitspanne zu einer unparteiischen Urteilsfindung gemäß der ersten oder zweiten Ebene fähig bist. Wenn die Antwort nicht Ja ist, dann entscheide dich dafür, deine Handlung gemäß der dritten Ebene auszurichten; ansonsten mache mit dem 4. Schritt weiter. 4. Schritt: Erwäge, ob dir alle relevanten Informationen zur Verfügung stehen, um zu berechnen, welche Handlung gemäß dem Grundprinzip moralisch richtig1 ist. Nur wenn die Frage mit Ja beantwortet wird, ist die erste Ebene zuständig, andernfalls die zweite Ebene.
In Verbindung mit den drei bereits gerechtfertigten Kernprinzipien – dem Grundprinzip, dem Sekundärprinzip und dem Tertiärprinzip – lässt sich festhalten, dass der Multi-Ebenen-Konsequentialismus aus mindestens vier Kernprinzipien besteht. 170
170 Es ließe sich ggf. eine weitere Meta-Ebene herausarbeiten, in der es um den Gebrauch der moralischen Wörter geht bzw. darum, wie sie zu verstehen sind. Siehe hierzu beispielsweise die ersten drei Kapitel in Hares Buch Moralisches Denken (1992, 39–114), siehe auch in dieser Arbeit im Unterkapitel Einwände gegen die Verankerung besonderer Pflichten die Diskussion einer fünften Ebene.
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Kapitel 7: Handlungscharakterisierung
Nachdem in den vergangenen Kapiteln der Frage nachgegangen wurde, wie der Multi-Ebenen-Konsequentialismus grundsätzlich aufgebaut ist und gemäß welcher Ebene in der realen Welt zu ermitteln ist, welche Handlung für den Akteur moralisch richtig oder falsch ist, muss nun der Frage nachgegangen werden, welche Handlung für den moralischen Akteur erlaubt (freigestellt), verpflichtend (geboten) oder verboten ist: Die Unterscheidung dessen, was uns moralisch geboten, was uns verboten und was zu tun in unser Belieben gestellt ist, gehört zu den elementaren Distinktionen des moralischen Bewußtseins überhaupt. Von einer systematischen rationalen Theorie der Moral wird man daher billigerweise fordern können, daß sie Unterscheidungskriterien für gebotene, verbotene und freigestellte Handlungen bereitstellt. […] Die Forderung an eine systematische rationale Moralphilosophie hinsichtlich dieser Dreiteilung wird dann die sein, daß sie von jeder Handlung zu entscheiden erlaubt, ob sie geboten, verboten oder freigestellt ist. 171
Neben dieser klassischen Dreiteilung von gebotenen, erlaubten und verbotenen Handlungen gibt es mit den supererogatorischen Handlungen – also lobenswerten Handlungen, die über das Geforderte hinausgehen – eine weitere wichtige Kategorie. Im Zuge dieser Vierteilung lautet ein weiterer Einwand, der häufig gegenüber konsequentialistischen Theorien, insbesondere gegenüber klassischen Varianten, vorgebracht wird, dass konsequentialistische Theorien nur die Kategorien von gebotenen und verbotenen Handlungen sinnvoll ausfüllen können. Zwar lässt der Konsequentialismus zumindest theoretisch auch erlaubte Handlungen zu; da aber nicht davon auszugehen ist, so lautet eine empirische Annahme, dass es in der realen Welt zwei oder mehr Handlungen gibt, die das zu aggregierende Gut langfristig gleich optimal aggregieren, gibt es praktisch gesehen keine 171
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von den gebotenen Handlungen zu unterscheidenden erlaubten Handlungen. Wenn es aber keine erlaubten Handlungen gibt, die nicht zugleich geboten sind, so lässt sich ergänzen, fallen auch supererogatorische Handlungen aus dem Repertoire des Konsequentialismus heraus. 172 Da die Frage, ob es im Multi-Ebenen-Konsequentialismus erlaubte Handlungen gibt, die nicht zugleich geboten sind, sowohl zentral für die Zurückweisung der ersten beiden Versionen des Besondere-Pflichten-Einwandes ist als auch für die Frage der Plausibilität des Multi-Ebenen-Konsequentialismus, muss zunächst dieser Einwand besprochen werden, bevor im nächsten Teil ausführlich auf besondere Pflichten und den Besondere-Pflichten-Einwand zurückgekommen werden kann. Die im Folgenden vertretene These lautet, dass es im Multi-Ebenen-Konsequentialismus trotz der Annahme, dass es in der realen Welt keine zwei oder mehr Handlungen gibt, die langfristig zum selben Aggregationsergebnis führen, in einem relevanten Umfang erlaubte Handlungen gibt. Der übliche Weg im Konsequentialismus, Handlungen als geboten, erlaubt oder verboten zu charakterisieren, besteht in der Kopplung von erlaubten an moralisch richtige Handlungen und von verbotenen an moralisch falsche Handlungen. In diesem Sinne sind alle moralisch richtigen Handlungen erlaubte Handlungen, und insofern es nur eine moralisch richtige Handlung gibt, ist jene Handlung zugleich geboten. Alle Handlungen, die moralisch falsch sind, sind entsprechend verbotene Handlungen. 173 Fraglich ist allerdings, insbesondere im Multi-Ebenen-Konsequentialismus, ob eine derart starre Kopplung überhaupt notwendig bzw. möglich ist. In diesem Sinne lässt sich fragen, ob es auch moralisch richtige Handlungen gibt, die verboten sind, bzw. moralisch falsche Handlungen, die erlaubt oder sogar geboten sind. Wie in den folgenden Abschnitten gezeigt wird, 172 Die Schwierigkeit, supererogatorische Handlungen in die eigene Theorie aufzunehmen, betrifft nicht nur konsequentialistische Theorien. Vor ähnlichen Problemen stehen auch tugendethische (vgl. Heyd 1982, 35–48) und kantische (vgl. Heyd 1982, 49–72) Theorien. Ein grundsätzliches Problem besteht bereits darin, zu definieren, was genau darunter zu verstehen ist, dass diese Handlungen »besser« sind. Eine naheliegende Antwort darauf wäre, dass der Akteur einen stärkeren moralischen Grund hat, diese Handlung auszuführen. Doch dann lässt sich mit Bykvist einwenden: »But if ›better‹ means ›more moral reason to do‹, we have a problem. We would have to say that you are morally permitted to do something even though you have more moral reason to do something else.« (Bykvist 2010, 105) 173 Vgl. beispielsweise Bykvist 2010, 18 und 22.
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besteht zwar eine Kopplung zwischen moralisch richtigen und erlaubten Handlungen bzw. moralisch falschen und verbotenen Handlungen, allerdings ist diese im Multi-Ebenen-Konsequentialismus nicht so starr wie beispielsweise in einem Ein-Ebenen-Konsequentialismus. Um dies zu zeigen, werden im nächsten Unterkapitel zunächst erlaubte Handlungen, die nicht zugleich geboten sind, besprochen und im Anschluss daran supererogatorische Handlungen.
Erlaubte Handlungen Wie dargestellt, lassen sich unter der Annahme, dass es nicht zugleich zwei Handlungen gibt, die den zu aggregierenden Wert entsprechend dem Aggregationsprinzip gleich optimal aggregieren, zumindest für klassische Varianten des Konsequentialismus keine erlaubten Handlungen rechtfertigen, die nicht zugleich geboten sind. Zunächst einmal lässt sich auch für den Multi-Ebenen-Konsequentialismus sagen, dass es gemäß der überzeugenden Idee plausibel ist, dass nur diejenige Handlung, die moralisch richtig1 ist, erlaubt und zugleich geboten ist, während alle anderen Handlungen verboten sind. Mit Blick auf die dritte Ebene wird jedoch deutlich, dass die empirische Annahme, dass es niemals zugleich zwei Handlungen gibt, die das Aggregationsgut gleich optimal aggregieren, erfüllt sein kann und dennoch irrelevant für die Zuschreibung der moralischen Richtigkeit bzw. Falschheit einer Handlung gemäß der dritten Ebene ist. Als Illustration kann das folgende Beispiel dienen: (K7a) Ein Akteur will seinen Arbeitskollegen bei privaten Problemen helfen, indem er mehr von seiner Freizeit mit ihnen verbringt. Nach einem zufälligen Gespräch mit einem Obdachlosen überlegt er aber, ob er sich stattdessen im Projekt Hilfe für Obdachlose engagieren soll.
Der Einfachheit halber sei angenommen, dass der Akteur aufgrund seiner Tendenz zum parteiischen Handeln sein Handeln gemäß dem Zuständigkeitsprinzip an der dritten Ebene auszurichten hat, um moralisch richtig4 zu handeln. Auf der dritten Ebene stehen zwei Handlungen im Konflikt, die sich auf dasselbe Prima-facie-Prinzip zurückführen lassen: Sei hilfsbereit! Offensichtlich lässt sich dieser Konflikt auch nicht mit Hilfe der Gewichtungsregeln auflösen. Gegebenenfalls führt die Hilfe für die Obdachlosen zu einem besseren Aggregationsergebnis, aber es ist nicht klar, ob dies auch zu einem deutlich bes192
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seren Ergebnis führt. Es ist auch nicht zu erwarten, dass die aus den Prinzipien resultierenden Pflichten von anderen Akteuren kompensiert werden, und ebenso lässt sich niemand identifizieren, der stattdessen ursprünglich die Pflicht gehabt hätte. Eine der beiden Handlungen wird tatsächlich zu einem besseren Aggregationsergebnis führen; die empirische Annahme kann also aufrechterhalten werden. Die Pointe ist aber, dass der moralische Akteur in derartigen Situationen, außer durch die Prima-facie-Prinzipien und die Gewichtungsregeln, keinen Anhaltspunkt hat, welche Handlung tatsächlich zum besseren Aggregationsergebnis führt. Gemäß der dritten Ebene sind beide Handlungen als moralisch richtig3 zu bewerten, weil es keine Handlung gibt, der eine Alternativhandlung entgegensteht, die sich aus einem Prima-facie-Prinzip ableiten lässt, welches in dieser Situation stärker zu gewichten ist. Da beide Handlungen moralisch richtig3 sind und die dritte Ebene für diese Situation zuständig ist, muss es dem Akteur erlaubt sein, eine der beiden Handlungen frei zu wählen. Oder anders gesagt: Beide Handlungen sind erlaubt, ohne zugleich geboten zu sein. Mit Blick auf das Sekundärprinzip wird deutlich, dass sich die Möglichkeit von erlaubten Handlungen, die nicht zugleich geboten sind, nicht nur auf die dritte Ebene beschränkt, sondern auch auf der zweiten Ebene besteht. Beim Durchlaufen der Sekundärprozedur ist es möglich, dass jeweils zwei oder mehr Handlungen übrig bleiben, die gemäß dem Tertiärprinzip zu bewerten sind, wobei das Tertiärprinzip abermals zum Ergebnis kommen kann, dass mehrere Handlungen moralisch richtig3 und somit moralisch richtig2 sind. Somit lässt sich das Ergebnis aus der dritten Ebene auch auf die zweite Ebene übertragen. Zusammengefasst lässt sich festhalten, dass Handlungen im Multi-Ebenen-Konsequentialismus als erlaubt, aber nicht verpflichtend zu charakterisieren sind, wenn der moralische Akteur gemäß der zweiten oder dritten Ebene zu handeln hat und es gemäß der zuständigen Ebene mindestens zwei Handlungen gibt, die moralisch richtig sind. 174
174 In einer früheren Arbeit (Warmt 2013) habe ich im Rahmen des bereits diskutierten Kanu-Szenarios von Jeske und Fumerton eine weitere Möglichkeit besprochen, um erlaubte Handlungen, die nicht zugleich geboten sind, zu rechtfertigen. Dort verwies ich auf die bereits angesprochene menschliche Schwäche, dass das Erkennen der moralisch besten Handlung nicht zwangsläufig die Motivation mit einschließt, diese Handlung auch auszuführen. Ich folgerte dann weiter, dass »[w]enn aber
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Mit diesem Ergebnis kann zu der Frage zurückgekehrt werden, ob sich die Charakterisierung als erlaubt, verboten und verpflichtend vollständig auf die Bewertung als moralisch richtig und moralisch falsch zurückführen lässt. Wie bereits dargestellt, ist dies nicht der Fall, wenn es entweder moralisch falsche Handlungen gibt, die erlaubt sind, oder aber moralisch richtige Handlungen, die verboten sind. Zur Beantwortung sei an das Szenario K6d erinnert, bei dem A gemäß der Zuständigkeitsprozedur sein Handeln an der zweiten Ebene hätte ausrichten müssen, es aber aus Bequemlichkeit an der dritten Ebene ausgerichtet hat. Obwohl seine Handlung moralisch richtig3 war, ist diese nicht als erlaubt, sondern als verboten zu bewerten. Eine Handlung kann demnach auch dann verboten sein, wenn sie moralisch richtig hinsichtlich jener Ebene ist, an der der Akteur sein Handeln ausgerichtet hat; mehr noch: Sie kann sogar von den zur Verfügung stehenden Alternativen jene Handlung sein, die zur größtmöglichen Annäherung an das optimale Aggregationsergebnis führt, also jene Handlung, die moralisch richtig1 ist. Verboten ist sie (1) das Erkennen der moralisch besten Handlung nicht zwangsläufig zu einem Motivationspotenzial führt, das die Ausführung der Handlung notwendig nach sich zieht (2) und die Intuitionen und Handlungsdispositionen der intuitiven Ebene eine starke Quelle der Handlungsmotivationen sind (3) und gemäß dem kritischen Denken die Intuition und Handlungsdisposition ›Eltern sollen sich vorrangig um ihre Kinder kümmern‹ auf der intuitiven Ebene verankert wurde, (4) dann muss eine Handlung, die diesem Prinzip folgt, auch dann erlaubt sein, wenn kritisches Denken in der konkreten Situation eine andere Handlung als moralisch beste Handlung identifiziert. Denn die Rettung des eigenen Kindes ist letztlich auf die größere Motivation für diese Handlung zurückzuführen. Diese Motivation ist aber selbst durch (ein vorausgehendes) kritisches Denken gerechtfertigt.« (Warmt 2013, 695–696) Im Rahmen des hier vertretenen Multi-Ebenen-Konsequentialismus lässt sich diese Position allerdings nicht halten. Insofern beispielsweise die Gewichtungsregeln dazu führen, dass das Retten der beiden fremden Kinder deutlich stärker zu gewichten ist, ist lediglich diese Handlung moralisch richtig3, während das Retten des eigenen Kindes moralisch falsch3 ist. Damit wäre das Retten der beiden fremden Kinder moralisch verpflichtend, das Retten des eigenen Kindes hingegen moralisch verboten. Falls der Akteur also aufgrund der höheren Motivation dennoch das eigene Kind rettet, führt er eine verbotene Handlung aus. Allerdings wäre er aufgrund der gerechtfertigten Motivation (voraussichtlich) nicht zu tadeln – siehe hierzu den Abschnitt Lob und Tadel. Im Rahmen des Besondere-Pflichten-Einwandes lautet allerdings die zentrale Frage, ob die Gewichtungsregeln in dieser Situation tatsächlich der Rettung der beiden fremden Kinder ein höheres Gewicht beimessen. Auf diese Frage wird im Unterkapitel Besondere Pflichten: Kanu-Szenario eingegangen.
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Supererogatorische Handlungen
dann, wenn sie gemäß einer Ebene erfolgt ist, die nicht für diese Situation zuständig war – und nicht zufällig jener Handlung entspricht, die gemäß der zuständigen Ebene moralisch richtig ist. In diesem Sinne kann auch eine Handlung erlaubt sein, die moralisch falsch ist, nämlich dann, wenn sie moralisch falsch hinsichtlich einer Ebene ist, die für diese Situation nicht zuständig ist. Damit sind beide Bedingungen erfüllt: Es kann moralisch richtige Handlungen geben, die verboten sind, und moralisch falsche Handlungen, die erlaubt sind. Erst durch die Kombination aus moralisch richtig4 und moralisch richtig entsprechend der zuständigen Ebene ist eine Handlung als erlaubt und ggf. als verboten zu charakterisieren. Dennoch steht die Charakterisierung in erlaubt, verboten und verpflichtend natürlich in einem gewissen Zusammenhang mit der Bewertung von moralisch richtig und moralisch falsch. Nur ist diese Koppelung nicht so starr wie bei einem Ein-Ebenen-Konsequentialismus.
Supererogatorische Handlungen Nachdem gezeigt wurde, dass es trotz der Annahme, dass es niemals zugleich zwei oder mehr Handlungen gibt, die das Aggregationsgut gleich optimal aggregieren, im Multi-Ebenen-Konsequentialismus erlaubte Handlungen geben kann, stellt sich die Frage, ob sich auch supererogatorische Handlungen rechtfertigen lassen. In einer ersten Annäherung lässt sich unter einer supererogatorischen Handlung eine Handlung verstehen, die über das geforderte Maß hinausgeht und dementsprechend zwar nicht verpflichtend ist, aber dennoch einen moralischen Wert besitzt. Während Urmson in seinem mittlerweile modernen Klassiker Saints and Heroes 175 davon ausging, dass konsequentialistische Theorien supererogatorische Handlungen am besten aufnehmen können 176, stellen supererogatorische Handlungen für Konsequentialisten ein notorisches Problem dar: Wenn die supererogatorische Handlung eine ist, die über das geforderte Maß hinausgeht – worunter gemeinhin verstanden wird, dass sie zu einem Urmson 2012, 383. Vgl. Urmson 2012, 383. Urmson spricht eigentlich vom Utilitarismus; allerdings passt sein Verständnis vom Utilitarismus eher zur allgemeinen Charakterisierung des Konsequentialismus: »Unter Utilitarismus verstehe ich lediglich eine Theorie, die besagt, dass die moralische Rechtfertigung von Handlungen von ihren Ergebnissen her erfolgen muss.« (Urmson 2012, 383) 175 176
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besseren Aggregationsergebnis führt als eine Alternativhandlung –, dann ist es innerhalb einer konsequentialistischen Theorie zumindest prima facie für den Handelnden verpflichtend, diese Handlung auszuführen. 177 Verpflichtende Handlungen gehen aber gerade nicht über das geforderte Maß hinaus. Will man im Konsequentialismus supererogatorische Handlungen rechtfertigen, muss demnach zunächst gezeigt werden, unter welchen Bedingungen das Ausführen einer weniger optimalen Alternativhandlung moralisch erlaubt sein kann bzw. was alternativ darunter zu verstehen ist, dass diese Handlungen über das geforderte Maß hinausgehen. Diesbezüglich wurde bereits eine Vorleistung erbracht. Es konnte gezeigt werden, dass es innerhalb des Multi-Ebenen-Konsequentialismus gemäß der zweiten und dritten Ebene Handlungen geben kann, die erlaubt, aber nicht zugleich geboten sind – obwohl eine dieser Handlungen zu einer besseren Annäherung an das optimale Aggregationsergebnis führt. Ob im Multi-Ebenen-Konsequentialismus tatsächlich Raum für supererogatorische Handlungen besteht, hängt im Wesentlichen davon ab, was im Detail unter einer supererogatorischen Handlung zu verstehen ist. In der Literatur finden sich diesbezüglich verschiedene Definitionen. 178 Zwei davon sind besonders verbreitet. Die wohl häufigste Definition basiert auf der Idee, dass supererogatorische Handlungen über das pflichtgemäße Handeln hinausgehen. 179 In diesem Sinne schreibt beispielsweise Portmore: »A supererogatory act is one that goes above and beyond the call of duty.« 180 Eine andere Verständnisweise davon, dass die Handlung über die Pflicht hinausgeht, ist, dass sie nicht durch Dritte eingefordert werden kann. 181 Die wichtigste Alternative zu diesem Verständnis einer supererogatorischen Handlung lautet, dass die Ausführung derartiger Handlungen zwar zu loben, ihre Unterlassung aber nicht zu tadeln ist. Bei beiden Definitionen schwingt ein gemeinsames Element mit, nämlich dass supererogatorische Handlungen einen moralischen Wert haben. Es ist nicht ganz klar, inwieweit beide Definitionen bei fraglichen Handlungen zu anderen Ergebnissen führen und welches Verständnis
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Vgl. Wessels 2002, 3. Vgl. Heyd 1982, 1. Vgl. Heyd 1982, 118. Portmore 2011, 132. Vgl. Horster 2012, 61.
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Supererogatorische Handlungen
von supererogatorischen Handlungen dann das angemessenere von beiden ist. Da es nicht das Ziel dieser Arbeit ist, den Begriff der Supererogation in seiner vollen Tiefe zu untersuchen, sondern lediglich zu diskutieren, ob es im Multi-Ebenen-Konsequentialismus supererogatorische Handlungen geben kann, wird im Folgenden eine zurückhaltende Strategie verwendet, indem davon ausgegangen wird, dass eine supererogatorische Handlung beide Merkmale erfüllen muss, das heißt, dass sie sowohl über die Pflicht hinausgeht als auch ihre Ausführung zu loben, ihre Unterlassung aber nicht zu tadeln ist. 182 In einer ersten Annäherung wird daher unter einer supererogatorischen Handlung eine Handlung verstanden, die – – –
von moralischem Wert ist, die über die Pflicht hinausgeht, das heißt von den moralischen Subjekten nicht intersubjektiv eingefordert werden kann, und die zu loben ist, während die Unterlassung nicht zu tadeln ist. 183
In den folgenden Abschnitten wird zunächst kurz dargestellt, wie die einzelnen Merkmale innerhalb einer konsequentialistischen Theorie sinnvollerweise zu verstehen sind. Anhand dieser Darstellung wird ein leicht überarbeitetes Set von supererogatorischen Handlung vorgestellt.
Handlungen mit moralischem Wert Innerhalb einer konsequentialistischen Theorie ist der moralische Wert einer Handlung an die (wahrscheinlichen) Konsequenzen gekoppelt. Gemäß dem zugrundeliegenden Multi-Ebenen-Konsequentialismus bedeutet dies zunächst einmal, dass eine Handlung einen moralischen Wert besitzt, wenn sie gemäß dem Grundprinzip moralisch richtig1 ist. Da der moralische Akteur in der realen Welt allerdings nicht dazu in der Lage ist, das Grundprinzip anzuwenden, und es entsprechend effizienter ist, wenn der Akteur auf andere Prinzipien wie das Sekundär- und das Tertiärprinzip zurückgreift, ist sinn182 Vgl. demgegenüber Heyd, der die Lobenswürdigkeit als notwendiges Kriterium ablehnt: »Praiseworthiness is indeed often the mark of supererogatory behavior, but not necessarily.« (Heyd 1982, 118) 183 Vgl. auch Pfannkuche 2000, 288.
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vollerweise auch jenen Handlungen ein moralischer Wert zuzuschreiben, die gemäß diesen Ebenen – genauer: der zuständigen Ebene – moralisch richtig sind. Zusammengefasst hat im Multi-Ebenen-Konsequentialismus eine Handlung dann einen moralischen Wert, wenn sie gemäß der zuständigen Ebene moralisch richtig ist oder – anders ausgedrückt – ihre Ausführung erlaubt ist. Wichtig zu beachten ist folgender Aspekt: Wie bereits dargestellt, muss der moralische Akteur davon ausgehen, dass er, insofern sein Handeln nicht an der zuständigen Ebene ausgerichtet ist, zu einer schlechteren Annäherung an das optimale Aggregationsergebnis beiträgt. Daher hat eine Handlung, die moralisch richtig1 ist – und es dementsprechend keine Handlung geben kann, die moralisch besser ist –, nicht zwangsläufig einen moralischen Wert: Sie hat dann keinen moralischen Wert, wenn die erste Ebene für die konkrete Situation nicht zuständig ist. Da der Akteur aber nicht wissen kann, ob diese Handlung tatsächlich zu den besten Konsequenzen führt, muss er davon ausgehen, dass sie zu einem schlechteren Ergebnis führt, und insofern das Sekundär- sowie das Tertiär- und das Zuständigkeitsprinzip richtig bestimmt sind, wird ein (regelmäßiges) Abweichen von der zuständigen Ebene langfristig tatsächlich zu einem schlechteren Ergebnis führen.
Über die Pflicht hinaus Des Weiteren ist zu klären, was es genau bedeutet, dass die entsprechende Handlung über die Pflicht hinausgeht. Zunächst einmal ist offensichtlich, dass, insofern eine Handlung verpflichtend ist und es dementsprechend keine andere Handlung gibt, die erlaubt ist, diese Handlung nicht über die Pflicht hinausgehen kann, sondern diese nur noch erfüllt. Ein zentrales Element ist daher, dass es gemäß der zuständigen Ebene mindestens eine weitere Handlung gibt, die moralisch richtig ist. Doch dies allein ist noch nicht ausreichend, um sinnvollerweise sagen zu können, dass die Handlung über die Pflicht hinausgeht. Ein anschauliches Beispiel, was stattdessen darunter zu verstehen ist, hat Wessels geliefert: Man stelle sich eine Situation vor, in der a, indem sie selbst der Moral zuliebe einiges auf sich nimmt, einem anderen eine ebensolche Anstrengung erspart. Sie rettet unter Einsatz ihres Lebens ein fremdes Kind aus einem
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brennenden Haus und nicht der Besitzer desselben, der seinerseits, wie a vielleicht sogar weiß, genau dasselbe getan hätte, wäre a nicht eine Sekunde vor ihm losgespurtet. Wir würden a das Bundesverdienstkreuz wohl nicht vorenthalten, und zwar auch dann nicht, wenn die mögliche Welt, die sie herbeigeführt hat, nicht besser ist als die mögliche Welt, die der Besitzer des Hauses herbeigeführt hätte. Was im vorliegenden Fall zählt, scheint die Mühe zu sein, die a, indem sie selbst sie auf sich nimmt, einem anderen erspart. 184
Das, was über die Pflicht hinausgeht, ist demnach das Zurückstellen des eigenen Wohlergehens zugunsten anderer. Dieses Zurückstellen kann nicht von anderen eingefordert werden, solange es eine erlaubte Alternative für den moralischen Akteur gab. Mit Wessels lässt sich sagen, dass die Zurückstellung des eigenen Wohlergehens zugunsten anderer ein Kernaspekt supererogatorischer Handlungen ist. 185
Lob und Tadel Damit bleibt zu klären, wie es sich mit Lob und Tadel im Multi-Ebenen-Konsequentialismus verhält. Da der Multi-Ebenen-Konsequentialismus als konsequentialistische Theorie eine begriffsreduktionistische Theorie 186 ist, müssen Lob und Tadel mit dem Nutzen bzw. dem Wohlergehen in Beziehung stehen. Anders ausgedrückt, Lob und Tadel muss funktionell nützlich sein. Die entscheidende Frage, die sich dann in Bezug auf die supererogatorische Handlung stellt, lautet, ob der Akteur für die Handlung zu tadeln oder zu loben ist. 187 Hierzu schreibt Smart: In considering questions of praise and blame it is not the expediency of the praised or blamed action that is at issue, but the expediency of the praise. It
Wessels 2002, 60–61, Hervorhebung im Original. Vgl. Wessels 2002, 53, kritisch hierzu Heyd 1982, 136. 186 Vgl. Louden 1998, 185–186. 187 Zu beachten ist dabei der Unterschied zu nicht-konsequentialistischen Theorien, bei denen meistens danach gefragt wird, ob die Handlung selbst tadelns- oder lobenswürdig ist. Allerdings trägt diese Frage im Rahmen einer konsequentialistischen Theorie nichts aus. Insofern sich die Lobens- oder Tadelnswürdigkeit direkt auf die Handlung bezieht, fallen diese entweder direkt mit der Bewertung als moralisch richtig oder falsch bzw. mit der Charakterisierung von erlaubt, verboten oder verpflichtend zusammen oder aber es müsste ein zusätzliches Kriterium hinzukommen, das sich nicht selbst aus dem Konsequentialismus rechtfertigen lässt. 184 185
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can be expedient to praise an inexpedient action and inexpedient to praise an expedient one. 188
Umgekehrt gilt ebenso, dass der Akteur nicht zwangsläufig für eine Handlung zu tadeln ist, von der abzusehen war, dass sie zu keiner Annäherung an das optimale Aggregationsergebnis führt bzw. entsprechend der zuständigen Ebene moralisch falsch war, und dass er unter Umständen sogar für eine Handlung, die moralisch richtig gemäß der zuständigen Ebene war, zu tadeln ist. 189 Allerdings handelt es sich bei erlaubten Handlungen, die zu tadeln sind, und verbotenen Handlungen, die zu loben sind, eher um theoretische Möglichkeiten, die in der realen Welt nahezu irrelevant sind. Denn sollte in der realen Welt bei nicht erlaubten Handlungen Lob und bei erlaubten Handlungen Tadel ausgesprochen werden, würde dies voraussichtlich die Bereitschaft oder Tendenz, sich an moralisch richtigen Handlungen zu orientieren, schwächen, was langfristig zu einer schlechteren Annäherung an das optimale Aggregationsergebnis führen würde und somit gegen Lob und Tadel spricht.
Supererogation im Multi-Ebenen-Konsequentialismus Mit dieser Analyse können die Merkmale einer supererogatorischen Handlung im Multi-Ebenen-Konsequentialismus wie folgt zusammengefasst werden: Supererogatorische Handlungen – sind Handlungen von moralischem Wert, das heißt Handlungen, die gemäß der zuständigen Ebene moralisch richtig sind und deren Ausführung entsprechend moralisch erlaubt ist, und – sie gehen über die Pflicht hinaus, das heißt, sie sind nicht verpflichtend und beinhalten eine Zurückstellung des eigenen Wohlergehens zugunsten anderer, und – der Akteur ist für die Ausführung dieser Handlungen zu loben, für die Unterlassung aber nicht zu tadeln. 190 Smart 1956, 347. Vgl. Brink 2006, 385. 190 Es wäre interessant zu überprüfen, inwieweit die hier vertretenen Merkmale mit dem Format der Supererogation von Wessels (2002) in Einklang stehen. Zwei Schwierigkeiten stehen dem jedoch im Wege. Zunächst einmal ist ein zentraler Ausgangspunkt der Untersuchung von Wessels die Annahme, dass es Supererogationslöcher 188 189
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Nachdem dargestellt wurde, was unter einer supererogatorischen Handlung im Rahmen einer konsequentialistischen Theorie zu verstehen ist, muss noch untersucht werden, ob es im Multi-EbenenKonsequentialismus Handlungen geben kann, die diese Kriterien erfüllen und dementsprechend als supererogatorisch zu charakterisieren sind. Als Ausgangspunkt für diese Darstellung soll das Szenario von Wessels dienen, das im Folgenden leicht angepasst wird: (K7b) Man stelle sich eine Situation vor, in der ein Akteur unter Einsatz seines Lebens eine fremde Person aus einem brennenden Haus rettet. Bevor der Akteur losgelaufen ist, war ihm bewusst, dass die Rettungsaktion nicht von Erfolg gekrönt sein muss und er ggf. das eigene Leben verliert, ohne dass die fremde Person gerettet wird.
Um festzustellen, ob es sich in K7b um eine supererogatorische Handlung handelt, muss ermittelt werden, ob die Handlung erlaubt war. Hierzu muss untersucht werden, ob diese Handlung gemäß der zuständigen Ebene moralisch richtig war. Es muss also zunächst die Zuständigkeitsprozedur durchlaufen werden. Dabei lautet die erste Frage, ob eine unmittelbare Handlungsausführung notwendig war. In K7b ist dies offensichtlich der Fall, so dass es moralisch richtig4 ist, die Handlung an der dritten Ebene auszurichten. Gemäß dieser Ebene muss ermittelt werden, welche Alternativen bestehen und auf welche Prima-facie-Prinzipien sie sich zurückführen lassen. Eine erste Handlungsmöglichkeit (H1) war offensichtlich, ins brennende Haus zu gibt. »Im Reich der Handlungen, die besser sind als das Mindestgebotene, hat die Handelnde nicht immer freie Wahl; es herrschen dort bedingte Gebote. Wenn a 10 000 € oder mehr spendet – was ihr selbst nicht geboten, sondern freigestellt ist! –, dann ist es ihr allerdings geboten, auf die 10 000 € noch 50 € draufzulegen, gegeben, dass mit diesem geringen Mehraufwand von 50 € ein großer moralischer Gewinn erzielt wird. Kommt sie dieser bedingten Verpflichtung nicht nach, tut sie etwas, was falsch ist; sie fällt, wie wir sagen wollen, in ein Supererogationsloch.« (Wessels 2002, 29, Hervorhebung im Original) Die Annahme von verbotenen Handlungen innerhalb derjenigen Handlungen, die gemäß der zuständigen Ebene als moralisch richtig ausgewiesen wurden und entsprechend als erlaubt charakterisiert wurden, ist zumindest kontraintuitiv. Ob diese Intuition zu verwerfen ist, bedarf einer eigenen Untersuchung. Zweitens klammert Wessels trotz der Annahme, dass die Lobenswürdigkeit, bzw. dass die Handlung zu loben ist, das Format der Supererogation verändern könnte, diese aus ihrer Untersuchung aus (vgl. Wessels 2002, 4–5). Es wäre also zunächst zu prüfen, inwieweit die Lobenswürdigkeit tatsächlich das Format ändert. Da die Untersuchung beider Aspekte als Vorleistung zur Frage, inwieweit das Format der Supererogation von Wessels mit den hier genannten Kriterien in Einklang steht, zu weit vom eigentlichen Thema abführt, wird ihr nicht weiter nachgegangen. Konsequentialismus und besondere Pflichten
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laufen und zu versuchen, die fremde Person zu retten. Diese Handlung lässt sich auf das Prinzip »Hilf Menschen in Not!« zurückführen. Eine zweite Handlungsmöglichkeit (H2) war, dass der Akteur aufgrund der Gefahr für das eigene Leben nicht in das brennende Haus läuft. Im Folgenden wird angenommen, dass sich auch diese Handlung auf ein Prima-facie-Prinzip zurückführen lässt, und zwar auf das Prinzip »Sorge auch für dein eigenes Wohlergehen!« 191. In K7b handelt es sich demnach um einen Prima-facie-Prinzipienkonflikt, der möglichst durch die Gewichtungsregeln aufzulösen ist. Da nicht bekannt ist, ob die Rettungsaktion erfolgreich ist, kann nicht davon ausgegangen werden, dass eine der beiden Handlungen zu einem deutlich besseren Aggregationsergebnis führt. Entsprechend führt die erste Gewichtungsregel zu keiner stärkeren Gewichtung einer Handlung. Das gleiche Ergebnis ergibt sich bei den anderen Gewichtungsregeln: Gemäß den Situationsmerkmalen ist weder zu erkennen, dass jemand anderem die Rettungspflicht ursprünglich obliegt, noch dass die Handlung durch einen Dritten kompensiert wird. Entsprechend ist keine der beiden Handlungen stärker zu gewichten. 192 Daraus ergibt sich im Weiteren, dass sowohl H1 als auch H2 moralisch richtig3 sind, beide Handlungen erlaubt sind und entsprechend Handlungen von moralischem Wert sind. Ging eine der beiden Handlungen über die Pflicht hinaus? Offensichtlich trifft dies auf die Handlung H1 zu. Ins Haus zu laufen und zu versuchen, die fremde Person zu retten, war aufgrund der erlaubten Alternative nicht verpflichtend, und zugleich wurde das eigene Wohlergehen zugunsten einer anderen Person zurückgestellt. Ist die Handlung auch zu loben? Abermals lautet die Antwort: Offensichtlich ja, denn ein derartiges Beispiel dient als leuchtendes Vorbild, um andere Menschen zum moralischen Handeln zu motivieren; die Handlung zu loben ist entsprechend funktional nützlich. Demgegenüber ist die Unterlassung im Rahmen der Umstände nicht zu tadeln. Damit sind alle Kriterien einer supererogatorischen Handlung erfüllt und es lässt sich folgern, dass das Retten der fremden Person eine supererogatorische Hand-
191 Die Annahme dieses Prinzips ist unproblematisch, da es im dritten Teil im Abschnitt Die Mitte als ein zu verankerndes Prima-facie-Prinzip gerechtfertigt wird. 192 Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass im Rahmen des 15. Kapitels eine weitere Gewichtungsregel gerechtfertigt wird, die jedoch in diesem Szenario ebenso nicht zu einer unterschiedlichen Gewichtung führt. Siehe hierzu das Unterkapitel Besondere Pflichten: Familie.
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Ergebnis des 7. Kapitels
lung war und es dementsprechend auch im Multi-Ebenen-Konsequentialismus supererogatorische Handlungen geben kann.
Ergebnis des 7. Kapitels In diesem Kapitel wurde gezeigt, dass der Multi-Ebenen-Konsequentialismus die Charakterisierung von verpflichtenden, erlaubten, verbotenen und supererogatorischen Handlungen aufnehmen kann. Zum anderen lässt sich aus der Verknüpfung mit der Handlungsbewertung, also ob eine Handlung moralisch richtig oder falsch ist, zu der der gewöhnliche Akteur fähig ist, folgern, dass der individuelle Akteur zur Charakterisierung einer Handlung fähig ist. Dies bedeutet nichts anderes, als dass der Multi-Ebenen-Konsequentialismus in der realen Welt anwendbar ist.
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Kapitel 8: Eine plausible Form des Konsequentialismus?
In den vorangegangenen Kapiteln wurde gezeigt, wie die Grundstruktur des Multi-Ebenen-Konsequentialismus aussieht und nach welchen Regeln sich bestimmen lässt, ob eine Handlung erlaubt, verpflichtend, verboten oder supererogatorisch ist. Die grundlegende Struktur mit den vier Ebenen sieht wie folgt aus: Erste Ebene (Grundprinzip): Moralisch richtig1 ist eine Handlung dann, wenn es für den Akteur keine mögliche alternative Handlung gibt, die das tatsächliche Wohlergehen – verstanden im Sinne des ethischen Hedonismus – der von einer Handlung betroffenen wohlergehensfähigen Lebewesen, die gegenwärtig tatsächlich existieren, besser aggregiert. Andernfalls ist die Handlung moralisch falsch1. Zweite Ebene (Sekundärprinzip): Moralisch richtig2 ist eine Handlung dann, wenn sie gemäß der Sekundärprozedur auszuwählen ist. Andernfalls ist die Handlung moralisch falsch2. Dritte Ebene (Tertiärprinzip): Moralisch richtig3 ist eine Handlung entweder, wenn sie sich aus einem Prima-facie-Prinzip ableiten lässt und es für den Akteur keine erkennbare alternative Handlung gibt, die sich ebenso aus einem Prima-facie-Prinzip ableiten lässt und der in dieser Situation ein höheres Gewicht beizumessen ist, oder insofern sich die Handlung nicht aus einem Prima-facie-Prinzip ableiten lässt, es für den Akteur keine erkennbare alternative Handlung gibt, die sich stattdessen aus einem Prima-facie-Prinzip ableiten lässt und der erstgenannten Handlung entgegensteht. Andernfalls ist die Handlung moralisch falsch3. Vierte Ebene (Zuständigkeitsprinzip): Moralisch richtig4 ist die Entscheidung, sein Handeln an einer bestimmten Ebene auszurichten, dann, wenn sie aus der Zuständigkeitsprozedur folgt. Andernfalls ist die Entscheidung moralisch falsch4.
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Des Weiteren lässt sich festhalten, dass eine Handlung moralisch erlaubt ist, wenn sie moralisch richtig4 und gemäß der zuständigen Ebene moralisch richtig ist. Ist nur eine Handlung gemäß der zuständigen Ebene richtig, dann ist die Handlung darüber hinaus verpflichtend. Sind mehrere Handlungen moralisch erlaubt, kann die Handlung darüber hinaus supererogatorisch sein. Alle anderen Handlungen sind moralisch verboten. Mit diesen Ergebnissen ist es an der Zeit zu prüfen, ob es sich beim Multi-Ebenen-Konsequentialismus um eine plausible Form des Konsequentialismus handelt. Hierzu muss gezeigt werden, dass der Multi-Ebenen-Konsequentialismus die Kriterien von Bykvist in einem ausreichenden Maße erfüllt.
Der Multi-Ebenen-Konsequentialismus und Bykvists Kriterien Ist der Multi-Ebenen-Konsequentialismus eine plausible Form des Konsequentialismus? 193 Um diese Frage zu beantworten, müssen der Reihe nach die Kriterien von Bykvist besprochen werden. Zur Klarheit: Basiert die Theorie auf Begriffen und Konzepten, die unzweideutig sind, oder sind Begriffe und Konzepte (zu) vage? Vage sind nach Bykvist Begriffe wie »die Heiligkeit des menschlichen Lebens« 194, weil aus diesen nicht ersichtlich wird, wie sie in Fällen von Notwehr anzuwenden sind. Es kann eingewendet werden, dass der Begriff des Wohlergehens in der vorliegenden Theorie zu vage ist und sich nicht genau bestimmen lässt. Diese Kritik trägt jedoch wenig aus. Zum einen ist der durchschnittliche Akteur im Alltag durchaus in der Lage, verschiedene Handlungen hinsichtlich des eigenen und fremden Wohlergehens abzuwägen 195; zum anderen ließe sich der Begriff im Rahmen der hier vertretenen mentalen Zustandstheorie weiter präzisieren und empirisch stützen. 196 Der wohl wichtigste Punkt 193 Darüber hinaus lässt sich fragen, ob der Multi-Ebenen-Konsequentialismus im Rahmen dieser Kriterien insgesamt als eine plausible normative Theorie zu verstehen ist. Hierzu müsste ein Vergleich mit anderen normativen Theorien wie deontologischen Theorien oder Tugendethiken erfolgen. Im Rahmen dieser Ausarbeitung kann dies nicht geleistet werden. Für eine (teilweise) vergleichende Kritik im Rahmen dieser Kriterien siehe beispielsweise Bykvist 2010, 79–80. 194 Vgl. Bykvist 2010, 12. 195 Vgl. Bykvist 2010, 72–73. 196 Siehe beispielsweise Bradley 2015, 79–82.
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ist jedoch, dass vor diesem oder einem ähnlichen Problem auch nahezu alle anderen normativen Theorien stehen, da auch sie an der einen oder anderen Stelle auf das Wohlergehen einer Person zurückgreifen müssen. 197 Dass demgegenüber die Probleme der Präferenztheorie des Guten bzw. der objektiven Listentheorie nicht geringer sind, wurde bereits gezeigt. Insgesamt ist daher der Aspekt der Klarheit weitestgehend erfüllt. Zur Einfachheit: Enthält die Theorie beispielsweise unnötige und somit entbehrliche Prinzipien, Annahmen oder dergleichen? Sowohl aus der Sicht von Hares als auch von Feldmanns Zwei-Ebenen-Theorie ließe sich der Einwand vorbringen, dass der Multi-Ebenen-Konsequentialismus unnötige Ebenen beinhaltet und entsprechend verschlankt werden sollte. Insofern die Analyse allerdings richtig war, sind die Erweiterungen notwendig, um spezifische Probleme angemessen zu berücksichtigen und somit eine größtmögliche Annäherung an das optimale Aggregationsergebnis zu gewährleisten. Feldmanns Zwei-Ebenen-Theorie mit der konsequentialistischen Entscheidungsprozedur vernachlässigt Situationen, in denen sofort gehandelt werden muss und der Akteur nicht die Zeit hat, die Entscheidungsprozedur zu durchlaufen. Hares Zwei-Ebenen-Theorie stellt nicht klar genug heraus, wie in Situationen zu verfahren ist, bei denen der moralische Akteur zwar genügend Zeit zum Abwägen der Alternativen hat, jedoch nicht zum vollständigen kritischen Denken fähig ist. In beiden Theorien stellt sich zudem die Frage, wie der Akteur zur Entscheidung gelangt, gemäß welcher Ebene er sein Handeln auszurichten hat. In diesem Sinne erkaufen sich Hare und Feldman die schlankere Theorie mit Defiziten, die schwerer wiegen als die zusätzlichen Prinzipien und Ebenen. Zur Erklärungskraft und Reichweite: Bei der Darstellung des Multi-Ebenen-Konsequentialismus wurde versucht, die wesentlichen Elemente so wenig wie möglich, aber auch so weit wie nötig zu begründen, Letzteres insbesondere in Abgrenzung zu alternativen Elementen. Es kann eingewendet werden, dass dieses Verfahren eher einer Setzung als einer Begründung gleicht. In einem begrenzten Ausmaß ist dieser Einwand zutreffend. Allerdings ist diese Vorgehensweise dem Umstand geschuldet, dass es in dieser Ausarbeitung im Wesentlichen um die Frage nach besonderen Pflichten im Konsequentialismus geht und nicht um die Begründung einer speziellen 197
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Vgl. Bykvist 2010, 73.
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Form des Konsequentialismus. Letzteres hätte eine andere Arbeit erfordert. Wichtig zu sehen ist, dass eine ausführliche Begründung geliefert werden kann. Die Merkmale, die eine Handlung gemäß einer Ebene moralisch richtig machen, sind nicht neu, sondern wurden von anderen Autoren an anderer Stelle schon gerechtfertigt. Nur die Zusammensetzung dieser Teile zum Multi-Ebenen-Konsequentialismus unterscheidet sich von anderen konsequentialistischen Theorien. Daher ist davon auszugehen, dass der Aspekt der Erklärungskraft und Reichweite zwar nicht umfassend erfüllt wurde, sich aber nachreichen lässt. Zur internen Stimmigkeit: Als Einwand gegen den dargestellten Multi-Ebenen-Konsequentialismus kann vorgebracht werden, dass gemäß diesem eine Handlung moralisch richtig hinsichtlich der einen Ebene und moralisch falsch hinsichtlich der anderen Ebene sein kann und dementsprechend die interne Stimmigkeit nicht gegeben ist. Der erste Teil des Einwandes trifft zu, der zweite Teil jedoch nicht. Eine Handlung kann zwar moralisch richtig gemäß der einen Ebene und moralisch falsch gemäß der anderen Ebene sein, aber immer nur moralisch richtig oder falsch hinsichtlich derselben Ebene. Um das Kriterium der internen Stimmigkeit zu verletzen, müsste es aber entweder möglich sein, dass eine Handlung sowohl moralisch richtig als auch moralisch falsch gemäß derselben Ebene ist, oder aber dass zwei Ebenen zuständig sind, während die Handlung gemäß der einen Ebene moralisch richtig und gemäß der anderen Ebene moralisch falsch ist. Weder das eine noch das andere ist der Fall. Gemäß dem Zuständigkeitsprinzip ist für einen bestimmten Akteur immer genau eine Ebene zuständig. Gemäß den verschiedenen Ebenen können zwar mehrere Handlungen moralisch richtig oder moralisch falsch sein, aber keine Handlung kann zugleich moralisch richtig und moralisch falsch gemäß der gleichen Ebene sein. Damit ist das Kriterium der internen Stimmigkeit erfüllt. Zur moralischen Stimmigkeit: Konsequentialistischen Theorien wird häufig vorgeworfen, dass sie selbst jenen Intuitionen widersprechen, die umfassend reflektiert und ggf. angepasst wurden. Zugegebenermaßen ist dies insbesondere auf der ersten Ebene und in Teilen auch auf der zweiten Ebene auch im Rahmen des Multi-EbenenKonsequentialismus möglich. Der Multi-Ebenen-Konsequentialismus kann zwar insbesondere durch die dritte Ebene mit dem Tertiärprinzip und dem Rückgriff auf das Tertiärprinzip im Rahmen der Sekundärprozedur die Kontraintuitivität erheblich senken, jedoch Konsequentialismus und besondere Pflichten
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nicht völlig ausräumen. Hinsichtlich dieses Aspektes ist somit eine gewisse Schwäche des Multi-Ebenen-Konsequentialismus einzuräumen. Allerdings ist dies eher ein allgemeines Problem des Konsequentialismus, das nur unter sehr hohen Kosten vermieden werden kann. 198 Damit ist dieser Aspekt zwar insbesondere für den Vergleich verschiedener Theorietypen, wie der kantischen oder kontraktualistischen Ethik, bedeutsam, aber nicht im gleichen Maße für den Vergleich mit anderen konsequentialistischen Theorien, weil diese, wie gezeigt, entweder das gleiche Problem haben, häufig sogar in stärkerem Ausmaß, oder sich bei der Auflösung dieses Problem andere schwerwiegende Probleme einhandeln. Somit lässt sich folgern, dass das Kriterium der moralischen Stimmigkeit zwar nicht optimal, aber noch immer ausreichend erfüllt ist. Auf der theoretischen Ebene gibt es demnach nichts, was gegen den Multi-Ebenen-Konsequentialismus als plausible Form des Konsequentialismus spricht. Somit bleibt die praktische Ebene zu untersuchen. Liefert der Multi-Ebenen-Konsequentialismus eine Vorschrift, der man folgen kann? Durch das Durchlaufen der Zuständigkeitsprozedur erhält der moralische Akteur eine Auskunft darüber, welche Ebene für ihn in der jeweiligen Situation zuständig ist. Diese Ebenen geben jeweils mindestens eine Handlung aus, die moralisch richtig ist. Anhand dieses Ergebnisses kann der moralische Akteur ermitteln, welche Handlung erlaubt, verpflichtend, verboten oder supererogatorisch ist. Letztlich kann er sein Handeln an dieser Charakterisierung ausrichten. Somit liefert der Multi-Ebenen-Konsequentialismus eine Vorschrift, der man folgen kann. Gegen diese Mehrstufigkeit – und insbesondere gegen die verschiedenen Ebenen mit der Aufspaltung der moralischen Richtigkeit – lässt sich ein Einwand vorbringen, der bereits von Bernard Williams gegen Hares Zwei-Ebenen-Theorie vorgebracht wurde, nämlich dass eine derartige Unterscheidung psychologisch nicht durchzuhalten ist. 199 Obwohl im Gegensatz zu Hares Zwei-Ebenen-Theorie eine weitere Ebene hinzugekommen ist, kann davon ausgegangen werden, dass der Einwand bezüglich des Multi-Ebenen-Konsequentialismus 198 Man vergleiche beispielsweise die Analyse des Satisficing-Konsequentialismus oder des Common-Sense-Konsequentialismus. 199 Vgl. Williams in Seanor. Zu Hares eigener Antwort auf diese Kritik siehe Hare 1995, 24.
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schwächer ist als bei Hares Zwei-Ebenen-Theorie. Der wesentliche Unterschied besteht darin, dass das intuitive Denken nicht derart vom kritischen Denken aufgerieben wird, wie dies bei Hares ZweiEbenen-Theorie der Fall ist. Wie mehrfach dargestellt, liefert zwar das Grundprinzip eine Antwort darauf, welche Handlung unter Berücksichtigung aller relevanten Faktoren moralisch richtig ist, allerdings ist das Grundprinzip für die reale Welt nahezu irrelevant. Geeignet ist es lediglich zur Diskussion von konstruierten Szenarien und als Begründung des Sekundär- und Tertiärprinzips. Damit ist aber der Einfluss auf die Intuitionen bzw. auf die psychologische Unterscheidung, wie es Williams ausdrückt, begrenzt. Es mag argumentiert werden, dass dafür das Sekundärprinzip zu einer Aufreibung der Ebenen führt, weil dieses einen Großteil der Arbeit übernimmt, die bei Hare durch das kritische Denken geleistet wird. Doch auch dies ist aufgrund der Konstruktion der zweiten Ebene mit dem Sekundärprinzip wenig plausibel, da das Sekundärprinzip wie dargestellt vor allem eine qualifizierte Vorauswahl von Handlungen trifft, die dann im Sinne des Tertiärprinzips bewertet werden. Benötigt die Theorie zu viele Informationen oder Informationen, die für den Akteur schwierig zu erhalten sind? Zugegebenermaßen benötigt der moralische Akteur für ein Handeln gemäß der ersten Ebene Informationen, die ihm in der realen Welt nicht zur Verfügung stehen. Das heißt, die erste Ebene mit ihrem Grundprinzip ist für den realen Akteur praktisch irrelevant. Durch die Zuständigkeitsprozedur erfährt der Akteur allerdings, gemäß welcher Ebene er, unter anderem auf der Basis der ihm zur Verfügung stehenden Informationen, stattdessen zu handeln hat. Zwar bedarf auch die Bestimmung des epistemischen Erwartungsnutzens im Rahmen der Sekundärprozedur einer erheblichen Menge an Informationen, allerdings führt dies nicht wie beim Grundprinzip zur Nichtanwendbarkeit des Prinzips. Insofern der Akteur nicht für jede relevante Handlungsalternative den epistemischen Erwartungsnutzen bzw. den relationalen Wert bestimmen kann, kann er auf einen Auswahlmechanismus zurückgreifen, der so gut wie keiner weiteren Informationen bedarf. Oder anders ausgedrückt: Die Theorie passt sich den zur Verfügung stehenden Informationen des individuellen Akteurs an. Somit lässt sich folgern, dass der Multi-Ebenen-Konsequentialismus nicht zu viele Informationen oder Informationen, die für den Akteur schwierig zu erhalten sind, benötigt. Benötigt die Theorie ein Maß an Berechnung, das die Fähigkeit Konsequentialismus und besondere Pflichten
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des gewöhnlichen Akteurs übersteigt? Im Wesentlichen ist diese Frage genauso zu beantworten wie die vorangegangene. Hinsichtlich der ersten Ebene übersteigt die notwendige Berechnung tatsächlich die Fähigkeit des gewöhnlichen Akteurs. Ebenso kann die Berechnung des epistemischen Erwartungsnutzens bzw. des relationalen Werts die Fähigkeit des gewöhnlichen Akteurs übersteigen. Doch in den Fällen, in denen die Fähigkeiten überschritten werden, sind die entsprechenden Berechnungen nicht erforderlich. Es ist immer genau jene Ebene zuständig, die den Fähigkeiten des jeweiligen Akteurs entspricht. Werden unrealistisch hohe motivationale Kapazitäten benötigt? Zweifelsohne ist der Multi-Ebenen-Konsequentialismus fordernd. Dies gilt insbesondere dann, wenn das Sekundärprinzip zuständig ist und einige favorisierte Handlungen durch den epistemischen Erwartungsnutzen aussortiert werden. Ob er auch überfordernd ist bzw. unrealistisch hohe motivationale Kapazitäten erfordert, kann an dieser Stelle noch nicht abschließend beantwortet werden, weil dies unter anderem von der Zurückweisung des Besondere-Pflichten-Einwandes abhängt. Mit Blick auf die bereits dargestellte Diskussion der Internalisierungskosten sei allerdings an dieser Stelle vorweggenommen, dass im Multi-Ebenen-Konsequentialismus Prinzipien zu verankern sind, die zumindest in wesentlichen Teilen verhindern, dass eine unrealistisch hohe motivationale Kapazität benötigt wird. Auch hier gilt wieder, dass sich der Multi-Ebenen-Konsequentialismus zumindest zum Teil an die motivationalen Fähigkeiten des individuellen Akteurs anpasst. Insbesondere im Set der Prima-facie-Prinzipien, die für den moralischen Akteur im Alltag relevant sind, sind aber vor allem jene Prinzipien verankert, die sich auch in anderen nicht-konsequentialistischen Theorien wiederfinden und die nicht als überfordernd gelten. Daher ist erneut davon auszugehen, dass der MultiEbenen-Konsequentialismus keine unrealistisch hohen motivationalen Kapazitäten des Akteurs voraussetzt.
Ergebnis des 8. Kapitels Damit lässt sich das Ergebnis des 8. Kapitels zusammenfassen. Zunächst einmal lässt sich feststellen, dass der hier diskutierte MultiEbenen-Konsequentialismus Bykvists Kriterien deutlich besser erfüllt als die verschiedenen konsequentialistischen Theorien, die im 210
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Ergebnis des 8. Kapitels
3. Kapitel zurückgewiesen wurden. Natürlich ist auch der Multi-Ebenen-Konsequentialismus keine optimale Theorie in dem Sinne, dass er alle Kriterien von Bykvist vollumfänglich erfüllt. Als problematisch erachtet werden können beispielsweise einige Aspekte hinsichtlich der moralischen Stimmigkeit oder aber der Nicht-Anwendbarkeit des Grundprinzips. Allerdings ist beispielsweise das Problem der moralischen Stimmigkeit ein grundsätzliches Problem konsequentialistischer Theorien, das nur unter Inkaufnahme anderer Probleme ausgeräumt werden kann, und die Nicht-Anwendbarkeit des Grundprinzips in der realen Welt wird durch das Sekundär- und Tertiärprinzip aufgewogen. Insgesamt lässt sich daher festhalten, dass der Multi-Ebenen-Konsequentialismus eine plausible Form des Konsequentialismus ist.
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Teil 3: Anwendung
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Kapitel 9: Besondere Pflichten im Multi-Ebenen-Konsequentialismus
Nachdem im vorangegangenen Teil eine plausible Form des Konsequentialismus, der Multi-Ebenen-Konsequentialismus, gerechtfertigt wurde, kann in den folgenden Kapiteln die Untersuchung fortgesetzt werden, inwieweit sich besondere Pflichten bzw. die drei Intuitionen, auf denen der Besondere-Pflichten-Einwand basiert, in dieser Form des Konsequentialismus aufnehmen lassen. Die erste Aufgabe dieses Kapitels besteht darin, darzustellen, inwieweit sich die im 3. Kapitel aufgeführten theorieübergreifenden Anpassungen im vorliegenden Multi-Ebenen-Konsequentialismus anwenden lassen. Die zweite Aufgabe besteht in der Rechtfertigung einer ersten Gruppe von Prima-facie-Prinzipien, deren korrelierende Pflichten sich als besondere Pflichten verstehen lassen. In den folgenden Kapiteln wird dann anhand konkreter Beziehungen diskutiert, zu welchen weiteren besonderen Pflichten bzw. korrelierenden Prinzipien die jeweiligen Argumente führen.
Die Rechtfertigung der Parteilichkeit aus der Unparteilichkeit Welche theorieübergreifenden Elemente lassen sich im Multi-Ebenen-Konsequentialismus anwenden? Ein erstes zentrales Element zur Rechtfertigung besonderer Pflichten bzw. gerechtfertigter Parteilichkeit besteht im Kontext von Barons Hinweis, dass sich die Unparteilichkeit nicht auf jeder Ebene widerspiegeln muss, sondern dass es ausreicht, wenn sich die Prinzipien der niederen Ebenen aus der Unparteilichkeit rechtfertigen lassen. Der vorliegende Multi-EbenenKonsequentialismus liefert insbesondere mit seinem Tertiärprinzip einen sinnvollen Rahmen für eine entsprechende Rechtfertigung. Welche Prinzipien, deren Korrelate sich als besondere Pflichten verstehen lassen, auf der dritten Ebene genau zu rechtfertigen sind, ergibt sich wiederum aus dem bereits dargestellten Argument der EffiKonsequentialismus und besondere Pflichten
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zienz und dem Argument der menschlichen Natur. Während die Kernaspekte hinsichtlich des Arguments der menschlichen Natur bereits im 3. Kapitel ausreichend erläutert wurden und im Folgenden nur auf das Tertiärprinzip angewendet werden müssen, bietet es sich an, das Argument der Effizienz genauer zu fassen bzw. verschiedene Aspekte dieses Argumentes genauer herauszuarbeiten. Vorab ist jedoch folgender Hinweis hinsichtlich des Sekundärprinzips sinnvoll: Da auch das Sekundärprinzip bei Handlungen, bei denen nicht eine einzige Handlung den höchsten epistemischen Erwartungsnutzen bzw. relationalen Wert hat, auf das Tertiärprinzip zurückgreift, lassen sich die Ergebnisse des Tertiärprinzips überwiegend auf das Sekundärprinzip übertragen. Ergänzen ließe sich dies durch Jacksons Argumente im Rahmen seines entscheidungstheoretischen Ansatzes. Da die jeweilige Berechnung aber wiederum vom Argument der Effizienz und dem Argument der menschlichen Natur abhängt und keine weiteren Prinzipien innerhalb dieser Ebene zu verankern sind, sondern die Berechnung anhand der konkreten Situationsdetails erfolgen muss, wird im Folgenden darauf verzichtet, die Parteilichkeit bzw. die besonderen Pflichten, die sich auf dieser Ebene rechtfertigen lassen, gesondert zu besprechen. Stattdessen wird angenommen, dass im Wesentlichen die gerechtfertigte Parteilichkeit bzw. die besonderen Pflichten im Rahmen des Sekundärprinzips von den Ergebnissen des Tertiärprinzips abhängen.
Argument der menschlichen Natur Wie dargestellt ist es nicht das Ziel, die Diskussion um das Argument der menschlichen Natur an dieser Stelle zu wiederholen. Die wichtigsten Aspekte wurden bereits im 3. Kapitel bei den theorieübergreifenden Anpassungen dargestellt. Dem ist nichts hinzuzufügen. Stattdessen geht es darum, die zentralen Aspekte zusammenzufassen und zu umreißen, zu welchen Prinzipien diese hinsichtlich der besonderen Pflichten im Multi-Ebenen-Konsequentialismus führen. Der zentrale Ausgangspunkt des Arguments der menschlichen Natur war Cottinghams Feststellung, dass Menschen für gewöhnlich nicht zu einer starken Unparteilichkeit im Sinne des Grundprinzips fähig sind und dass persönliche Bindungen zu anderen, die wiederum mit einer notwendigen Parteilichkeit einhergehen, zur menschlichen Natur gehören. Mit Scheffler konnte ergänzt werden, dass der 216
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Argumente der Effizienz
Mensch als soziale Kreatur nur mit diesen Beziehungen seine Erfüllung findet, oder anders gesagt, dass es dem moralischen Akteur ohne diese persönlichen Beziehungen nicht möglich ist, sich dem optimalen Aggregationsergebnis größtmöglich anzunähern. Diese Aspekte sind nun für die Frage, welche Prima-facie-Prinzipien zu verankern sind, relevant. Denn auf der einen Seite wird aufgrund der hohen Internalisierungs- und Folgekosten die Verankerung von Prinzipien, die diesen Bindungen allzu sehr entgegenstehen, verhindert bzw. ineffektiv, und zum anderen lässt sich aufgrund des positiven Einflusses persönlicher Beziehungen ein entsprechendes Prinzip der Parteilichkeit rechtfertigen: Wenn soziale Beziehungen einen erheblichen positiven Einfluss auf den individuellen Akteur haben und eine größtmögliche Annäherung an das optimale Aggregationsergebnis ohne entsprechende Beziehungen nicht erreicht werden kann, dann ist es für eine größtmögliche Annäherung an das optimale Aggregationsergebnis notwendig, dass ein Akteur solche Beziehungen kultiviert und pflegt. Entsprechend ist das folgende Prima-facie-Prinzip zu verankern: –
Kultiviere und pflege gute Beziehungen!
Offen müssen an dieser Stelle die Fragen bleiben, welche Beziehungen als gute Beziehungen zu gelten haben und wozu dieses Prinzip genau verpflichtet bzw. berechtigt. Diesen Fragen wird in den folgenden Kapiteln nachgegangen.
Argumente der Effizienz Während die Kernaspekte des Arguments der menschlichen Natur bereits im 3. Kapitel dargestellt wurden, bedarf das Argument der Effizienz einer Ergänzung. Im Folgenden wird gezeigt, dass es sich bei diesem Argument im Grunde genommen nicht um ein einziges Argument handelt, sondern um ein Bündel von Argumenten. Während einige Argumente wie das Argument der moralischen Arbeitsteilung traditionell als Effizienzargument verstanden werden, mag die Zuordnung anderer Argumente wie des Arguments der Reziprozität und der Dankbarkeit oder des Arguments der Rollenerwartung als Effizienzargumente überraschen. Dennoch ist eine solche Zuordnung im Rahmen einer konsequentialistischen Theorie sinnvoll. Im Folgenden werden die einzelnen Argumente der Effizienz dargestellt Konsequentialismus und besondere Pflichten
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und auf die Frage hin untersucht, ob aus ihnen direkt Prima-faciePrinzipien abzuleiten sind oder ob sich diese ggf. erst mit Bezug auf bestimmte Beziehungen ergeben.
Argument der moralischen Arbeitsteilung Das voraussichtlich meistdiskutierte Effizienzargument ist das Argument der moralischen Arbeitsteilung. Im Kern besagt es, dass es bei bestimmten Angelegenheiten effizienter ist, Aufgaben an bestimmte Personen zu delegieren, und dass diese Personen dann in gewissen Grenzen die vorrangige Pflicht haben, diese Aufgabe zu erfüllen. Das Argument der moralischen Arbeitsteilung kann in einer allgemeinen und in einer spezifischen Form vorgebracht werden. In der allgemeinen Form besagt es, dass es in der Regel effizienter ist, wenn eine bestimmte Aufgabe irgendjemandem zugewiesen wird. Wenn ein Kind in einem kleinen Badesee zu ertrinken droht, um den zwanzig Menschen stehen, die alle dazu in der Lage sind, das Kind zu retten, wäre es weder effizient, wenn alle zwanzig Personen in den Teich springen und versuchen das Kind zu retten, noch wenn niemand in den Teich springt, weil niemand sich dafür als zuständig ansieht. Effizient wäre es, wenn einer bestimmten Person die Aufgabe zufällt, das Kind zu retten. Im Rahmen der spezifischen Form lässt sich dann die Frage stellen, wem genau diese Aufgabe zufällt. 1 Allerdings ist die Reichweite des Arguments der moralischen Arbeitsteilung mit Blick auf die gegenwärtigen technischen Möglichkeiten deutlich begrenzter als noch wenige Jahrhunderte zuvor. Dem gewöhnlichen moralischen Akteur in der westlichen Welt ist beispielsweise das Problem der absoluten Armut nicht unbekannt, und über das Internet kann er sich schnell über Methoden der nachhaltigen Hilfe informieren und sie in die Wege leiten. 2 Dem lässt sich entgegenhalten, dass es sich bei der moralischen Arbeitsteilung hinsichtlich der Unsrigen um gänzlich andere Güter handelt, beispielsweise Zeit und emotionales Engagement, als jene, die hinsichtlich der absoluten Armut benötigt werden. Auch sind die Personen, mit denen die engen Beziehungen gepflegt werden, nicht einfach durch andere Per-
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Vgl. Shaw 1999, 270–271 und nochmals Sidgwick 1981, 434. Vgl. Murphy 2011, 1027.
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Argumente der Effizienz
sonen ersetzbar. Der Verlust des eigenen Kindes kann nicht dadurch kompensiert werden, dass ein gleichaltriges Kind gerettet und adoptiert wird. In diesem Sinne sind es ganz bestimmte Personen, die einen besonderen Einfluss auf das individuelle Wohlergehen haben und denen dementsprechend die moralische »Arbeitslast« zukommt. 3 Mit Hooker lässt sich festhalten: Consequentialists who hold that deep attachments among family members and friends are themselves partly constitutive of a person’s good have a very strong reason for thinking any good moral code must protect and promote such attachments. This will require leaving some space for the attendant partiality to operate. 4
Allerdings stellen sich zwei Probleme. Erstens gibt es – entgegen der dargestellten Behauptung – relevante Überschneidungen der notwendigen Ressourcen. So müssen die finanziellen Mittel für den Kampf gegen absolute Armut zunächst erwirtschaftet werden. Diese Erwirtschaftung nimmt jedoch einen erheblichen Teil der zur Verfügung stehenden Zeit eines individuellen Akteurs in Anspruch, der dann nicht mehr für die Seinigen eingesetzt werden kann. Zweitens: Wenn Familie und Freunde einen erheblichen Anteil am individuellen Wohlergehen haben, dann gilt das nicht nur für den moralischen Akteur, der sich ggf. gegen absolute Armut einzusetzen hat, sondern auch für all jene, die von absoluter Armut betroffen sind. Jeder Verlust, den diese Menschen erleiden, hat das gleiche Gewicht wie der Verlust, den der individuelle Akteur erleiden würde. Diese Gegenüberstellung macht deutlich, dass das Argument der moralischen Arbeitsteilung als isoliertes Argument nicht ausreicht, um substanzielle besondere Pflichten in einer konsequentialistischen Theorie zu rechtfertigen.
Freier Zusammenschluss zu Kooperationsvereinigungen Ein weiteres Effizienzargument ist jenes des (berechtigten) freien Zusammenschlusses zu Kooperationsvereinigungen. Die dahinterstehende Idee wurde von Weitner treffend formuliert:
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Vergleiche auch Goodins Prinzip des Schutzes der Verwundbaren. Hooker 2000, 140.
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Ein Handelnder hat nicht nur als Individuum einen potentiellen Einfluss auf das Wohlergehen Dritter, sondern auch als Teil einer Gruppe. Als Einzelperson mag er in vielen Fällen nicht in der Lage sein, das Wohlergehen Dritter nennenswert zu befördern, da seine persönlichen Ressourcen wie Zeit, Arbeitskraft, Geld und Belastbarkeit begrenzt sind. Im Verbund mit anderen kann der Handelnde das Wohlergehen Dritter allerdings in einem Maße positiv beeinflussen, wie es ihm allein niemals möglich wäre. Dieser synergistische Effekt kommt zustande, indem die persönlichen Ressourcen jedes Einzelnen innerhalb der Gruppe gebündelt werden. 5
Da das Erreichen etwaiger Ziele in derartigen Kooperationsvereinigungen zu einer Annäherung an das optimale Aggregationsergebnis führen kann und diese Ziele nur durch derartige Kooperationsvereinigungen erreichbar sind, ist der Zusammenschluss zu Kooperationsvereinigungen aus einer unparteiischen Perspektive gerechtfertigt. Damit derartige Zusammenschlüsse aber erfolgreich sein können, müssen die Mitglieder zu einem bestimmten Grad parteiisch handeln, nämlich im Interesse der Gruppe. Würden die einzelnen Akteure stattdessen in jeder Situation versuchen, das Wohlergehen unparteiisch zu maximieren, könnte das gemeinsame Ziel nicht erreicht werden. Dann ginge nicht nur das Erreichen des eigentlichen Zieles verloren, sondern auch die bereits investierte Zeit und das emotionale Engagement, das stattdessen für andere Ziele hätte verwendet werden können. Lässt sich aus der Nützlichkeit des freien Zusammenschlusses zu Kooperationsvereinigungen direkt ein entsprechendes Prima-faciePrinzip rechtfertigen? Dieses müsste dann in etwa »Schließe dich mit anderen Akteuren zu Kooperationsvereinigungen zusammen!« lauten. Doch Kooperationsvereinigungen, die sich nur um des Zusammenschließens willen zusammenschließen, werden kaum zu einer Annäherung an das optimale Aggregationsergebnis führen. Denn ihnen fehlt ein gemeinsames Ziel, dessen Erfüllung die positiven Effekte auf das individuelle Wohlergehen haben. Daher ist in den folgenden Kapiteln genauer zu untersuchen, bei welchen Kooperationsvereinigungen ein gemeinsames Ziel vorhanden ist und dementsprechend der Zusammenschluss und die damit einhergehende Parteilichkeit gerechtfertigt sind.
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Weitner 2013, 141, vgl. auch Goodin 1985, 137–138.
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Argumente der Effizienz
Selbstauferlegte Verpflichtungen Insbesondere selbst auferlegte Verpflichtungen zu anderen, wie Familienmitgliedern oder Freunden, sind es, die dem Leben einen Sinn geben und damit einen wesentlichen Beitrag zum Wohlergehen einer Person leisten. 6 Das Erfüllen selbst auferlegter Verpflichtungen führt zu einer Vertiefung und Festigung der Beziehung. Solche Beziehungen sind wie dargestellt für das Wohlergehen der Menschen bedeutsam. 7 Neben informellen selbstauferlegten Verpflichtungen, wie dem Eingehen einer Beziehung, gibt es explizite selbstauferlegte Verpflichtungen, wie das Geben eines Versprechens. Neben der Möglichkeit, die Beziehung zu vertiefen, haben Versprechen eine weitere wichtige Funktion: So too with promising: it enables others to form firm expectations about your behavior. […] What makes promises special is not so much that they represent a voluntary act of will on your part but rather that the expectations about your behavior thereby engendered from crucial components in the plans of others. 8
Der nutzbringende Effekt von selbstauferlegten Verpflichtungen wie dem eines Versprechens liegt insbesondere in der koordinierenden Wirkung und den damit eingesparten Koordinationskosten. Doch dieser Effekt kann nur dann eintreten, wenn sich andere darauf verlassen können, dass die selbstauferlegten Verpflichtungen eingehalten werden. 9 Hierfür ist eine gewisse Parteilichkeit notwendig, die beispielsweise den Versprechensgeber davon entbindet, alle Alternativen völlig unparteiisch abzuwägen. 10
Vgl. beispielsweise Keller 2013, 43–44. Vgl. auch Brighouse und Swift 2006, 89–90. 8 Goodin 1985, 44. 9 Vgl. auch Scheffler 2001, 61. 10 Eine wichtige Frage lautet, inwieweit die eingegangenen Verpflichtungen selbst (moralisch) legitim sind. Das Versprechen, einen Freund im Krankenhaus zu besuchen, ist sicherlich anders zu bewerten als das Versprechen, einen Gegenspieler dieses Freundes krankenhausreif zu schlagen. Im Folgenden wird nicht weiter untersucht, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit eine selbst eingegangene Verpflichtung (moralisch) legitim ist – eine Diskussion findet sich in Macleod 2012. Unabhängig davon, wie eine derartige Bedingung im Detail aussehen mag, wird im Folgenden davon ausgegangen, dass diese Bedingung jeweils erfüllt ist. 6 7
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Wichtig zu berücksichtigen sind auch die motivationalen Aspekte, die mit selbstauferlegten Verpflichtungen einhergehen. Unter sonst gleichen Bedingungen ist für gewöhnlich die Motivation, selbstauferlegte Verpflichtungen zu erfüllen, deutlich größer als die Motivation, Verpflichtungen zu erfüllen, die einem durch externe Umstände zugefallen sind. Daher wird es in vielen Fällen effizienter sein, wenn der moralische Akteur seine Zeit und Energie auch dann in die Erfüllung selbstauferlegter Verpflichtungen investiert, wenn die erreichbare Wohlergehensaggregation geringer ist als bei externen Zielen, zu denen er keine Verbindung hat. Mit Shaws Worten: [I]t is better to pursue a lesser goal toward which one is inclined and which one is, thus, more likely to accomplish than to aim at an objectively greater good that one will probably fail to achieve for want of perseverance. 11
Aus der dargestellten Nützlichkeit, die selbstauferlegte Verpflichtungen mit sich bringen, lässt sich ein weiteres Prima-facie-Prinzip rechtfertigen: –
Erfülle deine freiwillig eingegangenen Verpflichtungen!
Wie sich in den folgenden Kapiteln zeigen wird, ist eine Pointe der selbstauferlegten Verpflichtungen, dass diese insbesondere gegenüber Personen eingegangen werden, die einem sozial nahestehen.
Zugeschriebene Rollen und einhergehende Erwartungen Ein zentrales Merkmal des menschlichen Lebens ist die Übernahme bestimmter sozialer Rollen wie die des Vaters, der Tochter, der Freundin, des Arbeitskollegen usw. Unabhängig davon, ob diese Rollen freiwillig übernommen oder zugeschrieben werden, gehen damit bestimmte Erwartungen an den Rollenträger einher. 12 Zwar variieren diese Erwartungen nicht nur von Rolle zu Rolle, sondern auch innerhalb gleicher Rollen, aber an jeden Rolleninhaber werden ganz bestimmte Erwartungen gerichtet, deren Erfüllung oder eben Nicht-Erfüllung wohlergehensrelevant ist:
11 12
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Shaw 1999, 278–279. Vgl. Löschke 2015, 363 und Hardimon 1994, 358.
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Argumente der Effizienz
Finally, in our society, at least, people expect their loved ones to act with special consideration for their interests, and will be hurt and disappointed if they do not. 13
Natürlich sind nicht alle Erwartungen berechtigt und es kann auch langfristig effizienter sein, einige Erwartungen zu enttäuschen. So wie die menschliche Gemeinschaft funktioniert, wird es jedoch nicht möglich bzw. wohlergehensfördernd sein, alle Rollenerwartungen zu vermeiden. Bei vielen Rollenerwartungen ist dies auch gar nicht wünschenswert, weil sie berechtigt sind bzw. sich unparteiisch begründen lassen, so zum Beispiel die Erwartung, dass der Rettungsschwimmer unparteiisch all jene, die in seinem Aufgabenbereich in Not geraten, zu retten versucht. Der für diese Untersuchung zentrale Aspekt der Rollenerwartung ist, neben dem direkten Einfluss auf das individuelle Wohlergehen, die koordinierende Wirkung, die mit den Rollenerwartungen einhergeht. Hinsichtlich des Koordinationsaufwandes ist es sehr effizient, wenn mit bestimmten Rollen, deren Übernahme nicht vermieden werden kann oder die freiwillig übernommen wurden, bestimmte Erwartungen einhergehen, die sowohl dem Rollenträger als auch denjenigen, die mit dem Rollenträger interagieren, bekannt sind. Durch eine streng unparteiische Abwägung jeder einzelnen Handlung droht diese Koordinierungswirkung allerdings zu verpuffen. Dies gilt insbesondere bei Rollen, die dem moralischen Akteur (in diesem Moment) unliebsam sind, wodurch voraussichtlich der Wert der koordinierenden Wirkung unterschätzt wird und in der Folge häufiger als angemessen die Erwartungen, die mit diesen Rollen einhergehen, enttäuscht werden. Doch damit verschwindet nicht nur die koordinierende Wirkung, sondern es kommt auch zu den von Shaw herausgestellten Enttäuschungen und Schmerzen, insbesondere bei den engsten Vertrauten. Aus diesen Gründen lässt sich ein weiteres Prima-facie-Prinzip rechtfertigen: –
13
Erfülle die Erwartungen, die mit deinen übernommenen Rollen einhergehen!
Shaw 1999, 271. Siehe auch Sidgwick 1981, 439.
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9 · Besondere Pflichten im Multi-Ebenen-Konsequentialismus
Reziprozität und Dankbarkeit Weitere wichtige Effizienzaspekte lassen sich bezüglich der Reziprozität und der Dankbarkeit herausarbeiten. Allgemein ist unter dem Reziprozitätsargument zu verstehen, dass von einem Akteur A gefordert ist, ein von B empfangenes Gut angemessen zu erwidern. 14 Innerhalb einer konsequentialistischen Theorie lässt es sich mit Bezug auf besondere Pflichten folgendermaßen verstehen: Stabile soziale Beziehungen sind von einem Geben und Nehmen geprägt. Gerät dieses Verhältnis in ein deutliches Missverhältnis, wird sich dies früher oder später negativ auf die Beziehung auswirken und ggf. zu einem Beziehungsabbruch führen. Da aber gesunde soziale Beziehungen für eine größtmögliche Annäherung an das optimale Aggregationsergebnis von zentraler Bedeutung sind, ist es häufig sehr effizient, sich vorrangig darum zu kümmern, dass es nicht zu diesem Missverhältnis kommt. Diese Reziprozität fordert von jedem Akteur ein gewisses Maß an Engagement, das häufig zu einer bestimmten Zeit zu erbringen ist und somit die Ressourcen von anderen Zielen abzieht. Dabei muss nicht immer alles ausgeglichen werden, was empfangen wurde. Dies ist zum Teil auch gar nicht möglich, wie zum Beispiel in ElternKind-Beziehungen, bei denen es ein starkes Ungleichgewicht bezüglich der Möglichkeiten des Gebens gibt. Manchmal ist es auch schlichtweg unangemessen, in den reziproken Tausch zu gehen, weil dadurch eine Wohltat eines anderen zunichte gemacht wird. 15 An diesen Stellen kommt häufig die Dankbarkeit ins Spiel. Indem du deine Dankbarkeit zeigst, machst du deutlich, dass du die Bemühungen deines Wohltäters anerkennst und würdigst, seine Zeit und Energie als wertvoll ansiehst und seine Anstrengungen nicht als etwas Selbstverständliches betrachtest. 16
Der Dank ist eine spezielle Form des Wiedergebens. Er zeigt, dass das Gegebene angenommen und wertgeschätzt wird. 17 Dabei kann der Dank unterschiedliche Formen annehmen, die unterschiedliche Ressourcen beanspruchen. Letztlich ist der Effekt des Dankens ein doppelter: Zum einen entsteht bei demjenigen, dem der Dank entgegengebracht wird, das angenehme Gefühl, wertgeschätzt zu werden, und 14 15 16 17
224
Vgl. Weitner 2013, 252. Goodin 1985, 106–107. Keller 2015, 236. Vgl. Lemke 2000, 123.
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Ergebnis des 9. Kapitels
zum anderen wird dadurch (voraussichtlich) die zukünftige Bereitschaft erhöht, sich in schwierigen Zeiten verstärkt füreinander einzusetzen. Insgesamt lässt sich somit folgern, dass sowohl der reziproke Tausch als auch der Dank innerhalb einer konsequentialistischen Theorie effiziente Mittel zur Annäherung an das optimale Aggregationsergebnis darstellen. Dementsprechend ist das folgende Primafacie-Prinzip zu verankern: –
Erwidere in angemessener Weise Erhaltenes! 18
Ergebnis des 9. Kapitels Mit Hilfe des Argumentes der menschlichen Natur und der verschiedenen Effizienzargumente konnten in diesem Kapitel die folgenden Prima-facie-Prinzipien gerechtfertigt werden: – – – –
Kultiviere und pflege gute Beziehungen! Erfülle deine freiwillig eingegangenen Verpflichtungen! Erfülle die Erwartungen, die mit deinen übernommenen Rollen einhergehen! Erwidere in angemessener Weise Erhaltenes!
Die Aufgabe der folgenden Kapitel besteht zum einen darin, diese Prinzipien inhaltlich zu präzisieren, beispielsweise welche Beziehungen als gute Beziehungen zu verstehen sind. Zum anderen muss die Frage geklärt werden, welche weiteren Prima-facie-Prinzipien, deren korrelierende Pflichten sich als besondere Pflichten verstehen lassen, aus den dargestellten Argumenten mit Blick auf bestimmte Beziehungen folgen. Es mag eingewendet werden, dass die entsprechenden Reziprozitäts- und Dankbarkeitspflichten bereits im Prinzip »Kultiviere und pflege gute Beziehungen!« enthalten sind. Denn insofern der Reziprozitäts- oder Dankbarkeitspflicht nicht nachgekommen wird, wird dies auf lange Sicht die Beziehung destabilisieren. Dementsprechend kann nicht von einer Beziehungspflege die Rede sein. Allerdings darf nicht vernachlässigt werden, dass man auch Wohltätigkeiten von Menschen erhalten kann, die (noch) nicht in die Kategorie der guten Beziehungen fallen. Da die entsprechende Primafacie-Pflicht, Erhaltenes in angemessener Weise zu erwidern, auch diesen gegenüber besteht, kann nicht davon ausgegangen werden, dass das Prinzip »Erwidere in angemessener Weise Erhaltenes!« mit dem Prinzip »Kultiviere und pflege gute Beziehungen!« zusammenfällt.
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Kapitel 10: Individueller Akteur
Um ein angemessenes Verständnis des moralisch strukturierten Raums zu gewinnen, ist es nicht nur notwendig, zu untersuchen, welche Pflichten der individuelle Akteur gegenüber anderen Menschen hat, zu denen er in einer besonderen Beziehung steht, sondern auch, ob er Pflichten gegen sich selbst hat. Gewissermaßen ist jene Beziehung, die der moralische Akteur zu sich selbst hat, diejenige Beziehung, die durch die größtmögliche Nähe gekennzeichnet ist. In Bezug auf die dargestellten Argumente der Effizienz besteht jedoch ein relevanter Unterschied zu anderen Beziehungen. Offensichtlich lassen sich einige Effizienzargumente prinzipiell nicht hinsichtlich der Beziehung zu sich selbst anwenden. So lässt sich weder sinnvoll davon sprechen, dass der Akteur mit sich selbst eine freiwillige Kooperationsvereinigung eingeht, noch dass er in einen reziproken Tausch eintritt oder an sich selbst Rollenerwartungen stellt, die er aufgrund der koordinierenden Wirkung zu erfüllen hat. Aus dem dargestellten Set an Argumenten sind daher nur die Argumente bezüglich der menschlichen Natur, der moralischen Arbeitsteilung und der selbstauferlegten Verpflichtungen relevant.
Anwendung der Argumente Argument der menschlichen Natur Wie bereits dargestellt sind die menschlichen Fähigkeiten, dem Egoismus zu entgehen, begrenzt. 19 Zwar ist nicht davon auszugehen, dass es sich dabei um eine feste Grenze handelt, doch zumindest um eine Grenze, die sich ab einem gewissen Punkt immer schwieriger verSiehe den Abschnitt Argument der menschlichen Natur und hier insbesondere die zitierten Textstellen von Mackie und Hooker. Vgl. aber auch Double 1999, 149–151.
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Anwendung der Argumente
schieben lässt. Damit wird abermals relevant, was bereits zu den Implementierungskosten in der ersten Besprechung des Arguments der menschlichen Natur dargestellt wurde: Die Kosten für die Verankerung von Prima-facie-Prinzipien im Sinne einer starken Unparteilichkeit sind voraussichtlich zu hoch. Entsprechend sind Prima-faciePrinzipien zu verankern, die es dem Akteur ermöglichen, zumindest in einem gewissen Umfang egoistisch zu handeln. Diese (begrenzte) Freiheit, zum eigenen Gunsten zu handeln, ist aber nicht nur deshalb notwendig, weil der Versuch, die egoistischen Motive vollständig zu unterdrücken oder durch andere Prinzipien zu ersetzen, zu hohe Kosten verursacht, sondern weil sie notwendig ist, um die eigenen Fähigkeiten zu entwickeln, die dann in einem zweiten Schritt einen positiven Einfluss auf Dritte haben können: Without autonomy human beings cannot flourish; their personal and moral growth will be retarded, and some of their important talents and abilities will go unexplored and undeveloped. 20
Ein Akteur, der versucht jede Handlung unparteiisch abzuwägen, wird nicht die Zeit finden, Talente und Fähigkeiten zu entwickeln, die eine kontinuierliche Beschäftigung über einen langen Zeitraum erfordern. Man denke beispielsweise an die Zeit, die es benötigt, ein hervorragender Pianist oder Komponist zu werden. Die musikalischen Werke, die dieser hervorbringt, werden aber in der Regel nicht nur einen positiven Effekt auf den Musiker selbst haben, sondern auch auf viele Zeitgenossen, und in einigen Fällen wird dieser positive Einfluss generationenübergreifend erhalten bleiben. Dies gilt nicht nur für die Entwicklung musikalischer Talente und Fähigkeiten, sondern auch für literarische und technische Fähigkeiten und Talente sowie solche, die Wissenschaftler benötigen. 21 In der Regel wird die Entwicklung dieser Talente und Fähigkeiten mit einem Interesse an der entsprechenden Tätigkeit einhergehen. Welchen negativen Effekt es demgegenüber haben kann, wenn ein Mensch versucht, sich vollends am unparteiisch-utilitaristischen Handeln zu orientieren, wurde bereits bei der Diskussion des Tertiärprinzips gezeigt. 22 In zahlreichen Fällen wird daher die egoistische Handlung jene sein, die langfristig zur größtmöglichen Annäherung führt. 23 Daher ist es innerhalb des 20 21 22 23
Shaw 1999, 196. Vgl. Talbott 2013b, 188–190. Siehe beispielsweise den Abschnitt Das Tertiärprinzip. Siehe auch Keller 2013, 83.
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Multi-Ebenen-Konsequentialismus gerechtfertigt und sogar gefordert, dass der moralische Akteur in einigen Fällen Handlungen zu seinen Gunsten ausführt, obwohl andere Handlungen aus seiner Perspektive (voraussichtlich) zu einer größeren Annäherung an das optimale Aggregationsergebnis führen würden.
Argument der moralischen Arbeitsteilung Das Ergebnis aus dem Argument der menschlichen Natur lässt sich auch aus der Diskussion über das Effizienzargument der moralischen Arbeitsteilung ziehen. So lautet eine der zentralen Fragen, wer aus einer unparteiischen Perspektive dafür (vorrangig) zuständig ist, das Wohlergehen des Akteurs zu sichern. Mit Sidgwick lässt sich abermals anführen, dass der Akteur selbst dafür in einer optimalen Position ist: In the first place, generally speaking, each man is better able to provide for his own happiness than for that of other persons, from his more intimate knowledge of his own desires and needs, and his greater opportunities of gratifying them. And besides, it is under the stimulus of self-interest that the active energies of most men are most easily and thoroughly drawn out: and if this were removed, general happiness would be diminished by a serious loss of those means of happiness which are obtained by labour; and also, to some extent, by the diminution of the labour itself. 24
Mit Shaw lässt sich ergänzen: Freedom to pursue one’s projects and goals is basic to human fulfillment, but this fundamental human good cannot be harvested without an agentcentered prerogative. Indeed, as a practical matter, human beings cannot function effectively unless they are able to devote relatively greater attention to their own well-being. In addition, of course, people can generally promote their own well-being and advance their own projects better than they can those of others. 25
Weil es für eine Annäherung an das optimale Wohlergehen notwendig ist, dass der Akteur auch seine eigenen Projekte und Ziele erfüllt, und weil der Akteur in der Regel aufgrund eines Informationsvorsprungs und einer höheren Motivation dazu am besten geeignet ist, 24 25
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Sidgwick 1981, 431. Shaw 1999, 279.
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fällt die Sicherung des eigenen Wohlergehens vorrangig ihm selbst zu. Natürlich kann es Fälle geben, bei denen Außenstehende besser geeignet sind, diejenigen Projekte und Ziele zu erreichen, die zur Wohlergehenssteigerung des jeweiligen Akteurs führen. Im Normalfall unterliegen sie jedoch einem größeren Informationsdefizit und einer geringeren Motivation für diese Projekte.
Selbstauferlegte Verpflichtungen Die Notwendigkeit, eigene Projekte zu realisieren, wie zum Beispiel die eigenen Talente und Fähigkeiten zu entwickeln, grenzt eng an den Aspekt der selbstauferlegten Verpflichtungen. Wie dargestellt gehört das Einhalten gegebener Versprechen zu den Kernhandlungen dieser Verpflichtungen. Von zentraler Bedeutung ist dabei, dass der Akteur seine Versprechen einhalten kann und muss, also nicht in jeder Situation, in der er davon ausgeht, dass eine alternative Handlung zu einem besseren Ergebnis führt, moralisch verpflichtet ist, seine Versprechen zu brechen.
Besondere Pflichten: Individueller Akteur Zusammenfassen lässt sich, dass dem individuellen Akteur ein gewisses Maß an Egoismus innewohnt und dass die Kosten für eine (vollständige) Unterdrückung dieses Egoismus bzw. die Ersetzung durch alternative Prinzipien zu hoch sind. Eine gewisse Freiheit, egoistische Tendenzen auszuleben, trägt also zu einer Annäherung an das optimale Aggregationsergebnis bei. Folgt nun daraus, dass der individuelle Akteur grundsätzlich dazu verpflichtet ist, sein Wohlergehen bzw. seinen Projekten und Zielen 26 einen Vorrang beizumessen? Mit Shaw lässt sich dies verneinen:
Projekte und Ziele verstehe ich im Sinne von Stroud. Das heißt, sie gehen über bloße Wünsche und Ziele hinaus, die rein passiv bestehen können, vielmehr wird das eigene Handeln anhand der eigenen Projekte und Ziele direkt ausgerichtet: »Your aims, goals, and projects are indeed things you care about, but they are not only things you care about: they are things towards which you are directing your agency.« (Stroud 2010, 141, Hervorhebung im Original)
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The fact that human beings typically have goals and commitments that are deeply linked to their well-being does not imply that we cannot and should not discriminate among those projects. There are projects that people should abandon, either for their own sake or for the sake of others. 27
Doch welche Ziele und Projekte sind aufzugeben und welche zu realisieren?
Zwei Extrema Wenig diskutabel ist, dass es keine Pflicht bzw. kein entsprechendes Prima-facie-Prinzip geben kann, Projekte und Ziele zu verfolgen, von denen zu erwarten ist, dass ihre Realisierung die Summe des Wohlergehens aller von diesem Projekt Betroffenen senkt. Ebenso unstrittig dürfte es sein, dass ein entsprechendes Prinzip zu verankern ist, Projekte und Ziele zu realisieren, von denen zu erwarten ist, dass sie zu einer größtmöglichen Annäherung an das optimale Aggregationsergebnis führen. Zu einem derartigen Projekt dürfte unter anderem die Entwicklung des eigenen moralischen Charakters gehören, die ohne Zweifel zu einer größtmöglichen Annäherung an das optimale Aggregationsergebnis führt. 28 Entsprechend ist im Set der Primafacie-Prinzipien das folgende Prinzip zu verankern ist: –
Entwickle deinen moralischen Charakter! 29
Die interessante Frage lautet dann, wie sich der moralische Charakter entwickeln lässt und welchen Bezug dieses Prinzip zum BesonderePflichten-Einwand hat. Eine Antwort hat beispielsweise Friedman gegeben. Demnach benötigt der Mensch für das moralische Wachstum insbesondere Erfahrungen. Allerdings sind die eigenen Erfahrungen aufgrund der begrenzten Möglichkeiten, die das eigene Leben bietet, stark eingeschränkt. Um neue moralische Einsichten zu gewinnen, sind insbesondere Freundschaften nützlich: Shaw 1999, 277. Vgl. Cottingham 2010, 70–71. 29 Dieses Prinzip ist nicht aristotelisch, sondern funktionell zu verstehen: Ein besser entwickelter moralischer Charakter wird dazu führen, dass der Akteur häufiger die Motivation zum moralischen Handeln aufbringt. Dies wird wiederum dazu führen, dass insgesamt häufiger jene Handlung vollzogen wird, die gemäß der zuständigen Ebene moralisch richtig ist, was letztlich zu einer besseren Annäherung an das optimale Aggregationsergebnis führt. 27 28
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Die Bedürfnisse, Wünsche, Ängste, Kenntnisse, Pläne und Träume unserer Freunde können für uns neue Standpunkte entwerfen, von denen aus wir den tieferen Sinn und die Signifikanz moralischer Werte und Maßstäbe erkunden können. 30
Ergänzen lässt sich: Durch diese Gelegenheiten zum Wachstum unseres moralischen Wissens erlaubt uns Freundschaft, uns in Zeiten zu orientieren, in denen wir unsere eigenen moralischen Regeln, Werte oder Prinzipien anzweifeln. Wenn wir nicht genau wissen, was wir glauben sollen, können wir versuchen zu bestimmen, wem man glauben sollte. 31
Neben Freunden sind häufig Familienmitglieder – insbesondere Geschwister – geeignet, um alternative Perspektiven zu erhalten. 32 Darüber hinaus gibt es weitere Möglichkeiten, entsprechende Erfahrungen zu machen, beispielsweise durch das Lesen von Romanen oder Autobiographien. Allerdings ist die Tiefe der damit gemachten Erfahrungen begrenzter als bei realen Beziehungen, weil man keine Rückfragen stellen kann und sich nicht über jenes austauschen kann, was einen selbst am meisten beschäftigt. 33 Um mit anderen Menschen »Bedürfnisse, Wünsche, Ängste, Kenntnisse, Pläne und Träume« zu teilen, braucht es eine Form von Intimität, die auf Zeit und Vertrauen basiert. Insbesondere die zu investierende Zeit steht dann aber nicht mehr für andere Handlungen zur Verfügung. Eine andere Möglichkeit, die eigenen Erfahrungen sowie die moralische Sensibilität zu vergrößern, besteht darin, sich in entsprechenden Projekten zu engagieren. Hier ist insbesondere an ehrenamtliche Tätigkeiten zu denken. Beispielhaft zu nennen sind das ehrenamtliche Verbringen gemeinsamer Stunden mit alten Menschen, die Bildungsförderung bei Menschen mit Migrationshintergrund und die Tätigkeit in einer Tierschutzstation. Alle diese Tätigkeiten zeichnen sich dadurch aus, dass der individuelle moralische Charakter durch neue Erfahrungen entwickelt wird, während gleichzeitig Handlungen vollzogen werden, die ohne das individuelle Engagement voraussichtlich nicht erfolgt wären und eine wohlergehenssteigernde Wirkung haben. Friedman 1997, 242. Vgl. auch Cocking und Kennett 2000, 286. Friedman 1997, 244, Hervorhebung im Original. 32 Zum Wert persönlicher Beziehungen für die Entwicklung des moralischen Charakters siehe auch Sidgwick 1981, 439. 33 Vgl. Friedman 1997, 245. 30 31
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Die Mitte Weniger klar ist demgegenüber der Bereich in der Mitte. Hiermit sind Projekte und Ziele gemeint, deren Realisierung sich positiv auf den individuellen Akteur auswirken, jedoch keinen offensichtlichen Nutzen für andere haben und nicht dazu geeignet sind, den moralischen Charakter zu entwickeln. Im Rahmen einer konsequentialistischen Theorie spricht einiges dafür, auch diese Projekte und Ziele aufzugeben und durch moralisch effizientere Projekte und Ziele zu ersetzen. Allerdings ist fraglich, ob die Ersetzung wirklich zu einer besseren Annäherung an das optimale Aggregationsergebnis führt. Zunächst einmal sei an die »millsche Depression« erinnert 34, in die der Akteur zu geraten droht, wenn er sein Leben ausschließlich der Wohlergehensmaximierung widmet. Zweitens lässt sich mit Talbott, dessen Argument im Wesentlichen dem Argument von Mill in On Liberty 35 entspricht, gegen eine derartige Einschränkung der eigenen Projekte argumentieren. Zunächst die Grundannahme, auf der das Argument basiert: Each of us in living our lives is an investigator into this question: What is the best life for me? […] There are no authorities to tell us how we can improve on the status quo. 36
In nahezu allen Bereichen, die für das Wohlergehen des Menschen relevant sind, hängt der Fortschritt von Experimenten ab. Weiter heißt es bei Talbott: »Most of the experiments are failures, but those that succeed can enhance the lives of millions.« 37 Und: »Each of us benefits from the fact that others have conducted and are conducting parallel experiments with their own lives.« 38 Dabei profitiert man nicht nur von den erfolgreichen Experimenten der anderen, sondern auch von deren Fehlschlägen. 39 Auf dieser Basis kann im Rahmen einer konsequentialistischen Theorie eine gewisse Freiheit bei der Verfolgung vermeintlich ineffizienter Projekte gerechtfertigt werden, denn »experiments in living are necessary for progress in determining what kind of life is best for human beings, and thus for pro34 35 36 37 38 39
232
Siehe den Abschnitt Das Tertiärprinzip. Vgl. insbesondere Mill 2009, 97–101. Talbott 2013b, 188. Talbott 2013b, 188. Talbott 2013b, 189. Vgl. Talbott 2013b, 189.
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moting life prospects« 40. Drittens stellt sich abermals das Problem der Internalisierungskosten. Offenkundig hat der individuelle Akteur eine starke Disposition dazu, die eigenen Projekte und Ziele, zu denen nicht selten selbstauferlegte Verpflichtungen zählen, auszuführen. Da die Realisierung der eigenen Projekte und Ziele zumindest für den individuellen Akteur wohlergehenssteigernd ist, ggf. sogar zu einer Wohlergehenssteigerung bei Dritten führt und darüber hinaus die Internalisierungskosten eines gegenteiligen Prinzips sehr hoch wären sowie bei Aufgabe der eigenen Projekte und Ziele eine Gefahr darin besteht, in die »millische Depression« zu fallen, lässt sich rechtfertigen, dass der individuelle Akteur zumindest jene Projekte und Ziele verfolgen kann, die voraussichtlich zu einer Wohlergehenssteigerung bei sich selbst beitragen – natürlich unter der Bedingung, dass nicht zu erwarten ist, dass die Realisierung dieser Projekte und Ziele die Summe des Wohlergehens aller von diesen Projekten und Zielen Betroffenen senkt. Mehr noch: Mit Blick auf das Ergebnis der Diskussion des Arguments der moralischen Arbeitsteilung ist sogar zu rechtfertigen, dass der moralische Akteur direkt für das eigene Wohlergehen zu sorgen hat. Die Realisierung der eigenen Projekte und Ziele ist zwar ein wesentlicher Baustein zur Sicherung des eigenen Wohlergehens, aber eben nur ein Baustein. In diesem Sinne ist das folgende Prinzip zu verankern: –
Sorge für dein eigenes Wohlergehen!
Wichtig zu beachten ist, dass auch dieses Prima-facie-Prinzip nicht isoliert verankert wird, sondern zusammen mit den bereits dargestellten Prima-facie-Prinzipien. Die daraus resultierenden Handlungen sind somit im Konfliktfall mit anderen Handlungen, die sich ebenfalls aus den verankerten Prima-facie-Prinzipien ableiten lassen, gemäß den Gewichtungsregeln zu gewichten. Doch gerade mit Blick auf eine mögliche stärkere Gewichtung in einem Konfliktfall mit anderen Handlungen lässt sich mit Arneson ein Einwand gegen dieses Prima-facie-Prinzip vorbringen: It is one thing to say that a reasonable morality should hold it to be morally permissible to favor oneself over others, at least when doing so does not conflict with respect for the rights of other people. […] It is less plausible
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Talbott 2013b, 189–190.
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to hold that favoring oneself when one’s interests conflict with those of other people is morally required or obligatory. 41
In der Tat ist es zunächst kontraintuitiv zu sagen, dass man moralisch dazu verpflichtet sein kann, zu seinen eigenen Gunsten zu handeln, und es daher nicht moralisch erlaubt ist, zugunsten eines anderen zu handeln. Doch diese Möglichkeit ergibt sich bereits direkt aus dem Prinzip der Unparteilichkeit: Wenn jeder Akteur bei seinen Handlungen das Wohlergehen aller Beteiligten unparteiisch berücksichtigen soll, dann gilt dies auch für das eigene Wohlergehen. Unabhängig davon, gemäß welchem Prinzip das Wohlergehen aller unparteiisch berücksichtigt werden soll, kann bereits aus dem Prinzip der Unparteilichkeit folgen, dass der Akteur dazu moralisch verpflichtet ist, zu seinen eigenen Gunsten zu handeln. Insofern also eine normative Theorie das Prinzip der Unparteilichkeit nicht komplett zurückweist, ist dies keine so ungewöhnliche und unplausible Folge einer normativen Theorie, wie es zunächst erscheinen mag.
Ergebnis des 10. Kapitels In diesem Kapitel konnten zwei besondere Pflichten bzw. deren korrelierende Prima-facie-Prinzipien gerechtfertigt werden: – –
Entwickle deinen moralischen Charakter! Sorge für dein eigenes Wohlergehen!
Diese Prinzipien sind insbesondere für die Frage danach von Bedeutung, inwieweit der Multi-Ebenen-Konsequentialismus die dritte Intuition aufnehmen kann, die dem Besondere-Pflichten-Einwand zugrunde liegt: Zumindest in einigen Fällen sind akteur-relative Gründe moralisch relevant. Da es das eigene Wohlergehen ist, um das Sorge getragen werden soll, und da es der eigene moralische Charakter ist, der entwickelt werden soll, lässt sich die Ausführung einer entsprechenden Handlung auf einen akteur-relativen Grund zurückführen.
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Arneson 2003, 385.
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Kapitel 11: Familie
Im Folgenden soll der erste konzentrische Kreis von Shue 42 besprochen werden: die Familie. Zunächst wird dargestellt, wie im Folgenden die Familie zu verstehen ist bzw. welche Familienbeziehungen in die Betrachtung mit einbezogen werden. Im Anschluss daran werden der Reihe nach das Argument der menschlichen Natur und die Argumente der Effizienz besprochen und dargestellt, welche besonderen Pflichten bzw. Prinzipien sich rechtfertigen lassen.
Was ist unter Familie zu verstehen? Wie im dritten Kapitel mit Bezug auf Gestrich 43 dargestellt wurde, ist das Konzept der Familie weder zwischen verschiedenen Kulturkreisen noch zwischen verschiedenen Zeitabschnitten innerhalb eines Kulturkreises und teilweise nicht einmal innerhalb eines Kulturkreises in einem bestimmten Zeitabschnitt identisch. Jegliche Definition läuft daher Gefahr, entweder zu eng und/oder zu weit gefasst zu sein. Eine Definition, die sowohl zu eng als auch zu weit gefasst ist, hat Archard geliefert. Demnach ist eine Familie funktional als eine multigenerationelle, normalerweise langfristig zusammenlebende Gruppe von Erwachsenen und abhängigen Kindern [zu verstehen], wobei die Erwachsenen die erzieherische Hauptverantwortung für die Kinder tragen. 44
Zu weit ist diese Definition, weil mit ihr auch einige Institutionen wie Kinderheime oder Internate erfasst werden, insofern die für die Betreuung und Erziehung angestellten Erwachsenen an ihrer Arbeits-
42 43 44
Siehe Anmerkung 14 (Teil 1: Grundlagen). Siehe hierzu insbesondere den Abschnitt Soziale-Rollen-Einwand. Archard 2015, 64.
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11 · Familie
stelle wohnen. Auf der anderen Seite ist diese Definition zu eng, weil sie einige Beziehungskonstellationen nicht erfassen kann, die gewöhnlich als Familie verstanden werden. So bildet beispielsweise der alleinerziehende Vater, dessen Frau früh gestorben ist, mit seinen drei Kindern keine Familie nach Archards Definition. Dieser letzte Aspekt wird besser mit Schoemans Verständnis einer Familie abgedeckt: I shall mean by ›family‹ an intense continuing and intimate organization of at least one adult and child, wherein the child is extensively and profoundly dependent on the adult, in which the adult supplies the child with its emotional and material needs, and in which the parent is dependent on the child for a certain kind of intimacy. 45
Doch auch dieses Verständnis von Familie ist zu eng, insbesondere weil es voraussetzt, dass Kinder abhängig von ihren Eltern sind. Eine Familie wird damit auf erwachsene Eltern und noch nicht erwachsene Kinder beschränkt. Doch es ist wenig plausibel anzunehmen, dass die Familie in dem Moment aufhört eine Familie zu sein, in dem die Kinder unabhängig von ihren Eltern werden. Da ich keine Definition von Familie sehe, welche die Intuitionen bezüglich dieses Begriffs sinnvoll abdeckt, werde ich an dieser Stelle lediglich ein Beispiel für eine Familie und entsprechende Familienbeziehungen geben. Demnach bildet ein verheiratetes Ehepaar, das gemeinsam mit zwei Kindern für längere Zeit in einem Haushalt lebt oder gelebt hat, eine Familie. Unabhängig von dem Alter der einzelnen Personen ergeben sich daraus folgende Familienbeziehungen: die Beziehung zwischen den Eheleuten, die Beziehung zwischen den jeweiligen Eltern zu ihren Kindern sowie die Beziehung zwischen den Geschwistern. 46
Schoeman 1980, 9–10. Es sei nochmals betont, dass dies keine umfassende Darstellung von Familienbeziehungen ist, sondern lediglich ein Beispiel dafür. Wie gezeigt, verstehe ich auch die Beziehungen zwischen dem alleinerziehenden Vater mit seinen drei Kindern als eine Familienbeziehung und entsprechend diese Gemeinschaft als eine Familie. Zugegebenermaßen ist aber auch das gegebene Beispiel nicht unproblematisch. Demnach würde auch eine Mutter zur Familie gehören, die die ersten drei Jahre mit im Haushalt gelebt hat, sich dann von der Familie getrennt hat und nun in Übersee wohnt. Es ist fraglich, ob diese Mutter noch immer sinnvoll zur Familie gezählt werden kann, wenn kein oder nur noch sporadischer Kontakt besteht und auch kein gegenseitiger Wunsch besteht, diesen Kontakt aufrechtzuerhalten oder zu intensivieren (vgl. Singer 2004a, 166–167.). In diesem Beispiel ist die Mutter vermutlich eher als Bekannte oder Fremde einzustufen. Im Folgenden werden diese Fälle ignoriert und die Betrachtung auf die unproblematischen Fälle beschränkt.
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Anwendung der Argumente
Anwendung der Argumente Argument der menschlichen Natur In Hinblick auf die menschliche Natur lässt sich feststellen, dass es unter normalen Bedingungen einer der stabilsten psychologischen Prozesse von Kindern ist, ein intensives Vertrauen zu bestimmten Bezugspersonen wie den Eltern zu entwickeln: The love one receives from one’s children […] is spontaneous and unconditional and, in particular, outside the rational control of the child. She shares herself unself-consciously with the parent, revealing her enthusiasms and aversions, fears and anxieties, in an uncontrolled manner. She trusts the parent until the parent betrays the trust, and her trust must be betrayed consistently and frequently before it will be completely undermined. 47
Würden Eltern gemäß einer starken Unparteilichkeit versuchen, sich um alle Kinder im gleichen Maße zu kümmern, würde dies eine ständige Frustration dieses Vertrauens bedeuten und zu schwerwiegenden Folgen in der psychischen Entwicklung führen: A developing personality needs to perceive itself as especially valuable to somebody: needs to know that to someone it matters more than other children; that someone will go to unreasonable lengths, not just reasonable ones, for its sake. 48
Bemerkenswert ist, dass sich die emotionale Bindung auch von Eltern zu ihren Kindern nur schwer unterdrücken lässt, selbst dann, wenn beispielsweise von den Eltern Ideale wie das Leben im Kibbuz vertreten werden. Der Versuch, diese Bindung zu unterdrücken, würde ein beträchtliches Maß an Zwang und Leid erfordern. 49 Hinzu kommt, dass in der Regel zwischen den Mitgliedern der dargestellten Kernfamilie ein beträchtliches Maß an Liebe besteht. Die Fähigkeit, zu lieben und geliebt zu werden, gehört wiederum zu den zentralen Elementen, die einen positiven Einfluss auf das individuelle Wohlergehen haben und voraussichtlich langfristig sogar zu einem besseren Ergebnis führen als der Versuch, mit jeder Handlung
Brighouse und Swift 2006, 93. Newson zitiert nach Goodin 1985, 4, Hervorhebung im Original. Vgl. Hooker 2000, 141. 49 Vgl. Singer 2004a, 161. 47 48
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den besten Zustand zu erreichen. 50 Dies liegt nicht zuletzt daran, dass Kinder zunächst einmal selbst intensive und andauernde Liebe erfahren müssen, um später selbst Liebe geben zu können. Damit sie aber diese Liebe erfahren, müssen sich die Eltern für dieses Kind Zeit nehmen. Es würde nicht ausreichen, dem Kind zu sagen, dass man es über alles liebt, wenn die tagtäglichen Handlungen dafür sprechen, dass es den gleichen Stellenwert wie jedes andere Kind hat. Die Liebe muss im täglichen Leben erfahren werden. Hierfür ist jedoch ein beträchtlicher Zeitaufwand nötig. 51 Eine starke Unparteilichkeit im Alltag eines jeden Akteurs würde daher nicht nur die Liebe zu den Kindern unmöglich machen, sondern auch die Liebe von den Kindern. 52 Ein weiterer Aspekt, der nicht übersehen werden darf, ist, dass Familienmitglieder häufig dazu bereit sind, große Opfer auf sich zu nehmen, die sie für andere nicht auf sich nehmen würden. 53 Derartige Opfer tragen in der Summe zu einer deutlich besseren Annäherung an das optimale Wohlergehensniveau bei. Eine moralische Erziehung hin zu einer völligen Unparteilichkeit droht nun aber die für diese Handlungen notwendige Motivation zu kappen, ohne dass dadurch eine Ausdehnung auf weiter entfernte Menschen erreicht wird. Insgesamt lässt sich an dieser Stelle bereits vorwegnehmen, dass das Unterfangen, die Familienbanden zu lösen und sich insgesamt vom Konzept der Familie aus moralischen Gründen zu verabschieden, hochproblematisch ist und voraussichtlich zu einer schlechteren Annäherung an das optimale Aggregationsergebnis führen würde. In diesem Sinne ist davon auszugehen, dass die Familie und damit die Familienbeziehungen im Rahmen des Multi-Ebenen-Konsequentialismus grundsätzlich gerechtfertigt sind.
Argument der moralischen Arbeitsteilung In eine ähnliche Richtung wie das Argument der menschlichen Natur weist auch die Beantwortung der Frage, wer dafür zuständig ist, sich um das Wohlergehen der einzelnen Familienmitglieder zu kümmern. 50 51 52 53
238
Vgl. Slote 1985, 93. Vgl. Brighouse und Swift 2009, 63. Vgl. Betzler 2009, 197. Vgl. Keller 2015, 249.
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Anwendung der Argumente
Offensichtlich können sich beispielsweise nicht-erwachsene Kinder, insbesondere Kleinkinder, noch nicht selbst in angemessener Weise um ihr Wohlergehen kümmern. Stattdessen brauchen sie jemanden, der dies mit viel Engagement und über lange Zeit übernimmt. Um das Wohlergehen von Kindern zu gewährleisten, müssen daher bestimmte Personen die Aufgabe übernehmen, für die Erfüllung des Wohlergehens der Kinder Sorge zu tragen. Es ist wichtig zu sehen, dass Kinder diese Aufmerksamkeit nicht deshalb erfahren, weil sie zur Gruppe der »Kinder« gehören, so wie andere Menschen zu anderen Gruppen (Eltern, Frauen, Alte usw.) gehören, sondern weil sie – und zwar jedes einzelne von ihnen – in einem besonderen Maße hilfsbedürftig sind. Sie können ihre elementarsten Grundbedürfnisse (Nahrung, Obdach, medizinische Versorgung usw.) nicht alleine befriedigen. Um das Wohlergehen insgesamt zu maximieren, muss die nötige Zuwendung aber, wie gezeigt, über die Versorgung mit materiellen Gütern hinausgehen: Für eine gesunde psychische Entwicklung ist eine stabile soziale und emotionale Nähe von großer Bedeutung. 54 Es stellt sich dann die Frage, wer genau für das Wohlergehen der Familienmitglieder und insbesondere der Kinder zuständig ist. Der wohl stärkste Aspekt wurde bereits im Rahmen des Arguments der menschlichen Natur diskutiert. Für gewöhnlich haben Kinder ein tiefgehendes Vertrauen zu ihren Eltern, was durch eine gegenseitige Liebe noch verstärkt wird. Hinzu kommt, dass Familienmitglieder voneinander in der Regel am besten wissen, was für deren Wohlergehen förderlich ist. Das gilt nicht nur für die Eltern-Kind-Beziehung oder für die Beziehung der Eltern, sondern auch für die Geschwisterbeziehung. Mit Anwander lässt sich sagen: Zu den typischen Erfahrungen von Geschwistern gehört, dass sie einander in den unterschiedlichsten Situationen erlebt haben: bei Triumphen und bei Niederlagen, glücklich und traurig, gesund und krank, frisch verliebt und geplagt von Liebeskummer, angezogen und nackt, souverän und schwach. […] Konsequenz dieses »Aufwachsens in einem Nest« ist, dass Geschwister einander in besonderem Maße verstehen, aber auch durchschauen und damit – was dann ethisch besonders relevant ist – verletzen können. 55
54 55
Diesen Punkt habe ich bereits in Warmt 2013, 693 dargestellt. Anwander 2015, 379–380.
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Verstärkend kommt hinzu, dass Geschwister ihre Beziehung, im Unterschied zu Freundschaften, nicht willentlich beenden können und in der Regel auch im erwachsenen Alter die Begegnung nicht unterbinden können. 56 Aufgrund der räumlichen Nähe sind die Familienmitglieder in der Regel auch faktisch am besten geeignet, für das gegenseitige Wohlergehen zu sorgen. 57 Daher hat die Pflicht der gegenseitigen Sorge, insofern der individuelle Akteur dazu nicht selbst optimal in der Lage ist, vorrangig den Familienmitgliedern zuzufallen. Wichtig zu sehen ist, dass sich der positive Einfluss auf das Wohlergehen, der sich aus stabilen Familienbeziehungen ergeben kann, langfristig nicht nur auf die Familienmitglieder selbst auswirkt, sondern auch auf Menschen, die nicht zur Familie gehören. Mit Brighouse und Swift lässt sich sagen: Well-raised children are public goods in many senses. Taxing their future income helps us to provide for the retirements of parents and nonparents alike. Their future participation in the economy as workers and consumers secures the long-term planning of the current generation of workers and consumers. Their future participation in public affairs contributes to goals that current adults have for the future. 58
Aufgrund der Natur des Menschen werden »well-raised children« vor allem dann möglich sein, wenn sie in Familien aufwachsen, in denen sich die Eltern zumindest bis zu einem gewissen Grad vorrangig um ihre Kinder kümmern. Insofern es ihnen nicht möglich ist, diesen zumindest eine gewisse Priorität einzuräumen, wird eine entsprechende Erziehung nur in Ausnahmefällen möglich sein. Sowohl mit Blick auf Familienbeziehungen als auch auf Freundschaften lässt sich mit Shaw ergänzen: Moreover, reinforcing people’s concern for the well-being of those around them prepares the ground for a more extensive altruism. It is difficult for people to come to care for strangers without having first learned to attend to the needs of family and friends. In this sense, charity can be said to begin at home. 59
Vgl. Anwander 2015, 378. Siehe auch die zitierten Aristotelesstellen in der Anmerkung 155 (Teil 1: Grundlagen). 58 Brighouse und Swift 2006, 85. 59 Shaw 1999, 117. 56 57
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Anwendung der Argumente
In der Summe ist daher zu erwarten, dass es häufig sehr nützlich ist, Ressourcen wie Zeit und emotionales Engagement vorrangig für Familienmitglieder (und Freundschaften) zu investieren.
Freier Zusammenschluss zu Kooperationsvereinigungen Gibt es relevante Ziele und Projekte des individuellen Akteurs, die nur oder vorrangig in der Familie realisiert werden können? Vermutlich ja; dies wird beispielsweise am Ziel deutlich, eine vertrauensvolle und geistig intime Beziehung zu anderen Menschen zu führen. Dieses Ziel ist aber, neben wenigen anderen Beziehungsarten wie engen Freundschaften, vorrangig in der Familie erfüllbar. Darüber hinaus gibt es einige Güter, die nur im Rahmen einer Familie bereitgestellt werden können. 60 Eines der voraussichtlich durchdringendsten und zugleich häufigsten menschlichen Verlangen ist das nach einer aktiven Elternschaft. 61 So heißt es beispielsweise bei Betzler und Bleisch: Das Aufziehen eigener Kinder wird von vielen als zentrales Lebensprojekt empfunden, das einmalige und einzigartige Güter birgt, wie die Verantwortung für ein heranwachsendes Kind zu übernehmen oder das innige Vertrauen eines Kindes zu genießen. 62
Mit Brighouse und Swift lässt sich ergänzen: Parents have an interest in being in a relationship of this sort. They have a nonfiduciary interest in playing this fiduciary role. The role enables them to exercise and develop capacities the development and exercise of which are, for many (though not, certainly, for all), crucial to their living fully flourishing lives. Through exercising these capacities in the specific context of the intimately loving parent-child relationship, a parent comes to learn more about herself, she comes to develop as a person, and she derives satisfactions that otherwise would be unavailable. 63
Ein unerfüllter Kinderwunsch ist häufig eine enorme Belastung sowohl für den individuellen Akteur als auch die Paarbeziehung. In diesem Sinn kann das Elternsein ein Gut sein, wenn es entsprechend ausgelebt werden kann, weil es das entsprechende Verlangen stillt 60 61 62 63
Vgl. Keller 2015, 250. Ähnliches ließe sich bezüglich der Partnerschaft sagen. Betzler und Bleisch 2015, 28–29. Brighouse und Swift 2006, 95.
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und einen positiven Einfluss auf das Wohlergehen hat. Doch die aktive Elternschaft kann nur innerhalb einer Familie ausgelebt werden, und hierzu braucht es eben »Kooperationspartner«. Umgekehrt gilt auch für das Kind, dass es seine Ziele zunächst nur mit Hilfe anderer Personen erreichen kann. Bezüglich der Elternschaft kommt eine weitere Dimension hinzu. Unstrittig ist, dass die Elternschaft auch ohne Partner erfolgreich ausgelebt werden kann – allerdings zu einem hohen Preis: Für Alleinerziehende ist es kaum möglich, eine fürsorgliche Beziehung zu dem Kind zu haben, den Lebensunterhalt selbstständig zu bestreiten und zusätzlich dem Prima-facie-Prinzip nachzukommen, für das eigene Wohlergehen zu sorgen. Um eine Balance zwischen diesen Aspekten herzustellen, ist es fast zwangsläufig notwendig, sich mit anderen zusammenzutun. Dies kann im Sinne von »echten« Kooperationspartnern sein, beispielsweise einem »Club der Alleinerziehenden«, oder im Rahmen einer Familie mit zwei Erwachsenen. Die Kooperationsvereinigung Familie hat darüber hinaus ein Merkmal, das sie von den meisten anderen Kooperationsvereinigungen unterscheidet, nämlich dass ihre Mitglieder bereit sind und sich auch dazu verpflichtet fühlen, die Beziehung und damit die Kooperationsvereinigung in schlechten Zeiten aufrechtzuerhalten, wenn der Wert bzw. der Nutzen fraglich ist. 64 Natürlich kann das An-derBeziehung-Festhalten in schlechten Zeiten in einigen Fällen auch zu einer schlechteren Annäherung an das optimale Aggregationsergebnis führen. In den meisten Fällen dürfte es aber eine Stabilität mit sich bringen, die die nachteiligen Effekte weit übertrifft. Man denke nur an die Auswirkung, die es hätte, wenn Kinder bei jedem ernsteren Streit mit den Eltern davon ausgehen müssten, dass diese die Familie verlassen, oder dass sich die Partnerin in Lebenskrisen des Partners, beispielsweise weil dieser eine tiefe Depression erleidet, einen »einfacheren« Kooperationspartner sucht. Hinzu kommt die allgemeine menschliche Schwäche, Handlungen und ihre langfristigen Auswirkungen fehlerhaft zu berechnen, wenn man selbst davon betroffen ist: Wir können nicht immer zuverlässig beurteilen, wie wertvoll unsere Beziehungen alles in allem sind, vor allem nicht in Krisenzeiten. In solchen Zeiten kann es uns helfen, wenn wir einander verpflichtet sind, denn dies kann uns vor einer übereilten und unklugen Entscheidung für eine Trennung schützen. 64
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Vgl. Gheaus 2015, 94.
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Anwendung der Argumente
Sehr häufig liegen die Klugheitsgründe, die für eine Fortsetzung der Beziehung sprechen, nicht unmittelbar auf der Hand. In diesem Fall ist Verpflichtung attraktiv, weil sie uns davon abhalten kann, Beziehungen, die wir nicht aufgeben sollten, vorschnell zu beenden. 65
Selbstauferlegte Verpflichtungen Familiäre Beziehungen gehören neben Freundschaften zu denjenigen Beziehungen, bei denen es zu den meisten und vor allem intensivsten selbstauferlegten Verpflichtungen kommt. Ohne diese wäre das Familienleben nicht ansatzweise so effizient, wie es ist, und der positive Einfluss auf das individuelle Wohlergehen fiele deutlich geringer aus. Der überwiegende Teil der selbstauferlegten Verpflichtungen hat die Form einfacher Versprechen, womit die alltägliche Familienkoordinierung geleistet wird. Aus diesen einfachen selbstauferlegten Verpflichtungen ragen jedoch zwei Verpflichtungen heraus. Die wohl intensivste Verpflichtung ist diejenige der Eltern, die Sorge und Pflege für ein bestimmtes Kind – in der Regel für jenes Kind, das sie in die Existenz gebracht haben – zu übernehmen. 66 Die Übernahme der Elternrolle ist wie gezeigt für viele Menschen ein zentraler Bestandteil des eigenen Wohlergehens, erzeugt jedoch eine äußerst schwer aufzulösende Verpflichtung, die sich über einen kaum zu überschauenden Zeitraum erstreckt und einen Großteil an Ressourcen bindet, die in zahlreichen Situationen (vermeintlich) effizienter eingesetzt werden könnten. Die zweite selbstauferlegte Verpflichtung setzt eine Phase früher an und ist zumeist die Voraussetzung für die eben dargestellte Verpflichtung: Es handelt sich um das Eingehen der Partnerschaft, die nicht selten in die institutionalisierte Ehe mündet. Zwar sind die hiermit einhergehenden selbstauferlegten Verpflichtungen leichter zu lösen als diejenige der eben besprochenen Verpflichtung, allerdings ist sie nicht weniger ressourcenbindend.
65 66
Gheaus 2015, 96. Vgl. Arneson 2003, 386–387.
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Zugeschriebene Rollen und einhergehende Erwartungen Mit den jeweiligen Familienbeziehungen gehen zahlreiche zugeschriebene Rollen und Erwartungen einher, sowohl von Familienmitgliedern als auch Außenstehenden. Kinder haben beispielsweise bestimmte berechtigte Erwartungen an ihre Eltern, nämlich dass diese einen nicht unerheblichen Teil ihrer Aufmerksamkeit und Sorge ihnen zuteilwerden lassen. Mit Jollimore lässt sich zur Erwartung von Außenstehenden sagen: Parents, for example, are thought to be morally obliged to take special care of their own children; to regard one’s child as merely one among millions would be regarded as highly eccentric if not monstrous. 67
Ehepartner erwarten in der Regel ebenso, dass sie füreinander Zeit finden und sich nicht bei den ersten Schwierigkeiten im Stich lassen. Zwar erwarten häufig auch Geschwister voneinander, dass diese die Beziehung aufrechterhalten 68, aber insgesamt sind die Erwartungen gegenüber Geschwistern deutlich kontextsensitiver. Während es sich bei vielen anderen Rollenerwartungen teilweise um nicht gerechtfertigte Erwartungen handelt, lässt sich dies bei den vorliegenden Beziehungen offensichtlich nicht sagen, da diese zum größten Teil aus den selbstauferlegten Verpflichtungen resultieren. Dieser Umstand trägt dazu bei, dass die Nicht-Erfüllung der entsprechenden Rollenerwartung in der Regel zu einer erheblich stärkeren Frustration als bei anderen nicht erfüllten Rollenerwartungen führt, was häufig der Grund für tiefe Enttäuschungen ist, durch die die familiären Beziehungen langfristig negativ beeinflusst werden. Eine strenge Unparteilichkeit in jedem Handeln droht solche Erwartungen jedoch nahezu permanent zu enttäuschen, weil es insbesondere mit Blick auf das Problem der absoluten Armut scheinbar immer Probleme gibt, die in der entsprechenden Situation wichtiger sind. Werden derartige Erwartungen aber permanent enttäuscht, dann werden die Risse in der Beziehung mit der Zeit so groß, dass die Familie früher oder später auseinanderbricht, ohne dass sich die nützlichen Effekte einstellen konnten.
67 68
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Jollimore 2014, 6. Vgl. Anwander 2015, 383.
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Anwendung der Argumente
Reziprozität und Dankbarkeit Ein Kernelement der familiären Interaktion ist die wiederholte gegenseitige Hilfe, die sich durch alle Beziehungstypen durchzieht. Damit werden die Aspekte der Reziprozität und der Dankbarkeit in der Familie wie bei kaum einem anderen Beziehungstyp relevant. Nicht selten drohen jedoch gerade im Rahmen der reziproken Handlungen und der Dankbarkeitshandlungen Konflikte, die den positiven Effekt der Familienbeziehungen nachhaltig schaden können. Eine typische Familiensituation kann dies verdeutlichen: (K11a) Die Eltern unterstützen ihr erwachsenes Kind nach Kräften. Sie kümmern sich beispielsweise um die Betreuung der Enkelkinder, damit ihre Tochter und ihr Mann ihrer Arbeit problemlos nachgehen können oder einfach mal wieder einen gemeinsamen Paarabend miteinander verbringen können. Sie machen dies gern für ihre Tochter, weil sie wissen, dass ihr die gewonnene Zeit sehr wichtig ist. Doch mit der Zeit macht sich ein gewisser Unmut breit. Auf die Frage, wann die Tochter dieses Jahr zum (eigentlich traditionellen) Weihnachtsfest kommt, antwortet sie, dass sie wie im letzten Jahr mit ihrem Mann und ihren Kindern nicht daran teilnehmen wird, weil sie andere Pläne haben.
Sicherlich mag es für die Tochter aus dem einen oder anderen Grund beschwerlich sein, sich an dem traditionellen Familientreffen zu beteiligen – in diesem Szenario bleibt unklar, was die Beweggründe für die anderen Pläne sind –, aber die entscheidende Frage lautet, was die angemessene Reaktion auf die erhaltene Unterstützung der Eltern ist. Offensichtlich bedarf es einer »Rückgabe«, ob sie von den Eltern direkt erwartet wird oder nicht. Denn ohne eine Form der Rückgabe wird sich die Familienbeziehung mit der Zeit voraussichtlich verschlechtern. Der Kern der Gabe der Eltern besteht darin, der Tochter etwas zu geben, was ihr sehr wichtig ist, nämlich Zeit – Zeit für sich als Paar und Zeit für die Bewältigung des Alltags. An dieser Stelle sollte der reziproke Tausch ansetzen. Denn auch das erwachsene Kind kann den Eltern etwas geben, was diesen sehr wichtig ist und was zwar nicht identisch zu dem Empfangenen ist, aber ähnlich: Zeit mit den Eltern zu verbringen. Zu dem Familienfest zu gehen und somit die von den Eltern geschätzte Tradition zu erhalten wäre dementsprechend in K11a eine angemessene Form des reziproken Tausches, weil damit darauf Rücksicht genommen wird, was den Eltern wichtig ist, Konsequentialismus und besondere Pflichten
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so wie diese darauf Rücksicht genommen haben, was ihrer Tochter wichtig ist. Der Wert dieses reziproken Tausches besteht dabei darin, dass die Familienbeziehung gestärkt wird und somit das Wohlergehen, das aus ihr gewonnen werden kann, langfristig erhalten bleibt. 69 Andernfalls wird die Gefahr wachsen, dass sich die Familienbeziehung immer weiter löst, was vermutlich für alle Familienmitglieder äußerst unbefriedigend sein wird und einen negativen Einfluss auf das jeweilige Wohlergehen hat.
Besondere Pflichten: Familie Nach Cottingham folgt aus dem Unparteilichkeitsprinzip, dass Eltern nicht moralisch handeln, wenn sie sich jeden Abend um ihr krankes Kind kümmern, bzw. dass sie zeigen müssen, dass es keine andere Handlung gibt, die für das allgemeine Wohlergehen insgesamt förderlicher ist. 70 Im Folgenden soll auf der Basis der dargestellten Argumente geklärt werden, inwieweit Cottingham mit seiner These recht hat. Ein erstes Ergebnis lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Weil wir erstens nicht durchgängig zum unparteiischen Handeln fähig sind, zweitens familiäre Beziehungen zur Maximierung des Wohlergehens beitragen und drittens eine Annäherung an das optimale Wohlergehensniveau ohne familiäre Beziehungen nicht erreichbar ist, sind familiäre Beziehungen trotz ihrer parteiischen Tendenz aus unparteiischer Perspektive sowohl gerechtfertigt als auch gefordert. Mit Bezug auf das bereits gerechtfertigte Prinzip »Kultiviere und pflege gute Beziehungen!« lässt sich daher feststellen, dass die Familienbeziehungen in dieses Prinzip fallen. Dies muss nicht zwangsläufig bedeuten, dass es für jeden individuellen Akteur eine moralische Pflicht gibt, eine eigene Familie mit Kindern zu gründen. Nicht alle (erwachsenen) Menschen haben ein Interesse daran, Eltern zu werden; teilweise wird es auch besser sein, wenn sie die Elternschaft nicht übernehmen. 71 In diesen Fällen können sie immer noch in Familienverhältnisse eingebunden sein, beispielsweise zu ihren Geschwistern. In anderen Fällen wird es besser 69 70 71
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Vgl. Seglow 2013, 42. Vgl. Cottingham 1983, 88. Vgl. Brighouse und Swift 2009, 55.
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Besondere Pflichten: Familie
sein, die Familienbeziehung abzubrechen. Dies liegt zum Teil daran, dass bedauerlicherweise einige Familienbeziehungen nicht so laufen, wie sie laufen sollten, und sie nicht einmal in einem minimalen Sinn wohlergehensfördernd sind, sondern vielmehr wohlergehensverhindernd. Von derartigen Beziehungen kann nicht erwartet werden, dass sie aufrechterhalten werden; stattdessen ist es sinnvoll, sie durch andere Beziehungen, zum Beispiel durch gute Freundschaften, zu kompensieren. 72 In der Regel werden aber gerade gute Familienbeziehungen für das individuelle Wohlergehen von zentraler Bedeutung sein. Insbesondere mit Blick auf die Bedeutung, die das Gefühl, »etwas Besonderes zu sein«, für heranwachsende Kinder hat 73, aber auch mit dem Ergebnis aus der Diskussion des Arguments der moralischen Arbeitsteilung lässt sich ein weiteres Prinzip rechtfertigen: –
Räume den engsten Vertrauten bei deinen moralischen Abwägungen einen leichten Vorrang ein!
Allerdings gibt es zu den anderen besonderen Pflichten, die als Primafacie-Prinzipien gerechtfertigt wurden, einen relevanten Unterschied. Während sich die bisher gerechtfertigten Prima-facie-Prinzipien unabhängig von anderen Prima-facie-Prinzipien denken lassen, ist dies beim Prinzip »Räume den engsten Vertrauten bei deinen moralischen Abwägungen einen leichten Vorrang ein!« nicht möglich. Dieses Prinzip kann nur greifen, wenn Prima-facie-Prinzipien bzw. die daraus resultierenden Handlungen in Konflikt geraten und entschieden werden muss, wie der Konflikt aufzulösen ist. Daher handelt es sich bei diesem Prinzip auch nicht um ein Prima-facie-Prinzip, sondern um eine Gewichtungsregel. Zur Vereinheitlichung wird dieses Prinzip daher analog zu den anderen Gewichtungsregeln formuliert: –
Räume jener Handlung ein größeres Gewicht ein, mit der du das Wohlergehen derjenigen positiv beeinflussen kannst, zu denen du gute Beziehungen unterhältst!
Im Wesentlichen sind das Prima-facie-Prinzip »Kultiviere und pflege gute Beziehungen« und die Gewichtungsregel »Räume jener Handlung ein größeres Gewicht ein, mit der du das Wohlergehen derjenigen positiv beeinflussen kannst, zu denen du gute Beziehungen unterhältst!« die relevanten Ergebnisse auf die Frage, welche beson72 73
Vgl. Mills 2015, 275–276 und Purdy 2015, 338. Vgl. Mullin 2015, 304.
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deren Pflichten bzw. Prinzipien sich aus dem Argument der menschlichen Natur und den Effizienzargumenten rechtfertigen lassen. Das heißt allerdings nicht, dass damit alle relevanten Pflichten abgedeckt sind, die die Akteure innerhalb der Familie haben. Die weiteren Pflichten lassen sich nämlich auf Prinzipien zurückführen, die bereits gerechtfertigt wurden, wenn auch ohne Bezug zur Familie. Mit Blick auf die Diskussion des Beispiels K11a ist beispielsweise an das Primafacie-Prinzip »Erwidere in angemessener Weise Erhaltenes!« zu denken. Nicht weniger relevant sind die beiden anderen Prinzipien »Erfülle die Erwartungen, die mit deinen übernommenen Rollen einhergehen!« und »Erfülle deine freiwillig eingegangenen Verpflichtungen!«. Da der genaue Inhalt der Pflichten, die letztlich aus diesen Prinzipien resultieren, situationsspezifisch ist, kann an dieser Stelle nur annäherungsweise dargestellt werden, wozu der individuelle Akteur im Kontext der Familienbeziehungen verpflichtet ist.
Von Eltern zu Kindern Mit Blick auf die Eltern-Kind-Beziehung hat Seglow eine sinnvolle Auflistung gegeben, wozu Eltern in der Regel verpflichtet sind: They have, in the first place, duties to provide them with those goods children need which they are not able to acquire themselves. Parents have duties to feed, clothe, shelter and stimulate their children, and so on, in a context of loving care. They have duties to protect their children from other agents who could harm them and help manage the introduction of the world to the child. Parents also have duties to raise and nurture their children and help them develop into normally capable adults. They have duties to inform, encourage and reassure their children so that as adults they will have the abilities, resilience and self-belief necessary to pursue their own ends and attachments. Parents have duties also to cultivate in their children the values and dispositions for them to function as normally co-operating members of the moral community, able to discharge their responsibilities to others. 74
Offensichtlich ist die Erfüllung dieser Pflichten notwendig, um nicht nur das langfristige Wohlergehen der Kinder als Erwachsene zu sichern, sondern bereits im Kindesalter. Um beide Ziele zu erreichen, die zweifelsohne aus der Unparteilichkeit gerechtfertigt sind, bedarf 74
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Seglow 2013, 52.
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es an vielen Stellen des angesprochenen Vorrangs, der mit der dargestellten Gewichtungsregel einhergeht. Auf der anderen Seite lässt sich fragen, welche Pflichten nicht gegenüber den Kindern bestehen bzw. wann den entsprechenden Handlungen zu viel Gewicht beigemessen wird. Mit Giesinger lässt sich sagen, dass Eltern nicht dazu verpflichtet sind, ihre gesamte Zeit und Energie für die Kinder aufzuwenden, insbesondere nicht, wenn dies dazu führt, dass die eigenen Projekte und Ziele aufgegeben werden müssen. 75 Eine andere Grenze lässt sich mit Brighouse und Swift zeichnen. Demnach sind Eltern ebenso wenig dazu verpflichtet, den Kindern die bestmögliche Erziehung bzw. Bildung zukommen zu lassen, beispielsweise indem sie ihre Kinder auf teure Privatschulen oder Internate schicken, und zwar schon deshalb nicht, weil dies nicht selten zu einer schlechteren Annäherung an das optimale Aggregationsergebnis führt: Parents who, in order to earn the money required to send their children to expensive private schools, work such long hours that they hardly get to be with those children as they are growing up, or who send their young children away to schools believed likely to yield material and cultural benefits in due course, are, often, making a mistake about the ways in which parents can most effectively contribute to their children’s wellbeing, all things considered (as well as missing out on a potential source of flourishing in their own lives). From this perspective, their failure should be conceived as an inefficiency; guided by a misunderstanding of what is important, parents are misallocating the resources (perhaps especially time) at their disposal. 76
Schwieriger zu bewerten ist der Zwischenbereich zwischen der grundsätzlichen Sorge und Erziehung der Kinder, die einen gewissen Vorrang rechtfertigt, und der Privilegierung durch teure Privatschulen und Internate. In welchem Umfang darf man beispielsweise den eigenen Kindern Geschenke machen, die im Kontext der absoluten Armut als Luxusgeschenke zu gelten haben? Oder darf man den eigenen Kindern teuren Musikunterricht geben, obwohl man dieses Geld auch hätte spenden können? Bezüglich dieser Fragen ist es hilfreich, einen Blick zurück zu den Ergebnissen beim individuellen Akteur zu werfen. So wurde beim individuellen Akteur gerechtfertigt, dass er in einem gewissen Umfang seine eigenen Projekte und Ziele verfolgen Vgl. Giesinger 2015, 121. Wie Giesinger weiter richtig darstellt, zählt allerdings die Übernahme der Elternrolle voraussichtlich nicht selten selbst zu diesen Projekten. 76 Brighouse und Swift 2009, 63. 75
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kann. Dies bedeutet unter anderem, dass er einen Teil seiner Freizeit in einem Sportverein verbringen kann 77, für den er einen Mitgliedsbeitrag zu entrichten hat, oder indem er sich musikalisch weiterbildet und ein Instrument erlernt. Dieses Ergebnis lässt sich auf die Kinder des Akteurs übertragen. Neben der Schule dienen auch bei Kindern Freizeitaktivitäten zum Ausgleich für die Schule, die in gewisser Hinsicht ein Arbeitsäquivalent ist, und zur Förderung und Entwicklung der Talente. Analog zum Akteur sollten daher auch Kinder die Möglichkeit haben, in Vereine einzutreten oder Musikunterricht und dergleichen zu erhalten, auch wenn dies mit monatlichen Kosten einhergeht. Allerdings unterscheiden sich die jeweiligen Freizeitinteressen, Projekte und Ziele deutlich. Insbesondere mit Blick auf Talbotts Analyse der individuellen Experimente eines guten Lebens ist nicht zu erkennen, wie zwischen wertvollen und weniger wertvollen Freizeitaktivitäten unterschieden werden kann. Ausgehend davon, dass die Mitgliedschaft in einem Sportverein oder der Musikunterricht legitim ist, sollten daher auch andere Freizeitaktivitäten als legitim anerkannt werden. Das spricht für eine Art Freizeitbudget. Für welche Freizeitaktivität dieses Budget dann verwendet wird, ist den individuellen Vorlieben überlassen. Alle Ausgaben für die Kinder, die innerhalb dieses Budgets liegen, sind demnach legitim; alle, die darüber liegen, sind moralisch fraglich. Dies kann durchaus bedeuten, dass es angemessen ist, einem Jugendlichen einen neuen PC und entsprechende Computerspiele zu kaufen, wenn dies seine bevorzugte Freizeitbeschäftigung ist und innerhalb des Budgets liegt. Welche weiteren Pflichten gegenüber den Kindern bestehen (oder eben nicht), hängt letztlich von der konkreten Beziehung, mit den relevanten Faktoren, wie zum Beispiel den selbstauferlegten Verpflichtungen und den Rollenerwartungen ab. An dieser Stelle kann auf Cottinghams These zurückgekommen werden. Handeln Eltern also unmoralisch, wenn sie sich jeden Abend um ihr krankes Kind kümmern und nicht zeigen können, dass es keine andere Handlung gibt, die zu einem besseren Aggregationsergebnis führt? Zunächst einmal haben Eltern wie dargestellt aus der selbstauferlegten Verpflichtung, sich um das Kind zu kümmern, die besondere Pflicht, sich tatsächlich um das Kind zu kümmern. Selbst wenn es eine Alternativhandlung
77
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Siehe hierzu den Abschnitt Die Mitte.
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gibt, die ggf. in der konkreten Situation zu einer besseren Annäherung an das optimale Aggregationsergebnis führt und die den Eltern auch bewusst ist, führt dies aufgrund der entsprechenden Gewichtungsregel in der Regel nicht dazu, dass die Eltern die Alternativhandlung zu vollziehen haben. Erst wenn das Ergebnis deutlich besser ausfallen würde, beispielsweise weil das eigene Kind durch die geringere Aufmerksamkeit eine kurze psychische Unannehmlichkeit erfahren würde, das andere Kind jedoch ohne die Unterstützung ernsthafte Schäden zu erleiden hätte, würde die besondere Pflicht übertrumpft werden.
Von erwachsenen Kindern zu Eltern Nachdem besprochen wurde, wozu Eltern gegenüber ihren Kindern verpflichtet sind, muss kurz dargestellt werden, wozu erwachsene Kinder gegenüber ihren Eltern verpflichtet sind. Grundsätzlich gelten in dieser Kind-Eltern-Beziehung die gleichen besonderen Pflichten bzw. Prinzipien, die auch bei den anderen Familienbeziehungen gelten, nicht zuletzt, weil erwachsene Kinder für gewöhnlich ebenso in einer optimalen Lage sind, den Eltern zu helfen; Sie kennen die Bedürfnisse, verfügen über entsprechende Mittel usw. 78 An dieser Stelle kann es also wiederum nur darum gehen, etwas mehr zu spezifischen Pflichten zu sagen, die sich auf andere bereits gerechtfertigte Prinzipien zurückführen lassen. Dabei ergibt sich ein Großteil der Pflichten der erwachsenen Kinder gegenüber ihren Eltern aus dem Argument der moralischen Arbeitsteilung: Für gewöhnlich ist es Eltern nicht egal, wer sie zu wichtigen Anlässen besucht oder ganz allgemein Zeit mit ihnen verbringt, insbesondere wenn der Lebenspartner nicht mehr vorhanden ist. Selbst wenn eine fremde Person, zum Beispiel ein Sozialarbeiter, eine derartige Aufgabe übernimmt, wird den meisten Eltern etwas fehlen, wenn diese Zuwendung nicht von den eigenen Kindern kommt, obwohl sie von diesen kommen könnte. Dieser Bedarf an Zuwendung von bestimmten Menschen – nämlich den eigenen Kindern – ist der Grund, warum nach Goodin Kinder ihre Eltern im erhöhten Maße verletzen können:
78
Vgl. Seglow 2013, 77.
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The reason why children have the responsibilities they do is that their parents are vulnerable to their actions and choices. […] Within families, as elsewhere, responsibilities are greater where vulnerabilities are greater. 79
Besonders deutlich wird dies an besonderen Tagen wie Geburtstagen oder Weihnachten. 80 Für gewöhnlich wollen Menschen diese Tage nicht mit irgendwelchen Leuten verbringen, sondern mit ganz bestimmten Menschen, die ihnen nahestehen. Es mag sein, dass derartige Besuche für die erwachsenen Kinder eine gewisse Unannehmlichkeit mit sich bringen. Doch dürfte in der Regel die Wohlergehensdifferenz positiv ausfallen. 81 In diesem Sinne ist davon auszugehen, dass erwachsene Kinder die Pflicht haben, einen bestimmten Teil ihrer Zeit und Energie für ihre Eltern zur Verfügung zu stellen, insbesondere bei wichtigen Anlässen. Darüber hinaus lässt sich fragen, ob Kinder verpflichtet sind, erhebliche materielle Güter für ihre Eltern zur Verfügung zu stellen, beispielsweise Geld für den Lebensunterhalt oder einen Wohnplatz. Eine entsprechende Pflicht ließe sich ggf. aus dem Prima-facie-Prinzip »Erwidere in angemessener Weise Erhaltenes!« folgern. So haben Eltern in der Regel zunächst viele Ressourcen für die Kinder investiert, häufiger sogar mehr, als sie verpflichtet waren. In späteren Jahren ist es dann an den Kindern, diese Gaben angemessen zu erwidern. Gegen eine entsprechende Pflicht argumentiert beispielsweise Mills: Erwachsene Kinder schulden ihren Eltern all das, was der gemeinsamen Teilhabe an einer bedingungslosen, unfreiwilligen Beziehung entspringt, nicht jedoch (im Normalfall) materielle Güter, die auch anderweitig beschafft werden können. 82
Weiter heißt es: Erwachsene Kinder schulden ihren Eltern weder ein Zuhause, in dem sie wohnen können, noch Geld, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, oder tägliche Krankenpflege […] [und auch] keine Ehrerbietung oder Dankbarkeit. 83
79 80 81 82 83
252
Goodin 1985, 88, Hervorhebung im Original. Vgl. Keller 2015, 248. Vgl. Mills 2015, 275. Mills 2015, 262. Mills 2015, 274.
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Besondere Pflichten: Familie
Solange die Reziprozitäts- oder Dankbarkeitspflichten allein aus den erhaltenen Gütern als nicht erwachsenes Kind resultieren sollen, ist Mills zuzustimmen. Die Pointe bei den Reziprozitäts- und Dankbarkeitspflichten war, dass diese beziehungsstabilisierend wirken. Offensichtlich hat aber die finanzielle Unterstützung der erwachsenen Kinder als Erfüllung der Reziprozitäts- oder Dankbarkeitspflichten keinen beziehungsstabilisierenden Effekt. Es kann natürlich sein, dass derartige Handlungen dennoch beziehungsstabilisierend und deshalb nützlich sind. Doch dann basieren sie nicht auf dem Prinzip »Erwidere in angemessener Weise Erhaltenes!«. Möglich wäre beispielsweise, dass dieser Effekt aus den Rollenerwartungen gegenüber erwachsenen Kindern resultiert oder dass es gemäß dem Argument der moralischen Arbeitsteilung schlichtweg effizienter ist, wenn erwachsene Kinder für ihre Eltern materielle Güter bereitstellen. Letzteres wird aber implizit durch Mills Prämisse ausgeschlossen: Erwachsene Kinder brauchen keine Güter bereitzustellen, die auch anderweitig beschafft werden können. Ob sie anderweitig beschafft werden können bzw. werden, ist aber vorrangig eine politisch-gesellschaftliche Frage: Die Bürger eines Staates können sich legitimerweise zwischen verschiedenen Modellen zur Unterstützung bedürftiger Menschen entscheiden. Während ein Modell darauf ausgelegt sein kann, dass die Unterstützung individuell, sprich: von den nächsten Angehörigen zu organisieren ist, können sich die Bürger eines anderen Staates dafür entscheiden, dies als Gemeinschaft zu organisieren. Die Beantwortung der moralischen Frage, ob erwachsene Kinder ihren Eltern materielle Unterstützung schulden, ist in diesem Sinne davon abhängig, für welches Modell sich die Gesellschaft entschieden hat. 84 Insofern sich die Bürger eines Staates darauf geeinigt haben, dass vorrangig die Gemeinschaft für die Unterstützung zuständig ist, ist Mills Prämisse erfüllt. In Abhängigkeit davon, wofür sich die Gesellschaft entschieden hat, dürfte auch die Rollenerwartung stehen. Wenn die Gesellschaft für die Unterstützung aufzukommen hat, sind es eben nicht die erwachsenen Kinder, von denen diese Leistung erwartet wird. Zusammenfassen lässt sich demnach, dass erwachsene Kinder nicht grundsätzlich moralisch verpflichtet sind, den Eltern materielle Güter und dergleichen mehr zur Verfügung zu stellen. Allerdings kann eine entsprechende Pflicht aus dem Argument der moralischen 84
Vgl. Singer 2004a, 166–167.
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Arbeitsteilung und dem Argument der Rollenerwartung folgen, wenn die entsprechenden Güter nicht durch andere bereitgestellt werden können, beispielsweise weil sich die Gemeinschaft gegen eine derartige Unterstützung ausgesprochen hat. Hingegen sind erwachsene Kinder in der Regel verpflichtet, einen bestimmten Teil ihrer Zeit und Energie für ihre Eltern zur Verfügung zu stellen.
Ergebnis des 11. Kapitels Der Kern des Kapitels bestand in der Rechtfertigung der folgenden Gewichtungsregel: –
Räume jener Handlung ein größeres Gewicht ein, mit der du das Wohlergehen derjenigen positiv beeinflussen kannst, zu denen du gute Beziehungen unterhältst!
Darüber hinaus konnte gezeigt werden, dass die familiären Beziehungen ebenso unter das bereits gerechtfertigte Prima-facie-Prinzip »Kultiviere und pflege gute Beziehungen!« fallen. Anhand der Beziehung zwischen Eltern und ihren nicht erwachsenen Kindern sowie zwischen erwachsenen Kindern und ihren Eltern konnten darüber hinaus weitere Pflichten gerechtfertigt werden, die sich allerdings auf die bereits gerechtfertigten Prima-facie-Prinzipien zurückführen lassen.
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Kapitel 12: Freundschaft
Damit kann zum zweiten Kreis, den Freundschaften, übergegangen werden. Zunächst wird abermals kurz dargestellt, was im Wesentlichen unter Freundschaft zu verstehen ist. Im Anschluss daran werden wieder die einzelnen Argumente hinsichtlich der Freundschaft besprochen und dargestellt, welche besonderen Pflichten bzw. Prinzipien sich rechtfertigen lassen.
Was ist unter Freundschaft zu verstehen? Denkt man an Klassiker der Freundschaft wie Aristoteles 85 und Montaigne 86, dann erhält man ein idealisiertes Bild der Freundschaft. Zusammenfassend schreibt beispielsweise Schopenhauer: Wahre, echte Freundschaft setzt eine starke, rein objektive und völlig uninteressierte Teilnahme am Wohl und Wehe des andern voraus, und diese wieder ein wirkliches Sich-mit-dem-Freunde-Identifizieren. 87
Insofern man derartig anspruchsvolle Vorstellungen von Freundschaften hat, ist Schopenhauers Befürchtung zu teilen, die er gleich im Anschluss an dieses Zitat ausdrückt: Dem steht der Egoismus der menschlichen Natur so sehr entgegen, daß wahre Freundschaft zu den Dingen gehört, von denen man, wie von den kolossalen Seeschlangen, nicht weiß, ob sie fabelhaft sind, oder irgendwo existieren. 88
Vielleicht gibt es derartige Freundschaften – auch Schopenhauer hält dies für möglich –, aber sie entsprechen für gewöhnlich nicht unseren 85 86 87 88
Vgl. Aristoteles 2003, 213–270 [EN VIII–IX]. Vgl. Montaigne 2007. Schopenhauer 1968, 208–209. Schopenhauer 1968, 209.
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alltäglichen Freundschaften, also nicht den Beziehungen, die gemeint sind, wenn wir von unseren Freunden sprechen. Um diese alltäglichen Freundschaften soll es im Folgenden gehen. 89 Das Grundproblem an diesen idealisierten Vorstellungen hat Harald Lemke in seinem philosophischen Essay über Freundschaft treffend formuliert. So stellt er fest, dass wir, im Gegensatz zu vielen familiären und verwandtschaftlichen Beziehungen, Freundschaften freiwillig schließen und pflegen. Die interessante Frage lautet dann: Wenn Freundschaften freiwillig geschlossen werden, warum schließt und pflegt man sie überhaupt? Hierfür muss es einen Grund geben, und dieser liegt im individuellen Akteur: Mit anderen Worten: Freundschaften sind solche persönlichen Beziehungen zu Anderen, die freiwillig und selbstbestimmt gestaltet werden und diesbezüglich ein eigenes Interesse an ihrem Zustandekommen voraussetzen. Weil uns nichts und niemand zwingt, Freunde zu haben, pflegen wir Freundschaften nur, sofern sie uns ›etwas bringen‹, wir Lust auf sie haben und sie bezüglich unseres Wollens und Fühlens, unserer Bedürfnisse und Wünsche von Wert sind. 90
Dass es einen Grund in uns geben muss, der damit etwas zu tun hat, dass Freundschaften uns selbst »etwas bringen«, heißt aber nicht, dass wir in Freundschaften immer nur versuchen, unser eigenes Wohlergehen zu mehren, und wir nicht um des anderen willen handeln bzw. handeln können. Mit Goodin lässt sich sagen: »To count as true friendship, a relationship cannot be one-way.« 91 Es heißt eben nur, dass es auch diesen egoistischen Grund geben muss. 92 Ein Beispiel mag dies verdeutlichen: (K12a) Akteur A pflegt seit einigen Jahren regen Kontakt zu einer anderen Person P. A unternimmt gemeinsame Aktivitäten mit P, sie reden über intime Angelegenheiten und vieles mehr. Dennoch hat A kein Wohlgefallen an der Anwesenheit von P. Vielleicht empfindet A P als zu aufdringlich oder intellektuell nicht ansprechend oder es hat einen anderen Grund. Jedenfalls trifft sich A mit P nur um Ps willen Vgl. auch Cocking und Kennett 2000. Zur Diskussion, ob der Utilitarist auch ein »wahrer« Freund sein kann, siehe Bykvist 2010, 106–110. 90 Lemke 2000, 27, Hervorhebung im Original. 91 Goodin 1985, 98. 92 Vgl. demgegenüber Scheffler 2001, 121, der daraus folgert, dass Beziehungen einen nicht-instrumentellen Wert haben müssen. Zu einer Kritik dieser Schlussfolgerung siehe Keller 2013, 67. 89
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Was ist unter Freundschaft zu verstehen?
regelmäßig. A tut es letztlich freiwillig, weil A weiß, dass es P dadurch gut geht.
Handelt es sich hierbei um eine Freundschaft? Eher nicht, und zwar deshalb nicht, weil A kein Wohlgefallen an P hat. Erst wenn die Situation so umgeschrieben wird, dass auch A gerne Zeit mit P verbringt, gelangt man zur Freundschaft. Natürlich wäre es auch keine Freundschaft, wenn der einzige Grund, warum A mit P Zeit verbringt, darin besteht, dass A etwas davon hat. Für wirkliche Freundschaft braucht es eben auch das »um des anderen willen«. Damit ist nicht nur »um des anderen willen« in Form des klugen Eigeninteresses gemeint, weil es einem besser geht, wenn es dem vermeintlichen Freund gut geht, sondern dass man vielmehr eine grundlegende Zuneigung zum anderen hat, die letztlich nicht willentlich bestimmt ist: A friend has affection for her friend […]. If I am a genuine friend to Fred, I like Fred, and this means I have a strong desire that he flourish and a strong desire to help him to flourish when the help is appropriate. On this view, to be a friend is to have affection for the friend and a desire for her good. This is a matter of feelings, not will. 93
Für die Diskussion der Freundschaft im Rahmen einer konsequentialistischen Theorie ist ein weiterer Punkt von zentraler Bedeutung: Das »um des anderen willen« für einen Freund ist nicht irgendein »um des anderen willen«, sondern ein qualifiziertes »um des anderen willen«. Wenn beispielsweise ein Akteur einer fremden Person hilft, nicht um Dank zu ernten oder dergleichen, sondern einfach, um dieser Person zu helfen; dann hat dieser Akteur ebenso um des anderen willen gehandelt. Vielfach wird eine derartige Hilfe optional sein; der Aufwand und die Unannehmlichkeit, die für einen selbst entstehen, entsprechen in etwa dem Aufwand oder der Unannehmlichkeit, die man einem anderen erspart. Demgegenüber ist das um des anderen willen in Freundschaften nicht in dieser Weise optional. Wenn ein Freund Hilfe benötigt, ist es in der Regel nicht in der gleichen Weise optional, ihm zu helfen. Dies gilt selbst dann, wenn es für den Akteur einen größeren Aufwand bzw. eine größere Unannehmlichkeit bedeutet. Im Folgenden ist zu untersuchen, ob sich Handlungen, die um des anderen willen ausgeführt werden und nicht optional sind, auch im Rahmen des Multi-Ebenen-Konsequentialismus rechtfertigen lassen. 93
Arneson 2003, 393–394.
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Anwendung der Argumente Argument der menschlichen Natur Die wesentlichen Aspekte hinsichtlich des Argumentes der menschlichen Natur wurden bereits an anderen Stellen dargestellt. 94 So wurde mit Cottingham gezeigt, dass es zur menschlichen Natur gehört, entsprechende Bindungen einzugehen, und mit Hooker wurde ergänzt, dass sich diese auf die Evolution des Menschen zurückführen lässt. Mit Singer lässt sich darüber hinaus sagen, dass die wenigsten Menschen ein glückliches Leben ohne Freunde führen werden. 95 Untermauern lässt sich dies durch einige empirische Ergebnisse. So fasst beispielsweise Klein verschiedene Studien wie folgt zusammen: Bindungen an andere sind einer der wenigen äußeren Faktoren, die unter praktisch allen Umständen die Lebenszufriedenheit steigern […]. Und Freunde verhelfen Menschen zu einem längeren Leben. […] Soziale Kontakte beeinflussen die Lebenserwartung im Schnitt mindestens so stark wie Rauchen, Bluthochdruck, Übergewicht oder regelmäßiger Sport. 96
Kurzum: Freundschaften sind für das individuelle Wohlergehen instrumentell äußerst wertvoll; ein wirklich erfülltes Leben wird in der Regel ohne Freundschaften nicht möglich sein.
Argument der moralischen Arbeitsteilung Auch die Aspekte hinsichtlich der moralischen Arbeitsteilung unterscheiden sich nicht wesentlich vom bereits Gesagten bzw. von den Ergebnissen, die im Rahmen der Familienbeziehungen herausgearbeitet wurden. Für gewöhnlich wissen Freunde von ihren Freunden viel besser als von anderen Menschen, was für deren Wohlergehen förderlich oder schädlich ist. Zum Teil wissen sie sogar besser über den Freund Bescheid und folglich, wie dessen Wohlergehen befördert werden kann, als dieser selbst. In diesem Sinne schreibt Kleist an seinen Freund Ernst von Pfuel:
94 95 96
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Siehe insbesondere den Abschnitt Argument der menschlichen Natur. Vgl. Singer 2004a, 162. Klein 2014, 205–206.
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Anwendung der Argumente
[U]nd ob ich dir gleich die ganze Einsicht in meinen Zustand selber gegeben habe, so rückst du mir doch zuweilen mein Bild so nahe vor die Seele, daß ich darüber, wie vor der neuesten Erscheinung von der Welt, zusammenfahre. 97
Mit Lemke lässt sich ergänzen, dass Freundschaften, neben Familienbeziehungen, »das potenzielle Übel eines ungewollten Alleinseins sowie eines damit einhergehenden unausgefüllten, unbefriedigenden Soziallebens« 98 verhindern. In der Summe ist daher zu erwarten, dass es häufig sehr nützlich ist, wenn die Freunde Ressourcen wie Zeit und emotionales Engagement vorrangig in ihre Freundschaft investieren, weil dies zu einer besseren Annäherung an das optimale Aggregationsergebnis führt.
Freier Zusammenschluss zu Kooperationsvereinigungen Neben den Beziehungen einer Familie gehören Freundschaften zu den wenigen Beziehungen, in denen es möglich ist, eine vertrauensvolle und geistig intime Beziehung zu anderen Menschen zu führen und somit das entsprechende Gut zu realisieren. Insbesondere für Menschen, die aus verschiedenen Gründen in instabile oder dysfunktionale Familienzusammenhänge eingebunden sind oder bei denen überhaupt keine Familienbeziehungen bestehen, können Freundschaften die einzige Möglichkeit sein, eine vertrauensvolle und geistig intime Beziehung zu anderen Menschen auszuleben. Darüber hinaus teilen Freundschaften mit Familienbeziehungen das Merkmal, dass Freunde in der Regel bereit sind und sich auch verpflichtet fühlen, die Freundschaft aufrechtzuerhalten. Zwar gilt dies häufig selbst dann, wenn der Wert der Freundschaft zeitweilig fraglich wird. Im Unterschied zur Familienbeziehung droht allerdings in einem erhöhten Maße die Beendigung der Kooperationsvereinigung Freundschaft, wenn der Grund für die Aufrechterhaltung der Freundschaft über einen längeren Zeitraum nicht mehr gegeben ist. In Anbetracht des emotionalen Engagements, das bis zu diesem Zeitpunkt bereits in die Freundschaft eingeflossen ist, und der Verletzbarkeit, die aus einem Beenden einer Freundschaft resultiert, sowohl hinsichtlich des geteilten Wissens als auch der emotionalen Abhängigkeit, spricht 97 98
Kleist 2010, 831. Lemke 2000, 3.
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aus konsequentialistischer Sicht einiges dafür, die Aufrechterhaltung dieser Beziehungen bzw. zumindest den Versuch dazu durch eine moralische Pflicht zu stützen.
Selbstauferlegte Verpflichtungen Neben familiären Beziehungen gehören Freundschaften zu denjenigen Beziehungen, bei denen es zu den meisten und vor allem intensivsten selbstauferlegten Verpflichtungen kommt. Dies betrifft zum einen die »einfachen« Versprechen, die aber eine erhebliche Koordinationswirkung haben. Hier ist beispielsweise an das Versprechen zu denken, bei einem Umzug zu helfen, im Urlaub die Pflanzen zu gießen oder gelegentlich die Kinder der Freunde zu betreuen. Damit die koordinierende Wirkung und damit der nützliche Effekt tatsächlich eintreten können, ist es abermals notwendig, dass sich die Freunde sicher sein können, dass die Versprechen wirklich eingehalten werden. Zum anderen gibt es, analog zur selbstauferlegten Verpflichtung in der Partnerschaft, auch im Rahmen der Freundschaft eine eingegangene Verpflichtung, die über diese einfachen Versprechen hinausgeht. Gemeint ist das Eingehen der Freundschaft als eine unbefristete Beziehung. Natürlich kann der individuelle Akteur zahlreiche weitere Verpflichtungen eingehen, die zunächst ebenso unbefristet sind. Allerdings lässt sich mit Jackson sagen, dass Freundschaften – ebenso wie familiäre Beziehungen – als langfristige Projekte aufgrund der menschlichen Natur einen entscheidenden Vorteil mit sich bringen, der bei der Abwägung einer konkreten Handlung, durch die der Freundschaft geschadet werden kann, zu berücksichtigen ist: This means that in deciding what to do here and now an agent must take account of what he or she will do in the future, and that involves taking very seriously questions of character. Do I have the persistence that will be called for, will I remain sufficiently enthusiastic about the project to put in the time required, will I be able to retain a sufficiently impartial outlook, will I be able to avoid the various temptations that will arise, and so on and so forth? For some of us in some situations these kinds of considerations count against attempting to secure benefits for our friends and family. […] But as a rule we do better for reasons of character (that no doubt have an evolutionary explanation) with projects that involve family and friends rather than strangers. This is simply because we are much less likely to lose the
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Anwendung der Argumente
enthusiasm required to see the project through to a successful conclusion when the project benefits people we have a particular affection for. 99
Häufig wird sich der individuelle Akteur in konkreten Situationen keine derartigen Fragen stellen, wodurch die Gefahr besteht, dass der langfristige Wert der Freundschaft zu niedrig angesetzt wird. Der Wert der Freundschaft ergibt sich jedoch nicht aus jeder einzelnen Handlung. Für sich genommen lassen sich die allermeisten Einzelhandlungen, die mit Freunden vollzogen werden, auch mit anderen Menschen, mit denen der Akteur nicht befreundet ist, vollziehen. In der konkreten Situation würde dies nicht zwangsläufig zu einem schlechteren Aggregationsergebnis führen. Der wahre Wert der Freundschaft ergibt sich erst aus einem anhaltenden Zeitraum, bei dem immer neue Erlebnisse mit den Freunden geteilt werden, an die man sich gemeinsam erinnern kann. Daraus lässt sich zweierlei folgern: Erstens wird es zu einer Annäherung an das optimale Aggregationsergebnis führen, wenn den Freundschaften in Konfliktfällen ein leichter Vorrang eingeräumt wird, und zweitens muss das Einräumen eines Vorrangs nicht nur als Möglichkeit bestehen, sondern als Disposition verankert werden, die verlässlich greift. 100
Zugeschriebene Rollen und einhergehende Erwartungen Was mit Freundschaften einhergeht, sind zugeschriebene Rollen und Erwartungen. An jemanden, mit dem man befreundet ist, stellt man bestimmte Erwartungen. So schreibt Löschke: Freunde sollen Loyalität zeigen, ihre Erfolge miteinander teilen, einander emotionale Unterstützung zukommen lassen, einander vertrauen, einander zu Hilfe kommen, wenn Hilfe benötigt wird, und versuchen, das Wohlergehen des anderen zu fördern. 101
Im Detail können die Erwartungen von Freundschaft zu Freundschaft natürlich stark variieren. Eine Stärke des Konsequentialismus besteht gerade darin, dass er diese Variation aufnehmen kann The crucial truth in the consequentialist view is that the standards to which we are subject within our special relationships are, partly, social standards Jackson 1991, 480, Hervorhebung im Original. Vgl. auch Powers 2000, 245. 101 Löschke 2015, 357. 99
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and can be evaluated as such. What you ought to do for a friend, for example, depends partly upon how friendship is understood within your society. 102
Unabhängig davon, welche Erwartungen es im Detail sind, die mit einer spezifischen Freundschaft einhergehen, wird darauf vertraut, dass den Freunden diese Dinge ebenso wichtig sind wie einem selbst oder aber, dass ihnen zumindest nicht gleichgültig ist, dass diese Dinge für einen selbst von Bedeutung sind. Dieses grundsätzliche Vertrauen ist nach Goodin einerseits eine Kernkomponente von Freundschaften und andererseits einer der Gründe, warum man in einem erhöhten Ausmaß durch Freunde verletzbar ist. 103 Die Enttäuschung der jeweiligen Erwartungen – ob schuldhaft oder nicht – ist häufig ein Grund dafür, dass Freundschaften in Krisen geraten, die langfristig die Freundschaft insgesamt bedrohen. Wie bereits gezeigt, würde der Versuch, in jeder Handlung streng unparteiisch zu handeln, solche Erwartungen immer wieder aufs Neue enttäuschen, so dass sich Freundschaften langfristig nicht aufrechterhalten ließen. 104
Reziprozität und Dankbarkeit Mit Kolodny lassen sich Freundschaften als eine Geschichte der gegenseitigen Hilfe verstehen. 105 Damit werden die Aspekte der Reziprozität und der Dankbarkeit relevant. Ebenso wie bei den Familienbeziehungen kommt es nicht darauf an, dass alles gleichermaßen zurückgegeben wird. Häufig ist dies aufgrund von asymmetrischen Möglichkeiten der Freunde auch gar nicht möglich. Aber ohne eine Form der Rückgabe wird sich auch eine Freundschaftsbeziehung langfristig destabilisieren. In welcher Form die Rückgabe zu erfolgen hat, hängt von der individuellen Beziehung und den individuellen Möglichkeiten ab. Einen Orientierungspunkt für den reziproken Tausch bietet dabei sicherlich die gleiche Rücksichtnahme auf die Gefühle des anderen. So lässt sich mit Goodin sagen, dass die emotionale Verletzung, die durch Freunde hervorgerufen werden kann, sicherlich zu den schwersten zählt, die der individuelle Akteur erleiden kann: 102 103 104 105
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Keller 2013, 127. Vgl. Goodin 1985, 97–98. Vgl. Wolf 2015, 135. Vgl. Kolodny 2010b, 182.
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Besondere Pflichten: Freundschaft
If it is he who lets you down, you are hurt more deeply; you feel betrayed. This greater emotional vulnerability between persons who reciprocate affection explains why their responsibilities should be reciprocal and especially strong. 106
Besondere Pflichten: Freundschaft Welche besonderen Pflichten folgen aus dieser Analyse hinsichtlich der Freundschaftsbeziehungen? Wie die Diskussion der einzelnen Argumente deutlich gemacht hat, überschneiden sich Freundschaftsbeziehungen mit Familienbeziehungen bei allen zentralen Aspekten. Abermals gilt, dass Freundschaften aus einer unparteiischen Perspektive sowohl gerechtfertigt als auch gefordert sind, weil wir erstens nicht durchgängig zum unparteiischen Handeln fähig sind, zweitens Freundschaften zur Maximierung des Wohlergehens beitragen und drittens eine Annäherung an das optimale Wohlergehensniveau ohne Freundschaft nicht erreichbar ist. Ebenso wurde deutlich, dass Freundschaften durch eine allzu unparteiische Abwägung gefährdet sind, weil mit Freundschaften bestimmte Erwartungen einhergehen, die durch ein möglichst unparteiisches Handeln enttäuscht werden. Daher ist es letztlich nicht überraschend, dass sich gegenüber Freunden die gleichen Prinzipien rechtfertigen lassen, bzw. dass die bereits gerechtfertigten Prinzipien Freundschaften mit einschließen. Zu nennen sind insbesondere das Prima-facie-Prinzip »Kultiviere und pflege gute Beziehungen!« sowie die Gewichtungsregel »Räume jener Handlung ein größeres Gewicht ein, mit der du das Wohlergehen derjenigen positiv beeinflussen kannst, zu denen du gute Beziehungen unterhältst!«. Neben den Pflichten, die sich aus diesen beiden Prinzipien ergeben, entstehen im Rahmen der Freundschaft insbesondere auf der Basis der freiwillig eingegangenen Verpflichtung, der Verpflichtungen, die aus den in der Freundschaft vorherrschenden Erwartungen resultieren, sowie aus der Verpflichtung, Erhaltenes angemessen zu erwidern, weitere Pflichten. Mit Mills lässt sich der Einwand vorbringen, dass es sich bei diesen Pflichten nicht um Pflichten handelt, weil gemeinsam Zeit miteinander zu verbringen, füreinander da zu sein und dergleichen mehr bereits im Begriff der Freundschaft steckt; anders ausgedrückt: Per106
Goodin 1985, 98.
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sonen die nicht in dieser Art und Weise handeln, sind im Grunde genommen keine Freunde. 107 Zwar hat Mills damit recht, dass ein derartiges Handeln zur Freundschaft gehört, doch daraus lässt sich nicht schließen, dass es nicht auch eine moralische Pflicht gibt, so zu handeln. In diesem Sinne könnte es durchaus sein, dass es zwar zur Freundschaft gehört, in einem gewissen Umfang parteiisch zu handeln, dass Freundschaften aber aufgrund dieser geforderten Parteilichkeit unmoralisch sind. Daher ist die Feststellung, dass eine gewisse Parteilichkeit gegenüber Freunden moralisch gerechtfertigt und sogar gefordert ist, im Rahmen einer normativen Theorie, die das Prinzip der Unparteilichkeit enthält, ein wichtiges Ergebnis, das über die reine Bestimmung, was es heißt, Freund zu sein, hinausgeht.
Ergebnis des 12. Kapitels Das zentrale Ergebnis dieses Kapitels lautet, dass sich die Gewichtungsregel, die im Rahmen der Familienbeziehungen gerechtfertigt wurde 108, auf Freundschaftsbeziehungen übertragen lässt und dass auch Freundschaften somit zu den guten Beziehungen zählen und damit unter das bereits gerechtfertigte Prima-facie-Prinzip »Kultiviere und pflege gute Beziehungen!« fallen. Darüber hinaus konnte gezeigt werden, dass gegenüber Freunden auch jene besonderen Pflichten bestehen, die bereits im 9. Kapitel als Prima-facie-Prinzipien gerechtfertigt wurden. Zu nennen sind hier die Prinzipien: Erfülle deine freiwillig eingegangenen Verpflichtungen! Erfülle die Erwartungen, die mit deinen übernommenen Rollen einhergehen! Und: Erwidere in angemessener Weise Erhaltenes!
107 108
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Vgl. Mills 2015, 262–263. Siehe hierzu das Unterkapitel Besondere Pflichten: Familie.
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Kapitel 13: Kooperationspartner im engeren Sinne
Nachdem in den vorangegangenen Kapiteln besondere Pflichten bzw. deren Prinzipienkorrelate gegenüber sich selbst, Familienmitgliedern und Freunden untersucht wurden, widmet sich dieses Kapitel der Frage, welche besonderen Pflichten gegenüber Kooperationspartnern im engeren Sinne bestehen bzw. inwieweit sich diese aus den bereits gerechtfertigten Prinzipien ableiten lassen. Erneut wird dazu zunächst kurz dargestellt, was unter Kooperationspartnern im engeren Sinne zu verstehen ist; anschließend werden die einzelnen Argumente hinsichtlich dieser Kooperationspartner untersucht und aufgezeigt, ob und ggf. welche besonderen Pflichten gegenüber diesen bestehen.
Was ist unter Kooperationspartner im engeren Sinne zu verstehen? Mit Seglow lassen sich fünf Kriterien herausstellen, um zu bestimmen, ob eine Vereinigung eine Kooperationsvereinigung im engeren Sinne ist und dementsprechend die Mitglieder dieser Vereinigung Kooperationspartner im engeren Sinne sind: For a group to count as an association, on this definition, it must exhibit each of five features which are together sufficient. First, and most obviously, associations consist of a plurality of individuals. Second, they have an institutional existence: they endure beyond the individuals who comprise them at any one time, like a family, though unlike a group of friends. Third, associations are constituted by a structure of rules and norms which may be formal or informal, or most often a combination of both. […] Fourth, associations are voluntary groups […]. The fifth and final criterion is that associations are purposive institutions. They exist in order to further some aim or goal which is shared by their members. 109 109
Seglow 2013, 111–112.
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13 · Kooperationspartner im engeren Sinne
Die Darstellung in den folgenden Abschnitten beschränkt sich auf zwei Kooperationsvereinigungen, die diese Kriterien erfüllen: Unternehmen mit den Kooperationspartnern »Arbeitskollegen« und (Sport-)Vereine mit den Kooperationspartnern »Vereinsmitglieder«. Mit Honohan lassen sich Arbeitskollegen »as people involuntarily related through their work or projects, and interdependent roughly as equals in a practice or institution« 110 definieren. Kennzeichnend ist weiterhin: While they may have varying degrees of choice in taking jobs or following a career, nonetheless colleagues do not generally choose one another in this process; they just find themselves together. […] Unlike neighbours, colleagues are not defined by mere proximity, but by structural roles; their interactions may be more or less immediate. 111
Ebenso mehr oder weniger direkt sind die Interaktionen zwischen Vereinsmitgliedern. Was sie neben der Vereinsmitgliedschaft als zentrales Element verbindet, ist ein gemeinsames Interesse, das der Grund dafür ist, dass sie dem Verein angehören. Ebenso wie im Unternehmen werden sie im Verein in der Regel nur selten durch andere Vereinsmitglieder direkt in den Verein aufgenommen, sondern eher mittelbar durch allgemeine Aufnahmebedingungen. 112 Unter Kooperationspartnern im engeren Sinne werden im Folgenden also Menschen verstanden, die sich für den Zusammenschluss in einer Vereinigung wie einem Unternehmen oder Verein entschieden haben, um dort einem gemeinsamen Ziel oder Interesse nachzugehen, ohne dabei einen nennenswerten Einfluss auf die Zusammensetzung der Kooperationspartner zu haben. Dabei kann es zwischen diesen Kooperationspartnern auch Freundschaften oder familiäre Beziehungen geben, die mit den bereits gerechtfertigten Prinzipien einhergehen. Im Folgenden wird es demgegenüber ausschließlich um Beziehungen gehen, bei denen diese zusätzlichen Verbindungen nicht vorhanden sind. Das heißt, der paradigmatische Kooperationspartner im engeren Sinne ist die Kollegin oder das Vereinsmitglied, deren Funktion man zwar in der Kooperationsvereinigung kennt, zu denen man allerdings keinen Kontakt hat, der über die Kooperationsbeziehung hinausgeht. So kann der Akteur zwar wissen, 110 111 112
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Honohan 2001, 55, Hervorhebung im Original. Honohan 2001, 55. Vgl. Walzer 2006, 76–78.
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Anwendung der Argumente
dass die Person eine Kollegin ist, aber dennoch nie einen persönlichen Kontakt zu ihr gehabt haben.
Anwendung der Argumente Argument der menschlichen Natur Sowohl für den individuellen Akteur selbst als auch für familiäre und freundschaftliche Beziehungen wurde auf der Basis der Natur des Menschen argumentiert, dass es aufgrund der menschlichen Natur – wenn überhaupt – nur mit enormen Internalisierungskosten möglich ist, Prinzipien zu verankern, die ein unparteiisches Handeln ermöglichen. Ist dies ebenso bei Kooperationspartnern im engeren Sinne gegeben? Wie dargestellt müssen Freunde und Familienangehörige bei dieser Frage ausgeklammert werden, obwohl sie ebenfalls Kooperationspartner sein können. Bezüglich der Kollegin, zu der man noch nie persönlichen Kontakt hatte, lässt sich dann aber nicht mehr zeigen, dass man ihr gegenüber aufgrund der menschlichen Natur eine parteiische Veranlagung hat, die zunächst mit hohem Aufwand unterdrückt werden muss. Häufig gleichen Kooperationspartner im engeren Sinne eher Fremden, die sich räumlich in unmittelbarer Nähe aufhalten. Aus der menschlichen Natur folgt demnach kein Argument zugunsten einer gerechtfertigten Parteilichkeit.
Argument der moralischen Arbeitsteilung Zur Charakterisierung der Kooperationsvereinigung im engeren Sinne gehörte, dass sich die Mitglieder zu einem gewissen Grad freiwillig zusammengeschlossen haben, um dort einem gemeinsamen Ziel oder Interesse nachzugehen. Bei der Mitgliedschaft in einem Sportverein handelt es sich beispielsweise um das Praktizieren einer sportlichen Aktivität bzw. die Befriedigung eines sportlichen Bedürfnisses; bei der Arbeit besteht das Ziel meistens im Erwerb eines Einkommens oder darin, dem Leben durch eine als wertvoll empfundene Tätigkeit einen Sinn zu verleihen. Wichtig im Rahmen des Multi-EbenenKonsequentialismus ist, dass sich die Nicht-Erfüllung des entsprechenden Bedürfnisses oder die Nichterreichung des Ziels negativ auf das Wohlergehen der individuellen Akteure auswirkt. Während Konsequentialismus und besondere Pflichten
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13 · Kooperationspartner im engeren Sinne
Freunde und Familie in vielerlei Hinsicht in der Lage sind, das Wohlergehen des individuellen Akteurs zu befördern, ist dies bei den hier vorliegenden Bedürfnissen und Zielen nicht im gleichen Maß gegeben. Da allerdings beispielsweise die Kollegen am ehesten für ein gutes und produktives Arbeitsklima sorgen können, während man mit den Vereinsmitgliedern in der Regel die relevante Vereinsaktivität am besten ausführen kann, ist die Aufgabe, bei der Erfüllung dieser Bedürfnisse und Ziele zu helfen, am sinnvollsten den Kooperationspartnern zuzuweisen.
Freier Zusammenschluss zu Kooperationsvereinigungen Kooperationsvereinigungen im engeren Sinne sind offensichtlich die paradigmatischen Vereinigungen, die unter den Aspekt des freien Zusammenschlusses zu Kooperationsvereinigungen fallen. Das Interesse, sich in einem Verein sportlich weiterzuentwickeln und sich ggf. regelmäßig mit anderen Teams zu messen, kann nicht von einem Akteur alleine befriedigt werden. Um sich mit anderen Teams bei einem Wettkampf zu messen, bedarf es vielmehr häufig einer ganzen Mannschaft. Der einzelne Akteur muss sich deshalb darauf verlassen können, dass die jeweiligen Kooperationspartner auch ihren Beitrag zur Kooperation leisten. Abermals bleibt festzustellen, dass der Versuch, in jeder Handlung völlig unparteiisch zu handeln, häufig dazu führen würde, dass Kooperationsvereinigungen aufgrund der sich daraus ergebenden mangelnden Kooperation scheitern. Dabei würde sich der Wohlergehensverlust nicht nur auf die Nichterfüllung des spezifischen Ziels oder Bedürfnisses beschränken, sondern auch auf die entgangene Befriedigung, die mittelbar mit dem eigentlichen Interesse in Verbindung steht. Hier ist beispielsweise an die Dinge zu denken, die sich der Akteur erst durch den Erwerb des Einkommens, welcher häufig ein Selbstzweck ist, leisten kann.
Selbstauferlegte Verpflichtungen Kooperationsvereinigungen im engeren Sinne sind ebenso ein Paradebeispiel für selbstauferlegte Verpflichtungen. Mit dem Unterzeichnen eines Arbeitsvertrags verpflichtet sich der Arbeitnehmer dazu, einen bestimmten Teil seiner Lebenszeit dem Unternehmen bzw. 268
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Anwendung der Argumente
dem Arbeitgeber zur Verfügung zu stellen. Mehr noch: Er verpflichtet sich auch dazu, nicht nur physisch anwesend zu sein, sondern – soweit möglich – in einem solchen physischen und psychischen Zustand zu sein, der es ihm erlaubt, die vorgesehene Arbeitstätigkeit produktiv auszuführen. Ebenso geht der individuelle Akteur mit dem Eintritt in einen Verein für gewöhnlich die Verpflichtung ein, sich in einem gewissen Umfang am Vereinsleben aktiv zu beteiligen. Hinzu kommen häufig weitere freiwillig eingegangene Verpflichtungen, wie die Übernahme verschiedener Vereinsfunktionen und die Teilnahme an Mannschaftswettkämpfen. Jede dieser Verpflichtungen nimmt einen gewissen Teil der Zeit in Anspruch, die dem Akteur insgesamt zur Verfügung steht. Wichtig ist dabei, dass das Einhalten der Verpflichtungen nicht nur einen Einfluss auf das eigene Wohlergehen hat, sondern auch auf das der Kooperationspartner. Wer in einem Unternehmen durch (unentschuldigtes) Fehlen den Mitarbeitern Mehrbelastungen aufbürdet oder durch (schuldhaftes) unkonzentriertes Arbeiten Fehlkalkulationen erstellt, schädigt nicht nur abstrakt den Ruf des Unternehmens, sondern gefährdet auch die Arbeitsplätze der Kollegen. Wer im Verein Funktionen wie Schlüsseldienst, Übungs- und Beratungsstunden, Fahrtdienst usw. übernimmt, diesen aber nicht nachkommt, behindert ebenso das Vereinsleben. Hieraus lässt sich folgern, dass es dem individuellen Akteur, der entsprechende Verpflichtungen eingegangen ist, die zweifelsohne für die Kooperationsvereinigung notwendig sind, möglich sein muss, diese Verpflichtungen auch zu erfüllen.
Zugeschriebene Rollen und einhergehende Erwartungen Die Variationsbreite der Erwartungen, die an den einzelnen Kooperationspartner gerichtet werden, ist so vielfältig wie die verschiedenen Rollen, die es bei den Kooperationspartnern im engeren Sinne zu besetzen gilt. Dennoch lassen sich gewisse rollenübergreifende Erwartungen ausmachen. So schreibt Honohan: What is expected of colleagues falls into three main categories: communication, consideration and trust. Thus it includes honesty, informing others about common affairs, consulting them on decisions affecting them, discussing matters likely to elicit different viewpoints, and supporting others in their interaction with the management and wider institution. At a more personal level, it requires showing consideration and concern, being aware Konsequentialismus und besondere Pflichten
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of others’ difficulties, and offering a range of support from listening and advising on work-related problems, to more active help in cases of illness or family crisis. 113
Während aber die Aspekte Ehrlichkeit, Informationsweiterleitung und Einbeziehung bei Entscheidungsfindungen sowie Rücksichtnahme und Unterstützung bei Problemen, die in direkter Beziehung zur Arbeit stehen, zum normalen Arbeitsalltag gehören und ein wesentlicher Bestandteil eines produktiven Arbeitsklimas sind, ist die geforderte Unterstützung bei Krankheit und Familienkrisen, die außerhalb der Arbeitstätigkeit liegen, fraglich, insbesondere wenn die damit einhergehenden Tätigkeiten nicht in die vereinbarte Arbeitszeit fallen. An dieser Stelle sei daran erinnert, dass es hier nur um reine Arbeitskollegen (oder Vereinsmitglieder) geht, die nicht zugleich Freunde sind. Fraglich ist dabei nicht, ob von den Kooperationspartnern erwartet werden kann, dass sie in einem gewissen Umfang die Arbeitsaufgaben, die aus dem Arbeitsausfall resultieren, kompensieren. Der Schaden für die Kooperationsvereinigung wäre zu hoch, wenn sie dies nicht täten. Fraglich ist, ob man erwarten kann, dass die Arbeitskollegen auch außerdienstliches Engagement übernehmen. Sicherlich wäre eine derartige Tätigkeit zu loben. Allerdings ist nicht zu sehen, woraus sich diese Erwartung ableiten lassen soll. Aus den selbsteingegangenen Verpflichtungen kann sie offensichtlich nicht stammen; zu außerdienstlichen Tätigkeiten hat sich der Akteur in der Regel gerade nicht verpflichtet. Was von den Kooperationspartnern im engeren Sinne sinnvollerweise nur erwartet werden kann, ist, dass sie ihre eingegangenen Verpflichtungen erfüllen. Dies bedeutet im weitesten Sinne, gute Arbeit zu leisten oder im Sinne des Vereins zu handeln.
Reziprozität und Dankbarkeit Auch bei der Vereinstätigkeit spielt die Reziprozität eine Rolle: Wer beispielsweise immer nur Empfänger nützlicher Informationen ist, diese aber nicht weiterleitet, wird dem produktivem Arbeitsklima auf lange Sicht schaden. Ein anderes Problem, das sich insbesondere bei Vereinen stellt, ist, dass bestimmte Positionen wie die des Vor-
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Honohan 2001, 57, Hervorhebung im Original.
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Besondere Pflichten: Kooperationspartner im engeren Sinne
standsmitglieds, des Kassenwarts usw. regelmäßig ehrenamtlich besetzt werden müssen, um das Vereinsleben zu gewährleisten. Jeder dieser Posten kostet eine gewisse Menge an Zeit und Energie und ist nicht selten mit erheblichem Mehraufwand für die Stelleninhaber verbunden. Deshalb wird es nur in den seltensten Fällen funktionieren, dass diese Posten immer von den gleichen Personen besetzt werden. Zu gegebener Zeit sind daher andere Vereinsmitglieder in der Pflicht, diese Personen abzulösen oder durch andere Tätigkeiten zu entlasten.
Besondere Pflichten: Kooperationspartner im engeren Sinne Lassen sich auf der Basis der dargestellten Ergebnisse besondere Pflichten bzw. korrelierende Prinzipien rechtfertigen bzw. greifen die bereits gerechtfertigten Prinzipien oder die Gewichtungsregeln bei Kooperationspartnern im engeren Sinne? Zunächst zur Frage, ob Kooperationspartner im engeren Sinne als gute Beziehungen im Sinne des Prinzip »Kultiviere und pflege gute Beziehungen!« zu verstehen sind: Hierzu müsste es der Fall sein, dass der individuelle Akteur ohne Kooperationspartner im engeren Sinn ein grundlegendes Bedürfnis nicht befriedigen kann, das bereits in der Natur des Menschen angelegt ist. In diesem Sinne wurde beispielsweise gezeigt, dass ein Akteur, der keine guten Freundschaften und Familienbeziehungen hat, in der Regel ein niedrigeres Wohlergehensniveau erreichen wird, als wenn diese Beziehungen Teil seines Lebens sind. Das ist aber offensichtlich nicht im gleichen Maße bei Kooperationspartnern im engeren Sinne gegeben. Zwar ist bekannt, dass beispielsweise das Nachgehen einer Arbeitstätigkeit in einem Unternehmen einen positiven Einfluss auf das Wohlergehen des Akteurs hat. 114 So heißt es bei Thielen und Kroll: »Erwerbstätige Männer und Frauen zeigten ein besseres psychisches Wohlbefinden als Arbeitslose.« 115 Aber daraus lässt sich nicht folgern, dass es die Natur des Menschen erforderlich macht, Kooperationspartner im engeren Sinne, zu haben, um zu einer größtmöglichen Annäherung an das optimale Aggregationsergebnis zu gelangen. Das bessere durchschnittliche Wohlergehen von Erwerbstätigen kann andere Gründe haben, zum Beispiel ein höheres 114 115
Vgl. Jürgens 2015, 99–107. Thielen und Kroll 2013, 363.
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Einkommen, mit dem andere Bedürfnisse befriedigt werden können oder darauf, dass durch die Erwerbstätigkeit und die damit einhergehenden sozialen Kontakte andere mangelnde soziale Beziehungen ausgeglichen werden können. 116 Demgegenüber besteht aber kein reines Bedürfnis nach Kooperationspartnern, zu denen nicht einmal ein persönlicher Kontakt besteht. Darüber hinaus liegen bei einigen Menschen auch die zugrunde liegenden Ziele, auf die sich die Mitgliedschaft in einer Kooperationsvereinigung gründen, nicht vor. Entsprechend lässt sich nicht folgern, dass Kooperationspartner im Sinne von guten Beziehungen zu verstehen sind, die zu kultivieren und zu pflegen sind. Damit entfällt auch die entsprechende Gewichtungsregel. Allerdings gibt es zwei andere zentrale Pflichten bzw. Primafacie-Prinzipien, die im Rahmen der Kooperationsvereinigungen im engeren Sinne greifen: das Prinzip »Erfülle deine freiwillig eingegangenen Verpflichtungen!« und das Prinzip »Erfülle die Erwartungen, die mit deinen übernommenen Rollen einhergehen!«. Die Erfüllung beider Pflichten bedeutet wiederum eine Bindung gewisser Ressourcen, die damit nicht für andere nützliche Tätigkeiten zur Verfügung stehen.
Ergebnis des 13. Kapitels Obwohl Kooperationspartner im engeren Sinne einen erheblichen Einfluss auf das individuelle Wohlergehen haben können, lassen sich ihnen gegenüber keine zusätzlichen besonderen Pflichten rechtfertigen, die nicht bereits als Prima-facie-Prinzipien verankert wurden. Wie gezeigt bedeutet dies allerdings nicht, dass es keine besonderen Pflichten gegenüber Kooperationspartner im engeren Sinne gibt. Wer freiwillig in eine Kooperation eintritt, geht damit Verpflichtungen ein, denen er ggf. auch dann nachzukommen hat, wenn im Konflikt eine Alternativhandlung zu einem (vermeintlich) besseren Ergebnis führt.
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Siehe hierzu auch Thielen und Kroll 2013, 362–364.
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Kapitel 14: Kooperationspartner im weiten Sinne
Nachdem im vorangegangenen Kapitel die besonderen Pflichten hinsichtlich der Kooperationspartner im engeren Sinne untersucht wurden, geht es in diesem Kapitel um die besonderen Pflichten, die wir Kooperationspartnern im weiten Sinne schulden. Wie in den vorangegangenen Untersuchungen wird zunächst dargestellt, was unter Kooperationspartner im weiten Sinne zu verstehen ist, bevor die einzelnen Argumente hinsichtlich dieser Kooperationspartner besprochen werden und in einem letzten Schritt zusammengefasst wird, ob und ggf. welche besonderen Pflichten bzw. korrelierenden Primafacie-Prinzipien sich daraus ableiten lassen.
Was ist unter Kooperationspartner im weiten Sinne zu verstehen? Ein zentrales Kennzeichen der Kooperationspartner im engeren Sinn war, dass sich die Kooperationspartner bewusst dafür entschieden haben, in eine entsprechende Organisation einzutreten und mit anderen Akteuren zu kooperieren. Wie dargestellt resultieren aus dieser freiwilligen Entscheidung bestimmte besondere Pflichten, die sich insbesondere auf das Prinzip »Erfülle freiwillig eingegangene Verpflichtungen!« zurückführen lassen. Neben diesen freiwilligen Kooperationsvereinigungen ist es aber auch möglich, dass der Akteur Teil von unfreiwilligen Kooperationsvereinigungen ist. Einer der häufigsten Gründe, warum Akteure Mitglieder von Kooperationsvereinigungen sind, die sie nicht freiwillig gewählt haben, ist, dass sie in diese hineingeboren wurden und sie aus unterschiedlichen Gründen nur mit größeren Nachteilen verlassen können. Die wohl häufigste Kooperationsvereinigung, der man aus diesem Grund angehören kann, ist der Staat mit den Landsleuten als Kooperationspartnern. Daher wird es im Folgenden ausschließlich um die Frage gehen, welKonsequentialismus und besondere Pflichten
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14 · Kooperationspartner im weiten Sinne
che besonderen Pflichten aus dieser Kooperationsvereinigung resultieren bzw. welche Pflichten gegenüber Landsleuten als Kooperationspartnern bestehen. Da der Begriff Landsleute vielschichtig ist, muss zunächst genauer dargestellt werden, was im Folgenden darunter verstanden wird. Mit Weinstock lässt sich sagen: By »compatriot« we might mean one of three things: we might mean a concitoyen, that is a citizen of the same state; a conational, that is, a member of the same nation; or a coresident, that is, a person who resides, in the full legal sense, on the same territory as myself. 117
Offensichtlich erfüllen viele Angehörige derselben Nationalität (conationals) das gesuchte Kriterium nicht, da Angehörige derselben Nationalität problemlos in verschiedenen Staaten, das heißt mit unterschiedlichen Staatsbürgerrechten leben können und somit verschiedenen Kooperationsvereinigungen angehören. Auch Mitbewohner (co-residents) sind in diesem Sinne keine geeigneten Kandidaten, weil jene, die den Wohnsitz im selben Land haben, dennoch häufig über unterschiedliche Staatsbürgerrechte verfügen. Dazu gehören zum Beispiel Wahlausländer (expatriates), die für mehrere Jahre im Ausland leben, um dort zu arbeiten. Sie sind zwar für diese Zeit als Mitbewohner eines Landes anzusehen, haben aber häufig dennoch kein Wahlrecht. Wer jedoch nicht über das Wahlrecht verfügt und dennoch den Gesetzen eines Staates unterworfen ist, kann nur eingeschränkt als Kooperationspartner verstanden werden. In diesem Sinne können am ehesten die Mitbürger bzw. Staatsangehörigen – bei Weinstock concitoyen – als Kooperationspartner angesehen werden. Allerdings können auch Wahlausländer die gleiche Staatsangehörigkeit besitzen; da sie sich aber faktisch häufig nicht mehr an der Kooperation beteiligen und den Entscheidungen häufig auch nicht mehr direkt unterworfen sind, sind auch sie nur bedingt als Kooperationspartner anzusehen. Daher werden im Folgenden pragmatisch unter Landsleuten jene Mitbewohner verstanden, die zugleich Mitbürger sind. Diese Kombination lässt sich am sinnvollsten als Kooperationspartner im weiten Sinne verstehen, da sie – im Idealfall – durch demokratische Mitbestimmung an der Gestaltung der Kooperation mitarbeiten können und außerdem diesen Entscheidungen selbst unterworfen sind. 117
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Weinstock 2000, 149, Hervorhebung im Original.
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Anwendung der Argumente
Anwendung der Argumente Argument der menschlichen Natur und Argument der moralischen Arbeitsteilung Das grundlegende Problem der besonderen Pflichten gegenüber Landsleuten im Konsequentialismus und die Möglichkeit der Integration dieser Pflichten wurden treffend von Scheffler formuliert: In general, social and communal ties have no direct justificatory significance for consequentialism, and the bond of shared citizenship is no exception. […] Indeed, consequentialists can manage to treat the individual society as a unit with special justificatory significance only […] by arguing […] that the interests of all human beings will best be served by a division of labour in which the human population is organized into different societies, each of which has its own political institutions that are specially concerned with the welfare of that society. 118
Nach Koller ist diese moralische Arbeitsteilung aber bereits durch die menschliche Natur vorgegeben: Da die Menschen einerseits nur in Verbindung mit anderen überleben und gedeihen können, andererseits aber zu eigennützig sind, um sich ohne weiteres miteinander zu vertragen, brauchen sie soziale Gemeinschaften, deren Regeln sie zu einem friedlichen und allgemein vorteilhaften Zusammenleben anleiten. 119
An anderer Stelle heißt es: Eine ebenso alte wie bewährte Möglichkeit der moralischen Arbeitsteilung, zu der wir Menschen wohl schon durch unser genetisches Erbe geführt werden, ist die Bildung sozialer Gemeinschaften, deren Mitglieder wechselseitig die Pflicht übernehmen, für die Befriedigung bestimmter grundlegender Interessen der anderen zu sorgen, sei es durch direkte Leistungen oder durch die Bereitstellung und Unterstützung entsprechender Einrichtungen. 120
Kollers Feststellung, dass die Menschen durch ihr genetisches Erbe bereits zur moralischen Arbeitsteilung geführt werden, darf allerdings nicht in dem Sinne missverstanden werden, dass der individuelle Akteur aufgrund der menschlichen Natur einen starken Drang 118 119 120
Scheffler 2001, 34–35. Koller 2002, 212. Koller 1998, 454, Hervorhebung im Original.
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zur Parteilichkeit gegenüber Landsleuten hat. Der Landsmann ist ebenso wie der Kooperationspartner im engeren Sinne nicht ein Freund oder jemand, der zur Familie gehört, sondern vielmehr der Mitbewohner und Mitbürger, der einem selbst fremd ist. Von ihm weiß man lediglich, dass er dieselbe Staatsbürgerschaft hat und im gleichen Land lebt. Die parteiischen Tendenzen gegenüber diesen Menschen – insofern es sie überhaupt gibt – sind jedoch nicht ansatzweise so stark wie die parteiischen Tendenzen gegenüber Familienmitgliedern oder Freunden. Somit ist davon auszugehen, dass die Internalisierungskosten eines Prinzips, gemäß dem parteiische Handlungen gegenüber Kooperationspartnern im weiten Sinn zu unterlassen sind, in Anbetracht des möglichen Nutzens zu vernachlässigen wären. Dies heißt aber nicht, dass es nicht gute Gründe gibt, bestimmte Prima-facie-Prinzipien zu rechtfertigen, die eine Bevorzugung von Landsleuten erfordern. Diese Begründung würde dann aber nicht auf dem Argument der menschlichen Natur beruhen, sondern beispielsweise auf dem Argument der moralischen Arbeitsteilung. Die zugrunde liegende These müsste dann lauten, dass Einzelstaaten besonders effizient sind bzw. dass es keine effizientere Alternative gibt, das Wohlergehen der einzelnen Individuen zu maximieren, und dass ein teilweiser Vorrang gegenüber Landsleuten notwendig ist, damit der Staat für seine Mitglieder Sorge tragen kann. Insbesondere gegen den ersten Teil dieser These lassen sich gewichtige Einwände vorbringen. Aus Sicht einer konsequentialistischen Theorie ist der bedeutendste Einwand, dass es ein alternatives System gibt oder geben kann, mit dem eine bessere Annäherung an das optimale Aggregationsergebnis erreicht wird. 121 Die wohl wichtigste Alternative, auf die dabei verwiesen und sich im Folgenden beschränkt wird, ist der Weltstaat. Allerdings lässt sich gegen den Weltstaat anführen, dass es durch Einzelstaaten möglich bzw. besser möglich ist, dass Menschen ihre unterschiedlichen Interessen in der Ausgestaltung des gesellschaftlichen Lebens umsetzen. Eine Folge dieser unterschiedlichen Arrangements ist, dass es durch Experimente möglich wird, in einen Prozess des Trial and Error einzusteigen, der, ebenso wie bei den Experimenten des besten Lebens, langfristig zu einer besseren Annäherung an
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Vgl. Weitner 2013, 145.
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Anwendung der Argumente
das optimale Aggregationsergebnis führt. 122 Hinzu kommt, dass es bereits in zahlreichen Einzelstaaten eine starke Separationsbewegung gibt. In einem Weltstaat ist davon auszugehen, dass sich diese Bewegungen vervielfachen und nur mit Zwang unterdrückt werden können, was die Gefahr des Entstehens eines despotischen Weltstaates erhöht, der nicht durch das Eingreifen eines anderen Staates zur Besinnung gerufen werden könnte. 123 Daher wird im Folgenden davon ausgegangen, dass der Weltstaat keine effizientere Annäherung an das optimale Aggregationsergebnis ermöglicht. Mit Höffe lässt sich demgegenüber einwenden, dass diese Darstellung ein Missverständnis bzw. ein Vorurteil gegenüber einem Weltstaat enthält. So lassen sich nach Höffe diese Probleme beheben, wenn nicht von einem homogenen Weltstaat ausgegangen wird, der alle Einzelstaaten aufsaugt, sondern von einem Weltstaat als Minimalstaat, der im Wesentlichen dem liberalen Nachtwächterstaat entspricht. 124 In dieser Form haben die Einzelstaaten weiterhin ihre Berechtigung, sind aber in eine universale Rechtsordnung eingebunden: Wie Individuen so haben auch Staaten ein Recht auf Leib und Leben und ein Recht auf Eigentum, hier vor allem einen Anspruch auf territoriale Unversehrtheit; darüber hinaus steht ihnen die politische und kulturelle Selbstbestimmung zu. 125
Aufgabe des Weltstaates wäre dann insbesondere die Gewährleistung der Sicherheit und des Selbstbestimmungsrechts der Einzelstaaten; die übrigen Aufgaben verbleiben bei den Einzelstaaten. 126 Aber damit bleibt der Einzelstaat bestehen, dem es letztlich obliegt, durch die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts das Wohlergehen der Mitglieder zu fördern. 127 Ein solcher Weltstaat mit diesen Minimalkompetenzen widerspricht aber nicht dem Argument der moralischen Arbeitsteilung hinsichtlich der Effizienz der Einzelstaaten. Daher ist der Weltstaat in dieser Form lediglich als eine sinnvolle Ergänzung an-
122 Vgl. Weitner 2013, 156–157 mit Blick auf den Interpretationsspielraum der Menschenrechte. 123 Vgl. Weitner 2013, 157–158. Siehe auch Rawls 2010, 68 und Höffe 2010, 248–250. 124 Vgl. Höffe 2010, 252–253. 125 Höffe 2010, 253–254. 126 Vgl. Höffe 2010, 254. 127 In diesem Sinne äußert Nagel mit Blick auf supranationale Institutionen treffend, dass es sich nur um eine vermittelte Verantwortung handelt (siehe Nagel 2010, 132– 137).
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zusehen, mit dem das Argument der moralischen Arbeitsteilung nicht zurückgewiesen werden kann.
Freier Zusammenschluss zu Kooperationsvereinigungen und selbstauferlegte Verpflichtungen Wie in der Charakterisierung von Landsleuten und in Abgrenzung von Kooperationspartnern im engeren Sinne herausgestellt wurde, lässt sich der Zusammenschluss von Landsleuten zu einer Kooperationsvereinigung nur schwer als ein freier Zusammenschluss verstehen. Die meisten Kooperationspartner sind in den jeweiligen Staat hineingeboren und können ihn nur unter hohen Kosten verlassen. 128 In diesem Sinne und mit Blick darauf, dass der Kooperationspartner im weiten Sinne eher als ein Fremder zu verstehen ist, mit dem lediglich der Status als Landsmann oder Landsfrau geteilt wird, ist auch nicht davon auszugehen, dass es spezielle selbstauferlegte Verpflichtungen gegenüber den Landsleuten gibt, die über das allgemeine Prinzip, dass freiwillig eingegangene Verpflichtungen einzuhalten sind, hinausgehen. Allerdings lässt sich einiges mehr zu der Kooperationsvereinigung an sich sagen. Denn jeder Landsmann hat das Menschenrecht, diese Vereinigung zu verlassen 129, und ein nicht unerheblicher Teil der Landsleute ist umgekehrt durch die Auswanderung aus einem anderen Staat in einen neuen Staat freiwillig eingewandert. Hinzu kommt, dass Landsleute insbesondere in Demokratien miteinander kooperieren, indem sie sich unter anderem bei der Landesverteidigung und der Aufrechterhaltung des Sozialsystems gegenseitig unterstützen und durch Wahlen, Demonstrationen, Meinungsäußerungen und Ähnliches die Ausrichtung der Gesellschaft mitbestimmen. Daher lassen sich Staaten zumindest in einem minimalen Sinn als freier Zusammenschluss zu Kooperationsvereinigungen verstehen. Aus konsequentialistischer Sicht ist folgender Aspekt von zentraler Bedeutung: Durch diese Kooperation können bestimm128 Beispielhafte Kosten sind die (teilweise) Aufgabe der Freundes- und Familienbeziehungen, hohe Umzugskosten, sprachliche und kulturelle Barrieren, Probleme bei der Anerkennung von Schul- und Ausbildungsabschlüssen usw. 129 Siehe Art. 13, Abs. 2 der Universal Declaration of Human Rights: »(2) Everyone has the right to leave any country, including his own, and to return to his country.« (United Nations 2016) Für eine konsequentialistische Rechtfertigung von Menschenrechten siehe beispielsweise Talbott 2013a.
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Anwendung der Argumente
te Ziele erreicht oder Güter realisiert werden, deren Realisierung ohne diese Kooperation bedeutend schwieriger wäre, zum Beispiel Sicherheit, Stabilität, Bildung, Gesundheit und ein sozialer Mindeststandard. Die Realisierung dieser Güter und Ziele ist wiederum für eine Annäherung an das optimale Aggregationsergebnis notwendig.
Zugeschriebene Rollen und einhergehende Erwartungen Gegenüber Landsleuten bestehen zahlreiche Erwartungen, zum Beispiel dass sie sich patriotisch zu verhalten haben, dass sie in der Öffentlichkeit die Landessprache sprechen, sich im Ausland gegenseitig unterstützen oder an der gemeinsamen politischen Willensbildung mitarbeiten. Offensichtlich hat auch die Enttäuschung dieser Erwartungen einen Einfluss auf das Wohlergehen der Landsleute. Zumindest hat sie dies auf jene Landsleute, die diese Erwartungen hegen. An dieser Stelle tritt aber eine zentrale Schwierigkeit auf: Denn nicht alle Landsleute haben die gleichen Erwartungen; teilweise haben sie sogar entgegengesetzte Erwartungen, die sich nicht zusammen erfüllen lassen. Hinzu kommt, dass in der Regel die Enttäuschung dieser Erwartungen nicht die Beziehung der Landsleute gefährdet bzw. das Realisieren der grundlegenden Ziele und Güter der Kooperationsvereinbarung, wie Sicherheit, Stabilität, Bildung, Gesundheit und sozialer Mindeststandard. Deshalb kann das Prinzip »Erfülle die Erwartungen, die mit deinen übernommenen Rollen einhergehen!« auch nicht sinnvollerweise auf diese Erwartungen bezogen werden. Allerdings gibt es einige Erwartungen, die mit der Rolle des Landsmanns bzw. der Landsfrau zusammenfallen, die für die Realisierung dieser Ziele und Güter von Bedeutung sind. Hierzu zählt beispielsweise die Erwartung, dass jeder seinen fairen Anteil zu leisten hat, unter anderem im Rahmen der Steuerzahlung, bzw. sich an die Gesetze zu halten hat. Diese Erwartung besteht nicht im gleichen Maße gegenüber Fremden, die das eigene Land nie betreten werden. Die Enttäuschung dieser Erwartungen ist aber im Gegensatz zu der oberen Liste an Erwartungen direkt damit verbunden, dass die Gemeinschaftsziele schlechter erreicht werden, als sie andernfalls erreicht werden könnten. Daher lässt sich rechtfertigten, dass der Erfüllung dieser Erwartung ein besonderes Gewicht zufällt.
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Reziprozität und Dankbarkeit Insbesondere diejenigen Landsleute, die aus verschiedenen Gründen auf staatliche Unterstützung zur Sicherung eines minimalen Lebensstandards angewiesen sind, aber auch all jene, die öffentliche Institutionen wie Schulen, Krankenhäuser und Polizei in Anspruch nehmen, profitieren von den Gütern, die der Staat bzw. die Landsleute bereitstellen. Damit werden auch die Aspekte der Reziprozität und der Dankbarkeit bei Kooperationspartnern im weiten Sinne relevant. In Anlehnung an Gewirth formuliert Weitner eine verbreitete Ansicht: Der Staat hat in der Vergangenheit einen unverzichtbaren Beitrag zur individuellen Entwicklung seiner Bürgern geleistet, indem er sie durch Gesetze, Polizeikräfte und Armee vor Schaden bewahrt und ihr Wohlergehen durch Institutionen wie Bildungs-, Gesundheits- und Sozialsysteme maßgeblich befördert hat. Da die Bürger einen Großteil ihrer Errungenschaften der politischen Gemeinschaft verdanken, die sie Zeit ihres Lebens versorgt hat, schulden sie dieser Gemeinschaft eine Gegenleistung. Diese Gegenleistung besteht darin, die Gesetze des eigenen Staates zu befolgen und die Gesellschaft zu unterstützen, indem man Steuern zahlt oder sich politisch engagiert. 130
Allerdings ist fraglich, ob sich die geschuldete Gegenleistung wirklich als Reziprozitäts- oder aber als Dankespflicht verstehen lässt. Das Problem dieser Pflichten ist nämlich, dass sie sinnvollerweise nur gegenüber bestimmten Personen und nicht gegenüber einer Institution existieren können. In einem konsequentialistischen Sinn kann Dankbarkeit geschuldet werden, wenn dies zu einer Annäherung an das optimale Aggregationsergebnis führt, beispielsweise weil durch den Dank die Motivation zum Helfen gesteigert wird. Auf diese Weise sind aber staatliche Institutionen nicht motivierbar. Hier ließe sich die Dankbarkeit nur an die individuellen Landsleute adressieren, die beispielsweise durch Steuergelder diese Leistungen ermöglicht haben. Allerdings haben nicht alle Landsleute im gleichen Maße zur Bereitstellung der Güter beigetragen. Manche können aus verschiedenen Gründen nicht dazu beitragen; ihnen würde man demzufolge auch keinen Dank schulden. Da in der Regel für den individuellen Akteur die Landsleute, die zur entsprechenden Leistung beigetragen haben, weder identifizierbar noch motivierbar sind, schließe ich mich dem Ergebnis von Weitner an, dass sich auf staatlicher Ebene zumin130
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dest für den individuellen Akteur keine Dankbarkeitspflicht und auch keine Reziprozitätspflicht rechtfertigen lässt. 131
Besondere Pflichten: Kooperationspartner im weiten Sinne Damit kann die Frage wieder aufgegriffen werden, ob und ggf. welche besonderen Pflichten sich gegenüber Landsleuten rechtfertigen lassen. Sowohl Singer als auch Goodin sind skeptisch, dass sich aus den genannten Argumenten, insbesondere hinsichtlich der Problematik der absoluten Armut, besondere Pflichten gegenüber Landsleuten rechtfertigen lassen. So schreibt Goodin: Boundaries matter, I conclude. But it is the boundaries around people, not the boundaries around territories, that really matter morally. […] At root, however, it is the person and the general duty that we all have toward him that matters morally. […] In the present world system, it is often – perhaps ordinarily – wrong to give priority to the claims of our compatriots. 132
Mit Singer lässt sich ergänzen: While it may, other things being equal, be more efficient for states to look after their own citizens, this is not the case if wealth is so unequally distributed that a typical affluent couple in one country spends more on going to the theater than many in other countries have to live on for a full year. In these circumstances the argument from efficiency […] far from being a defense of special duties toward our compatriots, provides grounds for holding that any such duties are overwhelmed by the much greater good we can do abroad. 133
Jedoch übersehen Singer und Goodin einen wichtigen Aspekt. Nicht alle Aufgaben, die dem Staat zufallen (zum Beispiel für innere und äußere Sicherheit, Bildung, Gesundheit und angemessene Infrastruktur zu sorgen), lassen sich mit Blick auf das Problem der absoluten Armut zurückweisen. Auch aus konsequentialistischer Perspektive lässt sich nicht sinnvoll argumentieren, dass beispielsweise Geld aus dem Bildungs- und Gesundheitssystem oder der Erhaltung und dem Ausbau der Infrastruktur ebenso einfach in die Bekämpfung der absoluten Armut fließen sollte. Es braucht zunächst einmal gut aus131 132 133
Vgl. Weitner 2013, 251. Goodin 1988, 686. Singer 2004a, 172.
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gebildete und auch gesunde Arbeitskräfte, die in einer Wirtschaftsregion das Geld erwirtschaften, das dann in die Bekämpfung der absoluten Armut investiert werden kann. Mit Blick auf soziale Spannungen wird es ebenso gesamtgesellschaftlich nützlich sein, wenn es ein stabiles Netz an Grundsicherung gibt. Sowohl für die Finanzierung des Ausbildungs- als auch Gesundheitssystems und der sozialen Sicherheit ist Geld erforderlich, das zunächst von den Landsleuten erhoben werden muss. An diesem Punkt lässt sich eine besondere Pflicht des individuellen Akteurs gegenüber seinen Landsleuten ausmachen. Was dieser den Landsleuten schuldet, ist die Erfüllung der angesprochenen Erwartung, nämlich dass die Gesetze, die aus einem fairen, beispielsweise demokratischen Prozess hervorgegangen sind, befolgt werden. In Bezug auf den Aspekt der Finanzierung gemeinschaftlicher Güter heißt dies insbesondere, dass der individuelle Akteur dazu verpflichtet ist, seine Steuern zu zahlen. Die Befolgung der in einer Gemeinschaft erlassenen Gesetze lässt sich selbst als eine besondere Pflicht verstehen, weil diese vorrangig jene Menschen betreffen, die Teil der Kooperationsgemeinschaft sind. Man schuldet es beispielsweise keinem Bürger eines anderen Staates, seine Steuern zu bezahlen. 134 Mit Nagel lässt sich ergänzen: Von Auswanderung einmal abgesehen, steht es niemandem zu, sich selbst als Nichtmitglied seiner Gesellschaft und somit als jemand außerhalb ihrer Gesetze Stehenden zu erklären; und andere Mitglieder dürfen die Befolgung der Gesetze erzwingen, sollte jemand versuchen, sich ihnen zu verweigern. 135
Letztlich ist es für den Kooperationserfolg der eigenen Gemeinschaft, die wiederum gemäß dem Argument der moralischen Arbeitsteilung gerechtfertigt ist, von zentraler Bedeutung, dass sich die Landsleute an die erlassenen Gesetze halten. Aus diesen Gründen lässt sich das folgende Prima-facie-Prinzip rechtfertigen, das insbesondere Landsleute einander schulden: –
Handle gesetzeskonform! 136
Vgl. Weitner 2013, 115. Siehe auch Scheffler 2001, 69. Nagel 2010, 129. 136 Aufgrund der Erzwingbarkeit der Gesetzesbefolgung ist es meines Erachtens sinnvoll, dieses Prinzip als eines zu verstehen, das über die Erfüllung der Erwartung hinausgeht. In der Regel ist die Erfüllung der Erwartung nichts, was von anderen im gleichen Sinn erzwingbar ist. 134 135
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Ergebnis des 14. Kapitels
Insbesondere mit Blick auf von Unrechtsregimen erlassene Gesetze ist zu betonen, dass es sich bei der entsprechenden Pflicht lediglich um eine Prima-facie-Pflicht bzw. ein Prima-facie-Prinzip handelt. Einige Gesetze eines Staates können dazu geeignet sein, dass die Befolgung zu einer schlechteren Annäherung an das optimale Aggregationsergebnis führt. Dies ist beispielsweise der Fall beim Gesetz »Es sind alle Juden bei der Polizei zu melden«.
Ergebnis des 14. Kapitels In diesem Kapitel konnte ein weiteres Prima-facie-Prinzip gerechtfertigt werden, dessen Korrelat sich als besondere Pflicht verstehen lässt: »Handle gesetzeskonform!« Damit ist die Frage danach, welche besonderen Pflichten sich im Multi-Ebenen-Konsequentialismus hinsichtlich der untersuchten Beziehungen rechtfertigen lassen, abgeschlossen. Zusammen mit den anderen gerechtfertigten besonderen Pflichten kann im folgenden Kapitel untersucht werden, ob sich der Besondere-Pflichten-Einwand mit dem Multi-Ebenen-Konsequentialismus zurückweisen lässt.
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Kapitel 15: Zurückweisung des Besondere-Pflichten-Einwandes
In den vorangegangenen Kapiteln konnten die folgenden Prima-faciePrinzipien sowie die folgende Gewichtungsregel, deren korrelierende Pflichten sich als besondere Pflichten verstehen lassen, gerechtfertigt werden: Prima-facie-Prinzipien: – Entwickle deinen moralischen Charakter! – Sorge auch für dein eigenes Wohlergehen! – Kultiviere und pflege gute Beziehungen! – Erfülle die Erwartungen, die mit deinen übernommenen Rollen einhergehen! – Erfülle deine freiwillig eingegangenen Verpflichtungen! – Erwidere in angemessener Weise Erhaltenes! – Handle gesetzeskonform! Gewichtungsregel: – Räume jener Handlung ein größeres Gewicht ein, mit der du das Wohlergehen derjenigen positiv beeinflussen kannst, zu denen du gute Beziehungen unterhältst!
Darüber hinaus wurde gezeigt, dass sowohl die Familienbeziehungen als auch die Freundschaften zu den guten Beziehungen zählen, die gemäß dem Prima-facie-Prinzip zu kultivieren und zu pflegen sind und denen gemäß der Gewichtungsregel in Konfliktfällen ein höheres Gewicht beizumessen ist. In einem ersten Schritt lässt sich demnach feststellen, dass im Multi-Ebenen-Konsequentialismus besondere Pflichten gerechtfertigt werden können, mit denen den ersten beiden Intuitionen – es ist für die Unsrigen zu sorgen und vorausgehende Handlungen sind moralisch relevant –, die dem Besondere-Pflichten-Einwand zugrunde liegen, entsprochen wird. Da ein Handeln gemäß diesen Pflichten bzw. Prinzipien auf akteur-relative Gründe zurückgeführt werden kann – es sind die eige284
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Was bedeutet »in angemessener Weise«?
nen Projekte und Ziele, es sind die eigenen guten Beziehungen, die zu realisieren und stärker zu gewichten sind, und es sind die Verpflichtungen, die man selbst eingegangen ist, die erfüllt werden sollen –, ist in Verbindung mit dem Ergebnis aus dem 3. Kapitel, bei dem die wechselseitige Abhängigkeit von akteur-neutralen und akteur-relativen Gründen gezeigt wurde, zugleich gezeigt, dass auch der dritten Intuition entsprochen werden kann: Die moralische Richtigkeit und Falschheit einer Handlung hängt im Multi-Ebenen-Konsequentialismus zumindest in einigen Fällen auch von akteur-relativen Gründen ab. Unter sonst gleichen Bedingungen hat niemand anders einen moralischen Grund, seine Kinder oder seinen Ehepartner zu bevorzugen; die einzige Person, die diesen akteur-relativen Grund hat, ist der individuelle Akteur. Um den Besondere-Pflichten-Einwand endgültig zurückzuweisen, muss aber noch gezeigt werden, dass den zugrunde liegenden Intuitionen auch in angemessener Weise entsprochen wird. Die folgenden Ausführungen beschäftigen sich mit der Frage, ob dies der Fall ist.
Was bedeutet »in angemessener Weise«? Dass der Multi-Ebenen-Konsequentialismus die drei Intuitionen, die dem Besondere-Pflichten-Einwand zugrunde liegen, berücksichtigen kann, wurde gezeigt. Übrig bleibt die Frage, ob er sie auch in angemessener Weise berücksichtigen kann. Dabei bedeutet »in angemessener Weise« nicht, dass die besonderen Pflichten bzw. deren korrelierende Prima-facie-Prinzipien bzw. die korrelierende Gewichtungsregel immer trumpfen. Ein wesentliches Ergebnis ist bereits, dass diese Prinzipien und die Gewichtungsregel überhaupt zu verankern sind. 137 Doch auch die reine Verankerung wäre zu wenig, wenn die daraus resultierenden besonderen Pflichten in allen relevanten Situationen von anderen Prinzipien oder korrelierenden Pflichten übertrumpft würden. Daher muss zusätzlich zu der reinen Verankerung gezeigt werden, dass es zumindest einige Situationen gibt, bei denen es prima facie zu einem besseren Aggregationsergebnis führen würde, wenn der moralische Akteur nicht zugunsten seiner engsten Vertrauten handeln würde, ihm die Handlung gemäß den gerechtfertigten Prinzipien aber dennoch erlaubt ist. Um zu zeigen, 137
Vgl. Keller 2015, 257.
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dass die Intuitionen, die dem Besondere-Pflichten-Einwand zugrunde liegen, angemessen berücksichtigt werden, ist es daher notwendig, anhand zentraler Beispiele zu zeigen, dass die verankerten besonderen Pflichten tatsächlich entsprechende Handlungen erlauben. Wie in der Besprechung des Besondere-Pflichten-Einwandes herausgestellt wurde, lässt sich dieser Einwand nur auf die reale Welt und nicht auf alle möglichen Welten anwenden. Wie bei der Diskussion des Multi-Ebenen-Konsequentialismus deutlich wurde, lässt sich die erste Ebene nicht in der realen Welt anwenden. Daher reicht es aus, Szenarien zu besprechen, bei denen ein Handeln gemäß der zweiten oder dritten Ebene notwendig ist. Die besonderen Pflichten im Rahmen der dritten Ebene werden anhand des bereits mehrfach angesprochenen Kanu-Szenarios von Jeske und Fumerton besprochen. Die besonderen Pflichten im Rahmen der zweiten Ebene werden im Anschluss daran anhand des Weltarmutsproblems besprochen.
Besondere Pflichten: Kanu-Szenario Auf den ersten Blick ist der Konsequentialist moralisch dazu verpflichtet, im Kanu-Szenario 138 von Jeske und Fumerton die beiden fremden Kinder zu retten; dementsprechend ist es ihm moralisch verboten, das eigene Kind zu retten. Doch wie ist die Situation im Rahmen des Multi-Ebenen-Konsequentialismus mit dem dargestellten Set von Prima-facie-Prinzipien und den Gewichtungsregeln zu bewerten? Zur Beantwortung muss zunächst die Frage geklärt werden, an welcher Ebene das Handeln auszurichten ist. Hierfür muss die Zuständigkeitsprozedur der vierten Ebene durchlaufen werden. Der erste Schritt lautet: Erwäge, ob in dieser Situation eine unmittelbare Handlungsausführung notwendig ist. Wenn die Antwort nicht Nein ist, dann entscheide dich dafür, deine Handlung gemäß der dritten Ebene auszurichten; ansonsten mache mit dem zweiten Schritt weiter. Offensichtlich ist in dieser Situation eine unmittelbare Handlungsausführung notwendig. Damit ist nur die Entscheidung, die Handlung an der dritten Ebene auszurichten, moralisch richtig4. In der entsprechenden Situation stehen dem moralischen Akteur zwei relevante Handlungen zur Verfügung: Entweder rettet er sein eigenes Kind (Handlung A) oder die beiden fremden Kinder (Hand138
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Siehe Anmerkung 12 (Teil 1: Grundlagen).
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lung B). Beide Handlungen lassen sich auf das Prima-facie-Prinzip »Hilf Menschen in Not« zurückführen. Da beide Handlungen miteinander in Konflikt liegen und der moralische Akteur nur eine der beiden Handlungen ausführen kann, muss untersucht werden, welcher Handlung das größere Gewicht beizumessen ist. Hierzu stehen die vier Gewichtungsregeln zur Verfügung: –
–
–
–
Räume jener Handlung ein größeres Gewicht ein, von der auszugehen ist, dass sie zu einem deutlich besseren Aggregationsergebnis führt. Räume jener Handlung ein geringeres Gewicht ein, von der auszugehen ist, dass sie von einem anderen Akteur kompensiert wird. Räume jener Handlung ein geringeres Gewicht ein, deren ursprüngliche Pflicht, auf die sie sich zurückführen lässt, einem anderen Akteur oblag. Räume jener Handlung ein größeres Gewicht ein, mit der du das Wohlergehen derjenigen positiv beeinflussen kannst, zu denen du gute Beziehungen unterhältst!
Welche Handlung ist gemäß der Gewichtungsregeln stärker zu gewichten? Zunächst zur ersten Gewichtungsregel: Je nachdem, wo man den Grenzwert bzw. den Bereich für ein »deutlich« besseres Aggregationsergebnis legt, also ob dieses Kriterium bereits beim Faktor 2 greift, spricht dieses Prinzip entweder dafür, die beiden fremden Kinder zu retten, oder es findet keine Anwendung. Wie in der Diskussion der Vagheit des entsprechenden Kriteriums bereits herausgearbeitet wurde, ist es keineswegs zwingend, das Kriterium »deutlich besser« beim Faktor 2 erfüllt zu sehen. Im Sinne der Diskussion ist es allerdings sinnvoll, davon auszugehen, dass das Kriterium in dieser Situation erfüllt ist und entsprechend der Handlung B durch die erste Gewichtungsregel ein größeres Gewicht beizumessen ist. Kann der Vater davon ausgehen, dass jemand anderes eine der beiden Handlungen kompensiert? Vermutlich ist dies nicht der Fall. Zwar ist das Detail, dass es keine weiteren Akteure gibt, die eingreifen können, im Kanu-Szenario nicht enthalten, allerdings lässt es sich problemlos ergänzen und ist voraussichtlich auch im Sinne von Jeske und Fumerton. Demnach führt die zweite Gewichtungsregel zu keiner geringeren Gewichtung einer Handlung. Demgegenüber spricht die dritte Gewichtungsregel eher für die Rettung des eigenen Kindes. Plausibel scheint in dieser Situation folKonsequentialismus und besondere Pflichten
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gende Annahme zu sein: Wenn sich die beiden fremden Kinder bei einem Kentern nicht selbst retten können, dann ist es die Pflicht der Eltern oder anderer Personen, die zum Zeitpunkt des Vorfalls mit der Sorge betraut sind, derartige Situationen zu verhindern oder aber dafür Sorge zu tragen, dass den Kindern geholfen wird. Der Vater hat daher im Kanu-Szenario zumindest einen Grund anzunehmen, dass jemand anderem die Pflicht obliegt, sich um diese Kinder zu kümmern. In diesem Sinne spricht die dritte Gewichtungsregel für ein geringeres Gewicht der Handlung B. Allerdings ist nicht klar, ob der moralische Akteur diese Annahme teilen muss. Es ist nicht auszuschließen, dass die fremden Kinder eigentlich dazu in der Lage sind, sich selbst zu helfen, dass aber ungünstige Umstände dazu geführt haben, dass sie dies gerade in dieser Situation nicht tun können. Anders ausgedrückt: Es ist nicht auszuschließen, dass es in dieser Situationen keinen anderen Akteur gibt, dem die Pflicht obliegt, die fremden Kinder zu retten. Daher wird erneut davon ausgegangen, dass tatsächlich niemandem diese Pflicht obliegt und somit die dritte Gewichtungsregel zu keiner Veränderung der Gewichtung führt. Wenig fraglich ist demgegenüber, dass gemäß der vierten Gewichtungsregel der Rettung des eigenen Kindes ein größeres Gewicht beizumessen ist. Im Ergebnis führt demnach die erste Gewichtungsregel zu einem höheren Gewicht der Handlung B – der Rettung der beiden fremden Kinder –, während die vierte Gewichtungsregel der Handlung A – der Rettung des eigenen Kindes – ein höheres Gewicht beimisst. Damit kommt beiden Handlungen in etwa das gleiche Gewicht zu, und demnach sind beide moralisch richtig3. Mit Blick auf die Charakterisierung von erlaubt, verboten und verpflichtend lässt sich sagen, dass sowohl die Rettung des eigenen Kindes als auch die Rettung der beiden fremden Kinder moralisch erlaubt ist. Ist eine der beiden Handlung darüber hinaus supererogatorisch? Hierzu müsste eine Handlung die drei Kriterien der supererogatorischen Handlung erfüllen. Zunächst einmal lässt sich feststellen, dass beide Handlungen einen moralischen Wert haben, da sie beide moralisch erlaubt sind. Ebenso erfüllen beide Handlungen den ersten Teil des zweiten Kriteriums: Es gibt jeweils eine erlaubte Alternative, so dass keine der beiden Handlungen verpflichtend ist. Schwieriger wird es mit dem zweiten Teil dieses Kriteriums, nämlich der Frage danach, ob eine der beiden Handlungen eine Zurückstellung des eigenen Wohlergehens zugunsten anderer bedeutet. Offensichtlich ist das 288
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eigene Wohlergehen des moralischen Akteurs nicht direkt betroffen; der Aufwand der beiden Handlungen ist in etwa identisch. Allerdings ließe sich argumentieren, dass der Akteur mit der Rettung der beiden fremden Kinder einen schmerzhaften Verlust erleiden würde, den er bei der Rettung des eigenen Kindes nicht zu tragen hätte. In diesem Sinne lässt sich dafür argumentieren, dass auch dieses Kriterium bei Handlung B – der Rettung der beiden fremden Kinder – erfüllt wird, nicht jedoch bei Handlung A. Damit bleibt zu fragen, ob die Rettung der beiden fremden Kinder zu loben ist, während die Unterlassung nicht zu tadeln ist. Letzteres trifft offensichtlich zu, da es eine erlaubte Alternative gibt. Doch wäre der Akteur auch zu loben? Einerseits würde er einen Teil seines eigenen Wohlergehens opfern, was mit Blick auf die menschliche Natur dafür spricht, die Handlung zu loben. Allerdings ist fraglich, ob das entsprechende Lob funktional nützlich wäre. Denn letztlich müsste der Akteur dafür gelobt werden, dass er die Kraft aufgebracht hat, sein eigenes Kind sterben zu lassen. Ein derartiges Lob ist nah am Zynismus. Außerdem ließe sich fragen, welche zukünftigen Handlungen dadurch positiv beeinflusst werden könnten. Gemäß dem Lob könnten es nur Handlungen sein, bei denen die besonderen Pflichten zugunsten der Seinigen zurückgestellt werden. Insofern die Analyse in den vorigen Kapiteln aber richtig ist, ist der Wert der entsprechenden Veränderung mehr als fraglich. Daher ist eher davon auszugehen, dass erstens die Rettung der beiden fremden Kinder nicht zu loben ist, dementsprechend zweitens das dritte Kriterium nicht erfüllt ist und es sich daher drittens bei der Rettung der beiden fremden Kinder nicht um eine supererogatorische Handlung handelt. Damit kann Folgendes zusammengefasst werden: Die Intuition, dass es bei einigen Handlungen erlaubt sein muss, für die Unsrigen zu handeln, obwohl eine alternative Handlung das Wohlergehen aller Beteiligten in dieser Situation voraussichtlich verbessert hätte, kann im Rahmen des Tertiärprinzips angemessen aufgenommen werden. 139 Durch eine Gegenüberstellung mit einem leicht angepassten Szenario, in dem auch das einzelne Kind ein fremdes ist und der moralische Akteur das Kanu nicht selbst steuert, sondern den Vorfall zufällig vom Flussufer aus beobachtet, wird deutlich, wie die besonderen 139 Vereinfachend gehe ich davon aus, dass sich dieses Ergebnis ohne Probleme auch auf die zweite Intuition – wonach vorausgehende Handlungen zumindest in einigen Fällen moralisch relevant sind – übertragen lässt.
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Pflichten im vorliegenden Multi-Ebenen-Konsequentialismus wirken. In diesem Fall hätte der moralische Akteur die gleichen Handlungsoptionen; allerdings würde nur eine Gewichtungsregel greifen, nämlich diejenige, die der Handlung B, der Rettung der beiden fremden Kinder, ein größeres Gewicht zumisst. Die einzige Handlung, die dann moralisch richtig3 und entsprechend verpflichtend wäre, wäre die Rettung der beiden fremden Kinder. Demnach lässt sich folgern, dass es eindeutig die Verankerung der besonderen Pflicht bzw. der korrelierenden Gewichtungsregel ist, die die Rettung des eigenen Kindes erlaubt. Gegen eine entsprechende Verankerung besonderer Pflichten im Rahmen einer konsequentialistischen Theorie lässt sich ein Einwand vorbringen, den Jeske und Fumerton gegen eine mögliche Zurückweisung des Besondere-Pflichten-Einwandes im Rahmen eines Regelkonsequentialismus formuliert haben: Thus, it may be that the act of my saving my child has worse consequences than the act of my saving the other two children. However, my saving my own child is in accord with a moral rule (parents ought to save their own children before they save other children), and the consequences of everyone’s or most everyone’s following that rule has better consequences than their following some alternative rule. But the rule consequentialist faces the same difficulty we posed for the act consequentialist. We simply imagine a world in which the consequences of people’s following the rule »save your own children first« does not maximize value. 140
Selbst unter diesen veränderten Bedingungen würde die besondere Beziehung der Eltern zu ihren Kindern nach Jeske und Fumerton noch immer besondere Pflichten generieren, gemäß denen es verpflichtend oder zumindest erlaubt ist, das eigene Kind zu retten. 141 Demgegenüber müsste ein entsprechender Konsequentialismus zum Ergebnis kommen, dass sich besondere Pflichten in dieser imaginierten Welt nicht rechtfertigen lassen. Die Tatsache, dass konsequentialistische Theorien in diesen imaginierten Welten jedoch keine besonderen Pflichten rechtfertigen können, zeigt, so ließe sich der Einwand abschließen, dass die Intuitionen, die dem Besondere-Pflichten-Einwand zugrunde liegen, eben doch nicht in angemessener Weise berücksichtigt werden.
140 141
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Jeske und Fumerton 1997, 149–150. Vgl. Jeske und Fumerton 1997, 151–152.
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Der erste Teil des Einwandes ist richtig. In der imaginierten Welt würden konsequentialistische Theorien wie der Multi-Ebenen-Konsequentialismus keine besonderen Pflichten bzw. korrelierenden Prima-facie-Prinzipien rechtfertigen. Allerdings ergibt sich daraus nicht die dargestellte Schlussfolgerung. Die wichtigste Frage, die sich stellt, ist, wie man zu dem Ergebnis gelangt, dass in einer derartigen Welt besondere Pflichten gegenüber den eigenen Kindern bestehen, obwohl die Befolgung einer entsprechenden Regel nicht zu einer größtmöglichen Annäherung an das optimale Aggregationsergebnis führt. Offensichtlich basiert die Schlussfolgerung entweder auf (geteilten) Intuitionen oder sie ist das Ergebnis moralischer Überlegungen, die auf bestimmten Annahmen darüber basieren, was eine Handlung moralisch richtig oder falsch bzw. erlaubt oder verboten macht. Ist Letzteres der Fall, dann ist die Reichweite der Schlussfolgerung äußerst begrenzt, nämlich auf jene Theorien, die diese Annahmen teilen. Eine Handlung, die gemäß einer voluntaristischen Theorie, wie sie beispielsweise von Jeske vertreten wird 142, erlaubt oder verboten ist, muss nicht ebenso gemäß einer konsequentialistischen Theorie erlaubt oder verboten sein. Umgekehrt ließe sich auch nicht sagen, dass eine Handlung, die gemäß einer konsequentialistischen Theorie erlaubt oder verboten ist, ebenso gemäß einer voluntaristischen Theorie erlaubt oder verboten sein muss. Aus dem Umstand, dass eine bestimmte Theorie mit bestimmten Annahmen zu einer anderen Bewertung gelangt als eine andere Theorie mit anderen Annahmen, lässt sich nicht einwenden, dass die andere Theorie gewisse Aspekte nicht angemessen berücksichtigt. Hierzu muss gezeigt werden, warum diese Theorie diese Aspekte überhaupt berücksichtigen sollte. Die einzige plausible Strategie, um zu zeigen, warum diese Aspekte auch von der anderen Theorie berücksichtigt werden sollten, besteht darin, wie bereits im 2. Kapitel dargestellt wurde, auf geteilte Intuitionen zu verweisen. In diesem Sinne müsste der Einwand lauten, dass Konsequentialisten in der imaginierten Welt keine besonderen Pflichten generieren können, obwohl sie die Intuition teilen, dass es in einer solchen Welt besondere Pflichten geben sollte, durch die die Rettung des eigenen Kindes erlaubt sein kann, obwohl dies nicht zu einer größtmöglichen Annäherung an das optimale Aggregationsergebnis führt. Doch während es – wie ebenso gezeigt wurde – kein Problem ist, darauf zu verweisen, dass Konsequentialisten eine ähn142
Siehe beispielsweise Jeske 2008.
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liche Intuition in der realen Welt teilen, stellt dies bezüglich einer imaginierten Welt, in der es relevante Unterschiede zu der tatsächlichen Welt gibt, ein erhebliches Problem dar. In der realen Welt basiert beispielsweise die Intuition der Konsequentialisten, dass es besondere Pflichten gegenüber den Unsrigen geben sollte, auf dem Faktum, dass diese Beziehungen einen Wert haben, das heißt im positiven Sinne wohlergehensrelevant sind. Doch gerade dieser Umstand wurde wegdefiniert, so dass die entsprechende Intuition der Konsequentialisten auch nicht mehr greift. Damit handelt es sich nicht mehr um eine geteilte Intuition. Insofern sich Jeske und Fumerton aber weder auf geteilte Annahmen darüber, was eine Handlung moralisch richtig und moralisch falsch bzw. erlaubt und verboten macht, noch auf geteilte Intuitionen berufen können, läuft der Einwand, dass besondere Pflichten nicht in einer angemessenen Weise verankert wurden, ins Leere. In der realen Welt (also in der Welt, in der auf geteilte Intuitionen verwiesen werden kann) konnten besondere Pflichten bzw. deren korrelierende Prima-facie-Prinzipien sowie die korrelierende Gewichtungsregel gerechtfertigt werden und gezeigt werden, dass diese zumindest in einigen Situationen tatsächlich greifen.
Besondere Pflichten: Weltarmutsproblem Damit kann zum zweiten Szenario, dem Weltarmutsproblem, übergegangen werden. Wie in der Einleitung dargestellt und durch das Zitat von Stroud bekräftigt 143, stellt das Problem der absoluten Armut den konsequentialistischen Akteur vor erhebliche Probleme und droht die besonderen Pflichten faktisch zu erdrücken. In diesem Abschnitt wird untersucht, ob der Multi-Ebenen-Konsequentialismus eine stabile Basis für besondere Pflichten liefert. Um zu bestimmen, welche Handlungen gemäß dem Multi-Ebenen-Konsequentialismus hinsichtlich der Weltarmut gefordert sind, sind drei Schritte notwendig. Zunächst muss der Begriff der Weltarmut genauer gefasst werden. Zweitens muss das Ausmaß der Weltarmut kurz erläutert und drittens auf Basis einer konkreten Ausgangssituation geklärt werden, zu welcher Handlung ein durchschnittlicher Akteur verpflichtet ist. Im Anschluss daran kann abgeleitet werden, wozu ein moralischer 143
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Siehe Anmerkung 60 (Teil 1: Grundlagen).
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Besondere Pflichten: Weltarmutsproblem
Akteur in der realen Welt, dessen wirtschaftliche und soziale Situation in relevanten Merkmalen dem durchschnittlichen Akteur ähnlich ist, verpflichtet ist.
Das Problem der Weltarmut Was ist unter Weltarmut zu verstehen? Eine sinnvolle Erläuterung hat der Entwicklungsökonom Sachs gegeben: Um zu klaren Abgrenzungen zu gelangen, empfiehlt es sich, zwischen drei Graden der Armut zu unterscheiden: der extremen (oder absoluten) Armut, der gemäßigten und der relativen Armut. Extreme Armut bedeutet, dass die Haushalte die Grundbedürfnisse zum Überleben nicht befriedigen können. Die Menschen sind chronisch unterernährt, haben keine Möglichkeit, sich ärztlich behandeln zu lassen, leben ohne Versorgung mit sauberem Trinkwasser […] und verfügen zum Teil nicht einmal über geschützte Unterkünfte […]. Mit gemäßigter Armut bezeichnet man im Allgemeinen Lebensbedingungen, bei denen die Grundbedürfnisse zwar gedeckt sind, aber nur knapp. Von relativer Armut spricht man in der Regel bei Haushalten, deren Einkommen unter einem bestimmten Anteil des durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommens liegt. 144
Wenn im Folgenden der Begriff Weltarmut verwendet wird, dann wird darunter das verstanden, was Sachs als extreme bzw. absolute und als gemäßigte Armut bezeichnet. Das Ausmaß der Weltarmut lässt sich mit Judith Lichtenberg dann folgendermaßen zusammenfassen: In 2008, 1.29 billion people – 22.4 percent of the world’s population – lived below the World Bank’s international poverty line of $ 1.25 a day. […] A »second tier« international poverty line of $ 2 a day puts 2.47 billion people in poverty. About one third of all deaths worldwide – 18 million a year – result from poverty-related causes; about 7 million children a year die of hunger and preventable diseases. The malnutrition rate for sub-Saharan Africa is 42 percent, for South Asia 47 percent. 145
Obwohl die Anzahl der in absoluter und gemäßigter Armut lebenden Menschen schier endlos groß zu sein scheint, sind beispielsweise die finanziellen Mittel, die voraussichtlich ausreichen würden, um die Menschen über das Limit der absoluten Armut zu heben, vergleichs144 145
Sachs 2005, 33–34. Lichtenberg 2014, 1.
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weise gering: So werden im Jahr etwa 250–300 Milliarden US-Dollar benötigt, um absolute Armut zu beseitigen. 146 Ferner beträgt das umzuverteilende Einkommensdefizit, um die Menschen auch über die Schwelle der gemäßigten Armut zu heben, laut Pogge lediglich etwa 1,2 Prozent »des kollektiven Einkommens der 955 Millionen Menschen in den reichen Ländern.« 147
Simplifizierungen des Weltarmutsproblems Da im Rahmen dieser Arbeit das Problem der Weltarmut nicht umfassend behandelt werden kann, ist es notwendig, das Problem hinsichtlich einiger Aspekte zu vereinfachen. Dies führt zwar dazu, dass die Übertragbarkeit der Ergebnisse begrenzt ist bzw. dass die realen Pflichten des individuellen Akteurs angepasst werden müssen. Jedoch sind die Vereinfachungen nicht so weitgehend, dass es überhaupt nicht möglich ist, daraus Schlüsse für den realen Akteur zu ziehen, und insbesondere nicht so weitgehend, dass die Frage danach nicht beantwortet werden kann, ob der Multi-Ebenen-Konsequentialismus die Intuitionen, die dem Besondere-Pflichten-Einwand zugrunde liegen, angemessen aufnehmen kann. Erstens: Anhand der oben dargestellten Zahl, wie viel Geld pro Jahr etwa notwendig ist, um absolute Armut zu beseitigen, wird klar, dass dazu kein einzelner Akteur alleine im Stande ist. Diese Feststellung ist aber von der Behauptung zu trennen, dass ein einzelner Akteur nichts gegen absolute Armut unternehmen kann. Vor allem die 146 Vgl. Pogge 2007, 135. Die Summe lässt sich folgendermaßen berechnen: Etwa 1,3 Mrd. Menschen haben weniger als 1,25 $ pro Tag. Das durchschnittliche Einkommen dieser Menschen liegt bei etwa 0,77 $, das heißt, ihnen fehlen am Tag etwa 0,48 $. Aufs Jahr gerechnet sind dies ca. 175 $ pro Person und zusammen etwa 227,5 Mrd. $ (vgl. Sachs 2005, 356). 147 Pogge 2003, 244. Eine andere Möglichkeit, sich dem Problem der absoluten Armut zu nähern, besteht über den Social Progress Index. Dabei wird anhand von drei Hauptkriterien – Basic Human Needs, Foundations of Wellbeing und Opportunity –, die wiederum Unterkriterien enthalten, der Social Progress gemessen (The Social Progress Imperative 2016). Durch diese starke Differenzierung lässt sich deutlich genauer bewerten, inwieweit eine Gesellschaft dazu in der Lage ist, die zentralen Bedürfnisse der Bevölkerung zu befriedigen. Die Frage danach, zu welchen Handlungen der individuelle Akteur verpflichtet ist, lässt sich aber mit den Begriffen der absoluten und der gemäßigten Armut sowie den damit einhergehenden Einkommensgrenzen präziser beantworten. Daher wird im Folgenden mit diesen Daten gearbeitet.
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Ergebnisse im Rahmen des efficient altruism 148 zeigen deutlich, dass auch Einzelbeiträge, wenn sie richtig platziert sind, langfristig etwas gegen absolute Armut bewirken können. 149 In diesem Sinne geht es nicht um die Frage, ob ein individueller Akteur das Problem der Weltarmut beseitigen kann, sondern darum, zu welchem Beitrag er für die Reduktion gemäß dem Multi-Ebenen-Konsequentialismus verpflichtet ist. Zweitens: Voraussichtlich sind kollektive Akteure wie Staaten und supranationale Vereinigungen in der Lage, das Problem der Weltarmut viel effizienter zu lösen als individuelle Akteure. 150 Allerdings ändert dies nicht zwingend das Problem, vor dem der einzelne moralische Akteur steht. Solange keine effizienten Institutionen geschaffen sind, die das Problem der absoluten bzw. gemäßigten Armut zuverlässig beseitigen, ist der moralische Akteur im Rahmen einer konsequentialistischen Theorie dazu verpflichtet, Menschen, die von Weltarmut betroffen sind, zu helfen. 151 Drittens: Im Wesentlichen haben individuelle Akteure zwei Ressourcen, mit denen sie helfen können: Zeit und Geld. Durch das Aufwenden von Zeit kann beispielsweise dazu beigetragen werden, etablierte Institutionen zu unterstützen und sie dadurch effizienter zu machen; bei Bedarf können auch neue Institutionen aufgebaut werden. Mit der Ressource Geld ermöglicht man es, dass die Ziele der verschiedenen Organisationen tatsächlich umgesetzt werden können. Die anschließende Diskussion wird sich auf die Ressource Geld beschränken. Dabei wird davon ausgegangen, dass das Geld möglichst effizient eingesetzt wird. Viertens: Im Rahmen dieser Untersuchung ist es sinnvoll, den Kreis der Adressaten einzuschränken. Im Folgenden geht es nicht darum zu erläutern, wozu ein Millionär oder ein Obdachloser verpflichtet ist, sondern wozu ein Durchschnittsakteur aus den wohlhabenden Ländern verpflichtet ist. Dieser Durchschnittsakteur ist wie folgt charakterisiert bzw. im folgenden Umfeld eingebettet:
148 Vgl. beispielsweise Giving What We Can 2016, GiveWell 2016 und The Life You Can Save 2016. 149 Vgl. auch Gosepath 2007. 150 Vgl. beispielsweise Goodin 1985, 165–166. 151 Vgl. Cullity 2007, 66–67.
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Es handelt sich um einen in Deutschland lebenden, verheirateten Familienvater mit zwei Kindern. Beide Eltern arbeiten Vollzeit, alle Familienmitglieder sind zudem Mitglied in einem Verein. Das gemeinsame monatliche Haushaltsbruttoeinkommen 152 beträgt etwa 6400 €, das gemeinsame Haushaltsnettoeinkommen 153 etwa 4800 €. 154 Von diesem Haushaltsnettoeinkommen gibt die Familie durchschnittlich im Monat 3220 € an privaten Konsumausgaben aus, die sich wie folgt zusammensetzen: � Miete und Energiekosten: 1050 € � Nahrungsmittel, Getränke (und Tabakwaren): 520 € � Verkehrsmittel: 520 € � Bekleidung und Schuhe: 190 € � Innenausstattung, Haushaltsgeräte und -gegenstände: 180 € � Gesundheitspflege: 90 € � Nachrichtenübermittlung: 80 € � Freizeit, Unterhaltung und Kultur: 370 € � Bildungswesen: 60 € � Versicherungen: 160 € Vom Haushaltsnettoeinkommen bleiben damit etwa 1580 € für die Bildung von Rücklagen, für die Altersvorsorge, das Abbezahlen etwaiger Kredite und sonstige Ausgaben. Zu Letzteren gehören Spenden, die beim entsprechenden Haushalt gegenwärtig mit etwa 10 € monatlich zu Buche schlagen. 155
152 »Alle Einnahmen des Haushalts aus (selbstständiger und unselbstständiger) Erwerbstätigkeit, aus Vermögen, aus öffentlichen und nichtöffentlichen Transferzahlungen sowie aus Untervermietung bilden das Haushaltsbruttoeinkommen.« (Statistisches Bundesamt 2014, 7, Hervorhebung im Original) 153 »Das Haushaltsnettoeinkommen errechnet sich, indem vom Haushaltsbruttoeinkommen […] Einkommen-/Lohnsteuer, Kirchensteuer und Solidaritätszuschlag sowie die Pflichtbeiträge zur Sozialversicherung abgezogen werden.« (Statistisches Bundesamt 2014, 7) 154 Diese und die folgenden Zahlen und Kategorien orientieren sich an den Angaben des Statistischen Bundesamtes 2014, 26. 155 Eine Auflistung derartiger Zahlen läuft Gefahr, ein falsches Bild zu vermitteln, da die individuelle Situation jeweils stark variiert. Zunächst einmal unterscheidet sich das Haushaltsnettoeinkommen von einem Vier-Personen-Haushalt zu einem anderen Vier-Personen-Haushalt teils sehr deutlich. Allerdings unterscheiden sich die privaten Konsumausgaben nicht im gleichen Maße. Damit ist Folgendes gemeint: Wenn das Haushaltsnettoeinkommen etwa 3200 € beträgt, also lediglich zwei Drittel des Ausgangsbeispiels, werden nicht alle Kosten ebenso nur zwei Drittel betragen. Dies
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Besondere Pflichten: Weltarmutsproblem
Die Frage, die im Folgenden beantwortet werden soll, lautet: Zu welcher Handlung bzw. zu welchen Handlungen ist der dargestellte Durchschnittsakteur hinsichtlich des Problems der Weltarmut verpflichtet?
Wo ist das Weltarmutsproblem zu verorten? Um die Frage zu beantworten, wozu der Durchschnittsakteur verpflichtet ist, muss die Frage beantwortet werden, an welcher Ebene der Durchschnittsakteur seine Handlung auszurichten hat. Hierzu muss wiederum die Zuständigkeitsprozedur durchlaufen werden: 1. Schritt: Erwäge, ob in dieser Situation eine unmittelbare Handlungsausführung notwendig ist. Wenn die Antwort nicht Nein ist, dann entscheide dich dafür, deine Handlung gemäß der dritten Ebene auszurichten; ansonsten mache mit dem 2. Schritt weiter. Offensichtlich ist keine unmittelbare Handlungsausführung erforderlich, denn ob sich der Akteur sofort, in fünf Minuten oder in einer Stunde für eine Handlung entscheidet und entsprechend handelt, wird voraussichtlich keinen relevanten Unterschied machen. Dementsprechend ist mit dem zweiten Schritt fortzufahren. 2. Schritt: Erwäge, wie viel Zeit du voraussichtlich hast, um dich für eine Zielhandlung zu entscheiden, und erwäge, wie viel Zeit du voraussichtlich benötigst, um die Sekundärprozedur zu durchlaufen. Wenn die Antwort der zweiten Frage einen Wert ergibt, der kleiner ist als der Wert aus der Beantwortung der ersten Frage, dann ist die dritte Ebene zuständig; ansonsten mache mit dem 3. Schritt weiter. Voraussichtlich wird eine Handlung des moralischen Akteurs keine sofortige Wirkung zeigen. Der charakterisierte Durchschnittsakteur steht nicht im Zentrum des Geschehens, so dass er nicht unmittelbar eingreifen kann. Dies wird noch deutlicher, wenn man den Blick, wie angegeben, auf die Ressource Geld fokussiert. Insofern sich der Akteur dafür entscheidet, Geld zu spenden, wird dies voraussichtlich auf ein Konto einer Spendenorganisation erfolgen. Es ist aber eher un-
dürfte insbesondere für Nahrungsmittel und Getränke, für Bekleidung und Schuhe, Haushaltsgeräte und Versicherungen gelten. Die Folge davon ist, dass der Betrag, der beispielsweise für die Bildung von Rücklagen usw. zur Verfügung steht, nicht im gleichen Maße, sondern prozentual deutlich stärker sinkt und mit weiter sinkendem Einkommen sogar gegen Null tendiert. Konsequentialismus und besondere Pflichten
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wahrscheinlich, dass diese Organisation sofort nach dem Eintreffen des Geldes dieses direkt verwendet bzw. eine Aktion nicht durchführen würde, wenn das Geld nicht zu diesem Zeitpunkt, sondern erst eine Woche später eintreffen würden. Pragmatisch kann der Akteur daher davon ausgehen, dass er sich an einem Wochenende in Ruhe mit dem Thema auseinandersetzen kann. Für das Durchlaufen der konsequentialistischen Entscheidungsprozedur wird voraussichtlich weniger als ein Wochenende benötigt. Somit ist es möglich, die konsequentialistische Entscheidungsprozedur in der zur Verfügung stehenden Zeit zu durchlaufen, und es ist mit dem dritten Schritt fortzufahren. 3. Schritt: Erwäge, ob du in der gegebenen Zeitspanne zu einer unparteiischen Urteilsfindung gemäß der ersten oder zweiten Ebene fähig bist. Wenn die Antwort nicht Ja ist, dann entscheide dich dafür, deine Handlung gemäß der dritten Ebene auszurichten; ansonsten mache mit dem 4. Schritt weiter. Das nüchterne Durchlaufen der konsequentialistischen Entscheidungsprozedur auf der 2. Ebene anhand der vorliegenden Daten sowie die Möglichkeit, über entsprechende Ergebnisse eine Nacht schlafen zu können, bietet genügend Möglichkeiten, um etwaige Rationalisierungsprozesse, die einer unparteiischen Urteilsfindung im Wege stehen, aufzudecken und zu korrigieren. Darüber hinaus geht von der Entscheidung keine akute Bedrohung für Freunde oder Familie aus, die starke parteiische Intuitionen hervorruft. Somit ist davon auszugehen, dass der moralische Akteur zu einer unparteiischen Urteilsfindung fähig ist und mit dem 4. Schritt fortzufahren ist. 4. Schritt: Erwäge, ob dir alle relevanten Informationen zur Verfügung stehen, um zu berechnen, welche Handlung gemäß dem Grundprinzip moralisch richtig1 ist. Nur wenn die Frage mit Ja beantwortet wird, ist die erste Ebene zuständig, andernfalls die zweite Ebene. Stehen nach dem Sichten der Daten alle relevanten Informationen zur Verfügung, die benötigt werden, um zu bestimmen, welche Handlung zum besten Aggregationsergebnis führt? Offensichtlich nicht. Hierzu fehlen schlichtweg vollständige Daten: Wie viel Geld wird exakt benötigt und wie viel Geld wird von anderen Akteuren exakt gespendet werden? Bei welchen Organisationen wird das gespendete Geld unter den vorliegenden Bedingungen tatsächlich zu einem optimalen Aggregationsergebnis führen? usw. Dem Akteur wird es zwar möglich sein, auf diese und andere Fragen gewisse Antworten zu geben; allerdings wird er nicht dazu in der Lage sein, zu 298
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bestimmen, welche Handlung bzw. welcher Spendenbetrag tatsächlich das Wohlergehen aller Beteiligten maximiert. Entsprechend ist das Ergebnis der Zuständigkeitsprozedur, dass die Handlung an der zweiten Ebene auszurichten ist.
Die Sekundärprozedur beim Weltarmutsproblem Nachdem ermittelt wurde, dass der Durchschnittsakteur sein Handeln an der zweiten Ebene auszurichten hat, ist zu klären, welche Handlung gemäß der zweiten Ebene moralisch richtig ist. Hierzu muss die Sekundärprozedur durchlaufen werden. Erster Schritt: Welche Handlungsalternativen stehen dem dargestellten moralischen Akteur zur Verfügung? Drei Handlungsalternativen scheinen sinnvoll zu sein: – –
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Handlungsalternative A: Es wird nichts bzw. nur sporadisch ein geringer Betrag gespendet. Handlungsalternative B: Es wird ein Betrag gespendet, der sich an einem fairen Anteil orientiert. Im Sinne von Pogge entspricht dieser Betrag etwa 1,2 Prozent des Haushaltsbruttoeinkommens. Handlungsalternative C: Es wird ein Betrag gespendet, der sich an der Schwelle des Grenznutzens orientiert. Das heißt, der Durchschnittsakteur spendet so viel, bis er durch weitere Spenden das Aggregationsergebnis verschlechtern würde. 156 Der Schwellenwert dürfte deutlich über 1,2 Prozent des Haushaltsbruttoeinkommens liegen.
Während es für den Akteur bei den Alternativen A und B eindeutig ist, welche Handlung daraus folgt, ergibt sich bei der Alternative C ein Problem: Wo genau liegt die Schwelle des Grenznutzens? Im gleichen Maße, wie der moralische Akteur in der realen Welt nicht dazu Diese Grenze ist beispielsweise überschritten, wenn der Akteur so viel spendet, dass ihm selbst die Ressourcen fehlen, um das Einkommensniveau langfristig aufrechtzuerhalten. Dies kann dann der Fall sein, wenn er nicht mehr genügend finanzielle Mittel zur Verfügung hat, um zu seiner Arbeitsstelle zu kommen, beispielsweise weil er sich die Reparatur des Autos nicht mehr leisten kann, oder auf jegliche Freizeitaktivität, die ihm einen psychischen Ausgleich zur Arbeit bietet, aus finanziellen Gründen verzichtet und aufgrund von psychischer Ermüdung die Arbeit nach einiger Zeit niederlegen muss. 156
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fähig ist, zu bestimmen, welche Handlung tatsächlich zum besten Aggregationsergebnis führt, wird er vorab nicht in der Lage sein, zu bestimmen, bei welchem Betrag der Grenznutzen erreicht, überschritten oder unterschritten ist. Diesbezüglich ist ein weiterer wichtiger Aspekt relevant: Mit dem Entwicklungsökonomen Sachs lässt sich sagen, dass die globale Spendensumme, die dazu geeignet ist, absolute Armut zu beseitigen, über einen Zeitraum von etwa 20 Jahren aufrechterhalten werden muss, bis die Länder stabil auf eigenen Füßen stehen und selbst die Ärmsten in ihrer Gesellschaft angemessen versorgen können. 157 Da aber gegenwärtig nicht einmal die notwendige Summe bereitgestellt wird und dies voraussichtlich in den nächsten Jahren auch nicht der Fall sein wird, ist zu erwarten, dass die individuelle Hilfe über mindestens ein weiteres Jahrzehnt hinweg benötigt wird. Daher muss die Spendensumme so bemessen sein, dass sie langfristig stabil bleibt und nicht nach wenigen Jahren einzubrechen droht, weil sie über dem Grenznutzen liegt. Gemäß diesen Erwägungen ist es sinnvoll, die Handlungsoption C in zwei Handlungsalternativen aufzuspalten. Gemäß der ersten Option spendet der Durchschnittsakteur mindestens den fairen Anteil von 1,2 Prozent des Haushaltsbruttoeinkommens, aber nicht so viel, dass er Gefahr läuft, den Schwellenwert zu überschreiten. Fraglich ist, wo diese Obergrenze festzusetzen ist. In früheren Werken hat Singer für 10 Prozent des Einkommens plädiert. 158 Wie er jedoch in Anlehnung an einen Leserbrief anmerkt, können bereits 5 Prozent für jemanden mit einem Einkommen, das mit dem des dargestellten Durchschnittsakteurs vergleichbar ist, zu viel sein: If you earn $ 500,000, giving 5 percent is no hardship at all. It still leaves you with $ 475,000, which should be enough for anyone. If you earn only $ 50,000 and are supporting a family, however, finding a spare $ 2,500 to give away might be tough. 159
Die plausibelste Strategie scheint es daher zu sein, diese Option flexibel zu halten. Das heißt, der zu spendende Anteil wird auf 1,2 bis 10 Prozent des Haushaltsbruttoeinkommens festgesetzt. Demnach lautet die Handlungsoption C1: 157 158 159
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Vgl. Sachs 2005, 338–339. Vgl. Singer 1994, 313–314. Singer 2009, 162.
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Handlungsalternative C1: Es wird ein Betrag gespendet, der zwischen 1,2 Prozent und 10 Prozent des Haushaltsbruttoeinkommens liegt.
Demgegenüber kann der moralische Akteur auch versuchen, sich der Schwelle des Grenznutzens weiter anzunähern, auch wenn dabei das Risiko deutlich größer wird, dass die Schwelle überschritten wird. In diesem Sinne liegt der zu spendende Betrag zwischen 10 Prozent und dem Betrag, der nach Abzug der notwendigen Lebenshaltungskosten wie Nahrungsmittel und Getränke, Bekleidung und Schuhe, Miete und Energiekosten, Gesundheitspflege und Verkehrsmittel übrigbleibt. –
Handlungsalternative C2: Es wird ein Betrag gespendet, der zwischen 10 Prozent des Haushaltsbruttoeinkommens liegt und dem Betrag, der nach Abzug der notwendigen Lebenshaltungskosten übrigbleibt.
Zweiter Schritt: Mit den vier Handlungsalternativen A, B, C1 und C2 kann zum zweiten Schritt übergegangen werden: Welchen epistemischen Erwartungsnutzen bzw. relationalen Wert haben die Handlungsalternativen? Aufgrund des komplexen Problems der Weltarmut wird der Durchschnittsakteur voraussichtlich nicht dazu in der Lage sein, den epistemischen Erwartungsnutzen zu bestimmen. Allerdings wird er dazu in der Lage sein, (einige) relationale Werte zu ermitteln. Dabei kann der Gedankengang wie folgt rekonstruiert werden: Die Handlungsalternative A entspricht in etwa dem Ausgangszustand, bei dem monatlich etwa 10 € gespendet werden, was etwa 0,16 Prozent des Haushaltsbruttoeinkommens des Durchschnittsakteurs entspricht. Demnach ist davon auszugehen, dass diese Handlungsalternative zu keiner Verbesserung des Ausgangszustandes führt. Unter sonst gleichen Bedingungen wird mit der Handlungsalternative B deutlich mehr gespendet, in diesem Fall etwa das Siebeneinhalbfache des Ausgangszustandes. Insgesamt ist daher davon auszugehen, dass die Handlungsalternative B langfristig zu einem besseren Ergebnis führt als die Handlungsalternative A. Ein noch besseres Ergebnis ist von der Handlungsalternative C1 zu erwarten. Im schlechtesten Fall wird so viel gespendet wie bei der Handlungsalternative B; voraussichtlich wird über einen längeren Zeitraum jedoch deutlich mehr gespendet, ohne in die Gefahr zu laufen, den Grenznutzen zu überKonsequentialismus und besondere Pflichten
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schreiten. Langfristig wird daher durch die Handlungsalternative C1 eine bessere Annäherung an das optimale Aggregationsergebnis erreicht als mit der Handlungsalternative B. Noch besser sieht es zunächst mit der Handlungsalternative C2 aus. Unter sonst gleichen Bedingungen ist die Spendensumme nochmals größer als bei der Alternative C1. Allerdings ist unklar, ob nicht doch der Grenznutzen überschritten wird und die Spendensumme mit der Zeit sinkt. Erinnert sei beispielsweise an die depressive Phase von Mill, nachdem er erkannt hatte, dass ihn die Förderung des allgemeinen Wohlergehens nicht glücklich machen würde. Daher wurde das Primafacie-Prinzip, dass auch auf das eigene Wohlergehen zu achten ist, indem beispielsweise die eigenen Projekte und Ziele realisiert werden, nicht grundlos verankert. Doch ob den eigenen Projekten und Zielen bei einer derartigen Spendenbelastung wirklich nachgegangen werden kann, ist fraglich. 160 Daher besteht die Gefahr, dass die Spendensumme bei der Alternative C2 langfristig fällt und unter das Niveau von C1 sinkt. 161 Dieser Umstand verhindert die Bestimmung des relationalen Wertes in Bezug auf C1: Es ist möglich, dass C2 sowohl zu einem besseren als auch schlechteren Aggregationsergebnis führt als C1. Das Ergebnis des zweiten Schrittes lautet somit, dass nicht von allen Handlungsalternativen der Erwartungsnutzen bzw. der relationale Wert bestimmt werden kann. Daher muss der Durchschnittsakteur mit dem dritten Schritt der Sekundärprozedur fortfahren. Weil die Handlungsalternativen A und B einen geringeren relationalen Wert als die Handlungsalternative C1 haben, sind lediglich die Handlungsalternative C1 und die Handlungsalternative C2, von der sich kein relationaler Wert bestimmen lässt, beim dritten Schritt zu berücksichtigen. Dritter Schritt: Welche Handlung ist gemäß dem Tertiärprinzip moralisch richtig? Zunächst ist festzustellen, dass sich sowohl die Handlungsalternative C1 als auch die Handlungsalternative C2 auf das Prima-facie-Prinzip »Hilf Menschen in Not!« zurückführen lassen. Es handelt sich demnach um einen Konflikt von Prima-faciePrinzipien, der möglichst durch die Gewichtungsregeln aufzulösen ist. Welcher der beiden Handlungen ist das größere Gewicht bei-
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Vgl. auch Shaw 1999, 283. Vgl. auch Singer 2007, 49.
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Besondere Pflichten: Weltarmutsproblem
zumessen? Wie die vorangegangene Diskussion gezeigt hat, ist es nicht offensichtlich, dass eine der beiden Handlungen langfristig zu einem deutlich besseren Aggregationsergebnis führt. Daher führt die erste Gewichtungsregel zu keiner stärkeren Gewichtung. Ebenso ist nicht zu erwarten, dass eine der beiden Handlungen durch einen anderen Akteur kompensiert wird; daher führt auch die zweite Gewichtungsregel zu keiner unterschiedlich starken Gewichtung. Anders sieht es mit den beiden anderen Gewichtungsregeln aus. Wie gezeigt wurde, liegt nach Pogge der faire Anteil an der zu erbringenden Spendensumme bei 1,2 Prozent des Haushaltsbruttoeinkommens. Würden alle anderen Akteure der wohlhabenden Länder diesen Anteil ihres Einkommens spenden, bestünde kein Bedarf daran, mehr als 1,2 Prozent des Haushaltsbruttoeinkommens und damit mehr als den niedrigsten Betrag der Handlungsalternative C1 zu spenden. Daher führt die dritte Gewichtungsregel zu einem geringeren Gewicht der Handlungsalternative C2. Ebenso lässt sich annehmen, dass das Wohlergehen derjenigen, zu denen der moralische Akteur in guter Beziehung steht, mit der Handlungsalternative C1 positiver beeinflusst werden kann. So können unter anderem aufgrund des größeren finanziellen Spielraums, den die Alternative C1 bietet, die engsten Vertrauten stärker unterstützt werden als bei der Handlungsalternative C2. Daher führt auch die vierte Gewichtungsregel zu einer stärkeren Gewichtung von C1. Das Ergebnis aus aus der Untersuchung der Gewichtungsregeln ist demnach, dass der Handlungsalternative C1 ein deutlich größeres Gewicht beizumessen ist als C2. In diesem Sinne ist C1 gemäß dem Tertiärprinzip als einzige Handlung moralisch richtig3. Damit ergibt sich aus der Sekundärprozedur, dass C1 auch moralisch richtig2 ist; dementsprechend hat der Durchschnittsakteur zwischen 1,2 und 10 Prozent des Haushaltsbruttoeinkommens – etwa 80 bis 640 € monatlich – für den Kampf gegen absolute Armut zu spenden. 162 Nach Abzug dieser Spendensumme und der Ausgaben für privaten Konsum (unter anderem für Freizeit, Unterhaltung und Kultur) bleiben ihm damit noch 940 bis 1500 € monatlich für die Bildung von Rücklagen, die Altersvorsorge, das Abbezahlen etwaiger Kredite und sonstige Ausgaben. 162 Vgl. auch Hooker 2000, 163, der ebenso von einer moralisch richtigen Spendensumme zwischen 1 und 10 Prozent ausgeht, unter anderem deshalb, weil die Forderung einer größeren Summe bzw. die Internalisierung einer entsprechenden Pflicht zu hohe Internalisierungskosten hätte. Siehe diesbezüglich auch Shaw 1999, 283.
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Mit diesem Ergebnis lässt sich der Einwand zurückweisen, dass konsequentialistische Theorien aufgrund des Weltarmutsproblems zu Forderungen führen, die über ein angemessenes Maß hinausgehen und dazu führen, dass den besonderen Pflichten, die gegenüber den Unsrigen bestehen, nicht angemessen nachgekommen werden kann. Zwar basiert diese Schlussfolgerung auf den gemachten Simplifizierungen, aber offensichtlich lässt sich das Ergebnis problemlos auf die reale Welt übertragen. Damit kann gefolgert werden, dass das Problem der Weltarmut im Rahmen eines Multi-Ebenen-Konsequentialismus nicht dazu führt, dass die besonderen Pflichten bzw. die korrelierenden Prima-facie-Prinzipien des individuellen Akteurs übertrumpft werden. In diesem Sinne werden auch bei einem Handeln gemäß dem Sekundärprinzip die drei Intuitionen, die dem Besondere-Pflichten-Einwand zugrunde liegen, in angemessener Weise berücksichtigt.
Einwände gegen die Verankerung besonderer Pflichten Im 3. Kapitel wurden verschiedene Einwände diskutiert, die gegen die Verankerung besonderer Pflichten sprechen. Da das Ergebnis dieser Arbeit lautet, dass im Multi-Ebenen-Konsequentialismus besondere Pflichten bzw. Prima-facie-Prinzipien und Gewichtungsregeln zu verankern sind, die inhaltlich den besonderen Pflichten entsprechen, muss kurz darauf eingegangen werden, inwieweit diese Einwände auch den Multi-Ebenen-Konsequentialismus betreffen. Da der Lexikalische-Vorrangseinwand, der Soziale-Rollen-Einwand, der Zuordnungseinwand und der Analogieeinwand zurückgewiesen wurden, beschränken sich die Ausführungen auf den Parteilichkeits- und Verteilungseinwand, den Paradoxieeinwand, den Selbstwidersprüchlichkeitseinwand sowie den Universalisierbarkeitseinwand und den Stimmigkeitseinwand. Zum Parteilichkeits- und Verteilungseinwand: Stehen die entsprechende Prima-facie-Prinzipien und die Gewichtungsregel im Konflikt mit dem Prinzip der Unparteilichkeit? Offensichtlich nicht, denn sie sind unparteiisch gerechtfertigt und greifen außerdem, um es mit Baron zu sagen, erst auf einer niedrigeren Ebene. Auf der ersten Ebene, an der die Prinzipien der anderen Ebenen ausgerichtet sind, ist das Prinzip der Unparteilichkeit erfüllt. Der Parteilichkeitseinwand lässt sich demnach nicht gegen die entsprechenden Prinzi304
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pien und die Gewichtungsregel vorbringen. Wie sieht es mit Schefflers Verteilungseinwand aus? Dies hängt davon ab, was unter einer gerechten oder fairen Verteilung zu verstehen ist. Aus Sicht einer nicht-konsequentialistischen Theorie ist es mit der fairen bzw. gerechten Verteilung innerhalb einer konsequentialistischen Theorie, insbesondere wenn diese noch utilitaristisch ausfällt, ohnehin schlecht bestellt; daran ändern auch die verankerten Prima-faciePrinzipien und die entsprechende Gewichtungsregel nichts. Aus dieser Perspektive ließe sich der Einwand tatsächlich vorbringen. Er ließe sich aber auch ohne die gerechtfertigten Prinzipien bzw. ohne die Gewichtungsregel stellen. Aufgrund der nicht geteilten Intuitionen über entsprechende Verteilungsfragen ist es aber nur sinnvoll, den Einwand theorieintern zu beantworten. Wie im 3. Kapitel bereits dargestellt, lässt sich im Rahmen einer konsequentialistischen Theorie dafür argumentieren, dass die Verankerung besonderer Pflichten zu einer besseren Annäherung an das optimale Aggregationsergebnis führt, wodurch eben jene Verteilung erreicht wird, die gemäß dieser Theorie richtig ist. Dementsprechend ist der Verteilungseinwand im Rahmen des Multi-Ebenen-Konsequentialismus zurückzuweisen. Zum Paradoxieeinwand: Läuft der Multi-Ebenen-Konsequentialismus in den Paradoxieeinwand – insofern er sich tatsächlich als Einwand verstehen lässt? Dazu müsste es zutreffen, dass beispielsweise die Pflicht, die sich aus dem Prinzip »Erfülle deine freiwillig eingegangenen Verpflichtungen!« ergibt, auch dann nicht verletzt werden darf, wenn dadurch mehr Verletzungen der gleichen Pflicht verhindert werden. Doch genau an dieser Stelle greift die erste Gewichtungsregel, die besagt, dass jener Handlung ein größeres Gewicht einzuräumen ist, von der auszugehen ist, dass sie zu einem deutlich besseren Aggregationsergebnis führt. Damit besteht keine Paradoxie mehr, und somit stellt sich auch nicht der Paradoxieeinwand. Zum Selbstwidersprüchlichkeitseinwand: Wird der Multi-Ebenen-Konsequentialismus durch die Verankerung der entsprechenden Pflichten direkt kollektiv selbstwidersprüchlich? Theoretisch scheint diese Möglichkeit zu bestehen. In einer Situation, in der alle Akteure gemäß der Zuständigkeitsprozedur ihr Handeln an der dritten Ebene auszurichten haben und in der die Umstände so sind, dass lediglich die vierte Gewichtungsregel greift – also dass jener Handlung ein größeres Gewicht einzuräumen ist, mit der das Wohlergehen derjenigen positiv beeinflusst werden kann, zu denen man Konsequentialismus und besondere Pflichten
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gute Beziehungen unterhält –, droht die direkte kollektive Selbstwidersprüchlichkeit. Ist der Multi-Ebenen-Konsequentialismus also direkt kollektiv selbstwidersprüchlich? In einer gewissen Hinsicht ja, aber sicherlich nicht in relevanter Hinsicht. Zunächst einmal sei daran erinnert, dass das Auftreten dieser Fälle in der realen Welt äußerst unwahrscheinlich ist. In diesem Sinne lässt sich aber erneut argumentieren, dass, selbst wenn in diesen Situationen das Aggregationsergebnis nicht optimal ausfällt, auf lange Sicht die verankerten Prima-facie-Prinzipien und die entsprechende Gewichtungsregel zu einer besseren Annäherung an das optimale Aggregationsergebnis führen. Darüber hinaus ließe sich die direkte kollektive Selbstwidersprüchlichkeit auch durch eine leichte Modifikation und Erweiterung der Theorie beheben. Das Rezept dazu wurde bereits im 3. Kapitel dargestellt: In allen Situationen, in denen die direkte kollektive Selbstwidersprüchlichkeit droht, hat der Akteur seine Handlung an akteur-neutralen Gründen auszurichten. Dies kann beispielsweise dadurch geschehen, dass eine weitere, fünfte Ebene mit folgendem Inhalt verankert wird: Fünfte Ebene: Moralisch richtig5 ist eine Handlung dann, wenn der Akteur davon ausgeht, dass es keine mögliche alternative Handlung gibt, die das Wohlergehen – verstanden im Sinne des ethischen Hedonismus – der von einer Handlung betroffenen wohlergehensfähigen Lebewesen, die gegenwärtig tatsächlich existieren, besser aggregiert. Andernfalls ist die Handlung moralisch falsch5.
Zu dieser fünften Ebene ist in der Zuständigkeitsprozedur ein weiterer Schritt zu verankern, der, wenn die direkte kollektive Selbstwidersprüchlichkeit droht, die fünfte Ebene als zuständige Ebene ausweist. Im Rahmen eines leicht angepassten Multi-Ebenen-Konsequentialismus ließe sich also der Selbstwidersprüchlichkeitseinwand zurückweisen. Der Frage, ob diese angepasste Theorie tatsächlich plausibler ist, wird an dieser Stelle nicht nachgegangen. Zum Universalisierbarkeitseinwand: Trifft der Universalisierbarkeitseinwand den Multi-Ebenen-Konsequentialismus? Offensichtlich nicht, denn der Multi-Ebenen-Konsequentialismus profitiert an dieser Stelle aus dem reduktionistischen Vorgehen. Dadurch, dass die entsprechenden Prima-facie-Prinzipien bzw. die Gewichtungsregel reduktionistisch gerechtfertigt wurden, sind die daraus resultierenden Pflichten nicht mehr zugleich relativised und indepen306
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dent, wodurch die Gefahr der Nicht-Universalisierbarkeit nicht besteht. Zum Stimmigkeitseinwand: Ist der Multi-Ebenen-Konsequentialist zu Handlungen verpflichtet, die nach geeigneter Reflexion zurückzuweisen sind? Die Antwort entspricht im Wesentlichen der Antwort bezüglich des Verteilungseinwandes: Aus Sicht einer nichtkonsequentialistischen Theorie sind Konsequentialisten und vor allem Utilitaristen dafür prädestiniert, Handlungen als moralisch richtig zu bewerten, die nach geeigneter Reflexion zurückzuweisen sind. Die Handlungen, die aus besonderen Pflichten resultieren können, bilden hier keine Ausnahme. Doch mit Blick auf die Frage, ob besondere Pflichten Handlungen erfordern, die gemäß der eigenen Theorie zurückzuweisen sind, sieht das Ergebnis anders aus. Im Rahmen des Multi-Ebenen-Konsequentialismus kommt diesbezüglich erneut das reduktionistische Element zum Tragen. Letztlich dienen die entsprechenden Prima-facie-Prinzipien und die Gewichtungsregel dazu, eine größtmögliche Annäherung an das optimale Aggregationsergebnis zu erreichen. In diesem Sinne lässt sich nicht sinnvoll dafür argumentieren, dass Handlungen gefordert sind, die im Rahmen dieser Theorie als moralisch verwerflich anzusehen sind. Dementsprechend ist auch der Stimmigkeitseinwand zurückzuweisen.
Weitere Einwände Insofern die Analyse hinsichtlich der besprochenen Einwände richtig ist, liefert keiner dieser Einwände einen Grund, die gerechtfertigten besonderen Pflichten bzw. deren korrelierende Prima-facie-Prinzipien und die korrelierende Gewichtungsregel zurückzuweisen. Doch dies bedeutet nicht, dass sich im Kontext besonderer Beziehungen und besonderer Pflichten überhaupt keine Einwände gegen den Multi-Ebenen-Konsequentialismus vorbringen lassen. Beispielsweise könnte argumentiert werden, dass der Multi-Ebenen-Konsequentialismus die Autonomie eines individuellen Akteurs bezüglich der freien Partner- und Freundeswahl auf wenig plausible Weise einschränken würde. Insofern es eine zuverlässige Methode gäbe, um zu bestimmen, mit welchem Partner oder Freund das Glück maximiert werden könnte, wäre der Akteur aus der moralischen Perspektive nicht mehr frei zu entscheiden, mit wem er tatsächlich eine Partnerschaft oder Freundschaft eingeht. Konsequentialismus und besondere Pflichten
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Ebenso ließe sich argumentieren, dass der Multi-Ebenen-Konsequentialist auch in einem Konfliktfall, in dem sich der Akteur beispielsweise zwischen zwei Freunden entscheiden müsste, nicht frei entscheiden könnte, welchen der beiden Freunde er unterstützen und so als Freund behalten möchte. Mehr noch, aus moralischer Perspektive müsste er sogar in einigen Fällen eine Entscheidung für eine Person treffen, die einem geteilten Verständnis von Freundschaft widerspricht. Dies wäre beispielsweise dann der Fall, wenn einer der Freunde nach allen sinnvollen Maßstäben, die man dafür anführen kann, ein guter Freund ist, aber durch seine Art beständig in Schwierigkeiten gerät, die einen selbst immer wieder psychisch belasten, während der andere Freund vielleicht nicht immer der treuste Freund ist, aber die Zeit, die mit ihm verbracht wird, immer locker und angenehm ist. Auf dieser Basis hätte der Multi-Ebenen-Konsequentialist, insofern zu erwarten ist, dass auch zukünftig die Wohlergehensbilanz mit der zweiten Freundschaft besser ist, den zweiten Freund im Konflikt dem ersten Freund vorzuziehen. Doch das scheint nach allen sinnvollen Maßstäben der Freundschaft falsch zu sein. Die besondere Pflicht gegenüber dem ersten Freund ist viel dringlicher als die besondere Pflicht gegenüber den zweiten Freund. Auch diesen und ähnlichen Einwänden kann der Multi-EbenenKonsequentialist einiges entgegenhalten. Dennoch ist nicht davon auszugehen, dass mit dem Multi-Ebenen-Konsequentialismus alle entsprechenden Intuitionen und daraus resultierenden Einwände zurückgewiesen werden können. Etwas Derartiges zu zeigen ist auch nicht das Anliegen dieser Untersuchung. Denn letztlich reichen diese Einwände nicht aus, um insbesondere den Besondere-Pflichten-Einwand in einer Form neu zu formulieren, die stark genug ist, um den (Multi-Ebenen-)Konsequentialismus zurückzuweisen. Daher wird im Folgenden auf eine weitere Besprechung verzichtet.
Ergebnis des 15. Kapitels Anhand von zwei zentralen Beispielen, dem Kanu-Szenario und dem Problem der Weltarmut, konnte gezeigt werden, dass der moralische Akteur unabhängig davon, ob er gemäß der zweiten oder der dritten Ebene zu handeln hat, den verankerten besonderen Pflichten nachkommen kann bzw. dass die besonderen Pflichten nicht durchgängig von anderen Pflichten, deren Erfüllung (vermeintlich) zu einem bes308
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Ergebnis des 15. Kapitels
seren Aggregationsergebnis führt, untergeordnet werden. Natürlich kann und wird es Situationen in der realen Welt geben, in denen die besonderen Pflichten tatsächlich anderen Pflichten unterzuordnen sind, beispielsweise wenn es in der Hand des Akteurs liegt, ein Desaster zu verhindern, das kein anderer zu verhindern vermag. 163 Jedoch würde es wenig zur Plausibilität anderer normativer Theorien beitragen, wenn es dem moralischen Akteur in derartigen Fällen noch immer erlaubt wäre oder er sogar dazu verpflichtet wäre, zugunsten der Seinigen zu handeln. Außerdem ist es, wie mehrfach dargestellt, nicht einmal erforderlich, dass eine konsequentialistische Theorie in allen Situationen, in denen gemäß anderen Theorien die besonderen Pflichten trumpfen, zum gleichen Ergebnis kommt. Es kommt lediglich darauf an, dass konsequentialistische Theorien überhaupt Prinzipien und Regeln rechtfertigen, die den drei Intuitionen des Besondere-Pflichten-Einwandes entsprechen, und dass diese Prinzipien und Regeln – bzw. die korrelierenden besonderen Pflichten – in der realen Welt nicht durchgängig von anderen Prinzipien übertrumpft werden. Dass im Multi-Ebenen-Konsequentialismus derartige Prinzipien und Regeln gerechtfertigt sind und dass sie nicht durchgängig von anderen Prinzipien und Regeln übertrumpft werden, konnte in den vorangegangenen Kapiteln gezeigt werden. In diesem Sinne kann gefolgert werden, dass die Aufnahme der Intuitionen, die dem BesonderePflichten-Einwand zugrunde liegen, im Multi-Ebenen-Konsequentialismus in angemessener Weise erfolgt. Schließlich lässt sich mit dem Ergebnis des 8. Kapitels, in dem gezeigt wurde, dass es sich beim Multi-Ebenen-Konsequentialismus um eine plausible Form des Kon163 Natürlich lassen sich auch Szenarien diskutieren, in denen es nicht zum Desaster führt, wenn der Akteur zugunsten der Seinigen handelt. Ein Beispiel hat Keller gegeben: Eine Frau hat eine größere Summe Geld geerbt und plant, eine Klinik zugunsten von Menschen zu unterstützen, die andernfalls erblinden würden. Nachdem sie das Geld zugesichert hat, stellt sich heraus, dass der eigene Sohn an Asthma leidet und die entsprechenden Maßnahmen für ihn so viel Geld kosten würden, dass die Klinik nicht mehr unterstützt werden könnte (vgl. Keller 2013, 37–38). Nach Keller besteht die Schwäche des Konsequentialismus darin, dass er nicht rechtfertigen kann, dass das eigene Kind in einer derartigen Situation zu unterstützen ist (vgl. Keller 2013, 127). An dieser Stelle wird es dem Leser überlassen zu prüfen, ob dieses Ergebnis tatsächlich aus dem Multi-Ebenen-Konsequentialismus folgt. Lesenswert ist auch die sich bei Keller anschließende Textstelle: »None of this is to suggest that the reasons you find within your relationships cannot be outweighed by impartial reasons. Whatever we say about the nature of reasons of partiality, we should admit that they are not the only reasons there are.« (Keller 2013, 128)
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sequentialismus handelt, folgern, dass der Besondere-Pflichten-Einwand zurückzuweisen ist. Damit ist das Ziel dieser Arbeit erreicht und die Arbeitsthese bestätigt. Im sich anschließenden letzten Kapitel werden die Ergebnisse der Arbeit zusammengefasst und gezeigt, worin der Forschungsgewinn dieser Arbeit besteht.
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Kapitel 16: Zusammenfassung
Was ist das Ergebnis dieser Arbeit? Am einfachsten lässt sich diese Frage beantworten, indem das vollständige Argument zur Zurückweisung des Besondere-Pflichten-Einwands dargestellt wird. P1: Eine konsequentialistische Theorie ist plausibel, wenn sie in ausreichendem Maße zentrale Kriterien erfüllt. Die Kriterien sind: Klarheit, Einfachheit, Erklärungskraft und Reichweite, interne Stimmigkeit, moralische Stimmigkeit, Anwendbarkeit, Informationsaufwand, Bestimmungsaufwand und Anforderungsstärke. P2: Der Multi-Ebenen-Konsequentialismus besteht aus (mindestens) vier Kernprinzipien, die jeweils eine eigene Ebene des moralischen Denkens widerspiegeln: � Erste Ebene (Grundprinzip): Moralisch richtig1 ist eine Handlung dann, wenn es für den Akteur keine mögliche alternative Handlung gibt, die das tatsächliche Wohlergehen – verstanden im Sinne des ethischen Hedonismus – der von einer Handlung betroffenen wohlergehensfähigen Lebewesen, die gegenwärtig tatsächlich existieren, besser aggregiert. Andernfalls ist die Handlung moralisch falsch1. � Zweite Ebene (Sekundärprinzip): Moralisch richtig2 ist eine Handlung dann, wenn sie gemäß der Sekundärprozedur auszuwählen ist. Andernfalls ist die Handlung moralisch falsch2. Die Sekundärprozedur: 1. Schritt: Erwäge (in handlungsleitenden Begriffen) die Handlungen, die du für deine Alternativen hältst. 2. Schritt: Ermittle dann, soweit es dir möglich ist, welchen epistemischen Erwartungsnutzen bzw. relationalen Wert die Handlungsalternativen haben. Wenn du von allen Handlungsalternativen den epistemischen Erwartungsnutzen bzw. den relationalen Wert kennst und eine Handlungsalternative allein den höchsten epistemischen ErwarKonsequentialismus und besondere Pflichten
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tungsnutzen oder relationalen Wert hat, dann wähle diese Handlung aus; andernfalls mache mit dem 3. Schritt weiter. 3. Schritt: Aus der Gruppe derjenigen Handlungsalternativen, die den höchsten epistemischen Erwartungsnutzen bzw. relationalen Wert haben, und denjenigen Handlungsalternativen, deren epistemischen Erwartungsnutzen oder relationalen Wert du nicht kennst, sind all jene Handlungen auszuwählen, die gemäß dem Tertiärprinzip moralisch richtig sind. Dritte Ebene (Tertiärprinzip): Moralisch richtig3 ist eine Handlung entweder, wenn sie sich aus einem Prima-facie-Prinzip ableiten lässt und es für den Akteur keine erkennbare alternative Handlung gibt, die sich ebenso aus einem Prima-facie-Prinzip ableiten lässt und der in dieser Situation ein höheres Gewicht beizumessen ist, oder insofern sich die Handlung nicht aus einem Prima-facie-Prinzip ableiten lässt, es für den Akteur keine erkennbare alternative Handlung gibt, die sich stattdessen aus einem Prima-facie-Prinzip ableiten lässt und der erstgenannten Handlung entgegensteht. Andernfalls ist die Handlung moralisch falsch3. Vierte Ebene (Zuständigkeitsprinzip): Moralisch richtig4 ist die Entscheidung, sein Handeln an einer bestimmten Ebene auszurichten, dann, wenn sie aus der Zuständigkeitsprozedur folgt. Andernfalls ist die Entscheidung moralisch falsch4. Die Zuständigkeitsprozedur: 1. Schritt: Erwäge, ob in dieser Situation eine unmittelbare Handlungsausführung notwendig ist. Wenn die Antwort nicht Nein ist, dann entscheide dich dafür, deine Handlung gemäß der dritten Ebene auszurichten; ansonsten mache mit dem 2. Schritt weiter. 2. Schritt: Erwäge, wie viel Zeit du voraussichtlich hast, um dich für eine Zielhandlung zu entscheiden, und erwäge, wie viel Zeit du voraussichtlich benötigst, um die Sekundärprozedur zu durchlaufen. Wenn die Antwort der zweiten Frage einen Wert ergibt, der kleiner ist als der Wert aus der Beantwortung der ersten Frage, dann ist die dritte Ebene zuständig; ansonsten mache mit dem 3. Schritt weiter. 3. Schritt: Erwäge, ob du in der gegebenen Zeitspanne zu einer unparteiischen Urteilsfindung gemäß der ersten oder zweiten Ebene fähig bist. Wenn die Antwort nicht Ja ist,
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dann entscheide dich dafür, deine Handlung gemäß der dritten Ebene auszurichten; ansonsten mache mit dem 4. Schritt weiter. 4. Schritt: Erwäge, ob dir alle relevanten Informationen zur Verfügung stehen, um zu berechnen, welche Handlung gemäß dem Grundprinzip moralisch richtig1 ist. Nur wenn die Frage mit Ja beantwortet wird, ist die erste Ebene zuständig, andernfalls die zweite Ebene. P3: Im Multi-Ebenen-Konsequentialismus ist eine Handlung erlaubt, wenn sie moralisch richtig4 und moralisch richtig entsprechend der zuständigen Ebene ist, andernfalls ist sie verboten. Ist nur eine einzige Handlung moralisch richtig4 und moralisch richtig gemäß der zuständigen Ebene, dann ist sie verpflichtend. P4: Ein Konsequentialismus, der aus den vier Kernprinzipien (Grundprinzip, Sekundärprinzip, Tertiärprinzip und Zuständigkeitsprinzip) besteht, erfüllt in ausreichendem Maße die Kriterien der Klarheit, der Einfachheit, der Erklärungskraft und Reichweite, der internen Stimmigkeit, der moralischen Stimmigkeit, der Anwendbarkeit, des Informationsaufwandes, des Bestimmungsaufwandes und der Anforderungsstärke. K1 (aus P1–P4): Der Multi-Ebenen-Konsequentialismus ist eine plausible Form des Konsequentialismus. P5: Die Grundlage des Besondere-Pflichten-Einwandes bilden drei geteilte Intuitionen: � Es ist für die Unsrigen zu sorgen: Zumindest bei einigen Handlungen muss es selbst dann moralisch erlaubt sein, eine Handlung zugunsten der Unsrigen auszuführen, wenn eine alternative Handlung das Wohlergehen aller Beteiligten in dieser Situation (voraussichtlich) besser aggregieren würde. � Vorausgehende Handlungen sind moralisch relevant: Zumindest bei einigen Handlungen muss es selbst dann moralisch erlaubt sein, eine Handlung auf der Basis vorausgehender Handlungen auszuführen, wenn eine alternative Handlung das Wohlergehen aller Beteiligten in dieser Situation (voraussichtlich) besser aggregieren würde. � Akteur-relative Gründe sind moralisch relevant: Die moralische Richtigkeit und Falschheit einer Handlung lässt sich nicht ausschließlich auf akteur-neutrale Gründe zurückführen; die moralische Richtigkeit und Falschheit einer Handlung muss zumin-
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dest in einigen Fällen auch von akteur-relativen Gründen abhängig sein. P6: Im Rahmen der dritten Ebene (Tertiärprinzip) sind verschiedene Prima-facie-Prinzipien und eine Gewichtungsregel zu verankern, mit denen die ersten beiden Intuitionen, die die Grundlage des Besondere-Pflichten-Einwandes bilden, aufgenommen werden können. � Prima-Facie-Prinzipien: ■ Entwickle deinen moralischen Charakter! ■ Sorge für dein eigenes Wohlergehen! ■ Kultiviere und pflege gute Beziehungen! ■ Erfülle die Erwartungen, die mit deinen übernommenen Rollen einhergehen! ■ Erfülle deine freiwillig eingegangenen Verpflichtungen! ■ Erwidere in angemessener Weise Erhaltenes! ■ Handle gesetzeskonform! � Gewichtungsregel: ■ Räume jener Handlung ein größeres Gewicht ein, mit der du das Wohlergehen derjenigen positiv beeinflussen kannst, zu denen du gute Beziehungen unterhältst! P7: Beim Multi-Ebenen-Konsequentialismus stehen die akteur-neutralen Gründe und die akteur-relativen Gründe in einer wechselseitigen Abhängigkeit. Die moralische Richtigkeit und Falschheit einer Handlung hängt im Multi-Ebenen-Konsequentialismus zumindest in einigen Fällen auch von akteur-relativen Gründen ab. P8: Die Berücksichtigung der drei Intuitionen, die dem BesonderePflichten-Einwand zugrunde liegen, erfolgt in angemessener Weise. K2 (aus P5–P8): Der Multi-Ebenen-Konsequentialismus kann die drei zentralen Intuitionen, die die Grundlage des Besondere-PflichtenEinwandes bilden, in angemessener Weise berücksichtigen. P9: Für die Zurückweisung des Besondere-Pflichten-Einwands reicht es aus, dass die drei Intuitionen, die die Grundlage des BesonderePflichten-Einwands bilden, in angemessener Weise in der Theorie berücksichtigt werden. K3 (aus K1, K2 und P9): Der Besondere-Pflichten-Einwand ist zurückzuweisen: Zumindest eine plausible Form des Konsequentialismus, der Multi-Ebenen-Konsequentialismus, ist dazu in der Lage, geteilte Intuitionen hinsichtlich besonderer Pflichten und daraus ableitbarer Prinzipien in angemessener Form in seiner Theorie zu berücksichtigen.
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Als zentrales Ergebnis dieser Arbeit lässt sich demnach die Konklusion K3 herausstellen: Der Besondere-Pflichten-Einwand ist zurückzuweisen. Dies ist natürlich nicht das einzige relevante Ergebnis. Vielmehr ist jede Prämisse dieses Argumentes sowie jede (Teil-)Konklusion ein wichtiges Ergebnis. Daher bietet die folgende Zusammenfassung einen besseren Überblick über die Ergebnisse dieser Arbeit. Erstens: Der Besondere-Pflichten-Einwand basiert auf drei zentralen Intuitionen, die auch ein Konsequentialist teilen kann, nämlich: Es ist für die Unsrigen zu sorgen; vorausgehende Handlungen sind moralisch relevant und schließlich sind auch akteur-relative Gründe moralisch relevant. Zweitens: Der Multi-Ebenen-Konsequentialismus, bestehend aus dem dargestellten Grundprinzip, dem Sekundärprinzip, dem Tertiärprinzip und dem Zuständigkeitsprinzip, ist eine plausible Form einer konsequentialistischen Theorie. Drittens: Im Multi-Ebenen-Konsequentialismus lassen sich Handlungen sinnvoll als verboten, erlaubt, verpflichtend und supererogatorisch charakterisieren. Der gewöhnliche individuelle Akteur ist zu einer solchen Charakterisierung fähig und kann dementsprechend seine Handlung daran ausrichten. Viertens: Innerhalb des Multi-Ebenen-Konsequentialismus sind verschiedene Prima-facie-Prinzipien und eine Gewichtungsregel zu verankern, deren Pflichtenkorrelate sich als besondere Pflichten verstehen lassen. Mit diesen besonderen Pflichten werden die drei Intuitionen, die dem Besondere-Pflichten-Einwand zugrunde liegen, im Rahmen des Multi-Ebenen-Konsequentialismus in angemessener Weise berücksichtigt. Fünftens: Der Besondere-Pflichten-Einwand trifft daher nicht auf alle plausiblen Formen des Konsequentialismus zu und ist entsprechend zurückzuweisen.
Natürlich ließen sich diese fünf Punkte abermals aufgliedern. So ließe sich beispielsweise erneut herausstellen, wie die verschiedenen Ebenen ausgestaltet sind oder welche Prima-facie-Prinzipien bzw. welche Gewichtungsregel zu verankern sind, oder welche Bedingungen im Rahmen des Multi-Ebenen-Konsequentialismus erfüllt sein müssen, um eine Handlung als supererogatorisch zu charakterisieren. Da diese Ergebnisse bereits in den Zusammenfassungen der einzelnen Kapitel
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erläutert wurden, wird im Folgenden auf eine noch differenziertere Darstellung verzichtet.
Was bleibt vom Bild der konzentrischen Kreise? Was bleibt letztlich von Shues Bild der konzentrischen Kreise übrig? Sollten im individuellen Akteur Intuitionen verankert sein, die den Intuitionen aus dem Bild der konzentrischen Kreise entsprechen? Vereinfacht ausgedrückt würde dies bedeuten, dass man dazu verpflichtet ist, zuerst den engsten Vertrauten zu helfen, wenn dann noch Ressourcen bestehen, den weiteren Bekannten und Landsleuten und dann erst – falls überhaupt noch – den Fremden in einem weit entfernten Land. Doch entspricht dies dem, wozu der moralische Akteur hinsichtlich des Multi-Ebenen-Konsequentialismus verpflichtet ist? In gewisser Hinsicht ja. Denn es ist eine Gewichtungsregel zu verankern, die den engsten Vertrauten ein größeres Gewicht einräumt. Faktisch wird es häufig einfach der Fall sein, dass besondere Pflichten, die aus vorausgehenden Handlungen bestehen, gegenüber den engsten Angehörigen bestehen, weil diese es sind, mit denen der Akteur am häufigsten interagiert. In einem umfassenden Sinn lautet die Antwort jedoch Nein. Nein, weil den verankerten besonderen Pflichten keine absolute Priorität zukommt. Des Weiteren bestehen viele Pflichten einfach parallel nebeneinander und können auch parallel erfüllt werden. So lässt sich der allgemeinen Pflicht, Menschen in Not zu helfen, und der besonderen Pflicht, dass die freiwillig eingegangenen Verpflichtungen zu erfüllen sind, in der Regel parallel nachkommen. Nur in seltenen Fällen schließt es sich aus, beide Pflichten zu erfüllen. Entsprechend ist nicht die Intuition auszubilden, dass zuerst immer die Unsrigen kommen, sondern dass diesen ein etwas größeres Gewicht zukommt. Mit Blick auf das Problem der absoluten Armut lässt sich feststellen, dass die Pflicht, Menschen in Not zu helfen, noch lange bestehen wird, da sich kontinuierlich Menschen in absoluter Armut befinden, die eine entsprechende Not darstellt. Umso wichtiger ist es, dass der moralische Akteur sein Leben so einrichtet, dass er auch langfristig dazu fähig ist, dieser Hilfe sowohl finanziell als auch motivational nachzukommen, und dass er ggf. als gutes Beispiel vorangeht, mit dem sich die nachwachsende Generation identifizieren kann. Dafür wird es nötig sein, dass er selbst gute Beziehungen aus316
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bildet, die ihn selbst in schwierigen Zeiten unterstützen und ihm immer wieder die Kraft und Motivation geben, die ein moralischer Akteur benötigt. Zu diesen guten Beziehungen wird es aber auch gehören, dass der moralische Akteur diese unterstützt, wenn sie Hilfe brauchen, auch wenn dies ggf. zu Lasten der Hilfe für die Menschen geht, die vom Problem der Weltarmut betroffen sind, und obwohl keiner Gruppe von Menschen ein moralisch größerer Wert zukommt. In diesem Sinne lässt sich mit Driver abschließend sagen, dass der Vorrang der Unsrigen letztlich eine nützliche Fiktion ist: Strictly speaking, one’s relatives have no more moral standing than anyone else does. But it is useful for us to think and act as if they do have greater standing in many situations. […] Thinking one’s relatives are actually more deserving of your concern than strangers helps to generate focus on the well-being of those in one’s circle, and this, given the epistemic and physical limitations we are all subject to, makes conduct, in general, more productive of the good. 164
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Driver 2011, 76, Hervorhebung im Original.
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