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German Pages 582 [584] Year 2003
Frühe Neuzeit Band 76 Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext In Verbindung mit der Forschungsstelle „Literatur der Frühen Neuzeit" an der Universität Osnabrück Herausgegeben von Achim Aurnhammer, Klaus Garber, Wilhelm Kühlmann, Jan-Dirk Müller und Friedrich Vollhardt
Jörg Robert
Konrad Celtis und das Projekt der deutschen Dichtung Studien zur humanistischen Konstitution von Poetik, Philosophie, Nation und Ich
Max Niemeyer Verlag Tübingen 2003
Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds der VG Wort
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 3-484-36576-5
ISSN 0934-5531
© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2003 http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz und Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Einband: Norbert Klotz, Jettingen-Scheppach
Vorwort Vorliegende Studie ist die geringfügig überarbeitete und leicht gekürzte Fassung meiner Dissertation, die im Sommersemester 2001 von der Philosophischen Fakultät II der Julius-Maximilians-Universität Würzburg angenommen wurde. Bücher und Buchprojekte haben bekanntlich ihr Schicksal: Diese Arbeit wäre nicht entstanden ohne die behutsame und vertrauensvolle Anregung, Unterstützung und Förderung, die mir mein Lehrer und Doktorvater Prof. Dr. Günter Hess auch in persönlich schwieriger Zeit zuteil werden ließ. Ihm, der mir den Blick für die Studia neolatina erst geöffnet und geschärft hat, ist die Arbeit in kongenialer Fragestellung und bleibender Freundschaft verpflichtet. Er war es auch, der mir durch sein Engagement eine weitere wissenschaftliche Tätigkeit auf dem Gebiet der Frühen Neuzeit ermöglichte, indem er mir mehr als eine Tür aufstieß, die mir sonst verschlossen geblieben wäre. Dank schulde ich weiterhin all denen, die mich menschlich wie fachlich durch die selva oscura der Promotion begleitet und verschiedentlich vor Holzwegen bewahrt haben. An erster Stelle gilt dies für meine Würzburger Lehrer, Herrn Prof. Dr. Christof Weiand (Heidelberg) und Herrn Prof. Dr. Wolfgang Riedel (Würzburg), der das Korreferat übernommen hat. Gedankt sei auch Herrn Prof. Dr. Erler (Würzburg) für die spontane Bereitschaft, die Last des Gutachtens kurzfristig auf sich zu nehmen. Ihnen allen bin ich für Ihre menschlichen wie fachlichen Anstöße über die Arbeit an Celtis hinaus verpflichtet. Für ihr frühzeitiges Interesse an meiner Arbeit wie Ihr ehrenvolles Angebot danke ich zudem Frau Prof. Dr. Barbara Bauer (Bern) sehr herzlich. Für wertvolle Hinweise und frühzeitige kritische Lektüre bin ich Herrn Prof. Dr. Jürgen Leonhardt (Marburg) zu Dank verpflichtet. Danken möchte ich an dieser Stelle auch Herrn Dr. Gernot Müller (Augsburg), dessen Freundschaft, kollegiale Anregung und Kritik die Entstehung dieses Buches von Anfang an begleiteten. Neben vielen anderen danke ich weiterhin Herrn Dr. Joachim Hamm, Frau Dr. Claudia Wiener und Frau Marion Gindhart M. A. für vielfache Hilfe bei der Klärung heikler Sachfragen wie bei der mühevollen Pflicht des Korrekturlesens. Gefördert wurde die Studie zuerst durch ein Promotionsstipendium des Freistaates Bayern zur Förderung des künstlerischen und wissenschaftlichen Nachwuchses, schließlich durch ein Promotionsstipendium der Studienstif-
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tung des Deutschen Volkes. Beiden Institutionen, insbesondere der Studienstiftung, die mich schon während des Studiums gefördert hatte, sei an dieser Stelle noch einmal herzlich gedankt sei. Ohne sie wäre diese Arbeit, die 2002 mit dem Promotionspreis der Fränkischen Gedenkjahrsstiftung (Würzburg) ausgezeichnet wurde, wohl nicht geschrieben worden. Danken möchte ich auch einer Reihe von Bibliotheken: Unter ihnen seien hervorgehoben die Bayerische Staatsbibliothek München, die Stadtbibliothek Nürnberg, die Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, vor allem aber die Universitätsbibliothek Würzburg und ihre Handschriftenabteilung. Für enge Zusammenarbeit in Fragen des >Erzhumanisten< und unbürokratisches Entgegenkommen bei der Gewährung der Bildrechte danke ich sehr herzlich der Bibliothek Otto Schäfer (Schweinfurt), namentlich Herrn Georg Drescher M. A. Gedankt sei in diesem Zusammenhang auch der Staatlichen Graphischen Sammlung München. Für die Möglichkeit, meine Studie in der Reihe >Frühe Neuzeit< zu publizieren, danke ich den Herausgebern, insbesondere Herrn Prof. Dr. Wilhelm Kühlmann und Herrn Prof. Dr. Jan-Dirk Müller, der mir darüber hinaus die Chance eröffnete, Fragestellungen der vorliegenden Studie weiterhin wissenschaftlich zu verfolgen. Für gute Zusammenarbeit und kompetente Betreuung während der Drucklegung dieses Buches danke ich ferner Frau Brigitta Zeller und Frau Daniela Zeiler vom Max Niemeyer Verlag (Tübingen). Der V G Wort habe ich für einen überaus großzügigen Druckkostenzuschuß zu danken. Besonderer Dank gebührt schließlich meinen Eltern sowie meiner Frau Irmgard, die mich (und den >ErzhumanistenVerlorene Anfängen Konrad Celtis und die Konstitution der deutschen Nationalliteratur Zum Stand der Celtis-Forschung
XV XV XVII XVIII 1
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Von der Ars versificandi et carminum zu den Amores 2. Ars versificandi et carminum. Celtis' Grundlegung des poetischen Diskurses 2.1. 2.2. 2.3. 2.3.1. 2.3.2. 2.3.3. 2.3.4. 2.3.5. 2.4. 2.5. 2.5.1. 2.5.2.
Stellung und Intention der Ars versificandi Die Widmungsvorrede. Dichtung, >studia humanitatis< und die Vision der Herrschernähe >Ars metrica primaWarnender ApollCarmina non prius audita.< Innovationspostulat und Inszenierung von Epochenwende Apoll-Erscheinung und Offenbarung der Metrik >Quare et qui poete legi debeant.< Zur gesellschaftlichen Pragmatik der Dichtung >De compositione materiali carminumTranslatio sapientiaeLatinorum poete et rhetoresphysica< und >theologiaTriformis philosophiaGott und Natursapientia< . . . . 3.2.3. >Poetae primi theologiPoetica theologia< und seine Funktion 3.2.4. Ausblick. Weitere Dokumente zu Celtis' Philosophiebegriff
54 61 65 71 83 83 85 92
96 100 102
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3.1.
105 105 107 113 115 121 121 123 126 128 128 131 135 144
IX
3.2.4.1. Panegyris ad duces Bavariae. Celtis' Reform des universitären Kurrikulums 3.2.4.2. Die Oden an Fusilius und Mommerloch 3.2.4.3. >Per abditissimarum explorationem rerumDe utriusque amoris vi et impotentiadefensio amoris< und >nichtlyrischer Lyrik< Hrotsvit und die Dialektik der Märtyrerkomödie
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χ 4.3.3. 4.3.4.
4.3.5.
Rhetorische Prämissen. Ethopoiie, >evidentia< und die vier Alter des Helden Die Amores zwischen Elegie, Komödie und Satire. Überlegungen zu einer Universalpoetik frühneuzeitlicher Liebesdichtung Zwischen >speculum virtutis< und Narrenspiegel
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Tractatio Amoris: Die Welt der Amores 5. >De amore scribereMusa Iocosa< 5.1. 5.1.1. 5.1.2. 5.1.3. 5.1.4. 5.2. 5.2.1. 5.2.2. 5.2.3.
5.2.4. 5.2.5. 5.3. 5.4. 5.4.1. 5.4.2. 5.4.3. 5.5.
Ambivalenzen des Eros. Zur Problematik der Liebesdichtung in der Frühen Neuzeit Titel, Vorbilder, Gattungsbezüge >Lasciva quaedam nostra carminai Das Skandalon der Liebesdichtung Spiel, Fiktion, Erfahrung. Die Präsenz des Eros und seine Apologie Phänotypen der Liebe und erotischer Diskurswechsel . . . Amor, Mythos und Elegie. Die Amores und die Tradition der Liebeselegie Die Struktur der Amores und das Prinzip des elegischen Zyklus >Miserie animique passionesInsanus furore Liebe als Passion und Lebensform Integraler Humanismus und Pluralität des elegischen Eros. Die Phänomenologie der Liebe in den Amores Liebesbande und kosmische Relationen. Eros zwischen Mikro- und Makrokosmos >De radiis praesensionariisSeria mixta iocisQuomodo et qualem philosophus amare debeatdescriptiopuella divina< Synthetische Schönheit und Topik des Frauenlobs Am. 1,8 im Licht von Celtis' Rhetorica Elegie und Oden. Zur Gattungskonvergenz der Liebeslyrik Pluralisierung der erotischen Systeme? Celtis und der lateinische Petrarkismus
6. Amores und Germania illustrata. Nationaler Diskurs und elegisches Deutschlandbild 6.1. 6.1.1. 6.1.2. 6.1.3. 6.2. 6.2.1. 6.2.2. 6.2.3. 6.2.4. 6.2.5. 6.3. 6.3.1.
Celtis' Projekt einer Germania illustrata im historischen Kontext Erfindung der Nation. Die frühneuzeitliche Konstitution eines nationalen Bewußtseins Celtis, Tacitus und die Ziele der Germania illustrata . . . . Zum Verhältnis von Amores und Germania illustrata . . . Der Auftakt der erotischen Topographie. Landesbeschreibung und elegische Initiation (Am. 1,3) . . Zur Funktion von Am. 1,3: >Hodoeporicon< und Prinzipien der >decennalis peregrinatio< Poetisches Frühlingsbild und Vierheitenprogramm Erotische Initiation. Literarische Modelle und Bezüge von Am. 1,3 »Ut patriae fines quattuor canas«. Apoll und die Exposition der Deutschlandbeschreibung Celtis in Krakau. Elegische Vita und autobiographisches Konstrukt Elegische Selbstbeschreibung und nationale Archäologie (Am. 1,12) >Έλληνικά ad patriam iam retulisse meamtranslatio< und >restitutio< Celtis' Rezeption der Taciteischen Germania und die Genese des Projekts einer Germania illustrata Archäologie einer Kulturnation. Druiden, Indigenität und die Frage der Herkunft Der Druidenexkurs der Norimberga Die Druiden und das Ideal einer christlich-germanischen Religiosität Der >Druide< Trithemius und ein nationaler Kulturentstehungsmythos (Od. 3,28) Erfindung von Tradition und elegische Subjektivierung der Deutschlandbeschreibung Bilder und Figuren der Patria in den Amores Mittelpunktsdiskurse und symbolische Topographie der Patria Neue Überlegungen zum Raumschema der Germania oder: Celtis' topographische Quadratur des Kreises . . . . Pluralismus der Zentren. Das Bild Deutschlands und sein Mittelpunkt Exkurs I: Nürnberg als neues Rom Exkurs II: Jerusalem als Weltmittelpunkt Pluralisierung der Mittelpunkte. Christliche und nationale Zentren >Germania vetusGermania novac Archäologie der Patria und nationales Selbstbewußtsein Theorien kultureller Transformation: >Mutatio< und >conversio siderum< Bilder des alten Germaniens: >Casta simplicitasbarbaries< und elegische Zeitklage (Am. 2,9) Bilder des Nordens. Die Lappen und Celtis' Semantik der Kulturferne (Od. 4,4)
7. Entdeckung des Ich, >erfundene Wahrheit< und elegischer Lebensweg in den Amores 7.1. 7.1.1. 7.1.2. 7.1.3.
Die Amores zwischen literarischer Fiktion und Memorialdichtung >Fides históricas >Erlebnisphilologie< und elegischer IchEntwurf Selbstmodellierung, Lebensdarstellung und Sprecherrolle Entdeckung des elegischen Ichs. Zum Status der Ich-Rede in der Liebeselegie
372 373 378 378 381 384 394 396 396 398 400 408 410 411 415 415 422 434
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7.2. 7.2.1. 7.2.2. 7.3. 7.3.1. 7.3.2. 7.3.3. 7.3.4. 7.3.5.
Die Geburt des Dichters und die erotisch-astrologische Kinetik der Amores (Am. 1,1) Entstehung, Form, Funktion: Pighinutius' Einleitungsode zu Am. 1,1 und der Gedichttypus >De natali suo< Zur Funktion des Astrologischen: Wirkungen der Dichternativität und doppelte Bestimmung des Liebenden >Mortuus et vivus vates aeteraus in orbe estq;< für >que&< für >etlusus< der Amores gerecht wird, entspräche dies der Absicht des Verfassers.
1. Hinführung: Themen und Perspektiven 1.1. >Verlorene Anfängen Konrad Celtis und die Konstitution der deutschen Nationalliteratur Ist die Geschichte der deutschen Literatur tatsächlich eine »Serie verlorener Anfänge, ehe es zu einem Anfang kam, der Bestand haben sollte«, 1 so begibt sich diese Studie auf die Suche nach einer solchen verlorenen Spur. Der deutsche »Erzhumanist« 2 Konrad Celtis (1459-1508) ist eine der großen, neu zu entdeckenden Anfangsfiguren deutscher Literaturgeschichte. Durch seine lateinischen Dichtungen wie durch seinen persönlichen Einsatz für die studia humanitatis wird der erste gekrönte Dichter auf deutschem Boden nicht nur zur Schlüsselfigur des frühen Humanismus, sondern darüber hinaus ein Jahrhundert vor Opitz zum Archegeten einer deutschen Nationalliteratur, die sich erst über den »Umweg Roms« konstituiert. 3 Celtis hat diese Inauguralrolle, die Neubeginn und »Kontinuitätsbruch« 4 zum Lebensprogramm machte, immer wieder ausdrücklich für sich beansprucht, und die Forschung hat ihn hierin im wesentlichen bestätigt. 5 Wie auch immer man dabei das 1 2
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Schlaffer: Die kurze Geschichte, S. 19. Geprägt wurde der viel zitierte Ehrentitel von David Friedrich Strauß in seiner Hutten-Biographie. Strauß: Hutten, S. 20. Garber: Konstitution, S. 41. Die Entwicklung der Studia neolatina ist hier nur insofern zu referieren, als sie Celtis' Werk betrifft. Brauchbare Gesamtdarstellungen der neulateinischen Literatur oder auch nur der Lyrik liegen bislang nicht vor. Eine Ausnahme bildet das dreibändige Werk Georg Ellingers, das gleichwohl aufgrund seines am Erlebnis- und Originalitätsparadigma ausgerichteten, im übrigen rein deskriptiven Verfahrens - Benjamin spricht in seiner Rezension zu Recht von »gelehrter Registratur« (Benjamin: Gelehrte Registratur) - in jeder Hinsicht unzulänglich ist. Ähnliches gilt für den Überblicksartikel im >ReallexikonHumanistische Lyrik< in ihrem Kommentarteil. Worstbrock: Konstitution, S. 11 Noch die neueste unter Leitung von Wilhelm Kühlmann zusammengestellte Anthologie neulateinischer Lyrik kanonisiert dies förmlich, indem sie ihre chronologische Auswahl mit den Dichtungen des Konrad Celtis eröffnet. Kühlmann: Humanistische Lyrik.
2 Verhältnis zwischen rhetorischer Pose und historischem Faktum gewichten mag: 6 Neu und wegweisend wirken doch Celtis' Bemühungen, in der Nachfolge des italienischen Humanismus planmäßig antike Gattungen, Diskurse und Sozietätsformen in die deutsche Literatur einzuführen. So ist der Dichter nicht nur Autor der ersten Metrik bzw. Poetik mit humanistischer Perspektive (Ars versificandi et carminum, 1486) sowie rhetorischer Kompendien, die teilweise bis ins 17. Jahrhundert hinein gedruckt werden (Epitoma in vtramque Ciceronis rhetoricam-, Tractatus de condenáis epistolis, beide 1492).7 Er legt vor allem mit seinen 1502 in Nürnberg gedruckten Amores8 den ersten repräsentativen Zyklus neulateinischer Dichtung in Deutschland vor, dessen Initialwirkung für das 16. Jahrhundert nicht zu überschätzen ist. Celtis' Auftritt bedeutet daneben auch eine Wende für die Stellung von Dichter und Dichtung im frühmodernen Staat. So sucht der >poeta laureatus< nicht nur immer wieder die Nähe der Mächtigen, um sich selbst und die eigenen kulturpolitischen Anliegen im Funktionsgefüge staatlicher und dynastischer Interessen zu verankern. 9 Mit der Gründung zahlreicher gelehrter Sozietäten (»sodalitates«) schafft Celtis darüber hinaus ein deutschlandweites Netz persönlicher Beziehungen, eine erste deutsche Respublica litterarum, deren innere Organisations- und Geselligkeitsformen für die folgenden Jahrhunderte konstitutiv bleiben. 10 Ziel dieser Studie ist es, Celtis' Konstitution von Dichter und Dichtung umfassend auf der Grundlage seines Gesamtwerkes zu rekonstruieren und systematisch auf die aktuellen Anforderungen zu beziehen, in die der vorreformatorische Humanismus in Deutschland eingelassen ist. Die monographische Konzentration auf den deutschen »Erzhumanisten« trägt dabei nicht nur dessen historischer Anfangs- und Ausnahmestellung Rechnung, sie 6 7
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Zur Problematik der Epochenschwelle vgl. Vf.: Carmina Pieridum. Epitoma in utramque Ciceronis rhetoricam [Ingolstadt: Drucker des Celtis; d. i. Johann Kachelofen, nach 28. März 1492] (GW 6463). Zitiert im folgenden nach der Ausgabe: Epitoma in vtramque Ciceronis rhetoricam cum arte memoratiua noua et modo epistolandi vtilissimo [Ingolstadt: 1532], Widmungsvorrede an Maximilian und Inhaltsverzeichnis der Inkunabel in BW Nr. 25, S. 4 1 - 4 4 . Eingehend zu Quellen und Kontext des Druckes Worstbrock: Brieflehre. Celtis' Abriß der Rhetorik ist weithin wörtlicher Nachdruck der Ars oratoria des spanisch-italienischen Humanisten Jacobus Publicius. Lediglich die vier einleitenden und das Schlußkapitel seiner Epitoma sind dort nicht belegbar (Worstbrock: Brieflehre, S. 244). Quatuor libri Amorum secundum quatuor latera Germanie. Nürnberg: [Drucker für die] Sodalitas Celtica, 5. April 1502. Die Libri Odarum quatuor werden erst postum von den Freunden und Sodalen in Straßburg herausgegeben: Libri Odarum quatuor cum Epodo et saeculari carmina. Straßburg: Matthias Schürer, Mai 1513. Eine philologisch unsichere Edition der Epigramme legte Hartfelder 1886 vor. Dazu Wuttke: Supplement. Grundlegend hierzu Müller: Gedechtnus. Diese soziologische Perspektive beleuchten neben Müller vor allem Sinemus: Poetik und Rhetorik, Grimm: Literatur und Gelehrtentum und vor allem Kühlmann: Gelehrtenrepublik.
3 rechtfertigt sich auch durch die Notwendigkeit, angesichts einer weiterhin defizienten Forschungslage vorerst »nicht grobangelegte Synthesen, sondern fundierte Einzelstudien« anzustreben,11 in denen sich allgemeine Tendenzen einer Schwellenzeit deutscher Literaturgeschichte spiegeln. Intendiert ist damit über Celtis hinaus eine Archäologie neulateinischer Dichtung in ihren vielfältigen diskursiven Voraussetzungen und Vernetzungen. Celtis' lyrischer Selbstentwurf stellt nicht nur den ersten >nachmittelalterlichen< in deutscher Literatur 12 dar, Person und Werk des deutschen »Erzhumanisten« bezeichnen bei aller Zeitbezogenheit den Auftakt einer literarischen Neuzeit: » M i t Celtis' Programm der Neubegründung der Dichtung in Deutschland und seinem Selbstanspruch des Neubegründers setzt erstmals der Begriff einer deutschen Nationalliteratur an«. 13 Obgleich Celtis bis ins 17. Jahrhundert hinein als erster gekrönter Dichter 14 und Stifterfigur einer deutschen Lyrik lateinischer Sprache 15 präsent bleibt, haben Reformation und Konfessionalisierung eine kongeniale Fortführung seiner Anstöße vielfach verhindert. 16 Seine Ideen und Projekte, zumal der Plan einer literarisch-topographischen (Germania
illustrata),11
Deutschlandbeschreibung
entfalten daher ihre Wirkung erst in Dimensionen
einer >longue duréesubjektiv-erotischen< Liebeselegie 26 aufgefangen, wenn nicht ermöglicht wird, so einschneidend sind doch auch die Verformungen, denen das Ich beim Eintritt in die Sphäre des Literarischen unterworfen wird. Diese freilich eröffnet ihm allererst jenen karnevalesken Freiraum, in dem sich alternative Lebens- und Denkhaltungen imaginieren lassen. Es scheint auch für weite Felder frühneuzeitlicher Dichtung sinnvoll, diese grundsätzliche Ambivalenz humanistischer Selbstformung nicht im Sinne eines Entweder-Oder aufzulösen. Ohnehin muß die Frage nach einer biographischen Wahrheit hinter der poetisch >erfundenen< notwendig ins Leere führen, existiert doch für das rhetorische Denken der Renaissance »die Welt nicht als Welt der seienden, sondern als Welt der zu Wort gekommenen Dinge«. 27 Unter Aspekten wie Stilisierung, Performanz und Theatralität sind solche Phänomene rhetorischer Kultur und Ostentation, die sich poetologisch in einer Ästhetik von >imitatio< und >simulatio< spiegeln, vorerst mehr benannt als in ihren konkreten Funktionen und Wirkungen beschrieben worden. Das Spezifische dieser frühneuzeitlichen Praxis der >Selbstmodellierungmundus significansGedechtnusUndeutschen< einerseits, andererseits das Odium des Epigonalen und Artifiziell-Rhetorischen, das dem lyrischen Ausdrucks- und Erlebnisparadigma der Zeit widersprechen mußte. Hinzu kam die moralische Reserve gegenüber Celtis' vermeintlich unsolidem Lebenswandel als >WanderhumanistMusa iocosapoeta ludensScherz< (»ioci«) auszuspielen. Dazu mag weiterhin verleitet haben, daß die doxographisch-positivistische Aufarbeitung der einschlägigen Aussagen und Dokumente, namentlich des Philosophia-Holzschnitts, unproblematischer schien als eine Auseinandersetzung mit Celtis' ironisch-gebrochener Dichtung, deren literarischer Horizont sich allenfalls schemenhaft abzeichnete. Zumindest latent stehen so noch die neueren Studien zu Celtis' »Bildungsprogramm« 41 wie zu Wissenschafts- bzw. Weltentwurf 42 in der Tradition der »Philosophie-Hypothese«. Auf der anderen Seite zeichnete sich jedoch immer wieder die geringe Originalität von Celtis' philosophischen Einlassungen ab. Als uneigenständige Derivate des italienischen Neuplatonismus eignet ihnen wenig ideengeschichtliche Relevanz, 43 ähnliches gilt dem Nennwert nach für Celtis' »Bildungsprogramm«, wie es seit der Ingolstädter Rede immer wieder projektiert wird. Wenn die fraglichen Dokumente, neben der Rede selbst auch die Panegyrist der Philosophia-Holzschnitt und anderes im folgenden einer Re-Lektüre unterzogen werden, so ist dabei eine dezidierte Umbesetzung der Priori-
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lichen und naiven Selbstbekenntnisse, wie sie uns in seinen Schriften vorliegen, den Heros der neuklassischen Kultur, den Dichterphilosophen« (Bezold: Celtis, S. 3). Zitiert etwa von Preiss: Celtis, S. 244. Faust I v. 382f. Wuttke: Celtis, S. 187 und 191. Nowotny: Weltanschauung, S. 46: »So blickt Celtis immer wieder in dunkler Nacht zum gewaltigen Sternenhimmel empor, um mit erkenntnistrunkenem Geist die Bahnen der ewigen Gestirne zu betrachten, die erhabene Gesetzmäßigkeit des Alls aus ihrem Wandel zu erkennen, den dunklen Zusammenhang der Welt zu erahnen«. Newald: Vier Gestalten, S. 213: »Beide (Celtis und Maximilian) verbanden in ihrem Wesen die naiv kindliche Gläubigkeit des Mittelalters mit dem faustischen Drang, der über die Grenzen der Menschheit hinausschreiten will«. Humula: Beiträge; Füllner: Natur und Antike; Gruber: Bildungsprogramm; in diese Filiation sind auch Grossing: Naturwissenschaft und Wuttke zu rechnen; materialreich schon Geiger: Geographie. Nowotny: Weltanschauung; vor allem Wuttke: Humanismus. Weithin auch Lüh: Die unvollendete Werkausgabe. Dies ist von der Celtis-Forschung immer wieder betont worden. Schon Bezold: Celtis, S. 50 sieht den Dichter »ohne tiefere philosophische Anlage und Bildung«. Ähnliche Urteile bei Grossing: Naturwissenschaft, S. 155. Panegyris ad duces Bavariae; Oratio in gymnasio Ingolstadiae habita [Augsburg: Erhard Ratdolt, nach dem 31. August 1492] (GW 6466).
10 täten vorzunehmen, die den Dichter Celtis gegenüber dem Philosophen ins Recht setzt. Celtis, so wird zu zeigen sein, entwickelt seine philosophischen Konzepte in der Regel aus der Perspektive der Dichtung, nicht umgekehrt.45 An die Seite der Philosophie-Hypothese tritt in einer zweiten Phase der Forschung der Versuch, Celtis im Sinne der lyrischen Erlebniskonzeption zu vereinnahmen und dabei namentlich die Amores als dichterische Autobiographie in elegischem Gewand zu lesen. Eine solche Lektüre gab nun einerseits dem Verdikt eines »exhibitionistischen Immoralismus« neue Nahrung, würdigte jedoch ins Positive gewendet die Unmittelbarkeitsqualität des lyrischen Ausdrucks, der unbefangen auf sein - präsumtives - biographisches Substrat bezogen wurde. Besonders die Amores erschienen in einer solchen Perspektive als »frühe Bekenntnis- und Erlebnislyrik«.46 Unter dieser Ambivalenz des Ausdrucksparadigmas steht etwa die bislang umfassendste Arbeit zu Celtis' Poetik und Werk, Felicitas Pindters materialreiche Untersuchung zur »Lyrik des Conrad Celtis«, deren weithin apologetischer Charakter sich in der Kopräsenz aller drei genannten Kategorien verrät. Immer wieder betont Pindter etwa die Erlebniseinheit von Celtis' schöpferischer Persönlichkeit. Der Dichter habe sein Werk mit »persönlichem Gehalt erfüllt« und entgegen dem Vorwurf von >Künstelei< und >Unnatur< - eine »Fähigkeit intensivsten Erlebens« gezeigt. »So wird ihm seine Lyrik zum Organ eigener Empfindungen und Gedanken«.47 Ein solch emphatisches Konzept des Renaissance-Dichters ist kennzeichnend für eine Reihe von Untersuchungen zu Celtis' Werk und Weltbild, die seit den Dreißiger Jahren unter der Ägide Hans Rupprichs zumeist als Wiener Dissertationen entstanden.48 Wesentlicher Ertrag dieser Phase der Auseinandersetzung sind vor allem die von Rupprich und seiner Schülerin Felicitas Pindter veranstalteten, noch immer gültigen Editionen von Celtis' Werken. Neue Bedeutung schien im geistigen Horizont der Dreißiger Jahre jedoch vor allem der nationale Celtis und sein Projekt einer deutschen Landeskunde zu gewinnen. Schon Rupprich, der Herausgeber des Briefwechsels, sieht das Verdienst des Dichters darin, »als Gegensatz zum italienischen Wesen den Idealtypus eines deutschen Menschen herauszuarbeiten«.49 Schon für Pindter ist Celtis »überzeugt vom Vorrang und von der Sendung des deutschen Volkes«,50 und so wertet sie folgerichtig seine Dichtung als »ihrem Gehalt und innersten Wesen nach deutsch, wenngleich in lateinischer Form«.51 Als natio45 46 47 48
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Dazu vor allem Kap. 3 und 5.1.3. Hess: Erfundene Wahrheit, S. 138. Pindter: Lyrik, S. 247; ebenso Ellinger: Geschichte I, S. 443 - 4 6 0 . Nowotny: Weltanschauung; Stejskal: Gestalt des Dichters; dessen Thema wird methodisch reflektiert fortgeführt durch Steppich: Vorstellung. BW S. XV. Pindter: Lyrik, S. 249. Ebd. S. 248.
11 naler Humanist und deutscher Patriot konnte sich Celtis vorzüglich durch seine Rolle in der frühen Rezeption der Taciteischen Germania in Deutschland erweisen, die er durch seine Wiener Edition wie durch sein Projekt einer Germania illustrata maßgeblich beförderte. Interesse fanden in diesem Zeitraum vor allem die ethnographischen Aspekte, die sich der zeitgenössischen Frage nach dem »Wesen des deutschen Menschen« - im Gegensatz zum italienischen oder jüdischen - einschreiben ließen. Ganz aus einer solchen national-völkischen Perspektive, wie sie auch die zeitgenössische Tacitus-Literatur bestimmt, argumentiert etwa die Arbeit Ludwig Sponagels.52 So zweifelhaft diese Lesart in ihrer äußersten Form war, so zutreffend hat zuletzt auch die neuere Forschung die Initialrolle des Dichters für die frühneuzeitliche Ausdifferenzierung der deutschen Nation bzw. des deutschen Nationalbewußtseins hervorgehoben. 53 Die Jahre nach 1945 bringen dann zunächst eine abrupte Abkehr vom Paradigma des deutsch-nationalen Celtis. So versucht der Rupprich-Schüler Kurt Preiss in seiner Wiener Dissertation - im einzelnen mit geringem Erfolg - , die italienische Provenienz von Celtis' Themen und Denken offenzulegen. 54 In poeticis wirkt dabei zunächst im Bann von Emil Staiger und Wolfgang Kayser der lyrische Erlebnis-Begriff weiter. 55 Ein grundlegender Paradigmenwechsel vollzieht sich schließlich gegen Ende der Fünfziger Jahre. Im Gefolge von Hugo Friedrichs >Struktur der modernen LyrikStruktur< der neulateinischen Lyrik, für ihren >deiktisch-objektiven< Zug wie ihren - gemessen am Staigerschen Lyrik-Begriff - >nicht-lyrischen< Charakter. Grundlegend für diesen Perspektivenwechsel war hierbei die Studie Karl Otto Conradys, die sich um eine Anbindung der volkssprachlichen deutschen Barockdichtung an Voraussetzungen in der neulateinischen Dichtung bemühte. 58 Auch wenn Conrady dabei nur beiläufig auf den >Erzhumanisten< eingeht, so führen seine Impulse dennoch zu einem allmählichen Wandel des Celtis-Bildes. Freilich: Noch immer zeigt sich das Interesse an Celtis' Leben und Werk bis weit in die Siebziger Jahre hinein wesentlich an philosophie- und bildungshistorischen Aspekten orientiert, während Pindters Ansätze zur Würdigung der poetischen Funktion von Celtis' Dichtung kaum weiterverfolgt werden.
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Sponagel, Nationalbewußtsein; zur Tacitus-Rezeption Tiedemann und vor allem die Arbeiten von Joachimsen. Im Hinblick auf Celtis' Germania generalis jetzt grundlegend Müller: Germania generalis. Preiss: Celtis. Etwa Adel in der Einleitung zu seiner Anthologie. Adel: Poeta laureatus. Friedrich: Struktur. Exemplarisch Dockhorn: Rhetorik; Dyck: Ticht-Kunst. Conrady: Dichtungstradition.
12 Einen wichtigen Beitrag zur Würdigung des Dichters Celtis leistete schließlich Eckart Schäfers Untersuchung zu dessen Horaznachfolge, die fortan ausgehend von der Apollo-Ode zu einer Leitfrage der Celtis-Forschung insgesamt wurde 59 und gerade zuletzt ihren Ausdruck in einem Sammelband zum Thema gefunden hat. 60 Diese in der gemeinsamen Perspektive der Horaz-Rezeption verbundenen Untersuchungen entgehen indes nicht immer der Gefahr, in der Betonung der intertextuellen Komponente den spezifisch neuzeitlichen Standort von Celtis' Denken und Poetik aus den Augen zu verlieren. So sehr die Horaznachahmung der imitative Bezugspunkt bleibt, so zeigt sich doch Celtis' Horazlektüre gebunden an zeitgenössische Wahrnehmungen und Anliegen. So wird etwa aus dem vielfältigen Spektrum der horazischen Ode vor allem das Subgenus der Freundschaftsode aufgegriffen und als Medium einer Selbstvergewisserung der gelehrten Sodalität und ihres Mittelpunktes Celtis genutzt. Insgesamt zeigt sich jedoch auch die Celtis-Forschung der Siebziger Jahre weithin an Einzelfragen interessiert, die im Kontext dieser Studie an ihrem Ort zu diskutieren sein werden. Eine integrative Sicht auf Celtis' Werke, zumal deren dichterische Substanz, bleibt vorerst Desiderat. 61 Hervorzuheben ist aus dieser Phase lediglich die Untersuchung Raimund Kempers, die ihrem Titel nach zwar lediglich den eingeschränkten Aspekt der Entstehung von Celtis' Epigrammsammlung verfolgt, dabei jedoch nicht nur den umfassendsten bibliographischen Überblick liefert, sondern nahezu alle Fragen in Verbindung mit Werk und Person des Celtis berührt. 62 Aufgrund ihrer schwierigen Präsentationsform ist Kempers Studie trotz einer Vielzahl anregender Ansätze jedoch nie umfassend von der Celtis-Forschung rezipiert worden. Im weiteren Verlauf der achtziger Jahre tritt dann verstärkt eine sozialgeschichtliche Perspektive in den Vordergrund. Aufbauend auf die materialreichen, noch immer unentbehrlichen Universitätsgeschichten Gustav Bauchs wurden so etwa Celtis' persönliche Beziehungen nach Polen 63 und Böhmen 64 in Einzelstudien untersucht. Daneben bringen verschiedene neuere Studien
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Schäfer: Deutscher Horaz, S. 1 - 3 8 ; dazu Stroh: Rezension Schäfer; Wenk: Flaccus; Gruber: Horaz; weiterhin Schäfer: Ode an Apoll. In diese Reihe auch die Arbeiten von Ryan zum »carmen saeculare«. Ryan: Mystique of Number und ders.: Carmen saeculare. Auhagen (Hg.): Horaz und Celtis. Worstbrock: Konstitution, S. 24 Anm. 50. Roloff: Neulateinische Dichtung, S. 226: »Noch immer fehlt eine detaillierte Analyse der Beziehungen von Celtis' Amores zur antiken Liebeselegie wie zu der neulateinischen Dichtung Italiens. Hilfreich wäre wenigstens ein Index der »loci similesGedechtnusBuch von der Deutschen Poeterey«. Eine konzise Zusammenfassung der wesentlichen Axiome humanistischer Poetik bietet Grimm: Literatur und Gelehrtentum, S. 80-94. Zu denken ist dabei vor allem an Vadians Poetik, die von Schäffer ediert, übersetzt und kommentiert wurde. Ars versificandi et carminum [Leipzig: Martin Landsberg ca. 1492-95] (GW 6461). Zu Celtis' Leipziger Lehrtätigkeit noch immer Bauch: Leipziger Frühhumanismus, S. 16-22.
20 Als ein »Manifest neulateinischen Dichtens in Deutschland« avancierte die am Ende der Schrift gedruckte »Ode ad Apollinem repertorem poetices« zum meist interpretierten Stück nicht nur in Celtis' eigenem Werk, sondern innerhalb des deutschen Frühhumanismus überhaupt. 7 Trotz dieser historischen Schlüsselstellung ist die Celtis-Forschung freilich noch immer weit von einer integralen Sicht der frühen Lehrschrift entfernt. 8 Namentlich Franz Josef Worstbrock ging es in einer wegweisenden Studie vor allem um eine quellenkritische Spurensuche nach dem doktrinalen Material der Ars versificarteli.9 Worstbrock hat mit Recht die epochale Ambivalenz der Schrift herausgestellt, die einerseits »wahre Züge eines Buches der Renaissance« trage, während ihre Lehrbestandteile wesentlich spätantik-mittelalterlicher Provenienz seien. Obschon daher Celtis' Verslehre in ihrer Gesamtheit »als Kompilation auch stilistisch eine Chimäre« darstelle,10 so erkennt Worstbrock in ihr doch den »Versuch, den Eigenbereich des Dichterischen als Zusammenhang von eigenem Gegenstand, eigener Methode, eigenen Mitteln neu zu erfassen«.11 Das spezifisch Humanistische der Schrift findet Worstbrock zumal in jenem paratextuellen Rahmen aus Widmungsgedichten und persönlichen Stellungnahmen, welcher den theoretischen Teil der Ars versificarteli programmatisch einfaßt und perspektiviert. Daneben können als genuin humanistische Anliegen die »Imitatio klassischer Sprache und Form in den gebotenen Spezimina elegischen und lyrischen Dichtens« gelten, ebenso der Adressatenbezug der meisten Stücke, der auf die dialogische Lebensform< als Konstituens humanistischer Gruppenbildung verweise.12 Worstbrocks Diagnose der »Uneinheitlichkeit des Lehrbuchs in seiner gesamten Faktur«13 erscheint indes als nicht unproblematisch, führt sie doch konsequent zu einer Desintegration der Schrift in ihre Komponenten, ein einigendes Prinzip der heterogenen Quellen, Stoffe und Anliegen scheint unter dieser Prämisse nicht in Sicht. Es wird daher wesentliches Ziel der 7 8
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Literatur zur Apollo-Ode unten Anm. 274. So konstatiert Worstbrock: Ars versificandi, S. 465 Anm. 14 mit Recht, es gebe zur Ars versificandi zwar »viele Stimmen, aber keinen ernstlichen Forschungsstand«. Ältere Literatur bei Pindter: Lyrik, S. 1 - 1 4 ; Preiss: Conrad Celtis und der italienische Humanismus, S. 2 2 - 3 4 ; Grundlegend Worstbrock: Ars versificandi; Entner: Dichtungsbegriff, S. 351-361; Leonhardt: Perotti; Schödlbauer: Entwurf, S. 42 - 68; Wenk: Flaccus, S. 237-251; Asmuth: Anfänge, S. 106-113. Unter diese Rubrik fällt besonders Leonhardt: Dimensio syllabarum (zu antiken und mittelalterlichen Voraussetzungen) und ders.: Perotti. Worstbrock: Ars versificandi, S. 474. Ähnlich bereits Preiss: Celtis, S. 28, der sie allerdings nur mit Alexander Gallus vergleicht. Leonhardt: Dimensio syllabarum, S. 154f. u.ö. zeigt freilich, daß sich Celtis mit der Kompilation älterer Traktate verschiedener zeitlicher Herkunft völlig im Rahmen humanistischer Metriktheorie bewegt (ebd. S. 155 Anm. 7 explizit gegen Worstbrocks Verdikt). Ebd. S. 477. Ebd. S. 467f. Ebd. S. 469.
21 folgenden Überlegungen sein, die zentralen Lehrkapitel der Ars versificandi hinsichtlich ihrer expliziten wie impliziten poetologischen und traditionalen Vorannahmen zu befragen und auf diese Weise eine Archäologie frühmoderner Poetik zu entwerfen, welche systematisch durch Ausblicke auf zeitgenössische Zeugnisse wie auf Konstanten in der Poetik der folgenden beiden Jahrhunderte zu erweitern sein wird. Celtis' Ars versificandi geht dabei nicht nur als Theorie der eigenen Dichtungspraxis voraus, sie bezeichnet auch insgesamt einen Status quo ante humanistischer Poetik. Ein autonomer Diskussionsraum, etwa den einer >Vollpoetikstudia humanitatis< und die Vision der Herrschernähe Die Ars versificandi gewährt jedoch nicht nur Aufschluß über die Frage nach Organisation und Umbau des poetologischen Feldes, sie ist auch als bildungssoziologisches Dokument für die Frühzeit des deutschen Humanismus signifikant, läßt sie doch das Bemühen erkennen, Dichtung und Dichter funktional wie institutionell im Umkreis von Hof und Macht zu verankern, 20 ein Bestreben, das Celtis' weiteren Werdegang bis zur Stiftung des »Collegium 18
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»Poema, quod pro tempore caniculari ad Fridericum inclitum Saxonie ducerti in artem carminum lusimus«. Fol. A 2r. Dazu auch eingehend Vf.: Carmina Pieridum. In diesem Nebeneinander von diskursiver Lehre und praktischem, zur >imitatio< forderndem eigenem Beispiel schließt Celtis' Schrift an einen Typus an, wie ihn vor allem des Matthaeus von Vendôme Poetria nova verkörperte. Kelly/L. G.: Ars versificatoria, Sp. 1074. Barner: Barockrhetorik, S. 5 9 - 6 7 . Ähnlich verfährt die Structura carminum (1496) von Celtis' Freund und Schüler Laurentius Corvinus, der durchgehend zu den verschiedenen Gedichttypen eigene Spezimina anbietet. Eigene Gedichte als Anschauungsbeispiele für verschiedene Metren verwendet bereits der italienische Humanist Antonio Baratella (vor 1385-1448) in seiner Ecatometrologia (um 1420). Kühlmann: Apologie und Kritik, S. 35.
23 poetarum et mathematicorum« in Wien entscheidend motivieren wird. 21 Deutlich zeichnen sich solche Etablierungsbedürfnisse bereits in der einleitenden Widmungsepistel an Herzog Friedrich von Sachsen, den nachmaligen Kurfürsten und Protektor Luthers, 22 ab, in der Celtis einige der wesentlichen Anliegen der Schrift sowie eine Reihe jener exordialen Themen zwischen Fürstenlob und Fürstenspiegel exponiert, welche die verschiedenen >praefationes< von der Edition der Seneca-Dramen über die Epitoma in vtramque Ciceronis rhetoricam bis zur Vorrede zum Amores-Druck von 1502 weiter in Szene setzen werden. 2 3 Schon in Celtis' ersten greifbaren Formulierungen zeichnet sich dabei deutlich genug der Vorsatz ab, eine Art Kanzleisprache bzw. -topik zu entwickeln, 24 die mit Hilfe fester Begriffs- und Motivmodule ein formell bereits bestehendes Dienstverhältnis zwischen >poeta< und >princeps< suggerieren soll. Celtis beschwört zunächst die poetischen Ambitionen Friedrichs, um diesen über die vertraute >arma-et-litteraeotium cum dignitatepoeta doctusnach antiker Art< rezitierten Verse für die eigene Person und Sache.29 In der an Kaiser Friedrich III. gerichteten Widmungsvorrede zu den Gedichten des Proseuticum tritt diese dynastische Perspektive, die angestrebte und durch die Krönung sanktionierte Rolle des Hofdichters, schließlich offen zutage.30 Neben solchen gesellschaftlichen Positionierungen berührt die Vorrede der Ars versificandi jedoch auch Bereiche, die in enger Verbindung mit dem eigentlichen Stoff des Lehrbuchs stehen. Mit Nachdruck betont ist etwa der Gesamtzusammenhang der studia humanitatis, deren Mittelpunkt die »melliflua poetarum carmina« bilden sollen, während philosophische Ambitionen, wie sie sich im Laufe der neunziger Jahre nach Italienreise, Astrologiestudium und Apuleius-Rezeption herausbilden, hier wie in den übrigen Partien der Schrift noch weitgehend fehlen.31 Der programmatische Horizont der Ars versificandi ist vorerst durch eine Reihe überschaubarer Themen und Quellen begrenzt, unter denen Ciceros Programmrede Pro Archia poeta eine besondere Stellung zukommt.32 Celtis bezieht aus ihr nicht nur den auratischen Begriff der >studia humanitatisdispensator gloriaesacri vatesArs metrica primacarmen gratum< stellt, ob im »Poema ad Fridericum« oder in der abschließenden Apollo-Ode, als sinnlichästhetisches Gebilde vor Augen, was es als Manifest für die Verslehre vorausblickend einfordert. 40 Bedeutsam ist es jedoch nicht nur als erstes und singuläres Dokument eines poetologischen Selbstbewußtseins in statu nascendi, es benennt vielmehr auch mit hinreichender Präzision jene technischen Voraussetzungen des Dichtens, die in der eigentlichen Ars versificarteli im unmittelbaren Anschluß detailliert entfaltet werden. 41
2.3.2. Ein Muster der neuen Dichtung: Poetische Verlebendigung und sinnliche Erfahrung Der Titel der Elegie nimmt zwei aus Widmungsvorrede und »ad lectorem« bekannte Leitmotive der Ars versificarteli erneut auf: Einerseits die hochsommerlichen Hundstage als Entstehungszeit der Schrift, andererseits die Einstu-
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rung und Bezug unbestimmt ist. Klüpfel: Vita I, S. 193£ bezieht sie ohne Grund auf Wien. Ars Fol. A 2r: >Ein Gedicht, das ich während der Hundstage verfaßt und an Friedrich III., den erlauchten Herzog von Sachsen, als spielerische Einführung zur Ars (versificandi et carminum), gerichtet habecarminalususpoeta doctus< Celtis erkennen, dessen frühes, nicht nur dekoratives Interesse an Astronomica in der Ars versificandi noch des öfteren auffallen wird. 44 In je zwei Distichen wird zunächst der jahreszeitliche Gestirnstand festgehalten, bevor der Blick auf die hochsommerliche Ernteszene fällt, die wiederum in zwei
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Wie in der Dedikation an Herzog Friedrich gibt Celtis den Titel seiner Schrift alternativ und verkürzend mit Ars carminum wieder. Fol. A 2r: »Poema, quod [...] in artem carminum lusimus«. In der Widmung: »Itaque artem carminum, quam tui nominis auspicio in studio Lipsensi graui cancri estuante sidere lusimus«. Fol. A 2r. Die Übersetzung hier und im folgenden nach Vf.: Carmina Pieridum. Im Abschnitt »De preceptis artis in generali« (Fol. C 2v) zitiert Celtis programmatisch aus den Astronomica des Marcus Manilius, der Fol. C 2r auch als Vertreter des »Poema naturale« genannt ist. Das sommerliche Erntebild des »Poema ad Fridericum« verarbeitet unmittelbar Anregungen aus Manilius' Charakteristik des tropischen Zeichens Krebs (Manil. 3,625-636). Die hochsommerliche Jahreszeit ist zugleich der geeignete Augenblick für die Enthüllung des Dichtergottes Apoll, der hier in seiner Funktion als Sonnengott Phoebus/Helios den jahreszeitlichen Höhepunkt seines Einflusses erreicht hat. Zur astronomischen Paraphrase Curtius: Europäische Literatur, S. 279-282. Auch die mittelalterliche Poetik fordert die Umschreibung durch Astrologisches als Mittel der >amplificatio< ein. Gervasius von Melkley (um 1210) stellt lapidar fest: »perfecto versificatori non hyemet, non estuet, non noctescat, non diescat sine astronomia« (Curtius: Europäische Literatur, S. 281).
27 Distichen eingefangen wird. Daran schließt sich das nicht weniger topische Element des Lustortes an: Muse, quid facimus estiui solis in vmbra Quo nos ferre iocos, ludere quove decet Nonne sub vmbrosis placidum est requiescere siluis Et premere in gelidis gramina lenta iugis Hie vbi sit tremulus lapidoso murmure riuus Qui placidos somnos, carmina grata mouet Suscitât ingenium latebrosi vbi cespitis arbos Frigida cum densis funditur vmbra comis Musarum cantus graciles ibi pangere et odas Blanda repercussa vox vbi valle sonat. 45
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Aber, Musen, was tun wir im Schatten der Sommersonne? Womit sollen wir Scherze treiben, wie uns dem Spiel der Dichtung widmen? Ist es nicht eine Freude, im Schatten der Wälder und im weichen Gras auf kühlen Hügeln zu ruhen? Hier, wo plätschernd mit Murmeln der Bach über die Steine hinfließt, der zu lieblichem Schlaf und reizenden Liedern anregt. Hier, wo Bäume auf lauschigem Rasen den Geist wecken, wenn sich kühler Schatten unter dichtem Laub verbreitet. Ist es nicht eine Freude, an diesem Ort den feinen Gesang der Musen und Oden zu pflegen, wo die liebliche Stimme im Tal widerhallt? Nahezu vollständig versammelt das Eingangstableau die topischen Ingredienzen des locus amoenus. 46 Ihm entspricht poetologisch der elegische >lususotium< fordert. 47 Dieselben ästhetischen Attribute kennzeichnen dabei Gesang wie Landschaft und verweisen so auf eine Korrespondenz zwischen rhetorisch entwickeltem Lustort und einer Dichtung, die sinnlich evoziert, was sie der Sache nach bezeichnet. Diese ästhetische Wirkung der Verse als sinnlicher Zeichen< der Dinge (»sensibilibus quasi signis«) 48 erweist sich vor allem in Auswahl und Stellung des passenden Epithetons im Vers, durch welche das Gedicht seine Lebendigkeit gewinnt: D i e Häufung ästhetisierender Attribute (»placidum est«; »umbrosis siluis«; »gelidis iugis«; »lapidoso murmure«; »placidos somnos«; »frigida [...] umbra«) in diesen Auftaktversen verweist somit bereits implizit auf eine der prinzipiellen Anforderungen der Dichtungspraxis, das Leitprinzip des >vivum carmenaestifervulnificusignivomusfalcifermirificansvariae lyraenumerosus Horatius< geht. 5 2 D e r Auftritt Apolls wird daher als Epiphanie einer Dichtung inszeniert, die sich nicht anders als im lyrischen Gesang, als reine Musikalität kundgibt. 53 Anderer-
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Tatsache, daß eine Reihe der verwendeten Attribute allenfalls bei späten Autoren belegbar ist (so >ignivomus< bei Venantius Fortunatus: carm. 3,9,3; bei Celtis auch in Am. 4,8,24), zeigt deutlich, daß ein sprachpuristisches Bewußtsein in der Wortwahl - anders als in der Wortfügung (>compositioimitatioMahnungen< spricht Apoll selbst (v. 84): »Ars pateat monitis metrica prima meis«. Auch Kambylis: Dichterweihe, S. 125-183 zu Prop. 3,3. Beispiele für den humanistischen Kontext gibt Steppich: Vorstellung, S. 291-302. Einen interessanten Parallelfall bietet schon die Poetria nova des Matthaeus von Vendôme: In der Einleitung zum zweiten Teil des Werkes wird hier der Dichter in amöner Landschaft von der Allegorie der Philosophie und den Dichtungsgattungen belehrt. Klopsch: Dichtungslehren, S. 123. Vorbild des allegorischen Szenarios ist Ov. Am. 3,1 (Wechselrede von Elegia und Tragoedia) sowie der Beginn von Boethius' Consolatio philosophiae.
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Theophanie selbst, so stellen Naturbild, aber auch Stil wie Stilbegriffe einen Gesamtzusammenhang mit diesem Typus her, der die eigentlich technischen Erörterungen rahmend einbettet. 60 Auch hier verfährt Celtis indes kontaminierend, bezieht sich die >imitatio< eher auf eine Gedichtstruktur denn auf ein spezifisches Modell. Gegenüber Properz' Modellentwurf mit seinem Antagonismus von epischer und elegisch-lyrischer Dichtung exponiert Celtis' Text die Offenbarung der Techne an sich, einer Ars versificarteli, deren (neuerliche) Verfügbarkeit die Epochenschwelle in poeticis herbeiführt. Es geht somit nicht, wie noch in den alexandrinischen recusatio-Dichtungen der Augusteer, um eine poetologische Wahlentscheidung, sondern um die Befähigung zum Verfertigen des »legittimum carmen« an sich, ohne daß einzelne Genera und Themenoptionen gegeneinander ausgespielt würden. 61 Im übrigen sind die Affinitäten zwischen »Poema ad Fridericum« und Prop. 3,3 jedoch durchaus zahlreich. Auch Properz inszeniert eine poetische Konversion des Dichters, der von einem >warnenden und verbietendem Apoll in seinem unreflektierten Tun unterbrochen und auf den rechten Weg des Dichtens gewiesen wird. In beiden Fällen bildet der amöne Lustort ein atmosphärisches Korrelat der Erscheinung, in beiden Gedichten inszeniert sich der Dichter als >primus inventor< und Wanderer auf unbetretenen Wegen. 62 Wie bei Properz kommt die Rede Apolls auch bei Celtis einer scharfen Zurechtweisung gleich, 63 die das >kunstlose< Dichten als Zudringlichkeit gegenüber den Musen wertet: Quid legisse iuuat sacrorum carmina vatum Et Musis auidas implicuisse manus Quidve iuuat dulces totidem audisse poetas Et docilem auditos voluere sepe libros Si non mellitos dabitur cognoscere versus Ut legere aut recte pangere metra queas.
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Unter den antiken Beispielen, die Wimmel zusammenstellt, entspricht dabei am ehesten Prop. 3,3 dem Celtis'schen Berufungsbild. Weiterhin die Elegien 2,31; 3,1; vgl. Verg. ecl. 6,Iff. (»ludere«, »tenui arundine«); aber auch die Apollo-Vision Ov. ars 2,493ff.; Hör. carm. 4,15. Vor allem Boeth. cons. 1 p. 1 scheint daneben eine gewisse Rolle zu spielen. Möglicherweise auch die allegorischen Figuren der artes bei Martianus Capelle. Im selben Sinn ist Ov. Am. 3,1 Vorbild. Für die Formulierung dieser Frage danke ich Herrn Jürgen Leonhardt (Marburg). Eine Variante hierzu stellt das Bild des >engen< Weges dar, das in einem kurzen Marienhymnus unmittelbar vor der Apollo-Ode Verwendung findet (Fol. [D 2]r). Celtis läßt hier wie in der Vision des »Poema ad Fridericum« alexandrinische Topik mit biblischer Bildlichkeit verschmelzen: »Flectere iter doceas tenuis vbi semita monstrat/Ire per angustam regna ad celestia portam«. Nach Mt. 7,13f.; Luk. 13,24. Prop. 3,3,13: »Quid tibi cum tali, demens, est ilumine? quis te/carminis heroi tangere iussit opus?« Charakteristisch ist ebenfalls eine Parallele in der Makrostruktur zwischen »Poema ad Fridericum« und Prop. 3,3: Die Verdoppelung des göttlichen Anrufs, die bei Properz zu je einer Rede Apolls wie der Muse Kalliope führt. Wimmel: Kallimachos, S. 135.
32 Welchen Sinn hat es, die Lieder erhabener Dichter zu lesen und sich mit gieriger Hand den Musen zu nähern? Welchen Sinn hat es auch, so oft die reizenden Dichter zu hören und wieder und wieder ihre Bücher gelehrig zu wälzen, wenn es nicht vergönnt ist, ihre wohlklingenden Verse so zu durchschauen, daß man sie korrekt lesen und ihr Metrum einwandfrei zusammenfügen kann? D i e R e d e des Gottes verortet die Doktrin der Ars versificandi
zwischen me-
trischer Theorie und praktischem (Nach-)Vollzug: Jeder U m g a n g mit Dichtung erweist sich solange als fragwürdig, wie er ohne Einblick in die technischen, von A p o l l gestifteten Grundlagen der Verslehre bleibt. Worin nun der konkrete Gehalt dieses Offenbarungs- und Initiationswissen besteht, wird im folgenden von Apoll präzisiert. D e s s e n Ausführungen enthalten in nuce die technische Substanz der eigentlichen Ars versificandi,
begründen daneben
aber auch die Bedeutung der Dichtung für eine überdauernde >memoria< des Dichters: Rumpe moras tersis qui condere carmina verbis Et studuisse cupis me duce doctus eris Aduola apollineas cupias qui scandere ad arces Musarum cantus me duce nosse potes Carmina pieridum nulli celebrata priorum Nota dabo atque breues quas decet isse vias Edoceam lepidos quo pacto fingere versus Metra vel ad formam constituisse decet Quo pede carmen eat qua lege resoluere versum Quemque decet plures noscere do species Carmina quemque iuuat componere: laudis amore Captus: et ad Musas vel properare nouem Si quis in eternum cupiens extendere famam Versibus eolijs instituendus erit.
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Säume nun nicht länger, wenn du Lieder in gewandten Worten dichten und studieren willst: Unter meiner Anleitung sollst du in den Besitz der Lehre gelangen! Auf nun, wenn es dich danach verlangt, die Höhen Apolls zu erklimmen! Unter meiner Anleitung kannst du die Gesänge der Musen lernen. Lieder der Pieriden, wie sie keiner zuvor angestimmt hat, werde ich dir zur Kenntnis bringen und auch, wie du auf kürzestem Weg zu diesem Ziel gelangst. Lehren will ich dich, wie man gefällig den Vers baut und die Metren mustergültig in ihre Form bringt, welche Metren die einzelnen Verse enthalten und nach welcher Regel man jeden Vers auflösen kann: hierfür werde ich dir verschiedene Schemata an die Hand geben, welche du dann erlernen kannst. Für jeden, den die Liebe zum Ruhm ergreift, ist es Freude und Nutzen zu dichten und zu den neun Musen zu eilen. Will jemand seinen Ruhm bis in alle Ewigkeit verbreiten, dann gilt es für ihn, sich in den Äolischen Versen unterweisen zu lassen. Celtis setzt auf diese Weise seiner Schrift enge Grenzen innerhalb des poetologischen Feldes: Wie in Widmungsvorrede und »ad lectorem« rücken die >verba< und mit diesen die ästhetisch-sinnlichen Qualitäten der Dichtung in den Vordergrund, während Argumente zu Lob und Legitimation der Dichtung, wie sie später in der Ingolstädter Rede, besonders aber in der Vorrede zu den Amores
begegnen werden, in der Ars versificandi
nahezu ausgespart
33 bleiben. 6 4 Was sich an verstreuten Elementen des Diskurses >Lob und Würde der Dichtkunst in Celtis' Erstlingsschrift findet, verbleibt vorerst ganz im Rahmen von Ciceros Pro Archia poeta wie einzelner Formulierungen aus Ars poetica sowie carm. 3,30 des Horaz. Dies gilt zuerst für das Argument des >poeticus furorpoetica theologia.< 66 Der beiläufige Hinweis auf die weiteren Horizonte der Poetik, die im Kapitel »De preceptis artis in generali« bewußt ausgeklammert werden, 6 7 belegt Celtis' Wissen um die eingeschränkte Perspektive seiner Schrift, die nicht mehr als ein Gradus ad Parnassum, ein Kompendium der Verslehre mit punktuellen Ausblicken an die Hand geben will. 68 D i e Anliegen, welche der Dichtergott für die Ars versificandi enthüllt, umreißen dabei durchaus mit terminologischer Schärfe die Kunstlehre, die in den technischen Partien der Schrift vermittelt wird. Dies gilt auch für eine weitere Einschränkung der Reichweite: D i e metrischen Regeln, die Apoll dem Adepten verheißt, beziehen sich nämlich lediglich auf den Bau, auf »positura« und »loci pedum« der jeweiligen stichischen Einzelverse, geben jedoch keine systematische Anleitung zur Komposition lyrischer Strophen, deren Struktur induktiv aus den Modellen, vor allem Horaz und Boethius, ent64
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Solche finden sich allenfalls in einer Vorsatzelegie (Fol. [A l]v), die sich erst in der zweiten Auflage (Leipzig 1494) findet (gedruckt als Epigr. 5,31). Ihre Zuschreibung an Celtis, der sich zu diesem Zeitpunkt nicht mehr in Leipzig aufhielt, ist fraglich. Der Text mißt die philosophischen Dimensionen von >carmina< aus, ein Celtis'sches Generalthema zwar, das in der gesamten Ars versificandi jedoch keine weitere Entsprechung findet. Vielmehr scheint der bereits erwähnte Passus Arch. 18 Folie des gesamten Abschnitts der Elegie zu sein. Von den »sacrorum carmina vatum« ist am Beginn der Ausführungen Apolls die Rede, die >göttliche Gabe< (»donum«) der Dichtung erscheint bei Celtis konzentriert auf das mehrfach angesprochene Stiften und Übergeben der Metrik. Boccaccios Genealogie deorum gentilium, in deren 14. Buch die wichtigsten apologetischen Argumente gesammelt sind, waren Celtis zu diesem Zeitpunkt offenbar noch nicht bekannt. In zwei (undatierten) Briefen an Sixtus TUcher bittet er erst 1492, dann ein weiteres Mal 1494 um Übersendung von Boccaccios Werk. BW Nr. 73, S. 123. Der erste Brief an Tücher (BW Nr. 36, S. 62) ohne Nennung des Werktitels wird von Rupprich in den Sommer 1492 datiert. Fol. C 2v. Vgl. oben Anm. 16. V. 40: »Breues quas decet isse vias«. Eine entsprechende Wendung findet sich in Luders Ankündigung seiner Metrikvorlesung: »Breuem expeditamque carminis exametri et penthametri et noticiam et artem habere cupientes: Veniant eras hora nona ad locum leccionum petri lüder« (ed. Bockelmann S. 82). Die methodische (»via«) Unterweisung ist Bestandteil aller Definitionen von >arsars< grundsätzlich Lausberg: Handbuch, § 1 - 8 .
34 wickelt werden muß. 6 9 Das Hervorbringen von Versen fordert somit wechselseitig die analytische Einsicht in vorliegende metrische Strukturen (v. 43f.: »Qua lege resoluere versum/Quemque decet«) 7 0 wie deren Rekombination in der praktischen Kunstübung. Präzise ist dabei von der >korrekten Formung des Verses< (v. 42: »Metra vel ad formam constituisse«), sogar ausdrücklich von >plures species< die Rede, mit denen konkret auf das Kapitel » D e speciebus carminum et locis pedum« abgehoben wird, welches die einzelnen Metren analytisch vorführt. 71 Wenngleich in diesem Zusammenhang die Termini >metrumversus< und >carmina< in der Ars versificandi weitgehend synonym den Einzelvers in seiner metrischen Struktur umschreiben, 7 2 so zeigt sich doch eine erste Tendenz, den semantisch weiteren Begriff >carmen< auch in den Lehrpartien gegenüber den rein technischen Bezeichnungen >metrum< und >versus< zu privilegieren. 73 Vor allem in den Rahmenpartien der Ars versificandi läßt sich dies durchgehend beobachten, da allein im auratischen >carmen< das Produkt des Versifizierens nicht als metrisch korrektes Gebilde, sondern zugleich als Werk von >sacri vates< gegenwärtig ist. 74 D e m entspricht 69
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Celtis hat gegenüber seiner Quelle, der von Worstbrock als Ordo metrorum bezeichneten Kompilation, die Reihe äolischer Metren um sieben »species«, drei horazische und vier boethianische, erweitert; dazu Worstbrock: Ars versificandi, S. 490. Gemeint ist die Fähigkeit, Verse in entsprechende »pedes« zu zerlegen. So auch Am. 4,4,34: (poeta) »Solvere qui versus nec tacere arte potest«. Zum »versus solvere« als Teil der Prosa-Paraphrase poetischer Vorlagen im Rahmen der »exercitatio scribendi« vgl. Quint, inst. 1,9,2; Lausberg: Handbuch, § 1100,1. Fol. [A 4]v-[A 6]v. Diese terminologische Indifferenz ist kennzeichnend für die Tradition der mittelalterlichen >ars versificatoriaVersus< bezeichnet demnach bei Celtis, kaum anders als >carmencarmen< in seiner jeweiligen Versform und -Struktur (»species«). Im Abschnitt über die »species carminum« ist dagegen fast stets die Rede vom >metrum< (»pheregracia metra«; »phaleutica metra«). In stichischen Versen, etwa dem epischen Hexameter (»heroica positura«), fällt die metrische Gestalt des gesamten Gedichts mit der des einzelnen Verses zusammen, nicht so jedoch bei den lyrischen Maßen, deren strophische Konstruktionen nur aus dem induktiven Umgang mit den Modellen selbst erlernbar sind. Vergleicht man in dieser Hinsicht Celtis' Terminologie mit Niccolo Perottis De generibus metrorum, eine der Quellen der Ars versificandi, so läßt sich diese begriffliche Substitution zumindest andeutungsweise erkennen. Wie konsequent Celtis hier beide Termini gegeneinander vertauscht, illustrieren die Textbeispiele beider Traktate, die Leonhardt: Perotti, S. 14f. zitiert. Wenk: Flaccus, S. 242 weist hierfür auf Hör. carm. 3,1,2-4 hin. Ebenso Manil. 1,6. So überrascht es nicht, wenn nahezu alle Junkturen mit dem Begriff >carmina< von antiken Formulierungen inspiriert sind (»sacrorum carmina vatum; »condere carmina«; »carmina Pieridum«). Der Akzent liegt so auf dem Thema des Nachruhms (v. 45-49). Freilich sind die versifikatorischen Grundlagen von der potentiellen Würde der Dichtung nicht ablösbar, hat doch das Streben nach Ruhm nur unter der Voraussetzung metrisch-prosodischer Korrektheit seine Berechtigung.
35 eine weitgehende Substitution der neutralen, im rhetorisch-technischen Kontext verwendeten Bezeichnungen >scriptor< oder >versificator< durch den Titel >poetaCarmina non prius audita.< Innovationspostulat und Inszenierung von Epochenwende Apolls Rede beschwört bei all dem einen Epocheneinsatz, der sich primär im »poema lyricum« manifestieren soll. D i e Behauptung von Priorität und Innovation (v. 39: »Carmina pieridum nulli celebrata priorum«) 77 setzt dabei einen Nullpunkt in der Geschichte der Dichtkunst, mit dem ein technisches Wissen um korrekten Versbau in die Welt treten kann. Die Semantik von Offenbarung und Eröffnung wie von Gabe und Stiftung suggeriert den Eindruck eines nie gekannten Wissens. Als Kenntnis der numerischen Proportion eines »legittimus versus« kann die Verskunst indes keinen historischen Progreß kennen. Das metrisch-prosodische Gesetz ist seiner Substanz nach wesenhaft so unveränderlich wie die Gesetze der Arithmetik oder der Musik, die ihr als >numeri< analog sind. 78 Der humanistische Anspruch muß sich 75
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Die Bezeichnung >scriptor< etwa verwendet Celtis dort, wo, wie im Kapitel »De compositione materiali carminum« (Fol. A [6v]-B lr), auf technisch-doktrinaler Ebene der dichterische Produktionsvorgang von der >inventio< zur >elocutio< zur Rede steht. Die Verwendung des traditionell-technischen Begriffs >versificator< findet sich dagegen in den kompilierten Partien der Ars versificandi, so im Abschnitt »De litteris lingue latine et earum diuisione« (Fol. Β lr): »>H< tarnen apud versificatorem inter litteras non reputatur«. Einmal, im Abschnitt »De sillabis et earum in generali quantitatibus«, begegnen beide Formulierungen nebeneinander (Fol. Β lr): »Poetam seu versificatorem tríplices oportet pensare sillabas«. Synonym zu >scriptor< spricht Celtis Fol. C 2r von >autorescarmen< zu überhöhen. Wenk: Flaccus, S. 241f. verweist in diesem Zusammenhang auf Hör. carm. 3,l,2f. sowie 3,30. Der kallimacheische Topos findet sich aber auch sonst wiederholt: Lucr. l,117f.; Verg. georg. 3,10f. Bestimmend ist indes der Anklang an Lucr. 4,lf., vor allem aber Manil. 1,6: »Hospita sacra ferens nulli memorata priorum«. Schödlbauer: Entwurf, S. 56. Diese Vorgängigkeit der Regeln literarischer Produktion betont auch Jaumann: Critica, S. 102f. für das >alteuropäische Modell literarischer Kritik< insgesamt: »Kritik reguliert eine Praxis des Schreibens und Lesens, deren Regeln der Regulierung vorausliegen« (ebd. S. 103), sie ist somit wie die Verslehre im speziellen »critica perennis« (Jaumann: Critica, S. 244 u.ö.). Ein solcher Befund stimmt zu der von Leonhardt: Dimensio syllabarum, S. 178 festgestellten Grundprämisse humanistischer >ars métricas eine Art prästabilierter Harmonie zwischen metrischer Praxis der >auctores< und Tradition der Grammatik und Metrik
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darauf richten, den durch ein Interim sachlicher Unkenntnis verschütteten Regelkern der Dichtung wieder ans Licht zu fördern, den Bestand dieser >metrica perennis< für die Zeit neu zu realisieren. Prinzipiell jedoch steht die Ars versificandi wie die Dichtung selbst jenseits geschichtlicher Entwicklungen und Verschiebungen. Sie ist bereits im Gesang des mythischen Begründers Orpheus in ihrer entwickelten Form präsent, die es nunmehr wieder zu aktualisieren gilt. Die Apollo-Ode verdeutlicht dies, indem sie das >carmenimitatio< ins Zentrum des nachgeahmten Modells, in dem, so die unausgesprochene Prämisse, metrische Strukturen sich ein für allemal in idealer Weise konkretisieren. Die antiken Autoren stehen damit gerade nicht unter dem von Apoll behaupteten Prioritäts-Vorbehalt, sie sind dem nachahmenden Dichter immer schon gegenwärtig,80 ihre Existenz und Autorität geht wie die der metrischen Lehre unhinterfragbar der eigenen voraus. Solche Priorität ist für Celtis wie für die frühneuzeitliche Poetik insgesamt keine Frage der Chronologie, sondern des kategoriell anderen Status antiker Modelle gegenüber den >recentioresimitatio< als Verfahren intertextueller Produktion sind eben vor allem, wenn nicht ausschließlich die antiken Musterautoren.81 Die Negierung von Vorläufern und Tradition(en),82 wie sie Celtis
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anzunehmen. Eine Diskrepanz zwischen beiden Seiten kann in dieser Perspektive, die antike Dichtung als einen in sich geschlossenen Systemzusammenhang begreift, ebensowenig bewußt werden wie der Gedanke einer historischen Evolution innerhalb einzelner Bereiche und Gattungen. Dieser allgemeine Sachverhalt ließe sich exemplarisch an Celtis' Abriß der Dichtungsgattungen (Fol. C l v - C 2r) belegen. Hinsichtlich der prinzipiellen Struktur der Metrik sind so die von Leonhardt: Dimensio syllabarum, S. 177-181 zusammengestellten »Grundzüge der humanistischen Metriktheorie in Italien« mutatis mutandis auf Celtis wie die humanistische Metrik insgesamt zu übertragen. Fol. [D 2]r (v. 11-13): »Nunc sit duce te docendus/Pangere carmen//Quod (!) feront dulcem cecinisse Orpheum«. Vf.: Carmina Pieridum. Celtis' Bezugspunkt ist dabei Hör. ars 391-396; Wenk: Flaccus, S. 242; auf carm. l,12,7f. (»unde vocalem temere insecutae/Orphea silvae«) weist Frings: Ode an Apoll, S. 140 hin; weiterhin carm. 3,ll,13f.; daneben sind in antiker Dichtung zu vergleichen Ov. ars 3,321f.; trist. 4,1,17; zu Amphion vgl. Seneca: Here, furens 22f. (Frings: Ode an Apoll, S. 141 Anm. 17). Derselbe Widerspruch findet sich auch in der Apollo-Ode, denn »offenbar muß die Dichtkunst in Deutschland schon vorhanden sein, damit Phoebus überhaupt poetisch dorthin gerufen werden kann«. Stroh: Rezension Schäfer, S. 321. Schon die antike Rhetorik konzentriert die >imitatio< bevorzugt auf die >veteres< (Quint, inst. 4,2,117-119). Quintilian legitimiert dies mit dem Hinweis auf die alexandrinische Kritik (10,1,54). Horaz spricht, mit der ironischen Distanzierung des Modernen gegenüber unhinterfragter Verehrung des Alten, von dem »perfectus vetusque scriptor« (epist. 2,1,37), dem allein die Wertschätzung der Kritiker zufalle.
37 bereits in seiner Erstlingsschrift für sich reklamiert, tangiert immer nur und vorrangig die zeitgenössische, nationale und insbesondere auch die italienische neulateinische Dichtung, 8 3 deren Präsenz bis auf geringe Spuren in der Ars versificandi getilgt wird. Solch kalkulierter damnatio memoriae aus Einflußangst fällt insgesamt die nationale Vorgeschichte der studia humanitatis, namentlich eine Gestalt wie die Peter Luders, 84 wortlos zum Opfer. Celtis bedarf einer grundsätzlichen qualitativen Spannung zwischen dem Vorher und dem Nachher der Offenbarung, der eigene Rollenentwurf kommt nicht ohne die plakative Opposition von Barbarei und >lepos< aus. In der Berufung auf den mythischen Archegeten der Lyrik gewinnen dabei Dichter wie Dichtung mythische Signaturen. Das Orpheus-Exempel 8 5 verweist eben nicht nur implizit auf die substantielle Unwandelbarkeit des Liedes und seiner Struktur, wie sie die zeitenthobene Dimension des Mythos suggeriert. In ihm zeigt sich vor allem die Lyrik als wirkendes Wort und rührende Dichtung, in der sich eine »vis eloquentie« (Fol. C l v ) als operative, wenn nicht magische Psychagogie entfaltet. So bezeichnet das Lied des thrakischen Sängers am Indifferenzpunkt von lyrischem Gesang, Musik und rhetorischer Wirkintention das eigentliche Leitmotiv und Sinnzentrum der Ars versificandi: Orphea cum siluis ducentem ilumina et vndas Carmina commémorant laudeque digna ferunt Amphion immotas attraxit carmine rupes
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(Fol. A 3r) Saxa trahens fidibus fila canora mouens. Orpheus habe neben Wäldern auch Flüsse und Wogen bewegt, so berichtet das Lied und kündet vom Ruhm solcher Tat. Amphion zog durch seinen Gesang unbewegliche Felsen an, bewegte den rohen Stein, indem er die tönenden Saiten seiner Leier schlug. Auch in diesem Fall wird die Apollo-Ode appellativ ins Gebet fassen, was die Berufungselegie als visionäre Präsenz vorführt:
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(Hör. epist. 2,l,34ff.). Zur Rolle der >imitatio< in der Frühen Neuzeit, die hier nicht zusammenhängend darzustellen ist, sei exemplarisch verwiesen auf Gmelin: Prinzip der Imitatio; Ulivi: L'imitazione; Pigman: Versions; McLaughlin: Imitation; neuere Literatur erfassen Kaminski: Imitatio und Vf.: Norm, Kritik, Autorität. Umfassend und typologisch Barner: Negieren; Vi: Carmina Pieridum. So verfährt bereits Luder in seiner Heidelberger Rede gegenüber seinem Vorbild Guarino, vgl. Barner: Studia toto amplectenda pectore S. 237. Luder behauptet ebenso die eigene Priorität, allerdings unter Berufung auf seinen italienischen Lehrer Guarino (»Elegia ad Panphilam« ed. Baron S. 207-211, dort S. 208 v. 85f.): »Primus ego in patriam deduxi vertice Musas/Italico mecum, fonte Guarine tuo«. Der Orpheus-Mythos zählt zu den geläufigen humanistischen Mythologemen. Vgl. Buck: Orpheus-Mythos. Innerhalb der Ars versificandi rekurriert Celtis in der Apollo-Ode wie im Abschnitt »Quare et qui poete a nobilibus legi debeant« (Fol. C lv) auf das Beispiel des thrakischen Sängers. Vgl. unten Kap. 2.4 und Kap. 7.2.
38 nunc sit duce te docendus [sc. barbarus; J. R.] Pangere carmen Quod ferunt dulcem cecinisse Orpheum Quem fere atroces agilesque cerui Arboresque alte celeres secute plectra mouentem. Er [sc. der Barbar; J. R.] nun lerne unter deiner Führung, ein Lied zu dichten, welches schon Orpheus mit seiner betörenden Stimme gesungen haben soll. Ihm folgten, wenn er die Leier schlug, sogleich die wilden Tiere, die flinken Hirsche und die hohen Bäume. Zunächst freilich bleibt es bei der Ankündigung Apolls, der sich dem Anblick des benommenen Dichters entzieht. D i e Aporie eines >rechten< Dichtens ohne greifbare Regeln provoziert das Stoßgebet: Ha deus afflata vatum qui pectora pulsas Cuique recuruato pectine musa sonat Quo capiam precepta volens tibi condere carmen Quo duce vel numeris nectere verba queam Non mihi sunt precepta tuis seruanda loquelis Quo valeam numéros fingere in arte comis.86
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Du Gott, der du die Brust der Dichter mit deinem Geist erfüllst und bewegst, dem die Muse mit geschwungenem Griffel ihr Lied erklingen läßt: Wie soll ich deine Unterweisungen erhalten, bin ich doch gern bereit, dir Lieder zu dichten? Wer wird mein Führer sein und welches die Metren, mit denen ich die Worte zu fügen vermag? Noch besitze ich keine Regeln aus deinem Munde, die ich beherzigen könnte und mit denen ich in der Lage wäre, anmutige Verse zu schaffen. D e r Passus, der eine für Celtis' Humanistennamen bedeutsame Stelle des Buches Hiob reflektiert, 87 umspielt nochmals das technische Anliegen der Ars versificandi. Diese erscheint als Kunst im Sinne von praktischem Können (»queam«; »valeam«) wie als memorierbares Wissen, 88 das nach Kodifikation im Lehrwerk verlangt.
2.3.5. Apoll-Erscheinung und Offenbarung der Metrik Noch immer ist der Dichter also ohne präzises Wissen um die Grundlagen seines Tuns. D e r Eintritt des göttlichen Regelwerkes von >numeri< und >versus< vollzieht sich im folgenden als Vision mit biblisch-apokalyptischer Signatur: Ecce mihi visus subito est ante ora libellus Quem deus ipse tulit fulmine grata ferens Letus ego placidum resero sub luce libellum Carmina et hec visa sunt mihi fronte libri: 86 87
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Fol. A 3r. lob 19,23-25: »Quis mihi tribuat ut scribantur sermones mei quis mihi det ut exarentur in libro stilo ferreo et plumbi lammina vel certe sculpantur in silice«. Kemper: Critica minora, S. 423f. V. 65: »precepta servanda«; später v. 86: »Ut preceptorum iam memor esse velis«.
39 Rumpe moras subito mellitam quere poesim Ars pateat monitis metrica prima meis Hunc ego contextum trado tibi in arte libellum Ut preceptorum iam memor esse velis Publicus vt doctos adeat meus iste libellus Te iubeo pressas finge sub ere notas.89
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Und siehe, da erschien plötzlich ein Buch vor meinen Augen, das der Gott mir selbst unter Blitzschlägen als willkommene Gabe darbot. Froh öffne ich im Licht dies treffliche Buch, auf dessen erster Seite ich folgende Verse erkennen konnte: »Säume nun nicht länger, gib' dich der süßen Dichtkunst hin: Hier nun sei dir durch meine Weisungen die erste Metrik offenbart! Dies Buch, in dem du diese Kunst (des Verses) festgehalten findest, überantworte ich dir, damit du fortan stets seine Regeln beherzigst. Und damit mein Buch auch die Gebildeten erreicht, erteile ich dir den Auftrag, es sofort in ehernen Lettern drucken zu lassen. D i e Pointe der Inszenierung ist evident: Offensichtlich folgen Bildregie und sprachlicher Gestus dem Modell der biblischen Apokalypse, genauer jener Partie, welche die Übergabe des Buches an den Seher Johannes schildert. 90 In der Verschmelzung von christlicher Offenbarung und paganer Dichtungslehre soll die Qualität des Epochalen der Ars versificandi (des Buches wie der Techne als solcher) vor Augen treten. Das biblische Tableau tritt dabei dort ein, wo das properzisch-kallimacheische Schema des warnenden und verbietenden Apoll seine Grenze findet. Der missionarische Impetus, der einem Properz noch fernstand, fordert hier als angemessene Form die Travestie der biblischen Enthüllungsszenerie. Empfahl sich die Elegie des r ö m i schen Properz< wie der Gedichttypus des >mahnenden Apoll< primär aufgrund des Insistierens auf der Neuheitsqualität der Dichtung, so ließ sich der Aspekt der Verkündigung, mithin der Publikation des enthüllten Wissens, im Rückgriff auf die Apokalypse ins Bild setzen. So bezeichnet die Aufschrift des Buches nicht nur die Bedeutung der kleinen Schrift, sie fordert vielmehr die buchhändlerische Publikation als modernes Analogon des biblischen Kerygma. 91 Der sonnengleiche Engel der Apokalypse wiederum spiegelt sich im Sonnengott Phoebus Apoll, 9 2 während die endzeitliche Szenerie insge89 90
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Fol. A 3r. Apoc. 10,8-11. Schäfer: Apollo-Ode S. 243. Wenk: Flaccus, S. 243 weist auf Hör. carm. 4,6,29f hin: »Spiritum Phoebus mihi, Phoebus artem/carminis nomenque dedit poetae« (Anklang an Apoc. 1,10: »in spiritu«). Die Evokation des Unwetters findet ihre Entsprechung in Apoc. 10,3; Apolls Aufforderung, »mellitam quere poesim«, könnte ein Nachhall von Apoc. 10,10 sein: »Et accepi libellum de manu angeli et devoravi eum, et erat in ore meo tamquam mei dulcis«. Einen weiteren szenischen Rahmen, der hier assoziiert sein könnte, stellt die Übergabe der Zehn Gebote an Moses auf dem Berg Sinai (Exod. 19,16ff.) dar. Analoge Elemente sind hier die Beschreibung des Unwetters, die göttliche Epiphanie, vor allem aber Stiftung und Übergabe schriftlich fixierten Normwissens in Gestalt der Gesetzestafeln. V. 87: »Publicus vt doctos adeat meus iste libellus/Te iubeo pressas finge sub ere notas«. Als solcher figuriert er im zitierten Vergleich: Die Ankunft des Gottes zeigt sich in der Rückkehr der Sonne, die dieser im Modus einer >allegoria physica< verkörpert (v. 73-76): »Sed sua per sudum reparat cum lumina Phoebus/Et reduci darum
40 samt zum Handlungsrahmen einer genuinen Aufbruchssituation transformiert ist. D i e Elegie schließt mit einer Wendung an den Adressaten Friedrich, dessen besondere Eignung und Disposition zur Verslehre mit dem Hinweis auf seine Nativität erklärt wird. 93 Das poetische Horoskop des Mäzens, das Celtis an dieser Stelle im Rekurs vor allem auf Manilius entwirft, bezieht so erneut spielerisch den Adressaten in die Grundlegung der Lyrik ein. D i e beteiligten Himmelskörper begründen vor allem Friedrichs Neigung zum erotischen >lusus< wie zum lyrischen Gedicht als gesanglicher Form. 94 Namentlich das Sternbild Zwillinge prädestiniere zu Gesang und Lyrik, 95 während Venus schließlich die erotische Komponente beisteuere. Sie sei es auch, die nach dem Prinzip der Melothesie 9 6 den Körper Friedrichs >erschaffen habedocta poesisZwillinge< (v. 91f.): »Te gemini aspiciunt: vitale caducifer astrum/Et venus assurgunt: hec genitura tua est«. V. 93f.: »Per varios cantus gemini modulataque verba/Et gracilis calamos te friderice trahunt«. Damit wird eine Formulierung des Manilius zitiert, dessen Werk sich so einmal mehr als erste Referenz in astrologicis (noch vor einer Rezeption des Ptolemaeus) erweist (Manil. 4,152-154): »Mollius e Geminis Studium est et mitior aetas/ per varios cantus modulataque vocibus ora/et gracilis calamos et nervis insita verba«. Ebenfalls auf >poema lyricum< und >Musa iocosa< hin interpretiert Celtis die Stellung Merkurs, der im Gefolge des Horaz (carm. 1,10,1: »Mercuri, facunde nepos Atlantis«) zum Garanten der »facundia« wird. Dieselbe Ode feiert den Gott als »curvaeque lyrae parentem« (ebd. 1, 10, 6), eine Wendung, die auch in der Apollo-Ode präsent ist. Schäfer: Ode an Apoll, S. 92. Celtis setzt also in geläufiger Weise die mythologische Figur mit dem Planeten gleich. Zur Technik vgl. Kap. 7.2. Melothesie bezeichnet »die Idee, daß der Mensch ein Abbild des am Himmel im Tierkreis hingelagerten Gottes Kosmos ist und alle Kräfte des Kosmos in sich trägt« (Boll/Bezold: Sternglaube, S. 136). Beschrieben wird das Prinzip der Melothesie bei Manil. 2,453-465 und 4,704-710; Ptolem. Tetrab. 3,12 (ed. Robbins S. 319-321). Die Formulierung des Poema greift Celtis in Am. 2,5 wieder auf, wenn er das Horoskop Elsulas deutet (Am. 2,5,79).
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2.4. >Quare et qui poete legi debeant.< Zur gesellschaftlichen Pragmatik der Dichtung Die Analyse der vorgestellten Texte aus den Rahmenpartien der Ars versificarteli hat den spezifischen Neuheitswert der Schrift gegenüber ihren spätmittelalterlichen Vorgängern, aber auch gegenüber den meisten ihrer Nachfolger deutlich werden lassen: Er besteht im wesentlichen in der Etablierung einer doppelten Ebene zwischen metrischer Unterweisung und epideiktischer Begründung der Dichtung, zumal der Lyrik. Dieser Doppelcharakter der Ars versificandi ist nicht nur deshalb bemerkenswert, weil er in den vergleichbaren Metrikkompendien etwa eines Jakob Wimpfeling nahezu ohne Parallele ist. Er stellt zudem den singulären Versuch dar, eine für den internen Gebrauch bestimmte Elementarschule des Versifizierens epideiktisch zu erweitern und unmittelbar auf Bedürfnisse und Interessen des fürstlichen Mäzens zu beziehen. Aus der Enge der Schulstube findet die Ars versificandi so immer wieder den Weg in die weite Sphäre von Öffentlichkeit und Repräsentation. Diese gleichsam exoterische Dimension der Schrift, die der in den Gedichten des Anhangs noch um die Ebene humanistischer Geselligkeit und Freundschaft erweitert wird, zeigt sich an einem weiteren Exkurs, der solche Bemühungen um öffentliche Wirksamkeit und Anerkennung eindrücklich belegt. Nach der Behandlung der Silbenquantitäten (Fol. Β 2 r - C lv) und vor dem Abschnitt »De preeeptis artis in generali« rückt Celtis eine Erörterung ein, mit der er sich erneut persönlich an den Widmungsadressaten der Ars versificandi wendet. Er verläßt damit einmal mehr den rein technischen Bezirk der Verslehre, in dem die Person des Adressaten weitgehend ausgeblendet bleibt, 97 um wiederum zur epideiktisch-panegyrischen Ebene von Widmungsvorrede und Einleitungselegie zurückzukehren. Die Partie trägt den Doppeltitel: »Quare et qui poete a nobilibus legi debeant«, 98 aus dem hervorgeht, daß Celtis die folgenden zwei Abschnitte unter eine gemeinsame Perspektive, die einer prinzipiellen Begründung der Dichterlektüre, stellt. Wird deren Legitimität zunächst grundsätzlich (»quare«) erörtert, so folgt in einem zweiten Schritt eine Vorstellung der einzelnen Genera (>poematum varietasmit gleichen Prämien wie die Sieger zu dekorierenlaureatio< gedruckt erscheinen, immer wieder auf diesen öffentlichen Radius der Dichtung abheben und das exemplarische Verhältnis zwischen Horaz und Augustus als Folie für die eigene Stellung gegenüber dem Mäzen nutzbar machen. An zahllosen Stellen der Ars versificandi wie des Proseuticum wird 100 101 102 103
Worstbrock: Konstitution, S. 15f. Barner: Studia toto amplectenda pectore. Fol. C lv. Damit greift Celtis einen Topos auf, den Petrarca in Krönungsrede und Krönungsurkunde geprägt hatte, und der seitdem in den verschiedenen Krönungsprivilegien der humanistischen >poetae laureati< immer wieder begegnet. Worstbrock: Konstitution, S. 15f. Zum Topos selbst Wilkins: Krönung Petrarcas, S. 135f. und S. 141.
43 dabei das Herrscherlob als eigentliche Aufgabe und Verpflichtung der Krönung betont. Daneben soll Dichtung aber vor allem für die Ausbildung der Jugend in der Kunst der Rede bedeutsam werden. Die sozialdisziplinierende Funktion wohlgeformter Rede beschwört Celtis dabei mit einem Locus classicus humanistischer >laus eloquentiaeAberwie wenn unter einer großen Volksmenge oftmals ein Aufruhr ausbricht, das rohe Volk rast, es fliegen bald Flammen und Steine und blindes Wüten führt die Waffen: wenn sie dann einen Mann erblicken, erfurchtgebietend durch seine Hingabe und Verdienste, dann schweigen sie, stehen mit gespitzten Ohren, und er lenkt sie mit seinen Worten und besänftigt ihr HerzEloquentia< erscheint in dieser elitären Vision rhetorischer Machtausübung als Herrin und Führerin über eine profane Menge, deren ziel- und vernunftlose Bewegungen (>furorenarrator poetarumofficium< ins Feld führen. Beide Figuren, der Redner der Vergilischen Aeolus-Szene wie der thrakische Sänger, stehen für eine auf Sinne und Emotionen der regel- und vernunftlosen Masse einwirkende Wortkunst, die sich in prästabilierter Harmonie mit dem rhetorischen Grundprinzip eines >permovere et flectere< befindet. 1 0 9 Als Instrument der Seelenleitung ist ihr der Aspekt der Machtausübung eingeschrieben, der den Dichter zum Lenker und Zivilisator der Menschen prädestiniert. 110 Diese psychagogische Wirkung der geformten Sprache betont Celtis wiederholt als genuine Funktion der Dichtung gegenüber anderen Fächern, 111 diese war es im besonderen, die eine Ausbildung angehender Staatsdiener in jeglicher Form sprachlicher Versiertheit empfehlen mußte. 108 109
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Fol. C lv. Die Formulierungen des zitierten Passus erinnern daher nicht von ungefähr an die berühmte >laus eloquentiae< zu Beginn von Ciceros De oratore (1,30): »>Neque vero mihi quicquam< inquit >praestabilius videtur, quam posse dicendo tenere hominum [coetus] mentis, adlicere voluntates, impellere quo velit, unde autem velit deducereeloquentia< seien die ursprünglich verstreut und »ferino more« (v. 32) lebenden Menschen erstmals in Städten zusammengekommen. Die Bedeutung der gesellschaftsformierenden Kraft des wirkenden lyrischen Wortes wird Celtis auch im Kontext des Druidenmythos in Od. 3,28 ausführen. Dazu Kap. 6.4. In der Ingolstädter Rede weist er ihr daher zwar die Lehre und Vermittlung moralwie naturphilosophischer Gegenstände zu, relativiert dies aber sogleich, indem er den Eigenwert des Dichterischen an die Außenseite des Wortes verlagert (Oratio 20): »Quae (sc. philosophischen Inhalte) licet omnia etiam ab aliis fieri possint, tarnen nescio, quomodo et misericordia et omnis animi suscitatio et repressio in manu oratoris et poetae sunt«.
45 Wenn hier gebundene und ungebundene Rede unter dem Begriff der >eloquentia< konvergieren, so verweist dies einerseits auf eine Tradition rhetorischer Poetik von der Antike bis ins 18. Jahrhundert, welche keine systematischen, allenfalls graduelle Unterschiede zwischen beiden Feldern anerkennt. 112 Andererseits vermag es Celtis mit einem derart integrativen Konzept auch noch die Lyrik, die in Vorrede und »Poema ad Fridericum« ausdrücklich als >lusus< bestimmt worden war, in jene pragmatische Funktion öffentlicher Rede einzubeziehen und so für den gesellschaftlichen Ernst zu retten und verwertbar zu machen. Abstrahiert von jedem konkreten Inhalt und auf ihre formal- und wirkästhetische Funktion reduziert erweist sich Wortkunst somit als disponibel für jedweden Gegenstand und Bereich, namentlich für eine Disziplinierung des ignobile vulgus.< Die thematische Universalität der Dichtkunst, wie sie Celtis im Abschnitt »De compositione materiali carminum« implizit, später in der Ingolstädter Rede explizit behauptet, ist ihrerseits Teil dieser Ambivalenz: Einerseits empfiehlt sie die Disziplin einer allseitigen Instrumentalisierung, andererseits jedoch weist sie ihr keinen festen Ort in einer Hierarchie der artes zu, zeichnet sich doch geformte Rede in gebundener wie ungebundener Form Cicero zufolge gerade dadurch aus, daß sie >durch keine Grenzmarken einen Eigenbereich definiert.^13 Auf der anderen Seite impliziert diese Unbestimmtheit aber auch ihre prekäre Orts- und Funktionslosigkeit im Gefüge von Gesellschaft und Bildung, der sich der Humanist vor allem außerhalb des akademischen Systems gegenüber sieht. Die Ingolstädter Rede und noch mehr die sie begleitende Panegyris sind daher als Versuch zu deuten, diese strukturelle Aporie der studia im etablierten universitären Bildungssystem durch neue Funktionszuweisungen aufzulösen und namentlich der >eloquentia< eine formale Schlüsselfunktion innerhalb des Studiums insgesamt - nicht nur dem der artes - zuzuweisen. 114 Eine funktionale Bestimmung von Dichtung wie Dichter ist freilich im frühmodernen Kontext nur auf dem Weg heteronomer Zuordnungen möglich, unter denen sich in den Paratexten der Ars versificarteli die Bereiche von Herrschaftsrepräsentation, Moraldidaxe, sprachlicher Propädeutik in öffentlichem Rahmen oder - und dies mußte das schwächste Argument bleiben - eines unverbindlichen Zeitvertreibs für herrscherliche Ruhestunden abzeichnen. Der eben diskutierte Abschnitt der Ars versificandi steht freilich noch ganz am Ausgangspunkt solcher Perspektiven, in die Celtis dann mit der Amores-Vonede auf breiter Front eintreten wird. Zunächst bleibt es bei der Konzentration auf die »vis eloquentiae« als einer Form begütigender Einwir-
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Spätere Differenzierungskriterien stellt Fischer: Gebundene Rede, S. 6 1 - 8 3 zusammen. De orat. 1,70. Dazu Kap. 3.
46 kung. Ein erstes Mal wird dabei die später so oft betonte Verbindung von Weisheit und Redekunst als Staatsziel proklamiert: Summa profecto res illa erat et pene diuina in administranda eorum república, vt sapientie summam eloquentiam qua vrbs et orbis regebatur coniungere studuerint: hinc publica illa comediarum tragediarumque spectacula: Quibus sublimi persuasione remotisque inuencionibus poete spectantium ánimos ad virtutes inflammabant et pubescentem iam indolem a vicijs deterrebant: vt quid patrie: quid amicis: parentibus: hospitibusque deberent: viuis exemplis acciperent. 115 Es war nun tatsächlich höchstes, beinahe göttliches Ziel ihrer Staatsverfassung, sich darum zu bemühen, die Weisheit mit der vollkommensten Redekunst zu verbinden, durch welche die Stadt Rom wie der Erdkreis beherrscht werden konnte. Dies war also der Grund für die Aufführungen von Komödien und Tragödien, mit deren Hilfe durch erhabene Suggestion und ausgeklügelte Einfälle die Dichter ihre Zuschauer zu Sittlichkeit antrieben und die eben Heranwachsenden von Verfehlungen abschreckten. Auf diese Weise sollten sie anhand von lebendigen Beispielen erfahren, was sie ihrem Vaterland, ihren Freunden, Eltern und Gastgebern schuldig waren. Wenn Celtis hier dem Drama besondere Aufmerksamkeit zuwendet, so liegt dies einerseits auf einer Linie mit spezifischen Interessen des frühen Humanismus in Deutschland, in dessen Umkreis Programmkomödien wie Wimpfelings Stylpho,
Bebels De optimo studio iuvenum
oder Reuchlins Stücken eine
besondere Rolle für die Verbreitung der neuen Bildungsideen zukommt. A n dererseits deutet die Empfehlung des >Seneca tragicus< als Modellautor, welche ein Jahr später in der Vorrede der Seneca-Edition an Magnus von Anhalt fast wörtlich aufgenommen wird, auf Celtis' frühe und eingehende Beschäftigung mit dem römischen Dramatiker hin. 1 1 6 D e r Hinweis auf das Drama schließt so auch den auf die Moraldidaxe ein, die für eine Integration der
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Fol. C lv. BW Nr. 6, S. 13: »Quod profecto tam sublimi persuasione ad virtutes infiammai, ut celerius quisque sceleratus ad bene beateque vivendum expergiscatur. Ita vero a vitiis absterret, ut detestata vilitas nauseam pariat«. Zu Celtis' Einsatz des antiken Theaters im Unterricht vgl. Rupprich in: BW Nr. 144, S. 239 Anm. 3. Vor allem die Tragödien Senecas wertet er als plastische Darstellungen allgemeiner moralischer Lehrsätze, wie neben der Vorrede zur Seneca-Edition auch eine erhaltene Vorlesungsankündigung verrät (epigr. 2,82,lf.; 7f.): »Femíneas quicunque cupis cognoscere fraudes,/Dum (Ha: cum) stimulât tecum (Ha: coecum) pectus amica Venus [...]. Hoc Senecae nobis quarta tragoedia scribit,/Quae digna est multa sedulitate legi«. Neben das Programm der Horaznachfolge tritt in der Vorrede zur Seneca-Ausgabe der Anspruch, auch den Seneca tragicus nach Deutschland (zurück-)gebracht zu haben (BW Nr. 6, S. 12): »Cum itaque novum litterarum genus (quod tragoedias vocant regum ducumque casus figurans) nuper ad Almanos referrem«. In der Vita der Sodalitas Rhenana, die in ihrem Kern in die Mitte der neunziger Jahre zu datieren ist, wird Celtis dezidiert als Restitutor des antiken Dramas bestätigt: »Primus comoedias et tragoedias in publicis aulis veterum more egit« (BW Nr. 339, S. 611). Zum Projekt der Seneca-Ausgabe insgesamt Kemper: Seneca-Ausgabe; Tschiedel: Teatro.
47 heranwachsenden >nobiles< - nur an diese Schicht ist hier gedacht 1 1 7 - in die Gesellschaft sorgen soll. Im stellvertretenden Spiel auf der Bühne soll den Zuhörern so ein >überzeugendes< Bild des realen Lebens eröffnet werden, im Drama gewinnt die Dichtung endgültig die Statur eines gesellschaftlichen Propädeutikums. N e b e n dem »poema tragicum« ordnet Celtis auch die Lyrik pädagogischen Funktionen unter. A n beiden Gattungen, so suggeriert er seinem Mäzen, müsse dieser besonderes Interesse haben: Recte igitur dux indite persuasum habes: quod in poetas non paruo amore ferues. Líricos tragicosque preter alios miraris. Quibus tanta sudat eloquentia: vt nullibi aliorum pace dixerim maior suauiorque nascatur lingue eruditio. Nam et miro artificio insita quadam carminis dulcedine in laudes virtutum assurgunt. Iamque cadentes vicia effulminant. Plenique iocunditatis et gracie sunt: et ad linguam expoliendam: ingeniumque excitandum vehementer iuuare possunt. 118 So hast du, erlauchter Herzog, die rechte Überzeugung gewonnen, wenn du den Dichtern große Zuneigung und Liebe entgegenbringst. Besonders verehrst du die Lyriker und Tragiker, aus denen solche sprachliche Qualitäten hervorquellen, daß ich die anderen mögen mir verzeihen - behaupten möchte, aus keiner anderen Quelle erwachse eine größere und willkommenere sprachliche Bildung. Denn einerseits erheben sie sich durch ihre wunderbare Kunst, in welcher der Wohlklang des Liedes wohnt, zum Preis der Sittlichkeit, andererseits wiederum fahren sie nieder und geißeln Verfehlungen. In reichem Maße gewähren sie Freude und Anmut und können erheblich dazu beitragen, die Sprache zu verfeinern und den Geist zu wecken. Celtis resümiert hier noch einmal die wesentlichen Intentionen der Dichtung, die nunmehr neben dem >prodesse< auch das ästhetische >delectare< enthalten. 1 1 9 In erster Linie aber werden die beiden Gattungen der Sprachausbildung zugeordnet, neben die gleichberechtigt die Moraldidaxe treten soll. Damit beendet Celtis an dieser Stelle die summarische Erörterung, >warum Dichter gelesen werden sollen·«, um dann d e m zweiten in der Überschrift enthaltenen Aspekt, der Auswahl der Autoren und mithin Gattungen, nachzugehen.
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Diese Einschränkung auf den Kreis der Nobilität durchzieht Celtis' Werke allenthalben. Sie spiegelt eine »Aristokratisierung der Universität« wider, die in Deutschland Ende des 15. Jahrhunderts beginnt und sich konsequent ins 16. Jahrhundert fortsetzt. Kurz di Simone: Zulassung. Dies zeichnet sich deutlicher noch in der Ingolstädter Rede ab, wo Celtis immer wieder die >nobilitas< seiner Adressaten beont, gegnerische Personen und Positionen als solche des >vulgus< diskreditiert und den Wert der studia dezidiert gegen den traditionell adliger Betätigungen verteidigt (etwa oratio 13). Den universitären Kontext, auch über Ingolstadt hinaus, stellt dar Müller: Universität und Adel. Fol. C lv. Die Bestimmung »plenique iocunditatis et gracie« nach Quint, inst. 10,2,96.
48 2.5.
>De c o m p o s i t i o n e m a t e r i a l i carminumdas Ganze der Menschenwelt, alle Erscheinungen der Natur, das innere Wesen der Dinge, Geist und Seele des Menschen< zu umfassen 1 2 4 und auf das vermeintliche >Weltgedicht< der Amores und seine Themenvielfalt vorauszuweisen schien. Zum anderen die Festlegung der Poiesis auf eine >Verlebendigungpoeta crea t o r oder dem einer poetischen >creatio ex nihilo< herzustellen, wie sie in Italien namentlich Landino und Ficino mit großer Resonanz vertreten hatten. 126 Weniger jedoch aufgrund solcher philosophischer Anbindungen, die im einzelnen eher zu korrigieren sind, als wegen der relativen Eigenständigkeit, mit der Celtis seine Thesen in » D e compositione materiali carminum« zusammenfaßt, nimmt der Abschnitt eine Sonderrolle ein. Einerseits nämlich lassen sich für ihn, anders als für die meisten der prosodischen Teile, keine unmittelbaren Vorlagen ermitteln. Andererseits finden sich, sieht man auf den zeitgenössischen Diskussionsstand, kaum vergleichbare Versuche, den poetischen Produktionsvorgang ähnlich systematisch nach seinen Stadien und >officia< zu beschreiben. 1 2 7 So erschöpfen sich etwa Wimpfelings vergleichbarer Metriktraktat {De arte metrificandi libellus),128 eine der verstech124
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Worstbrock: Ars versificando S. 475. Entner: Dichtungsbegriff, S. 354 sieht, wohl zu sehr systematisierend, in der Themenliste die drei Gebiete »Geschichte, Erdbeschreibung, Philosophie (einschließlich Naturwissenschaft)« versammelt. Worstbrock: Ars versificandi, S. 475. Im Tenor ebenso Entner: Dichtungsbegriff, S. 353. Vor allem Asmuth: Anfänge, S. llOf. Zum Konzept insgesamt Lieberg: Poeta Creator; Tigerstedt: Poet as Creator; Heninger: Touches S. 287-324 (>The Poet as Makerinventio< zu, ein Umstand, der sich ohne weiteres im Vergleich zur expliziten Definition der >inventio< in der Epitoma in vtramque Ciceronis rhetoricam abzeichnet.151 Auch hier rücken >res< und >verba< im Stadium der (Er-)findung des Gegenstandes eng zusammen, enger sogar, als dies in den zugrundeliegenden antiken Quellen, der Herennius-Rhetorik und Ciceros De inventione, der Fall ist.152 Für Celtis impliziert also bereits die >inventio< beide Seiten des Arbeitsprozesses, das Konzeptualisieren der Gegenstände ebenso wie ihre durch das vermittelnde Äquivalenzgebot des >aptum< geregelte sprachliche Fassung. Richtet sich dabei die Findung auf den substantiellen Kern eines eigentlichen Ausdrucks der Gegenstände, so erscheint deren elokutionelle Ausstattung als Akzidens und Addendum, als Hülle, >Kleid< oder Schmuck, das sich um diesen Kern eines sprachlichen >proprium< lagert, in dem, so die meist unausdrückliche Prämisse, der aufgegebene Gegenstand ohne poetisch-translatorischen Rest transparent würde.153 Bezieht man in der Epitoma noch die >elocutio< bzw. >exornatio< ein, so sind (abgesehen von der Metrik) alle rhetorischen Felder versammelt, die auch in »De compositione materiali carminum« vereint sind. Rhetorische 150 151
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Ebd. III Kap. 1 ed. Deitz S. 60: »Verba ipsa et partes sunt et materia orationis«. Dort definiert Celtis im Zusammenhang des Kapitels »De partibus orationis«: »Est autem inventio uerborum et rerum apta negocijs excogitatio« (Fol. Β 2r). Cie. inv. 1,9: »Inventio est excogitatio rerum verarum aut veri similium, quae causam probabilem reddant; [...] elocutio est idoneorum verborum [et sententiarum] ad inventionem accommodatio«. Exakt gleichlautend die Definition in Her. 1,3. Zu dieser Grundüberzeugung frühmoderner Sprach- und Dichtungsauffassung vgl. Drux: Opitz, S. 26-30; Dyck: Ticht-Kunst, S. 72 und 76; Fischer: Gebundene Rede, S. 188.
55 und poetische Wortschöpfung entsprechen sich strukturell, während die Dichtung lediglich als spezifisches >Instrument< die metrische Form aufweist. 154 Daß Celtis dieses rhetorische Produktionsmodell als umfassend gültig versteht, belegt ein poetologischer Brief an Sebald Schreyer, der dem Druck der Amores beigegeben ist. Im Hinblick auf die eigene Dichtung, deren Edition der Freund in einem Brief an den Dichter gefordert hatte, 155 benennt Celtis hier ausdrücklich die >officia< von >inventiodispositio< und >elocutio< als notwendige Durchgangsstadien auf dem Weg zur Vollendung Celtis spricht von >Entelechie< - eines jeden Werkes, bezieht dies aber dem Kontext nach auf die Amores-Dichtung im besonderen. 156 Sieht man auf die Definitionen der >inventio< in Ciceros De inventione und in der sog. Herennius-Rhetorik, so zeichnet sich Celtis' Eigenständigkeit bei der Bestimmung von >inventio< und >elocutio< deutlich genug ab. Im einzelnen lassen sich allerdings verschiedene traditionelle Formulierungen benennen, die in die Definition des dichterischen >officium< eingegangen sind. In ihrem Kern gehen diese auf Laktanz zurück, der im ersten Buch seiner Divinae institutiones feststellt: »Cum officium autem poetae in eo sit, ut ea quae vere gesta sunt in alias species obliquis figurationibus decore aliquo conversa traducat«. 157 Betont werden in dieser einflußreichen Definition die Pole der Authentizität des poetischen Vorwurfs, das nicht-Lügenhafte der Dichtung sowie der Übertragungscharakter des dichterischen Tuns, deren eigentlicher Schwerpunkt auf dem Gebiet des >ornatus< liegt. Der vielgelesene Traktat des Laktanz begründet eine über das Mittelalter 158 hinausreichende Filiation verwandter Definitionen, die sich mehr oder weniger mit dem Wortlaut der Ars versificandi berühren. Immer wieder, etwa in Heinrich Bebels 154
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So auch Salutati: De laboribus Herculis I Kap. 3 ed. Ullman S. 8f.: »Et quoniam versus est poete proprium instrumentum, quem suis partibus, hoc est pedibus, mensuramus atque componimus et non omnibus sed certis numeris alligamus«. BW Nr. 233. BW Nr. 270, S. 473: »Sed ut in formatione foetus fit, succisivo tempore, quod in omnibus rebus sapientissimum est per inventionis, dispositionis et elocutionis partes ad έντελεχείαν opera sua producunt«. Diese schulrhetorische Segmentierung des poetischen Schaffensprozesses bleibt bis ins 17. Jahrhundert Gemeingut der Poetik. Aus einer Vielzahl von Beispielen sei nur August Buchner zitiert, der die Elemente des Gedichts im zweiten Kapitel seiner Anleitung zur Deutschen Poeterey (»von denen Sachen/darauf ein Gedichte bestehet«) im Rekurs auf die >officia< von >inventiodispositio< und >elocutio< definiert, wozu als spezifische Differenz der gebundenen Rede die Versstruktur kommt: »Es bestehet aber ein jeglich Gedichte e r s t l i c h auf der Erfindung der Sachen /die da zubehandeln seyn; f ü r s a n d e r auf der Ordnung / in welcher sie ausgeführet werden sollen; D r i t t e n s auf der Rede; Und e n d l i c h den Vers oder Reim« (Zitiert nach Szyrocki: Poetik des Barock, S. 59). Div. inst. 1,11,24: >Da es nun aber Sache des Dichters ist, wahrhafte Geschehnisse mithilfe symbolischer Darstellungen und eines gewissen stilistischen Schmucks in andere Formen zu wenden und zu übertragene Vgl. Isid. Etym. 8,7,10; Zintzen: Grundlagen, S. 21 Anm. 51.
56 comoedia de optimo studio iuvenum,159 wird die Wendung des Laktanz aber auch fast wörtlich zitiert. Kleinere Modifikationen finden sich in der Definition Coluccio Salutatis, der die Gleichsetzung von Dichtung und epideiktischem Genus mit einbezieht,160 aber auch bei Petrarca, der die allegorische, verhüllende Schreibart als distinktives Verfahren der Dichtung aufnimmt.161 Was die Aufzählung potentieller Themen betrifft, so konnte Celtis aus vielerlei Quellen schöpfen. Ein wichtiger Anknüpfungspunkt dürfte hier ein Katalog gewesen sein, der sich im 14. Buch von Boccaccios Genealogie deorum gentilium findet.162 Die Frage des »officium poete« wird so zum Ausgangspunkt humanistischer Selbstbeschreibung in poeticis. Von Anfang an ist ihr dabei ein apologetischer Impetus eingeschrieben, der sich vor allem in der Berufung auf die Wahrheit des Dargestellten äußert, eine Wahrheit indes, die oft allegorisch »sub honestis operimentis et sacramentali quodam velamine« verborgen liegt.163 Vergleicht man den Wortlaut von »De compositione materiali carminum« mit den hier zitierten Definitionen, so zeichnen sich Celtis' selbständige Akzentuierungen deutlich ab. Einerseits reklamiert der ausgedehnte Themenkatalog durchaus selbstbewußt einen universellen Einzugsbereich der Dichtung, welche somit geradezu »die Gesamtheit des überhaupt anzustrebenden Wissens« einzuschließen scheint.164 Andererseits wird dem Lehrgehalt und der Textsorte Ars versificandi entsprechend ausdrücklich die metrische Gestaltung wie auch der Ornat hervorgekehrt. Bemerkenswert jedoch treten vor allem Celtis' eindringliche Kommentare zur produktiv-energetischen Leistung des Dichtens in den Mittelpunkt, eine Akzentuierung, die sich wie159
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Ed. Barner S. 62,6-8. In seiner Metrik übergeht Bebel den Passus, obwohl ihn seine Quelle, Laurentius Corvinus' Carminum structura, enthielt (Fol. [A 5]r): »Non enim res gestas effingunt poete [...] sed ea que gesta sunt in alienas species obliquis quasi quibusdam figurationibus [...] traducunt/ea tarnen lege vt non nimis abs re procedere videantur«. Zur Schrift Entner: Dichtungsbegriff, S. 361-365. Salutati: De laboribus Herculis I Kap. 12 ed. Ulltnan S. 67: (Poetae) »officium est figurato metricoque sermone composita laus et vituperatio movens et excitans specialiter fantasiam«; Schödlbauer: Entwurf, S. 61 Anm. 50. Petrarca: Rerum senilium 12,2: »Officium eius (sc. poetae) est fingere, id est componere atque ornare, et veritatem rerum, vel mortalium, vel naturalium, vel quarumlibet aliarum artificiosis adumbrare coloribus, et velo amoenae fictionis obnubere, quo dimoto ventas elucescat, eo gratior, quo difficilior sit quaesitu«. Steppich: Vorstellung, S. 45 Anm. 122; ebd. S. 44f. zur pädagogischen Funktion und zur Freude an der Entschlüsselung des Rätsels. Der Reiz des Versteckten wird neben dem Schutz vor Uneingeweihten immer wieder als Grund für die allegorische Verhüllung der Dichtung benannt. Klopsch: Dichtungslehren, S. 102f. Boccaccio: Genealogie 14,7 ed. Romano Bd. 2, S. 732: Der Dichter behandle »formas, mores, sermones et actus quorumcunque animantium, celi syderumque meatus [...] et nemorum umbras, atque discursus fluminum«. Auf diesen Passus verweist Worstbrock: Ars versificandi, S. 476. Zu Celtis' Boccaccio-Lektüre siehe oben Anm. 66; Hess: Typen, S. 480. Oratio 79. Entner: Dichtungsbegriff, S. 354.
57 derum mit Blick auf entsprechende Lehrsätze der Epitoma zu den Redeteilen >inventio< und >elocutio< erklärt. So wird sichtbar, daß Celtis' Bestimmung des »officium poete« bei aller Orientierung an einer auf Laktanz zurückweisenden apologetischen Formeltradition fast ausschließlich auf konzeptionelle Vorgaben des schulrhetorischen Systems zurückgreift, um den Arbeitsprozeß des Dichters, der hier vor allem als >versificatorcreator rerum< aufgefaßt ist, zu beschreiben. Es geht an dieser Stelle, anders etwa als in Petrarcas analoger, auf die semantisch-hermeneutische Funktion abstellender Definition 165 weniger um inhaltlich-semantische Reichweiten der Dichtung als um deren sprachliche Gestaltung, insbesondere um eine Evokation sinnlich-ästhetischer Qualitäten mit dem Ziel der >VerlebendigungLob und Verteidigung der Dichtkunst^ das seinerseits einen integralen Bestandteil der Poetiken bildet. 179 Noch Opitz wird in seinem Buch von der Deutschen Poeterey die >inventio< unter Rückgriff auf das Universalitätspostulat definie-
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Vergil verkörperte, gehört zu den grundlegenden Topoi seit der Spätantike. Ausführlich Klopsch: Dichtungslehren, S. 94-108; Curtius: Europäische Literatur, S. 215-217. Bezeichnend für das universelle Gelehrsamkeitsmodell des Humanismus ist es auch, wenn das Universalitätspostulat auch auf andere Künste, etwa die Malerei, angewandt wird. Hier zeigt sich nicht zuletzt die weiterhin unterstellte Strukturanalogie von >pictura< und >poesisBeschreiben< steht hier im poetologischen Denksystem einer m a lenden Dichtung< geradezu synonym für >dichten< oder >behandeln(de-)pingere< und >canere< im poetischen Kontext nahezu synonym verwenden. Ebenso praef. 9. Das Verb >describere< findet sich in den Überschriften zu Am. 1,15: »Ad Vistulam fluvium ortum et exitum eius describens«; Am. 3,1: »Hodoeporicon, id est itinerarium ex agro Norico ad Rhenum per Suevos et Bacenis silvam autumnaleque sidus describit« und Am. 4,14: »Navigationem ab ostiis Albis ad Tylen insulam aborta tempestate describit«. Klopsch: Dichtungslehren, S. 138f. Grimm: Gelehrtentum, S. 81 mit Stellen (Anm. 376) und S. 86f. Etwa Salutati: De laboribi4s Herculis I Kap. 3 ed. Ullman S. 18; Bruni: De studiis et litteris ed. Baron S. 14; Landino: Prolusione Dantesca ed. Cardini S. 358. Opitz: Poeterey ed. Schulz-Behrend 2,1, S. 360: »Die erfindung der dinge ist nichts anders als eine sinnreiche faßung aller sachen die wir vns einbilden können / der Himlischen vnd jrrdischen / die Leben haben vnd nicht haben / welche ein Poete jhm zue beschreiben vnd herfüer zue bringen vornimpt«. Auch bei Opitz steht dies in engem Zusammenhang mit den Gattungen. Die Stoffe sind vorgängig determiniert durch die einzelnen Genera. Ebenso Johann Peter Titz: Zwey Bücher von
60 Der Blick auf solche Kontinuitäten poetologischen Argumentierens führt folgerichtig zu einer Relativierung allzu emphatischer, vom systematischen Ort der Aussagen abstrahierender Einschätzungen. So hat die Forschung zur Ars versificandi bislang konsequent die Themenliste von »De compositione materiali carminum« nicht nur als Ausdruck eines neuen, genuin >humanistischen< Bewußtseins von der Würde der Dichtung gelesen, sondern auch versucht, in ihr ex post jenen philosophischen Universalanspruch der Amores wie das Konzept eines »integrativen Humanismus« wiederzufinden. So unterstellt etwa Entner Celtis' Katalog einen philosophisch-anthropologischen Systemwillen, der das Feld der >sapientia< nach allen Seiten erschöpft, »menschliche Sitten und Handlungen« ebenso veranschlagt wie »die Welt, in der der Mensch lebt; das Kosmisch-Überirdische, von dem er abhängt.«181 Schon der frühe Celtis wird so zum ersten Repräsentanten des Renaissancemenschen auf deutschem Boden, zur faustischen Existenz, die ergründet, »was die Welt im Innersten zusammenhält«.182 Bereits in der Ars zeige sich dieser Lesart zufolge jener >poeta philosophusElocutiocarmen figuratum< Wir können damit den Bereich der Gegenstände von Dichtung und die Frage nach dem Stellenwert der Ausführungen zum »officium poete« verlassen und 185
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Diese emphatische Auffassung der Elegien vertritt Wuttke: Humanismus, bes. S. 438f£ An diesem Umstand ändert auch die Tatsache nichts, daß die Elegie traditionell als thematisch weitgehend »offene« Gattung bewertet wird. Fol. C l v - C 2r; hier vor allem C 2r. Fol. C lv: »Quare vt carminum tibi genera elaborauerimus Placuit tibi etiam poematum varietatem a rebus scribendis adducere et demum pauca in artem composicionis perstrmgere«. Vgl. oben Anm. 145. Deutlich wird dieser systematische Zusammenhang bei Opitz, der von der »erfindung der dinge« unmittelbar zu den Gattungen übergeht: »Hier mußen wir vns besinnen / in was für einem genere carminis vnd art der getichte (weil ein jegliches seine besondere zuegehör hat) wir zue schreiben willens sein« (ed. Schulz-Behrend 2,1, S. 360). Daran schließt sich unmittelbar die Durchnahme einzelner Genera an. Fol. C lv: »Poema Elegiacum quo miserie animique passiones exprimuntur«. Fol. C 2r: »Poema Naturale quod rerum naturas causasque canit siderumque cursus exprimit: quale astronomicon Manilij geniticton (sic) Lucrecij cari«.
62 uns der Seite der äußeren Formung der Rede zuwenden. Im Rahmen der Verslehre geht Celtis hierbei von zwei Komponenten aus: der metrischen Form einerseits sowie der stilistischen Gestaltung der Rede andererseits. 191 Beide sind im Terminus >carmen< zusammengefaßt, der wie sonst die >verba< allein der Inhaltsseite der Rede entgegengestellt wird. So wird in der Definition des Dichtens (1) wie im gesamten Abschnitt eine Systematik der Termini und Zuordnungen entwickelt, in welcher der Prozeß des Hervorbringens (>effingereeloquentia< und >sapientia< im wesentlichen als Ikonisierungen von Forderungen darstellen, die Celtis in der Ingolstädter Rede sowie in der ihr zugeordneten Panegyris erhoben hatte. Wie sich auch für die Regionenholzschnitte (Kap. 4.1.4) sowie für Burgkmairs >Sterbebild< im Verhältnis zu Am. 4,15 zeigen wird (Kap. 7.3.), stehen sich Bild und Text bei Celtis nicht so sehr komplementär als vielmehr analog bzw. parallel-illustrativ gegenüber. So gilt hier, zumindest was die Programmatik betrifft, die im einen wie anderen Medium >illustriert< werden soll, nahezu uneingeschränkt das Gebot eines >ut pictura poesisphilosophia< auf ein Minimum. Ihre Disposition und Komposition ist, das werden die Bezüge vor allem zur Ingolstädter Rede belegen, ganz Celtis' Eigentum.
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3.1.2. >Translatio sapientiaePhilosophietranslatio sapientiae< von deren ägyptischen Anfängen 4 bis in die Gegenwart der deutschen Philosophen, für die hier Albertus Magnus - weniger wohl Albrecht Dürer selbst 5 - stehen. Das Konzept der >translatiosapientiaphilosophia< handelt, die auf ihrem historischen Stufengang durch die Kulturvölker keine substantielle Veränderung erfährt. >Philosophie< ist dabei nicht im Sinne einer personalen Disposition (>Weisheittranslatio< im Rahmen des Philosophia-Holzschnitts Lüh: Die unvollendete Werkausgabe, S. 8 4 - 8 8 .
108 tischen Diskurses, der in umgekehrter Richtung fordert, wiederum re-diskursiviert zu werden. So gilt mutatis mutandis auch für den Philosophia-Holzschnitt die rhetorische Logik des Argumentationssystems >laus sapientiae< bzw. >laus eloquentiae/poeticaetranslatio sapientiaetranslatio< impliziert dabei einen einsinnig-linearen Ablauf,8 fordert die chronologische Sukzession der einzelnen Stadien. Eben diese Voraussetzung erhebt auch der Holzschnitt: Mit ihrer (Er-)findung durch die Ägypter und Chaldäer tritt die Philosophie vorerst noch ohne Namen zu einem bestimmten historischen Moment in die Welt. Ihre weitere Entwicklung ist von da an bestimmt vom Vorgang des Transfers (>transferresenectus< führt. Anders jedoch als auf dem Titelblatt der Elegien, das zugleich als geographische Skizze und Lageplan der Amores dient, ist diese Orientierung nach Himmelsrichtungen auf dem PhilosophiaHolzschnitt nur indirekt enthalten. Schon Dürers Holzschnitt enthält jedoch den Gedanken einer Abfolge der vier »aetates«: Anders jedoch als im Schema der Amores erfolgt hier deren Sukzession gegenläufig: Ist Ptolemaeus als »senex« gezeichnet, so verjüngen sich die Repräsentanten der Weisheit und mit ihnen diese selbst von Stufe zu Stufe, so daß Albertus Magnus schließlich als junger Mann abbildet ist. Der Vorgang der >translatio sapientiae< in seinen vier Stationen ist nicht nur in der Abfolge der Philosophenvignetten bildlich festgehalten. Ausdrücklich beschrieben findet er sich in einem Schriftfeld am oberen Rand des Holzschnittes. In Anlehnung an Verse des Komödiendichters Afranius, den Celtis aus Gellius zitiert,9 wird hier Leistung und Aufgabe der vier in Frage kommenden Nationen für die Entwicklung der Philosophie beschrieben. 7 8 9
Worstbrock: Translatio artium, S. 13-15. Dazu ausführlich Kap. 2.6. Gell.13,8: »Vsus me genuit, mater peperit Memoria,/Sophiam uocant me Grai, uos Sapientiam«. Wuttke: Humanismus, S. 425. Celtis' Variation des Afranius-Zitats macht übrigens deutlich, daß er die Verse des Togatendichters nicht als metrische Gebilde wahrgenommen hat.
109 Sophiam me Graeci vocant, Latini sapienciam Egipcii et Chaldei me inuenere Greci scripsere Latini transtulere Germani ampliavere. >Sophia< nennen mich die Griechen, die Lateiner >sapientiatranslatio< bezieht und damit in die Sphäre kulturgeschichtlicher Bewegungen einholt. Wie die subscriptio am unteren Rand des Holzschnittes, so spricht hier die Philosophie in eigener Sache über sich und ihre Entwicklung: Das Schema der >translatio< impliziert hierbei die wesenhafte Einheit der Philosophie, die zwar unter verschiedenen Namen firmiert, dennoch aber auf ihrem Gang durch Zeit und Raum eine mit sich selbst identisch bleibende, kulturell invariante >philosophia perennis< darstellt. Diese Wesenseinheit der Philosophie, ihres Wissensbereichs und -umfangs findet ihre ikonographische Entsprechung in der Einheit der allegorischen Figur, welche die Stabilität des Traditionswissens unterstreicht. 10 Dies liegt in der Systematik des Kulturmodells einer >translatio artium< bzw. >sapientiae< begründet, das voraussetzt, »daß sich jede neue Kultur als Fortsetzung und Reinkarnation der einen Kultur versteht«. 11 Der Holzschnitt zeichnet für die Philosophie wie mutatis mutandis Apollo-Ode und »Poema ad Fridericum« für die (lyrische) Dichtung eine Vermittlungs- und Verkündigungsgeschichte, nicht eine Systemgeschichte beider basalen Bereiche von >sapientia< und >eloquentiatranslatioeloquentia< Ciceros betont wird. Vgl. Kap. 2.5. In einem anderen Abschnitt der Ars versificandi, den Celtis dann fast unverändert in die oratio einrückt (oratio 99£), wird gerade Orpheus, der Archeget des »lyricum carmen«, als Exponent der >eloquentia< gefeiert. Kap. 2.4. Ars Fol. C lv.
118 er seine Werke in der Vorrede ausdrücklich als Gegengabe und Danksagung für Maximilians Kollegstiftung bezeichnet. 33 Die Stiftung des Kollegs ist auch das neue Telos der Amores und ihrer »decennalis peregrinado«, das Celtis nach der Neuausrichtung des Druckes auf Maximilian in Am. 4,14 setzt. 34 Mit der Gründung der kurzlebigen Institution sind aber auch jene Ziele in greifbare Nähe gerückt, die Celtis ein Jahrzehnt zuvor programmatisch als Bestandteile eines neuen Bildungsideals postuliert hatte, dessen Verwirklichung zunächst noch innerhalb eines grundlegend reformierten universitären Fächersystems angestrebt war. Die Lösung eines autonomen Bildungsinstituts, errichtet kraft obrigkeitlichen Willens in unbestimmtem Verhältnis und Gegensatz zur Universität, unterstreicht, daß hier nicht primär an eine zurückgezogen-kontemplative Ausbildung aller eigenen Kräfte durch Dichterlektüre und philosophisches Studium gedacht war: Als königliche Stiftung mit entsprechenden Prärogativen und stellvertretendem Recht zur eigenen Dichterkrönung verpflichtete sich das Kolleg von Anfang an eng jenen staatlich-dynastischen Zielen, die Maximilian und sein Umfeld zur finanziellen Ausstattung des Unternehmens bewogen haben mögen. Solche aktuellen Kontexte erscheinen noch plausibler, wenn man auf die Stiftungsurkunde des Dichterkollegs blickt, die dem Druck der Amores als repräsentatives Dokument der nunmehr erreichten Würdenstellung mitgegeben ist.35 Neben der literarischen Verewigung von Nation und Herrscherhaus wird dem Kolleg und seinem Leiter die Unterweisung der Jugend in den »Rhomanae litterae« und der durch Maximilian restituierten >eloquentia< übertragen. Celtis referiert dieses Projekt einer »restitutio eloquentiae«, das auch die panegyrischen Abschnitte der Vorrede von 1502 bestimmt, noch zwei Jahre später im Widmungsschreiben zur Rhapsodia, welche im Anhang die poetischen »primitiae et experimenta« der jungen Kollegmitglieder enthält: Abeunti mihi superiori anno a maiestate tua, Caesar Auguste, (inter alia, quae mihi de tua divina historia et Inlustrata Germania conscribenda mandata dedisti) iniunxisti pro virili eniterer, ut ad archigymnasium tuum Viennense eloquentiam Rhomanam veteremque et solidam philosophiam inferrem. Eiusque rei gratia Conlegium poetarum, quo docti viri et ingenui adolescentes coalescerent te instituisse aiebas, subiungens pro nostrorum temporum foelicitate sapientiam cum eloquentia coniungere posse pulcherrimum institutum esse. O dignam Rhomano Caesare vocem et aeternis carminibus celebrandam [...] Interea clarissimorum adolescentum et aetate provectiorum ingenia quibuscumque potui illectamentis ad eloquentiam et philosophiam invitavi. 36 Als ich vergangenes Jahr von deiner Majestät, König und Augustus, Abschied nahm, da gabst du mir - neben anderen Anweisungen, die du mir hinsichtlich der Abfassung deiner glanzvollen Geschichte und der Germania illustrata erteiltest -
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Praef. 3. Dazu Kap. 4.1.3. Fol. Q 6v; abgedruckt in BW Nr. 266, S. 458-460. BW Nr. 306, S. 553.
119 den Auftrag, ich solle mich nach Leibeskräften bemühen, an deinem Wiener Erzgymnasium die römische Redekunst und die alte und wahre Philosophie einzuführen. Zu diesem Zweck, so meintest du, habest du das Dichterkolleg eingerichtet, um hier junge Gelehrte aus gutem Hause ausbilden zu lassen. Du fügtest hinzu, es sei ein wunderbares Projekt, entsprechend der glücklichen Zeitläufte die Philosophie mit der Rhetorik verbinden zu können. Welch ein Ausspruch, der eines römischen Königs würdig ist und verdient, mit unsterblichen Versen besungen zu werden. Unterdessen habe ich versucht, die edelsten und fortgeschrittensten Schüler mit allen verfügbaren Anreizen zu Rhetorik und Philosophie hinzuführen. Die Gründung des Dichterkollegs soll nicht nur dem Projekt einer Verbindung von >eloquentia< und >sapientiaphilosophia< dienen, der Akzent liegt dabei auch auf der Vermittlung lebenspraktischen Wissens, jener »bene et beate vivendi rationes«, die den Bezirk der >philosophia moralis< bezeichnen. D i e Stiftungsurkunde, deren Wortlaut in der Widmung der Rhapsodia widerhallt, betont daneben die Verpflichtung auf Repräsentations- und Bildungszwecke: Cum post susceptum divino auspicio Caesariae Maiestatis titulum officii nostri imprimis duxerimus ad ea singula animum intendere, quae et reipublicae nostrae decori et ornamento perpetuo fore arbitraremur et nationem nostram Germanicam ac domum Austriae, ex qua orti sumus, quantis possemus honoribus apud omnes gentes et posteritatem notas faceremus, id potissimum occurrit pro aeternitate litterarum necessarium in humanis rebus fore, ut populis et urbibus nostris Rhomanarum literarum gymnasia laudato ordine et Rhomano more statueremus, unde publicarum rerum moderatores ac rectores ut plurimum excellentes prodi(e?)re, qui veterani rerum gestarum lectione facti prudentiores, bene et beate vivendi rationes multa etiam experientia posteris scripsere.37 Da wir es, seit wir mit Gottes Segen den Titel einer kaiserlichen Majestät übernommen hatten, für unsere erste Pflicht hielten, uns vor allem den Dingen zuzuwenden, welche unseres Erachtens unserem Staat dauernden Glanz und Ruhm einbringen würden, und sodann unsere deutsche Nation und das Haus Österreich, dem wir entstammen, mit allen erdenklichen Ehren bei allen Völkern und vor der Nachwelt berühmt zu machen, so erwies es sich um des ewigen Fortbestands der Künste unter den Menschen willen als vordringlich, daß wir nach der viel gerühmten Sitte der Römer für unsere Völker und Städte Universitäten für die römischen Künste stifteten, aus denen möglichst befähigte Beamte und Führungspersonen hervorgehen sollten. Sie sollten in der Lektüre antiker Geschichtsschreibung Anleitungen über das rechte Leben finden, welche jene beruhend auf eingehender Erfahrung für die Nachwelt festgehalten haben. 38 D e n Worten der Stiftungsurkunde zufolge soll das Kolleg als Bildungsinstanz - »rhomano more« 3 9 - eine römische Tradition fortsetzen. 40 Gerade 37
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Ebd. Nr. 266, S. 459. Damit soll das Kolleg herbeiführen, was Celtis in der oratio fordert, nämlich die Verewigung der nationalen Gesta. Zum Verständnis des im letzten Teil offensichtlich verderbten Textes der Urkunde vgl. Wiener: Et spes et ratio, S. 83 Anm. 11. Vgl. praef. 3. Dies erinnert wiederum an die Aussage des Krönungsdiploms, die von einem Vortrag panegyrischer Dichtungen »nach antiker Art« gesprochen hatte (BW Nr. 7, S. 15; vgl. Kap. 2.2.). Die Etablierung antiker Rhetorik und Wissenschaft dient hier also unverstellt panegyrisch-repräsentativen Zielen. Vom Griechischen als unmittelbarem Bildungsziel ist hier ebensowenig die Rede wie auf dem Philosophia-Holzschnitt. Der Gedanke, daß auch die platonische bzw.
120 bzw. erst weil Maximilian - wie ihm Celtis auch in Am. 4,15 in den Mund legt - die Verbindung von Philosophie und Rhetorik oder, wie in der >praefatio< suggeriert, der Rückkehr der Musen als epochale Aufgabe begreift, erweist er sich der antikisierenden Titulatur »Caesar Augustus« als würdig, eine panegyrische Pointe mit handlungsleitender Kraft, die in guter Fürstenspiegeltradition die Realisierung dessen hochleben läßt, was erst durch das Hochleben initiiert oder weiterhin etabliert werden soll. Die Argumentation zielt hier wie schon in den fraglichen Abschnitten von Ars versificarteli und oratio streng auf die Sphäre staatlicher Bildung. Wie die antiken Staatslenker zunächst aus dem Studium der »litterae«, zumal der Werke der Historiographen, lebenspraktische Klugheit zogen, die sie dann durch eigene Erfahrung angereichert in ihren Schriften als »bene et beate vivendi rationes« der Nachwelt vermittelten, so soll das restituierte Studium von >eloquentia< und »Rhomanae litterae« ähnlich gesellschaftlichen Zielsetzungen verpflichtet bleiben. Maximilians Stiftungsurkunde läßt auf diese Weise das Kolleg zum philosophischen Propädeutikum mit pragmatischer Ausrichtung werden. Literatur hat, will sie als Bestandteil des offiziellen Curriculums Berücksichtigung finden, ihre lebensweltliche und propädeutische Relevanz im Hinblick auf staatspolitische und dynastische Ziele zu begründen. Ihr Verwendungsbereich beschränkt sich auf solche Themen, die in den Bereich lebenspraktischer Klugheit, mithin der Ethik fallen, auf die Celtis in der >praefatio< schließlich auch seine Liebesdichtung einzuschwören versucht. An erster Stelle rückt damit die schon in Panegyris und oratio geforderte Historiographie in den Mittelpunkt, die als »magistra vitae« kondensierte Erfahrung der Alten transportiert.41 Vor dem Hintergrund des »Collegium poetarum et mathematicorum«, welches das Ziel eines integralen, >sapientia< und >eloquentia< verbindenden Bildungsinstituts bereits im Titel trägt, finden auch eine Reihe ikonographischer Auffälligkeiten des Holzschnitts ihre Erklärung. So wurde zuletzt darauf hingewiesen, daß die je gegenüberliegenden Vignetten des Holzschnitts in einem von Dürer bzw. Celtis kalkulierten Verhältnis zueinander stünden. Darauf deutet etwa der Befund, daß die Vignetten strukturell analoge Aufschriften tragen (»Egipciorum sacerdotes et Chaldaei - Romanorum poete et rhetores« bzw. »Grecorum philosophi - Germanorum sapientes«). Weiterhin verweist die antikisierende Kleidung, die nur Ptolemaeus und Cicero/ Vergil tragen, auf die Zusammengehörigkeit beider Medaillons,42 die auf eine programmatische Koppelung von Astronomie (bzw. >mathematicama-
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griechische Philosophie bereits die Verbindung von sprachlicher Form und Gehalt angestrebt und verwirklicht haben könnte, bleibt ganz außer Betracht. Zur historischen Wirklichkeit des Kollegs und seines Fortlebens vgl. Graf-Stuhlhofer: Lateinische Dichterschule und ders.: Weiterbestehen des Wiener Poetenkollegs. Vgl. Lüh: Die unvollendete Werkausgabe, S. 83, der allerdings keine systematischen Schlüsse aus seinen Beobachtungen zieht.
121 thesiseloquentia< hindeuten, wie sie im Kolleg institutionell verankert war. 43
3.1.5. Zwischen >physica< und >theologiaTriformis philosophiatranslatio sapientiaescala artiumLeiterGedechtnusEhrenpforte< und des >Triumphwagenspractica< und >theor(et)ica< zu beziehen ist.60 Schon in der Consolatio ist so der Erscheinung der Philosophie eine Aura des Arkanen, Verrätselten und Uralten mitgegeben, die Boethius auch in seiner übrigen Beschreibung betont. Dieser Eindruck erfährt durch den Wechsel von Π zu Φ auf dem Holzschnitt eine weitere Steigerung, die sich durch die offenkundige intertextuelle bzw. interpikturale Differenz zu der weithin bekannten Darstellung des Boethius ergibt. 61 Klibansky/Panofsky/Saxl verstehen nun dieses Φ als Abbreviatur für >philosophia< und mutmaßen als intendierte Aussage »einen Aufstieg von der Philosophie zur Theologie«, 62 was insofern nicht überzeugt, als damit die Philosophie auf dem Holzschnitt gleich doppelt und dies auf zwei Hierarchieebenen - als Integrierendes und Integriertes zugleich - vertreten wäre. Immerhin unterstreicht die Hypothese zu Recht, daß auch das griechische Φ gegenüber der Consolatio eine Bedeutungsverschiebung erfährt, die Celtis'/ Dürers Konstrukt aus der systematischen Einteilung in >philosophia practica< und >theorica< herausnimmt. Wuttke hat in einer interessanten Deutung beide Buchstaben auf den sog. Mythographus Vaticanus III bezogen und als Ausdruck der beiden Lebensformen von >vita philargica< (voluptuaria) und >vita theorica< (>contemplativa< bzw. >speculativasapientia< an der Seite Gottes throne. Lüh: Die unvollendete Werkausgabe, S. 113£ Klibansky: Saturn und Melancholie, S. 400 Anm. 11. Wuttke: Humanismus, S. 406£ Widerlegung von Wuttkes Deutung des Holzschnitts bei Lüh: Die unvollendete Werkausgabe, S. 73t Anm. 49.
126 Thematik vertraut war, geht dabei nicht nur aus dem Reichsadler-Holzschnitt selbst hervor, sondern auch aus der Art und Weise, wie Celtis die Frage der Lebenswahl zwischen erotisch-elegischer Bindung und Bindung an Minvera bzw. Apoll zum durchgehenden Zentrum der Amores werden läßt.65 So sehr also das Thema der Lebensformen in Celtis' Werk verankert ist, so wenig fügt es sich doch in die Bildlogik des Philosophia-Entwurfs ein. Das gilt schon deshalb, weil die Frage nach der individuellen Lebenswahl den systematischen Zusammenhang durchbricht, der in der unteren Bildhälfte und durch die Subscriptio eröffnet wird. Wie eng diese auf die Substanz der Bildaussage bezogen ist, wurde bereits gezeigt, und so spricht es gegen Wuttkes Hypothese, daß aus der Redefiktion heraus nur über Teilbereiche der Philosophie, nicht aber über individuelle Lebensgestaltungen gesprochen wird. Diese Diskrepanz eröffnet sich vor allem dadurch, daß Wuttke das Epigramm nur allgemein als Beleg für Celtis' enzyklopädisches Philosophie-Verständnis wertet, nicht aber konsequent auf die konkreten ikonographischen Elemente bezieht. 3.1.5.3. >Gott und Naturscala artium< jedoch verschiedene Wissenschaften aufgeführt sind, dürfte Lühs modifizierte Lesart >physica< bzw. >theologia< das Richtige treffen. 67 Allerdings beläßt es Lüh in diesem Zusammenhang bei einem allgemeinen Hinweis auf die Bedeutung der »Elementarwelt« in Celtis' Denken, ohne auf den engen Zusammenhang Bezug zu nehmen, der das Programm des Philosophia-Holzschnitts an die Bildungsentwürfe der 90er Jahre, zumal an die Ingolstädter Rede, die Oden an Mommerloch und Fusilius sowie an die Vorrede zum Druck von Pseudo-Apuleius' De mundo rückbindet. Im folgenden soll daher im Rückgriff auf die genannten Dokumente die relative Kontinuität des Celtis'schen Wissenschaftsprogramms, das zugleich und primär ein Dichtungsprogramm ist, gezeigt werden. Dabei wird deutlich werden, daß die Bildlösungen des Philosophia-Holzschnitts nicht nur punktuell, sondern insgesamt als getreue Verbildlichungen von Passagen der genannten Texte zu gelten haben. Vor allem die Ingolstädter Rede wird sich in diesem Zusammenhang bis ins Detail hinein als Pendant der einzelnen Bildinhalte in ihrer Gesamtaussage erweisen. Eine Deutung der griechischen Lettern als >physica< (bzw. >physiologiatheologia< findet einen Rückhalt bereits in der Bildunterschrift, die sich 65 66 67
Dazu eingehend Kap. 5.5. Dodgson: Catalogue, Bd. 1, S. 282. Lüh: Die unvollendete Werkausgabe, S. 73.
127 als präzise Entschlüsselung des Gezeigten verstehen läßt: So bezeichnet ihr erster Vers (»quicquid habet Coelum quid Terra quid Aer et aequor«) unter Nennung der vier Elemente (die in den Zwickeln unter den Windköpfen bezeichnet werden) jenen intramundanen Bereich, auf den sich (nach aristotelischem Verständnis) die Physik konzentriert. Ihr Gegenstand sind alle Phänomene der (sublunaren) Natur (φύσις), daher ihre geläufige Bezeichnung als >philosophia naturalis^ Indes ist jedoch auch ihre Bezeichnung als >physica< bzw. >physiologia< in der gesamten lateinischen Tradition gebräuchlich. Cicero und Gellius belassen den Begriff sogar ausdrücklich in seiner griechischen Version. 68 Cicero übersetzt das griechische Fremdwort φυσιολογία dabei mit »naturae ratio«, während Gellius als Ziel der >physikoi< angibt, »mundi opera et principia naturae« zu erkunden. Dabei seien auch die Chaldäer, die Celtis in der Ptolemaeus-Vignette nennt, als Naturforscher in diesem Sinn bezeichnet worden. >Physiologie< in dieser Tradition stellt die Frage nach den ersten Ursachen, jenen »rerum causae«, die Celtis immer wieder als Anliegen in seinen Texten formuliert. Sie beschreibt die Welt des Sichtund Wahrnehmbaren in ihren Ursachen, welcher, wie Celtis selbst in einem Epigramm ausführt, der Bereich des >Unsichtbarenphilosophia naturalis< als Wissenschaft der Phänomenwelt beschränkt. Die hierarchische Zweiteilung der Wissensbereiche, von der epigr. 3,111 gesprochen hatte, kehrt wieder im Aufstieg der Künste von der Naturphilosophie zur Theologie, die am Ende der Stufenleiter, im Herzen der Philosophie endet. Im Fra68
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Cie. div. 1,90: »Druidae sunt, e quibus ipse Divitiacum Haeduum, hospitem tuum laudatoremque, eognovi, qui et naturae rationem, quam φυσιολογίαν Graeci appellant, notam esse sibi profitebatur«. In lateinischer Umschrift bei Gellius 1,9,7. Weiterhin Cie. nat. deor. 1,20; 1,41; D e div. 2,37. Epigr. 3,lll,3ñ: »Prima patent oculis sensuque suo capiuntur,/Altera non oculus, mens neque coeca videt«. Epigr. 2,81,13f.: »Seu logicen physicenque petas seu noscere morbos:/Interpres verax (Ha: verorum) hic tibi semper erit«. Ebd. v. 9f. Das Lob des Albertus Magnus ist kein Sonderfall im deutschen Frühhumanismus. Eine vergleichbare Aussage findet sich auch bei Ortwin Gratius: Oratio ed. Rupprich S. 154-157.
128 gen nach dem göttlichen Urprinzip und Primum movens im Verband der innerweltlichen Dinge, so die Intention dieses Bildelements, wird die Naturphilosophie zur ersten Philosophie und Metaphysik, die φυσιολογία zur θεολογία transzendiert. Das griechische Θ im >Herzen der Philosophia< steht somit entweder für θεός (Gott) oder für θεολογία, eine Zuordnung, die wiederum auf den Bereich des Göttlichen der traditionellen Philosophiedefinitionen verweist und in der Erwähnung des »feurigen Gottes« in der Bildunterschrift wiederkehrt.
3.2. Die Ingolstädter Rede Celtis hat die beiden Pole von Natur- und Gotteserkenntnis, zwischen denen vermittelnd die artes stehen, mehr als einmal als Eckpfeiler seines wissenschaftlichen Weltbildes hervorgehoben. Die deutlichsten Parallelen finden sich in jenen Dichtungen, die Celtis' Bemühungen um eine Reform des universitären Bildungsprogramms zeigen, vor allem also die Bestandteile des Druckes der Ingolstädter Inauguralrede (1492).72 Mehr noch: Der zentrale Bildgehalt des Holzschnitts im Umkreis von Physiologie, Theologie und ihrer Vermittlung durch die Dichtung kann geradezu als bildliche Repräsentation zweier Abschnitte der Rede (oratio 78-80; 106-112) gelten, die in nuce nicht nur Celtis' Philosophieverständnis, sondern auch die Funktion erhellen, die der eben berufene »poeta et orator« Celtis der Dichtung zwischen Naturerkundung, erster Philosophie und Propädeutik zumißt. In einem weiteren Schritt werden die Beobachtungen an der oratio durch einen Ausblick auf die weiteren Texte zu vertiefen sein, die den Druck der Rede zu einem planvollen Programm einer neuen, auch institutionell reformierten Bildung werden lassen.
3.2.1. Entstehung der Rede und Problemstellung Seit Dezember 1491 hält sich Celtis nach kurzem Aufenthalt in Prag und Nürnberg in Ingolstadt auf. Am 2. 2.1492 73 immatrikuliert er sich offiziell an der Universität Ingolstadt und erhält schließlich nach verschiedenen Querelen auf Fürsprache Tuchers 74 mit Beschluß vom 5.5.1492 eine Anstellung als außerordentlicher Professor für Poetik und Rhetorik, die zunächst auf ein halbes Jahr befristet ist,75 danach jedoch immer wieder verlängert wird. Seine 72
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Eine übersetzte und kommentierte Edition der Rede von Herrn Joachim Gruber (Erlangen) ist in Vorbereitung. Zu Celtis' Aufenthalt in Ingolstadt vgl. Bauch: Ingolstadt, S. 3 1 - 7 0 und Schöner: Mathematik und Astronomie, S. 233-246. BW Nr. 15. BW Nr. 31.
129 Lektur eröffnet er mit einem Kolleg über die >beiden Rhetoriken< Ciceros (De inventione und Rhetorica ad Herennium), für die er seine Epitoma in vtramque Ciceronis rhetoricam als Textgrundlage vorbereitet. In Ingolstadt bleibt Celtis - mit immer größer werdenden Unterbrechungen - bis zu seiner Berufung und Abreise nach Wien 1497. Bereits um die Jahreswende 1491/92 arbeitet der Dichter an einer programmatischen Inauguralrede, deren Entwurf er an verschiedene Freunde (Tucher, Johann Kaufmann) zur Begutachtung sendet. 76 Gehalten wird die Rede schließlich in Ingolstadt am 31.8.1492 vor versammeltem Auditorium. Obwohl Celtis' >Rede an die deutsche Nationeloquentia< bzw. >poeticalaus< bzw. >defensio poetices< bzw. der >laus artium< zu. 80 Untereinander bilden sie dabei ein weit verzweigtes Argumentationssystem, in dem ein begrenzter Vorrat fixer Motive und Topoi in immer neuen Arrangements begegnet. Anregend für Celtis' Rede haben in der einen oder anderen Weise vor allem die entsprechenden Texte eines Rudolf Agricola und eines Peter Luder gewirkt. Vor allem letzterer hat in seiner berühmten Heidelberger Antrittsrede, die Celtis durch Vermittlung Hartmann Schedels gekannt haben könnte, eine Vielzahl jener Zitate und Begründungen angelegt, die in Celtis' Text - aber auch in anderen vergleichba76 77 78
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BW Nr. 2 0 - 2 2 . Forster: Selections, S. 110. Editionen der Rede liegen vor durch Obermeier, Rupprich, Humula und Forster. Hier zitiert nach der Ausgabe von Rupprich. Arbeiten, die sich ausschließlich auf die Ingolstädter Rede konzentrieren, finden sich bislang praktisch keine. Kommentarmaterial bei Forster: Selections, S. 96-111. Krapf: Germanenmythus, S. 9 3 - 9 9 ; Müller: Germania generalis, S. 217-224. Noch immer unverzichtbar Curtius: Europäische Literatur, S. 530-541; ferner Entner: Dichtungsauffassung, S. 388-398; zusammenfassend Lüh: Die unvollendete Werkausgabe, S. 356-365; zur Systematik des >Argumentationssystems< vgl. die Arbeiten von Dyck und unten Kap. 4.1.1.
130 ren Reden - wiederbegegnen. 81 Nicht weniger bedeutsam sind auch die Reden italienischer Humanisten wie Bruni, 82 Guarino Veronese, Enea Silvio u. a., die teilweise schon Luder rezipiert. 83 Angesichts dieser Verhältnisse erübrigt sich daher der Versuch, in der Form eines Stellenkommentars die Provenienz einzelner Topoi zu beschreiben und systematisch zu inventarisieren. 84 Ausgeklammert wird weiterhin der nationale Aspekt der Rede, deren Bedeutung im Entstehungsfeld der Germania illustrata an anderer Stelle zu würdigen ist.85 Es geht hier vielmehr parallel zum Philosophia-Holzschnitt um die Bestimmung, welche Celtis der Dichtung innerhalb eines zu reformierenden Wissens- und Bildungssystems zuordnet. So wird zu betonen sein, wie Celtis die integrierende Funktion der >poeticaeloquentia< als Medium jedweder Philosophie einfordert und damit zugleich die eigene Rolle als »poeta et orator« innerhalb des universitären Gefüges zu etablieren bemüht ist. So geht es Celtis über die ganze Rede hinweg erkennbar darum, die institutionell untergeordnete Rolle der Dichter bzw. ihrer >enarratores< aufzuwerten und die studia als Leitdisziplin eines neuen Bildungskanons einzurichten, dessen potentielle Auswirkungen auf das bestehende fakultäre Fächersystem die Panegyris zeigt. 86 Der zentrale Gesichtspunkt, die Prämisse, »sapientiam eloquentiae coniungere« (oratio 99), stellt die Wortkunst, in deren Namen Celtis spricht, auch institutionell ins Zentrum einer neuen Bildung, die sich dezidiert gegen universitäre Besitzstände richtet. Konkurrenz und Ausschlußbewegungen richten sich hier vor allem gegen Theologen und >scholastische< Philosophen, deren Bildungshoheit Celtis in provokanter Weise auf die »poetae philosophi« bzw. »theologi« zu übertragen sucht. 87 In diesem Zusammenhang wird zu zeigen sein, wie der bekannte Topos einer >poetica theologia< zur Begründung sehr aktueller und konkreter Ansprüche instrumentalisiert werden konnte. 88
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Eine vergleichende Untersuchung der Bildungsansätze von Agricola und Luder anhand von deren universitären Inauguralreden hat Humula: Beiträge vorgenommen. Dort finden sich auch alle drei Texte ediert. Leonardo Bruni: De studiis et litteris (ed. Baron S. 5 - 1 9 ) . Einen Katalog von italienischen Vorbildern für Luders Inauguralrede hat Worstbrock: Konstitution, S. 12 Anm. 18 anhand von Müllner zusammengestellt. Einen Kommentar zur Ingolstädter Rede bereitet derzeit Herr Prof. Joachim Gruber (München) in der Anm. 72 erwähnten Edition vor. Dazu Kap. 6. Zu Aufbau und Praxis des artes-Studiums Meuthen: Die alte Universität, S. 113 — 119. Zum Verhältnis von humanistischer Innovation und universitärer Struktur vgl. Boehm: Humanistische Bildungsbewegung. Forster: Selections, S. 101. Ebd. S. 102.
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3.2.2. Philosophie-Begriff und Gegenstände der >sapientia< Obwohl die Ingolstädter Rede immer als Manifest einer humanistischen Bildungsinitiative beschrieben worden ist, fehlt ebenso wie im Fall des Philosophia-Holzschnitts eine exakte und philologische Bestimmung dessen, was affirmativ als »vera philosophia« von der »philosophia vulgaris« der akademischen Artistenfakultät abgehoben wird. Nimmt man die entsprechenden Stellen näher in den Blick, so zeigt sich, daß Celtis den Gegenstandsbereich der Philosophie konsequent zwischen Physiologie (»naturae inquisitio« u. ä.) und Theologie, zwischen >res naturae< und >res divinaephilosophia< - >aus Liebe zu Wissen und Weisheit< ihre Heimat und Familien verlassen und alle Anstrengungen auf sich genommen hätten, um durch eigenes Anschauen ihre theoretisch gewonnenen Erkenntnisse zu vertiefen. 89 Dies führt nun ins Zentrum von Celtis' Philosophieverständnis, wie es zunächst innerhalb der Rede, später auf dem Philosophia-Holzschnitt und in den Vorreden zur Apuleius-Ausgabe, aber auch in der Vorrede der Amores wiederkehrt. Auch dieser Bestimmung von Philosophie liegt die Übersetzung des Terminus als »amor sapientiae« zugrunde. Aufschlußreich ist jedoch die Präzisierung, die Celtis an dieser Stelle vornimmt, und die deutlich auf den Gehalt des Philosophia-Holzschnitts verweist. Die Bestimmung dessen, was hier als Quintessenz antiker Philosophie erscheint, wird in zwei Stufen vorgenommen. Zunächst ist die Grundaufgabe des »sapientiam acquirere« als Verpflichtung zur >aemulatio veterum< erhoben, während in einem zweiten Schritt das Feld dieses »Studium« differenziert wird. Zur Paraphrase des Leitbegriffs Philosophie dient nun die Wendung »in coelestium rerum et naturae inquisitionem amor«, womit deutlich jene beiden Teilbereiche der Theologie (>res coelestes< in Abwandlung von >res divinaenaturae inquisitioeloquentia< erfüllten die primär moralistische Aufgabe, »gute Taten zu loben und Untaten zu verurteilen«, weiterhin jedoch Trost zu spenden, anzufeuern und Zurückhaltung zu gemahnen. Celtis versteht die >eloquentia< in solchen Wendungen als Kunst affektivischer Einflußnahme auf den Zuhörer, denn nicht die Inhalte sind als ihr genuines Verdienst gezeichnet, sondern ihre emotive Vermittlung 90 sowie - das ist der zweite Aspekt der »utilitas eloquentiae et finis« 91 - ihre formalrhetorische Einkleidung. 92 Celtis bietet in diesen einleitenden Paragraphen seiner Programmrede Grundzüge seines Konzepts eines integralen Zusammenhangs von Philosophie und Sprachkunst, das in allen Aspekten dem Bildgehalt des Philosophia-Holzschnitts präludiert. Auch wenn das Ziel, >mit der Rhetorik die Philosophie zu verbinden^ erst später prägnant formuliert wird: Seine Ausführungsbestimmungen finden sich alle bereits im Exordium der oratio versammelt, so daß der Holzschnitt Punkt für Punkt seine Entsprechung in der Rede findet. Das gilt schon für die Etymologie des Begriffs >philosophiaphysiologia< und >theologia< auszurichten scheint. Hervorgehoben wird dabei vor allem der persönliche Einsatz der antiken Philosophen, die Bereitschaft, Mühen und langjährige Reisen auf sich zu nehmen. Es gehört zu diesem Verständnis von Philosophie als existentieller Lebensform, daß sie sich nicht in angestrengten Reflexionen und intensiver Lektüre< (oratio 11) erschöpft, sondern solch theoretisches Wissen an den Phänomenen selbst verifiziert. Die Überzeugung einer empirischen Überprüfbarkeit und Perfektibilität des tradierten Wissens rückt den Aspekt der Autopsie und der persönlichen Erfahrung des Erkennenden in neuartiger Weise ins Zentrum der Philosophie. 93 Wenn Celtis auf diese Weise die »peregrinatio« als unumstößliche Bedingung philosophischer Erkenntnis einfordert, so spricht hier der >Wanderhumanist< unverhüllt pro domo, während sich hinter einem solchen Idealbild andererseits die Beispiele eines Pythagoras und Piaton abzeichnen, die Cicero und anderen zufolge auf der Suche nach Erkenntnis bis ans Ende der Welt, unter anderem eben bis zu den »Aegyptorum sacerdotes« vorgedrungen seien. 94 Diese Auffassung einer Philosophie als nomadischer Lebensform bleibt durchgehend 90
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Oratio 20: »Quae licet omnia etiam ab aliis fieri possint, tarnen nescio, quomodo et misericordia et omnis animi suscitatio et repressio in manu oratorie et poetae sunt«. So die Marginalie des Druckes von 1492, zitiert in der Ausgabe von Forster S. 40 Anm. zu 22. Oratio 23. Zu Celtis' Philosophieverständnis sowie zum intrikaten Verhältnis von Empirie, >peregrinatio< und Autopsie bei einer Revision des antiken Wissens in der frühen Neuzeit vgl. Vf.: Dichtung und Landesbeschreibung. Cie. fin. 5,50: »Quid de Pythagora? quid de Platone aut de Democrito loquar? a quibus propter discendi cupiditatem videmus ultimas terras esse peragratas«.
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für Celtis' Wissenskonzept bestimmend. So wird die »zehnjährige Reise« zum basalen Argument, das die philosophische Dignität des Unternehmens einer erotischen Topographie begründen soll. Am deutlichsten wird dies in Am. 4,1 formuliert, einer Elegie, die sich schon im Titel als »laus peregrinationis« und Bekenntnis zum eigenen Augenschein als Voraussetzung philosophischer Erkenntnis gibt. 95 Wieder kann sich Celtis an dieser Stelle auf die Exempla Pythagoras und Piaton berufen, die ihm aus Ciceros Werken geläufig sind. Philosophische Erkenntnis ist hier in einem denkbar umfassenden Panorama des Wißbaren begründet, bezieht Celtis doch in der Vorrede den Ehrentitel eines deutschen Philosophen< (praef. 53: »hominem Germanum philosophiae studiosum«) in erster Linie aus den Vorhaben der Deutschlandbeschreibung, die allererst durch den eigenen Augenschein verbürgt sei. Bei all dem ist der selbsternannte Philosoph Celtis nicht denkbar ohne den Dichter. Das Projekt einer Verbindung von >eloquentia< und >sapientia< läßt beide Facetten schon in der Ingolstädter Rede immer enger aneinanderrücken, so daß mitunter geradezu die Grenzen zwischen den spezifischen officia beider Bereiche zu verschwimmen scheinen, etwa wenn Celtis »prisci philosophi,« Dichter und »oratores« in einem Atemzug als Vertreter der Philosophie nennt. 96 Vor allem aber finden sich immer wieder Wendungen, in denen Natur- und Gotteserkenntnis als Hauptkonstituenten der Philosophie erscheinen. Das Wissen um beide Bereiche greift indes zu kurz, wenn ihm nicht das vermittelnde Wort zu Hilfe kommt. So bleiben Philosophie und Wortkunst aufeinander angewiesen und sind in ihrer Bestimmung als pädagogische Kräfte nicht voneinander zu trennen. Dezidiert betont Celtis dabei, es sei die >eloquentiasich in die Betrachtung des Weltenlenkers und in die Natur selbst zu vertiefen.philosophia naturalisInitiation< in ein Allerheiligstes, in dem christliche und pagane Wahrheit sich durchdringen: deutlicher könnte die Entsprechung zum Bildentwurf des Philosophia-Holzschnitts kaum ausfallen. Die Erforschung der Natur eröffnet den stufenweisen Aufstieg zur >Weisheit des WeltenlenkersBarbara Cymbricavarietas< an Formen und Gedichttypen in diesem Buch weitaus stärker ausgeprägt als in den übrigen. Dazu Kap. 5.6. Kap. 7.2.1. BW Nr. 79, S. 131. BW Nr. 41, S. 70. Lüh: Die unvollendete Werkausgabe, S. 317f. Anm. 31 will am Beginn dieses Briefes weitere Anspielungen auf die Amores erkennen. BW Nr. 79.
164 Entsprechend enthält etwa die im selben Jahr 1494 erschienene Druckfassung des Schriftstellerkatalogs De scriptoribus ecclesiasticis des Sponheimer Abts Johannes Trithemius, mit dem der Dichter seit Anfang 1494 in brieflichem Kontakt stand,62 im Gegensatz zu einer im April 1492 entstandenen, Johann von Dalberg gewidmeten Fassung,63 bereits einen Celtis-Artikel, in dem zum ersten Mal Elegien- wie Odensammlung erwähnt werden. Schon hier scheint das Projekt in jener tetradischen Konzeption vorgelegen zu haben, die schließlich auch der Druck bieten wird. Trithemius spricht von »Amorum qui secundum 4 latera germaniae inscribuntur libri 4«.64 Die Anregung zur konzeptionellen Überhöhung »more Pythagoricorum« könnte Celtis die Begegnung mit Reuchlin in Heidelberg vermittelt haben.65 Spätestens 1500, wahrscheinlich jedoch schon Mitte der neunziger Jahre muß die Anlage in der Form vorgelegen haben, die sich praef. 6ff. entnehmen läßt. Beinahe wörtlich findet sich nämlich der Passus praef. 9. in einer eigenhändigen Abschrift der Celtis-Vita durch Hartmann Schedel, die sogar den biographischen Aspekt der Tetradenkomposition vor den nationalen und geographischen setzt.66 Zahlreiche weitere Indizien im Briefwechsel, die sich vor allem auf die Figur der Barbara und Celtis' »peregrinatio Codana« beziehen, legen nahe, daß die Amores in den Jahren vor der Jahrhundertwende, kurz vor und nach Celtis' Umsiedlung nach Wien, zumindest handschriftlich bekannt gewesen sein müssen. Für diese Annahme sprechen nicht zuletzt die sich häufenden Aufforderungen von Freunden, die begonnenen Werke endlich zu veröffentlichen.67 62 63 64 65
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Lüh: Die unvollendete Werkausgabe, S. 314. Arnold: Trithemius, S. 121f. Trithemius: De scriptoribus ecclesiasticis (in: Opera I ed. Freher, S. 390). Besonders ist hier an Reuchlins Buch De verbo mirifico und dessen Tetradenmystik zu denken, das Celtis in einer Ode (Od. 3,24) ausdrücklich feiert. Adel: Opuscula, S. Villi, zufolge ist das pythagoreische Viererschema im Gefolge Reuchlins schon für die Norimberga bestimmend. Ders.: Poeta laureatus, S. 14f. Celtis war mit Reuchlin seit 1492/3 befreundet. Zusammen mit Krachenberger hatte Celtis Reuchlin zuerst am Hof in Linz getroffen (BW Nr. 279, S. 508 Anm. 2; BW Nr. 279 ist ein Gedicht Reuchlins und Krachenbergers, das unmittelbar vor dem vierten Buch der Amores stehen sollte). Ein Brief Krachenbergers an Celtis aus Linz, datiert vom 13.4.1492, stellt Reuchlin als »vir totius litteraturae simul Graecae et Hebreae doctissimus« vor. Lüh: Die unvollendete Werkausgabe, S. 397-399 vertritt die These, die Figur des ehemaligen Epikureers und Weltreisenden Sidonius in Reuchlins De verbo mirifico sei nach den Zügen des Konrad Celtis modelliert. Clm. 434, Fol. 69v: »Scripsit in poetica libros amorum quattuor Secundum quattuor vite circuios ut pythagorici tradunt Et secundum quattuor etatum affectiones Et secundum 4°r Germanie latera«. Zitiert nach Lüh: Die unvollendete Werkausgabe, S. 314. Die Druckfassung der Vita, die als Einleitung zur Odenausgabe von 1513 erschien, übernahm die Formulierung wörtlich, ohne sie mit näheren Details aus der Amores-praefatio aufzufüllen. Zur Celtis-Vita jetzt zusammenfassend Lüh: Die unvollendete Werkausgabe, S. 314-316. Lüh: Die unvollendete Werkausgabe, S. 318. Ein besonders signifikantes Beispiel für den topischen und rituellen Charakter solcher Aufforderungen gibt der Brief
165 E i n e n wichtigen Markstein stellt dann die offenbar für das Jahr 1500 geplante, dann j e d o c h nicht realiserte dreibändige Werkausgabe dar, die zus a m m e n mit einigen Fragmenten der Österreichischen Nationalbibliothek 6 8 d e n Zustand des Projekts in der >Säkularphase< dokumentiert. E i n 113 Blatt u m f a s s e n d e r Schmalfolioband, der h e u t e in der Stadtbibliothek Nürnberg aufbewahrt wird, 6 9 bezeugt d e n g e g e n Mitte 1500 erreichten Vollendungszustand der Werke. D e r Kodex, der sich in Celtis' Besitz b e f a n d , 7 0 zeigt die Handschrift des C e l t i s - A m a n u e n s i s Johannes Rosenperger, 7 1 enthält darüber hinaus j e d o c h zahlreiche Marginalglossen des Autors. 7 2 N a c h A u s w e i s des Titels sollte die Handschrift alle p o e t i s c h e n Werke des Celtis 7 3 sowie d e s s e n Vita und zur A b r u n d u n g G e d i c h t e v o n S o d a l e n und Freunden a u f n e h m e n . Tatsächlich enthält sie >vier B ü c h e r Odentranslatio artium< bzw. >carminis< nunmehr durch den Gang nach Wien endgültig vollzogen zeigte. Die Abfassung des »carmen saeculare« als Abrundung des Odenzyklus wie der gesamten Ausgabe nach horazischem Vorbild stützt nachhaltig das Jahr 1500 als intendiertes Abschlußdatum, charakterisiert Celtis doch bereits in der Ars versificandi die Form des »poema Seculare« als eines >Hymnus, der alle hundert Jahre (oder eben: >zur Jahrhundertwendepanegyricipraefatio< ist indes nicht nur für Celtis' Verhältnis zu Maximilian sowie für Interessenkonflikte der >memoria< bezeichnend. Sie enthält vielmehr in den rahmenden Partien (praef. 6-10; 49-54) auch die ausführlichsten Ankündigungen zum Projekt einer Germania illustrata, seiner inhaltlichen Reichweiten und programmatischen Intentionen.116 Nach der panegyrischen Danksagung an Maximilian (praef. 1 - 5 ) eröffnet Celtis die thematische Vorstellung der Amores, die sich zunächst (praef. 6-10) auf jene Themen konzentriert, die mit dem Projekt einer Deutschlandbeschreibung »secundum quattuor latera Germaniae« in Verbindung stehen. Celtis geht dabei in zwei Schritten vor: Zunächst (praef. 6f.) wird das topographische Koordinatensystem des Zyklus, seine Ausrichtung an den vier Haupthimmelsrichtungen wie an den deutschen Binnenlanden bis zur Elbe exponiert: 112 113
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Worstbrock: Konstitution, S. 31. Entsprechend selten kommt in den Amores außerhalb des genannten Falles Am. 4,14 die Rede auf Maximilian. Vgl. Am. l,12,25f.; 2,6,83; 2,9,148; 3,1,47. Kap. 7.3 Am. 4,15,39f. Müller: Germania generalis, S. 443-446.
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Abb. 3: Sog. >Celtis-MeisterFlanken Deutschlands< auch deren Binnenraum bis zur Elbe dar. 117 Nimmt praef. 6f. auf den Titelholzschnitt Bezug, so korrespondieren die folgenden Bemerkungen zu Gehalten der Elegiendichtung jenen Regionenholzschnitten, die den einzelnen Elegienbüchern vorausgehen. D i e Amores
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hielten, so Celtis, »utriusque, hoc est terrae et caeli nostri situm et positum,« 1 1 8 also eine topographische Verortung der Patria, an der die Germania
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lis,119 aber auch, auf eher kartographisch-technischer Ebene, die relativen 117
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Diese Information entnimmt Celtis Enea Silvios Germania (Germ. 2,6 ed. Schmidt S. 48). Die Teilung Deutschlands durch die Elbe geht wohl auf Strabo (Geogr. 1,2,1) zurück. Praef. 8. Die Formulierung findet sich bereits in der Vorrede zur Edition von Pseudo-Apuleius' De mundo (BW Nr. 179, S. 298). Ähnlich im Widmungsschreiben zu den Lobgedichten der Schüler des Poetenkollegs: Celtis dankt für Maximilians Aufwendungen, die den Ankauf von »globi« und Kartenmaterial ermöglichten (BW Nr. 306, S. 553). Ebenso im Testament (BW Nr. 338, S. 604-609). Vor allem das zweite Kapitel, überschrieben mit dem Titel: De situ et moribus in
177 Distanzangaben der Regionenholzschnitte arbeiten. Die Rede von >Lage und Position des heimischen Himmelsstrichs< evoziert dabei nicht nur den Titel der Taciteischen Germania (»De origine et situ Germanorum«), sondern auch den geographischer Standardwerke eines Ptolemaeus, Strabo u. a., die Celtis intensiv benutzte. 120 Solche Analogien zwischen Bild und Text machen deutlich, wie sehr sich im Ganzen des Amores-Omcks beide Modi des Illustrierens wechselseitig bedingen und kommentieren. Die ambivalente Terminologie von »describere« und »depingere« überspielt semantisch, im Gefolge des Horazischen >ut pictura poesis< wie rhetorischer >evidentiapraefatioBildtafel< bzw. Karte in Aussicht stellt, so ist dies sowohl eigentlich als auch metaphorisch gemeint, bezieht sich der Hinweis doch gleichermaßen auf den >illustrierenden< Text der Amores (wie der Germania generalis und der anderen Bestandteile des Druckes) wie auf dessen Visualisierung in der reichen xylographischen Ausstattung des Bandes. Beide Haupttexte des Druckes, die Elegien wie die mit ihnen durch den gemeinsamen Kolophon verbundene Germania generalis, werden als malende Dichtung in Bild und Wort eingeführt. Entsprechend kündigt Celtis in der Versvorrede zur Germania generalis bündig an: >Nimm hier eine Dichtung entgegen, die Deutschland insgesamt darstellt und sieh hier seine gesamte Oberfläche vor direine Beschreibung, welche diesen aufgrund seiner Ausdehnung weltberühmten Wald vor Augen stellte 125 Eine solche Ambivalenz von >beschreiben< und >malen< ist bereits dem griechischen >γράφεινdescribere< (bzw. »pingere«, vgl. Germ, gen. praef. 3), inhärent. Das griechische >topographia< (τοπογραφία) ist demnach exakte Entsprechung des lateinischen »descriptio locorum«. Demge-
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generali, stellt strukturell das Pendant zum gesamten Passus praef. 8f. dar. Ebenso Nor. Kap. 3: »De Herciniae silvae magnitudine et de eius in Europa definitione«. Zur Bibliothek des Celtis Henkel: Bücher. Auch der Begriff >illustrare< ist als Terminus technicus im Umkreis rhetorischer >evidentiaWerbezettel< für die Weltchronik: »Verumetiam clarissimarum vrbium et regionum vniuerse Europe situm. vt queque inceperint floruerint morataque fuerint; quorum omnium cum gesta, facta, sapienterque dicta intueberis omnia viuere putabis« (nach Arnold: Bilder und Texte, S. 126). Im gleichen geographischen Kontext Enea Silvio in seiner Europa (ed. Schmidt S. 122): »Ob eam rem dabitur mihi venia, fortasse et aliquis gratiam habebit, si Germánicas describentes prouincias, vt res oculis subjiciamus, paulo prolixiores fuerimus, propositi nostri metas egressi«. Praef. 49. Praef. Germ. gen. 3f. »Accipe germanam pingentia carmina terram/In genere: et totam cerne superficiem«. Bildmetaphorik vergleichbarer Ausprägung findet sich an verschiedenen weiteren Stellen der Vorrede, etwa praef. 9. Ebd. 51: »Eius silvae in toto orbe memorabilis propter suam magnitudinem ante oculos descriptam imaginem«.
178 mäß bezeichnet Celtis die geplante Germania illustrata in der ersten Fassung seiner Norimberga als »topographia«, wofür in der überarbeiteten Version des Nürnberger Druckes in griechischen Lettern der Terminus >χωρογραφία< eintritt.126 So wenig trennscharf beide Begriffe sind - Celtis verwendet sie offenkundig synonym - , so deutlich zeichnet sich doch ein gemeinsames Begriffsfeld ab, das textliche und bildliche Darstellung topographisch-chorographischer Befunde zum Zweck von >evidentia< komplementär werden läßt. Damit ist eben jene Situation umschrieben, die Celtis im Nebeneinander von elegischer Nationalbeschreibung und graphischer Illustration im Druckzusammenhang inszeniert. Dichtung und kartographische Skizze,127 wie sie die Holzschnitte zu den einzelnen Büchern der Amores skizzenhaft liefern wollen, bekunden jenseits ihrer medialen Bedingtheiten und Unterschiede eine grundsätzlich identische Struktur des Abbildens.128 Die Texte vollziehen ebenso gut den Gehalt des Bildmaterials diskursiv bzw. konsekutiv nach wie die Holzschnitte, vor allem Titelblatt und Regionenholzschnitte, die Sachgehalte des Textes bündeln und ins Koexistente des Bildes übersetzen. Im Druck selbst wird dies im Nebeneinander von Bild und kommentierendem Text immer wieder unterstrichen, so vor allem im Fall des Widmungsholzschnittes, dem der Beginn der Vorrede unmittelbar gegenübergestellt wird. Im weiteren Verlauf seines Inhaltsreferats kommt Celtis auf die klimatisch-astronomischen Faktoren zu sprechen, die den Hintergrund der erotischen Deutschlandfahrt bilden sollen (praef. 9f.). So kündigt er zunächst an: Invenies item anni descripta a nobis tempora et ex cardinalibus caeli signis mutationes eius et temperamenta et (ut natura comparatum est) ingenia suum caelum et terram sequi; ita hic depicta et figurata secundum quattuor aetatum circuios et hebdómadas (ut Pythagorici tradunt) hominum ánimos et eorum corpora contemplabere. 129 126
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Nor. Kap. 3, S. 129: »De quibus in Germania quae ad topographiam (Ed. 2: χωρογραφιαν) attinere visa sunt diffusius scripsimus«. Celtis arbeitete offenbar intensiv mit kartographischen Darstellungen Deutschlands. Hierbei wird es sich etwa um Hieronymus Münzers Deutschlandkarte in der Schedeischen Weltchronik oder um Etzlaubs Romwegkarte gehandelt haben, die der Dichter für die Entfernungsangaben der Regionenholzschnitte verwertete. Am 15. November 1496 bittet Johannes Vigilius Celtis im Auftrag des Johann von Dalberg darum, »ut ei (sc. Dalberg) transmitieres tuam Germaniam - loquor de tabulis quibusdam - et a te iam dudum descriptam et praeterea aliam, quam habes impressam, quae et alias hincinde dicitur circumferri« (BW Nr. 139, S. 228; nochmals in BW 140 vorgetragen). Unklar bleibt allerdings, von welchen Dokumenten hier die Rede ist, zumal Celtis zu diesem Zeitpunkt weder Karten noch literarische Beschreibungen zum Druck gegeben hatte. Dabei stellt sich die Frage, welchem Medium die Priorität zuzusprechen ist und weiterhin, in welcher Form Celtis seine Konzepte für die Regionenholzschnitte dem (den) Holzschneider(n) mitgeteilt hat. Die ältere Forschung ging davon aus, daß Celtis schriftliche Entwürfe der Holzschnitte angefertigt hat, bei denen »er die darzustellenden Bildelemente in der Anordnung, wie sie im Bilde erscheinen sollten, schriftlich bezeichnete«. Falk: Burgkmair, S. 49; vgl. Ruland: Entwürfe. Praef. 9.
179 Ebenso wirst du darin von uns die Jahreszeiten, die Veränderungen des Jahreslaufes entsprechend der tropischen Sternbilder am Himmel beschrieben finden, sodann wie sich Temperamente und (wie es von der Natur eingerichtet ist) auch Charaktere nach den entsprechenden Himmels- und Landstrichen richten. So wirst du hier analog zu den vier Alterskreisen und Hebdomaden (wie es pythagoreische Tradition ist) die Eigenschaften der Menschen und ihre Körper gezeichnet und dargestellt finden. D i e Figuren der elegischen Welt und ihre charakterlichen wie körperlichen Dispositionen werden so rückgebunden an den steten Wandel in der sublunaren Sphäre, an Gestirnbewegungen, Jahreszeitenwechsel 130 und sonstige klimatische Einflüsse. Es sind dies Faktoren, die Celtis immer wieder für die Charaktermerkmale einzelner, namentlich deutscher Völker und Regionen verantwortlich macht. 131 Der Hinweis auf die tropischen Sternzeichen (»cardinalia caeli signa«) wie auf die von ihnen bestimmten und bezeichneten Jahreszeiten stellt dabei den Bezug zum Tetradensystem der Regionenholzschnitte her: Wie die vier Jahreszeiten sind auch die vier tropischen Sternzeichen Bestandteile dieses >Novenarium< von Vierheiten, das den einzelnen Stationen der Amores in den »quatuor urbes tetragonales« zugeordnet ist. 132 In diesem Rahmen entwerfe die Dichtung, so Celtis, ein Bild menschlicher Dispositionen in der Abfolge der vier Lebensalter und dies auf der Grundlage pythagoreischer Hebdomadenlehre. 1 3 3 130
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Die Wendung »ex cardinalibus signis eius« ist offenbar auf die tropischen (Tierkreis-)Zeichen (Manil. 2,178: »tropica«; 3,678: »tropicae figurae«) Widder, Waage, Krebs und Steinbock zu beziehen, die auch in den Holzschnitten zu den einzelnen Büchern der Amores begegnen. Die Formulierungen sind hier offenbar insgesamt von Manilius beeinflußt. Vgl. Manil. 3,618-678, vor allem aber 3,618-624: »Sed tarnen in primis memori sunt mente notanda/partibus adversis quae surgunt condita signa/divisumque tenent aequo discrimine caelum;/quae tropica appellant, quod in illis quattuor anni/tempora vertuntur signis nodosque resolvunt/totumque emutant converso cardine mundum,/inducuntque novas operum rerumque figuras«. Celtis könnte hier allerdings auch auf eine Äußerung Ciceros in De divinatione rekurrieren, in der sich dieser - und zwar abfällig - über den astrologischen Glauben der >Chaldäer< verbreitet (div. 2,89f.): »Etenim cum tempore anni tempestatumque caeli conversiones commutationesque tantae fiant accessu stellarum et recessu«. Auch in der Apuleius-Vorrede BW Nr. 179, S. 298; Germ. gen. 61: »Sed cçlo producta suo« (sc. Gens); ebd. Kap. 3: »De syderibus verticalibus Germanie«; Am. 2,13,23-26; Nor. cap. 6: »De verticalibus urbis sideribus et qualitate aeris, valetudine et habitu populi«. Auch hier konnte Celtis sich auf Darlegungen des Ptolemaeus stützen (Tetrab. 2,2). Im Amores-Diuck wird die Bedeutung der Tetraden für den Zyklus dadurch unterstrichen, daß die lyrischen Strophen des Vinzenz Lang, die der Erklärung des >NovenariuiTH dienen (ed. Pindter S. 105), noch vor den Beginn der Amores und ihr Inhaltsverzeichnis gesetzt sind (Fol. A 7v). Im Druckbild folgen sie unmittelbar auf Autorbild und Philosophia-Holzschnitt. Praef. 9. Der Passus findet sich wörtlich in der Celtis-Biographie der Sodalitas Rhenana, die zusammen mit den Oden 1513 erscheint, wieder (BW Nr. 339, S. 613), aber auch schon in Hartmann Schedels Manuskript einer Celtis-Vita aus dem Jahr 1500 (Zitat bei Lüh: Die unvollendete Werkausgabe, S. 314; s. oben Anm. 66). Die Wendung selbst folgt Macr. somn. 1,6,72 bzw. Gellius 3,10. Die erwähnten Alterskreise (»aetatum circuios«) bezeichnen jeweils zehn Jahre eines individuellen Le-
180 Damit wird über dem Geschehen der Liebeselegie ein makrokosmischer Bezugsraum aufgespannt, der dem Werk die philosophische Dignität des »poema naturale« mitteilen, seinen Autor als >poeta doctus< und deutschen Proto-Philosoph ausweisen soll. 1 3 4 D i e Holzschnitte übersetzen dieses Konstrukt getreu ins Bild, indem sie den Protagonisten Celtis, seine jeweilige Geliebte, aber auch die vier Lateralregionen Deutschlands dem Einfluß der vier tropischen Sterbilder sowie der Wirkung der im >Novenarium< versammelten tetradischen Kräfte aussetzen. So spiegelt die Themenaufstellung von praef. 8ff. in allen Aspekten den Gehalt der Regionenholzschnitte mit ihrer doppelten Verweisebene wider: Erfaßt der Bildgrund jeweils die konkreten Themen der vier Amores-Bücher, ihr Personal wie ihre szenisch-geographische Situierung samt regionaler Denkwürdigkeiten, so transzendieren die horizontalen und vertikalen Rahmenleisten die Aktions- und Darstellungsebene der Elegien, indem sie die geographischen Distanzen entlang und zwischen den deutschen Flüssen vermessen, 1 3 5 welche wiederum die Ausdehnung der inquadrierten Germania >nach Italien, Frankreich, Pannonien, D a k i e n und Sarmatien< bezeichnen. 1 3 6 N e b e n der gleichsam diegetischen Funktion des Bildgrundes sind die Entfernungsangaben der Holzschnitte, die das Titelblatt ankündigt hatte, 1 3 7 deren technisch-kartographische Komponente.
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bens, so auch in Od. 4,8,13f.: »Circulus vitae mihi quartus instat,/Quo quadragenus mutuatur annus«. Die Varianz zwischen Vierer- und Hebdomadenschema findet sich auch in Ptolemaeus' Tetrabiblos (vier Alter in Tetrab. 1,10; sieben Alter nach einzelnen Planeten in Tetrab. 4,10 ed. Robbins 440f.; hier umfaßt jedes Alter zehn Jahre, so auch bei Celtis Od. 2,10: »De denariis planetarum et orbium ad aetates et numerum annorum hominum«). Zur Hebdomadenlehre in der Frage der Lebensalter noch immer Boll: Lebensalter, S. 112-137. Andererseits ist Landeskunde und -beschreibung auch im rhetorisch-literarischen Bereich verankert. Die Beschreibung von Land und Leuten zählt zu den genuinen Aufgaben des »poeta et orator«. Quint, inst. 9,2,44 nennt sie »hypotyposis« (d.h. »locorum dilucida et significans descriptio«), sonst bezeichnet als »topographia« oder »topothesia« (Att. 1,13,5). Gelehrt wurde sie in den rhetorischen Praeexercitamenta. Die mittelalterliche Dichtung übernahm von hier solche ethnographischen und topographischen Digressionen. Noch Vadian lobt die Austrias des Ricardo Bartolini für ihr gelehrtes Beiwerk, zu dem auch Topographica gerechnet werden: »Sunt his intertexta ex Physicis, Astronomicisque petita loca, sunt amoenae et signatae regionum, populorum, montium fluminumque maxime ad Germaniam pertinentium descriptiones« (nach Müller: Gedechtnus, S. 175). Dieser Aspekt kehrt in den Überschriften der Flußgedichte und Hodoeporica der Amores wieder, so etwa Am. 1,15: »Ad Vistulam fluvium ortum et exitum eius describens et de visontibus et eorum venationibus«; Am. 3,13: »Ad Rhenum ortum et exitum eius commemorans, rogans, ut puellam descendentem Aquis Grani numine suo tueatur«. Praef. 59. Celtis entnimmt die Meilenangaben offenbar Etzlaubs Romwegkarte, die 1500 anläßlich des heiligen Jahres den deutschen Pilgern den Weg nach Rom weisen sollte (Lüh: Die unvollendete Werkausgabe, S. 181f.). »Quatuor urbes tetragonales Germaniae ad quatuor latera eius: eiusdem longitudinis et latitudinis«.
181 Die obere Rahmenleiste des >Novenarium< mit ihrer Quaternionenreihe stellt dagegen umfassend jene Vierheiten dar, die als kosmische Hintergrundkräfte den erotischen Lebensweg des Dichter-Liebhabers bestimmen sollen. 138 Ins Bild übersetzt findet sich hier die Überzeugung einer Korrespondenz von kleiner und großer Welt, der Sympathie zwischen Mikro- und Makrokosmos, 139 in deren Zentrum vor allem der alles bestimmende Einfluß der Gestirne steht. 140 Von hier aus werden die wesentlichen Interessen deutlich, die Celtis für den philosophisch-wissenschaftlichen Gehalt der Amores veranschlagt: Die Holzschnitte unterstreichen ebenso wie die Erklärungen der Vorrede die Bedeutung jener beiden artes, die der Dichter beschwörend als Interessen des Königs anspricht, nämlich Geographie und Astronomie. Beide gemeinsam bilden die Leitdisziplinen für den sachlichen Beitrag der Amores zur Germania illustrata. Der Astronomie, und, davon nicht zu trennen, der Astrologie kommt als Wissenschaften von den Gestirnläufen in dieser Hinsicht integrative Bedeutung zu. 141 Da auch die Geographie bei ihrer Frage nach Breiten und Längen auf astronomische Daten angewiesen ist, wächst der Gestirn- und Himmelskunde eine dominierende Rolle für das landeskundliche Programm zu. Bereits in der Panegyris von 1492 hatte Celtis den Aufgabenbereich der Geographie entsprechend definiert: »Iuvenile decus per sidera coeli/Cognoscet, quo quaeque situ gens possidet orbem«. 142 In der Hierarchie der artes wird die Geographie dabei unmittelbar nach der Astronomie behandelt (Paneg. 92-102). In umgekehrter Folge, aber auch hier in enger Verbindung, erscheinen Himmels- und Erdkunde in den Oden an Fusilius 143 wie an Hartmann von Eptingen. Zumal in letzterer entwirft Celtis ein genaues Profil der Fragestellungen, denen der Kosmograph nachzugehen hat. 144 So verbinden sich in Celtis' Erschließungspro138
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Solche Vierheitenschemata sind durchaus alt und finden sich im zeitgenössischen Zusammenhang immer wieder. Gruber: Sicht der Dinge, S. 110 Anm. 14; Boll: Sternglaube, S. 54; Maurmann: Himmelsrichtungen, S. 188ff. und, S. 199. Ähnliches auch in De occulta philosophia des Agrippa von Nettesheim (»De Quaternario et eius Scala«; II, Kap. 7 ed. Nowotny). Auch er entwirft eine Liste von Vierheiten, die ähnlich dem >Novenarium< der Amores auf einer Tafel festgehalten werden. Celtis' Vierheitenprogramm ist deshalb bemerkenswert, weil es einen, wenn nicht den ersten Versuch darstellt, das Tetraktys-Schema als Gliederungsraster eines poetischen Werkes einzusetzen. Ausführlich zur weiteren, ergiebigen Tradition solcher Viererschemata in der Dichtung Heninger: Touches. Eine unmittelbare poetische Quelle für solche Sympathievorstellungen ist etwa Boeth. cons. 4 carm. 6. Vgl. epigr. 2,34,lf. (»De operatione siderum«): »Omnia per superas mutantur corpora causas,/Et variis mentes temperai aura modis«. Pindter: Lyrik, S. 144-158 bietet die umfassendste Auswertung zu Celtis' Beschäftigung mit Astronomie bzw. Astrologie. Dazu umfassend in Kap. 7.2. Paneg. 102f. Od. l,ll,63f.: »Quo situ coeli teneant volante/Aere terram«. Od. 3,22,33-36: »Quot terra, narras, continet aequora/Et insulis quis circuitus vagis,/ Dimensiones circulorum/Cosmographus retines disertus«. Ebenso Od. 3,23,16-20.
182 jekt topographische und kosmographisch-astronomische Interessen.145 In einer Strophe der Ode seines Freundes Pighinutius, die Amores I vorausgehen sollte und offenbar von Celtis selbst verfaßt wurde,146 wird der Dichter daher als vaterländischer Topograph wie als Astronom gewürdigt.147 Wie schon Ptolemaeus gelten auch Celtis' Geographie wie Astronomie/Astrologie als genuin philosophische Betätigungsfelder,148 sofern auch sie entsprechend der Subscripts des Philosophia-Holzschnitts ergründen, >was Himmel und Erde, was Luft und Wasser enthaltene Als weiser Priester-Philosoph erscheint Ptolemaeus daher in der Vignette des Philosophia-Holzschnitts, die den »Egipciorum sacerdotes et Chaldei« gewidmet ist.149 Vor allem die Astronomie weiß sich dabei in besonderer Affinität zur Philosophie als Wissen von den »göttlichen Dingen«, sind doch auch die Gestirne im aristotelisch-ptolemäischen Weltbild von unvergänglicher Substanz und in astro-mythischer Sicht die Planetengötter selbst - eben »Figuren der Götter«.150 So kann sich auch der Geograph und Kosmograph Celtis als Entdecker-Philosoph fühlen, der den noch unerschlossenen Raum der Patria mit eigenen Augen ausmißt.151 4.1.4.2. Regionenholzschnitte und Tetradenprogramm. Das Bild Deutschlands am Schnittpunkt von Kartographie, Kosmographie und Zahlensymbolik Methodisch und konzeptionell ist Celtis' Bild der >Germania< nicht denkbar ohne das Werk des Claudius Ptolemaeus, der dem Dichter wie seinen Zeitge145
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Eine solche Ausweitung geographischer Forschung und Darstellung auf Elemente der Astronomie und Astrologie, wie sie wesentlich durch die Renaissance des Ptolemaeus initiiert wurde, kennzeichnet auch andere geographisch-kosmographische Werke im Umfeld des Celtis, etwa die von Heinrich Bebel herausgegebene Cosmographia dans manuductionem in tabulas Ptholomei des Celtis-Schülers Laurentius Corvinus, von der Celtis selbst ein Exemplar besaß [Basel: Nikolaus Kessler, nicht vor 1496]; (GW 7799). Henkel: Bücher, S. 157. Ausführlich dazu Müller: Germania generalis, S. 318-322. Vgl. Kap. 7.2.1. »Quicquid et Rhenus Rhodanusque volvit,/Carmine scribis« und offenbar von Celtis selbst ergänzt: »Patriae gentes, populos et urbes,/Aequora et montes fluviosque, silvas/Noscis et toto rutilantia Olympo/Sidera calles«. Beide Fassungen der Ode druckt Adel: Series nova, S. 81f. ab. Dort findet sich S. 80-83 auch ein Vergleich der Versionen. Entsprechend in Jakob Lochers Geleitgedicht zum 3. (bzw. 4.) Buch der Amores: »Omne qui mundi latus eruisti,/Siderum cursus et amoena clari/Lumina Phoebi«. Ed. Pindter S. 107, v. 38-40. Vgl. das Proöm der Tetrabiblos (Tetrab. 1,1; ed. Robbins S. 2). Auch hier wird vor allem das Wissen um die Gestirnbewegungen als eigentlicher Aufgabenbereich hervorgehoben, denn Ptolemaeus ist mit Astrolab abgebildet. Die Beschriftung der Vignette stammt wohl aus Strabo (Geogr. 1,2,15). Als Meister der Zahlenverhältnisse (»numeri«) bezeichnet Celtis den Ptolemaeus in Od. 3,23,8. Auch in Od. 3,21,19f. an Mommerloch wird Ptolemaeus als wissenschaftliche Autorität ausdrücklich angeführt: »Aut quid doctus alta/contineat Ptolemaeus arte«. Od. 1,10,12t: »Divum facies«. Praef. 53; vgl. Am. 2,12,69: »Philosophus totum Celtis discurro per orbem«. Solch philosophische Emphase war schon im Werk Strabos, das Celtis intensiv benutzte
183 nossen als maßgebliche Autorität in den Bereichen Geographie wie Astronomie bzw. Astrologie gilt. Beide, »Himmel und Erde«, so Celtis in einem Epigramm, habe >Claudius Ptolemaeus wissenschaftlich dargestellt^ 152 Sieht man auf die zeitgenössische Karte der >Germania magna< in der von Celtis' benutzten Ausgabe der Cosmographia von Lienhart Holl, 1 5 3 so sind die Übereinstimmungen mit dem Deutschlandbild der Amores evident. Der Dichter entnimmt der Schrift des Ptolemaeus bis in den Wortlaut hinein die Einteilung seines Werkes nach den vier Flanken Deutschlands, die schon hier durch die Grenzflüsse (Weichsel, Donau, Rhein) und die Ostsee bezeichnet sind. 154 Auch die griechischen Bezeichnungen für die Himmelsrichtungen, wie sie das Titelblatt der Amores bietet (»άνατολή«, »δυσμή«, »μεσημβρία«, »άρκτος«), bezieht Celtis aus Ptolemaeus' Kapitel über die »magna Germania«, wobei er sich auf den bereits erwähnten griechischen Text der Cosmographia stützen konnte, über dessen Abschrift er (vielleicht schon seit 1482) verfügte. 155 D i e Schrift des Ptolemaeus ist so der entscheidende Bezugspunkt für jene Quadraturen, die für die Amores von herausgehobener Bedeutung sind. 156
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und kommentierte, angelegt: »(S)i ad Philosophum alia pertineat ulla tractatio: et hanc quam hoc tempore de situ orbis delegimus: considerandam illi esse putamus [...] nullius alterius est nisi eius qui diuina et humana ualeat intueri. Quorum scientiam philosophiam esse dicunt«. (Fol. [A 5]r; d.i. Geogr. 1,1,1). Epigr. 3,111,7f. Cosmographia. Lateinisch von Jacopo Angeli da Scarperia, Ulm: Lienhart Holl, 16. Juli 1482 (Hain 13539); Celtis' Handexemplar hat sich in der Bibliothek der Reformierten Kirche in Debrecen erhalten (Sign.: U 45). Henkel: Bücher, S. 145. Zur Bedeutung des Ptolemaeus für Celtis Lüh: Die unvollendete Werkausgabe,
s. \ n i Das Kapitel über die »Lage Großgermaniens« beginnt in der lateinischen Übersetzung (Fol. C 2v): »MAGNE GERMANIE SITVS: GERMANIE latus occidentale Renus terminât: septentrionale vero germanicus oceanus: cuius descriptio sic se habet«. Die Begrenzung der Germania nach Flüssen findet sich ebenfalls in Tacitus' Germania (Germ. 1). Hieronymus Münzers Deutschlandkarte der Schedeischen Weltchronik (Fol. 267v) ist offenkundig von der ptolemäischen Darstellung beeinflußt und zeigt Deutschland in denselben Dimensionen wie die Amores. Celtis selbst ist sich freilich durchaus bewußt, daß Sarmatien und mithin die Weichsel nicht mehr deutsches Gebiet sind (Am. 1,15,55): »Vistula, Germanae quondam (!) ceu terminus orae«. So auch dezidiert epigr. 1,57 (»De Vistula fluvio«). Die Wahl des >latus Sarmatiae< als Ostgrenze Deutschlands ist einerseits biographisch begründet, andererseits als vaterländische Polemik und Protreptik intendiert, wie aus der anti-polnischen Wendung in Am. 1,15 hervorgeht. Celtis hat sich die Abschrift des Werkes in der Originalsprache (offenbar bereits 1482) in Buda von seinem Amanuensis Johannes Rosenperger aus einem Exemplar der Bibliothek des Matthias Corvinus anfertigen lassen. Wuttke: Humanismus, S. 27; Henkel: Bücher, S. 139. Gegen diese Datierung Lüh: Die unvollendete Werkausgabe, S. 177. Die Handschrift, die sich heute in der Bodleian Library in Oxford befindet, stellt den frühesten dokumentierten Bucherwerb des Celtis dar. Auf Traditionen solcher Tetradenspekulation ist nach den ausführlichen Darstellungen bei Wuttke: Humanismus; Lüh: Die unvollendete Werkausgabe, S. 451-459 und zuletzt Müller: Germania generalis, S. 394-403 nicht mehr in extenso einzuge-
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Sieht man von den Namen der jeweiligen Geliebten ab, die der elegischen Gattungstradition entsprechend als Buchtitel (wie als Titel der Regionenholzschnitte) fungieren, so sind diese Vierheiten in der Themenvorstellung praef. 8ff. ausdrücklich und erschöpfend benannt. Namentlich die Verschränkung von Region und Lebensalter, die sich bereits auf dem Titelholzschnitt findet, stellt die wesentliche Korrespondenz dar. Alle weiteren Vierheiten wie die pythagoreische Spekulation insgesamt sind demgegenüber von untergeordneter Bedeutung. In den Amores selbst werden zwar alle Elemente des »Novenarium« von Buch zu Buch aufgegriffen, eine intensivere Berücksichtigung finden aber nur jene Vierheiten, die Celtis am Beginn der Vorrede ausdrücklich bezeichnet, darunter vor allem das jeweilige Lebensalter und in Zusammenhang damit das vierfach differenzierte Temperament. Aufschlußreicher erscheint daher die Frage, wie Celtis sein landeskundlich-topographisches Anliegen innerhalb des geographischen Diskurses positioniert. Wenn der Autor in der Vorrede eine synoptische Darstellung Deutschlands nach den vier Hauptregionen und Hauptflüssen ankündigt, dann folgt dies systematisch Ptolemaeus' Definition der Geographie in Abgrenzung gegen eine nur das einzelne beschreibende Chorographie: Cosmographie proprium est· vnam eandemque habitabilem terram nobis cognitam ostendere. quo modo natura situque se habeat· circa quam ea tantum intendit quae per descriptiones orbis magis generales sibi iunguntur: veluti circa maiora oppida: magnas ciuitates: montes etiam: fluuiosque insigniores. Preterea circa ea omnia: que iuxta quamlibet speciem maior(e) nota digna sunt. 157 Spezifische Aufgabe der Kosmographie ist es, diese eine bewohnbare Erde, die wir kennen, hinsichtlich ihrer topographischen Eigenheit und Lage zu beschreiben. Dabei zielt sie jedoch lediglich auf die Aspekte, die mit umfassenderen Beschreibungen der Welt verbunden sind. So z. B. größere Städte und ansehnliche Siedlungen, auch Gebirge und bedeutendere Flüsse, außerdem all diejenigen Gegebenheiten, die in irgendeiner Hinsicht besonders bemerkenswert sind.
Terminologie (»natura situque« [...] »descriptiones generales«), Einzelbereiche (größere Gliederungseinheiten: Flüsse, Berge, Städte) und synoptischer Blick aufs Ganze belegen die Nähe zu Celtis' Ankündigungen in der >praefatioNovenariumDe utriusque amoris vi et impotentiaamor< als makrokosmischer Weltenlenker ins Spiel kommt. Die Vielfalt der hierbei aufgerufenen Motive und Rechtfertigungsgründe erfüllt insgesamt die Aufgabe, die Amores als poetischen Diskurs »de utriusque vi et impotentia« einzuführen. Um den Überblick über die verschlungene Argumentation zu erleichtern, sei das Wesentliche kurz zusammengetragen. Zunächst (praef. 20-26) beruft sich Celtis auf Apuleius und Ovid als poetische Gewährsleute, deren namentliche Nennung diesen Hauptabschnitt umrahmt (praef. 20; 26) und gegenüber dem folgenden abgrenzt. Die Werke beider Autoren - beide mit dem beziehungsreichen, hier nur umschriebenen Titel Metamorphosen - werden als Darlegungen zum Thema »de utriusque amoris vi et impotentia« eingeführt. Vor allem in der Dichtung Ovids zeige sich die Bedeutung der Liebe als eines weltenschaffenden und -lenkenden Prinzips, aber auch die verheerende Wirkung maßloser Affekte, wie sie die Metamorphosen poetisch vorführten. Im übrigen verbürge jedoch die Liebe nicht nur den Zusammenhalt von Himmel und Erde (Makrokosmos), sondern auch den >Austausch< der Seelen zwischen den Liebenden, den Celtis auf das Begriffspaar »transmutatio«/>^8TaijwxTi« bringt. 173 Der folgende Abschnitt (praef. 27-35) kommt auf weitere Leistungen und Effekte des Eros zu sprechen. Schließlich erörtert Celtis die zivilisatorischen Wirkungen und Verdienste der Liebe, ihre zentrale Bedeutung als Gegenstand von Dichtung, Musik und Kunst. Nochmals wird in diesem Zusammenhang die wesenhafte Ambivalenz des Affekts, seine potentiell zerrüttende Wirkung hervorgehoben. Dabei betont Celtis als eigentlichen Nukleus seines Werkes den >amor honestus< als unköperliches Prinzip, als geistig-seelische Vereinigung.
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Ein Gliederungsschema der Vorrede bietet Lüh: Die unvollendete Werkausgabe, S. 378. Diese achsensymmetrische Disposition der >praefatio< findet ihre Entsprechung in den zahlreichen anderen >praefationespraefatio< zur Apuleius-Ausgabe (BW Nr. 179). Vgl. Kap. 3.2.4.3. Praef. 15. Ebd. 19. Ebenso Am. 3,14,6.
189 Ein dritter Abschnitt hebt sich durch die erneute polemische Wendung gegen die ungenannten (klerikalen) Gegner der erotischen Muse ab. Dieser abschließende Teil der Argumentation, der zugleich als Höhepunkt der Darlegungen organisiert ist, zielt auf die wirkungsvolle retorsio der eingangs (praef. llff.) referierten Verdikte gegen die Liebesdichtung: Unsittlichkeit und Unchristlichkeit. 174 Celtis kann sich hier auf die Präsenz erotischer Historien selbst in der Bibel (Cantica canticorum, Esther, Ruth etc.) und auf die auch dort, wie bei Apuleius und Ovid, entfaltete Thematik einer besinnungslosen Selbstaufgabe haltloser Liebeamor< und >caritassapientia< und >stultitia< leitet der Abschnitt dann wieder ringkompositorisch zur Erörterung des auf Erfahrung und Lebensklugheit zielenden Nutzens der Liebe über, der bereits in praef. llff. auseinandergesetzt worden war. In ihrer Gesamtheit sind Celtis' Ausführungen als Widerlegung der beiden Haupteinwände von Unsittlichkeit und Paganismus angelegt. Diese zielt wesentlich darauf, dem Stoff der Elegien einen philosophischen Anspruch zwischen Natur- und Moralphilosophie zuzuschreiben. Angesichts der Vielzahl oft bewußt verschleiernder Autoritätsverweise, die in diesem Zusammenhang Verwendung finden, ist das apologetische Hauptstück der praefatio für die Frage nach Celtis' philosophischer Weltanschauung wiederholt diskutiert worden, dabei wurde zumeist der platonisierende Zug der betreffenden Passagen herausgestrichen. 176 In diesem Zusammenhang sind eine Reihe antiker wie frühneuzeitlicher Texte als Referenzen genannt worden, die mittelbar oder unmittelbar auf das Platonische Symposion verweisen. Während Piatons Text selbst aufgrund von Celtis' unzureichenden Griechischkenntnissen 177 kaum als Quelle in Betracht kommen sollte, konnten dessen neuplato-
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Zum Fortbestand dieses doppelten Vorwurfs gegen die >Musa iocosa< vgl. Schlaffer: Musa iocosa, S. 161-172. Zu Stimmung und Geisteshaltung klerikaler Kreise in Nürnberg vgl. Machilek: Klosterhumanismus. Praef. 37. Giehlow: Melencolia I, 6ff. Spitz: Religious Renaissance, S. 92£; Preiss: Celtis, S. 121-127; Wuttke: Humanismus, S. 413-415; Wiener: Neuplatonismus, bes. S. 114-121; Lüh: Die unvollendete Werkausgabe, S. 377 Anm. 15. Dazu Wuttke: Grammatik. Immerhin nennt Wimpfeling Celtis in seinem Isidoneus Germanicus als deutschen Gräzisten neben Agricola, Dalberg, Reuchlin und Trithe-
190 nische Ausläufer immer wieder als Grundlage für die >praefatio< benannt werden. 178 Eine zentrale Rolle kommt in diesem Zusammenhang fraglos einem der wirkmächtigsten philosophischen Texte des Quattrocento, Ficinos Kommentar zum Platonischen Symposion (In convivium Piatonis de Amore), zu. 179 Dabei soll hier weniger von quellenphilologischen Evidenzen die Rede sein als vielmehr von der Art und Weise, wie sich die von Ficino entwickelten Argumente, Kontexte und Diskurse für Celtis' Zwecke instrumentalisieren ließen. Die große Vielzahl gemeinsamer Motive, vor allem aber die vergleichbare Tendenz verdeutlicht Celtis' Zugehörigkeit zu dem von Ficino ausgehenden Liebesdiskurs. Andererseits verbindet die Vorrede die (neu-)platonischen Ideen mit einer Reihe von Konzepten, die nicht nur philosophischer Tradition, sondern vor allem auch eigenen Texten (>praefatio< zur ApuleiusAusgabe u.a.) entnommen bzw. aus Leitbegriffen und Motivsubstrat der Elegien entwickelt werden. Als Bestandteile eines Argumentationssystems Verteidigung der Liebesdichtung (bzw. der Liebe)< zielen die Philosopheme der Amores-Vorrede dabei nicht auf spekulative Erkenntnis, sondern auf rhetorische Überredung und Plausibilität bei der exordialen Empfehlung der eigenen Liebesdichtung. Wenn die Amores hier die Konturen des philosophischen Traktates erhalten - mehrmals wird von den Elegien als »amoris tractatio« oder als »de amore poemata« gesprochen, 180 so soll dies einerseits ihren Autor als respektablen Philosophen erweisen, andererseits dem schlüpfrigen Thema selbst philosophische Dignität verleihen. Diese Überlagerung von platonisch-philosophischem Diskurs und ins Theoretische übersetzter, von der Erfahrung des lyrischen Ichs entkoppelter Motivik der Liebeselegie errichtet gegenüber den Amores selbst im Stil italienischer Kommentare und Selbstkommentare 181
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mius. Arnold: Trithemius, S. 78f. Zu Celtis' offenbar eher geringem Bestand an griechischen Bücher, unter denen im übrigen kein Werk Piatons nachzuweisen ist, vgl. Henkel: Bücher, S. 139. Grundlegend für die Frage des Beginns der Griechischstudien in Deutschland Holzberg: Pirckheimer. Zuletzt eingehend Vf.: Amabit sapiens. Eisenbichler/Pugliese (Hgg.): Ficino and Renaissance Neoplatonism; Nelson: Renaissance Theory of Love, S. 75 - 8 4 ; Kemper: Liebe in der frühen Neuzeit; Allen: Phaedrus; Perella: Miracle; Kristeller: Ficino, S. 93ff. Zur Geschichte der Trattati d'amore im Cinquecento und darüber hinaus liegen verschiedene ältere Arbeiten vor. Die wichtigsten Titel sind Lorenzetti: Bellezza; Buck: Piatonismus; Robb: Neoplatonism, S. 176-211 (dort S. 176 Anm. 1 ältere Literatur); Nelson: Renaissance Theory of Love, bes. S. 67-162; Spitz: Theologia Platonica; Garin: Der italienische Humanismus, S. 137-164; Pflaum: Idee der Liebe, bes. S. 1 - 4 1 . Weitere Literatur bei Wuttke: Humanismus, S. 414 Anm. 50. Praef. 48 bzw. praef. 43. Über die italienischen Prosakommentare zu poetischen Werken informiert am besten Nelson: Renaissance Theory of Love, S. 15-66. Der erste lateinische Kommentar war der des Dino del Garbo zu Guido Cavalcantis viel erörterter Canzone »Donna me pr(i)ega« (ebd. S. 15 und S. 34-44), die bis zum Ende des 16. Jahrhun-
191 eine zweite, dabei durchaus diskrepante Ebene, die zu einer Polyphonie der Rede über die Liebe führt. 182 N e b e n Ficinos Traktat sind in der >praefatio< jedoch auch eine Reihe antiker Belege zum Thema Eros eingearbeitet, die vielfach ihrerseits in platonischer Tradition und Filiation stehen. Von Piatons Texten selbst spielt dabei am ehesten der Timaeus, den Celtis in der kommentierten Ausgabe des Chalcidius kannte und besaß, 1 8 3 eine Rolle. Im übrigen ist die pagane Dichtung in Zitat und Allusion gegenwärtig, werden lyrische Topoi, wie schon bei Ficino und in der gesamten italienischen Diskussion, dekontextualisiert und aus dem subjektiven Sprechen der Lyrik in die objektive Form praktischer Lebensregeln für die Jugend überführt. 184 Daneben ist auch auf die Linie eines christlichen Neuplatonismus, vertreten durch den Traktat De divinis nominibus des Pseudo-Dionysius Areopagita, hinzuweisen, den Celtis im Anschluß an die Germania generalis unmittelbar vor dem Kolophon des Druckes zitiert. Neben Boethius' Consolatio philosophiae, in der die Liebe in verschiedenen Emmetra als kosmologisches Band thematisiert wird, 185 ist es vor allem die zeitgenössische italienische Kommentarliteratur zur volkssprachlichen wie la-
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derts nicht weniger als neun Kommentare inspirierte. Wichtige Parallelen liefert auch Picos Kommentar zur »Canzona d'amore« seines Freundes Girolamo Benivieni, dessen Kosmogonie viele der auch von Celtis genannten Themen bis hin zum »appetitus« bietet. Monnerjahn: Pico, S. 59-71. Hempfer: Intertextualität; ders.: Pluralisierung; ähnlich auch das Verständnis von >DialogizitätTrattati d'amore< ausgehend von Ficino und ihre platonische Dichterlektüre. Es kann nicht verwundern, daß sich vor allem an dieser Stelle aktuelle Horizonte der Vorrede eröffnen. Celtis' auktorialer >autocommento< verarbeitet nämlich zugleich Begründungsmuster der zeitgenössischen Elegiker-Kommentierung, wie sie italienische Editionen der achtziger Jahre vorführen. 187 Bedeutsam sind hier vor allem die kommentierten Properz-Ausgaben eines Antonio Volsco da Piperno (1488)188 und Filippo Beroaldo (1487),189 der auch durch seine Apuleius-Ausgabe wichtige strategische Motive für Celtis' Vorrede bereitstellte. Beroaldos Edition der Metamorphosen bot dabei ein Leitthema des erotischen Diskurses im Quattrocento, die wesensverwandte Nähe von Liebe und Magie, wie sie Celtis in Texten wie Am. 1,14 u.a. entwickelt.190 Neben Apuleius beruft sich Celtis jedoch auch dezidiert auf Ovid und dessen >erotisch< verstandene Kosmogonie in den Metamorphosen. In diesem Zusammenhang wird auf die zeitgenössische Wahrnehmung des >ethicus< und >physicus< Ovid, wie sie in den zahlreichen Kommentaren und >Moralisierungen< der Metamorphosen erscheint, einzugehen sein.191
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Fällen Celtis' Formulierungen präfiguriert. Bereits in der Ars versificarteli zitiert Celtis ausdrücklich aus den Astronomica des Manilius (Fol. C 2v; Zitat aus Manil. 1,20-23), der neben Lukrez als Vertreter des »poema naturale« genannt wird (C 2r). Zum Kommentar in der Renaissance Buck: Kommentar; ders.: Rezeption der Antike, S. 5 7 - 6 6 ; Kristeller: Der Gelehrte weist auf die Kontinuität mittelalterlicher Textvermittlungsverfahren hin: »Dennoch bleibt die Kontinuität der Literaturform selbst bis in die Renaissance hinein sichtbar, vor allem in der thematischen Gliederung des einleitenden Abschnittes, den man im Mittelalter Accessus nannte« (ebd. S. 215; Buck: Studia humanitatis, S. 22). Überschneidungsformen zwischen Akzessus-Tradition und humanistischem Kommentar diskutiert weiterhin Ghisalberti: Giovanni del Virgilio. Zur mittelalterlichen Tradition der Akzessus und zum Autorbegriff Minnis: Medieval Theory of Authorship. Dazu eingehend Vf.: Amabit sapiens. Sextus Propertius: Elegiae. Kommentiert von Antonius Volscus, Venedig: Andreas de Paltasichis 1. Februar. 1488. (Hain 4762). Sextus Aurelius Propertius: Elegiae. Kommentiert von Filippo Beroaldo, Bologna: Franciscus de Benedictis für sich und Benedictus Hectoris Faelli, 1487. (Hain 13406), hier Fol. A 2 r - A 3v. Kemper: Liebe in der Frühen Neuzeit, S. 141 stellt fest, daß »die Liebe im vormodernen Denken als ein magisches und deshalb für die schwarze Magie anfälliges Phänomen aufgefaßt wurde«. Zur weiteren Tradition des magischen Erotismus Cersowsky: Magie und Dichtung, bes. S. 59-107. Guthmüller: Kommentare.
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4.2.2. Liebesdiskurse und Apologie. Celtis, Ficino und platonische Lesarten Betrachten wir zunächst die Linien, die Celtis' Vorrede mit Dokumenten des zeitgenössischen Renaissance-Platonismus verbinden. Will man in diesem Zusammenhang die Rolle bewerten, welche die Elemente aus Ficinos SympoΛ ' ΐ ο η - K o m m e n t a r für Celtis' Apologie der Liebe spielen, so ist durchgehend jene Diskursverschiebung zu bedenken, die sich aus dem Transfer neuplatonischer Argumente aus der philosophischen Diskussion in das topische System apologetischer Poetik ergibt. Daß Celtis' Widmungsvorrede insgesamt in diesem Zusammenhang zu lesen ist, zeigt sich an der Tatsache, daß hier über das Liebesthema hinaus nahezu vollständig deren wichtigsten Topoi versammelt sind: Der Hinweis auf den pädagogisch-protreptischen Wert der Dichtung ebenso wie das Verdikt der Lügenhaftigkeit, das wiederum, wie in der Ingolstädter Rede, die Argumente von Dichtertheologie und tropologischem Schriftsinn auf den Plan ruft, ferner die doppelte Bestimmung der Dichtung zwischen >delectare< und >prodessepraefatio< zu Ficinos Symposion-Kommentar unbestreitbar. Neben der Argumentation als solcher ist hierbei eine Reihe von Einzelmotiven und -themen entscheidend, die sich weder auf die anzitierten Dichterphilosophen Ovid und Apuleius noch auf philosophische Gewährsleute wie Macrobius oder Beroaldo beziehen lassen und darüber hinaus auch ohne Parallele in Celtis' sonstigen Texten sind. Die bedeutsamste Entlehnung aus platonischem Kontext stellen offensichtlich die Erörterungen zur Ambivalenz des Eros dar. Dieser wird zunächst als >unter den menschlichen Affekten der angenehmste, natürlichste und mächtigste< gepriesen, wobei Celtis sogleich präzisiert, um welche Form der Liebe es sich handeln soll, nämlich um jene >reine Liebepraefatio< allein der Topos des >furor poeticusamor honestus< bzw. >divinus< und >amor infamis< bzw. >spurcus< eröffnet, welche die gesamte weitere Erörterung bestimmt. Ihr Bezug auf den in der Pausanias-Rede des Platonischen Symposion angelegten Dualismus der Aphroditen bzw. Eroten liegt auf der Hand, zumal auch die folgende erotische Kosmologie unverkennbar platonische Gedanken - wohl vermittelt durch Ficino195 - enthält: Quocirca de utriusque amoris vi et impotentia nihil umquam illustrius scriptum a poetis invenio quam illam Lucii Apuleii speciosam fabulam et eos, quos de transformatis quindecim Ovidii libros legimus, in quibus poeta egregius de divino creatoris in creaturam amore orsus ex eoque caelum, terram et omnia universitatis membra in chao confusa discreta et concordi foedere et nexu vinculoque amoris sociata et ligata cecinit. Is amor, quem ignem, aquam, vaporem vel aerem philosophi principium naturae nominant, nos autem deum optimum maximum dicimus, qui hominem ex terrae gleba et limo finxit hominique et cunctis in natura viventibus animalibus, plantis etiam et seminibus inanimatisque rebus aliquibus, hoc est gemmis, lapidibus, coloribus etiam vim et virtutem amoris indidit, ut quadam inter se cognatione naturae et tacito favore et consensu coniungi gestiant et gaudeant. In homine autem (qui maxima pars tanti opificii erat) maiorem deus amoris partem esse voluit. 196 Aus diesem Grund habe ich bei den Dichtern nie etwas Bedeutenderes über Gewalt und Unwiderstehlichkeit beider Formen von Liebe gefunden als die glänzende Geschichte des Lucius Apuleius sowie die 15 Bücher Ovids, in denen wir von Verwandlungen lesen. In ihnen beginnt dieser außerordentliche Dichter mit der göttlichen Liebe des Schöpfers zu seiner Schöpfung und besingt dann, wie sich kraft dieser Liebe Himmel, Erde und alle Teile des Kosmos, die im Chaos ineinander vermengt waren, voneinander trennten, sich in einträchtiger Verbindung und Verknüpfung durch das Band der Liebe zusammenschlossen und vereinigten. Jene Form der Liebe meine ich damit, welche die Philosophen unter den Bezeichnungen Feuer, Wasser und Dampf bzw. Luft als Naturprinzip benannt haben, die wir aber als besten und höchsten Gott bezeichnen, welcher den Menschen aus den Schollen der Erde und aus Schlamm geformt und ihm wie allen anderen in der Natur lebenden Tieren (auch Pflanzen, Samen und sogar manchen unbelebten Dingen, also Perlen, Steinen, ja sogar Farben) Kraft und Gewalt der Liebe mitgegeben hat, so daß sie durch eine Art natürlicher Verwandtschaft, stillschweigender Anziehung und Übereinkunft eine freudige Sehnsucht danach empfinden, sich miteinander zu vereinigen. Beim Menschen aber, welcher der bedeutendste Teil dieser großen Schöpfung war, sollte die Liebe nach Gottes Willen eine noch größere Rolle spielen.
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Besonders relevant ist hier De amore or. 2 c. 7 (ed. Blum S. 60-65: »De duobus amoris generibus ac de duplici Venere«). Die Wendung >amor honestus< etwa wird von Ficino ausdrücklich verwendet: »amor uterque honestus atque probandus« (ebd. S. 62 - 64). Praef. 20-22.
195 Das Thema eines universellen, Mikro- und Makrokosmos einenden Bandes hat seine Entsprechung bei Ficino in Cavalcantis dritter Rede, die sich der platonischen Eryximachos-Partie widmet. 1 9 7 D o c h nicht nur die allfällige Semantik und Synonymik der Verbundenheit hat ihre Bezugspunkte in De amore, auch das Lob des Eros als >magnus deus< ist bei Ficino vorgeprägt und verweist über diesen zurück auf das Platonische Symposion.198 Wenn Celtis die Liebe derart in die Sphäre des Naturwissenschaftlichen übersetzt, so erinnert dies ferner an den aristotelischen ersten Beweger, Dantes »amor che muove il sole e l'altre stelle«. 199 Eros wird auf diese Weise zur vermittelnden Kraft zwischen Mikro- und Makrokosmos wie überhaupt zum Movens einer Lebensform im Zeichen der Venus, des >machtvollsten Gestirns im Kosmos·«. 200 Dieses kosmologische Argument, die universelle >Freundschaftnodus amoris< in der >praefatio< nicht ausdrücklich bemüht: D i e atmosphärische Nähe dieser erotischen Weltsicht zu Positionen aus De amore ist evident, wenngleich Celtis für das Thema eines kosmischen Liebesverbunds auch auf andere Quellen zurückgreifen konnte. Dies zeigt nicht zuletzt seine Vorrede zur Ausgabe von Pseudo-Apuleius' De mundo, deren Aussagen die der AmoresVorrede bis ins Einzelne präfigurieren. 202 Schon hier garantiert die Liebe den Zusammenhalt des kosmischen Gebäudes, 2 0 3 während die Rede von den 197
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Ed. Blum S. 90: »Quamobrem omnes mundi partes quia unius artificis opera sunt eiusdem machine membra inter se in essendo et vivendo similia, mutua quadam caritate sibi invicem vinciuntur, ut merito dici possit amor nodus perpetuus et copula mundi partiumque eius immobile substentaculum ac firmum totius machine fundamentum«. Wuttke: Humanismus, S. 413f. weist auf Stelle im Zusammenhang mit der >praefatio< hin. Zu Ficinos erotischer Angleichung ausführlich Kristeller: Ficino, S. 92f. Den zitierten Passus erläutert Cassirer: Individuum und Kosmos, S. 140ff.; Kristeller: Ficino, S. 97 weist darauf hin, daß Ficino später der Seele dieselbe zentrale Stellung zuweist, die in De amore die Liebe als >Knoten< der Dinge einnimmt. Auch Ficino betont in diesem Kapitel »vim amoris et imperium« (ed. Blum S. 32). Praef. 21. Ficino: De amore (Or. 1 c. 3 ed. Blum S. 33): »Ergo amorem esse deum magnum atque mirandum, nobilem preterea et maxime utilem sine controversia fateamur«. Grundlage ist hier Plat. Smp. 178 a. Or. 3, Kap. 2 ed. Blum S. 82: »Per hunc (sc. amorem) sancti illius spiritus celos movent et sequentibus sua muñera largiuntur«. Am. l,ll,33f. »Inest sideribus et elementis quatuor amicitia quaedam quam astronomia considérât« (ed. Blum S. 88). BW Nr. 179, S. 296: »Cognoscerentque quadam veluti brevi tabula et modica verborum sculptura, quo et per quem universus ille conflatus esset et consisterei, pulcerrimus orbis in se et suis partibus, numero, ordine (sap. 1,21; J. R.), ab opifice ilio et rerum omnium parente summa sapientia et pulcritudine admirabili absolutissime fabrefactus«. Ebd: »In cuius sinu et area, cum res humanae et divinae quadam cognatione et nexili foedere cohaereant, ineffabilique amore sociatae et permixtae videantur«.
196 >Hochzeiten der Götter und Göttinnen< auf eine >allegoria physica< schließen läßt, wie sie sich aus den mythologischen Figurationen eines Apuleius, Martianus Capella u.a. gewinnen ließ.204 Instruktiver für Celtis' Stellung zum neuplatonischen Liebesdiskurs sind eine Reihe kleinerer Motive, etwa die Vorstellung eines Seelentauschs der Liebenden, in der sich Motivik der Liebesdichtung, platonische Spekulation und biblisch-christliche Liebe 205 überlagern: Quid autem animorum et mentium nexu mirabilius, quos amor inenarrabili quadam commixtione in unam substantiam rapit et unit, quod Graeci μεταψυχήν, id est transmutationem vocant, ut duo corpora una se vivere anima alteraque se cum altera vivere et spirare putat et credit unaque morte sublata tamquam partem animae altera comitetur, ut nuper Ratisponae accidit? 206 Was aber gibt es Staunenswerteres als jene Verstrickung von Herz und Geist, welche die Liebe vermittels einer unbeschreiblichen Vermischung unwiderstehlich in eine Substanz zusammenschweißt - ein Vorgang, welchen die Griechen μετψυχή, also Vertauschung [sc. der Seele; J. R.] nennen - die Erscheinung also, daß zwei Körper vermeinen, mit einer einzigen Seele zu leben, und die eine der festen Über-
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Letzteres nimmt unmittelbar eine Wendung aus dem Traktat des Apuleius auf (Mund. 1 bzw. 5). Die universelle Verbundenheit zwischen Mikro- und Makrokosmos wird Apul. Mund. 19-21 mit zahlreichen thematischen Anklängen an die >praefatio< verhandelt. So auch in der Kosmogonie der Germania generalis. Demogorgon spricht die »semina rerum« an (Germ. gen. 17f.): »Dum mundi fabricetis opus, quod pace perenni/Alliget eternus concordi federe mundus«. Der Gedanke der Vollkommenheit des Kosmos steht dem Platonischen Timaeus (vor allem 33 cd) nahe; vgl. Am. 3,10,73f.; Wiener: Neuplatonismus, S. 119; Kristeller: Ficino, S. 43-55. Zu denken ist hier vor allem eine allegorische Auslegung der Hochzeit von Amor und Psyche am Ende der Erzählung des Apuleius (met. 6,23f.). Am ehesten läßt sich die Rede von den »deorum dearumque connubia« (praef. 29) jedoch auf die Rahmenerzählung des Martianus Capella in De nuptiis Philologiae et Mercurii zurückführen, in der vor allem zu Beginn das Hochzeitsthema mit seinen allegorischen Implikationen gegenwärtig ist. Hier finden sich Formulierungen wie »copula sacra deum« (S. 1,5); »conubium divum« (S. 2,3) und S. 2,17 die Wendung: »Cum inter deos fierent sacra coniugia procerationis undique numerosae«; S. 3,14-16: »hisque deorum altérais amoribus motus concitusque Cyllenius [...] uxorem ducere instituit«. Poetische Behandlungen des Themas >Götterhochzeit< konnte Celtis vor allem Lukrez sowie der Theogonie Hesiods entnehmen, von der ein Exemplar in Celtis' Bibliothek nachgewiesen ist. Henkel: Bücher, S. 145; BW S. 555 Anm. 1. Eine astrologische Deutung des >Hieros gamosAmor als Zivilisator und Städtegründerconviviumamor honestus< keiner weiteren Legitimation, so umso mehr jener entartete Eros, der die unheilvollen psychophysiologischen Folgewirkungen des Affekts zeitigt. 219 Wenn Celtis ihn als >insania< und >furormiseriaaerumnae< u. ä. bezeichnet, so wird leicht ersichtlich, daß hier platonische niedere Minne und elegischer >amor< bzw. Lebensdisposition zur Deckung gebracht sind. Neben der kosmologischen Argumentation stützt sich die >praefatio< wesentlich auf die ethische Begründung der Liebe wie der Liebesdichtung im Sinne einer Liebeskunst, die wesentlich abschreckende Wirkung auf die noch formbare Jugend ausüben soll. Damit wird einerseits der Vorwurf entkräftet, die Dichter seien >Doktoren im Fach Schandtaten und Magister in allen erdenklichen Verfehlungendiese jungen, adligen Männer keinesfalls von der Lektüre von Liebesgedichten abhalten solleamor honestus< bzw. >divinus< leicht zu belegen: Nam cum inter humanos affectus blandissimus, naturalissimus et potentissimus amoris sit adulescentibusque multa et varia inventionis, exercitii et ingenii experimenta suggérât, quis illos honesto ilio amore, ad quem nos natura vocat et sollicitât, ludere et iocari non permittat ad erigendasque animi vires et arcanas in amore cogitationes prope divinas de amore legere et audire non consentiet? 222 Denn da ja nun unter den menschlichen Affekten der angenehmste, natürlichste und mächtigste die Liebe ist und diese jungen Menschen viele verschiedene Gelegenheiten eröffnet, ihre Begabungen durch Erfahrung mit ihr zu entdecken und zu üben, wer sollte ihnen da nicht gestatten, mit jener reinen Form der Liebe, zu der uns die Natur ruft und antreibt, spielerisch und wie im Scherz Umgang zu pflegen, und wer wird nicht zustimmen, daß sie zur Weckung ihrer geistigen Kräfte geheimnisvolle, ja beinahe göttliche Reflexionen über die Liebe lesen und anhören?
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unum ac duo atque unum et Septem minium amorem inveniunt« (or. 3 Kap. 3, S. 86). Umfassend über die pythagoreische Musiktheorie in der Renaissance und ihre Quellen informiert Heninger: Touches, S. 91-104. Zu Ficino Kristeller: Ficino, S. 290f. Vielleicht ist Celtis auch von einem Kapitel aus De mundo inspririert, das die allseitige Harmonie im Kosmos beschwört (mund. 20 und 29). Praef. 42. Ebd. 11. Ebd. 15. Ebd. 16.
200 D i e Liebe also als »Wetzstein« 2 2 3 und Inzitament für den jugendlichen Geist. Celtis spielt damit einen Topos erotischer Apologetik aus, den Enea Silvio Piccolomini in einem Brief idealtypisch formuliert und der seinerseits Bruchstücke elegischer Liebesprotreptik zu moralistischer Gewißheit zusammenfügt: Scio namque humane vite conditionem. nam qui non amat in adolescentia in senio postmodum amat, quo tempore derisui est et vulgi fit fabula, quoniam etas illa amori inepta est. nosco preterea amoris consuetudinem, qui in juvene torpentes virtutes excitât hunc in armis exercet, illum in litteris. [...] adolescentes insuper non sunt nimium cohibendi, ne languidi et inertes fiant, permittendusque his est aliquis ludus, indulgendum est aliquantisper voluptati eorum, ut animum et cor sumant, ut sciant malum et bonum [Gen. 3,6; J. R.], ut versutias mundi noscant illasque, cum viri facti fuerint, evitare sciant. 224 Denn ich kenne den Lauf des Lebens: Wer nämlich in seiner Jugend nicht liebt, der muß es im Alter tun, wenn er nur noch zum Gespött und Gerede der Leute wird, weil dieses eben für die Liebe unangemessen ist. Ich weiß aber auch, was die Liebe für gewöhnlich zu leisten vermag: Sie weckt in der Jugend schlummernde Kräfte, spornt den einen zur Übung an den Waffen, den anderen zur Beschäftigung mit den Wissenschaften an. [...] Zudem darf man den jungen Leuten nicht allzu sehr dabei im Wege stehen, damit sie nicht trag und untätig werden, sondern sollte ihnen ein gewisses Maß an spielerischer Unterhaltung gewähren, ihrem Verlangen nach Vergnügen von Zeit zu Zeit nachgeben, damit sie zu Geist und Herz kommen, um gut und böse zu unterscheiden, um die Hinterhältigkeiten des Lebens kennenzulernen und diesen, wenn sie einmal zu Männern geworden sind, aus dem Weg gehen zu können. Unter solchen Vorzeichen wird denn auch in Celtis' Amores-Vorrede der Elegie als verdichteter Lebenserfahrung propädeutische Funktion beigemessen. Mit dem Nachdruck auf das >docere< werden die Texte einer Moralphilosophie zugeschlagen, in deren Zuständigkeit die Vermittlung eines >guten und glücklichen Lebens< fällt. 225 Entsprechend unterstreicht Celtis immer wieder, es sei Aufgabe und Ziel seiner Dichtung, menschliche A f f e k t e und Gefühlsdispositionen zur Darstellung zu bringen. So spricht er etwa am Ende des Exkurses zu Apuleius und Ovid davon, die Fabeln beider Autoren eröffneten unbegrenzten Stoff zu weiterer Deutung »ad affectum amoris et mentium nostrarum naturas«. 226 Eine solche moralphilosophische Nutzanwen223
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So Opitz: Poeterey ed. Schulz-Behrend 2,1, S. 353. Darauf bezieht sich Paul Fleming in der Vorrede seiner Suavia (Lat. Gedichte ed. Lappenberg S. 105): »Seimus namque, quod Germanas poesios Maro ait, deum illum ingeniorum quasi cotem esse, quo sensus stringere et acuere possumus, et res vitiis expers est«. Zum Vergleich der Liebe mit dem >Wetzstein< und dessen Quellen (Hör. ars 304: »Fungar vice cotis«) Borinski: Antike I, S. 139. Enea Silvio, BW Nr. 104 ed. Wolkan I, S. 245; Wiener: Neuplatonismus, S. 106f. Das Argument, die Liebe sei Inzitament und geistiges Übungsgebiet wird von hier aus zu einem zentralen Topos der Apologien zur Liebesdichtung. Zur Bedeutung der Ethik im deutschen Humanismus Wuttke: Dürer und Celtis, S. 366-380; Literatur ebd. S. 370 Anm. 123. Vgl. Peuerbach: Positio ed. Rupprich S. 202, der Formen und Intentionen der verschiedenen >fabulae< bestimmt: »Quasdam delectandi causa finxerunt poetae, quasdam ad naturas rerum, nonnullas autem ad mores hominum interpretati sunt [...].
201 dung empfiehlt Celtis schließlich auch in A m . 4,15, wenn er den Diskurs der >praefatio< aufnehmend für sich reklamiert: Hos non spurcus amor iussit me scribere versus: Affectum et mores philosophie notât; Docta poetarum describunt carmina mores, Quique hominum affectus, quid rationis opus.
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Diese Verse hieß mich nicht die gemeine Liebe verfassen, vielmehr ist es Sache der Philosophie, Affekte und Gesinnungen darzustellen. So behandeln die gelehrten Werke der Dichter die Gesinnungen, zeigen, welches die menschlichen Affekte sind und was Vernunft ausrichten kann. In solchen Zuschreibungen äußert sich ein für die humanistische Poetik charakteristisches Bemühen, Dichtung als Lebenslehre vermittelbar und akzeptabel zu machen. D i e moralische Lesart wird so zum stehenden Topos humanistischer Werbereden für die Dichtung 2 2 7 und führt damit die Praxis der mittelalterlichen >accessus ad auctores< fort, 228 die jede Dichtungsgattung spezifischen >partes philosophiaephilosophia moralispraefationes< und Lektüreanweisungen paganer Autoren. In der Frage der >partes philosophiae< wird die Dichtung dabei auch weiterhin bevorzugt der Ethik zugeschlagen. 2 3 0 Eine weitere Anregung für Celtis konnte die zeitgenössische Praxis der Literaturvermittlung, d. h. der Edition und Kommentierung von Klassikern der >Musa iocosa< (Catull, Horaz, die Elegiker) bieten, die ihrerseits dem Schema der mittelalterlichen Akzessus verpflichtet sind. 231
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Multa talia ad mores finguntur, ut ad rem, quae intenditur, ficta quidem narratione, sed veraci significatione veniatur« (ebd. S. 203). Celtis folgt diesem Schema, indem er die Mythen eines Ovid bzw. Apuleius »ad affectum amoris et mentium nostrarum naturas« deutet. So ordnet etwa Celtis' Lehrer Agricola die Dichtung insgesamt jenem Teil der Philosophie zu, »quae vitam atque mores hominum formandos sibi fingendosque desumpsit et nomine inde accepto moralis vocatur. Ea tota exhortationibus contra cupiditatum affectuumque impotentiam (!) primum, deinde praeceptis vitae tradendis consumitur«. Agricola: In laudem philosophiae (ed. Rupprich: Humanismus, S. 178). Klopsch: Dichtungslehren, S. 48-64. Ebd. S. 63. Für Italien vgl. Weinberg: Literary Criticism Bd. 1, S. 16-31 mit zahlreichen Beispielen. Grundlegend dazu Füllner: Natur und Antike, S. 156-165. Hardison: Enduring Monument, S. 18-23. Sigismund Gossenbrot stellt fest (Rechtfertigung ed. Rupprich S. 98): »Tertia (pars philosophiae) moralis, sub qua et etiam pro maiori parte est nostra poesis, doceat acquirere virtutes consuetudinales [...]. Nam de vita et moribus praecomode, multaque sapienter ab illis dicta ediscere quibit« (ebd. S. 100). Im Hinblick auf Celtis' Argumente in der >praefatioda sie es allein sind, die uns in ihren Schriften ausgeführt haben, wir man gut und glückselig lebt und uns den Gang des Menschgeschlechts wie der Welt insgesamt, mithin unsere Mutter Natur, wie ein nachahmenswertes Beispiel oder einen Spiegel des Lebens dargestellt habenaut prodesse volunt aut delectare poete< etc [...] Ad eticam spectat quia de suis moribus loquendo quarumlibet succubarum pelicis rivalium et lenarum mores insinuât« (S. 46). Solche >ethischen< Begründungen decken sich exakt mit denen der >praefatiolascivia< ins Feld: »Et si replicabitis: >Poesis a philosophia longe inferiorem tenet locum, quia philosophia mores instruit, contrarium poesis ad lasciviam contra bonos mores astruitamor honestus< und >amoris insaniaprudentia< bzw. >sapientia< unter dem Begriff >temperantialascivia< erweist sich als gegenstandslos, wo diese lediglich als Darstellungsmodus einer in ihrem Kern auf »temperantia« und »modestia« zielenden Lebenslehre fungiert. D i e moralisch korrekte Verurteilung der literarischen Beispiele durch den verständigen Leser wird ausdrücklich als Ziel der Lektüre ausgegeben. D e r Verweis auf die Negativität des literarischen Beispiels ist der zeitgenössisch beliebteste Topos zur Rechtfertigung jener Gattungen, die es mit jeder Art von dargestellter Erotik zu tun haben. 2 4 6 D i e hier untersuchten Abschnitte der Vorrede deuten jene Vorbehalte an, denen eine Nachfolge antiker Liebesdichtung um 1500 entgegenstand. Celtis nimmt in seiner Vorrede solche Bedenken ernst und unterzieht seine Amores gleichsam einer Lesart gegen den Strich. Im Sinne des >FiktionsToposars amandiobszöner Dichter< nur ex negativo, als Warnung und Satire, legitimieren: »Obscoenos autem poetas suaserim omnino non attingere aut certe non introspicere penitius, nisi forte noveris descripta magis horrere vitia et contentione turpium vehementius amare honesta« (Enchiridion ed. Payr S. 84). Überhaupt enthält Erasmus' ein Jahr nach den Amores (1503) erschienene Schrift aufschlußreiche Parallelen, die den Erwartungshorizont von Celtis' Moralistik beleuchten können. Vgl. vor allem ed. Welzig S. 330ff. Die Semantik von >Krankheit< und >Medizin< findet sich hier schon in der Überschrift: »Remedia contra specialia quaedam vitia et primum contra libidinem«. Ausdrücklich bezieht sich Erasmus in diesem Zusammenhang auf Piatons Dialektik des Eros (ebd. S. 336): »Compone inter se duas illas Veneres et duos Cupidines Platónicos, hoc est honestum amorem et foedum, sanctam voluptatem et turpem, confer utriusque dissimilem materiam, confer naturas, confer praemia«. Stenzel: Musa iocosa.
206 mentlich des >servitium amorispoetica theologiapraefatio< ruft dabei eine >interpretatio physica< Ovids ab, wie sie Celtis in der oratio als bevorzugtes Feld der Dichtertheologie postuliert hatte. 261 Wenn er sich von den (Natur-)Philosophen einen Moment lang absetzt und als Christ unter Christen spricht, 262 füllt Celtis geschickt die theologische Leerstelle der Ovidischen Kosmogonie christlich bzw. biblisch aus, indem er aus der ordnenden und verbindenden Tätigkeit seiner Schöpferinstanz ein Naturprinzip Liebe, das in den Metamorphosen allenfalls mitgemeint ist, als 256
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Met. 1,21-25: »Hanc deus et melior litem natura diremit./[...] quae (sc. die Elemente) postquam evolvit caecoque exemit acervo/dissociata locis concordi pace ligavit«. Die philosophischen Quellen der stark eklektischen Ovidischen Kosmogonie sind hier nicht zu diskutieren. Dazu Börner: Kommentar, S. 24-29. Dies entspricht weithin der Formulierung des »carmen saeculare« (Carm. saec. 93f.): »Nos tuum nomen fugit et potestas;/Quisquis es«. Met. 1,79: »Ille opifex rerum, mundi mêlions origo«. Ähnlich met. 15,218 (Pythagoras-Rede): »Artifices natura manus admovit«; 15,252 (natura) »rerum novatrix«. Natürlich konnte Celtis auch direkt aus dem Platonischem Timaeus, dem naturphilosophischen Grundtext des Mittelalters (in der Übersetzung des Chalcidius), schöpfen, der das Platonische δημιουργός geläufig mit »opifex« wiedergab (Stellen im Index der Ausgabe von Waszink, S. 417). Henkel: Bücher, S. 152. Praef. 27: »Amore totus orbis (in eo, quo et pulcherrimo ornatu fabrefactum conspicimus) ortus et absolutus est in praescriptumque ab auctore suo tempus manebit«. Vorgeprägt in BW Nr. 179, S. 296. Der Hinweis auf die festgelegte Lebenszeit des Kosmos (»in praescriptum ab auctore suo tempus«) bezeichnet einen weiteren christlichen Gedanken, der bei Ovid keine Entsprechung hat. Er verweist auf die biblische Apokalyptik ebenso wie auf die Einteilung der Weltgeschichte in >aetates mundi< bis hin zu Weltgericht und Weltuntergang, wie ihn die Schedeische Weltchronik im »letzt alter der werlt« darstellte. Oratio 106. Ebd. 81: »Neque nunc Graecorum et Latinorum poetarum fabulas physice interpretabor, qui divinarum omnium inventionum fontes sub poetica nube figmenti verum sapientibus aperuerunt«. Praef. 21.
208 erste Ursache hypostasiert. D i e Begriffe >creatio< und >creatura< deuten dabei absichtsvoll auf den biblischen Schöpfungsbericht, 2 6 3 der kosmogonische A m o r 2 6 4 verschmilzt mit einem »deus optimus maximus«, 2 6 5 der nicht den heidnischen Jupiter, sondern den Gott der Genesis bezeichnet. Einen weiteren Anknüpfungspunkt hierfür entnimmt Celtis dem Text der
Metamorpho-
sen, indem er die Prometheus-Erzählung in Anknüpfung an Boccaccio 2 6 6 mit der biblischen Erschaffung A d a m s >aus Erde und Schlamm< v e r b i n d e t 2 6 7 In der Sache nimmt Celtis' Dichterallegorese hermeneutische Verfahren auf, wie sie der italienische Neuplatonismus an der Dichtung eines Ovid oder Vergil entwickelt hatte. D a b e i ließ sich die M e t h o d e gleichsam umkehren, indem nunmehr der Dichter selbst das Verhüllen einer vorgängig erfaßten Wahrheit betrieb. D i e s e s Verfahren einer darstellenden Theologie< bildet ein wichtiges Anliegen des Florentiner Kreises, 2 6 8 das sich poetisch-natur-
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Entsprechend mit Nachdruck am Ende der Germ. gen. 281-283: »Quam (sc. Germaniam) [...] deus et natura creauit«. Celtis greift mit dem kosmogonischen Eros ein (neu)platonisches Thema auf, das etwa bei Leone Ebreo diskutiert wird. Die erste Liebe ist die Gottes zu sich selbst (»II primo amante si è Dio conoscente e volente, il primo amato è Dio sommo bello«) und bringe den Kosmos hervor. Leone Ebreo: Dialogo III ed. Caramella S. 253. Aug. civ. 14,7; trin. 15,19. Auf der anderen Seite setzt Celtis die christliche Gleichsetzung >Gott ist die LiebeVerwandlungen< waren längst nicht nur Grundbuch abendländischer Mythologie, 271 sie avancierten auch zur »allegorischen Bibel der Renaissance«, 2 7 2 der man durch Unterstellung von Polysemien vor allem moralische Lehren entnahm. D i e mittlelalterliche Tradition des >Ovidius moralizatus< bzw. >Ovide moralisé< 273 ließ das epische Verwandlungswerk zur erstrangigen Quelle arkaner Wahrheiten werden und sicherte seinem Autor das Renommee des >physicus< und >ethicusinterpretatio physica< anbieten mußte. 2 7 5 A m Beispiel dieses Textes führt etwa Boccaccio in den Genealogie deorum gentilium sein hermeneutisches Prinzip der Polysemie (»moltiplices sensus«) heidnischer Mythen ein 2 7 6 Ovids 269 270
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Zur Struktur des Zyklus eingehend Ludwig: Hymni naturales. Als Beispiel mag der Amor-Hymnus dienen, der zahlreiche neuplatonische Argumente im Anklang an die Ovidische Kosmogonie der Metamorphosen bietet. Aufschlußreich für Celtis' Verfahren ist ferner Marullos Kosmogonie im Jupiter-Hymnus. Auch sie enthält zahlreiche Ovid-Anklänge, zwischen denen immer wieder christliche Reminiszenzen hörbar werden. Zur Rezeption der Metamorphosen in Mittelalter und Früher Neuzeit vgl. Munari: Ovid im Mittelalter; Moog-Grünewald: Metamorphosen. Borinski: Antike, S. 118. Eröffnet wird die Tradition durch das zu Beginn des 14. Jahrhunderts französisch abgefaßte Gedicht eines Anonymus (Seznec: Fortleben, S. 72-75). Einflußreich wurde vor allem Bersuires Tractatus de reductione fabularum et poetarum poematibus, besser bekannt unter dem nicht vom Autor stammenden Titel Ovidius moralizatus. Der Traktat wurde verschiedenen Autoren, darunter vor allem Thomas Walleys, zugeschrieben. Ghisalberti: Ovidius moralizatus, S. 46-73 (Storia del Testo). Ghisalberti: Medieval Biographies, S. 54 zitiert einen Metamorphosen-Aikzessus aus dem 14. Jahrhundert: »Ethicus et phisicus est auctor iste: phisicus quia loquitur de confusione prime materie, de mundi origine et de elementorum divisione, eticus quia loquitur de moribus«. Berchorius hebt im Prolog seines Ovidius moralizatus (ed. Orgel Fol. A Ir) vor allem auf die >natürliche< neben der >historischmoralischen< Mythendeutung und ihrer abendländischen Tradition vgl. Seznec: Fortleben, S. 65 - 94. Dort zu Ovids Metamorphosen S. 7174. Zur >philosophischen< Deutung der Ovidischen Kosmogonie schon im Mittelalter vgl. Klopsch: Dichtungslehren, S. 100. Genealogie 1,3 ed. Romano Bd. 1, S. 19: »Sciendum est his fictionibus non esse tantum unicum intellectum, quin imo dici potest polisenum, hoc est moltiplicium sensum. Nam sensus primus habetur per corticem, et hie licteralis vocatus est; alii per significata per corticem, et hi allegorici nuncupantur«. Boccaccio zitiert dabei S. 19 eben jene Formulierung von der »sacrarum rerum notio« (somn. l,2,17f.), die auch Celtis in der oratio (79) wörtlich anführt. Weitere Zitationen dieses zentralen
210 Version der Weltentstehung wird so für die Folgezeit zur Quelle naturphilosophischer Erkenntnisse, die, so die Prämisse, der gelehrte Dichter seinem Verwandlungswerk eingeschrieben haben soll. Celtis' >praefatio< setzt diese zeitgenössische Lesart voraus und beteiligt sich auf ihre Weise an Spekulationen über die Deutung der Gottesfrage in den
Metamorphosen.
Vermittelt werden solche Lesarten wesentlich durch die zeitgenössischen Metamorphosen-Kommentare
und
-editionen. 2 7 7
Zwischen
Latein-
und
Volkssprache wie zwischen literaler und sprituell-allegorischer Interpretation eröffnet sich dabei eine Vielzahl hermeneutischer Variationen, die immer wieder physiologische D e u t u n g e n mit ethischen verbinden. Stellvertretend für viele belegt diese Ansätze philosophischer Kontextualisierung der viel benutzte Kommentar des Bergamasken Raphael Regius, 2 7 8 dessen Spekulationen zu den Lemmata >hanc deus< und >melior natura< vor allem das Interesse an Ovids monotheistischem Entwurf bezeugen. 2 7 9 Immer wieder erscheinen seit Laktanz 2 8 0 Wendungen und Fragmente zu den Komplexen >chaos< und >deus et melior natura< in zeitgenössischem Kontext. 2 8 1 D a b e i wird für gewöhnlich, etwa in Schedels liber Chronicarum,
eine prästabilierte
Harmonie zwischen Ovidischer und biblischer Aussage der »verporgen mo-
Passus bei Osgood: Boccaccio on Poetry, S. 157 Anm. 8. Daß Celtis mit diesem einleitenden Methodenkapitel der Genealogie vertraut war, belegt sein Rekurs auf den Demogorgon-Mythos in der Germania generalis, der zudem die Ausführungen der Genealogie in die poetische Hülle der Ovidischen Weltentstehung rückübersetzt. Am Demogorgon-Mythos als »ridicula fabula« (S. 18) wird für Boccaccio die Notwendigkeit offenbar, »a veritate amovere fictionis corticem« und so die Frage zu klären, »quid poetae dei opera vel nature vel hominum hoc sub fabularum velamine tradidere«. Zu Celtis' Ovid-Rezeption auch Müller: Germania generalis, S. 114-116 sowie S. 306-310. 277 Hierzu Guthmüller: Kommentare. 278 Zu seiner Person Ebd. Kommentare, S. 125f. 279 Ovidius Naso, Publius: Metamorphoses. Kommentiert von Raphael Regius, Venedig: [Bartholomaeus de Zanis für] Octavianus Scotus, [28. Februar] 1492 (Hain 12169), Fol. A [l]v: zum Lemma »hanc deus«: »Vt autem inquiunt Stoici Deus est animal immortale rationale perfectum siue intellectuale. beatum. a malo omni remotissimum prouidentia sua mundum et quae sunt in mundo disponens omnia, non tarnen inesse illi humanae formae lineamenta aiunt. Caeterum esse quidem opificem inmensi huius operis sicuti et patrem omnium«; zu >melior naturae »Meliorem naturam deum uocat: qui mens et causa a Platone appellato. Nam Plato quoque duo rerum principia posuit Deum et materiam quam informem et infinitam esse ait. Eamque in quatuor elementa ignem. aerem. aquam. terram a deo siue mente fuisse conuersam asserit. Hoc idem et Stoici senserunt: qui unum esse deum aiunt: ipsumque et mentem et fatum et Iouem multisque aliis nominibus appellatum ex informi materia primum quatuor elementa genuisse«. 280 j ) j v ¡ n s t 1513; »Ovidius quoque in principio praeclari operis sine ulla nominis dissimulatione a deo, quem fabricatorem mundi, quem rerum opifice vocat, mundum fatetur instruetum«. 281 So auch im Schöpfungsbericht der Schedeischen Weltchronik (Fol. 2r), der unter Berufung auf Moses, den »gottlich prophet und geschieht beschreiber«, die antike Idee eines ewigen Kosmos, die der biblischen >creatio ex nihilo< widerspricht, zurück-
211 sayschen Schriften von der werlt geschópff und von den wercken der sechs tag«, mithin »den heimlichen ding der gantzen natur«, stillschweigend in Rechnung gestellt. 282 Dies schreibt eine mittelalterliche Auffassung fort, wonach gerade das erste Buch der Metamorphosen (Weltschöpfung, Erschaffung des Menschen, Giganten, Diluvium usw.) für eine Vertrautheit Ovids mit den verborgenen Wahrheiten der biblischen Genesis wie für deren allegorische Verhüllung göttlicher Wahrheiten bürgte. 283 Mit der zeitgenössischen Plausibilität dieser Lesart rechnen auch die Ovid-Anspielungen der Vorrede. Neben dem >Ovidius physicus< reklamiert Celtis andererseits auch den >ethicus< für seine Argumentation und stellt sich so in die lange Tradition der Ovid-Moralisierungen, die sich in die humanistischen Kommentare hinein fortschreibt. So werden die Mythen der Metamorphosen etwa in der Ausgabe des Raphael Regius zu Beispielen für Recht und Falsch< (»virtutum vitiorumque exempla«), 284 während sie Celtis in der Vorrede als Allegorien sittlicher Entartungen gelten, als Deformationen bzw. Transformationen ins Tierische, wie sie der Diskurs um die Würde des Menschen und die Lebenswahlfrage oft genug beschworen. 285
4.2.3.2. Apuleius, Beroaldo und Celtis Neben Ovid beruft sich Celtis grundlegend auf Apuleius. Dabei mag einerseits an eine >moralische< Deutung der allegorischen >Amor-und Psychenatio Germanica< von Bologna zum Jahr 1470 (»a domino Conrado Celtis Francone X Bologninos«) als spätere Retusche. Immerhin wäre der Dichter zu diesem Zeitpunkt nicht älter als elf Jahre gewesen. Einen Eintrag in der Matrikel der Universität findet sich indes nicht. Celtis hatte mit dem Erwerb des Magistergrades seine akademische Ausbildung beendet und somit keine Veranlassung mehr, sich in Italien zu immatrikulieren. Sein Aufenthalt entsprang einem rein persönlichen Interesse, der Orientierung und Vervollkommnung seines Horizonts in den studia humanitatis (Preiss: Celtis, S. 116). B W Nr. 339, S. 610: »Et ad Italiam profectus [...] Bononiae Philippum Beroaldum [...] audivit«. Preiss: Celtis, S. 116 nimmt als Zeitpunkt der Reise 1487 an. Vgl. den brieflichen Rapport des Vinzenz Lang über seine Italienreise ( B W Nr. 256, S. 438): »Philippum Beroaldum in philosophia [morali], in oratoria et poetica Interpretern fidelissimum et lectorem eloquentissimum, qui et soluta oratione et carmine scripsit complurima«. Preiss: Celtis, S. 117.
213 Werken, 294 namentlich zum Apuleius-Kommentar, der wenige Jahre vor dem Amores-Omck erschienen war. Hartmann Schedel, Celtis' Nürnberger Freund, besaß ein Exemplar eben dieser Erstausgabe der Metamorphosen mit den Kommentaren Beroaldos in seiner umfangreichen Bibliothek. 295 Für Beroaldo wie für die italienischen Neuplatoniker ist der Roman des Apuleius primär ein philosophisches Buch. Bereits Edgar Wind hat auf diese Rezeption der Metamorphosen in Italien hingewiesen. 296 Apuleius, der sich selbst als »philosophus Platonicus« 297 bezeichnete, war ohnehin für die Renaissance vor allem der Autor von Einführungen in die platonische Philosophie sowie Verfasser einer Kosmographie (De mundo). So mußte sich eine auf spätantiker Tradition (Fulgentius) beruhende, durch Boccaccio und das Quattrocento vermittelte allegorisch-moralische Lesart des Asinus aureus anbieten, die philosophisches und literarisches Werk des Apuleius auf ein Ziel perspektivierten. Für Celtis war vor allem der Zusammenhang von Verwandlung, Magie und Eros von Bedeutung, wie ihn Beroaldo auf der Grundlage des Romans und unter Rückgriff auf platonische Leitideen als >defensio magicae artis< konzipierte. Diese Lesart nimmt primär auf den ersten Teil des Romans bis zur mißglückten Verwandlung des Lucius in einen Esel Bezug. Immer wieder werden im Laufe dieser ersten drei Bücher der Metamorphosen, die von der Reise des Erzählers Lucius ins Hexenland Thessalien handeln, magische Praktiken geschildert. Der Held selbst thematisiert immer wieder sein Verlangen, >die Magie kennenzulernen< und beschwört so schließlich seine eigene Verwandlung herauf. 298 Beroaldo kontextualisiert die Metamorphosen in seiner Vorrede als verschlüsselte Darstellung einer doppelten, ambivalenten Magie, die - entsprechend dem platonischen Eros in zwei gegensätzliche Wirkkomponenten zerfalle. Philosophisch-pädagogisch begründet von Plato, literarisch durch Homer, integriere die Magie >drei andere Künste, denen die allergrößte Macht über den Menschengeist zukommt, nämlich die Medizin, die Religion und die Astrologien 299 Vor allem die magische Reduktion der Homerischen Odyssee soll die Persistenz des Themas in der Literatur seit den Anfängen zeigen. 300 Entscheidender als die autoritätsbeflissene Topik solcher >laus magiae< ist für unsere Fragestel-
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Laurentius Corvinus übersendet Celtis zusammen mit einem Brief (BW Nr. 217) ein Exemplar von Beroaldos Declamatio lepidissima Ebriosi: Scortatoris: Aleatoris: de viciositate disceptantium (BW S. 363). Stauber: Bibliothek, S. 138. Wind: Heidnische Mysterien, S. 118. Zur philosophischen Deutung des Beroaldo vgl. Krautter: Philologische Methode, S. 64-71. Haight: Apuleius, bes. S. 111-134 (aber ohne Hinweis auf die neuplatonische Rezeption). Apol. 10. Ebd. 2,6. Beroaldo ed. Oudendorp S. 3. »Tres alias artes imperiosissimas humanae mentis«, nämlich »medicinam, religionem, ac astrologiam«. Ebd. S. 3. Dies neben anderem auch aus Isid. orig. 7,9.
214 lung Beroaldos begriffliche Bestimmung der Magie wie deren strikte Systematisierung zwischen >Gottesdienst und >TheurgieDienst an den Göttern«. So nämlich sagt er im ersten >Alkibiades< [122 al; J. R.]: >Die Magie ist ein Dienst an den Göttern. Daher nennt sie Apuleius auch [apol. 26; J. R.] eine >Priesterin der Göttermagia naturalis« stehe ein anderer gegenüber, >welche auf der Macht der Dämonen beruht, eine - bei Gott abstoßende, verfluchte, sinistre Magie, die man mit dem abscheulichen Begriff der >Goetia< [>HexereiTheurgie< bezeichne.HydromantiaPyromantiaGeomantiaChiromantia< oder >Necyomantia< darstellt, läßt Beroaldo im folgenden keinen Zweifel, wenn er mit Bezug auf Worte des Lucius in den Metamorphosen vor Neugier und >Leichtgläubigkeit< gegenüber dieser Form der Magie warnt. Bedeutsam für Celtis' >praefatio< ist an Beroaldos Ausführungen vor allem die Engführung von >amor infamis< und (schwarzer/theurgischer) Magie, die im Roman selbst allenfalls angedeutet wird. Beroaldos magische Bestimmung der Liebe ist verständlich im Horizont magischer Weltsicht,302 wie sie sich philosophisch im Umfeld des Florentiner Piatonismus konstituierte und von hier aus nach ganz Europa ausstrahlte. Die Gleichsetzung von Liebe und Magie wie die analoge Zuordnung von >amor divinus< und >weißer< bzw. von »amor turpis« und >schwarzer< Magie als >Behexung< (»fascinatio«)303 ist als Interpretament bereits in Ficinos Symposion-Kommentar gegenwärtig und hat von hier aus, vermittelt durch Beroaldos Kommentare, später durch Texte wie Agrippas von Nettesheim De occulta philosophia weiteste Verbreitung gefunden. 304 Der locus classicus zur magischen Prädikation des Gottes 301
Ebd. 302 Müller-Jahnke: Weltbild. Beroaldo ed. Oudendorp S. 5: »Caeterùm non parum multi credulitatem suam addixerunt magicae doctrinae, perinde ac rerum cunctarum potentissimae: inter quos (ut caeteros praeteream) L. Lucius Patrensis [...] desiderio noscendae magiae flagrans«. 303 Fic. de am. or. 7 Kap. 4 (ed. Blum S. 320-329); Cersowsky: Magie und Dichtung, S. 60f. Schon Ficino beruft sich hier (ed. Blum S. 326) auf einen Passus aus Apuleius' Roman (met. 10,3), um die Wirkung der >fascinatio< zu illustrieren. 304 Grundlage ist immer wieder die Diotima-Rede 203d. Cersowsky: Magie und Dichtung, S. 59f.; Kemper: Liebe in der Frühen Neuzeit, S. 149-153 zu Ficinos magischem Erotismus und seiner Ausstrahlung. Grundlegend Couliano: Eros et magie, S. 125-233, bes. S. 125-27 (Zur Grundlegung des Konzepts durch Ficino).
215 A m o r in Ficinos Sy/n/Josion-Kommentar, der gleichzeitig die Quintessenz von Celtis' Ausführungen in der >praefatio< trifft, findet sich dabei in Bencis Exegese der Sokrates-Rede: Nicht nur die Identität von Liebe und Magie, auch die kosmische Note einer wechselseitigen, Mikro- und Makrokosmos verbindenden Sympathie der Dinge präfiguriert hier die Ausführungen von Celtis' >praefatiounter der Hülle der Verwandlung^ den Macrobius bei seiner Einschätzung des Romans noch so entschieden bestritten hatte: 307 Verùm sub hoc transmutationis involucro, naturam mortalium et mores humanos quasi transeunter designare voluisse: ut admoneremur, ex hominibus asinos fieri, quando voluptatibus beluinis immersi, asinali stoliditate brutescimus, nec ulla rationis virtutisque scintilla in nobis elucescit. Sic nam homo (ut docet Origines in libris περί άρχων) fit equinus et mullus, sic transmutatur humanum corpus in corpora pecuina. Rursus ex asino in hominem reformatio signât calcatis uoluptatibus exutisque corporalibus deliciis rationem resipiscere, et hominem interiorem, qui verus est homo, relicto ergastulo ilio coenoso, ad lucidum habitaculum, virtute et religione ducibus remigrasse. Ita ut dicere possimus iuvenes illice voluptatum possessos in asinos transmutan: mox senescentes, oculo mentis vigente, maturescentibusque virtutibus, exuta bruti effigie humanam resumere. 308 Doch unter diesem Mantel der Verwandlung habe er die menschliche Natur wie die Gesinnungen der Menschen gleichsam im Vorbeigehen darstellen wollen, um uns zu mahnen, daß wir aus Menschen Esel werden können, wenn wir uns in tierische Lüste versenken und eselsdumme Tiere werden, so daß kein Funken von Vernunft und Tüchtigkeit mehr in uns glimmt. Auf diese Weise nämlich, so lehrt uns Origines in seinem Buch Περί άρχων, wird der Mensch zum Pferd oder zur Meerbarbe, verwandelt sich sein Körper in den eines Tieres. Die neuerliche Verwandlung in einen Menschen deutet dagegen an, daß die Vernunft, wenn der Mensch seine Lüste bezwingt und seine körperlichen Leidenschaften ablegt, wieder zur Besinnung kommt und der innere Mensch, welcher der echte ist, aus jenem 305
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De amore, or. 6 Kap. 10 S. 242f.: »Sed cur magum putamus amorem? Quia tota vis magice in amore consistit. Magice opus est attractio rei unius alia ex quadam cognatione nature. Mundi autem huius partes ceu animalis unius membra, omnes ab uno auctore pendentes, unius nature communione invicem copulantur [...] ex communi cognatione communis innascitur amor, ex amoris communis attractio. Hec autem vera magica est«. Beroaldo ed. Oudendorp S. 6f. Macr. somn. 1,2,8. Beroaldo ed. Oudendorp S. 6.
216 schmutzigen Gefängnis unter der Führung von lügend und Religion wieder zu den Wohnstätten des Lichts zurückfindet. So können wir formulieren: Wenn die Jungen, die von den Lockungen des Vergnügens beherrscht sind, sich in Esel verwandeln, so gewinnen sie im Alter, wenn das Auge des Geistes sie dazu drängt, die eigenen Fähigkeiten reifen und sie das Aussehen eines Tieres ablegen, wiederum menschliche Gestalt. D i e Berührungspunkte zu Celtis' Argumentation sind evident. Übereinstimmungen zeigen sich dabei vor allem im hermeneutischen Modus (»sub hoc transmutationis involucro«), in der Konzentration auf den Sensus moralis des Werkes, aber auch im paränetischen Gestus (»admoneremur«), der sich an die Zielgruppe der »iuvenes« richtet. Auch die vertraute Polarität von >tierischem< Affekt und rationaler Kontrolle, das (ontologische) Herabsinken des der Sinnlichkeit ergebenen Menschen, präfiguriert Celtis' Einlassungen über die »schamlose und schmutzige Liebe« in der Amores-Vonede.309
Bei Be-
roaldo wie bei Celtis schwingt ein Grunddiskurs humanistischer Existentialanthropologie mit, das Thema der >dignitas hominisAngleichung an Gott< (όμοίωσις τω θεω). Zur Diskussion um die Würde des Menschen in der Renaissance vgl. Buck: Rangstellung; Gerl-Falkovitz: Einführung, S. 63-69. In Celtis' >praefatio< ist die Sonderstellung des Menschen im Kosmos durch seine privilegierte Empfänglichkeit für den erotischen Affekt, seiner >dignitas amantiserrores< das Sinnbild des menschlichen Lebens und seiner irdischen Verirrungen wahrnimmt. Zur allegorischen Deutung
217 beiden ontologischen Stufen der »transformatio« ordnen sich für Beroaldo einer Polaritat von Wissen und Nichtwissen zu. Die tierische Verfaßtheit des Menschen dauere bis zum Verzehr der Rosen an, welcher allegorisch auf das Wiedergewinnen von Wissen und Bewußtsein des Menschen in der Rückkehr zur Heimat des inneren Menschen verweise. In Beroaldos Auslegung von Verwandlung und Rückverwandlung erweisen sich damit dieselben Antinomien am Werk, auf denen auch Celtis' >praefatio< insistiert. »Descensus« und neuerlicher »ascensus« zu >menschlicher< Form< in ihrer konstitutiven Rationalität stehen sinnbildhaft für den Lernprozeß eines Lebens, dessen literarischer >Spiegel< dem Leser vorgehalten wird. Dem Schema der beiden Liebesformen in Celtis' Vorrede steht hier eine doppelte Magie zur Seite, die einerseits mit der wahren »Philosophia Platonica« zusammenfällt, andererseits als »goetia« ihre Auswirkungen vor allem in jenen Niederungen der Sinnlichkeit findet, in die auch Celtis' >amor spurcus< hinabsteigt. In beiden Fällen findet sich dieselbe, auf der platonischen Grundspannung von sinnlicher und intelligibler Welt beruhende Dialektik. Den verborgenen Angelpunkt des Romans macht Beroaldo im platonischen Konzept der Seelenwanderung aus, wie es der Dialog Phaedon entwikkelt, 314 die Metamorphosen stellen so »palingenesiam atque metempsychosim« des Menschen dar. Dabei scheint der Begriff >metempsychosis< in dem einer >μεταψυχή, also Vertauschung [sc. der Seele; J. R.]Verwandlung< die »transfigurado« des apuleianischen Romans mit dem neuplatonischen wie liebeslyrischen Gedanken des >Seelentauschs< (»metapsyché«), den Celtis theoretisch in Ficinos Symposion-Kommentar formuliert finden konnte und den er auch poetisch verarbeitet hat. Auch in den Amores selbst wird die Verbindung von >amor spurcus< und Magie immer wieder in Reflexen sichtbar. 316 Wenn etwa Apoll in
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der Kirke-Episode im spätantiken und christlichen Kontext Rahner: Griechische Mythen, S. 161-196 und S. 291-300. Vgl. Manilio: Hymni naturales 1,102-105 ed. Perosa: »Eripe tot pelagi iactatos tristibus undis,/Tot caecis pressos tenebris, pater; exue vota/Impia: nil vanum, nil admiremur inane/Antiquae memores patriae«. Nach Plotin 1,6 (1) 8,16. Die Verwandlung der Gefährten des Odysseus in Schweine und »brutas animantes« durch Kirkes magische »pharmaca« weist dabei prägnant auf eine unaufgeklärte, >heimatvergessene< condicio des >inneren Menschenpraefatio< und andernorts könnte Celtis auch hier zu einer ad-hoc-Gräzisierung gegriffen haben, die sich an jenem Ausgangsbegriff der »metempsychosis« orientiert, mit dem lateinischen Terminus >transmutatio< jedoch ein ganz heterogenes, gleichwohl auf den zitierten Passus Beroaldos verweisendes Konzept evoziert, welches dann wiederum in eine schwebende Verbindung mit >all diesen Fabeln aus Ovid und Lucius* gebracht wird. Dazu jetzt eingehend Wiegand: Magie.
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Am. l,7,75ff. den Dichter warnt, sich in Liebe zu einer »docta meretrix« zu verstricken, so führt er zur Begründung ausdrücklich die Gefahr der Verwandlung an, mit der auf die des Lucius bei Apuleius, aber auch auf die Kirke-Episode der homerischen Odyssee und ihre neuplatonisch-moralische Deutung angespielt wird.317 In Am. 1,11,5-10 setzt Celtis eine solche Deutung des Apuleius »ad affectum amoris et mentium nostrarum naturas« voraus. Die Verwandlung des Lucius in einen Esel wird hier explizit im Zusammenhang der Frage erörtert, ob sich die Körper der Liebenden unter dem Einfluß der Liebe bzw. magischer Kräfte verwandeln könnten. Dabei referiert Celtis in groben Umrissen den Kontext der Verwandlungsszene aus dem Roman des Apuleius. Im Horizont einer rinascimentalen Blüte magischen Denkens gewinnt auf diese Weise das in der klassischen Elegie fest verankerte Magiethema318 eine neue, durch philosophische Spekulation unterfütterte Aktualität. Indes war die Verwandlung des elegischen Liebhabers selbst ein Aspekt, der nur über die Vermittlung platonisch-magischer Theorie Eingang in die Dichtung finden konnte.319 Eingehend wird die spekulative Verschränkung von Liebe und Magie dann in Am. 1,14 (»De exclusione; necromanticas et magicas artes commémorât«) behandelt, wo vor allem das Referat des von Celtis' konsultierten »necromanticus« das Weltprinzip >amor< mit der »magia naturalis« neuplatonischer Observanz verbindet.320 Immer wieder ist auch sonst in den Amores die Magie ein Hauptthema, 321 das auf seine Weise eine Pluralisierung des erotischen Diskurses zwischen platonischer Philosophie und Liebesdichtung sichtbar werden läßt. Diese vollzieht sich freilich stets im Modus eines >serio ludere< oder, wie Celtis am Ende der >praefatio< ankündigt, eines »seria mixta iocis«.322 Weniger also in den schieren Entlehnungen apologetischer Gemeinplätze als in der überraschenden 317
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Am. l,7,77f.: »Nam te transformet (mihi crede) in mille figuras,/Ut mea Circaeis nata solebat aquis«. Die Allegorese der Kirke-Episode findet sich in ganz ähnlicher Weise auch bei Manilio: Hymni naturales 1,1,37-41 ed. Perosa: »Ipsi, inter facies simulachraque mille ferarum/Impia Circaeae depasti pocula mensae/Obscaenis stabulamur haris, nec tecta paterna /respicimus dulcemque Ithaco de culmine fumum/ Iam pridem in foedas dociles transiré figuras« vgl. auch Hör. epist. 1,2,23ff. und 1,6,63. Hipet: Magie; Luck: Hexen und Zauberei, bes. S. 4 4 - 5 3 . Die Verwandlung von Körpern bezeichnet Celtis auch in Od. 3,19,13-16 (»Ad Ioanem Melberium Bambergensem philosophum de omnímoda magia«) als eine Wirkform der Magie: »Inter has quaeris, magici labores/An queant nostros ánimos movere et/Corporum formas variis figuris/Vertere et artus«. Einen bezeichnenden Vorläufer findet Celtis' Behandlung des Themas in einer Elegie Giovanni Marrasios mit dem Titel: »De transmutatione laboriosaque amatorum vita ad Medusam divam puellam« (Carmina 15 ed. Altamura), in welcher der Dichter ähnliche Klage wie Celtis erhebt: »Quid referam? Converter amans in mille figuras/quaque die et totidem nocte silente novas« (v. 19f.). Am. 1,14,73-89. Dazu auch Kap. 5.4. Am. 2,7,1-11; 2,11,47; 3,9,26 (schwarze Magie als Profanierung, so auch 3,10,65ff.); 4,10,59f.; 4,12,47-50.
219 Ambivalenz zwischen erotischem Spiel und philosophischer Kontextualisierung verweisen Celtis' Ausführungen auf ihren italienischen Nährboden, transzendieren diesen jedoch zugleich in ihrer radikalen Lust am jokoseriösen Experiment.
4.2.4. >Fundamenta nostrae religionism Synkretismen des Liebesbegriffs als apologetisches Argument Die vorausgehenden Vergleiche haben gezeigt, daß sich Celtis mit seiner >laus et defensio amoris< motivisch und argumentativ im Umkreis der italienischen Neuplatoniker, vor allem Picos, Ficinos und Beroaldos, bewegt. Freilich hat sich gegenüber Ficino der Kontext der Diskussion und ihrer Argumente verschoben. Celtis übernimmt Ficinos synkretistische, den platonischen mit dem christlichen Liebesbegriff verbindende Perspektive, um eine solche präsupponierte Einheit des Eros als apologetisches Argument für die eigenen Zwecke zu funktionalisieren. Die Vorrede und ihr platonisches Ideensubstrat stehen somit, wie im folgenden zu begründen sein wird, in einem rhetorisch-apologetischen, nicht mehr in einem metaphysisch-spekulativen Zusammenhang. 323 Die Leitthese der folgenden Synkrisis von AmoresVorrede und Symposion-Kommentar lautet damit etwa folgendermaßen: Das Verbindende, die zeitgenössische Signatur beider Texte besteht in jenem Bemühen, im Sinne einer Philosophia perennis mythisch-poetische, christliche und platonische Lehre zur Deckung bringen. Dabei weist schon Kristeller auf das bedeutende Substrat der Liebesdichtung hin, das Ficino mit dem platonischen Eros des Symposion wie mit der christlichen >caritas< zu erklären und zu harmonisieren sucht. So ist der philosophische Liebesdiskurs in De amore »vor allem durch die alte provenzalische und toskanische Lyrik vorbereitet worden, an deren Vorstellungen er ganz bewußt angeknüpft hat«. 324
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Auch Ficino unterstellte Piaton eine solche Hermeneutik, wonach das Scherzhafte in den platonischen Texten der Verhüllung arkaner Weisheit diene: »Was >facete< klingt, muß Ficino für Dissimulation halten« (ed. Blum, S. XXIII). Dies gilt jedoch auch für Ficino nur cum grano salis, scheint doch die Diskussion von De amore mit ihrer Verbindung von poetischer, philosophischer und theologischer Tradition nicht ganz ohne apologetische Interessen zu sein. Kristeller: Ficino, S. 269 und ff.; Friedrich: Epochen, S. 286-293. Kristeller weist in diesem Zusammenhang summarisch auf die poetische Herkunft der gesamten »Formelsprache der Liebe«, etwa der Motivik von Seelentausch und Bedeutung der Augen hin, ohne dies jedoch im einzelnen zu belegen. Die Vielfalt der Quellen und begrifflichen Bezüge wird zum allgemeinen Zug der Liebestraktate: »In the treatises under consideration, love is a concept of multiple derivation: Christian charity, Plato's love, the friendship of Aristotle and of Cicero, and the love of stilnuovo poets and of Petrarch are all importantly represented«. Nelson: Theory of Love, S. 73.
220 Im Denken Ficinos wie des Florentiner Neuplatonismus steht der Synkretismus bzw. Pluralismus der erotischen Diskurse im Horizont einer >theologia platonica^ Aus der platonischen als einer >pia philosophiafrommen Philosophen< Pythagoras, Sokrates und Piaton zu Wegbereitern des Christentums avancieren. 326 Die synkretistische Hypothese wird von hier aus zur Communis opinio aller philosophischen Derivate des Florentiner Quattrocento-Platonismus und damit zum Schlüssel für theologische Kontaminationen aller Art. Daß eine solche Argumentation zugleich apologetischen Zwecken dienen konnte, wird daran ersichtlich, wie die Behauptung einer christlich-platonischen >conspiratio in unum< seit Picos berühmter Oratio de dignitate hominis immer wieder den Umgang mit Philosophie und Dichtung der klassisch-paganen Antike gegenüber christlichen Vorbehalten rechtfertigen sollte. Wie auch Celtis das synkretistische Argument zu apologetischen Zwecken in Dienst nimmt, belegt die Ingolstädter Rede, in der die neue und >echteVulgärphilosophie< ausgespielt wird. 327 Der Mehrwert dieser >wahren< Philosophen gründet sich für Celtis in eben dieser Vorausdeutung auf Christliches. 328 Die hermeneutische Prämisse, Christliches und pagan-Platonisches unter Rekurs auf antike Vermittlungsmodelle 329 sukzessive ineinander zu verschränken, bestimmt weithin den Beweisgang von De amore. Für Ficino wird der Platonische Text, zumal die zentrale Rede der Diotima, zum Dokument einer >Offenbarung< göttlicher Vorsehung. 330 Sokrates, der ideale >weise Liebhaber< (»dato sopratutto allo amore«), >enthüllt< dieses >heilige Mysterium< wiederum seinem Schüler Piaton. 331 Ficino selbst sieht seine Übersetzung des Platonischen Werkes als letzte Stufe einer philosophischen Sukzession, die mit der Übersetzung des platonischen Textes ins Lateinische ihren vorläufigen Abschluß findet. Dabei setzt das Proöm zu De amore einen lebensphilosophischen Akzent, dessen medizinisch-pathologische Semantik 325
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Opera S. 871. Ficino hat sich in einer eigenen Abhandlung um die Harmonisierung von mosaischer, christlicher und platonischer Lehre bemüht. Zum Programm Ficinos Kristeller: Ficino, S. 1 - 1 7 . Ficino hat die christliche Perspektive der platonischen Philosophie vor allem in den Vorreden, etwa zur Theologia Platonica oder zur Plotin-Übersetzung, dargelegt. Kristeller: Ficino, S. 304-307. Opera S. 806. Oratio 85 u.ö. Ebd. 95. Ausführlich Kap. 3.2.3. Ficino weist des öfteren auf Augustinus und Numenios als Vorläufer seines synkretistischen Zugangs hin. Kristeller: Ficino, S. 15. Das Proöm der Schrift an Bernardo del Nero begründet dies als hermeneutisches Grundanliegen: »II Sommo amore della Providenza divina per ridurci a la diritta via da noi smarrita, anticamente spiro in Grecia, una castissima donna, chiamata Diotima sacerdotessa«. Ed. Blum S. 6 - 9 . Ebd. S. 7 - 9 .
221 einer Hauptlinie frühhumanistischer Moralistik folgt. Philosophie, ganz im Sinne von Petrarcas Remedia, erscheint von hier aus als >Seelenleitung< bzw. >Seelenheilkundemystische< Liebeslehre der SokratesRede, in der Ficino die Koinzidenz christlicher und platonischer Liebe betont. Sokrates wird dabei zum prädestinierten Liebhaber und Kenner der >ars amandiserio luderepraefatio< setzt bei eben dieser Gleichsetzung von >amor divinus< und >caritas< an: Antike Spruchweisheit und christliches >mysterium< treten unmittelbar nebeneinander und werden zu Synonymen des einen, lediglich begrifflich unterschiedenen >amor honestuspraefatio< wurde bei der Diskussion der einzelnen Partien bereits angesprochen. Sie reichen von der christlichen Konturierung des Ovidischen Schöpfungsberichts mit seiner mosaisch getönten Erschaffung des Menschen »ex terrae gleba et limo« (praef. 21) bis zum (unplatonischen) Bild eines endlichen, >eine bestimmte Zeit lang< bestehenden Kosmos, der christlich-lineares Zeitdenken voraussetzt, und münden schließlich in die ausdrückliche Reklamierung der biblischen Genesis, deren heilsgeschichtliche Implikationen Celtis in grotesk-launiger Weise für sich umkehrt, wenn er sich auf den biblischen Auftrag an den Menschen, sich zu vermehren und die Erde zu füllen, beruft.339 Die Unbedenklichkeitserklärung, die den Amores von solch biblisch-christlicher Analogie aus gewonnen werden soll, bleibt an dieser Stelle so ambivalent-ironisch wie in der folgenden Berufung auf alttestamentarische Manifestationen des Liebesaffekts, die letztlich nur die moralische Qualität der »sacrae scripturae« ironisch in Frage stellen.340 Wir können damit zusammenfassen: Mit seiner Berufung auf die Bedenklichkeit der biblischen Historien aktualisiert Celtis ein geläufiges apologetisches Argument aus dem Umkreis der >Bibelpoetikcaritas< (Eph. 5,31): »Φιλήσει ό σοφός καί δυσθανατήσει ό άφραδής, id est: Amabit sapiens, cruciabitur autem stultus; et rursus in sacris litteris: Propterea relinquet homo patrem et matrem et adhaerebit etc«. Das ursprünglich lateinische Zitat (>amabit sapiens, cupient ceteripraefatio< weiter oben getroffen wurden. Funktional sind beide spekulativen Vereinnahmungen des elegischen Weltentwurfs nahe verwandt. Beide suggerieren eine philosophische Lesbarkeit der Liebesdichtung, die nicht allein die >lascivia< dem Modell einer Konversion zum Einen einordnet, sondern den literarischen Eros als vermittelbar mit christlicher >caritas< erscheinen läßt. Wieder fungieren metaphysische Konzepte als Schutzschilde, welche dem erotischen Spiel seinen Bewegungsfreiraum sichern. Wenn der Text des Dionysios die Liebe als »unitivam quandam et commiscentem virtutem« bezeichnet, so erinnert dies terminologisch nicht von ungefähr an Celtis' Definition der Liebe als Verbundenheit von Himmel und Erde< sowie an die Rede von >aktiven und passiven Potenzen< sowie von einem verborgenen Begehrenamor divinus< mit universellem Geltungsbereich, der Makrokosmos mit Mikrokosmos, vor allem aber alle ontologischen Ebenen miteinander in Beziehung treten läßt. Das Verlangen des Liebenden nach einer durchaus sinnlichen - wechselseitigen Liebeserfüllung soll jene einigende Kraft des kosmischen Prinzips Liebe bezeugen. Auf der anderen Seite wird die Sensucht des elegischen Liebhabers damit weiter von der sinnlichen Perspektive niederer Minne gelöst und mit der bereits im Symposion Piatons beschriebenen Konversionsbewegung verbunden. beigefügt ist, grammatisch und stilistisch gerechter, während der Wortlaut von De amore teils durch die Überlieferung nicht gedeckt, teils syntaktisch freier ist (Auflösung der Partizipialkonstruktionen zu Relativsätzen: »que superiora« etc.). Hinsichtlich des Textbestands ergibt sich daraus die Feststellung, daß die lateinische Übersetzung, die der Nürnberger Celtis-Druck bietet, im wesentlichen eine getreue, das syntaktische Gefüge des griechischen Originals wahrende verbum-e-verbo-Übertragung, wie sie etwa Trithemius ankündigte, darstellt. Vielleicht hat Celtis die Anregung, den Passus des Areopagiten als mottoartigen epilogischen Rückverweis auf die >praefatio< aufzunehmen, unmittelbar durch die Lektüre von De amore gewonnen, den lateinischen Text jedoch entweder selbständig korrigiert oder die zweisprachige Variante des Abschnitts aus einer nicht mehr näher zu bestimmenden Quelle (vielleicht Trithemius) als Ganzes entnommen. Die Möglichkeit, daß Celtis den griechischen Text selbständig rückübersetzt hat, scheidet angesichts der wörtlichen Entsprechung zur Überlieferungstradition aus. Gleichfalls ist auszuschließen, daß Celtis die lateinische Übersetzung selbständig aus dem griechischen Original angefertigt hat. Für die Verderbnis des griechischen Textes dürften die Umstände der Drucklegung sowie die auch sonst belegbare Unerfahrenheit im Umgang mit den griechischen Typen verantwortlich zu machen sein. Ob dies gleichzeitig ein Urteil über Celtis' Griechisch-Kenntnisse präjudiziert, sei angesichts des Grades der Textentstellung, die auch dem Autor selbst nicht verborgen geblieben sein dürfte, dahingestellt.
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4.3.
>Ex stultorum aliquando hominum orenicht-lyrische Lyrik< vorgestellt wird, deren Figuren als Rollentypen zu vorgeblich pädagogischen Anschauungszwecken dienen sollen. Ein solches Argument, das explizit mit der Nicht-Identität von Autor und elegischem Ich rechnet, verweist dabei über seinen legitimatorischen Wert hinaus auf ein theatroides Verständnis mimetischen Sprechens, 356 das die Elegie als >prosopopoiia continuata< einstuft und potentiell anschlußfähig macht für genuin dramatische Spielformen, bei denen ebenfalls Figuren mit festen, nach rhetorischer Maßgabe entworfenen Charakteren vorgeführt werden. In Celtis' Einlassungen praef. 46-48 gibt sich so nicht nur ein >deiktisch-objektives Verständnis< (Conrady) der subjektiven Liebeselegie kund, die Aussagen zum Verfahren der Figurendarstellung zeigen diese vielmehr als Spielart einer menschlichen Komödie, die dem jugendlichen Leser den Sitten- und Tugendspiegel vor Augen halten soll. Mit dem Hinweis, der Dichter spreche >nicht immer aus dem eigenen, sondern auch aus dem Mund der Toren< (praef. 47), verwahrt sich Celtis einerseits gegen den Vorwurf der >lascivia< bezüglich der eigenen Person und empfiehlt andererseits seine Dichtung als implizite Lebenslehre und Narrenrevue, die dem >klugen Leser< die Erkenntnis über recht und falsch in Aussicht stellt. Ein Topos also, der jedoch in Celtis' Formulierung die Bedeutung rhetorischer Prämissen durchscheinen läßt, welche wiederum ein bezeichnendes Licht auf die Darstellung der vier Lebensalter und ihrer Charaktere, andererseits auf die typologische Nähe von Komödie, Elegie und angrenzender mimetischer Gattungen einer >Musa iocosa< wirft, die in den Amores sub specie amoris zusammenfließen.
4.3.1. Rollensemantik. Zwischen >defensio amoris< und >nicht-lyrischer Lyrik< Die ironische Vereinnahmung der Amores für die Liebesdidaxe schafft nicht endgültig die prekären erotischen Elemente selbst aus der Welt, die dem Unternehmen des >Schreibens über die Liebe< von vornherein inhärent sind. So nimmt der Dichter seine Zuflucht beim unumwundenen Eingeständnis (»fatebimur ingenue«) des Status quo erotischer Dichtung. Was indes dem notorischen Krittler als >lascivia< erscheinen mag, wird von Celtis durch eine Erwägung beiseite geschoben, für die der Autor sich auf illustre Präzedenz356
Barner: Barockrhetorik, S. 86f£
229 fälle zurückziehen kann. Das Argument, um das es hier geht, führt die Rede von den Beispielen rechten und falschen Umgangs mit der Liebe weiter und arbeitet einer aus der Apologie erwachsenen Poetik der Elegie als >nichtlyrischer< Form und Comédie humaine zu: Sed fartasse a plagiariis illis iterum ad iudicem vocabimur, dum nos subaccusabunt spurca quaedam minusque pudica et verecunda, sed prurientia et titillantia quaedam inseruisse carmina et quae castas innocentum adolescentium aures laedant et inebrient. Fatebimur equidem ingenue et illis non aliud, quam quod in praefatione sua in comoedias Hrosvita nostra poeta Saxonica obtrectatoribus suis dederat, respondebimus: de amore scriptorem non tantum debere verba effingere, sed eorum, qui ita affecti essent, omnia etiam facta et cogitationes idque poeticae consentaneum et ab amoris gradibus non alienum. Quocirca dum illi sanctum lob et Salomonis [...] qui de sapientia liber inscribitur, legerint, sciant (ut ό λογοποιός in eius libri enarrationem scribit) illos non semper ex suo, sed ex stultorum aliquando hominum ore locutos idque de industria et ex proposito factum, ut sapientis et stulti verba et cogitationes vir prudens cognosceret, quod et nos illos secuti saepius in elegiis fecimus.357 Doch vielleicht werden wir von diesen Verleumdern erneut vor den Richter zitiert, indem sie uns beschuldigen, wir hätten eine Reihe von Gedichten, die schmutzig, wenig anständig und sittsam, vielmehr aufreizend und lasziv seien, mit aufgenommen, welche die unverdorbenen Ohren unserer untadeligen Jugend nur beleidigen und berauschen. Bekennen wir nur frei heraus und geben ihnen das zur Antwort, was Hrotsvit, unsere sächsiche Dichterin, in der Vorrede zu ihren Komödien ihren Gegnern hingeschleudert hat: Ein Schriftsteller, der über die Liebe schreibe, habe nicht nur die Aufgabe, sich Worte auszudenken, sondern eben auch Handlungen und Überlegungen solcher Leute, die von diesem Gefühl erfaßt seien; so gehöre es nun einmal zur Dichtkunst, und dies sei ja auch den einzelnen Stufen der Liebe nicht unangemessen. Wenn also diese Krittler ihren heiligen Hiob und jenes Buch Salomons, welches den Titel > Weisheit < trägt, lesen, sollen sie dabei wissen (wie der λογοποιός im Kommentar zu diesem Buch schreibt), daß diese Männer [sc. Hiob und Salomon; J. R.] nicht immer nur aus eigenem Mund reden, sondern manchmal auch aus dem von Toren, und daß diese Methode mit voller Absicht und Bedacht von ihnen so gewählt ist, damit der kluge Mann Worte und Gedanken des Weisen von denen des Toren unterscheiden kann. Diese Vorgehensweise haben auch wir nach dem Vorbild der erwähnten Männer des öfteren in unseren Elegien angewandt. Wie bei der Annäherung von >amor< und >caritas< (Kap. 4.2.4) greift auch hier ein bibelpoetisches Argument, indem die Vereinbarkeit der Liebesdichtung mit christlichen Konzepten und Verfahren anhand respektabler biblischer Beispiele (Hiob; Salomon) begründet wird. 358 >Aus dem Mund der To357 358
Praef. 45 -47. Celtis spielt im Fall des Buches Hiob offenbar auf einen Passus in einer der Reden Elihus (lob 34,35f.) an: »Viri intellegentes loquantur mihi et vir sapiens audiat me lob autem stulte locutus est et verba illius non sonant disciplinam«. Auf wen sich der mysteriöse Verweis λογοποιός (d.h. den >Redner< oder >Schriftstellersapientiasapientia< selbständig zu vermitteln hat, immer freilich unter der Voraussetzung, daß solche perspektivische Ironie als rhetorischer Tropos für den Leser erkenn- und durchschaubar bleibt. Der Verweis auf die biblischen Gestalten Hiob und Salomon ist dabei nicht nur bibelpoetischapologetisch motiviert. Mit dem Sprechen >ex stultorum hominum orein/ex persona alicuius loqui< aus der patristischen Bibelexegese, 359 die (lange vor Foucault und Lacan) in der Beurteilung der Frage >wer spricht< an eine breite, auf die alexandrinische Homerphilologie zurückweisenden Tradition der Hermeneutik paganer Texte (etwa der Dialoge Piatons) anschließt. Bei Celtis fungieren die Beispiele Hiob und Salomon als Spezialfälle einer poetischen Verfahrensregel, die Celtis vor allem durch die nationale Dichterheroine Hrotsvit von Gandersheim formuliert sieht. Worauf die Berufung auf die sächsische Dichterin poetologisch zuführt, kündigt sich bereits in der wiederholten Theatermetaphorik an: Es geht um die Legitimierung der elegischen Dichtung, ihrer Thematik wie ihres Darstellungsverfahrens unter Rückgriff auf das Drama, im besonderen die Komödie, der das Sprechen in Rollen wesenhaft ist. Die Vereinnahmung der Hrotsvit ist in diesem Zusammenhang mehr als gefällige Reminiszenz an die eigene Entdeckerleistung, die sich dem Grundton nationaler Beflissenheit harmonisch einfügt. Hrotsvits berühmte Vorrede zu den Märtyrer- und Legendendramen liefert vielmehr Formeln und Fundament für Celtis' apologetische Engführung beider Genres. Entwickelt wird dabei, unter Rückgriff auf rhetorisch-philologische Strategien im Umkreis von Ethopoiie und Prosopopoiie (fictio personae),360
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die ohnehin wenig kommentiert wurde. Die größte Wahrscheinlichkeit hat für sich, daß sich Celtis auf Gregor d. Gr. berühmte Moralia in lob bezieht (Migne PL 75/ 76; ein komplettes Handbuch der Moral in Kommentarform), die er in der HrotsvitVorrede anführt (BW Nr. 267, S. 464). Hiobs Klagen konnten darüber hinaus als Äquivalent der >klagenden< Elegie aufgefaßt werden. Bartolommeo della Fonte stellt zum »Poema elegiacum« fest: »Quanquam etiam lob Idumeus se ipsum est elegis versibus consolatus« (ed. Trinkhaus S. 118). Drobner: Person-Exegese. Eine differenzierende Bestimmung beider angrenzender Termini, die sich deutlich in Celtis' Begrifflichkeit widerspiegelt, bietet Quint, inst. 9,2,31: »Ac sunt quidam qui has demum προσωποποιίας dicant in quibus et corpora et uerba fingimus: sermones hominum adsimulatos dicere διάλογους malunt, quod Latinorum quidam dixerunt sermocinationem.« Weitere Belege bei Lausberg: Handbuch, §826-829. Die antike Theorie, so auch Quintilian, trennt zwar beide Figuren voneinander, »indem die Prosopopoiie auf die nicht personhaften Dinge [...] beschränkt wird, während die Ethopoiie die natürlichen Personen betrifft.« Beide Figuren haben jedoch letztlich ein gemeinsames Zentrum, indem sie gleichermaßen auf rhetorische Gestaltung bzw. >Fiktion< (>fictioeffictioBelebung< und Deixis sprechender >Personen< zielen.
231 eine Poetik der Elegie, die nicht ohne Grund Anleihen bei der Theorie der Komödie macht, wie sie den Humanisten im Zuge von Terenz- und Plautusrezeption, aber auch durch die eigene Komödienproduktion und -diskussion näher ins Bewußtsein rückte. 361 4.3.2. Hrotsvit und die Dialektik der Märtyrerkomödie Überprüft man Celtis' Verweis am Text von Hrotsvits >praefatiofigmenta< den Leser nachteilig beeinflussen könnte. Hrotsvit beginnt ihre Vorrede daher mit einer durchaus polemischen Bestandsaufnahme eines zeitgenössischen Lektüreverhaltens, die Celtis' Bedenken gegenüber einer Korrumpierung >ehrbahrer junger Leute< durch erotische Lektüre präfiguriert. 363 Daraus ergibt sich für sie der Ansporn eines christlichen Terenz-Substituts.364 Während dessen sprachliche Vorzüge zu würdigen sind, trifft Hrotsvits Terenz-Kritik vor allem den Gehalt der antiken Komödie. Wie bei Celtis sind die Bestandteile der Liebeshandlung moralischer Stein des Anstoßes (»turpia lascivarum incesta feminarum«). An dieser Stelle schließlich entwickelt Hrotsvit die Prinzipien ihres revidierten Terenz. Die amourösen Handlungsund Figurenelemente des antiken Modells sollen, so die zentrale Vorgabe, einer christlichen Bestimmung untergeordnet werden. Am Beginn einer solchen Neubewertung steht freilich Hrotsvits Eingeständnis, angesichts der Bindung an Nachahmungsprinzip und gattungsbestimmte Thematik, 365 nicht um die Darstellung falschen Verhaltens, mithin des abscheulichen Wahns solcher gegen jede Regel Liebender und ihrer nur allzu verführerischen Reden< herumzukommen. 366 361
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Zur Komödientheorie der Renaissance Bareiß: Comoedia (mit Literatur). Weiterhin: Dittrich: Plautus und Terenz; Herrick: Comic Theory; Horstmeyer: Kupplerin. Zu Quellen und Poetologie der >praefatio< ed. Homeyer S. 230-232; Suchomski: Delectatio, S. 83-85. Praef. lf. ed. Homeyer S. 233. Ebd. 3: »Unde ego, Clamor Validus Gandesheimensis, non recusavi illum imitan dictando, dum alii colunt legendo, / quo eodem dictationis genere, / quo turpia lascivarum / incesta feminarum / recitabantur, / laudabilis sacrarum / castimonia virginum / iuxta mei facultatem ingenioli celebraretur«. Praef. 48. Den Hinweis auf die gattungsbedingte Form der Elegie bezieht Celtis auch aus Ov. am. 1,1,2: »Materia conveniente modis«. Hrotsvit Praef. ed. Homeyer 4: »Hoc tarnen facit non raro verecundari / gravique rubore perfundi, / quod, huiusmodi specie / dictationis cogente / detestabilem inlicite amantium dementiam / et male dulcia colloquia eorum, / quae nec nostro auditui / permittuntur accomodar!, / dictando mente tractavi / et stili officio designavi«.
232 Was indes vordergründig verurteilenswert scheint, entpuppt sich ex negativo als rhetorisch-poetologischer Kunstgriff. Hrotsvits Argumentation wird mitsamt dem Hinweis auf den gattungsspezifischen Stoff von Celtis in der Amores-Vorrede getreu wiederholt werden. Die vollendete Nachahmung fordert auch hier ihren Tribut in der Anlehnung an amouröse Gehalte, die der christlichen Autorin vorgeblich die Schamröte ins Gesicht treiben. Hrotsvit wie Celtis beziehen sich so auf die doppelte Aufgabe der >imitatiolusus amorum< mit moralischer Beweiskraft auflädt, so bedient sich auch Hrotsvit für die Darstellung der notorischen »amantium amentia« eines Arguments, das auf den für ein rhetorisches Dichtungsverständnis notwendigen Kontrast von Schwarz und Weiß, von Lob und Tadel in der Typik der Charaktere abzielt. 367 Der poetische Effekt und mit ihm die Berechtigung eines christlichen Terenz wird der Kontrastwirkung zwischen »blanditiae amentium« und kontrastierender »innocentium laus« gutgeschrieben. Je evidenter der Gegensatz desto legitimer das poetische Prinzip, welches notwendig die holzschnittartige Typisierung von Charakteren und Handlungsschemata zur Folge haben muß. Celtis kann sich jedoch vor allem deshalb auf solche Begründungen berufen, weil er mit Hrotsvit die apologetische Problemstellung teilt. Beide rechtfertigen das Eingeständnis, >lascivia< und >amores< darzustellen, mit dem Hinweis auf die Erfordernisse des Stoffes bzw. der Gattung. 368
4.3.3. Rhetorische Prämissen. Ethopoiie, >evidentia< und die vier Alter des Helden Der Verweis auf Hrotsvit, der die Komödie als Parallelfall der Elegie einführt, ist aber auch in einem weiteren Sinne lehrreich für die Poetik der Amores. Beide Genera, so argumentiert Celtis, entsprächen sich im Hinblick auf Stoff und Charakterzeichnung. In Umrissen wird darin ein >nicht-lyri367
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Ebd. 5, S. 233f.: »Sed (si) haec erubescendo neglegerem, / nec proposito satisfacerem / nec innocentium laudem adeo piene iuxta meum posse exponerem, / quia, quanto blanditiae amentium ad illiciendum promptiores, tanto et superni adiutoris gloria sublimior / et triumphantium victoria probatur gloriosior, / praesertim cum femínea fragilitas vincerei / et virilis robur confusioni subiaceret«. Das Bewußtsein der Komödie, nicht weniger als die erotische Dichtung von >Buhlergeschäften< zu handeln, führt immer wieder zur apotropäischen Geste in >praefationes< und >prologiStoffhervorzubringender< bzw. zu >belebender< Gegenstand ergriffen und verarbeitet werde. Das >officium< des Dichters wird so auch in der >praefatio< mit dem Terminus >effingere< beschrieben, der sich auf >res< wie >verba< erstreckt. 369 Dabei scheint Celtis' allgemeine Rede von den >male affectiv mit denen doch hauptsächlich das elegische Dichter-Ich selbst gemeint ist, dem biographischen Nukleus der Amores merkwürdig unangemessen. Zu gleichen Teilen ist eine solch stillschweigende Differenzierung zwischen Autor und literarischer Figur Ergebnis rhetorischen Denkens wie apologetisches Ablenkungsmanöver, mit dem der Vorwurf der Sittenlosigkeit von der Person des >poeta laureatus< ferngehalten werden kann. 370 Als solches findet es sein Urbild in dem von Stenzel als >Fiktionstopos< gekennzeichneten Argument vom Typ: »pagina lasciva, vita proba«, 371 das bereits in der antiken Liebesdichtung, zuerst bei Catull, dann in breiter Form bei Ovid zur Selbstverteidigung des erotischen Dichters eingesetzt wird. 372 Im Rahmen der >defensio amorum< treibt der >Fiktionstopos< einen apologetischen Keil zwischen die von jeher naheliegende Gleichsetzung von Autor-Ich und handelndem Ich der Elegien. Er führt den Liebesdichter damit zu der nur scheinbar paradoxen Konsequenz, sich geradezu auf die sonst inkriminierte >mendacia poetarum< zurückzuziehen und die weitgehende Fiktionalität und Konstrukthaftigkeit des Dargestellten zu reklamieren. 373 Der >Fiktionstopos< generiert so eine Art doppelte Person des Elegi369 370
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Zum Verständnis des schwierigen Passus der Ars (Fol. [A 6]v) vgl. Kap. 2.5.2. Dies wirkt noch in die weitere Geschichte der >Musa iocosa< hinein. Schlaffer: Musa iocosa, S. 16 stellt für die bukolische Dichtung fest, was auch für die >praefatio< gelten könnte: »Die Aufspaltung in erzählenden Dichter und handelnde Figur [...] ist für die Position der erotischen Dichtung in der Neuzeit symptomatisch: versucht ein Dichter, die Geschehnisse einer Verserzählung als eigene Erlebnisse auszugeben, wird er mit dieser Überschreitung der Formgesetze schnell die Moralgesetze zu spüren bekommen«. Martial 1,4,8. Ausführlich Stenzel: Musa iocosa; Pyritz: Flemings Liebeslyrik, S. 18f.; antike Referenzen sind Cat. 16; Mart. 1,4; 11,15; auf die Topik des Arguments weist schon Martial selbst in der praefatio zu Buch 1 seiner Epigramme: »Lascivam verborum veritatem, id est epigrammaton linguam, excusarem, si meum esset exemplum: sie scribit Catullus, sic Marsus, sic Pedo, sic Gaetulicus, sic quicumque perlegitur«. Im humanistischen Kontext Laurentius Corvinus: Carminum structura (Fol. A 3v): »Poetam vero pudicum esse, testis est Catullus Castum esse decet pium poetam ipsum/versiculos nihil necesse est«. Das Gegenvotum liefert etwa Baptista Mantuanus, »Contra poetas impudice loquentes« (Jakob Thanner 1499; GW 3311; Fol. A 2v): »Vita decet sacros et pagina casta poetas./Castus enim vatum spiritus atque sacer./Si proba vita tibi laseivaque pagina: multos/Efficis incestos in veneremque trahis.Acerba mouent ánimos, oris lascivia pectus/pulsat: et in venas semina mortis agit«.
373 vgl. Ον. trist. 2,l,355f.: »Magnaque pars mendax operum est et ficta meorum:/plus sibi permisit compositore suo«. So bekennt Siegmund von Birken: »In uns flammt
234 kers, indem er die Funktionen von Autor-Ich und elegischem Protagonisten voneinander trennt. Erklärbar wird die überwältigende Resonanz des Arguments im vormodernen Argumentationssystem einer Verteidigung erotischer Dichtung nur dann, wenn man diese vor dem Hintergrund biographischer Lesarten bewertet, welche die Namensidentität von Autor und Liebhaber als Beleg für die biographische Authentizität des Dargestellten nehmen. Lange vor dem Einsetzen von >Ausdrucksdichtung< und >Erlebnisphilologie< sind solche biographistischen Lektüren der Liebeslyrik in der Frühen Neuzeit gang und gäbe, wie auch immer man dabei den Anteil imitativer Überformung und rhetorisierter Affektgesten einschätzen mochte. 374 Eine Durchsicht der frühen Kommentare klassischer Elegien könnte bestätigen, wie sehr etwa aus den Texten eines Properz (aber auch aus analogen volkssprachlichen Zyklen wie Petrarcas Rerum vulgarium fragmenta) ein >narratives< bzw. >biographisches< Substrat destilliert und zu einer homogenen Dichtervita kondensiert wurde. Rhetorische Formung der Dichtung und Erfahrungssediment widersprechen sich dabei nicht notwendig. Zwischen der erklärten Fiktionalität des Erotischen und den authentischen Bedürfnissen programmatischer Selbstthematisierung ergibt sich, wie weiter unten noch auszuführen sein wird, eine weite Spanne von Fiktionalitätsgraden. Das elegische Ich der Amores wird mehr oder weniger mit Biographischem aufgeladen, soweit dieses in den gattungspoetischen Rahmen der Elegie überführbar scheint. Daß jedenfalls das lyrische oder elegische Ich auf der Grundlage eigener existentieller Erfahrung spricht, ist eine implizite Voraussetzung der Wahrnehmung frühneuzeitlicher Dichtung, von der sich der Fiktionstopos geradezu gewaltsam distanzieren muß. Ungeachtet ihres apologetischen Kalküls bietet Celtis' Formel eines »de amore scribere« damit eine Reihe von Einblicken in eine implizite Poetik der neulateinischen Elegie, wie sie erst die neuere Forschung in Abgrenzung von der >Erlebnisin welcher Elend und Gemütsleid< dargestellt werden. Sie leite sich daher von >eleosElenddas Leid zu Boden geworfener Menschen, Liebesdichtung, Scherz, auch Freude und beinahe alle Themen, welche Gefühl und Herz der Menschen bewegenmiseriae< und >passiones Alte gelten als wortkarg aufgrund ihrer Würde, während die Jungen an Scherz und Unterhaltung sowie an Verschwendung ihre
238 Diese stereotype Matrix von Altersbefindlichkeiten - »morositas«,389 »avaritia«, melancholische Rückschau auf geistig-körperlichen Verfall u. a. 390 - findet sich mehrfach im vierten Buch der Amores dargestellt.391 Celtis' Extrakt der Herennius-Rhetorik belegt das rhetorische Substrat bei der Umsetzung der vorgeblich pythagoreischen >vier Alterskreise und Hebdomadensermocinatio< und >prosopopoiia< besonders relevant werden. Die Amores entwerfen auf diese Weise, nimmt man die >praefatio< beim Wort, eine elegische Charakterund Sittenstudie unter nationaler Perspektive, in der sich Anliegen der Germania illustrata mit den philosophisch-spekulativen Ambitionen des Tetraden-Programms verbinden.392 Dem Dichter fallen auf der elegischen Bühne sukzessive und nach den vier Regionen Deutschlands die Rollen von >pueradulescensiuvenis< und >senex< zu, die entsprechend einer >proprietas personarum et temporumsermocinatio< einfordert, zu differenzieren sind.393 Das Gebot des >aptumfictiones personarum< im Rahmen der Barockpoetik. Cicero zitiert dies in De senectute als topischen Vorwurf gegen das Alter (Cato 61): »At sunt morosi et anxii et iracundi et difficiles senex, - si quaerimus, etiam avari«. Vgl. Arist. Rh. 1389a ff. Zum Kontext Kühlmann: Selbstverständigung. Am. 4,3; 4,6. Dies legt die Wendung nahe, mit der das Ziel der Amores in praef. 9 beschrieben wird: »Ita hic depicta et figurata secundum quattuor aetatum circuios et hebdómadas (ut Pythagorici tradunt) hominum ánimos et eorum corpora contemplabere«. Ähnliches mit taciteischem Gestus in praef. 53. Für die Charakter-/Personendarstellung gibt Vadian eine Anweisung, die exakt zu der des Celtis stimmt und zugleich den rhetorischen Systemzusammenhang klarlegt: »In personis autem, sive verae sint sive fictae, observata προσωπογραφία ordinis, generis, originis, sexus, officii, affectuum, desideriorum eiusque negocii cum primis cui personam interesse facimus rationem habere. Ex quo illud tandem ornamentum Poematis emanare solet quid Cicero, libro de Officiis primo, decorum ait, cum id quod quaque persona dignum est et fit et dicitur« (Poetik ed. Schäffer S. 221f.). Prise, rhet. IX, 28: »Ubique autem servanda est proprietas personarum et temporum: alia sunt enim verba iuvenis, alia senis, alia gaudentis, alia dolentis«. Noch die Barockpoetik wird dieses elementare Prinzip der >mimesis< oder >sermocinatio< immer wieder anführen. Opitz bestimmt im Kapitel »Von der zuebereitung vnd ziehr der worte« seiner Poeterey. »Weil aber die dinge von denen wir schreiben vnterschieden sind/ als gehöret sich auch zue einem jeglichen ein eigener vnnd von den andern vnterschiedener Charakter oder merckzeichen der worte«. Poeterey ed. Schulz-Behrend 2,1, S. 382. Ars 86f.
239 gende Anforderung: »Aetatis cuiusque notandi sunt tibi mores« (v. 156) und: »Semper in adiunctis aevoque morabitur aptis« (v. 178), und läßt im folgenden eine Kurzcharakteristik altersgerechter Charakterzüge folgen, die auf Celtis' Wendungen in der >praefatio< verweist. 395 Von hier aus erhält auch die Semantik von Rollenspiel und Figurenrede ihre poetologische Berechtigung. Primärer Gegenstandsbereich der Ethopoiie ist, wie das Beispiel des Horaz zeigt, die antike (neue) Komödie mit ihrem begrenzten Fundus wiederkehrender >Masken< (>personaepartesDavus< auf den Typus des listig-schlauen Sklaven an, wie er in den Komödien Andria und Phormio des Terenz eine zentrale Rolle im Rahmen der Intrige spielt. Ausdrücklich empfiehlt auch Quintilian die Komödienlektüre bei der rhetorischen Schulung der Jugend und begründet dies mit der >varietas< und Universalität der in ihr verkörperten Masken und ihrer Affekte. 398 An anderer Stelle exemplifiziert er das Prinzip der Ethopoiie an Versen aus dem Eunuchus, die ihm als Beleg einer Ethopoiie >in dictis< dienen. 399 Dabei differenziert Quintilian ebenso wie Celtis die Reichweite von Ethopoiie bzw. Prosopopoiie nach >factadicta< bzw. >cogitationessedula nutrixevidentia< bzw. >ένάργειαAusdruck< und >Affekt< die Rede ist. Die poetische Einlösung rhetorisch begründeter Theatralität ist in den Amores allenthalben, vor allem in den szenisch-mimetischen Anfangspartien einzelner Stücke,404 vor allem aber in pathetischen Fragen, Ausrufen und Deklamationen an die Geliebte, mit denen eine Vielzahl von Elegien einsetzen, einleuchtend nachzuvollziehen.
4.3.4. Die Amores zwischen Elegie, Komödie und Satire. Überlegungen zu einer Universalpoetik frühneuzeitlicher Liebesdichtung Was bedeutet dieser rhetorisch-poetologische Hintergrund nun für Celtis' Konstitution der Elegie, von der wir ausgegangen waren? Funktional verdankt sich der Rekurs der >praefatio< auf Hrotsvit vor allem der Notwendigkeit, für eine Apologie der elegischen Dichtung Zuflucht bei Argumenten zu nehmen, die entweder - wie das platonisierende Mittelstück - dem philoso401
402 403 404
»Descripsi mores hominum iuvenumque senumque/Qualiter et servi decipiant dominos,/Quid meretrix, quid leno dolis confingat avarus:/Haec quicunque leget, sie puto cautus erit.« Ed. Humula S. 13. Boccaccio paraphrasiert dies in den Genealogie bei der Erläuterung seines tropologischen Systems, in dem der Komödie eines Plautus und Terenz ausschließlich der Literalsinn des warnenden Exempels zukommt. Genealogie 14,9 ed. Romano S. 707. Dazu eingehend Kap. 2.5.5. Quint, inst. 6,2,32. Exemplarisch etwa der Beginn von Am. 4,10.
241 phischen Diskurs und seinen Derivaten in der zeitgenössischen Kommentarliteratur oder der Poetik angrenzender Gattungen wie Roman (Apuleius) 4 0 5 oder Komödie (Hrotsvit) zuzuordnen sind. Dabei kommt der Komödie und ihrer Theorie eine Schlüsselrolle zu. Vergleicht man das poetologische Material, das zur Erklärung der Elegie wie der Komödie aus der Antike zur Verfügung stand, so fällt ein quantitatives Mißverhältnis auf, das sich bis in die Textausgaben der Humanistenzeit fortsetzt. Gegenüber der reichen Kommentierung der lateinischen Komödie bis in die rhetorischen Traktate hinein bleibt eine Poetik der Liebeselegie weithin auf die spärlichen Definitionen und Argumente angewiesen, wie sie sich bei den Elegikern selbst bzw. bei verschiedenen antiken Grammatikern, namentlich Diomedes, finden lassen. Dieser Tradition war indes wenig mehr zu entnehmen als der stereotype Hinweis auf die klagende Grundstimmung der Elegie als >querela< und >flebile carmenlectio< und >imitatio< an den Modellautoren der Gattung orientierte. Dabei war die Elegie von jeher eine offene Gattung, die schon immer Elemente, Motive und Formen aus angrenzenden Genera integrierte. Der ihr angemessene Modus war daher nicht wie im Fall der allein an Horaz orientierten Lyrik eine streng normativ-verbindliche Nachahmung eines Einzelmodells, sondern jene eklektische >mirifica permixtioquerulus< kontextfrei als stehende Charakterisierung der Gattung Elegie gebraucht wird. Überall in den Amores finden sich die Schlagworte >queriquerela< oder >querimonia< zur Bezeichnung der eigenen elegischen Affekthaltung wie zur Bezeichnung der Gattung, in der diese sich äußert. Vgl. Am. 1,9,22; 3,3,24; 3,9,11; 3,10,117f. Ganz in diesem elegischen Sinne fällt die inhaltliche Charakteristik des Liebesbriefs in Celtis' Tractatus de condenáis epistolis (BW Nr. 358, S. 643) aus: »Amatorium autem sie exponemus: cum animi affectum, blanditiis, querelis, supplicationibus miseria plenis et lachrimis, quas etiam supra epistolam effusas emiserimus«. Zu dieser Nähe beider Gattungen sub specie amoris vgl. Kap. 5.6.5.
242 Schullektüre ablehnt, die Komödie dagegen, wenngleich auf einer späteren Stufe der Ausbildung, durchaus empfiehlt.407 Entsprechend knapp fällt Quintilians Durchsicht der römischen Elegiker in der Literaturrevue des zehnten Buches aus,408 und dieser Ausschluß aus dem Schulkanon bleibt bis in den deutschen Humanismus die Regel. Die erotische Literatur ist derjenige Bereich antiker Dichtung, an dem sich auch weiterhin die Geister scheiden.409 Die Verdikte eines Wimpfeling und Bebel im Zusammenhang der Frage nach dem >optimum Studium iuvenum< sind der stets mitzudenkende Hintergrund für Celtis' Rechenschaftsablage in der Amores-Vorrede. Vor allem Bebels scharfe Ablehnung der Elegiker als Jugendverderber, geäußert im Jahr vor der Publikation der Amores, wirft ein bezeichnendes Licht auf die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen in der frühneuzeitlichen Bewertung des literarischen Eros,410 eine Paradoxie, die sich etwa im Fall Jakob Lochers bis in das Werk eines Autors hineinzieht, der zugleich Dichter subjektiv-erotischer Elegien (Panthia-Zyklus) und unerbitterlicher Moralisator elegischer Lebenshaltung (in seinem Paris-Spiel oder der Concertatio Virtutis cum Voluptate seiner Stultifera Navis) sein kann.411 Doch welche Strukturähnlichkeiten zwischen Elegie und Komödie waren es, die Celtis zu einer theoretischen Engführung beider Genera in der Vorrede seiner Dichtung veranlassen konnten? Elegie und Komödie teilen im Kern dieselbe Materie, die Darstellung von Liebesverhältnissen. Das in der >praefatiokomischer< Dichtung bzw. >komischem Stilbuhlergeschäffte(n)< und den >buhlersachen< der >Comedievirtutes dicendi< sind so der Kompens der inhaltlichen Fragwürdigkeit, die als quantité négligeable vor dem Nutzen der stilistischen Vorzüge beiseite geschoben wird. Bebel: Comoedia ed. Barner S. 58f.: »Qua, obsecro, acrimonia, quo verborum fulmine poetae omnes praeter solos elegiographos metum, ignaviam, luxuriam, incontinentiam, impietatem (!), perfidiam ac omnia iniustitiae genera reliquaque vitia insectantur vexantque«. Bebel macht solche Autoren >schlüpfriger Liebesdichtung< als schwarze Schafe einer ansonsten moralisch integren Zunft aus: »Quodsi duo aut ad summum quattuor inventi sunt, qui lúbricos descripserunt amores libidinosamque venerem suis carminibus ornare studuerunt, non propter hoc poesis vituperanda est«. Stultifera navis Kap. 114. In der Ausgabe von Hartl S. 3 1 6 - 3 3 3 . Zum Widerspiel von karnevaleskem Freisetzen und neuerlicher Disziplinierung des Eros in der humanistischen Kultur vgl. Vf.: Die Wahrheit hinter dem Schleier. Praef. 39. 42. 46. Opitz: Poeterey ed. Schulz-Behrend 2,1, S. 367 bzw. S. 365.
243 Teilen für Komödie wie Liebesdichtung gleichermaßen verbindlich sind. Überhaupt haftet einem traditionellen Gattungsverständnis zufolge der amourösen Aktion immer schon die Konnotation des Komischen an. So konnte sogar die pathetisch->affektive< Handlung des Vergilischen Dido-Buches dem Kommentator Servius mit Vorbehalt als im >komischen Stil< verfaßt erscheinen. 414 Als Grund hierfür wird die erotische Thematik des vierten Aeneis-Buches angeführt, obwohl diese frei von jeder Komik im engeren Sinne zu sein scheint: »Nec mirum, ubi de amore tractatur«. 415 Berücksichtigt man solche Zuordnungen über die geläufigen Gattungsgrenzen hinweg,416 so zeichnet sich zumal für die Frühe Neuzeit eine >jokoseriöse< Universalpoetik des Erotischen ab. Einen wichtigen Beitrag zu ihrer Beschreibung hat Schlaffer mit seiner weitgehend auf die lyrischen Formen bezogenen Typologie geleistet, freilich ohne auf den Horizont des fünfzehnten Jahrhunderts näher einzugehen. Sein erster systematischer Ansatz wäre daher chronologisch wie hinsichtlich der zu berücksichtigenden Gattungen noch entschieden zu erweitern, zu ergänzen und im einzelnen historisch zu kontextualisieren. 417 Was nun die engere Beziehung von Elegie und Komödie betrifft, so gelangt Schlaffer zu ähnlichen Ergebnissen, wenn er die Weltentwürfe von Komödie und Elegie folgendermaßen charakterisiert: »(B)eiden ist die Dimension des Kleinen zugewiesen, im Ausmaß der Gegenstände und in der zeitlichen Erstreckung, die keine Dauer, nur Gelegenheiten, wechselnde Umstände und darin instabile Charaktere mit nahen Zielen und raschen, aber kurzatmigen Aktionen zuläßt; beide halten sich im privaten Raum auf, nicht im öffentlichen (den Tragödie und Epos okkupieren)«. 418 Mit der Privatheit der Aktion ist ein Unterscheidungsmerkmal genannt, das (neben der Liebeshandlung) in der Komödientheorie seit der Antike als gattungskonstituierend gilt. Horaz umschreibt so die Gattung Komödie geradezu als >privata carminaargumenta< gleich: »Item notandum quod tercia species narracionis que dicitur >argumentum< est comedia, et omnis comedia est elegia, sed non convertitur«. Kritisch zu Schlaffers historisch invariantem Verständnis der >Musa iocosa< als Ausdruck eines >Weltverhältnisses< Borgstedt: Kuß, Schoß und Altar. Schlaffer: Musa iocosa, S. 135f. Ars 8 9 - 9 1 .
244
Diomedes entwickelt jene Formel, die zum Gemeingut mittelalterlicher und humanistischer Poetik wird: »Comoedia est privatae fortunae sine periculo vitae conprehensio«. Die >Buhlergeschäfte< (>amoresgenus tenue< steht dem Privatmann Celtis ebenso an wie die panegyrische Maximileis dem nunmehr installierten Hofdichter und Vorsteher des königlichen Poetenkollegs. Celtis' Definition der Komödie in der Ars versificandi verdeutlicht den inneren Zusammenhang mit dem poetologischen Grundgesetz der >evidentia< als Vorführung exemplarischer, lebender Figuren, wie sie auch Horaz von der Komödie fordert. 423 Vor allem die Rede von den >sensibilia exemplapoema comicum< mit der Vorrede der Amores, in der nunmehr die Charaktere der Elegie zu exemplarischer Belehrung bzw. Abschreckung aufgeboten werden.424 In diesem Zeigen auf beispielhaftes Wohl- oder Fehlverhalten sieht Celtis seit der Ars versificandi und der Publikation der Seneca-Dramen das genuine Ziel dramatischer Dichtung wie der Dichtung insgesamt. Die typologische Nähe von Elegie und Komödie in Stoff wie Personal ist vor allem bedeutsam für Celtis' Ausweitung der elegischen Dichtung zum Lebensbericht in vier Altersbildern. Verstand sich die klassische Liebeselegie 420
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Diom. gramm. ed. Keil I, S. 488-492, dort S. 488: »Comoedia est privatae civilisque fortunae sine periculo vitae conprehensio [...] comoedia a tragoedia differt, quod in tragoedia introducuntur heroes duces reges, in comoedia humiles atque privatae personae; in illa luctus exilia caedes, in hac amores, virginum raptus«. Reuchlin erweitert im Epilog seines Sergius (ed. Holstein S. 125, v. 388-392) selbstbewußt den Wirkkreis der Komödie, wenn er feststellt: »Si quis cupit prudenter omne negotium/Gerere, ut rei privatae et id quod plus erit/Etiam rei communitatis publicae/ Bene commodet [...]. Is meminerit quae hac dicta sunt comoedia«. Auch Celtis' eigene Definition der Komödie in der Ars versificandi geht von einem privaten Handlungsraum aus: »Poema Comicum quo ciuiles priuateque persone describuntur sensibilibusque exemplis in theatris exprimuntur A cornos autem qui sunt pagi rusticorum deducitur; quo poemate Plautus et Therencius plurimum valuit« (Ars Fol. C lv). Auch hier folgt als komplementäres Gegenstück der komischen Muse das gleichsam öffentliche »Poema Tragicum quod econtra potentum regum ducumque facinora depingit«. Andere Definitionen der Komödie enthalten neben der Bestimmung der Privatheit auch das Moment der Affekt- bzw. Gefühlsdarstellung. Vgl. Bareiß: Comoedia, S. 201-208. Praef. 4. Auch in Am. 1,4,5: »Hic ego iocundis habito privatus amicis«. Ars 316-318. Praef. 42. In der Ars versificandi spricht Celtis von den hebenden Beispielen^ die in Komödie und Tragödie vorgeführt würden (Ars Fol. C lv; vgl. Oratio 99).
245 wie die erotische Muse insgesamt von jeher als Produkt der >adulescentiacarmina iuvenilia< wie als Ausdruck von >giovanili erroriKomödie< der Hrotsvit bedurft, um das komödienhafte Erscheinungsbild der Elegie zu unterstreichen.
4.3.5. Zwischen >speculum virtutis< und Narrenspiegel Entsprechend werden die Amores für Celtis zum »speculum vitae< und zur >imago veritatisprima aetas< befindet, wird häufig betont, etwa Prop. 2,8,17f. Ebenso häufig kommt seit Petrarcas Eröffnungssonett des Canzoniere der >revocatiopraefatio< die Representations- und Spiegelsemantik ausspart, so ist doch die Denkfigur des >speculum virtutis et vitii< der Sache nach auf Schritt und Tritt gegenwärtig. 4 3 3 Bereits im Ingolstädter Bildungsprogramm, in Celtis' oratio ebenso wie in der Panegyris,
ist der
Dichtung solche Spiegelfunktion ausdrücklich zugewiesen. 4 3 4 Celtis hatte solche Ideen bereits in der Widmungsvorrede zur Edition der beiden Seneca-Tragödien Hercules furens und Coena Thyestis geprägt, 4 3 5 welche ihrerseits die programmatischen Aussagen der Ars versificandi Theateraufführungen aufgreift.
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zum Nutzen öffentlicher
Dichtung soll protreptische Wirkung auf die
Könige und Fürsten ausüben, die in ihr plastische Anleitungen zu rechtem Ver-
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Holstein: Reuchlins Komödien, S. 57. Grabes: Speculum, S. 108-111 zum Drama als >Sitten-SpiegelSimulatio< im Wortsinne >entlarvt< (Abbildung bei Grabes: Speculum nach S. 110). Grabes: Speculum, S. 53-57, der vergleichbare Phänomene für den englischen Literaturraum analysiert. Zu den Gründen für die Konjunktur der Spiegelmetapher ebd. S. 238-242. Vor allem in der Panegyris wird die Aufgabe des Dichters in der Vermittlung von »exempla morum« verortet, ein Gedanke, der dann in der Vorrede zu den Amores beinahe wörtlich aufgegriffen wird. Vgl. Paneg. 135-138. Die Spiegelmetaphorik auch in Oratio 18. BW Nr. 5, S. 10-13. Zur Seneca-Ausgabe Kemper: Seneca-Ausgabe. Die Dedikationsepistel an Magnus von Anhalt kehrt den Aspekt des dramatischen Fürstenspiegels hervor: »male optemperanti discípulo opus regum et ducum figurav i (sc. Seneca) atque in exemplar vitaeque regulam edidit« (BW Nr. 5, S. 13). Auch die moralische Zielvorgabe des Lehrstücks ist dieselbe: »Quod profecto tarn sublimi persuasione ad virtutes infiammai, ut celerius quisque sceleratus ad bene beateque vivendum expergiscatur«.
247 halten wie zur rechten Verfassung des Staates finden. 437 Offenkundig bezeichnen in diesen Beispielen aus Celtis' Schriften >exemplum< bzw. >exemplar< und >speculum< weitgehend synonym einen didaktisch-deiktischen Grundmodus der Dichtung, der sich am augenfälligsten im Drama, vor allem in der Tragödie, kundtut, die Celtis auf die Illustration je eines moralischen Fabelsatzes reduziert (nach dem Schema: »Postremo virtutis praemia in Hercule Oeteo describunt«). 438 Die zehn Seneca-Tragödien sollen demnach in ihrer Gesamtheit eine humanistische Parallelaktion zu den christlichen Zehn Geboten in Aussicht stellen. 439 Die Bestimmung der Dichtung als Tugend- bzw. Narrenspiegel ist eine universelle Grundfunktion der Literatur um 1500, an die Celtis mit apologetischem Hintersinn appelliert. Ein solcher Erwartungshorizont, der sich in der Verbreitung der Spiegel- und Abbildfunktion äußert, schreibt der >Musa iocosa< entgegen ihrer sonstigen Selbstbeschränkung auf das >delectare< eine ethische Funktion zu, die sich vor allem in der Deixis rechten und falschen Verhaltens erweisen soll. Entsprechend verlegen Celtis und seine Zeitgenossen das >officium< der Dichtung auf die polaren Anforderungen von >laudatio< und >vituperatioLoben von guten, das Verabscheuen von schlechten Tatenlachenderbissiger< Spiegel der gesamten comédie humaine, mit Juvenal als Allerlei und Kaleidoskop menschlicher Wünsche und Eitelkeiten, versteht. 442 So kann es nicht verwundern, daß auch Brants »divina satyra« sich als >narren spiegel< vorstellt, 443 was Celtis' Schüler Jakob Locher in seiner Übersetzung wiederum auf die lateinische Wendung des »speculum humanae vitae« 444 zurückführt und in der Übersetzung von Brants deutscher Vorrede auf die gesamte conditio humana angewandt wissen will. Wenn nun auch Celtis eine solche demonstratio per negationem< als Methode der Amores ausgibt, 437
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Ebd: »Omnem rem publicam et totius vitae Seriem et imaginem ad illorum emulationem et tamquam ad speculum quoddam imitabile componere enituntur«. Eine erhaltene Vorlesungsankündigung, wahrscheinlich zur Phaedra, verrät das Fabula docet des Stücks (epigr. 5,82,lf.; 8). S. oben Kap. 2.4. BW Nr. 5, S. 13. Oratio 19. So beschließt Beroaldo seinen Kommentar zu den Metamorphosen des Apuleius mit dem Hinweis: »Lectio Asini Apuleiani nimirum speculum est rerum humanarum: istoque inuolucro efficti nostri mores: expressaque imago uitae quotidianae conspicitur. Cuius finis et summa beatitas est religio cultusque diuinae maiestatis: una cum eruditione copulata connexaque« (Fol. 168v). luv. l,85ñ Zur zeitgenössischen Satire-Diskussion ausführlich Hess: Narrenzunft, S. 58-95. »Den narren Spiegel ich diß nenn/In dem ein yeder narr sich kenn [...]. Wer recht in narren Spiegel sieht/Wer sich recht spiegelt/ der lert wol/(v. 3 1 - 3 5 ) [...] In disen Spiegel sollen schowen/All gschlecht der menschen man unn frowen« (v. 107f.). Stultifera navis. Basel: Bergman Olpe, 1497 (GW 5061), Fol. 6v.
248 so ordnet er sie funktional in einen Umkreis satirisch-belehrender Literatur um 1500, für den Brants >Narrenschiff< in seinen vielfältigen Filiationen nur ein, wenngleich das repräsentative Beispiel abgibt.445 Auch in Lochers Latinisierung wird dabei die poetische Darstellung des Figuren- und Typeninventars der Brantschen Satire mit dem Verfahren der >evidentia< umschrieben.446 Einem solchen Verständnis von Dichtung als Tugend- und Lasterspiegel entsprechen auch die zahlreichen satirischen Ausfälle, die Celtis in seine Amores integriert. Immer wieder sind es dabei die Exempla fragwürdiger Passion, der Fenstersprung von Am. 3,5, die Scheltrede gegen die Geliebte von 2,9, die Satire auf Nekromantik und Magie in 1,14, aber auch die atmosphärisch an Brant gemahnende Narren- und Lebenswahlrevue von Am. 3,10, die solche satirischen Tonlagen einfordern und die Elegie, durchaus im Horizont der Zeit, als moralische Instanz in die Nachbarschaft des »poema Satiricon« rücken, »quo turpes inhonestique defricantur«.447 Der Bild- und Spiegelcharakter der Dichtung, ihre Repräsentationsfunktion, kann so als poetologische Universalie gelten, welche um 1500 jenseits und oberhalb der engeren Gattungsgrenzen Gültigkeit besitzt.448
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Grabes: Speculum, S. 55-57. Dort auch (S. 55) der wichtige Begriff der »demonstratio per negationem«. Der eigentliche Ort der Spiegelmetaphorik im literarischen Kontext ist, wie Grabes zeigt, die Satire, »weil bei ihr das Abbilden wiederum im Dienst der Korrekturfunktion steht«, auch wenn die Satire »nur das negative Exempel, nur Abschreckung und Warnung« biete. Grabes: Speculum, S. 106. »Ita nostra hec pagina, status et conditiones hominum ad oculos depingit: vt tanquam in nitidissimo speculo: quisquís mores et vite sue lineamenta contueatur«. Hess: Narrenzunft, S. 21, der ebenfalls auf die Gängigkeit der Spiegel-Metapher in der Satire-Diskussion hinweist. Ars Fol. C l v - C 2r. Vgl. dazu die Überlegungen von Schlaffer: Musa iocosa, S. 10-22.
Tractatio Amoris: Die Welt der Amores
5.
>De amore scribereMusa iocosa
imitatio< der vier Horazischen Odenbiicher anstrebt, sind die Amores nur ihrem Titel, nicht aber der Buchzahl und dem imitatorischen Gesamtanliegen nach auf Ovid ausgerichtet. 3 In beiden Aspekten folgt Celtis vielmehr der auf vier Bücher erweiterten Sammlung des Properz, die auch in ihrer Behandlung aitiologisch-nationaler Themen im abschließenden vierten Buch den vorerst singulären Prototyp einer Verbindung von erotischer Elegie und vaterländischer Thematik schuf. 4 Man
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Vielleicht kannte Celtis auch den Hinweis des Vergilkommentators Servius (ecl. 10,1), wonach Gallus »amorum suorum de Cytheride scripsit libros quattuor«. Für Properz scheint der Titel Amores aus Prop. 1,7,5 abzuleiten. Holzberg: Liebeselegie, S. 5 und S. 21. Noch einschlägiger ist allerdings Prop. 2,1,1, wo sich mit dem Tun des »de amore scribere« (vgl. praef. 1: »libros amorum [...] conscriptos«) auch eine Andeutung des Titels findet: »Quaeritis unde mihi totiens scribantur amores«. Jacoby: Entstehung, S. 92 - 94. Burger: Renaissance, Humanismus, Reformation, S. 311. Worstbrock: Konstitution, S. 25. Ebd. Vergleichbares bietet dann erst wieder Tito Vespasiano Strozzi, der zu Beginn seines Eroticon betont: »Inuenies aliquid teneros hic praeter amores/Iudicio damnes quod minus ipse tuo./Teque tuaeque leges clarissima nomina gentis/Ac celebreis fama quos canit illa viros. Strozii poetae pater et filius. Venedig: Aldus Manutius et Socerus, 1513, Fol. 2v; zu Strozzis Werk Ellinger: Geschichte I, S. 147ff. Verifizierungen geographischer Lehre bietet auch Celtis' Freund Laurentius Corvinus in seiner Cosmographia, von der Celtis ein Exemplar besaß. Dort finden sich etwa poetische Beschreibungen Krakaus, des eigenen Geburtsortes Novumforum (Neu-
252
CONRAD! CELTI S P R O T V C I I PRIMI ÎNTERGERMANOS I M ' PERATORIISMAN IB VS POE*, T E LA VREATI Q y A T V / / " ORLIBRIAMORVM ' SECVNDVM.QA/' TVORLATEr ' GERMANIE FELICIΊ HERINCPf/, .νΛΠΓ
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Nonausmi nosTRos odeKPin oRbPlibRos Abb. 4: Hans von Kulmbach/Albrecht Dürer (?): Titelblattholzschnitt der Fol. [A l]r.
Amores,
253
Abb. 5: Albrecht Dürer: Widmungsholzschnitt der Amores. Celtis übergibt sein Werk Maximilian I., Fol. [A l]v.
254 sollte indes die Analogie zwischen beiden Zyklen nicht überschätzen. In ihrer Buchzahl schließen die Amores zwar formal an Properz an, in der Binnengliederung der vier Einzelzyklen sowie im Verhältnis der erotischen zu den landeskundlich-topographischen Teilen bestehen gegenüber Properz durchaus gravierende Unterschiede. So war nicht nur das ambitionierte Tetradenprogramm der Holzschnitte sowie die philosophische Prätention, die sich im Philosophia-Holzschnitt ausdrückte, nahezu ansatzlos ein Novum innerhalb der Gattungstradition. Gerade die Art und Weise, wie Celtis die Patria-Thematik innerhalb der einzelnen Elegien sowie auf der Ebene des Zyklus positionierte, unterscheidet die Amores grundlegend von der Sammlung des Properz. War dessen viertes, römisch-nationales Buch ein entschiedener Neuansatz im Zusammenhang seines elegischen Schaffens, so bilden Celtis' vier Bücher Amores insgesamt eine Einheit aus erotisch-elegischer Thematik und Landesbeschreibung. Beide Bestandteile treten dabei nicht streng monolithisch nebeneinander, vielmehr durchdringt und flankiert letztere immer wieder auch die genuin elegischen Gedichte und Szenerien, ist in beiläufigen Anspielungen, Digressionen und Durchblicken, in Deklamationen oder Eifersuchtstiraden des Liebhabers präsent, die alle in häufig ironisch-subtiler Weise - eben »apposite« und »ubi occasio se obtulerat«5 jene Inhalte einer Germania illustrata kursorisch einflechten, die etwa in der Germania generalis oder in der Norimberga in systematischer Form dargeboten werden.6 Eine solche Verschmelzung von Elegie und patriotisch-aitiologischem Anliegen, vollzogen innerhalb der einzelnen elegischen Gedichte und Szenerien, nicht in der Sukzession monothematisch gegeneinander abgegrenzter Einzelstücke, findet sich bei Properz weder in den ersten drei Büchern noch im abschließenden vierten, in dem die römischen Aitia neben die Proto-Heroide des Arethusa-Briefs (Prop. 4,3), aber auch neben elegische Reminiszenzen wie die Kupplerelegie 4,5 oder die Erscheinung der toten Cynthia in 4,7 treten. Überhaupt weist die Patria-Thematik bei Properz in eine andere Richtung als bei Celtis, indem hier mehr das Element des Antiquarisch-Aitiologischen betont wird, dem sich später in systematischer Form
5 6
markt) und Schlesiens [ C 5 r - C 7 v ] . Wie nunmehr Celtis' eigene Beschreibungen als poetische Lumina Eingang in gelehrte antiquarische Werke über Deutschlands Erinnerungsorte finden konnten, belegen Konrad Peutingers Sermones convivales de mirandis Germaniae antiquitatibus (Straßburg: Johannes Prüss d. Ä. 1506), die verschiedentlich mit gelehrten Bemerkungen aus Celtis' Amores geschmückt sind. Die Erwähnung des Eigelstein bei Mainz, den Celtis als >Grab des Drusus< bezeichnet hatte (Am. 3,4,9), nutzt Peutinger etwa dazu, die entsprechenden Verse über Mainz zu zitieren (Fol. C lr). Praef. 10. Der Dichter bezeichnet den Digressionscharakter seiner Einlassungen mehrfach, wenn er sich etwa zur Rückkehr zum Thema (3,9,47) mahnt oder von seiner >Abschweifung< ausdrücklich wieder zum Hauptfaden seiner Erzählung zurücklenkt: »A diverticulo nos repetamus iter« (Am. 4,14,42).
255 die Fasti Ovids widmen sollten. 7 Schon räumlich greift Celtis dabei entschieden über die Topographie der Stadt auf die Beschreibung des ganzen Landes aus, die, wie an anderer Stelle zu zeigen ist, aus der Keimzelle der frühhumanistischen Stadtbeschreibung (Bruni, Enea Silvio Piccolomini) entwickelt wird. 8 Entscheidender Unterschied gegenüber Properz bleibt jedoch die Tatsache, daß Celtis die nationale Thematik in den Rahmen der Liebeselegie selbst integriert und in artifizieller Weise aus ihr hervorgehen läßt. So verschlingen sich die drei Grundthemen der Amores: liebeselegische Situation, Germania illustrata und Selbstdarstellung des Dichters Celtis zu einem feinmaschigen Geflecht, dessen Einzelelemente immer wieder wechselseitig interferieren. Der Raum, den das elegische Ich dabei parallel zu seinem Lebensweg durchmißt, erweist sich als hybrides Gebilde, irgendwo zwischen der konstitutiven Privatheit der >Musa iocosa< und dem Systemraum frühneuzeitlicher Nationalbeschreibung. Es liegt in der Konsequenz dieses Amalgams, daß der Anteil der Nationalbeschreibung in den Amores den spezifischen Gesetzen des Gattungsfeldes der Liebeselegie zu gehorchen hat, in dem es sich - im Gegensatz zur objektiv-auktorialen Germania generalis - mit spezifischen Akzentverschiebungen anordnet. Stets bleibt jedoch bei all dem der Primat des elegischen Rahmens gegenüber den akzidentellen Einsprengseln der Germania illustrata gewahrt, und dementsprechend finden sich auch, wie Worstbrock zu Recht feststellt, »nur in den Vakuen der Liebe« zwischen den Verbindungen zu den jeweiligen Geliebten der vier Bücher Beispiele reiner Patria-Dichtung. 9 Bei genauerem Zusehen trifft dies allerdings lediglich auf Am. 1,15, die Beschreibung der Bison-Jagd, cum grano salis zu, während die Stücke an den Gelenkstellen zwischen den einzelnen Büchern - jene Momente also in der Ökonomie des Zyklus, in denen der Dichter sich vor einer erneuten Verbindung frei von den Fesseln Amors wähnt - stets wieder darauf zielen, die von Properz (Prop. 1,1) ererbte Ausgangsszene des elegischen Verhältnisses, den Moment des Verliebens, zu inszenieren und zu motivieren. So rückt der Plan, alle poetischen Kräfte dem nationalen Projekt zu unterstellen und damit jenen Auftrag zu erfüllen, den Apoll in Am. l,3,61f. dem Dichter erteilt, immer wieder in den Hintergrund: »Hanc mihi materiam statuissem carminis esse,/Ni mea iam rursus corda subisset amor«. 10 Die wiederholten Versuche, dem erotischen Nexus zu entkommen, sind ebenso wie die langen 7 8 9 10
Prop. 4,1,69: »Sacra diesque canam et cognomina prisca locorum«. Kap. 6.6. Worstbrock: Konstitution, S. 29. Am. 3,1,51t; ebenso Am. 4,4,105f. In Am. l,6,53f. bricht der Dichter die Überlegung über Tod und Nachleben mit einem Hinweis auf das sinnliche Jetzt der Geliebten Hasilina ab: »Saepe mihi laudes Hasilinae corpus et artus/Haec praeter placeat, fac, rogo, lane, nihil«. Die ubiquitäre Präsenz nationaler Beschreibungselemente verbietet es dagegen jedoch, die Amores rundweg als »Inszenierung einer Verhinderung« (Müller: Germania generalis, S. 457) anzusprechen. Indem nämlich der Kon-
256 Kataloge hochfliegender philosophischer oder epischer Fragen und Projekte, die regelmäßig am Pfeil Amors zuschanden werden, Teil einer elegischen Konstellation bzw. eines spezifischen Gedichttyps, für den sich vor allem bei Properz einschlägige Vorbilder zeigen lassen. Gelehrtes Wissen, in Celtis' Fall Fragen der >prima philosophia< (Am. 2,2; 4,4) oder eben Splitter der Germania illustrata, ließ sich auf diese Weise andeutend ausbreiten und mittels einer Variante kallimacheischer recusatio-Topik in den Rahmen des elegischen Genus re-integrieren. Im Übergangsfeld der einzelnen Bücher, zwischen Abschied von der zurückgelassenen Geliebten und neuer Bindung, vervielfachen und perpetuieren die entsprechenden Stücke immer neu die topische Eröffnungssituation elegischer Zyklen, wie sie aus den Sammlungen des Properz oder - hier spezifischer: des Ovid - bekannt sind. Der Dichter Celtis steht so nicht nur im Spannungsfeld einer durch die besondere Geburt begründeten »Doppelnatur« und »polare(n) Gespaltenheit«11 zwischen Venus und Apoll, er durchlebt auch einen Konflikt der entsprechenden Lebensformen zwischen >vita contemplativa< und >vita voluptuosa< bzw. >philargicavitaeimitatio Propertii< oder >Ovidii< entsprechend der Horaznachfolge der Oden ist nicht intendiert, 14 an die Stelle eines normativen Einzelmodells tritt die Lizenz zu einer eklektischen Dichtung im Sinne einer >verblüffenden Mischungcarmen lyricum< von Anfang an die beherrschende, wenn nicht einzige antike Autorität, so lagen für die Elegie die Textkorpora der drei Gattungsvertreter Tibull, Properz und Ovid, weiterhin die elegischen Partien der Catullschen Sammlung vor, auf die sich die >imitatio< gleichermaßen autoritativ stützen konnte. Auf sie als Gruppe von Erotikern beruft sich Celtis gleichermaßen, während weniger zitable antike Autoren wie Maximian oder Venantius Fortunatus konsequent ausgeblendet werden. Erst recht gilt dieser Befund für andere Dichter der Frühen Neuzeit. So wird die Liebesdichtung der Italiener, aber auch die von Celtis' deutschen Vorgängern (Luders »Elegia ad Panphilam«) zwar immer wieder in Ansätzen greifbar, nach außen hin jedoch besaß die Berufung auf die durch die Gattungspoetik sanktionierten antiken >auctores< eine andere Qualität als die stillschweigende Benutzung neuzeitlicher Epigonen der Gattung: »Celtis galten als Paradigmen von Dichtung die antiken, keine anderen«. 15 Wie sehr eine solche Taktik der gestuften Autorität Celtis' poetische Arbeitsweise bestimmt, wie dabei ferner der Synkretismus der erotischen Genres ein solcher auch der Traditionsanbindungen ist, wird an einem Fallbeispiel aus den Amores ausführlicher zu behandeln sein. 16 13 14
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Am. 4,15,61f. Auch in den Oden findet sich Celtis' Autoritätsverweis in der Sphragis der Sammlung (Epod. 1,15-18). Worstbrock: Konstitution, S. 33. Kap. 5.6.
258 5.1.2. >Lasciva quaedam nostra carminan Das Skandalon der Liebesdichtung Indes war das literarische Projekt einer wesentlich erotischen Dichtung alles andere als unproblematisch. Die Behandlung des Liebesthemas stellte sich nicht nur als ein innerliterarisches Problem dar, das sich im technisch-luftleeren Raum der >imitatio< bewegte, sondern tangierte grundsätzlich soziale, kulturelle und moralische Voraussetzungen des frühneuzeitlichen Wertekosmos. Prinzipiell ergaben sich an dieser Stelle dieselben Konflikte, die bereits die antiken Elegiker im Spannungsfeld altrömischer Lebensführung provozieren mußten. Von Anfang an war die elegische Gattung in Fragen von Moral, Lebenshaltung und geschlechterspezifischer Rollenverteilung ein potentielles Skandalon, das sich subversiv gegen die vorfindlichen Denkstrukturen, ob nun altrömische oder später christliche, richtete.17 Im gesellschaftlichen Umfeld der Frühen Neuzeit widersprach die elegische Umwertung vertrauter Geschlechterrollen etwa eklatant dem Grundschema der >Ordnung des ganzen Hausespuella divina< werden ließ. Die gesellschaftliche Stellung der elegischen Frauenfiguren als Hetären, Halbweltdamen u.ä rückte schon in der antiken Elegie die libertinäre Liebesbeziehung bewußt in eine gesellschaftliche Zone, die den Tabubruch geflissentlich aus dem sakrosankten Raum der Familie verbannte und so zu entschärfen suchte. Der Hinweis auf den sozialen Hintergrund der Elegie wird so von Anfang an zum Entschuldigungsgrund für eine erklärtermaßen laszive, unernste und dezidiert erotische Dichtung. Nicht die Ehefrau, so führt Ovid mehr als einmal entschuldigend an, sondern die Hetäre steht im Zentrum dieser Dichtung.20 Der elegische Dichter-Liebhaber ist, auch wenn er wie Celtis stets das Fehlen eines >mutuus amor< und seine sinistre Nativität in eroticis beklagt (Am. 1,1,51-60), ein Suchender. So ist es aus der Logik der Gattung nur allzu berechtigt, wenn Celtis am Ende seiner Deutschland- und Lebensfahrt Maximilians Angebot, eine Eheschließung zu vermitteln, rundheraus ablehnt.21
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Lyne: Love Poets, S. 1 - 1 8 ; Stroh: Ursprünge, S. 2 4 2 - 2 4 6 ; Holzberg: Liebeselegie, S. 1 2 - 1 6 . Kühlmann: Die verstorbene Gattin, S. 21 mit weiterer Literatur. Worstbrock: Konstitution, S. 25. Remedia 3 8 5 - 3 8 8 . Am. 4,14,214: »Si cupis, uxorem iam tibi, Celti, dabo«. Entsprechend schon Prop. 2,6,41f.: »Nos uxor numquam, numquam seducet amica./semper amica mihi,
259 Das vage soziale Profil der Geliebten wie der Spielort der Gattung in einer konzedierten sozialen Nische trugen so dazu bei, das antibürgerliche, subversive Potential der Liebeselegie zu kompensieren. Indes sah sich der neuzeitliche Elegiker gewandelten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen gegenüber, die insofern die Akzeptanz der elegischen Verhältnisse berührten, als die Sonderschicht der gebildeten Hetäre, deren Umgang gesellschaftlich nicht sanktioniert wurde, nicht mehr vorausgesetzt werden konnte, so daß die >puellae< des Dichters nunmehr gänzlich einem sozialen Vakuum anzugehören schienen. In Ausnahmefällen war sogar das Skandalon zu wagen, die Geliebte in der gattungsgeschichtlich neuen Rolle der ungetreuen Ehefrau vorzustellen,22 womit das elegische Verhältnis zum >adulterium< werden mußte.23 Celtis hat diese notwendige Umbesetzung der elegischen Verbindung, die offenbar auch der biographischen Situation der historischen Hasilina Rechnung trug,24 aus naheliegenden Gründen der Dezenz und vorauseilender Selbstzensur bewußt im Vagen belassen und nicht stärker profiliert. So tritt der Ehemann als Figur nur an wenigen Stellen der Amores25 in Erscheinung. Wie Hasilina ist auch »Ursula Rhenana«, die Protagonistin des dritten Buches, verheiratet, wie die Ehebruchselegie Am. 3,5 eindrucksvoll vorführt. 26 Mit der Verschiebung des elegischen Verhältnisses zum >adulteriumCeltis satiricusAbenteuer im Kopf< in Am. 3,5 lehrt jedoch, wie sich die offen zur Schau getragene Ehebruchsepisode apologetisch entschärfen ließ. Wenn schon die Berufung auf den Topos »nil mihi cum vitta est« angesichts der Evidenz des >adulterium< nicht verfangen konnte, so bot sich doch eine Distanzierung von der erotischen Peinlichkeit durch den »Fiktions-Topos« (Stenzel) an, auf dessen Bedeutung in der >praefatio< bereits hingewiesen wurde.30 Die offenkundige Verfehlung wird hierbei mit der nicht unironischen Pose des Sittenlehrers ins Exemplarische gehoben und dadurch moralisch und biographisch entschärft. Diese moralische Lesart weist der planfrivolen Ehebruchsgeschichte eine gleichsam auktoriale Ebene zu, von welcher der Dichter auf sich selbst >deiktisch< als auf ein Exempel für fehlgeleiteten Eros herabschaut.31 Es ist dies modifiziert und an den neuen Kontext angepaßt die Lehre des >Horatius satiricus< der Ehebruchssatire, aus der die schwankhafte Begebenheit entwickelt ist. Die Flucht ins Exemplarische und Objektive ließ das Skandalon der Unsittlichkeit wenigstens insofern akzeptabel erscheinen, als es zur Warnung vor den Folgen solcher Verfehlung stilisiert werden konnte. Der Nachweis der Nicht-Identität von Dichter-Ich und Rollen-Ich betont den »literarisch-fiktiven, also nicht-mimetischen« Grundzug32 der Liebes-
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S. 68. Letztlich steht auch hinter dieser Formulierung die Horazische Maßgabe: »Omne tulit punctum qui miscuit utile dulci« (Ars 343). Praef. 42; Am. 1,7,75; 1,10,29; vgl. Am. 1,13,12 und 2,8,8 (»prostituere«), Kap. 4.3.1. Am. 3,5,lf.: »Nemo velit vetitos bene sanus tangere lectos/Et ñeque legitimas sollicitare faces«; ebenso Am. 4,9, die sich gegen die Trunkenheit der Geliebten, das deutsche Nationallaster, wendet. Auch hier bricht der Dichter in die Klage aus (Am. 4,9,25f.): »Sed nos divina qui cum ratione vigemus,/Cur Venus et Bacchus nocte dieque tenet?« Kühlmann: Die verstorbene Gattin, S. 25.
262 dichtung. Dieser stempelte die Elegie und mit ihr alle angrenzenden Gattungen vorsätzlich zum literarischen Spiel, das gegenüber dem biographischen Ernst auf die Nachsicht des Lesers rechnen konnte. Die progammatische Einschätzung der Liebesdichtung als >nugaelusus< und >Musa iocosapuella< auch graphisch, indem sie beide regelmäßig aus den konkreten topographisch-lebensweltlichen Bezügen der Germania herauslösen und im >Liebesgarten< einem privaten Dasein vorbehalten. Auch die Frauenfiguren erweisen sich dabei als literarische Projektionen ihres Autors, die stets nur indirekt, gefiltert durch die schwankenden Affekte des Dichter-Ichs und seine Anreden an die Geliebte, in den Blick kommen. 34 Leben gewinnen die >puellae< so nur innerhalb der Elegien oder, auch dies ist bezeichnend, als Geselligkeit stiftende Fiktion innerhalb der Sodalitas, welche die literarische Beziehung ihrerseits - etwa in einem fiktiven Protestbrief Hasilinas an Celtis - weiterspinnt. 35 Auch in dieser Hinsicht ist der abgeschlossene, gegen die gesellschaftliche Außenwelt abgeschirmte Kreis der legitime Ort einer Beschäftigung mit der Liebe. Aber nicht nur die Geliebte erweist sich als weitgehend fiktive Figur ohne profilierte Stellung in sozialen Zusammenhängen ihrer jeweiligen Heimatstadt, auch die Gestalt des Dichter-Liebhabers selbst erscheint, wenngleich unter eigenem Namen, als literarische Rollenfigur mit biographischem Kern. 36 So bleiben zwar die Stationen des eigenen Lebensweges von Krakau über Regensburg - nicht Ingolstadt, wo Celtis über Jahre hinweg an der Universität lehrt - in das Mainz der Sodalitas Rhenana in den Amores im wesentlichen repräsentiert. Konkrete biographische Ereignisse gehen freilich nur da in die Dichtung ein, wo sie sich der Selbstdarstellung des Dichters Celtis dienstbar machen las33 34 35
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Trist. 2,1,353t Dazu an einem Beispiel Kap. 5.6. Hess: Erfundene Wahrheit, S. 144-147; BW Nr. 255 und 255a. Dieselbe gruppenverbindende Qualität kommt im übrigen dem Rosina-Mythos des Melissus Schede zu, der zu einem thematischen Zentrum des literarischen Freundeskreises wird. Worstbrock: Konstitution, S. 31.
263 sen, 37 im übrigen jedoch steht das Ich der Amores außerhalb aller greifbaren Bezüge. Bei seinem ersten Auftritt (Am. 1,3) hat er vorerst nur eine astrologische Herkunft, kommt aus dem zeitlich-räumlichen Nichts und verabschiedet sich immer wieder unmotiviert, um einem diffusen Schicksal oder Zufall folgend die nächste Station seiner Lebens- und Deutschlandreise anzusteuern. Im autoreferentiellen Spiel-Raum der elegischen Welt gibt sich Celtis so eine von den kontingenten Lebensverhältnissen abgezogene Herkunft und Existenz, die biographische Zurücksetzungen und Komplexe kompensieren hilft. Vor allem das erste Buch der Amores (bes. Am. 1,1 und 1,12) zeichnet erkennbar die »Geschichte der Bewältigung und Verdrängung dieser Herkunft durch Stilisierung und Mystifikation«. 38 Doch bei aller behaupteten literarischen Nicht-Identität von Autor und Figur spricht das Dichter-Ich der Amores doch aus dem Munde und im Namen des Celtis, und auch die Schicht der Germania illustrata trug dazu bei, das amouröse Geschehen enger in der umgebenden Realität von Stadt und Landstrich zu verankern. 39 Die elegische, nicht die entschärfte >eheliche Liebe< eines Pontano als Hauptsujet der Dichtung zu wählen, dies war ein nicht ungewagtes Unterfangen, das in Deutschland, sieht man von den ephemeren Versuchen eines Peter Luder (»Elegia ad Panphilam«) oder Jacob Locher ab, wie so vieles andere in Celtis' Person und Werk voraussetzungslos neu war. Sofern die Elegie wie bei Celtis oder später in Simon Lemnius' Amorum libri TV (1542; hier vor allem im ersten Buch) 40 dezidiert erotische Elegie blieb und nicht, wie im Werk des Lotichius, im allgemeineren Sinn eines »flebile carmen« auch andere Themen aufgriff, erwies sich das Genre auch in Zukunft als problematisch. Es kann daher nicht verwundern, wenn Celtis' Beispiel zunächst singulär bleibt und die erotische Existenz als solche kaum mehr in vergleichbar ausschließlicher Weise in den Mittelpunkt eines eigenen Zyklus von Amores tritt. 41 So erweist sich die genuine Liebeselegie in Deutschland, anders als im Italien des Quattrocento, als problematische, 37
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So bildet etwa der autobiographische Verlust des Gepäcks in Am. 3,7 - poetisch motiviert durch die vergleichbare Situation von Prop. 3,23 - nur den Ansatz zu einer umfassenden Selbstbespiegelung und zur Präsentation eigener Belesenheit und poetischer Sendung. Typisierend und auf Horaz anspielend (Epist. 2,l,70f.) fällt der kurze Rückblick zu Beginn von Am. 4,3 aus, der an Petrarcas formelhafte Retrospektive in seinem Brief an die Nachwelt erinnert. Hess: Typen, S. 490. Dazu Kap. 4.1.4.2. Lemnius: Amores ed. Mündt. Symptomatischer sind demgegenüber Versuche, im Medium der Elegie selbst gleichsam systematisch Palinodien und Kontrafakturen auf elegische Haltungen anzustimmen. So hatte schon Murmellius wenige Jahre nach Celtis' Amores (und womöglich in Reaktion auf diese) eine Sammlung Elegiae morales verfaßt. Ein anderes Beispiel dieses veritablen genre faux aus schulmeisterlichem Geist stellen wenig später die christlichen Elegien des Georg Fabricius dar, deren Parodia Christiana den elegischen durch den christlichen Liebesbegriff substituiert. So trägt etwa ein
264 wenn nicht als verhinderte Gattung. Wo diese freilich später weitergeführt wird, teilweise bei Eoabanus Hessus oder bei Lotichius, vor allem aber in den schillernden Dichtungen eines Melissus Schede, der die elegische Tradition durch petrarkistische und anakreontische Einschlüsse ergänzt,42 bleibt der Bezug auf Werk und Beispiel des Celtis und seiner Amores - wo nicht ausdrücklich,43 so doch untergründig - im Sinne einer >longue durée< spürbar. 5.1.4. Phänotypen der Liebe und erotischer Diskurswechsel Wenn wir uns in den folgenden Abschnitten den Verwandlungen und Erscheinungen des Eros in den Amores zwischen den verschiedenen >Systemen< der Liebesdichtung und ihren korrespondierenden Gattungen zuwenden, so wird immer wieder auf die Apologie des Eros in der Vorrede Bezug zu nehmen sein. In diesem Zusammenhang war an anderer Stelle zu zeigen, wie neben dem >Fiktions-Topos< und jener Semantik der >Musa iocosaamor< eingeschaltet wird. Offen blieb dabei zunächst die Frage, in welches Verhältnis sich die theoretisierenden Einlassungen der >praefatio< zu den Erscheinungen des Liebesphänomens in den Amores selbst setzen lassen. Das muß vor allem gelten für die platonische Liebesdialektik, deren Bedeutung für die Elegien selbst bisher kaum diskutiert wurde. In ihrer äußeren Attitüde sind die Liebesdiskurse von Amores und >praefatio< kontrastiv aufeinander bezogen: Nimmt Celtis in den Amores erotische Prädestination und >servitium amorispraefatiosyntagmatisch< zu betonen, zu straffen und im Sinne der Patria-Darstellung nutzbar zu machen. Die Motivationen der einzelnen
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Auf die Nähe zu dramatischer Organisation im Aufbau elegischer Bücher weist Holzberg: Liebeselegie, S. 29 am Fall der Monobiblos des Properz hin. Besonders signifikant ist die Reihe (Am. 1,7-9), die von Vorwurf gegen die Geliebte (1,7) über deren >Deifizierung< (1,8) zum Versuch führt, sich von Hasilina loszusagen und der Philosophie zuzuwenden (Am. 1,9). Auch an anderer Stelle liebt Celtis eine solche Behandlung eines Themas >in utramque partem«, so in Am. 4 , 3 6, wo die eigene >senectus< zwischen dem Modus des Lobs und dem der Klage schwankt. Dabei sind die Zuordnungen der einzelnen Bücher zu den jeweiligen Frauenfiguren nicht streng auf die Buchgrenzen bezogen. So verschiebt sich der Abschied von Hasilina wie auch der Transfer nach Regensburg bis in die Mitte von Buch II, wo Elsula erst nach dem >Hodoeporicon< Am. 2,4 als Geliebte in den Mittelpunkt rückt. Kap. 5.5.
268 Ortswechsel, die zugleich solche der erotischen Bindung sind, bleiben so immer wieder diffus.55 Die Situation vor der neuen Liebesbindung ist die einer Disposition in Spannung, sofern sich der prädestinierte Liebhaber an einer scheinbaren Nullstelle seiner erotischen Vita befindet, in die im nächsten Moment der Pfeil Amors (in Am. 1,3 die Berufung durch Apoll) einbricht, um erneut die Wechselfälle des elegischen >foedus< und >servitium< in Gang zu bringen. So kommt es nicht darauf an, dieses liebesfreie Zuvor näher auszuschmücken, etwa biographische Gründe und Umstände der Reise des Dichter-Ichs an den Ort seiner erneuten Bindung nachzutragen. Alles zielt im Sinne der elegischen Gattungsmechanik auf den markanten Punkt, der aus dem >freien< Liebhaber einen gebundenen macht und damit auch all jene Pläne suspendiert, die sich, wie die Projekte einer ersten Philosophie (Am. 2,2) oder einer Nationalbeschreibung (Am. 3,1), in den Vakuen der Liebesbindung ansiedeln ließen. 5.2.2. >Miserie animique passionesWesenszüge< (Burck) versammelt, die auch die erotische Welt der antiken Liebeselegie bevölkern. Entscheidend ist dabei, daß Celtis nicht einen einzelnen Autor, sondern die Liebeselegie als Gattung zur Grundlage der >imitatio< macht. An die Stelle der (vorherrschenden) Einzelreferenz mit Autoritätscharakter wie bei der Horaznachfolge der Oden tritt hier die System- und Gattungsreferenz, die von einem deutlichen Bewußtsein der besonderen Eigenheiten liebeselegischen Sprechens und Handelns, von einem umfassenden elegischen Habitus in Wort und Aktion ausgeht. Nicht nur für Celtis verdichtet sich damit die Tradition der Elegie (und angrenzender Erotiker wie Catull und Horaz) zu einem Gattungssubstrat, das aus den Dichtungen der elegischen Triumvirn - aber eben nicht nur diesen herausdestilliert ist.56 55
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Am. 2,13 bietet den interessanten Fall einer versuchsweisen Umkehr der Rollen: Nicht das Dichter-Ich begibt sich am Ende auf die Reise, sondern die Geliebte unternimmt eine Flußfahrt auf der Donau nach Ungarn, die Celtis Anlaß gibt, die einzelnen Stationen der Reise Revue passieren zu lassen und die Geliebte der Donau zum Schutze zu übergeben. Gattungstypologisch wird hier das >Hodoeporicon< zum >Propemptikonimitatiopuella divina< und >meretrix< schwankt, wenn sie den Dichter mit ihren Forderungen nach
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Überblicksdarstellungen (Luck, Lyne) die Rolle der kleinen Elegiker wie Maximian, sondern auch die Tatsache, daß zumindest Catull von den Neulateinem ohne weiteres als Gattungsvertreter behandelt wird, wo die Elegie, wie bei Celtis, dezidiert erotische Elegie sein will. Sie ignoriert des weiteren die Transformation der klassischen Liebeselegie in die Ovidische Exildichtung, die als integraler Bestandteil der Gattung etwa in den Elegien des Petrus Lotichius Secundus, aber schon bei Celtis selbst wahrgenommen wird. Dazu umfassend Nagle: Poetics of Exile, S. 19-70. Zur Bedeutung der Ovidischen Exildichtung in der Renaissance vgl. Vf: Exulis haec vox est. Die beste typologische Einführung in das elegische Wertesystem bietet Burck: Wesenszüge; knapp Holzberg: Liebeselegie, S. 1-11; Steidle: Lebenswahl; Knoche: Erlebnis. Ein wertvolles, wenngleich etwas schematisches Hilfsmittel auf dem Weg einer systematischen Behandlung elegischer Motive ist Müller: Motivkatalog. Aus seinem Repertorium wird im übrigen auch deutlich, daß die Elegie motivisch offen ist zu angrenzenden Gattungen und Dichtern wie Catull, Horaz, Vergil (bes. die Gallus-Ekloge) oder dem elegischen Ovid der Heroides, der Exildichtung und der Metamorphosen. Die beste motivgeschichtliche Untersuchung zur frühneuzeitlichen Lyrik unter Einbeziehung antiker und zeitgenössischer Beispiele bietet noch immer Pyritz: Flemings Liebeslyrik; umfangreiches Material zur Herkunft von Themen und Motiven auch bei Friedrich: Epochen. Eine solche Übersicht zum Motivinventar der Amores bietet Lüh: Die unvollendete Werkausgabe, S. 385-387, der allerdings vor allem Ovids Sammlung zum Vergleich heranzieht; Worstbrock: Konstitution, S. 25. Den umfassendsten Überblick bietet unter Übernahme der Kategorien von Müller: Motivkatalog die unpublizierte Würzburger Examensarbeit Kühnl: Amores, hier bes. das nützliche Stellenregister, S. 89-93.
270 Geschenken und materiellen Bedürfnissen konfrontiert. 58 Ihre notorische Untreue, die der Dichter als sein von den Gestirnen bestimmtes Schicksal in eroticis bezeichnet, 59 bringt immer wieder die nicht weniger stereotype Gestalt des Rivalen ins Spiel.60 Dieser erscheint bei Celtis in verschiedenen Ausprägungen: Wie von Ovid in Amores und Ars amatoria bereits angedacht, kann der Rivale in der Gestalt des Ehemanns begegnen, vor dem der Dichter-Liebhaber Hals über Kopf die Flucht ergreifen muß. 61 An anderer Stelle ist der Rivale nicht mehr als typische Figur, deren sprechender Name im Stil von Epigramm, Schwank oder Komödie Anlaß zu witzig-anzüglichen Sottisen wie zur Warnung vor den »meretricum acumina« der Geliebten gibt. 62 Am häufigsten und stereotyp ist die Rolle des Rivalen freilich von der Figur des lasziven Priesters besetzt, der es Celtis erlaubt, die Polemik gegen einen säkularisierten Klerus in die konkrete Situation der Liebeselegie zu integrieren. 63 Mit dieser Substitution einer typischen Figur holt Celtis einerseits die Welt der Liebeselegie in den gesellschaftlichen Spannungsraum der Vorreformationszeit ein und nähert sie andererseits angrenzenden literarischen Formen wie dem Schwank oder der (Stände-)Satire, in deren Mönchsschelte die >lascivia< des Priesterstandes in allen Varianten durchgespielt wird. 64 Die Elegie erweist sich auch in dieser Hinsicht als prinzipiell offene Form, die trotz konstanter Motivik und Welthaltung immer wieder Variationen und Reaktionen auf Veränderungen des historisch-gesellschaftlichen Umfelds zuläßt. Auch in der Konstruktion elegischer Situationen lehnt sich Celtis immer wieder an vertraute Schemata an. So erweitert er in Am. 1,14 das klassische Paraklausithyron, die Klage des >exclusus amatorpuellae< nach Geschenken in Am. 1,1,57-60 exponiert; Habgier und Luxus werden breit in Am. 2,3 und 2,9 ausgeführt. Müller: Motivkatalog, S. 67. Am. 1,1,51f. Als Wunschbild in Am. 3,9,69. Am. 1,7,21-28. Am. 3,5. Am. 1,10: »Ad Gerionem corrivalem«. Am. 1,13; 1,14; 2,6; 2,7,35ff.; 2,8; 3,8. Polemisch schon praef. 41. Die engsten atmosphärischen Berührungen bieten dabei eine Reihe von Bebels Facetiae. Antiklerikale Elegien finden sich freilich schon vor Celtis, etwa bei Christoforo Landino: Xandra 1,9: »De theologo contionatore luxurioso«. Auch das Thema Magie hatte bereits seinen Sitz in der Elegie. Wiegand: Magie, S. 310.
271 Gedichten zu Krankheit und Tod Elsulas im dritten Buch der Amores.66 Von struktureller Bedeutung für die zyklische Anlage der Amores ist das Motiv der Geburtstagsfeiern, die schon in der klassischen Elegie verschiedentlich begegnen. 67 Indes gewinnt das Motiv in den Amores eine Bedeutung, die es bei den antiken Vorbildern nie erreichte. Mit bewußtem Kalkül piaziert Celtis in jedem der vier Bücher je ein Geburtstagsgedicht 68 und mehr noch: Indem er seine elegische Vita mit Geburt und Nativität in Am. 1,1 beginnen läßt, rückt der >dies natalis< und seine astrologischen Implikationen als individuelles und individualisierendes Ausgangsdatum in ungekannter Weise in den Vordergrund. 69 Celtis' Leitidee, die Astrologie als Vehikel der Selbstdarstellung wie als wissenschaftlichen Leitdiskurs ins Spiel zu bringen, 70 zumal aber die doppelte Determination des Dichter-Ichs durch die Gestirne ist gattungsgenetisch als Ausfaltung eines Gedankens zu beschreiben, der in der klassischen Elegie nur punktuell, als blindes, zunächst nicht weiter verfolgtes Motiv angelegt ist, dann jedoch unter den neuen Bedingungen eines astrologisch fundierten Weltbildes eine völlig neue strukturelle Leitfunktion erhält. Ein solches Verfahren der Amplifikation kleinerer Motive der klassischen Liebeselegie läßt sich an vielen Stellen beobachten. So knüpft die Thematik um die Germania illustrata, wie erwähnt, systematisch einerseits an die Patria-Dichtung von Properz' viertem Elegienbuch, andererseits aber an aitiologische Exkurse bei Tibull (2,5,19-66) oder Ovid (Am. 3,13, nicht zu reden von der elegischen Lehrdichtung der Fasti) an. Den Gegenpol zu solchen Amplifikationen motivischer Nuklei der antiken Elegie bilden solche Themen, für die sich in den Amores nur bedingt oder überhaupt keine Entsprechungen mehr finden lassen. Auch hier deuten strukturelle Verschiebungen auf veränderte Rahmenbedingungen elegischen Schreibens sowie auf Celtis' programmatische Absichten hin. Zwei Tendenzen fallen in diesem Zusammenhang besonders ins Auge: Einerseits der Schwund des klassischen Mythos als >Goldgrund< und Vergleichsebene der Liebesbeziehung, wie er vor allem die Elegien des Properz bestimmt, andererseits das Fehlen einer poetologischen Reflexionsebene vergleichbar der alexandrinisch-kallimacheischen Programmatik in den Elegien eines Properz. Die Abwesenheit beider Elemente in den Amores ist nicht zuletzt signifikant für Celtis' besondere Interessen sowie für die gewandelten literarischen und kulturellen Kontexte, in die hinein die Amores entworfen sind.
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Am. 3,12,85f.; bes. 3,14; vgl. Od. 3,17. Zur Motivgenese in der Antike ausführlich Holzenthal: Krankheitsmotiv; Belege bei Müller: Motivkatalog, S. 69. Tib. 1,7; 2,2; 4,5; 4,6; Prop. 3,10; vgl. Hör. carm. 4,11. Am. 1,1; 2,10; 3,12; 4,13 (Tag der Empfängnis). Unten Kap. 7.1. Eingehend unten Kap. 7.2.
272 5.2.3. Neue Signaturen der elegischen Welt: Astrologie, Vaterlandsbeschreibung und die Transposition des klassischen Mythos Zunächst einige Bemerkungen zu Verbleib und Transformation des klassischen Mythos in den Amores. In den Elegien des Properz erfüllen mythische Exempla eine Reihe von Funktionen, die sich aus ihrem Verhältnis und Kontext zur Situation des Liebenden ergeben.71 Dabei kann der Mythos entweder analog oder konträr zur Handlungsebene der Elegie eingesetzt werden, letzteres z.B. im Fall der Erzählung von Milanion und Atalante (Prop. 1,1,916), ersteres etwa im Vergleich der schlafenden Cynthia mit der verlassenen Ariadne in Prop. 1,2,Iff. Gerade dieses Beispiel einer Spiegelung in den Mythos zeigt die Geliebte in den mythischen Dimensionen der >puella divinaWeinKrieg< u.ä.). Wenig mehr als dieser tropologische Sinn ist intendiert, wenn Phoebus als Patron der Dichtkunst, Mars als Vertreter der >militia< stellvertretend genannt und etwa auf dem Autorenbild des Druckes - dargestellt werden.74 In der Vorrede zu den Amores deutet Celtis an, die mythologischen Verwandlungen in Ovids Metamorphosen böten genügend Stoff für eine Deutung »ad affectum amoris«, d.h. für eine moralistische Deutung in dem Sinne, den Celtis den Amores insgesamt unterstellt wissen möchte.75 Eine solche Wendung der paganen Götter ins Allegorisch-Uneigentliche findet sich etwa am Ende von Am. 1,9 (v. 43ff.), wo die Wahl für eine der drei Lebensweisen bzw. ein ausgewogenes Verhältnis von >vita contemplativa< und >vita voluptuosas zwischen »castra Veneris« und »castra Minervae«, am Beispiel der erotischen Metamorphosen Jupiters allegorisiert werden.76 Andererseits erscheint Jupiter in traditioneller Weise als Blitzeschleuderer, der mehr oder weniger mit dem christlichen Gott verschmilzt. Indes findet sich, sieht man von der synkretisti-
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Lyne: Love poets, S. 82-102. Am. l,8,15ff. Am. 3,2,45ff. stellt eine plötzliche Epiphanie der Venus und ihres Gefolges im Haus des Dichters dar. Am. 1,12,13t Praef. 26. Am. 1,9,51-59. Dazu Kap. 5.5.3.
273 sehen Annäherung Amors an den christlichen Schöpfergott in der >praefatio< ab, keine spekulativ-philosophische Kontamination paganer mit christlichen Gottheiten, wie sie zur gleichen Zeit im Umkreis des italienischen Neuplatonismus gepflegt wurde und sich etwa in den Hymni naturales eines Michele Marullo niederschlug. Einen provozierenden Entwurf, der systematisch die christliche Trinität durch eine heidnische ersetzte, stellte später der Götterkonzert-Holzschnitt dar, welcher den Melopoiae des Celtis-Schülers Tritonius beigebunden war. 77 Entscheidend ist jedoch, daß Celtis an keiner Stelle in den vollendeten Werken eine systematische Vermittlung oder Überlagerung des paganen Pantheons mit christlichen Instanzen anstrebt. 78 Die Substitution der heidnischen Trinität in einem christlich konnotierten Bildgefiige war im Fall des Me/opoi'ae-Holzschnitts ein ironisch-spielerischer Eklat, der so wenig blasphemischen Ernst enthielt wie die Übersetzung christlicher Berufungsszenen im »Poema ad Fridericum« der Ars versificanti oder der Damaskus-Szene in Am. 1,3. Christliche und pagan-antike Welt- und Glaubenszusammenhänge gehen in Celtis' Werk keine systematische, philosophische Verbindung miteinander ein. »Celtis' Neubegründung der Dichtung als säkulare Kunst ist nicht paganistischer Attitüde verdächtig, doch neutralisierte sie Dichtung gegen alle christlichen Vor- und Einordnungen, stellte sich gegen diese autonom«. 79 Die Amores bieten den Entwurf einer unter literarischen Insignien stehenden, rein pagan ausstaffierten Welt, die - sieht man von den lebensweltlich motivierten Polemiken gegen die Kleriker ab - nahezu gänzlich ohne christliche Ingredienzen auskommt. Mehr noch: Überall dort, wo an biblische Szenen und Formulierungen angeknüpft wird, sind alle christlichen Konnotationen an der Oberfläche bewußt getilgt, so daß nurmehr der abstrakte Rahmen, das signifikante Bedeutungsschema bleibt, das die Wiedererkennbarkeit des Elements, seine unausgesprochene Opposition zu bekannten Konstellationen sichert. Ansonsten bleiben christliches und paganes Werk, Amores und Mariendichtung substantiell getrennte Sphären, zwischen denen lediglich zu apologetischen Zwecken eine ephemere Brücke gespannt wird. 80 Einen Mittelweg gehen diejenigen Texte und Dokumente,
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Ausführlich zum Kontext allerdings unter völliger Überzeichnung etwaiger philosophisch-hermetischer Intentionen des Celtis bei Lüh: Die unvollendete Werkausgabe, S. 247-268, bes. S. 253-258. Ungreifbar bleibt das Projekt eines »Parnasus biceps«, das in diese Richtung weist (BW Nr. 339, S. 613). Offenbar hatte Celtis das Projekt schon länger beschäftigt. Bereits ein Brief Cuspinians vom Mai 1496 erwähnt einen >mons Parnassuspoetische Theologie« und Entsprechung zum mosaischen Schöpfungsbericht inszeniert (praef. 20f.). Auch in der Ingolstädter Rede steht die Behauptung, >bei Piaton und Pythagoras sowie anderen bedeutenden Philosophen fänden sich gewisser-
274 in denen der unbekannte erste Beweger des aristotelischen Weltbildes, der Celtis aus den Dichtungen eines Ovid und Manilius, vor allem aber aus den Traktaten eines Apuleius und Ptolemaeus vertraut ist, mit dem christlichbiblischen Gott zu einem >unbekannten Gott< verschmelzen, dessen Unbestimmtheit sich allen synkretistischen Deutungen offenhält. 81 Indes ist nicht nur die Ebene des Christlichen in den Amores ausgeblendet, auch der pagane Mythos als ornamentale Folie und >Goldgrund< für die elegische Situation befindet sich verglichen mit Properz oder Ovid klar auf dem Rückzug. Man mag hierfür die grundsätzliche Problematik paganer Frömmigkeit in christlicher Zeit 82 in Anschlag bringen, die andererseits einen Simon Lemnius nicht hinderte, seine Amores reich mit paganer Mythologie auszustatten. Der Grund für die Absenz des Mythos dürfte somit an anderer Stelle zu suchen sein. Bei Celtis erschöpft sich Mythologisches nämlich nicht im gelehrt-literarischen Spiel einer >Musa iocosaAbsorption< der mythologischen Götter durch die
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maßen Grundlagen unserer Religion, durch welche man in schönster Verbindung natürliche Erleuchtung und Gnade empfange< (oratio 95; vgl. Kap. 3.2.3. Anm. 114), in einem rhetorisch motivierten Zusammenhang, der Nutzen und Unbedenklichkeit einer Beschäftigung mit den studia für die christliche Jugend begründen soll. Ein solcherart offenes Gottesbild findet sich formuliert am Ende des »carmen saeculare« (Carm. saec. 9 3 - 9 6 ) . Dazu Ryan: Carmen saeculare; ders.: Mystique of Number; Coppel: Carmen saeculare. Zu vergleichen ist Od. 1,16; dazu Kühlmann: Pluralisierung. Grundsätzliches hierzu bietet Kühlmann: Poeten und Puritaner; ders.: Pagane Frömmigkeit. Kap. 7.2.
275 Sterne«.84 Weiterhin zwar bevölkern die heidnischen Gottheiten den Raum der Amores, nicht mehr jedoch als gelehrte Vergleichsebene, die den alexandrinischen >poeta doctus< ausweisen soll, sondern als Planetengötter, die durch Einfluß und Strahlungen entscheidend auf die elegische Vita des Dichter-Ichs einwirken. Am deutlichsten zeichnet sich diese Bedeutung der astrologischen Planetengötter, deren Charakter und Wirkung schon seit der Antike mehr und mehr mit denen der mythologisch-literarischen Gottheiten konvergierte, in Am. 1,1 ab. Celtis löst hier die Disposition seiner Nativität in ein dramatisch-bewegtes Tableau antagonistischer (Gestirn-)Götter auf, deren wechselvolles Zusammenwirken die >duale ExistenzLiebesromans< in ungekannter Weise narrativ zu straffen. Indes ist jedoch der Ausbau dieser astrologisch-mythologischen Götterebene nicht völlig ohne Vorgang in der klassischen Elegie. So spricht etwa Properz wiederholt von der Ungunst der Gestirne, die ihn, den unglücklich Liebenden, in seiner spannungsvollen Situation gefangenhielten. Programmatisches Gewicht für den ganzen Zyklus gewinnt dies in der Eröffnungselegie der Monobiblos, wenn Properz beklagt, er >müsse die Götter gegen sich habenadulterium< belehren. Prop. 1,1,8: »Cum tarnen adversos cogor habere deos«; ebenso 1,6,36: »Vivere me duro sidere certus eris«. Dies aufgenommen in Celtis Am. 2,8,52 (und ff.).
276 tivpartikel auf, um sie konsequent astrologisch zu interpretieren und zu einer stringenten astrologischen Motivation für die Elegien zu entfalten. So changieren vor allem die Hauptinstanzen Venus, Apoll, Merkur, Saturn und Jupiter immer wieder zwischen ihren mythologischen Konturen und einer Form der >allegoria physicadocta poesis< zählt.88 Der astrologische Umbau des paganen Mythos ist allerdings nicht dessen einzige Reduktions- und Ersatzform in den Amores. Von größerer struktureller Bedeutung ist die Substition mythischer Vergleiche und Folien durch die Ebene der Germania illustrata. Elemente der Deutschlandbeschreibung, so die These, treten immer wieder in mehr oder minder beiläufiger Weise an solche Stellen im Gedicht, die in der Elegie properzschen Zuschnitts für Exkurse in den Mythos freigehalten waren. Elemente der Germania illustrata erweitern und perspektivieren so an zahlreichen Stellen die zentrale Liebeshandlung, in die sie eingelassen sind. Über den gesamten Verlauf der erotischen Handlung hinweg flankiert das Anliegen der Deutschlandbeschreibung den genuin elegischen Plan, verbindet sich mit diesem und wird in seinem Einflußfeld seinerseits verändert. Zumeist vollzieht sich dies in Form von Digressionen, die an geeigneter Stelle und >wo sich die Gelegenheit bot< eine akzidentelle Ergänzung der Liebesdichtung beisteuern. Beide Anliegen sind, wie sich an der Doppelstrategie der Vorrede sowie an der >Berufungselegie< Am. 1,3 zeigt,89 gemeinsam als Themen der Amores angelegt und bestimmen diese auch über die gesamte Länge des Zyklus. Ebenso sehr wie das Liebesthema sind Splitter einer Germania illustrata in den Elegien allgegenwärtig, zumeist als Akzidentien der erotischen Handlung. Es wäre in diesem Zusammenhang reizvoll zu zeigen, wie nahezu alle Themen, die etwa in der Germania generalis systematisch traktiert werden, in den Amores in zersplitterter, in den >Liebesroman< integrierter Form wiederkehren. Die Amores sind unter diesen Vorzeichen mehr als eine vorläufige Prolusio der projektierten Germania illustrata, mehr auch als die Geschichte einer verhinderten Lebensbestimmung: Sie sind ein integraler Teil ihrer Einlösung, welcher offenbar - das legt die gleichmäßige Verteilung der nationalen Bruch-
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Curtius: Europäische Literatur, S. 279ff. Vgl. unten Kap. 6.2.
277 stücke über die Gedichte nahe - auch von Anfang an als solcher intendiert und systematisch ausgeführt worden ist. Exkurse in den Bereich der Germania illustrata schließen sich vor allem dort an, wo das Fortschreiten des Gedichts zur Ruhe kommt und sich Leerstellen für gelehrte Abschweifungen ergeben. Entsprechend sind zahlreiche dieser illustrierenden Einschlüsse in rhetorische Figuren verkleidet, in Adynata, Periphrasen, vor allem aber in breit ausgeführte Vergleiche, in denen die Ebene des Liebesromans systematisch mit astronomischen und topographischen Aperçus verbunden und so auf einen nationalen und kosmographischen Hintergrund transparent gemacht wird. Damit sind die schon in der Ars versificanti als >belebende< und >evidentia< realisierende Elemente empfohlenen Vergleiche auch der angemessene Ort, an dem sich das erotische Geschehen umfassend auf Naturprozesse beziehen ließen, Mikro- und Makrokosmisches in wiederholten Spiegelungen zueinander kommen konnten. So sind auch der Gelegenheiten viele, auf die vaterländische Thematik en passant zu sprechen zu kommen. Zu Beginn von Am. 1,8 etwa nutzt Celtis die Grundintention, ein Lob der Schönheit Hasilinas anzustimmen, 90 zu einer ausgreifenden rhetorischen >amplificatioDu bist die schönste aller deutschen FrauenNie will ich zu dir zurückkehren! nordischen< Büchern I und IV, die gattungskonforme >Härte< und Unerweichlichkeit der Geliebten aitiologisch auf deren topographische Herkunft zu beziehen und so nebenbei eine der Grundhypothesen frühneuzeitlicher Ethnologie, die Abhängigkeit der Charaktere von Landstrich und Klima
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Vgl. unten Kap. 5.6. Am. 1,12,83-90; 4,5,29-33; vgl. 2,6,105-114.
278 (praef. 9: »temperamenta et [...] ingenia suum caelum sequi«), zur Sprache zu bringen. 92 Bestimmend für die Amores ist so die Tendenz, die in der antiken Elegie zu beobachtende Indifferenz des Spielraumes, die reine Privatheit der elegischen Existenz zugunsten topographischer Verankerungen im realen Raum der >Germania magna< umzulenken. Mehr als einmal schaltet der Dichter in dieser Weise ausgreifende >loci descriptiones< in Ovidischer Manier (>est locusmiseria< ein schnelles Ende zu setzen und sich von den Höhen des Karpatengebirges zu stürzen. Die dichterische Ausführung des Plans jedoch kommt nicht ohne eine einläßliche Ekphrasis des Gebirgszugs, seiner Lage in Deutschland >zwischen polnischen und ungarischen Fürsten< aus, welche die offensichtliche Diskrepanz zwischen affektischem >furor< und abgeklärtem topographischen Exkurs ironisch auskostet. 94 In einigen Fällen jedoch bestimmt die Substitution des Mythos durch die vaterländische Thematik die Struktur ganzer Gedichte. Wir greifen hierfür exemplarisch zwei Beispiele heraus, die das in der Elegie viel behandelte Thema: Kritik an künstlicher Körperpflege< 95 und Gier der Geliebten nach >munera< variieren, es sind dies Am. 2,3 und 2,9. Um die Ausgangsform dieses Typus kurz zu umreißen, sei an dieser Stelle auf die klassische Durchführung in Prop. 1,2 verwiesen. 96 Schon Properz kritisiert den aufwendigen Putz seiner Geliebten Cynthia unter der Leitdifferenz von >eigen< und >fremd< und bringt so nicht unironisch einen vaterländischen Ton ins Spiel, der hier jedoch der elegischen Szene ganz immanent bleibt und auf die These zuführt: »Nudus amor formae non amat artificem«. 97 An dieser Stelle des Gedankengangs eröffnet sich nunmehr die willkommene Gelegenheit, zunächst auf analoge Vorgänge in der Natur, schließlich aber auf den Mythos Bezug zu nehmen. Cynthias künstliche Körperpflege, so der Dichter, stehe konträr zur reinen, ungeschminkten Schönheit mythischer Frauenfiguren, die Properz in einem langem Defilee von Exempla aufführt. Am Ende kehrt der Dichter
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Am. 1,12,1-8. Am. 2,7,25-30; 4,14,175-183. Dasselbe objektiv-systematisch in Germ. gen. 215-219; Nor. Kap. 3, S. 117 (Fassung von 1502); Am. 1,7,67; Od. 2,1,7. Müller: Motivkatalog, S. 69. Dazu und zum Verhältnis zu Am. 2,9 vgl. Kap. 6.7. Prop. 1,2,8.
279 wieder zu seiner Geliebten zurück, deren musische Fähigkeiten er lobt und hoch über die »misera luxuria« des äußeren Aufputzes heraushebt. Dieses Basisthema aus Prop. 1,2 ist motivische Keimzelle für die zwei genannten Stücke aus dem zweiten Buch der Amores. Im ersten von ihnen, Am. 2,3, wird in 36 Versen ein einziger Gedanke ausgefaltet, der sich bündig resümieren ließe: >Ich will dir weder exotische Kleidungs- und Schmuckstücke schenken noch solche, die in Deutschland verfügbar sind, sondern immer nur meine unverbrüchliche Liebefremd< und >eigencultus< die mythische Bescheidenheit entgegensetzt, amplifiziert Celtis den Katalog der Geschenke, indem er in ironischer Zuspitzung des Gedankens nunmehr auch heimische Preziosen Revue passieren läßt, welche er der Geliebten nicht schenken wolle." So findet an dieser Stelle, en passant wiederum ein Stück Heimatkunde Eingang in elegisches Szeneninventar und übernimmt in der Ökonomie des Gedichtaufbaus eben jenen Raum, den bei Properz der Mythos als Vergleichsebene beansprucht hatte. Evident wird die Ersetzung des Mythos durch Teile der Deutschlandbeschreibung in einem zentralen Text wie Am. 2,9. Prinzipiell greift auch diese Elegie den Faden der Zivilisations- und Frauenschelte auf, der von Prop. 1,2 ausgeht. Deutlicher jedoch als Am. 2,3 nimmt Am. 2,9 auch die antithetische Struktur des Modells, die keimhaft angelegten »asymmetrischen Gegensatzpaare« (Koselleck) fremd und eigen heraus, um eine ausführliche, den gesamten Bereich der Lebenshaltung und Moral erfassende Synkrisis von G e r mania nova< und >Germania vetusUnd wenn du nicht so versessen wärest auf fremdländische Waren, dann würde ich dir die deutschen vorenthaltene Vgl. Prop. 1,2,4t: »Teque peregrinis vendere muneribus/naturaeque decus mercato perdere cultu«. Vergleichbar ist auch die Aufzählung Am. 2,6,31ff. mit deutschen Köstlichkeiten. Schon hier zeichnet sich ab, welches Spektrum an nationalen Themata Celtis' Deutschlandbeschreibung integriert haben würde. Die lange Reihe kulinarischer Genüsse, deren Provenienz wiederum die verschiedenen Teile der Patria beleuchtet, ist nicht nur kuriose Erweiterung einer typisch elegischen Szene (Einladung zum Gastmahl), sondern zugleich Beleg für die Kultiviertheit des zeitgenössischen Germaniens wie für die Fruchtbarkeit der deutschen Landstriche. Eine Aufzählung wie die der Fische in der Donau (Am. 2,6,45f.) erfüllt so ihren Sinn im Nachweis kultureller Blüte, wie sie im abschließenden Kapitel der Germania generalis im Zusammenhang evoziert wird (Germ. gen. 266-270, bes. v. 270: »fluuios varios, sapido qui pisce redundant«; zum Fischreichtum deutscher Gewässer auch Nor. S. 122).
280 oder Tacitus darstellte, zu entwerfen. 100 An eben jener strukturellen Position in der Elegie, an der bei Properz die mythischen Frauenfiguren als überzeitliche Exempla unprätentiöser Bescheidenheit figurieren, evoziert Celtis als ideales Gegengewicht das Bild einer sittlich reinen >Germania vetuslicentia< und >lascivia< gegenübertritt. Die wenigen hier versammelten Beispiele belegen zur Genüge, daß sich das Anliegen der Deutschlandbeschreibung auf allen Ebenen und nahezu über den gesamten Raum der Amores mit dem Gattungssubstrat der Elegie verschränkt.101 Wenn dabei Splitter der Germania illustrata auch beiläufig die Systemstelle besetzen, die in der antiken Elegie den mythologischen Exkursen vorbehalten war, so ist dies sicher die subtilste Form, en passant Elegie und Germania illustrata zu gleichem Recht kommen zu lassen. Unbenommen bleibt dabei freilich, daß einzelne Elegien, namentlich die >Hodoeporica< und ihnen verwandte Texte, weit unmittelbarer und umfassender dem landeskundlichen Anliegen verschrieben sind.
5.2.4. Poetologische Reflexion und dichterisches Selbstverständnis in den Amores Neben der Schicht der klassischen Mythologie, die sich in den Amores in der beschriebenen Art und Weise verwandelt bzw. verflüchtigt, findet auch ein weiteres Kernthema der antiken Liebeselegie keine Entsprechung in den Amores, nämlich die Reflexion über poetologische Fragen im engeren Sinne, zumal das Bekenntnis zum kleinen, kallimacheischen >genus tenuenugae< und >lusus< war zugleich Ausdruck und Ergebnis einer Lebenshaltung, die in ihrer Bescheidenheit und Privatheit wie in ihrem nicht-offiziellen Charakter (>otiuminertiakleinen< Gattungen (vor allem auch die Horazische Lyrik) erfaßt, in einen sehr konkreten, vielfach wiederholten Rede- und Lebenszusammenhang. Innerhalb von Celtis' Amores fand sich jedoch kein Raum mehr für solch innerpoetische Positionierungen, 103 sehr wohl jedoch in der Vorrede an Maximilian, die belegt, wie vertraut Celtis Begrifflichkeit und Topik der Verweigerung dort zu handhaben weiß, wo dies den kontextuellen Umständen von Redesituation und -anlaß angemessen ist: So ist es nicht nur exordiale >modestianugaeineptiae< u.a. bezeichnet, wie dies von Catull bis Ovid auch für die lateinische Liebesdichtung als niederes Genus< gebräuchlich ist.105 Wie diese so weiß auch Celtis um die unausgesprochene Anforderung epischer Verherrlichung des großen Gönners, und so tritt ans Ende dieses ersten Teils der >praefatio< die Hoffnung, der König werde den Dichter in Zukunft >ad maiora< anregen. Dies ist zunächst auch und vor allem gattungshierarchisch gemeint 106 und zielt auf ein MaximilianEpos bzw. die Redaktion der lateinischen Autobiographie im Zusammenhang des >Gedechtnustua res agitur< des Projekts gebührend herausstreicht. Wie in den großen panegyrischen Oden, die zuerst im Proseuticum ad diuum Fridericum tercium erscheinen, inszeniert Celtis auch in der >praefatio< zu den Amores (aber auch in anderen >praefationes< wie der zur Epitoma oder zur Rhapsodia) sich selbst, Maximilian und das eigene Rollenverhalten diesem gegenüber in den Konturen und Sprachformeln der Augusteer. Seine Logik hat dieses Begründungsschema in Maximilians erklärtem Verdienst, durch die Gründung des »Collegium poetarum et mathematicorum« >uns als ein zweiter Caesar Augustus auch die antiken Künste, die römischen und griechischen Wissenschaften zusammen mit der Herrschaft wiedergeschenkt< zu haben.111 Das augusteische Maskenspiel samt seiner Epochenrhetorik von >restitutio< und >renovatio< verleiht so der eigenen Person und dem eigenen Projekt einmal mehr historische Patina und Tiefendimension. Wenn Celtis am Beginn der >praefatio< und nur hier die augusteische Diskussion um die kleine Gattung aktualisiert, so sind dabei in einem schwer zu bestimmenden Mischungsverhältnis exordial-panegyrische >humiliatiopoliticus< und >ethicus< nach horazischem Modell und eigenes Selbstbewußtsein als Vertreter des >genus tenue< verbunden. Nur an dieser Stelle jedoch ist der Begründungszusammenhang der recusado in seiner klassischen Form gegenwärtig. In den Amores selbst fehlt jede dezidierte Auseinandersetzung um Fragen von Gattungswahl und poetologischem Selbstverständnis völlig. Entsprechend ist auch die Semantik der kleinen Form, auf die Celtis in der >praefatio< anspielt, in den Amores entweder umgewertet oder völlig ausgeblendet.112 Das Aufgreifen einer literarischen Gattung, und sei sie noch so motivbeständig wie die Liebeselegie, erweist sich von hier aus als ein komplexer Akt, in dem Traditionsbindung und zeitgenössische Interessen vielfältig interferieren und zu Verschiebungen im Ausgangsbestand führen. So hatten sich die äußeren Parameter für eine dichterische Selbstbestimmung gegenüber der Situation eines Horaz, Properz oder Ovid grundlegend verändert. In den Bereichen der Amores, in denen Welt und Person Maximilians gegenüber der Selbstdarstellung als »poeta Germanus« von vornherein ausgeblendet waren, war nicht mehr die kallimacheische Argumentationsdialektik von kleiner und großer Form gefragt, sondern das viel elementarere Anliegen, die Würde des Dichters und der Dichtung allererst zu begründen. Demgegenüber blieb das Problem der Gattungswahl für den Dichter um 1500 ein gleichsam sekundäres, das in der eklektisch-offenen Form der Elegie und historisch vor 111 112
Praef. 13. Dazu paßt auch, daß der Leitbegriff >nugae< in den Amores stets in pejorativem Sinn verwendet ist. Vgl. Am. 2,7,34.
283 der Ausbildung eines strengen Begriffs von Gattung und kanonischem Modell nur schwerlich zu Bewußtsein kommen konnte. Mußte es einem Horaz, Properz und Ovid (weniger Tibull) darum gehen, eine provokante >neoterische< Form und Lebensauffassung zu verteidigen, so fand Celtis diese als literarisches Surrogat und etablierte Gattung bereits vor. Die Elegie war so nicht erst in ihrem Eigenrecht zu legitimieren, sie besaß dieses a priori kraft jener »optimi auctores«, die es traditional verbürgten und in deren Reihe sich Celtis in den Amores stellen konnte. Das bedeutet indes nicht, daß die elegische Form nicht weiterhin Provokanzpotential enthalten hätte, doch wirkte dies, wie eingangs gezeigt, nunmehr auf dem Gebiet moralischer Positionen, die eine >defensio amorisdefensio< dieser oder jener Gattungswahl motivierte. An die Stelle der Gattungsproblematik tritt so die Selbstdarstellung als Dichter und das Bekenntnis zum Ruhm als Lebensaufgabe an das Ende der Deutschlandreise.113 Immer wieder verraten dabei die entsprechenden Passagen in den Amores, wie sehr die dichterische Lebensform an sich im lebensweltlichen Zusammenhang erst zu begründen und gegen obrigkeitliche Indifferenz und banausische oder klerikale Anfeindung zu rechtfertigen war,114 wie sich überhaupt der aus der humanistischen Moralistik vertraute Lebenswahldiskurs als zeitgenössische Deutungsfolie unter die Darstellung des elegischen Modus vivendi (gegenüber einer >vita contemplativa< und >activavita beata< aufgehen zu lassen.115 Celtis stellt damit die behauptete Anspruchslosigkeit der elegischen Existenz, die sich bei Tibull finden ließ, in den Zusammenhang praktischer Lebenslehre, den bereits die >praefatio< als sehr zeitgemäßes Argument entfaltet. Von all jenen stehenden Motiven aus dem Umkreis des dichterischen Selbstverständnisses bleibt daher ein Element wie die fingierten Epitaphien weitgehend unverändert erhalten, gestatten sie es doch dem Dichter, den eigenen Ruhm antizipierend und in Umgehung des Verbots der Selbstthematisierung in das Hier und Jetzt einer dürftigen Zeit einzuholen. In Am. 4,15, aber auch auf dem Sterbebild Burgkmairs hat Celtis die paradoxen Konsequenzen aus dieser Hoffnung auf die Nachwelt gezogen.116 Deutlich zeichnen sich derartige Verschiebungen innerhalb des Gattungsprofils an solchen Stellen ab, an denen neoterische Programmatik, ele-
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So programmatisch in Am. l,3,71f. Vgl. die Diskussion um >vera nobilitas< und die Gleichgültigkeit der Fürsten in Am. 2,8,63-100. Etwa in Am. 3,7,19-38. Dazu Kap. 7.3.
284 gisches Selbstverständnis und Fragen der Gattungswahl von jeher ihren bevorzugten Ort hatten. Es sind dies die Gelenkstücke einzelner Gedichtbücher, namentlich die Eröffnungstexte oder aber die poetischen Sphragides, in denen die Richtung des eigenen Werkes begründet und legitimiert wird. Bei keinem anderen Autor ist das Prinzip des programmatischen Eröffnungsgedichts ähnlich konsequent durchgeführt wie in den vier Elegienbüchern des Properz. Jede einzelne Auftaktelegie bezieht hier Stellung hinsichtlich der Tendenz des eigenen Dichtens wie der eigenen Lebenshaltung. Überwiegt in Prop. 1,1 der Aspekt der elegischen Lebensform als »malum« und >miseriamiseria< an den Freund Tullus (v. 9), gelegentlich werden andere Freunde oder Gegner angesprochen, zumeist jedoch richtet sich die Rede an die Geliebte selbst, die gescholten oder als >divina puella< gepriesen wird. Für all diese spezifischen Adressaten finden sich exemplarische Parallelfälle innerhalb der Monobiblos des Properz. Die handschriftliche Tradition, später die der Drucke versieht dessen Elegien wie die anderer Elegiker daher mit Überschriften, aus denen neben dem Hauptinhalt auch der Adressat der jeweiligen Stücke hervorgeht. 119 Dieses Prinzip findet sich auch in den Druckausgaben der Neulateiner durchgängig beibehalten. So begegnen Angaben der Adressaten auch dort, wo sich der Dichter im offenen Reflexionsmonolog mit sich selbst (»ad se ipsum«) befindet, oder auch unbelebte Gegenstände, die Natur u.a. adressiert werden. 120 Neben den Sodalen, die lediglich im ersten Buch der Amores im Titel erwähnt werden, 121 ist indes auch bei Celtis die jeweilige Geliebte der erklärte Hauptadressat. Dies trifft vor allem auf solche Stücke zu, die entweder eine räumliche Trennung beider zur Voraussetzung haben oder breite Deklamationen oder Scheltreden des Liebha-
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Dazu oben Anm. 48. Am. 1,15 wendet sich in Apostrophe an die Weichsel, Am. 3,13 an den Rhein, Am. 3,14 gar an die Pest. Am. 4,15 spricht die »iuventus Germanica« an. In den Amores finden sich gleichwohl nicht wenige Ausnahmen, die als >nanative< Einsprengsel die Szene einer Traumerscheinung der Geliebten (Am. 2,11) oder den Bericht eines Raubüberfalls (Am. 2,12) enthalten. Einen didaktisch-objektiven Ton ohne erkennbaren Adressatenbezug schlagen eine Reihe reflexiver Gedichte wie Am. 3,5; 3,10; 4,1 an. Etwa Am. 1,1; 1,2; 1,4; 1,6.
286 bers enthalten. Damit gehen fließende Übergänge zwischen den elegischen Subgattungen einher. Die dialogische Bezogenheit der Liebeselegie läßt diese nahtlos in die Heroide oder überhaupt zum literarisch-elegischen Brief an ein entferntes Gegenüber werden. 122 Wo die Entzogenheit der Geliebten weniger eine Frage des Raumes als der Entrücktheit in die Idealität der Anbetung ist, wird aus der dialogischen Anrede die Anbetung der >puella divina< im kunstgerechten erotischen Hymnus. 123 Zumeist freilich lassen die Texte in der Schwebe, in welcher konkreten Situation und Perspektive sie sich an die Geliebte wenden. So sind einzelne Stücke ebensogut als persönlich vorgetragen zu denken wie als Billetts, die der Geliebten etwa Einladungen zum Geburtstagsfest aussprechen. 124 Gegenläufig aber zu den Oden, die nahezu ausnahmslos an Freunde und Sodalen gerichtet sind (>FreundschaftsodenGesellige< weit mehr noch als die Stimmung erotischer Klage zur Grundkonstante elegischer Zyklen werden konnte, indem es der humanistischen als einer »dialogischen Lebensform« (Rüegg) literarisch entgegenkam. 126 Vor allem das erste Buch der Amores zeigt noch die Spannung zwischen der in sich abgeschlossenen, privaten Sphäre der intimen Liebesbeziehung und dem Raum der Geselligkeit, die punktuell (etwa in Am. 1,4) in jene integriert oder eben exkursartig auf der Ebene der Germania illustrata angefügt wird. Die Oden lassen eine umgekehrte Entwicklung erkennen: Bestehen auch hier zunächst Liebes- und Freundschaftsdichtung, der Raum der Intimität und jener der >Zivilität< nebeneinander, so tendieren die Oden zunehmend zu letzterer, indem sie eine Gelehrtengemeinschaft suggerieren, die sie allererst durch literarische Evokation in den Dichtungen selbst stiften.
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Kardinalbeispiel ist die Briefelegie Am. 2,1, die entsprechend der Topik der literarischen Epistel beginnt: »Tincta meis lacrimis tibi tristis epistola nostra/Iam venit et queritur te procul esse mihi«. Ausdrücklich als Epistel gekennzeichnet ist auch Am. 1,4. Am. 1,8. Etwa Am. 2,10. Praef. 10. Rüegg: Cicero; ders.: Anstöße; auch Kühlmann: Humanismus, S. 49f.
287 5.3. >Insanus furore Liebe als Passion und Lebensform Indes hat jeder Versuch, Celtis' Amores im Horizont der Gattung zu verankern und auf diesen zu beziehen, die Frage nach den Verwandlungen des Liebesbegriffs und der Semantisierung des elegischen Eros zu beantworten. Erschwert wird dies dadurch, daß die Perspektiven des Liebesbegriffs gegenüber der antiken Elegie um eine Stufe komplexer geworden sind. Indem Celtis im Rückgriff auf neuplatonische Eros-Philosophie und andere Traditionen mit der >praefatio< eine zweite Ebene der Diskussion einführt, die sich dem elegischen Geschehen in scheinbar auktorialer Distanz nähert, wird die literarisch ererbte Liebestypologie a priori mit einer philosophisch-moralisierenden Lesart konfrontiert, die gegenüber der Antike ein nahezu völliges Novum darstellt. 127 Im Hinblick auf die Amores hat sich der Status dieser betont philosophisch auftretenden Behandlung des Liebesthemas von jeher als problematisch erwiesen. Gibt es, so die naheliegende, von der Forschung bislang noch ungeklärte Frage, eine systematische Verbindung zwischen philosophischem Extrakt und dem Substrat elegischer Liebeshaltung, das sich vergleichbar der Ars amatoria Ovids in ironischer Distanz zu dessen Liebesdichtungen bewegte, oder erschöpft sich die Vorrede mit ihrem Lob des >amor divinus< in einer wenngleich neuen, so doch topischen »defensio amoris< mit dem naheliegenden rhetorischen Ziel, den Vorwurf der Unsittlichkeit vorab zu entkräften 128 ? Eine eindeutige Antwort auf diese Frage fällt schwer, zumal Celtis auch in der Vorrede erkennbar elegische Motive mit philosophischer Spekulation und didaktischer Common-sense-Moralistik zusammenfließen läßt. Ein Blick auf die Amores selbst kann indes zeigen, wie der differenzierende Ausbau des antik-elegischen Erosbegriffs nicht nur das Feld der Liebesapologie bestimmt, sondern darüber hinaus Anbindungen elegischer Liebesmotivik an wissenschaftlich-philosophische Diskurse unternimmt, welche die Elegien durchaus zu einer polyphon-gelehrten »amoris tractatio« werden lassen. Daß diese im Horizont einer Mischung von >seria< und >ioci< immer wieder ironisch gebrochen wird, versteht sich nach allem von selbst, wirft jedoch ein bezeichnendes Licht auf die philosophischen Ambitionen, denen die Amores auf diese Weise wenigstens im Vorübergehen gerecht werden wollen. Doch wie gestaltet sich diese doppelte Behandlung der Liebe als Spiel und Passion in den Elegien selbst? Zu den elementaren Grundkonstanten der elegischen Existenz zählt die Dominanz des Liebesprinzips gegenüber allen anderen Verpflichtungen und Themen. Die relative Geschlossenheit des Gattungsprofils bringt es mit sich, daß die wesentlichen Topoi und Schlagworte elegischer Weltsicht in weitge127
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Für eine eingehendere Behandlung des Kontextes sei verwiesen auf Vf: Amabit sapiens. Dies etwa die Tendenz von Wiener: Neuplatonismus, S. 105-114.
288 hend konsistenter Form bewahrt werden. Im Grunde kann sich daher eine kursorische Bestimmung elegischer Lebenshaltung mit einigen zentralen Texten der Properzschen Monobiblos begnügen, die in wünschenswerter Dichte alle traditionsbildenden Motive enthalten. So steckt etwa Properz' Eröffnungselegie, an der sich Celtis' in Am. 1,3 orientiert, einen begrifflichen Rahmen der Liebessemantik ab, der auch in den Amores weitgehend verbindlich bleibt. Schon Properz geht es dabei grundsätzlich darum, die Existenz im Zeichen und unter dem Joch Amors als eigenen Modus vivendi offensiv gegen solche Lebensentwürfe abzugrenzen, die sich im weiteren Sinne als >vita activa< verstehen lassen. 129 Bezeichnend ist dabei eine provozierende Umwertung der Werte, kraft derer moralische Verdikte wie >nequitiaeinertialascivia< u.a. im Zusammenhang elegischer Weltsicht eine affirmative Umdeutung erfahren und zur Selbstbeschreibung elegischer Lebenserfahrung herangezogen werden. Unter dem Signum der erotischen Existenz entsteht so in moralistischer Sicht ein >ordo inversusfurornon sanum pectusservitium amoris< wird als >malum< und Wahn (>insaniaamentiamiseriapuellafoedus amorismutuus amorGesunder Menschenverstand^. Hoffmann: Poeta und Puella.
289 sehen Elegie fremd waren und die auf den zeitgenössischen Erwartungshorizont verweisen, vor dem Celtis seine Dichtungen zu piazieren hat. Dazu einige grundsätzliche Hinweise: Wie Properz erkennt und thematisiert auch Celtis die Problematik der erotisch-elegischen Existenz. Weit konsequenter jedoch als Properz hypostasiert er dabei eine zweite, auktorial getrennte Ebene, von der aus die provokanten elegischen Leitbegriffe den eindeutigen Charakter moralischer Verdikte zurückerhalten. Auf der Linie des >Fiktionstopos< (Stenzel), der die Einheit von biographisch-auktorialem und elegischem Ich aus Gründen der Selbstverteidigung bestreitet, tritt der Dichter sich selbst und seiner erotischen Disposition und Verfallenheit distanziert gegenüber, wird schließlich zum Exemplum für die Auswirkungen eines fehlgeleiteten und unkontrollierten Affekts. Der klassischen Elegie ist dieser Zug zur Moralisatio unter umgekehrten Vorzeichen durchaus nicht fremd, ebensowenig wie der Hinweis auf die Beispielhaftigkeit des eigenen Leidens, aus der die Warnung an Freunde und Rivalen abgeleitet wird. In den Amores, namentlich in der Vorrede, werden beide Eigenheiten der Gattung dadurch forciert, daß sie einerseits ihren spielerisch-ironischen Zug verlieren, während andererseits die ausdrückliche Bejahung einer elegisch verkehrten und >karnevalisierten< Welt unterdrückt wird.132 Was bleibt, ist die plane Moraldidaxe, in deren Blickfeld die elegische Liebe mit der platonischen Entartungsform eines >amor spurcus< identifizierbar wird. Dem steht die Bewertung der elegischen Existenz innerhalb der Amores entgegen. Auch hier finden sich Beispiele, wie von fragiler moralischer Warte aus die Abenteuer des Dichter-Ichs als Exempla eines verfehlten Umgangs mit dem Liebesaffekt gedeutet werden. In diesem Sinne wird das >Abenteuer im Kopf< von Am. 3,5 (Wenk) zum Schaustück beispielgebender »amoris insania«, das sich nicht zufällig auch gattungstypologisch an die satirische Moralistik eines Horaz anlehnt.133 Auf derselben auktorial-paränetischen Ebene richtet sich auch die Sphragis des Zyklus, Am. 4,15, ein, die nicht nur am Ende den Vorwurf von >amor spurcus< und >lascivia< abwehrt, sondern gleich zu Beginn die Haltung des Mahnredners im Dienst der deutschen Jugend annimmt. Venus-Dienst und >adulteria< verfallen so demselben Verdikt wie der elegische Leitbegriff der >nequitiasüße
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Man beachte die moralistische Re-Maskierung elegischer Daseinskonstanten unter ironischer Brechung in praef. 42. Praef. 37; Am. 1,2,42; 3,5,1. Wenk: Abenteuer im Kopf. Am. 4,15,19f.: »Turpibus assuetus turpem feret ille senectam/Nequitiamque suam sub sua busta trahet«. Am. 1,2,39: »Ingenue fateor tantos mihi mente calores«. Auch hier folgt das Eingeständnis von >insania< und >furorfurorratio< vergeblich zu Leibe rückt, wie auch der Liebe als einer selbstverschuldeten Krankheit (Am. l,2,21ff.; Prop. 1,1,26), die keine Medizin duldet. 137 Celtis bringt solche elegischen Haltungen auf die griffige Formel einer >amoris impotentiapraefatio< setzt, wenn er die Amores insgesamt auf ein Schaustück »de utriusque amoris vi et impotentia« 138 reduziert, indem beständig >ratiotemperantia< und >modus< gegen ihre zugeordneten >vitia< kämpfen. 139 Damit ist die elegische Wertewelt endgültig in einen zeitgenössischen Diskurs transponiert, an dessen Beginn die allegorischen Psychomachien von Petrarcas De remediis utriusque fortunae stehen. 140 Für diese Kontaminierung beider Welten spricht auch, daß bei allen Analogien die hier erscheinenden Gegenbegriffe >ratiomodus< und >temperantia< keine entschiedenen Entsprechungen im Begriffsarsenal der antiken Liebesdichtung besitzen. Sie sind allesamt Konzessionen an einen zeitgenössischen Moraldiskurs, der hier von außen dem elegischen appliziert wird. Aus der Perspektive des Dichter-Ichs jedoch bleibt es bei einer Hinnahme der eigenen >miseriaratio< vor dem >furor< bestimmt. 141 Solcher >furor< gilt indes, entgegen der Differenzierung des Autors, nicht nur für die erste Altersstufe des Dichters, also für das erste Buch der Amores.142 Nicht einmal im Durch136
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In der Nachfolge von Cat. 68,17f.: »Dulcis amarities«. Zur weiteren Tradition Pyritz: Flemings Liebeslyrik, S. 185ff. Am. 3,4,33f.; Prop. 2,l,57f.: »Omnis humanos sanat medicina dolores:/solus amor morbi non amat artificem«. Zur Auffassung der Liebe als >error< vgl. Prop. 3,24,15ff.; Verg. ecl. 8.41; Ov. Am. 1,10,9 und Petrarca: Canzoniere 1. Praef. 20; vgl. ebd. 37. Ebd. 44: »Nam res illa, si quis huic alimenta dederit aut in consuetudinem adduxerit, nec modum nec rationem habet«. Die Dialektik von >ratio< und >furor< hat ihre Entsprechung auch in der Antinomie von »voglia« und »ragione« in Petrarcas Canzoniere. Pyritz: Flemings Liebeslyrik. Am. 3,l,35f.: »Vieta fuit tandem furiens ratione libido/Et cepit frenos improba fiamma suos«. Am. 3,ll,27f.
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lauf der vier Lebensalter zeichnet sich ein Nachlassen der erotischen Bindung ab, so daß auch der gealterte Dichter erneut der Macht des Eros verfällt, sich in melancholischer Reflexion von der Fülle der eigenen Laster, von Amor und Cupido, umstellt sieht143 und überhaupt von der eigenen Liebestorheit nicht Abstand nehmen kann.144 Die schiere Präsenz der später entstandenen Barbara-Gedichte in der Mitte des vierten Buches (4,7-4,13) unterstreicht sinnfällig die von der Gattung eingeforderte Unbelehrbarkeit und Resistenz des Liebeskranken gegen alle >remediaphilosophia moralis< erheben.145 So wird am Ende des Zyklus und in seinem Beginn die karnevalisierte Welt der Liebe eingefangen und launig eingeebnet durch eine moralistische Lesart, die sie als >lusus< und >experimentum< zur gefahrlosen Propädeutik und Lebensschule reduziert. Celtis überhöht den Gestus von Warnung und Erotodidaxe, welcher der Liebeselegie spätestens seit Ovids objektiver Wendung zur Ars amatoria innewohnt, noch einmal und läßt die Liebesdichtung zur philosophischen Feldforschung am eigenen Beispiel werden.146 Mit den hier im Überblick versammelten Leitbegriffen und -themen ist die Erfüllung der von der Gattung determinierten erotischen Weltsicht beschrieben. Bezeichnend sind jedoch gerade die Differenzen gegenüber der gattungstypologischen Ausgangsposition. Nachdem zuvor bereits die Rede von Celtis' philosophischer Vereinnahmung der Liebesdichtung war, sind eine Reihe weiterer Transpositionen des elegischen >amor< anzusprechen. Wie in der moralistischen Lesart der Elegie zeigen sich die Amores auch in dieser Hinsicht auf dem Weg zu einer integralen Deutung des Phänomens Liebe, in der sich >Musa iocosa< und philosophisch-wissenschaftliches Anliegen verbinden.
5.4.
Integraler Humanismus und Pluralität des elegischen Eros. Die Phänomenologie der Liebe in den Amores
5.4.1. Liebesbande und kosmische Relationen. Eros zwischen Mikro- und Makrokosmos Zu den Grundprinzipien der klassischen Liebeselegie gehört die Utopie eines >foedus aeternumpuella< unausgesetzt bekennt und dessen Verletzung durch die Untreue der Geliebten immer wieder die Schwankungen in der Befindlichkeit des Liebenden 143 144 145 146
Am. 4,3,67ff. Am. 4,4,7f. Vgl. Kap. 5.5.5. Am. 4,15,57t Angelegt schon in Prop. 1,1,35; 1,20,1.
292 sowie die Dialektik von Liebesschwur und Absage motiviert.147 Auch Celtis' Amores setzen dieses grundlegende Movens der elegischen Welt voraus, auch sie kennen die Emphase des Liebesbundes und die Klage über seinen Bruch durch die Geliebte.148 Anders jedoch als in der antiken Tradition weist das elegische Bündnis in den Amores über seine gattungsimmanente Bedeutung hinaus. Die >praefatio< deutet die erfüllte Verbindung zwischen den Liebenden als Ausdruck einer elementaren erotischen Grundkraft, welche die Dinge im innersten zusammenhält.149 Celtis' Einlassungen über Bedingungen und Wirkungen dieser göttlichen Liebe bündeln geschickt elegische Topik und Begrifflichkeit mit einer Reihe wissenschaftlich-philosophischer Texte und unterstellen beides jener respektablen Liebesform, die als Widerpart des >amor spurcus< die neuplatonische Erosdialektik prägt.150 Das elegische Motiv erscheint so von Anfang an in einer kosmischen Dimension und mit ihr in einem philosophischen Kontext, welcher der klassischen Elegie wie überhaupt der antiken Dichtung völlig fremd ist. Die Frage nach einem einigenden Band der Dinge weist über die Elegie hinaus auf genuin philosophische Texte, namentlich den Auftakt von Lukrez' De rerum natura mit seinem Venus-Preis oder eine davon inspirierte Stelle aus den Fasti Ovids.151 Eine solche Überschneidung von elegischem und (im zeitgenössischen Horizont) naturwissenschaftlichem Diskurs spiegelt sich unmittelbar in einem Synkretismus von »poema elegiacum« und »poema naturale« wider.152 Wenn hier von einem philosophisch-wissenschaftlichen Ansatz gesprochen wird, so berücksichtigt dies Celtis' eigenes Konzept einer integralen Philosophie, in der Astronomie bzw. Astrologie eine zentrale Stellung einnehmen. Nicht ohne Grund erscheint Ptolemaeus, der Autor der für Celtis maßgeblichen Tetrabiblos, als Vertreter ägyptisch-chaldäischer Weisheit auf dem Philosophia-Holzschnitt. Celtis bewegt sich im Rahmen des naturphilosophischen Weltbildes seiner Zeit, wenn er das elegische >foedus< als mikrokosmische Spiegelung makrokosmischer Zusammenhänge interpretiert:153 Ut Venus adstringat cupidorum pectora amantum Et sociat nexu cuncta dementa suo, Quo caelum sub amore meat tellusque quiescit Et générant species toedere iuncta suas?
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Schon Cat. 109,5ñ; Prop. 3,20,21; 4,3,69 (u.ö.); Tib. 1,9,If. (u.ö.). Am. 2,6,113f.; 2,11,51. Praef. 17. Kap. 4.2. Als kosmisches Wirkprinzip bei Lucr. 1,1,21-24; Ov. fast. 4,85-132, bes. 91-94. Boeth. Cons. 2 carm. 8. Kap. 5.5.4. Zu dieser Frage ausführlich Pyritz: Flemings Liebeslyrik, S. 233-261.
293 Wie Venus die Herzen der Liebenden in ihrem Verlangen vereint und alle Elemente mit ihrem Band zusammenschließt, durch eine Liebe, welche den Himmel bewegt, die Erde ruhen läßt und beide [sc. Himmel und Erde; J. R.] im Bunde vereint ihre jeweiligen Arten hervorbringen. Dieselbe Liebe, welche >die Sterne bewegtmutua foederamutua cordasociale foedus«, >stabilis nexus< u. a. m. Am. l,14,6f.: »Nec sacer orbis amor (ceu quondam) mutua curat/Pectora concordi fugiens coniungere voto«. Dazu jetzt ausführlich Wiegand: Magie; Grossing: Naturwissenschaft, S. 162-170. Kemper: Liebe in der Frühen Neuzeit, S. 141 weist darauf hin, daß die Liebe in der Frühen Neuzeit als magisches Phänomen verstanden wird. Andererseits zählt das Thema Magie zu den konventionellen Motiven schon der klassischen Liebeselegie (bes. Tib. 1,5; Nekromantik in Ov. Am. 1,8). Wiegand: Magie, S. 310. Dazu Kap. 4.2.3.2.
294 bestimme zwar Amor, der machtvolle Gott, der mit dem Kosmos zugleich entstanden sei, alle Herzen, doch nicht alle Liebenden verbinde eine wechselseitige Liebe. Einige Frauen, darunter Hasilina, verhöhnten nur die Liebesglut ihres Liebhabers, indem sie sich prostituierten.161 Die kosmologische Erklärung des eigenen Liebesleids greift hier einen Faden auf, der grundlegend für die Amores in Am. 1,1 angeknüpft worden war: Das Horoskop des Dichters hat nicht nur die Funktion, dessen Doppelbestimmung als Lyriker und unglücklicher Liebhaber astrologisch zu motivieren. Die Untreue der Geliebten wird am Ende des Textes als Folge einer sinistren Konjunktion von Venus und Saturn ausgegeben, aus der mit naturwissenschaftlicher Notwendigkeit die immer neuen Verletzungen des Bundes durch die jeweiligen Geliebten erwachsen.162 So erscheinen die Wechselfälle und Leiden des Liebenden, das Prinzip der widerstreitenden Affekte bis zum Verhalten einzelner Figuren entscheidend an Konfigurationen der Gestirnläufe gebunden. Es versteht sich indes von selbst, daß ein solcher erotischer Universalismus im Spannungsraum der >Musa iocosa< mit ironischen Untertönen versehen ist.163 Die physiologische Deutung elegischer Dispositionen bleibt in den Amores in einem subtilen Gleichgewicht zwischen Scherz und Ernst, in dem das Philosophische ironisiert, das Elegische wiederum (natur-) philosophisch unterfüttert wird. Daß beide Anliegen in den Amores Seite an Seite verhandelt werden, geht immer wieder aus den Überschriften einzelner Elegien hervor, die elegische Thematik und philosophisch-naturwissenschaftliche Komplemente unmittelbar nebeneinanderstellen.164 Neben einer Reihe von Texten, die beiläufig auf wissenschaftliche Voraussetzungen der Liebespassion eingehen, wird diese Kreuzung von literarischem und physiologischem Eros-Diskurs vor allem in zwei Elegien des Zyklus breit inszeniert, nämlich in den Stücken Am. 1,11 und 3,11. Exemplarisch läßt sich hier zeigen, wie zwei zentrale Topoi der Liebesdichtung vor dem Horizont zeitgenössischer wissenschaftlicher Erkenntnis neu kontextualisiert werden: zum einen die sterngleich >strahlenden< Augen der Geliebten, die den Liebenden gefangennehmen (Am. 1,11),165 zum anderen das Thema der >Liebeskrankheit< und seiner möglichen >remediaDe radiis praesensionariisVorauswissens< (»praesensio«). Diese könne einerseits Effekt eines einheitlichen, alle Geschöpfe umfassenden >spiritus< im Kosmos sein oder eine >Potenz< der menschlichen Seele selbst darstellen. Träfe letzteres zu, so erklärte dies die Wirksamkeit der Magie 170 und begründete wiederum Erscheinungen wie den Somnambulismus, bei dem lediglich der >Geist< die schlafenden Glieder bewege. Eine analoge Stellung komme aber der Liebe zu, welche ihre Macht und Wirkung vermittels der Augen entfalte: Hinc oculus, mentis qui nuntius atque fenestra est, Invidiae signum saepe et amoris habet; Nam fertur radiis ocularibus esse potestas, Dum solo visu femina saepe necat Atque lupus mediis fuerit si visus in arvis, Mox spectator! guttura rauca facit.
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So zeigt oftmals das Auge, das Vermittler und Fenster des Geistes ist, Neid und Liebe an. Denn es heißt, die Augenstrahlen hätten eine besondere Macht, kann doch eine Frau allein durch ihren Blick töten oder ein Wolf, den man auf offenem Feld erblickt, beim Betrachter eine rauhe Kehle hervorrufen.
Das Motiv der Augenstrahlen markiert nun den Schnittpunkt zwischen Liebesdichtung und physiologischer Betrachtung: Einerseits wird mit der Rede von den >radii oculares< abgehoben auf die Bedeutung von Blick und Augen der Geliebten in der erotischen Dichtung, 171 andererseits verbindet Celtis dieses 16é 167
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Kap. 4.2.2. >Über prophetische Strahlung, welche die Philosophen als >SternenstrahIung< bezeichnen, und darüber, welche Wirkung die Affekte beim Menschen besitzen*. Praef. 33. Am. 1,11,5t Derselbe Begründungszusammenhang in Od. 3,19,13-16. Vgl. Od. 1,3,1: »Quid me sidereo lumine verberas«. Der >visus< ist die erste Stufe der sog. >quinque lineae< bzw. >gradus amoris* in der >ars-amandiSehstrahltheorieradii oculares< die Möglichkeit, diese an die Strahlungen der Gestirne anzuknüpfen und auf diesem Wege eine universell einheitliche Kraft zu hypostasieren, die für die Vorgänge von Mikro- wie Makrokosmos, von elegischem >foedus< und Band der Gestirne gleichermaßen verantwortlich zu machen ist. Wieder eröffnet Celtis so eine Metakinetik der elegischen Liebe auf astrologischer Basis: Sic Hasilina suis mihi dum connivet ocellis, Perpetuis radiis pectora nostra ferit, Aut veluti radios dum lucida sidera iactant, Sic virtute sua pectora nostra movent. Ut cum Saturnus sua lumina protulit orbi, Tristia cum maestis tempora maesta facit, Iuppiter et Mavors sie et Cyllenius ignis, Phoebus et extremo cardine Luna nitens, Quisque sibi certum tempus servavit in orbe Afficiens radiis cuncta sub orbe suis. Sic Veneris sidus, maior cui in orbe potestas, Influii imperio cuncta subire suo. 173
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Eben das geschieht auch, wenn mir Hasilina mit ihren Augen zuzwinkert: Dann trifft sie mich unaufhörlich mit ihren Strahlen in die Brust. So bewegen die leuchtenden Sterne, wenn sie ihre Strahlen aussenden, mit ihrer Wirkkraft unser Herz. Wenn etwa Saturn der Welt sein Licht zeigt, läßt er Zeiten wie Menschen trübe und melancholisch werden. In gleicher Weise hat jeder Planet, ob Jupiter, Mars, Merkur, die Sonne oder der Mond, der auf der letzten [sc. der innersten; J. R.] Bahn erstrahlt, seinen besonderen Zeitpunkt, an dem er mit seinen Strahlungen auf alles im Kosmos einwirkt. Auf diese Weise zwingt der Planet Venus, der mächtigste im Kosmos, alles und jedes, sich seiner Herrschaft zu unterwerfen.
Der Topos von der Allmacht der Venus wird hier ins Astrologische rückübersetzt und augenzwinkernd zum Naturgesetz erklärt, dem der Liebhaber unter den Voraussetzungen eines streng deterministischen astrologischen Weltbildes nicht entgehen kann. In einer vom maßgeblichen Einfluß der Venus bestimmten Welt, in der ohnehin >die Gestirne am Himmel alles bewegenergriffen und durchdrungen von der Person der Geliebten, daß er das Kommen Hasilinas, die ihr eigene >Ausstrahlungsemina amoris< führen nicht zur Zerrüttung wie die tierisch-sinnliche Liebe, sondern sollen sich auf eine spirituelle Verbindung der Liebenden und damit auf jenen >amor honestus< richten, der als pädagogischer Gehalt der Amores veranschlagt wird.
5.4.3. Elegie und Liebeskrankheit. Ein erotisches Thema in humoralpathologischem Licht Eine vergleichbare Diagnostik wird in den Amores aber auch der dunklen Seite der Liebespassion zuteil, deren zerrüttende Wirkungen mit einem anderen topischen Motiv der Liebesdichtung, der Liebeskrankheit, zusammenfallen.181 Auch in diesem Zusammenhang ist gut zu beobachten, wie Celtis Ficinos wissenschaftlich-philosophische Transposition lyrischer Themen auf seine Weise fortsetzt. Seit der Antike gehört die pathologische Semantik im Zusammenhang mit der Liebe zum geläufigen Motivrepertoire der erotischen Lyrik. Amor erscheint so auch in der Liebeselegie durchgehend als 178 179 180
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Cant. 4,9: »Vulnerasti cor meum in uno oculorum tuorum«. Or. 7 Kap. 4 ed. Blum S. 324-326. Ebd. 7 Kap. 5 ed. Blum S. 328: »Amatoria vero contagio facile fit et gravissima omnium pestis evadit«. Ficino gibt in diesem Zusammenhang auch eine physiologische Deutung der Liebesdichtung aus dem Geist der Humoralpathologie: »Fit etiam ut voluptate simul et dolore eger iste tangatur. Voluptate vaporis illius et sanguinis claritatem atque dulcedinem« (S. 330). Burck: Wesenszüge, S. 205 mit Beispielen aus der antiken Elegie; Pyritz: Flemings Liebeslyrik, 125-127. Zur medizinischen Vorgeschichte der Liebeskrankheit in Antike und Mittelalter vgl. Crohns: Liebe als Krankheit; Lorenzetti: Bellezza, S. 75 - 84.
299 >malummorbus< und >insaniaremedia< und >medicina< hierfür entschieden ab. 182 Zur antiken Vorgeschichte des Themas >Liebeskrankheit< gehört es dabei, daß der >morbus amoris< hier fast durchgehend metaphorisch verstanden ist, so daß etwa Ovids >remedia amoris< keine medizinische oder pseudo-medizinische Diätetik des unglücklich Liebenden bereithalten. Die physischen Folgen des Liebesleids bleiben hier Gegenstand von Philosophie 183 oder Humoralmedizin. 184 Eine Rückwendung der poetischen Metapher >Liebeskrankheit< ins Eigentliche medizinischer Diagnostik, anders ausgedrückt: Eine Kreuzung von Dichtung und wissenschaftlicher Aitiologie vollzieht sich auf breiter Front erst im neuzeitlichen Diskurs über die Liebe. Celtis setzt diese »Anschauung von der Liebe als νόσος und μανία« 185 durchgehend voraus und bietet in Am. 1,2 eine klassische Durchführung des Themas, welche die Leitsemantik der Liebeskrankheit im Gefolge der literarischen Tradition nach allen Seiten hin entwickelt. In der folgenden Elegie, Am. 1,3, kennzeichnet Celtis diese Symptomatik mit dem griechischen Äquivalent der Liebespassion, dem Neologismus έρόνοσος: 186 Vel mihi fatales neverunt fila sórores Talia, quae cogant me sub amore mori, Noxius aut semper mea corda έρόνοσος habebit, Quem morbum stellae forte dedere meae.
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Entweder haben mir die Parzen Schicksalsfäden gesponnen, die mich nötigen, unter der Liebe hinzusterben, oder die schädliche Liebeskrankheit wird auf ewig mein Herz beherrschen, eine Krankheit, die ich womöglich meinen Geburtsgestimen zu verdanken habe.
Als medizinisches, d.h. humoralpathologisches Problem, das wiederum die Wechselwirkungen zwischen Makro- und Mikrokosmos voraussetzt, wird die Liebe dagegen in Am. 3,11 behandelt. Der Dichter fordert hier die Geliebte auf, ihm bei der Prozedur des Aderlassens behilflich zu sein. Zwar wird der Leitbegriff der Liebeskrankheit nicht ausdrücklich genannt: Der gesamte Kontext, die anspielungsreiche Rede vom >anschwellenden< Blut sowie die Überlegungen zur Abhängigkeit der Liebe von den vier Altern und ihren Temperamenten unterstreichen diese Lesart jedoch nachhaltig. Als Pointe
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Der locus classicus hierfür ist Prop. 2,l,57f.; vgl. Prop. 1,5,28; Ον. rem. 81; 115; Verg. ecl. 10,60. Etwa Cie. Tusc. 4,75ff. Crohns: Liebe als Krankheit. Pyritz: Flemings Liebeslyrik, S. 125-127; 216-218. Vgl. Ov. rem. 81; 115; Prop. 2,l,57f, vgl. Am. 1,2,22.34; 1,3,100. Als »chronische Krankheit« erscheint die Liebe in der Überschrift von Epod. 4,8: »Quod solo amoris chronico morbo in vita laboraverit«.
300 stellt Celtis dies ans Ende der Elegie, wenn er die Geliebte nach vollzogenem Aderlaß mahnt: »Sed caveas, caesam ne tangas lubrica venam,/Nam solet in digitis vena tumere tuis«. 187 Insgesamt erfüllt die Elegie auf diese Weise mehrere Funktionen: Vor dem Hintergrund neuer anthropologisch-medizinischer Kontexte liefert sie eine Beschreibung der Liebe als Störung des humoralen Gleichgewichts. Da diese Störung zugleich auf die (jahreszeitliche) Wirkung des Gestirnstandes und der Verteilung von Feuchtigkeit und Wärme im Makrokosmos zurückgeführt wird, erweist sie einmal mehr die wechselseitige Verschränkung der großen mit der kleinen Welt. Am eigenen Beispiel sucht so der >poeta doctus< die in praef. 9 thematisierte allseitige Abhängigkeit des Menschen von den Vorgängen der Gestirnsphäre zu zeigen. Damit liefert auch Am. 3,11 einen Beitrag zur universellen »astrologischen Motivation« der elegischen Welt (Lüh), die zugleich nach dem Willen der >praefatio< als Schaukasten Einsichten in die menschliche Affektnatur insgesamt ermöglichen soll. Intendiert, aber problematisch ist die Stellung des Gedichts im Rahmen der Tetradenstruktur des Zyklus. So stellt der astrologische Eingang des Textes nicht etwa die zu erwartende Verbindung zum Herbst als Jahreszeit des dritten Buches her, sondern thematisiert im Natureingang die Zeit des herannahenden Frühlings. Diese Inkonsequenz mag darauf zurückzuführen sein, daß es Celtis hier nicht so sehr um die Jahreszeit selbst, als um den makrokosmisch dimensionierten Widerstreit bzw. Ausgleich zwischen >Hitze und dichtester Feuchtes zwischen Herbst und Winter also, ging. Diese kosmische Korrespondenz wiederum ermöglicht die Verbindung zur Säfteökonomie in der kleinen Welt des liebenden Celtis: >Daher schäumt im ganzen Körper das Blut auf, in den einzelnen Gliedern schwellen die Adern.< 188 Dieser Unruhe, die wesentlich als Wirkung der Liebe bzw. der Geliebten gedacht ist, will Celtis durch einen gezielten Aderlaß begegnen. Dies bietet die Gelegenheit, die physiologischen Voraussetzungen der Liebe, etwa ihre Abhängigkeit vom Temperament des jeweiligen Lebensalters, 189 zu reflektieren. Da weiterhin das Blut >Sitz der Seele< sei, könne der Aderlaß auch in einer Variation elegischer Treuebekenntnisse - die Liebe des Dichters bezeugen: Stabis et emissum spectabis laeta cruorem. Iudiciumque mei sanguinis ipsa dabis, Scilicet an fido tibi sim coniunctus amore, Dilecta et quantum femina nulla mihi est; Sanguis enim sedes animae cum dicitur esse, Iudicium veri semper amoris habet. 190 187
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Am. 3,ll,57f.: >Aber berühre mir nur nicht, du liederliche, die Ader, denn sie schwillt stets unter deinen Fingern anamor communis< nicht nur ausdrücklich als >insania< bezeichnet,193 sondern vor allem als humoralpathologische Störung, als »sanguinis perturbatio« (or. 7 Kap. 6 und Kap. 7), die er in or. 7 Kap. 11 selbst durch Aderlaß therapieren will.194 In der Leitdichotomie von >amor divinus< und >amor spurcus< inszeniert schon Ficino einen Pluralismus von Erklärungsmodellen zum Phänomen Liebe, der in noch näher zu bestimmendem Maße Celtis' naturphilosophische Einlassungen zur >Liebe als Passion< präfiguriert.
5.5.
Die zwei Seelen des Liebenden. Philosophie und Eros in den Amores
5.5.1. >Seria mixta iocisdolendi voluptas< und >servitium amoris< ausgespannt ist.195 Diskussion und Rechtfertigung der elegischen Existenz sind daher schon in der antiken Elegie zentrale Anliegen. Vor allem bei Properz ergänzen und reflektieren sich dabei poetologische Selbstbeschreibung und elegische Lebenswahl wechselweise. Der erotische >lusus< bezeichnet nicht nur eine artistische Präferenz - die alexandrinische Wahl der kleinen Form - sondern zugleich auch, existentiell, eine Lebenshaltung im Dienst des Eros.196 Wie beschrieben haben sich diese thematischen Gewichte der Elegie in der Frühen Neuzeit verschoben. So findet eine poetologische Auseinandersetzung, die der antiken Diärese zwischen >genus tenue< und >genus grande< entspräche, in den Amores nicht mehr statt, da sie gegenüber dem grundsätzlichen Bedürfnis nach Etablierung von Dichter und Dichtung an Dringlichkeit zurücktritt. Gegenwärtig und aktuell bleibt dagegen auch für Celtis das Thema konkurrierender Lebensentwürfe und -formen. Damit ordnen sich die Elegien einem ethischen Diskurs ein, der die humanistische Moralistik vor und um 1500 entscheidend bestimmt, der Frage der rechten Lebenswahl sowie der in ihr angelegte Diskurs um die Entscheidungs- und Willensfreiheit des Menschen als Schöpfer und Modellierer seiner selbst. Solche Interessen einer humanistischen Moralistik als existentieller Anthropologie kristallisierten sich etwa am Mythos der Paris-Wahl, der ausgehend von den Mythographen Fulgentius und dem sog. Mythographus vaticanus III 197 immer wieder allegorisch gedeutet wird.198 Die drei Göttinnen, deren Schönheitsstreit der Trojaner entscheiden muß, stehen in dieser Tradition für drei verschiedene Lebensentwürfe. So ordnet Fulgentius, der Mythographus II und in ihrem Gefolge der Wittenberger Humanist Nikolaus Marschalk Minerva die >vita theorica< (>contemplativavita practica< (>activavita philargica< (>voluptuariaallegorischen Reichsadler^ einem um das Jahr 1506/7 entstandenen Einblattdruck,206 den Hans Burgkmair offenbar nach Celtis' ikonographischem Programm ausführte.207 Einen Reflex dieses am mythischen Exempel entwickelten Lebenswahldiskurses wird die Elegie Am. 1,9 zu erkennen geben, in welcher die Entscheidung zwischen philosophischer und erotischer Lebenswahl auf die Polarität von »castra Minervae« und »castra Veneris« gebracht wird.208 Das Schema dieser dreifachen Lebensoption legt sich besonders im ersten Buch der Amores als gelehrtes Deutungsmuster über die elegische Lebenshaltung.209 So wird wiederholt der Widerstreit zwischen Affekt und >ratiovita voluptuaria< und >vita theoretica< bzw. >contemplativa< reflektiert. Die Bildaussage des allegorischen Reichsadlers< erhält damit unmit-
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Ebd. S. 36.: »Totum hoc iudicium ad hominem ipsum transfertur cui opifex ille rerum omnium liberum ab initio deligendi arbitrium tribuit, ut vitam quam velit sectari maxime appellet pro arbitrio et eligat«. Dazu grundsätzlich Wuttke: Histori. Nicolaus Marschalk schickt den Herakles-Mythos seiner Allegorie des Paris-Mythos unmittelbar voraus (ed. Reinke/Krodel S. 3 4 - 3 6 ) . Kristeller: Ficino, S. 341-343. Ebd. S. 342. Wuttke: Humanismus, S. 444. Umfangreiche Literatur zu Burgkmairs Holzschnitt bei Wuttke: Humanismus, S. 444 Anm. 111. Peter Lüh hat sich mit ikonographischen Gehalten des Holzschnitts in einer vorerst ungedruckten Monographie auseinandergesetzt. Am. 1,9,65. Die Eckpunkte des elegischen Lebensgefühls bezeichnen programmatisch etwa Prop. 1,7 und Tib. 1,1.
304 telbare Evidenz für die Konfliktsituation des elegischen Ichs auf seinem >Irrweg< zur Philosophie, auf welchen der >allegorische Reichsadlern mit der Maxime: »Erra(n)do discitur philosophia« gnomisch zu verweisen scheint.210 Der Dichter-Liebhaber, wie ihn die Amores auf seiner amourösen >Irrfahrt< zeigen, bekundet immer neu die unentrinnbare »Einheit seiner inneren Dualität«211 zwischen philosophischem Stimulus und erotischer Obsession, zwischen Minerva bzw. Apoll und Venus. Auf dem lange Hans von Kulmbach zugeschriebenen Autorenbild der Amores, das Celtis schreibend inmitten seiner Studierstube und umrahmt von den Vertretern des paganen Olymps zeigt,212 erscheint der Dichter, wie in Am. 1,9, auch ikonographisch in den Schnittpunkt der Anforderungen von Minerva und Venus/Cytherea gerückt. Der Antagonismus der eigenen Bestrebungen zählt, wie eingangs erörtert, zum konstitutiven Grundbestand liebeselegischer Gefühlsdialektik, in welcher auch das >ingenium< des Dichters schicksalshaft an die Inspiration durch die Geliebte gebunden bleibt.213 Vor allem bei Properz zeichnet sich ab, wie der Elegiker erst und ausschließlich im Vollzug des elegischen >servitiumnequitiagenus tenue< mit der Zurückweisung der großen Form des homerischen Epos verbindet. Daneben ist jedoch schon bei Properz ein Antagonismus von Liebesthematik und philosophischer Betrachtung angelegt, der sich in die gattungstypologische Spannung zwischen »poema elegiacum« und »poema naturale« übersetzen läßt.215 Solche Antagonismen der Lebenshaltung, insbesondere das für die Amores grundlegende Problem der Lebenswahl, sollen im folgenden an verschiedenen Beispielen aus den einzelnen Stationen der Lebensreise des Dichters beleuchtet werden (Am. 1,9; 2,2; 2,4). Immer wieder wird dabei die Frage nach der Poetik der Amores zwischen Liebesdichtung und »Weltgedicht« (Wuttke) in elegischer Form zu stellen sein. Es wird so deutlich werden, wie sehr >varietasserio ludere< zu einem prekären Gleichgewicht zwischen scherzhafter Muse und philosophischem Aufbruch führt.
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Wuttke: Humanismus, S. 447 weist auf die »Doppeldeutigkeit« zwischen >Irrfahrt< und >Irrtum< ausdrücklich hin. »Error« als allegorische Figur im >Triumphzug< Amors bei Ov. Am. l,2,35f. Auch in den Eklogen des Baptista Mantuanus (Adúlese. 1,48-52). Worstbrock: Konstitution, S. 31. Lüh: Die unvollendete Werkausgabe, S. 123. Der Holzschnitt ist im Druck dem Bild der Philosophie gegenüber eingeordnet. Prop. 2,1,4. Ον. Am. 2,1,2. Etwa Prop. 2,1; 2,10; Prop. 2,34B und 3,5.
305 5.5.2. Exposition einer dualen Existenz (Am. 1,2) Wie kein anderes Stück der Amores setzt Am. 1,2 jene Pathogenese des Eros ins Bild, von der die Vorrede gesprochen hatte. Im unmittelbaren Anschluß an das poetische Horoskop von Am. 1,1 wird hier zunächst die astrologische Begründung der eigenen Vita weitergesponnen, die Frage beantwortet, warum der Dichter >aus Liebe den Helikonischen Musen nicht nachgehen< könne (so im Titel: »Se amore captum Musis Heliconiis intendere non posse«). Im zweiten Teil des Gedichtes werden sodann ein erstes Mal die Konsequenzen der venerisch-apollinischen Doppelspannung für die Affektökonomie des Liebenden vorgeführt. Gerade hier, wo die Befindlichkeit des Liebenden in Termini von Krankheit und Selbstverlust geschildert wird, erweist sich die Elegie als korrespondierendes Beispiel für die Moralismen der >praefatio< zur >Gewalt und Allmacht der Liebespurcus amor< auf die besonders anfällige >Jugend< beschwört, so destilliert er letztlich ein Fabula docet aus den poetischen Inszenierungen der >Liebeskrankheit< in einem Stück wie Am. 1,2. Die Elegie wiederum wird zum Fallbeispiel einer allgemeinen Lebensregel, die nebenhin auch noch die Disposition der Lebensalter - das Ich der Amores befindet sich hier auf der sensiblen Stufe der >adulescentia< - ins Kalkül zieht. So ist es kein Zufall, wenn die Maßlosigkeit des >insanus furor< im ersten Buch der Amores und hier wiederum gleich in der ersten im eigentlichen Sinne >erotischen< Elegie traktiert wird. Displiceant quamvis mihi saepe in amore dolores Ipseque sim morbi causa pudenda mei Et quamvis ratio crebro mihi vellicet aurem Saepeque praeceptis me monet illa suis, Scilicet ut nocuas abigam de pectore flammas, Ne sim rumigero fabula vana foro: Sed feror in praeceps nulla medicabilis arte, Nec me consiliis quisque levare potest; Non Plato, non Socrates, Latiae nec turba sophiae, Nec dea, quae summo vertice nata Iovis.
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Sind mir auch stets die Liebesschmerzen zur Last und bin ich selbst der beschämende Grund für meine Krankheit, zieht mich auch die Vernunft beständig am Ohr und macht mir Vorhaltungen, ich solle doch die schädlichen Flammen aus meinem Herzen vertreiben, damit ich nicht auf dem geschwätzigen Jahrmarkt zum Tagesgespräch werde, so lasse ich mich doch geradewegs treiben, von keiner Medizin zu kurieren, und niemand weiß mir mit seinem Rat irgend Abhilfe zu schaffen. Kein Plato, kein Sokrates, nicht die Vertreter römischer Weisheit und auch nicht die Göttin, die dem großen Jupiter aus dem Haupt entsprungen ist.
Wie der Aufstieg zum Helikon, so unterliegt auch der philosophische Impetus jener >impotentia amorisratio< und ihre beständige Paränese
306 zur >vita contemplativa< zuschanden wird. Auch zu Beginn von Am. 1,2 werden solche polaren Dispositionen zurückgeführt auf astrologisch-mythische Hintergrundstrahlungen. So nimmt die Reflexion auf Gründe der schöpferischen Lähmung ihren Ausgang von den schädlichen Einflüssen des >maleficus< Saturn, des Kriegsgestirns Mars,216 und vor allem der Venus, die dem Dichter die >süße Liebe eingibtcalores< der Liebespassion werden transparent auf jenes Element (Feuer) bzw. Temperament (>cholericusNovenarium< wie dem Philosophia-Holzschnitt zufolge das erste Buch der Amores und mit ihm die »pubertas« des Dichters steht. In denselben ironischen Übergangsraum zwischen elegischem Gemeinplatz und humoralmedizinischer Attitüde paßt so auch Celtis' Horaz zitierender Vergleich der selbstverschuldeten Liebespassion mit der Wassersucht.217 Vorerst jedoch steht am Ende von Am. 1,2 das offene Bekenntnis (»ingenue fateor«) zum tantalischen Liebesleid,218 zur konstitutiven Dialektik einer Schmerzliebe, wie sie Celtis auch an anderer Stelle in den Amores als Symptom ausführt. 219 Auf den Spuren der antiken Elegiker220 definiert sich der Dichter eingangs seines Zyklus als Kranker, der sich Medikation und wohlmeinender Paränese durch Freunde (wie durch eine personifizierte >ratiosittsamer Freundschaftenpraefatio< angekündigte Anliegen der Amores zu zeigen, >(wie) sich Temperamente und (wie es von der Natur eingerichtet ist) auch Charaktere nach den entsprechenden Himmels- und Landstrichen richten< (praef. 9). Am. 1,2,31-34: »Sic me saevus amor rapit et scelerata libido,/Ceu cupit hydropicus turgidus aeger aquas,/Utque magis vetita sitiens exaestuat unda/Et reparat morbi semina lata sui«. Offenbar nach Hör. epist. 1,2,34 und carm. 2,2,13-16. Auch in Am. 1,8,47£: Der Anblick der Geliebten läßt die >mens aegra< aufstöhnen; Krankheitssemantik auch in Am. 3,3,37f. Der Vergleich von Tantalus-Qual und unstillbarem Leid auch in Am. 1,7,12. Am. 3,4,31-34. Prop. 2,1,571; Ον. Pont. 5,149; Cat. 76,25. Anspielung auf Verg. ecl. 6,3f. Am. 1,2,24 - 2 6 ; ebenso Prop. 2,24,1; Tib. 1,4,83; Ον. Am. 3,1,21. Am. 1,2,20. So programmatisch schon Prop. 1,1,4f. Ov. Am. 1,7,18. Prop. 3,20,7: »Castae Palladis artes«. Dichtung und Philosophie, repräsentiert durch Apoll bzw. Minerva/Athene, bilden für Celtis eine enge Einheit.
307 gisch erweist sich Am. 1,2 damit als subtile Variation auf jene vor allem Properzischen recusatio-Gedichte, die gegenüber Außenstehenden wie Freunden und Dichterkollegen die eigene Lebenshaltung wie die sich daraus ableitende Liebesdichtung in Schutz nehmen. 225 An dieser Stelle macht sich freilich eine Verschiebung gegenüber der antiken Elegie bemerkbar, auf die weiter oben hingewiesen wurde: Nicht mehr zwei konträre Dichtungsentwürfe und -gattungen (Epos und Elegie) werden hier konfrontiert, zur Diskussion steht vielmehr die umfassendere Frage der rechten Lebenswahl, die eine Entscheidung zwischen philosophisch-apollinischer Bestimmung und Venusdienst erzwingt. >Vita contemplativa< und >vita voluptuosa< treten als dichotome Anforderungen an den Dichter heran und zwar so, daß dessen poetisches Engagement selbst an jenem Übermaß der Liebesglut zunichte zu werden droht. Damit wird eine spezifische Differenz zur Bewußtseinslage der antiken Elegie augenfällig: Schärfte sich hier das >ingenium< des Dichters noch an der Geliebten, so läuft es bei Celtis Gefahr, an einem Übermaß venerischen Einflusses zunichte zu werden: >Laß mich doch nur mit deinem Rat, mich den Musen zuzuwenden, solange in meinem Herzen die Liebesraserei wohntQuomodo et qualem philosophus amare debeatpraefatio< initiierte Diskussion um Liebe und Weisheit angeschlossen. Wir sehen den Dichter hier zunächst befangen in jenem Liebesschmerz (v. 15: »In amore dolores«), der aus der Zurückweisung der Geliebten entspringt (v. 7: »Impia sed nostros nunc aspernares«). Als Grund für deren beharrlichen Entzug gibt der Dichter, auf den biographischen Ort des ersten Buches verweisend, seine zarte Jugend an, die dem >erotischen Spiel< noch nicht gewachsen sei. Freilich, so wird aus dem folgenden deutlich, steht der Dichter unter Rechtfertigungszwang, legt ihm doch die Geliebte ihrerseits seine
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So stellt er gegenüber Hasilina, die dem Dichter einen >eques< vorzieht, fest: »Nec minor est Phoebi cultor quam Martis amator./Hic quamvis Venerem, Pallada Phoebus amet«. Zu denken ist hier wiederum vor allem an Prop. 1,7. Am. l,2,41f.: »I nunc ingenuas suadens mihi visere Musas/Occupat insanus dum mea corda furor«. Zum Typus des elegischen Bekenntnisgedichts vgl. Ov. Am. 2,4,Iff.
308 altersgemäße schüchterne Zurückhaltung als Entzug und Verweigerung, als Flucht in die Gelehrtenexistenz aus: »Tertia non meritae confingis crimina culpae,/Dum mage me libris quam tibi adesse canis«.228 Damit ist der Ausgangspunkt für eine umfassende Rechtfertigung der eigenen Lebenshaltung zwischen erotischer und philosophischer Neigung, zwischen Pallas und Venus, gewonnen. Dabei greift Celtis bei der folgenden Zeitklage über weibliches Desinteresse an Bildung und Dichtung ein Motiv aus Ovids Ars amatoria auf, um es perspektivisch zu erweitern.229 Als positive Gegenbilder stellt der Dichter die >puellae< der antiken Liebesdichter in den Raum, deren Auflistung den Diskurs von Am. 1,9 (wie im übrigen der Amores insgesamt) reflexiv an Themen elegischer Dichtung rückbindet.230 Catull, Ovid und Properz sind als Bezugspunkte so teils in Zitat teils in Anspielung gegenwärtig.231 Im Gestus der laudatio temporis acti< stellt sich der Elegiker Celtis in die Tradition antiker Liebesdichtung und verleiht gleichzeitig seiner Deutschlandfahrt eine der Gattung konforme Motivation: »His similem inveniam totoque vagabor in orbe,/Qua patet Almanis maxima terra viris«.232 Die Suche und >Sehnsucht nach der Barbarin·«233 wird das elegische Ich auf seiner Wanderschaft weiter beschäftigen und in Am. 3,9 eine erneute, die Schichtendifferenz von Gelehrten- und Volkssprache auskostende Variation erfahren. 234 In Am. 1,9 läßt die Klage des Liebenden freilich erneut den Leitdiskurs der Lebenswahlthematik aufscheinen. Die Sehnsucht nach der kultivierten Geliebten evoziert eine Verbindung von Minerva und Venus innerhalb des elegischen Liebesbundes, die sich angesichts der endemischen Unkultur vorerst als bloßes Wunschbild darstellt. So bleiben erotische Bindung und philosophische Interessen, Pallas und Venus, vorerst und für den Rest der amourösen Reise getrennte Bereiche bzw. Instanzen. Der Dichter als
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V. 291: >Noch einen dritten Vorwurf machst du mir, den ich nicht verdiene, wenn du behauptest, ich sei lieber bei meinen Büchern als bei dirpoeta exclusus< auch in Od. 2,7,14f.: »Quam grave est me per patriam fieri poetam/Carmina sola dantem«. Auch hier erweitert Celtis einen motivischen Kern, der im antiken Kontext kaum entwickelt ist. So findet die Sehnsucht nach der >docta puella< im eigenen Land einen, wenngleich fernen, Widerhall bei Properz (Prop. 1,7,11): »Me laudent doctae solum placuisse puellae«. Zum Idealbild der >puella docta< Burck: Wesenszüge, S. 211 mit weiteren Belegen. Die Verse 39f. verweisen auf Prop. 2,1,4: »Ingenium nobis ipsa puella facit«. Ebenso Prop. 2,30,40; Tib. 2 , 5 , l l l f ; Ον. Am. 3,12,16; Mart. 8,73,6. Dasselbe Motiv in neulateinischer Dichtung etwa bei Pico, Carmina 10,1 (ed. Speyer S. 58): »Me vatem, si sum, fecit me Pleona«. Posthius, Elegiarum liber primus 2,45 (in: Kühlmann: Humanistische Lyrik, S. 712). Weitere Stellen ebd. S. 941. Am. 1,9,411: >Eine wie diese will ich finden und überall herumziehen, wo sich Deutschland in riesiger Fläche erstreckte Price: Desiring the Barbarian. Vgl. bes. Am. 3,9,13-18.
309 >studiosus< muß so den Vorwurf der Geliebten, er sei mehr an den Büchern als an ihr interessiert, als berechtigt hinnehmen: Interdum, fateor, studiosis altera cura est Et Pallas Veneris spurcida castra fugit Altaque stelligeri conscendit sidera caeli Et comitem summi se cupit esse Iovis. Inde celer nitidis delabitur aethere pennis, Hospita terrenis dum cupit esse iocis; Nec semper spurca sua membra libidine foedat.
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Doch mitunter, ich geb's zu, liegt den Gelehrten andere Beschäftigung am Herzen. Athene flieht so die schmutzigen Lager der Venus, steigt empor zu den hohen Sternen des Firmaments und wünscht sich als Begleiterin an die Seite des hohen Jupiter. Dann wieder gleitet sie rasch vom Himmel herab auf glänzenden Schwingen, wenn es sie danach verlangt, als Gast irdischem Scherzen beizuwohnen. Nicht immer also entweiht sie mit niedriger Lust ihren Körper.
Die Widerspiegelung der eigenen Tendenzen im mythologischen Exempel läßt an dieser Stelle den >poeta doctus< hervortreten, der als Mythograph und unter sakralem Gewand 235 Einsichten in Grunddispositionen des menschlichen Lebens vorträgt. Im Antagonismus von Venus und >docta< bzw. >casta MinervaDienst< für die eine oder andere Instanz klingt wiederum der Leitdiskurs um die >beiden Formen der Liebe< an. Dabei zeigt sich das mythopoetische Kalkül des Dichters: Die Figur der Minerva wird in ihrem wechselnden Auf- und Abstieg, zwischen kontemplativer Erhebung und irdischem Vergnügen zum mythologischen Emblem eigener lebensbestimmender Bipolaritäten. Platonische Residuen (»putrifico luto«) verbinden sich hier mit dem Diskurs um die >vita tripertitaMusa iocosa< und philosophischer Didaxe und Abstraktion. Die erotische Materie schlägt sich dabei eindeutig auf der Seite von Scherz und Spiel nieder, während der Ernst theoretischer Weltdurchdringung vorerst zurückstehen muß. Wo die eigene Geliebte, so wenig sie humanistischer Bildung zugetan sein mag, das >ingenium< befeuert, entsteht gattungskonform erneut Liebesdichtung.238 Eine philosophische Lehrdichtung ist von hier aus nicht konzipiert und steht jenseits des Horizonts der Textsorte Elegie. So ist der Dichter vorerst weiter auf der Suche nach einer prästabilierten Harmonie zwischen Geist und Körper, philosophischem Lebensziel und Liebeskunst. Beider Versöhnung bleibt das ersehnte Signum einer >vita beata< unter philosophischen Auspizien.239 5.5.4. Im Vakuum des Eros. Die Amores als Natur- und Weltgedicht? (Am. 2,2) Zu Beginn des zweiten Buches der Amores, das den Protagonisten als >adulescens< im Süden Deutschlands agieren läßt, sehen wir diesen erneut an einem Scheideweg, der zu Reflexion Anlaß bietet. Den trügerischen Fängen Hasilinas< wie den >Banden der Venus< entkommen, wähnt sich der Dichter in Am. 2,2 nunmehr frei für Themen, die zuvor von der erotischen Neigung absorbiert worden waren.240 In all dem bahnt sich erneut der notorische 238
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Vgl. auch Am. 3,7,29f.: »Hinc Cytherea meo consors sit candida lecto,/Quae sit carminibus lima severa meis«. Am. 3,7,17-19: »Scilicet his rebus vita est querenda beata/Corporis atque animi non caruisse bonis«. Das Gedicht wird behandelt von Schödlbauer: Entwurf, S. 7 7 - 8 4 , dessen Spekulationen über >Mythos< und >Mythendeutung< den Text nur als Grundlage für eigene Assoziationen benutzen. Grossing: Naturwissenschaft, S. 155-161 kommentiert eine
311 Konflikt der Neigungen, der im ersten Buch eröffnete Antagonismus von Venus und Minerva an. Schon der Titel der Elegie nimmt die aus Am. 1,9 vertrauten Gegensatzpaare, aber auch das Leitthema der >widrigen Gott e n 2 4 1 auf und betont den reflexiven Gestus des inneren Entscheidungsmonologs (»ad se ipsum«) 2 4 2 angesichts des intendierten Wechsels des Lebensweges. Wie in Am. 1,9 sollen auch hier >vita voluptuaria< und Venusdienst zugunsten philosophischer Lebensführung verabschiedet werden (»Quod amore relegato ad philosophiam se conferre velit«). So geht es um nichts weniger als eine förmliche Konversion zur >vita contemplativa^ die der erotischen Seelenhälfte des Dichters demonstrativ den Rücken kehren soll. Die pompöse Geste der inneren Umkehr fordert episches Aufbruchspathos und mit diesem klassische Figurationen heraus. So gibt sich der Dichter eingangs das Ansehen des »profugus Aeneas«, der von seinem erotischen Fatum wie seiner Bindung an Hasilina >verschlagen< (»actus«) nunmehr den sicheren Hafen innerer Freiheit erreicht (»in portu reducem dente ligabo ratem«). Der Intention nach kann so ein neuer Lebensabschnitt auf einem neuen nationalen Schauplatz beginnen, der durch Orts- und Alterswechsel kenntlich gemacht ist. Die Schiffsmetaphorik 2 4 3 bezeichnet den Grund für die eigene Reflexion, die sich nun anschließt: An die Stelle von Fesselung und Freiheitsverlust in Liebesbanden (v. 8: »Veneris vincula«) tritt das B e kenntnis zu theoretischer Betrachtung, die sich sogleich Themen der >philosophia naturalis< (bzw. >physicaKosmosphysica< zu den >res divinaeunsteten Kosmoscausae< eröffnet, es bleibt vorerst bei der gelehrten Praeteritio. Weniger die konkreten Einzelfragen sind daher von Belang als vielmehr die Art und Weise, wie der >poeta doctus< sein Spezialwissen zum Ausdruck einer grundsätzlichen Lebenswahl arrangiert und dabei, in mehr oder weniger beiläufiger Weise, seine philosophischen Ambitionen zugleich hervorkehrt und im Gattungsraum der >Musa iocosa< wiederum zurücknimmt. Wieder zielt hier die eingangs gewählte Umschreibung auf die Kontemplation als Sinngehalt der philosophischen Lebensform. Die Befreiung von den physischen Zwängen einer erotischen Neigung, die wiederum als Passion empfunden wird (v. 4: »Nullaque iam Veneris vincula velie pati«), setzt den Geist frei zur Schau jener den sublunaren Bereich beeinflussenden, nach aristotelisch-ptolemäischem Verständnis der Sphäre des Göttlichen zugehörenden >Himmels-< bzw. eben >Ätherbahnen< (»aetherios meatus/astrorum vias«), auf die der Forscherphilosoph mit dem inneren Auge (»prendere mente«) zugreift. 256 So äußert sich am Beginn des
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Dazu Kap. 3.1. Im Gegensatz zu den Objekten empirischer Forschung, die dem Auge zugänglich sind. Vgl. die Dichotomie von sichtbarer und unsichtbarer Schöpfung in epigr. 3,111. Die theoretische >Schau< ist Signum philosophischer Betätigung (Od. 1,11,33: »Perge confusum chaos intueri«; ebd. v. 53f.: »Perge convexo fugitiva coelo/Astra miran«).
315 Katalogs ein entschiedener Wille zur >vita theorica< als geistiger Tätigkeit und Entelechie der Philosophie, wie sie Celtis versteht. Das Pathos von Erhebung und Aufschwung in die Gestirnregion zählt dabei zu den wiederkehrenden Denkfiguren kosmologischer Selbstvergewisserung, die in mehr als einem antiken Text aus dem Einzugsfeld der >philosophia naturalis< (von Lukrez über Manilius bis Plinius und Seneca, 257 um nur die wichtigsten zu nennen) intoniert wird. Ihre bevorzugten Themen sind, wie aus Celtis' Definition des »poema naturale« in der Ars versificandi erhellt, das >Wesen der Dinge< und >der Lauf der Gestirneunsteten Urelementen des Kosmosrerum causaevita voluptuosas 272 Mit Amors Mahnrede vollendet sich die in der >praefatio< auf den Begriff gebrachte Dialektik einer Mischung von Scherz und Ernst, in der sich erbauliche philosophische Örter und poetischer Liebesstoff immer wieder verzahnen und wechselseitig relativieren. Beide Schichten, philosophischer Ernst wie gattungsbestimmtes Spiel, sind auf dem Boden der Elegie nur in diesem komplexen Ineinander zu haben. Als gleichberechtigte Anliegen des Zyklus illustrieren sie immer zugleich das moralistische Leitthema der Amores, den Widerstreit der Lebensformen. In solchen Zusammenhängen erweist sich Celtis' Text weniger als »kursorische Summe seiner Naturphilosophie und kosmologischen Vorstellungen«,273 mithin als fertiges Resultat eigenen Forschens, denn als Variation auf den gattungszugehörigen Antagonismus von philosophischer und elegischer Lebensform. Dieser Horizont des Genus zeichnet sich ab, wenn man einen Gedichttypus zum Vergleich nimmt, der vor allem bei Properz immer wieder als Spielart der recusatio erscheint. So ist der Aufschub philosophischer Betrachtungen im Zeichen elegischer Weltsicht in Prop. 3,5 sorgfältig durchgeführt: Der Anfang dieses programmatischen Textes exponiert zunächst das Thema >Amor als Friedensgottvita contemplativa< ist typologisch von solchen Reflexionen im poetologischen Umkreis der recusatio abhängig, nicht ohne freilich im Detail auf eigene Interessen zu verzichten. In der Differenz gegenüber dem antiken Typus gibt sich das konstitutive Nebeneinander von >imitatio< und >aemulatiopoeta doctus< erkennen zu lassen. Dabei ergeben sich freilich durchaus persönliche Präferenzen in der Zusammenstellung der Themen. Bei Celtis fällt vor allem ein Insistieren auf astronomisch-kosmologischen Fragen auf, das sich den eigenen wissenschaftlichen Interessen verdankt. Ähnliches gilt für die Deutschlandbeschreibung, die sich pointiert am Ende der Projektliste von Am. 2,2 findet und ohne Entsprechung bei Properz ist. Gemeinsam ist beiden Texten die topische Zuordnung von Jugend und Liebesdichtung wie von Alter und sokratischer Weisheit. Im Bezugsraum der Amores und ihrer Phänomenologie der Lebensalter erhält das Schema einen wissenschaftlichen Hintersinn: Im Bild des reflektierenden >adulescens< Celtis soll dessen alterstypologische Vernunftresistenz, die Widersetzlichkeit von >militia Veneris< und Dienst an Minerva vor Augen geführt werden.276 275 276
Ebd. v. 39-46. Sekundär soll der reflexive Gestus des Gedichts wohl auch Celtis' saturnische Disposition zum Ausdruck bringen. Hinweis darauf wäre ein Vers wie Am. 2,2,53: »Haec postquam angusta mecum sub mente revolví«.
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5.5.5. Die Alter des Liebenden und die Kontinuität des elegischen Prinzips in den Amores (Am. 4,4) Am Fallbeispiel von Am. 2,2 ist deutlich geworden, welchen Konfliktlinien die lebenslange Auseinandersetzung des Helden mit seiner zweifachen Inklination im Raum der Liebeselegie folgt. Dabei erweist sich der Gegensatz zwischen elegischer >vita philargica< und kontemplativer Lebenshaltung auch jenseits der altersbedingten Wechsel von Temperamenten und Charakteren gültig und bestimmt noch das vierte Buch der Amores, das den Helden als »senex« im Norden Deutschlands zeigt. Wir werden hier denselben Antagonismen begegnen, die bereits in den ersten beiden Büchern beherrschend waren, können uns jedoch nunmehr auf die signifikanten Verschiebungen gegenüber dem Archetyp Am. 2,2 beschränken. Wesentliches Charakteristikum der »senectus« ist zu Beginn von Amores IV die topische Koppelung von Alter und Weisheit. Unter diesem Gesichtspunkt präsentieren sich die vier einleitenden Stücke des Buches (mit Ausnahme von Am. 4,2) als geschlossener Zyklus im Zyklus, der einerseits Notwendigkeit und Voraussetzungen wahrer Weisheit, vor allem das Erfordernis der »peregrinatio,«277 absteckt, andererseits eine ambivalente Einschätzung des Alters zwischen »deploratio« und »laus senectutis« entwickelt.278 Beide Themenbereiche, Weisheit und Alter, konvergieren in den Reflexionen von Am. 4,4. So stellt die Elegie innerhalb des vierten Buches das zyklische Korrelat solcher Stücke wie Am. 2,2, oder Am. 3,10 dar, die sich explizit der Frage der rechten Lebensform im Spannungsraum der elegischen Existenz wie der verschiedenen Altersstufen zuwenden. An diesen Typus der Reflexionselegie »ad se ipsum« (so der Titel von Am. 2,2) schließt Am. 4,4 - mit bemerkenswerten Akzentverschiebungen freilich - an. Zunächst suggeriert der Titel (»laus senectutis et veterum philosophorum in philosophia meditationes«) jene Verknüpfung von Alter und Weisheit, die allerdings erneut vor der eigenen erotischen Disposition zunichte wird. Der Dichter weiß sich als »senex« wie als »sapiens« nicht von den Banden der Venus zu befreien. Die Elegie zeitigt so eine verschlungene Argumentation, die vom Bekenntnis zur eigenen >stultita amoris< über juvenalische Zeitklagen zur metaphysischen Kontemplation des Schlußabschnitts führt. Auf der Ebene der poetologischen Modelle kann Celtis dabei an den Typus des >senex amator< bzw. an das Thema des >amor senilis< anknüpfen, wie es vor allem die lateinische Komödie, aber auch die Elegien eines Maximian anboten.279 277 Ygj jjgjj T l t e l v o n A m . 4,1 lautet: »In laudem peregrinationis et quod ad cognitionem sapientiae et philosophiae necessaria sit«. 2 7 8 Dies kommt vor allem dadurch zur Geltung, daß beide Pole in der Disposition von Amores IV unmittelbar aneineinander gerückt werden. So vertritt Am. 4,3 die Seite der Altersklage, während Am. 4,4 das Lob des Alters anstimmt. 2 7 9 Prop. 2,34,37; Ον. Am. l,9,3f. So auch Erasmus: Enchiridion ed. Payr S. 340. Zur Durchführung des Themas in der Komödie Cody: senex amator. Auch die notori-
322 Die Elegie beginnt im Ton der laudatio temporis actinicht nur Worte, sondern auch Handlungen und Überlegungen solcher Leute zu ersinnen, die von diesem Gefühl erfaßt seienFiktionstopos< von seiner Projektion im Werk abrücken läßt. Der Dichter spricht so in den Amores - und das ist mit Bezug auf einen Text wie Am. 4,4 gesagt - >nicht immer nur aus eigenem Mund (»ex suo«), sondern manchmal auch aus dem von Torenavaritia< des Alters begegnet bei Plautus, etwa in der Aulularia. Zur Wechselwirkung von Komödie und Elegie umfassend Kap. 4.3. Praef. 47.
323 gleich in der Negation, das Bild des wahren Philosophen in seiner moralischen Integrität beschworen: Philosophische Dignität hat sich auf dem Feld der Ethik, der es um »φρόνησις« (ν. 19), »bene vivendi rationes« (ν. 25) und »vita beata« (v. 26) geht, zu bewähren. Dies wenigstens, so Celtis, sei das Verdienst der Sieben Weisen in Griechenland gewesen, >die durch ihren Verstand die Heimat erzogen.·«281 Freilich, und hier schließt sich die Zeitklage an, gehöre dieser antike Idealzustand der >veteres< längst unwiederbringlich der Vergangenheit an, während sich in der Gegenwart nirgendwo mehr, ob in Italien, Deutschland, Spanien, Frankreich, England, Dänemark oder Polen, wahre Philosophen ausfindig machen ließen, die sich vor allem durch ihre φρόνησις auszeichneten. 282 Eine solche Orientierung an der >vita beata< liefert die Kontrastfolie zum folgenden. Dabei entfaltet Celtis einen Gedankengang, dessen akrobatische Logik die ironische Sättigung des Weisheitsthemas im elegischen Kontext beleuchtet. Die Klage über das Fehlen wahrer Philosophen in der eigenen Zeit verbindet sich hier ironisch mit dem Bekenntnis zur eigenen amourösen >Torheitstultitia< entschuldigt scheint. 283 So gleitet der erotische Diskurs unmerklich ins Satirische hinüber. Die Konzession an die eigene Unvernunft dient als Ausgangspunkt einer in juvenalschen Farben und Tönen dargebotenen Narrenrevue, die typische Ausprägungen zeitgenössischer >vitia< geißelt. Celtis greift damit das Thema der gegenläufigen studia auf, das in breiter Form bereits in Am. 3,10 behandelt worden war. Als Symptome einer allgemeinen Narrheit der eigenen Zeit gelten Celtis neben dem notorischen Streben nach Geld und Reichtum, denen der Dichter die eigene Bedürfnislosigkeit entgegenhält, vor allem ungerechtfertigte Bildungsprätentionen, Ansprüche auf die >septem artes< wie auf den Lorbeerkranz, in denen der >poeta laureatus< die eigene privilegierte Stellung gefährdet sieht. 284 Auch dieser bildungssoziologisch aufschlußreiche Ausfall hat seine Parallele in der Revue von Am. 3,10, auf deren Höhepunkt Celtis sein Konzept eines wahren Dichtertums verkündet hatte. 285 Am Ende des knappen Exkurses gegen säkulare Übel sind dann Körper und Geist, >Liebhaber der Weisheit< und >Liebhaber des Körpers< gegeneinander gesetzt: »Hos non philosophos Plato, sed bene φιλοσωμάτους/Dicit, corporeis dum studeant vitiis«.286 Freilich: Auch hier wird für eine Haltung
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Am. 4,4,13: »Qui patriam ingeniis erudiere suis«. Celtis kannte das Thema der Sieben Weisen aus dem Ludus Septem sapientum des Ausonius, den er edierte. Dazu Adel: Opuscula, S. 75 - 7 7 . Damit spielt Celtis zugleich auf die Devise >παρέστω φρόνησις< an, die zusammen mit dem Dichter-Wappen Teil seines Exlibris ist. Henkel: Bücher, S. 134-136. A m . 4,4,23-28. Ebd. v. 3 1 - 3 4 . A m . 3,10,15-40. Am. 4,4,41f.: >Die nannte Plato nicht >PhilosophenVerehrer
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plädiert, die der Dichter selbst sogleich wieder unterläuft. So kokettiert Celtis mit unverhohlener Ironie mit einer Erwartung, die sich an die >senectus< als Entfaltungsraum lebenspraktischer Weisheit knüpft und die der Dichter an exponierter Stelle, in der >praefatio< wie in der poetischen Sphragis von Am. 4,15, als Werk des Philosophen reklamiert. 287 So reiht sich der Dichter mit provozierender Drastik in die Schar der φιλοσώματοι ein, wenn er nach einer >puella< verlangt, die >noch im zwölften Lebensjahr stehen soll< und welcher >die üppigen Brüste einträchtig schwellennummus< wolle der Dichter gerne der heiligen Venus als »sacra pudenda« darbringen. Antiklerikale Polemik und erotisch-päderastische Provokation finden auf diese Weise ihren eigenwilligen Anschluß an eine Diskussion um die rechte Lebenswahl. Aber wieder kommt es auf die dialektische Bewegung in den eigenen widersetzlichen Bestrebungen an. An den satirischen Exkurs samt seiner erotischen Deutlichkeiten schließt sich unvermittelt eine philosophische Reflexionsreihe an, deren Einzelfragen uns aus Am. 2,2 teilweise vertraut sind. Auch hinter solchen abrupten Perspektivenwechseln scheint ein Kalkül von >evidentia< und Charakterzeichnung zu stehen. Das Nebeneinander von erotischer Hingabe und Willen zur Kontemplation dient der Ethopoiie des Liebenden, der in seiner Intemperanz vorgeführt wird. Dabei werden jedoch feine Verschiebungen innerhalb der verschiedenen Lebensalter sichtbar. Im Kontext des vierten Buches gewinnen metaphysische Probleme eine bedrängende Aktualität, in der sich die saturnische Disposition des Dichters - zumal in der Saturn zugeordneten Altersstufe der >senectus< - zu erkennen gibt. 288 Wo in Am. 2,2 am Beginn des Themenkatalogs das enthusiastische Pathos befreiender >contemplatio< stand (v. 9: »Liberum in aetherium modo ferre meatus«), erwächst das Fragen nunmehr aus der gegenwärtigen Sorge und Beunruhigung im Hinblick auf die letzten Dinge. Die >Enge< der Brust indiziert so eine alterstypische Disposition, die nach metaphysischen Garantien und Behausungen verlangt: Sed tarnen angustae surgunt mihi pectore curae, Quae trepidum pectus sollicitare soient, Scilicet an superi curent pia vota bonorum Et pravos dignis perdant suppliciis,
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des Körperstristities< benannt.
325 Quisve malis finis vel quis post fata bonis sit, Quem Cicero docto disputât ore locum, 289 Quis locus emeritis et ubi sit career opacus, Eluit assiduis qui scelera acta rotis. Doch in der Brust erheben sich quälende Fragen, die beständig das zitternde Herz mir aufschrecken, etwa die, ob sich die Götter an Gebete der Rechtschaffenen kehren und die Schlechten so bestrafen, wie sie's verdienen. Oder welches Ende der Sündigen harrt und welches der Guten nach ihrem Tode, eine Frage, die Cicero gelehrt erörtert; welcher Ort ferner für Verdiente bestimmt ist und wo der finstere Kerker liegt, der die begangenen Verbrechen mit ewigen Marterrädern büßen läßt.
Dem theoretischen Interesse des >adulescens< steht so die vom Alter suggerierte Sorge um das Danach gegenüber, die zu einem Leitgedanken des vierten Buches avanciert und auch in den Oden als Signum des Alters verhandelt wird. 290 Die Alter und Temperament abbildende >tristitia< und >meditatio mortis< infiltriert so den folgenden Katalog philosophischer Anliegen, die wiederum von der Physik über die Ethik bis zur Metaphysik und Theologie fortschreiten und so den Gesamtbereich der >triformis philosophia< abdecken. Freilich vergißt Celtis auch an dieser Stelle nicht, im Vorbeigehen sein Anliegen einer Deutschlandbeschreibung ins Licht zu setzen, und so werden die vielfältigen Einzelprobleme erneut in nationaler Richtung perspektiviert. 291 Es mag in unserem Zusammenhang genügen, die benannten Gegenstände des Fragens, die im wesentlichen denen in Am. 2,2 entsprechen, kursorisch zusammenzufassen. Erneut gilt die primäre Sorge den metaphysisch-theologischen Gründen der Dinge. Für den alternden Celtis gewinnt das Problem des Nachlebens nach dem Tod solches Gewicht, daß sich die Frage nach dem Schicksal der Guten wie der Bösen zuvörderst aufdrängt. Angesprochen sind damit die Probleme von Theodizee und göttlicher Fürsorge (v. 59-64). Themen der >physicasinus Codanus< als nördlicher Begrenzung (Am. 4,4,68).
326 die allfällige Herrschaft des Geldes, anzuprangern (v. 79-88). Nach diesem Exkurs kehrt Celtis erneut zu Fragen nach der Natur der Dinge zurück, und der folgende Abschnitt rekapituliert in noch sinnfälligerer Weise das Spektrum, das bereits in Am. 2,2 ausgebreitet worden war. Diskutiert wird so die Position Gottes innerhalb der Schöpfung, dies vor allem unter der Perspektive providentieller und nicht-providentieller Weltordnung, mit der Celtis auf das eingangs berührte Thema nach der göttlichen Fürsorge zurückkommt. 292 Hieran schließen sich Fragen nach der Einteilung der Erdkugel in fünf Zonen, nach dem Zodiakus, der diese mit seinen zwölf >signa< in diagonaler Richtung durchläuft sowie nach den sieben Planeten in ihrer >reißenden< Bewegung (»rapiuntur«) an. Der Katalog endet hier so, wie er begonnen hatte, mit der Alternative zwischen einer göttlichen Ordnung des Kosmos und der beunruhigenden Herrschaft der Kontingenz. 293 Celtis entfaltet hier wie in Am. 2,2 ein Spektrum von Themen, das sich in seiner ganzen Spannweite der Kosmologie, wie sie insbesondere der von Celtis edierte Traktat De mundo enthielt, zuordnet. Gegenüber Am. 2,2 hat sich freilich das Insistieren auf theologischen Klärungen verstärkt, und insbesondere die Frage nach Providenz und Theodizee gewinnt im Reflexionsraum des Alters eine neue, gewachsene Dringlichkeit, die im Kontext des Programms der Charakter- und Alterszeichnung dient. Immerhin ist das melancholische Pathos der Reflexion auf die letzten Dinge nicht auch das letzte Wort: Am Ende steht auch hier Rücknahme bzw. Aufschub der Kontemplation angesichts der neuen erotischen Bindung. 294 Die »stultitia amoris« gewinnt so erneut die Oberhand über eine furchtlos Himmel und Hölle ausmessende >sapientiaMusa iocosaEinschub< ausweist. Gemeint ist Am. 1,8 mit dem Titel: »Ad Hasilinam insertum heroicum«, neben Am. 1,14 das einzige Stück innerhalb der Amores, das nicht in elegischen Distichen, sondern in stichischen Hexametern, dem angestammten Metrum des Epos, abgefaßt ist.301 Die metrische Varianz dieses Hasilina-Buches deutet den offenen Charakter des elegischen Zyklus an, wie er nicht nur von Celtis, sondern auch von seinen italienischen Vorgängern und Zeitgenossen wahrgenommen wird. Leitkonzept solcher Sammlungen von >varia carmina< ist die >varietas< von Formen und Inhalten,
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Ebd. S. 96. Hess: Erfundene Wahrheit, S. 141: »Sie ist nicht Individuum, sondern Modell«. So Pyritz: Liebeslyrik, S. 25 zu Rubella, der Hauptfigur von Flemings Suavia. Hess: Erfundene Wahrheit, S. 143. Zum Personal der erotischen Dichtung vgl. Schlaffer: Musa iocosa, S. 52-64. In der Ars versificandi finden sich keinerlei Hinweise auf hymnische Zwischenformen wie Am. 1,8, obwohl dieses in den Amores ausdrücklich als >carmen heroicum< gekennzeichnet ist. In solchen Unschärfen und Aussparungen zeigt sich erneut die geringe Relevanz der theoretischen, aus der poetologischen Tradition der >artes versificatoriae< entnommenen Definitionen für die Praxis des Dichtens. Das distinktive Merkmal für das »poema heroicum« ist der heroische Vers, der >heroische Hexameter< (»hexametrum heroicum« gegenüber dem »Elegiacum pentametrum«), wie er im Kapitel »De speciebus carminum et locis pedum« bezeichnet wird (Fol. A 4v).
328 die auch Celtis in der Vorrede ausdrücklich für die Amores beansprucht. 302 Sie hat ihr Urbild in Catulls Gedichtbuch, das neben lyrischen Partien auch Elegisch-Epigrammatisches sowie Epylliendichtung enthält. 303 Wenngleich die Polymetrie im ersten Buch der Amores nicht zum Einschluß lyrischer Gedichte, sondern nur des epischen Metrums führt, so nimmt der Teilzyklus doch, wie das Hasilina-Buch der Oden, das den Grundstock eines catullschen Gedichtbuches integriert, 304 eine Sonderstellung gegenüber den weiteren Partien der Sammlung ein. Überhaupt ist die »peregrinatio Sarmatica« samt der Figur der Hasilina jener Aspekt der »decennalis peregrinatio« des Dichters, der sich auch außerhalb von Oden und Amores am intensivsten niedergeschlagen hat. Dies belegt nicht nur ein (offensichtlich fiktiver) Brief Hasilinas an Celtis, sondern etwa auch dessen Brief an seine Geliebte, den der Autor innerhalb seines Tractatus de condenáis epistolis als Spezimen des Liebesbriefes (»genus amatorium«) einrückt. 305 Am. 1,8 steht innerhalb des ersten Elegienbuches in einer Sequenz von Gedichten, die in den konträren Affekthaltungen des Dichter-Ichs die Wechselfälle der elegischen Passion zwischen harscher Ablehnung (Hasilina als >meretrix< in Am. 1,7,75),306 hymnischer Anbetung (Am. 1,8) und erneuter Zurückweisung (Am. 1,9: Umkehr zur >vita contemplativa^ oben Kap. 5.5.3.) der Geliebten widerspiegeln und somit zugleich die gattungskonforme Unbeständigkeit sowie >furor< und >morbus amoris< des jungen Celtis auch auf der Ebene der Binnengliederung des Gedichtbuches demonstrieren sollen. So schildert Am. 1,8 ein Extrem in der elegischen Affektskala, die vergötternde Anbetung der Hasilina als Ergebnis eines »furibundus amor«, auf den der Dichter im Zusammenhang des Textes gleich mehrfach verweist. 307 Gefühlslage, metrisch-gattungstypologische (Sonder-)Form und Beschreibung der Geliebten stehen dabei in weit engerer Wechselwirkung als bisher erkannt. Welches die literarischen Voraussetzungen eines Stücks wie Am. 1,8 sind, und wie sich diese für die Modellierung der Geliebten als literarischer Figur auswirken, soll daher im folgenden exemplarisch beschrieben werden. Sieht man zunächst auf Ton und Gesamtduktus des Gedichts, so fällt die besondere Perspektive ins Auge, die das Dichter-Ich gegenüber der angesprochenen Geliebten bezieht. Mehrmals (v. 25 und v. 55; indirekt v. 16: »Semine divino«) wird Hasilina nicht nur ausdrücklich als >Göttin< (»diva«) be302 303
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Praef. 48. >Varietas< im Sinne von Polymetrie läßt sich in fast allen Zyklen der italienischen Neulateiner konstatieren, auch wo diese sich, wie Poníanos Parthenopeus sive Amores, in die Nachfolge der (Ovidischen) Liebeselegie stellen. Pontano leitet sein Buch sogar mit einer Variation des Catullschen Einleitungscarmens (»Cui dono lepidum novum libellum«) ein. Dazu siehe oben Kap. 4.1.2. Anm. 52. BW Nr. 358, S. 644. Im Sinne von praef. 42. Am. 1,8,38 und 59: »Furibundus amore«
329 zeichnet, sondern sogar über die paganen Göttinnen Venus, Diana sowie die Chariten gestellt. Celtis greift damit jene >Deifikation< der Geliebten auf, wie sie seit der Antike zu den stehenden Topoi und Haltungen der Liebesdichtung zählt. 308 Als »puella divina< steht Hasilina in einem langen Traditionszusammenhang, dessen antike, namentlich Catullsche Grundlagen Lieberg beschrieben hat. 309 D i e Bezeichnung der Geliebten mit Attributen des Göttlichen entwickelt sich von hier aus zu einem der Grundelemente und -perspektiven mittelalterlicher, zumal romanischer Liebesdichtung und wird vor allem bei Petrarca und seinen Nachfolgern zum zentralen Topos des Frauenpreises. 310 Im fünfzehnten Jahrhundert finden sich vergleichbare Texte ebenso im volkssprachlichen Petrarkismus wie in der mit den italienischen >Canzonieri< konvergierenden Form der lateinischen Liebeselegie. 3 1 1 Eine strukturell enge Parallele enthält der Eroticon liber des Tito Vespasiano Strozzi. 312 Hier finden sich unter den Dichtungen in elegischem Versmaß auch zwei hexametrische Stücke, die wie das »insertum heroicum« des Celtis beide Lobgedichte auf Frauen darstellen. 313 Hymnusform und Epenvers stehen somit in einem gattungstypologischen Wechselbezug, der die Aufnahme eines vergleichbaren Stücks in das erste Amores-Huch erklärbar macht. Freilich bleibt die
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Lieberg: Puella Divina; vgl. Friedrich: Epochen, S. 5f. betont den Unterschied antiker Deifikation und solcher in mittelalterlich-romanischer Tradition. So sei in der antiken Dichtung stets eine »individuelle Frau gemeint oder mehrere [...]. Dies ist bei den Trobadors anders: sie meinen das Genus, nicht die Person«. Zum Lobgedicht insgesamt Hardison: Enduring Monument, S. 97—101; Georgi: Preisgedicht; Richmond: School of Love, S. 135-140; Schlaffer: Musa iocosa, S. 135-140. Lieberg: Puella divina. Mit der Bezeichnung >divina< übernimmt Hasilina ein Atribut, das in den Amores sonst für Venus reserviert ist (Am. 2,11,56). Zur Nachwirkung des Konzepts bis in die Gegenwart Lieberg: Puella divina, S. 307-333; Pyritz: Flemings Liebeslyrik, S. 255f. Friedrich: Epochen, S. 5 Anm. 1 kritisiert freilich zu Recht Liebergs undifferenzierte Sicht auf das >Fortleben< des Topos, die den Verschiebungen innerhalb der mittelalterlichen Tradition nicht gerecht würden. Beispiele sind etwa Pontano: Parthenopeus sive Amores 1,2 (ed. Soldati S. 58f.); Landino: Xandra 1,3,15-18 ed. Perosa: »Nam ñeque mortalis facies nec lumen in illa/quale sub humana fronte micare vides,/quod si pace licet, Superi, mihi dicere vestra/visa est caelestes voce preire deas«. Zu einer möglichen persönlichen Bekanntschaft zwischen diesem und Celtis spekulativ Preiss: Celtis, S. 104-106 und S. 222f. Preiss stellt S. 105 auch, freilich ohne dies zu explizieren, fest: »Daß Celtis die Werke des Strozza kannte, geht aus seiner Lyrik mit Sicherheit hervor«. Preiss bezieht dies jedoch vor allem auf die Verbindung von landeskundlichen Interessen und erotisch-elegischer Dichtung in Strozzis Schaffen, das er als unmittelbares Modell für Celtis' Amores-Projekt sieht. Z. B. Stücke wie Erot. IV,7: »Laus Veris ad Sylviam« (Fol. 41r - 43r) und besonders Erot. IV,4: »Blancae Estensis Encomion« (Fol. 73r - 75r). In letzterem spricht Strozzi ausdrücklich von >laudespreces< des (religiösen) Götterhymnus, wie sie auch Celtis in seinen christlichen Hymnen (Bittgebeten) an die Gottesmutter Maria im Poeticum proseuticum ad gloriosissimam dei genitricem gestaltet. 315 Ein eingehender Vergleich beider >Bittgebete< könnte im einzelnen nachvollziehen, wie sehr profaner und religiös-christlicher Frauenpreis nach ihren Floskeln und Strukturen ineinander übersetzbar sind. Es ist dabei offenkundig die Analogie der Ausgangssituation, die einen solch wechselseitigen Austausch von Motiven und Redeformen erleichtern mußte: In beiden Fällen erscheint das angesprochene Gegenüber als der Präsenz des Sprechenden entzogen, 316 hier wie dort wird (vermittels epideiktischem Personenlob und Aretalogie) versucht, konkrete Wirkung und Hilfe für die eigene >miseria< zu erwirken, mithin im Sinne einer >werbenden< Dichtung auf das ferne Gegenüber einzuwirken. 317 314
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Hymnus und >laus< sind Synonyme und bezeichnen beide das Lobgedicht vgl. Isid. orig. 1,39,17: »Hymni autem ex Graeco in Latinum laudes interpretantur«. Text bei Adel: Opuscula, S. 99-105. Am. 1,8,42 setzt die Abwesenheit der Geliebten voraus: »Dum subit illa mihi facies cum fronte serena«. Nicht ohne Grund wird hier offenbar der erste Vers von Ovids berühmter Exilepistel trist. 1,3 (»cum subit illius tristissima noctis imago«) anzitiert. Celtis' Text setzt insgesamt, das deutet schon die Überschrift an, eine Briefsituation voraus. Die wichtigsten Topoi von Götter- und Personenlob finden sich bei Quint, inst. 3,7,7-9, zusammengefaßt von Lausberg: Handbuch, § 244 S. 132f. Die Bestandteile
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Insgesamt entfaltet sich auf diese Weise eine Art Doppelhymnus, der in zwei Anläufen vom Lob der vergöttlichten Geliebten zur Bitte um Erhörung voranschreitet. Ein erster Hymnus in nuce reicht dabei vom Beginn bis fast exakt zur Mitte (v. 31) des 64 Verse umfassenden Textes. Bereits in diesem ersten Teilabschnitt sind nahezu vollständig die konstitutiven Bestandteile der >laus deorum< versammelt. Ausgangspunkt ist auch hier die Anrede (Epiklese) der Geliebten, deren Schönheit die aller übrigen deutschen (und polnischen) >puellae< weit überrage (v. 1-6). 3 1 8 Ein nächster Abschnitt widmet sich dann der Ekphrasis der äußeren Erscheinung (v. 7: »Forma«) der Angesprochenen, die nach einzelnen Körperteilen beschrieben wird (v. 7-14). Davon ausgehend erhebt sich Celtis im folgenden zu einem Lob des Herkommens (»genus«) der Geliebten, die hier erstmals aufgrund der Schönheit ihrer äußeren Erscheinung als Göttin apostrophiert wird (v. 16: »Semine divino [...] creatam«). Ist solcherart die Deifikation der Geliebten als Thema etabliert, kann Celtis sodann jenes förmliche Bittgebet (»preces«) als regelgerechten Abschluß des Hymnus vortragen, das wir oben zitiert haben. Der Bitte um Erhörung der eigenen »vota« verleiht der Dichter dadurch Nachdruck, daß er der zur »diva« Erhöhten gelobt, ihren Namen in aller Welt bekannt zu machen (v. 23-31). Was folgt ist ein neuer Anlauf, in dem der Dichter-Liebhaber zunächst seine >miseriapuella divina< auf ein typisches Arsenal von Beschreibungshülsen, das nicht ein konkretes Gegenüber, sondern eben einen synthetischen Idealtypus von Schönheit319 entwerfen soll, der die Geliebte über jeden menschlichen Vergleich hinaus nach Form und Geschlecht zur Göttin erhebt. Wie die Form des Hymnus Elemente rituellen Sprechens assoziiert, so erscheint auch die Beschreibung der Frau zum Schematismus eines Schönheitspreises ritualisiert, für den sich im einzelnen rhetorische wie motivgeschichtlich-topische Voraussetzungen beschreiben lassen. Die Frauengestalten der Amores, von denen Hasilina noch am ehesten Konturen gewinnt, erweisen sich einmal mehr als bloße Statisten in Celtis' >mundus eroticusSchreiben über die Liebe< in all seinen Facetten im Vordergrund. Weiter oben wurde darauf hingewiesen, wie die Analogie der Beschreibungs- und Redeperspektive, die angenommene Entzogenheit des Gegenübers, die Anlehnung an die Hymnenform befördern mußte. Vor allem in jenen Partien von Am. 1,8, die mit einer kunstgerechten Beschreibung der Angebeteten aufwarten, wird das Statuarische dieses Hasilina-Bildes deutlich. Die Dichtung wird hier in ihrer ganzen Wirkung, wie es von jeher Ziel der Ekphrasis ist, zu einer malenden, deren Produkt wiederum die Vorstellung des Portraits assoziert. Vor dem geistigen Auge des Dichters wird die Geliebte durch die Statuarik ihrer Beschreibung zu Ikone und Votivbild: Forma colorque viget, niveae dum vincula plantae Exeris, aetherias nymphas cum gressibus aequas. Purpureis suffusa genis tua lactea splendei Exhilarans facies; tua singula membra decore Extulit et cunctos natura adverterat artus. Nigra superciliis, frons libera, candida cervix Sidereique oculi modicoque tumentia labra Flammea quaeque favos superant et Hymettia mella.
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Voller Frische ist deine Gestalt und Farbe, und wenn du die Fesseln deiner schneeweißen Füße freimachst, gleichst Du im Schreiten göttlichen Nymphen. Weiß mit purpurnen Wangen erstrahlt dein Gesicht, das Freude verbreitet. Die Schönheit deiner einzelnen Glieder hat die Natur besonders betont. Schwarz sind deine Brauen, heiter die Stirn, strahlend weiß der Hals, wie Sterne deine Augen; sanft schwellen die glutroten Lippen, die an Süße Waben und Honig vom Hymettos übertreffen.
Das beschreibende Abtasten des weiblichen Körpers verfährt hier erkennbar selektiv. Betont wird zunächst die Schönheit des Ganzen (»forma colorque 319
Wie sehr es sich bei solchen Beschreibung tatsächlich um Qualitäten einer idealen Schönheit handelt, wird aus einem Epigramm des Celtis deutlich, in dem dieser den Idealtypus einer schönen Frau entwirft (epigr. 5,30: »De septenario ternario pulchritudinis mulierum«): »Foemina pulchra nigros cum cunno servat (Ha. promat) ocellos/Candentesque manus assint et candida cervix,/Suntque duo curtique pedes et sit breve mentum/Et latera oblonget (Ha. oblonga) flaventque longique
333 viget«), die wenig später als zusammengesetzte, als Produkt der Wohlgestalt der einzelnen Teile, gekennzeichnet wird. Wie es dem Verfahren der »evidentia< bzw. >descriptio< entspricht, wird so der Gesamteindruck in eine »Aufzählung (wirklicher oder in der Phantasie erfundener) sinnenfälliger Einzelheiten« aufgelöst. 320 Celtis' imaginierte Beschreibung Hasilinas erfolgt damit als >enumeratio partiumquinque lineae amoris< besondere Bedeutung zukommt (v. 42-44: »Dum subit illa mihi facies cum fronte serena/Inside t urbanus blandís cui semper ocellis/Risus«).321 Auch die Wiederholung der Beschreibung, die Celtis im zweiten Teil des Gedichts (v. 42ff.) anschließt, erhöht die Vorstellbarkeit und Plastizität des Ganzen nur wenig. Solche »Details >vom Scheitel bis zur Sohle< deklinieren den klassischen Katalog weiblicher Schönheit«, wie mit Recht zur Stelle gesagt wurde. 322 Wenn Celtis auf solche von der Rhetorik bestimmten Modelle zurückgreift, wie sie der klassischen Elegie eines Properz, Tibull oder Ovid eher fremd waren, 323 so unterstreicht dies eine Kontinuität gegenüber mittelalterlicher Beschreibungspraxis, die bereits Brinkmann die Folgerung ziehen läßt, »daß die Renaissance keineswegs die Tradition des »mittelalterlichem Stiles abreißen läßt, vielmehr in der Beschreibung und gerade in der Frauenbeschreibung unmittelbar fortführt«. 324 Wird in der mittelalterlichen Lyrik »die schöne Frau als gegossenes, geschnitztes, bemaltes Bildwerk des göttlichen Künstlers oder Frau Minne vorgeführt«, 325 so gilt dies ohne Abstriche noch für Celtis' eigene poetische Beschreibungsmuster.
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capilli/Sint duraeque nates (Ha. nares) duraeque in pectore mammae./Mollis sit venter nec bracchia mollia desint/Angustetque gradus, os et genitale pudicum«. Lausberg: Handbuch, § 810 S. 399. Quint, inst. 9,2,4. >Seh ich vor mir jenes Gesicht mit seiner heiteren Stirn, in dessen reizenden Augen stets ein feines Lachen wohntartes versificatoriaeartes versificatoriaeenumeratio partiumsimulatio< und >dissimulatio< der eigenen Absichten ein besonderes Überzeugungskalkül wirkt. So zeigt sich in unserem Beispiel der Primat des rhetorischen Leitdiskurses für die humanistische Poetik und ihre Reflexion über Formen, Inhalte und Gestaltungsprinzipien. Dichtung wie poetische Epistel konvergieren nicht allein aufgrund der Universalität erotischen Schreibens und ihrer Inhalte, sondern auch deshalb, weil das gesamte Feld kunstgerechter Sprachausübung von der epideiktischen Rhetorik, dem Genus demonstrativum, überwölbt und theoretisch beschrieben wird.
5.6.5. Elegie und Oden. Zur Gattungskonvergenz der Liebeslyrik Es kann daher nicht verwundern, wenn eine derartige Osmose zwischen den Genera auch an den Oden zu belegen ist. Das erste Buch des Zyklus, in dessen Zentrum gleichfalls die Figur der Hasilina steht, geht im Kern auf eine an Catulls Gedichtsammlung orientierte Sammlung zurück, deren Entstehung in die unmittelbare Zeit des Krakauer Aufenthaltes und der »peregrinado Sarmatica« fällt.334 In unserem Zusammenhang sind vor allem diejenigen Stücke bedeutsam, die im Titel ausdrücklich die Bestimmung »erotice« tragen.335 Es handelt sich dabei um vier Oden, denen sich weiterhin das erste Stück des zweiten Buches der Oden zurechnen läßt, das ebenfalls Hasilina gewidmet ist.336 Vergleicht man diesen erotischen Subzyklus des Hasilina-Buches mit dem singulären Am. 1,8, so fallen zumal hinsichtich Behandlung und Beschreibung Hasilinas zahlreiche Gemeinsamkeiten ins Auge. Das betrifft zunächst die >Deifikation< der Geliebten, die in den Oden nahezu wortgleich wiederkehrt, etwa in Od. 1,3, wo der Dichter zunächst (v. 22) ausdrücklich betont: »Qualis diva tuis gressibus emicas«, um am Ende erneut in die Semantik des Gebets abzuschließen: »Nunc vives 334 335
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Dazu unten Kap. 4.1.2. Anm. 52. Zu diesen Tonbezeichnungen, wie sie die Horazüberlieferung mitführte, eingehend Färber: Termini, S. 354f. Im einzelnen sind dies Od. 1,3; 1,6; 1,10; 1,14, daneben 2,1. In unserem Zusammenhang auszuklammern ist Od. 1,9 (»Ad Salemnium Delium erotice in iucunditatem veris«), die eine abweichende Struktur und Thematik gegenüber den Hasilina-Oden zeigt. Die Geliebte ist hier auch nicht persönlich angesprochen. Eine etwas andere Disposition verfolgt auch das berühmte Stück »De nocte et osculo Hasilinae erotice« (Od. 1,10). Bereits im ersten Buch der Oden bestimmt die erotische Thematik nur ein Drittel der Gedichte. Dieser Anteil nimmt in den weiteren Odenbüchern stetig ab. Oden II enthält dabei vier Liebesgedichte (davon 2,29 an Gretula), III zwei, IV schließlich überhaupt keines mehr. Eine eingehende Interpretation der erotischen Oden, ihrer Struktur und Traditionsstellung liegt bislang nicht vor. Auch im neuen Sammelband Auhagen (Hg.): Horaz und Celtis finden sich keine Interpretationen zu den besagten erotischen Stücken.
337 etiam cognita posteris/Si non dura meis, obstiteris, dea,/Votis« (v. 27-29). 3 3 7 Auch Details wie die Gegenüberstellung der >puella< mit mythischen Gottheiten finden sich immer wieder,338 ebenso der überbietende Vergleich der Geliebten mit den Frauen aus anderen deutschen Regionen (Am. 1,8,16). 339 In den themenverwandten >erotischen< Oden ist damit dieselbe Ausrichtung an einem einmal entwickelten Strukturmodell zu konstatieren, wie sie auch die Freundschaftsoden340 und darüber hinaus eine Vielzahl von Texten in Celtis' Werk kennzeichnet. Als stehendes Element begegnet in allen vornehmlich die Beschreibung der Schönheit Hasilinas, die regelmäßig ins Zentrum der Gedichte gestellt wird. So wird im Vergleich der verschiedenen Beschreibungen in den Oden sehr schnell der rhetorische Schematismus offenbar, mit dem die einzelnen Körperteile abgearbeitet werden. Erwähnt sind durchgehend die Feingliedrigkeit in der Bewegung, vor allem aber die Schönheit des Gesichts mit seinen notorisch purpurroten Wangen bei sonstiger schneeweißer Blässe 341 und >heiterer< Stirn. 342 Am vollständigsten erfaßt sind die Versatzstücke der Beschreibung in Od. l,14,37ff., in der sich >Hodoeporicon< und erotische Thematik ergänzen.343 Beständig kehrt auch das Element der >siderei oculiElsula NoricaHasilina Sarmatasiderei oculi< eine mit wenigen Strichen ausgeführte >descriptioenumeratio partium< gestaltet: Nuper enim cunctos toto cum corpore sensus Praedata es nitidis visa puella comis. Candor inest manibus digitisque ex ordine longis Et superant Scythicas lactea colla nives. Dinumerare potes nigrantes corpore venas, Talis texturae est forma tenella tuae; Fulva coma est atque ora rubent tibi, qualia fulgent Inter sanguíneas alba ligustra rosas Aut quale in triplici splendei Thaumantias ore, Imbrifer aetherias pingit ut arcus aquas. Quid graciles suras memorem et vestigia plantae Et latera et pectus quaeque tacere decet? Floridus in tenero lascivit corpore sanguis, Dentibus et niveis nobile cedit ebur. Nec faciem taceo, Claris quae lucet ocellis, Nuntius ut magni fertur habere Iovis.
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Erst vor kurzem hast du mir alle Sinne geraubt mit samt meinem Körper, als ich dich, Mädchen, mit deinem glänzenden Haar erblickte. Strahlend weiß sind deine Hände wie deine gebührlich langen Finger, dein weißer Hals übertrifft noch Skythischen Schnee. Abzählen kann man auch die dunkeln schimmernden Adern an deinem Körper, von solcher Zartheit ist deine Gestalt. Rotblond ist dein Haar, rot dein Mund, wie weißer Liguster leuchtet inmitten blutroter Rosen oder wie mit dreifachem Antlitz Iris, die Tochter des Thaumas, erstrahlt, wenn der Regenbogen die Wasser vom Himmel verfärbt. Was soll ich die Fesseln nennen, die Fußsohlen, die Brust und jene Partien, von denen zu schweigen sich ziemt. Frisch sprudelt das Blut in deinem zarten Körper, hinter dem Weiß deiner Zähne steht noch das kostbare Elfenbein zurück. Auch dein Antlitz will ich nicht verschweigen, in dem so leuchtende Augen strahlen, wie sie der Bote des großen Jupiter [sc. der Adler; J. R.] gehabt haben soll. Nicht weniger typisierend verfährt Celtis bei der Beschreibung der »Ursula Galla« im dritten Buch der Amores.
Mehr noch: D i e knappe Beschreibung
verdichtet sich an dieser Stelle zu einer asyndetischen >enumeratio partiumWelche Glut erweckst du, strahlende Hasilina, in mir, wenn du mich mit deinem Sternengleichen Auge liebreizend triffstUrsula, alles an dir ist reine Anmut: Die Stirn, das Haar, die Stimme, Brust, Augen, Hals und HandSystem< an sich,352 schwer zu erweisen. Nimmt man Schlaffers Differenzierung von petrarkistischer und elegischer Charakteristik der Geliebten zum Maßstab, so ordnet sich Am. 1,8 zunächst typologisch eher dem petrarkistischen Modell zu, das sich Schlaffer zufolge durch eine »formelhafte Beschreibung der Gesichtsteile« auszeichnet, die den »Gegenstand in der kalten Ferne und Starre eines Gemäldes« - oder, könnte man ergänzen: der apostrophierten Göttlichkeit, der erotischen Ikone - beläßt. 353 Andererseits erweisen sich Grenzziehungen zwischen den erotischen Teilsystemen im einzelnen als schwierig. Zudem ist die Frage eines Petrarkismus innerhalb der neulateinischen Literatur, zumal im deutschen Bereich und im frühen Stadium des Gattungstransfers um 1500, allenfalls in Ansätzen diskutiert. 354 Wir können an dieser Stelle weder das komplexe Sy348 349
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Am. 3,3,251 Dies entspricht dem oben Anm. 336 beschriebenen Befund des vierten Oden-Buches. Kühlmann: Humanistische Lyrik, S. 940-942 weist auf italienische Vorbilder hin. Stellen siehe oben Anm. 345. Zum Systemcharakter des Petrarkismus Hempfer: Probleme. Schlaffer: Musa iocosa, S. 59. Zudem steht auch Celtis' Beschreibung, wie von Schlaffer für das petrarkistische Modell gefordert, »am Anfang des Gedichts« (ebd). Die Komponenten des petrarkistischen Beschreibungsschemas fassen zusammen Hindermann: Liebesdichtung, S. 15-36; Pyritz: Flemings Liebeslyrik, S. 163173; Hoffmeister: Petrarkistische Lyrik, S. 25f. Forster: Petrarchism in Latin; Pyritz: Flemings Liebeslyrik, bes. S. 124-159. Hoffmeister: Petrarkistische Lyrik, S. 5 7 - 6 0 . Hoffmeister bezweifelt in diesem Zusammenhang (S. 58) ausdrücklich, daß Celtis von petrarkistischen Tendenzen direkt beeinflußt ist. Ebenso Pyritz: Flemings Liebeslyrik, S. 156: »Weder Celtes noch Lo-
340 stem des Petrarkismus selbst355 noch seine Wechselwirkungen mit angrenzenden lyrischen Feldern wie dem der neulateinischen Elegie eingehender beleuchten. Nur so viel scheint klar: ein Blick auf die zweisprachige Dichtungspraxis des italienischen Quattrocento empfiehlt den Schluß, petrarkistische Lyrik im Volgare und neulateinische Elegie als kommunizierende Systeme aufzufassen, zwischen denen bei allen spezifischen Differenzen motivisch-thematische Austauschbeziehungen an der Tagesordnung sind. In welcher Weise freilich beide Liebessysteme als analog oder konkurrierend aufzufassen sind, kann hier nicht entschieden werden und ist für unseren Zusammenhang auch ohne Belang.356 Wir können so die Frage nach einem petrarkistischen Celtis auf sich beruhen lassen und uns mit der Kompromißformel begnügen, daß eventuelle petrarkistische Sedimente in Am. 1,8 oder anderen Stücken einen zeitgenössischen, namentlich italienischen Hintergrund andeuten, der sich nur schwer im Hinblick auf einzelne konkrete >Vorbilder< und Similien aufschlüsseln läßt. Doch so naheliegend solche systematischen Zuordnungen zum petrarkistischen Leit- und Modediskurs sein mögen, so sehr weckt der mikrophilologische Befund Zweifel an dieser These. Daß Celtis auch in Am. 1,8 Versatzstücke verschiedener Herkunft verschmilzt, kann angesichts seiner wiederholt belegbaren >mirifica permixtio< nicht überraschen. So synthetisch sich die Schönheit der Frauengestalten zusammensetzt, so kunstgerecht werden auch die literarischen Versatzstücke montiert, aus denen die Beschreibung gefertigt ist. Auf die konkrete Vorlage, die Celtis in Am. l,8,7ff. verarbeitet, wird das distinktive Motiv der »siderei oculi« im folgenden ein bezeichnendes Licht werfen. Zunächst nämlich ist zu bemerken, daß Celtis in seiner Beschreibung Hasilinas überraschenderweise weder auf zeitgenössische italienische Autoren noch auf die vertrauten Klassiker der lateinischen Liebeselegie zurück-
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tichius sind echte Petrarkisten, wiewohl sie in Motiv und Ausdruck sich der Mode keineswegs entziehen«. Hempfer: Der petrarkistische Diskurs; Hoffmeister: Petrarkistische Lyrik, S. 2t; Forster: Icy Fire. Hempfer: Pluralisierung. Hempfer: Intertextualität vertritt die »Auffassung des Petrarkismus als eines von anderen Formen des erotischen Diskurses unterschiedenen Typs, der qua System in unterschiedlicher Weise in Einzeltexten aktualisiert werden kann« (ebd. S. 37). Als distinktive Merkmale für genuin petrarkistische Einschlüsse in der neulateinischen Elegie wären denkbar a) Übersetzung, etwa Landino: Xandra 1,7 ed. Perosa: »Seni senarii ad imitationem Petrarcae«; Xandra 1,14 (ed. Perosa S. 16, v. If): »Si non vexat amor, quidnam mea pectora vexat?« (nach Canz. 132: »S'amor non è«); b) direkte Zitate wie der Topos des »eisigen Feuers« bei Landino: Xandra l,5,41f.: »Solus amans magno misere frigescit in igne,/Aestuat horrenti frigore solus amans« oder c) Übernahme typischer Konstellationen aus Petrarcas Canzoniere, die so nicht in antiker Lyrik begegnen, z.B. Strozzi: Eroticon 1,2: »Quod die solemni divi Georgii amare Anthiam coeperit«. Der Dichter begegnet hier der Geliebten erstmals an einem christlichen Festtag, wie Petrarca seine Laura zuerst am Karfreitag trifft.
341 greift. Vielmehr schreibt er den spätantiken Elegiker Maximian, einen Zeitgenossen des Boethius, aus, dem er auch andernorts, namentlich in den Altersgedichten von Amores IV, eng verpflichtet ist. 357 In der ersten Elegie imaginiert Maximian die Physiognomie einer idealen Geliebten, die sich dem greisen Dichter aus der Retrospektive zusammensetzt. Die an dieser Stelle versammelten Einzelheiten bilden im wesentlichen den Grundstock für Am. 1,8,12-15: Nigra supercilia, frons libera, lumina clara, Vrebant animum saepe notata meum. Flammea dilexi modicumque tumentia labra, Quae gustata mihi basia plena darent. 358 Schwarz sind ihre Brauen, frei ihre Stirn, die Augen leuchtend; oft setzten sie mich in Brand, wenn ich sie erblickte. Die flammenden Lippen liebt' ich und ihren gemessenen Schwung, welche mir, wenn ich sie kostete, volle Küsse gaben.
Der Rückgriff auf das spätantike Korpus der Maximian-Elegien überrascht nur auf den ersten Blick, war der Dichter doch schnell zu einem der vielgelesenen Schulautoren des Mittelalters aufgestiegen, der seinen Platz im Kanon vor allem dem Thema des elegischen Liebhabers im Alter verdankte. 3 5 9 Auch in den mittelalterlichen »artes versificatoriae« ist Maximian allenthalben mit Textproben vertreten. Vor allem im Zusammenhang der >descriptio< weiblicher Schönheit sind es immer wieder die oben zitierten Verse, die von den Autoren der mittelalterlichen Poetik als Muster angeführt werden. So zitiert Matthaeus von Vendôme, 3 6 0 der die Beschreibung in den Mittelpunkt seiner ars versificatoria (vor 1175 entstanden) stellt, 361 Maximians Beschreibungsmuster, wenn er als Beispiel einer >descriptio< weiblicher Schönheit ein Idealportät Helenas einrückt. 3 6 2 Aimeric(us) zitiert den Passus Maxim, eleg. 1,93-98 in seiner ars lectoría (um 1086) sogar wörtlich. 363 Was sich also auf den ersten Blick als Transfer eines zeitgenössischen (italienischen) Schemas darstellte, erscheint aus dieser Perspektive als A n k n ü p f e n an eine mittelalterliche Vorliebe und Tradition, die Celtis aus dem Schulbetrieb selbst oder 357 358 359
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Vgl. Füllner: Natur und Antike, S. 23. Maxim, eleg. 1,95 - 98. So stellt Eberhard der Deutsche in seinem Laborintus fest (Farai: Les arts poétiques, S. 358, v. 611f.): »Quae senium puisant incommoda maxima scribit/A se materiam Maximianus habet«. Curtius: Europäische Literatur, S. 60 Anm. 3. Ausgabe Farai: Les arts poétiques, S. 106-193. Zu Leben und Werk ebd. S. 1 - 1 4 ; Klopsch: Dichtungslehren, S. 121-127. Dies macht das gesamte Kapitel VII aus (S. 75 - 84, dabei S. 7 5 - 8 1 zur Personenbeschreibung). Matthaeus von Vendôme § 56, Farai: Les arts poétiques, S. 129; v. 13-15: »Nigra supercilia via lactea separat, arcus/Dividui prohibent luxuriare pilos./Stellis praeradiant oculi«; und v. 24: »Succincta modico lege labella tument«. Diese Beschreibung wurde bald auch aus dem Kontext der Ars versificatoria gelöst und separat weitergegeben. Hindermann: Liebesdichtung, S. 19. Farai: Les arts poétiques, S. 80.
342 aus den ihm zugänglichen Poetiken und »artes versificatoriae« entnehmen konnte. 364 Bezeichnend ist freilich, daß Celtis sein immer wieder benutztes Modell Maximian nicht in den Katalog der Musterautoren für die Gattung Elegie aufnimmt, den er in der Ars versificarteli zusammenstellt. 365 Auch in der Liste derjenigen Liebesdichter, in deren Genealogie sich Celtis in Am. 4,15,61f. stellt, ist Maximian nicht vertreten. Ein Grund hierfür mag darin zu suchen sein, daß Celtis sich lediglich auf die Kernautoren der Gattung berufen wollte, deren Nennung ihm die gewünschte Autoritäts- und Traditionsanbindung versprach. Der >poeta minor< Maximian dagegen erschien Celtis so wenig zitabel wie jene zeitgenössischen Quellen, die überall in den poetischen Werken geflissentlich verschwiegen, wenn nicht negiert werden. Hat man den Autor der Amores einmal in solche Traditionen mittelalterlicher Poetik gestellt, so verwundert es auch kaum, in den Anweisungen der »artes versificatoriae« zu Beschreibung und Preis weiblicher Schönheit immer wieder auf den Topos der >sterngleichen Augen< zu stoßen, der wiederholt als spezifisch petrarkistisch angesprochen wurde. 366 In Am. 1,8 verwertet Celtis jedoch nicht Maximian selbst, sondern einen Text, der seinerseits dessen Beschreibung in El. 1,93ff. voraussetzt, nämlich den Auftakt von Peter Luders »Elegia ad Panphilam«. 367 Stellt man die entsprechenden Passagen einander gegenüber, so wird einerseits deutlich, daß sich Celtis in Am. 1,8,7ff. nicht unmittelbar den antiken Elegiker zur Vorlage nimmt, sondern Luders Variation des Schemas ausschreibt. Auf eine unmittelbare Abhängigkeit von Celtis' Beschreibung von der Luders deutet neben dem Topos der >siderei oculi< (v. 2), den Celtis in dieser Formulierung nur bei Luder finden konnte, vor allem die rhetorische Frage »quid genus enumerem« (v.
364
Einen vorläufigen Aufschluß darüber, welche >artes grammaticae< bzw. >versificatoriae< Celtis rezipierte, gibt der Aufsatz von Worstbrock: Ars versificandi. Worstbrock ermittelt freilich nicht zu allen Partien der Ars versificandi die Quellen und klammert weitgehend die mittelalterlichen >artes versificatoriae« aus, deren Kontinuität zu Celtis' eigenen Auffassungen im Kapitel zur Ars versificandi verschiedentlich gezeigt wurde. 365 Fol. C lv. 366 j j t w a bei Matthaeus von Vendôme § 57, v. If. (Farai: Les arts poétiques, S. 130): »Respondent [...] /Colla nivi, stellis lumina, labra rosis«; Galfried von Vinsauf, Poetria nova ν. 569f. (Farai: Les arts poétiques, S. 214): »Excubiae frontis, radient utrimque gemelli/Luce smaragdina vel sideris instar ocelli«. Galfried, Documentum de arte versificandi II, 2 § 3 (Farai: Les arts poétiques, S. 272): »Radiant in margine frontis/Cristalli gemine«. 367
Ediert bei Baron: Luder, S. 207-211. Zur Person vgl. Baron: Luder; Wattenbach: Luder. Celtis wird Luders Texte über dessen Schüler Hartmann Schedel kennengelernt haben. Daß Celtis gerade die »Elegia ad Panphilam« gekannt hat, legt neben den oben zu zeigenden Parallelen eine Reihe weiterer Anklänge nahe, auf die hier nicht im einzelnen einzugehen ist. Das gilt etwa für das Bewußtsein, als erster die Musen nach Deutschland gebracht zu haben, wie es bereits Luder, lange vor Celtis' Apollo-Ode und Epod. 12 äußert: »Primus ego in patriam deduxi vertice Musas/ Italico mecum« (v. 85f. ed. Baron).
343 8), die in Am. 1,8 wörtlich wiederkehrt. Ansonsten finden sich keine Anklänge an Maximian, die nicht auch in Luders Elegie enthalten wären. Der punktuelle Versuch, den Traditionszusammenhang von Celtis' Frauenpreis zu klären, wirft ein überraschendes Licht auf den poetologischen Standort dieses heroischen bzw. hymnischen Intermezzos und mit ihm der Celtis'schen Liebesdichtung insgesamt. Die philologische Quellenfahndung dient so nicht dem selbstgenügsamen Nachweis von Similia, sie eröffnet allererst einen exemplarischen Einblick in die Arbeitsstube des neulateinischen Dichters, vor allem in Art und Reichweite seiner synthetisierenden Verwertung der Vorbilder. Celtis' eklektische Poetik des Schönheitspreises findet auf der Ebene des Dargestellten ihre Entsprechung in einer synthetischen Form von Weiblichkeit. Am. 1,8 gewinnt damit einen meta-poetologischen Rang, indem hier die poetische Beschreibung der Geliebten zugleich eine implizite Poetik der >descriptiopuella< und Faktur der Dichtung sind hier an ihrer Oberfläche - wie überall in vormoderner Dichtung - strukturidentisch. In ihrer Typenhaftigkeit, die sich, wie überall in der Liebesdichtung, im sprechenden (Deck-)Namen der Geliebten 368 kundtut, unterscheidet sich die Hasilina von Am. 1,8 in keiner Weise von ihren Vorgängern in der antiken Elegie.369 Immerhin hat der exakte Quellenbefund das Urteil relativiert, wonach Hasilinas »Portrait ihren fernen Vorbildern bei Ovid, Catull, Horaz mehr [gleicht] als jeder realen Person zwischen Krakau und Wien, die Celtis erobert haben mag«.370 Wie schon die antike Elegie 371 so spiegeln auch die Amores primär den Blick des Mannes auf die Geliebte, an der sich die Beschreibung beobachtend und synthetisierend konstituiert. Dem entspricht die Position des Voyeurs, der einer statuarischen und >deifizierten< Frauenfigur beim Bade zusieht und so die mythische Szenerie von Aktaeon und Diana wiederbelebt.372 Ihre Parallele hat eine solche Beobachterposition des Mannes etwa in einem Gedicht wie Petrus Lotichius' Elegie De puella infelici.373 Der abgetrennte Raum des poetischen Lustgartens374 oder das Séparée des Lübecker Kellergewölbes375 weisen auf die konstitutive Privatheit dieser >Musa iocosaLie-
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Dazu exemplarisch Lieberg: Puella divina, S. 82 - 9 5 . Luck: Liebeselegie, S. 154. Hess: Erfundene Wahrheit, S. 142. Burck: Wesenszüge, S. 208. Am. 1,8,19-21. Abgedruckt, übersetzt und interpretiert bei Schäfer: De puella infelici. Ebenso Kühlmann: Humanistische Lyrik, S. 496f. mit Kommentar S. 1239. Am. 4,13. Am. 4,8: »Invitatur a Barbara, ut more Lubicensium secum celias subterráneas ingrediatur«.
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besgartens< fortgeführt, das in Druckgraphik, Tapisserie und Kleinkunst des 15. Jahrhunderts weit verbreitet ist.376 Künstlerisch erschöpft sich Celtis' Text freilich nicht in einem Agglomerat literarischer Versatzstücke, welche scheinbar wahllos zusammengefügt wären. Vor allem gegenüber Luders weitschweifiger und kompositorisch ungeglätteter »Elegia ad Panphilam« fällt die Stringenz auf, mit der Celtis sein Thema in Am. 1,8 strukturiert. Das zeigt sich nicht allein in der typischen Schärfe, mit der sich die einzelnen Teile gegeneinander abheben, sondern vor allem in der Konsequenz, mit der Celtis das Motiv der >deifizierten< Geliebten auch gattungstypologisch reflektiert. So wird Am. 1,8 schon durch die Transposition des Versmaßes wie durch seine Einzelelemente zum formgerechten Hymnus, in den sich die Prädikation Hasilinas als »diva«, an die der Dichter seine »vota« und »preces« richtet, nunmehr zwingend einfügt. Auch der bei Luder wie schon bei Maximian isolierte Bestandteil der >descriptio< wird bewußt in die hymnische Struktur des Ganzen miteinbezogen.377 Auf diese Weise entsteht trotz aller Konventionalität der Einzelteile ein neuer, auch formal konsistenter Sinnzusammenhang, der eine weitere, über die elegische Form hinausweisende Facette des Liebesthemas in den Amores einfängt und Celtis' Poetik der >Vermischung< gleichsam performativ vorführt.
376 377
Lüh: Die unvollendete Werkausgabe, S. 188 mit Literatur. Elemente der Anbetung, die eine Semantik des Hymnus beanspruchen, finden sich freilich schon bei Luder, etwa v. 99£: »Namque, fatebor enim, non es indigna precari,/En supplex oro, sis memor alma mei«. Auch Panphila scheint ihrer Abkunft nach >deifiziert< (v. 8f.): »Quid genus enumerem quo non prestancius ullum/Orbe fuit toto, celitus atque datum«. Wie bei Celtis (Am. 1,8,8) scheint sie im Schreiten einer Göttin gleich (v. 72): »Emines, Ingrediens persimilisque dee« und sogar v. 76: »Nam digna dea es, ac superis similis« und im letzte Vers der Elegie (v. 144).
6.
Amores und Germania illustrata. Nationaler Diskurs und elegisches Deutschlandbild
6.1.
Celtis' Projekt einer Germania illustrata im historischen Kontext
6.1.1. Erfindung der Nation. Die frühneuzeitliche Konstitution eines nationalen Bewußtseins Der Diskurs um die Ausdifferenzierung der europäischen Nationen in der Frühen Neuzeit gehört zu jenen Aspekten einer Geistesgeschichte des 15. und 16. Jahrhundert, die gerade in letzter Zeit immer wieder Beachtung fanden. 1 Dies gilt vor allem für die Ausbildung einer »nationalen Identität im Diskurs der Deutschen Humanisten«, 2 der im Prozeß einer >Natio-Genesenatio< Garber: Trojaner-Römer-Franken-Deutsche, S. 108-125; Münkler/Grünberger: Nationale Identität, S. 215-220; Rathmann: Nation und Geschichte; Wehrli: Nationalgedanke. Den umfangreichsten Versuch, Celtis' Projekt einer Germania illustrata in diesem Kontext zu verankern, unternimmt Müller: Germania generalis, der jedoch nicht systematisch auf die Rolle der Amores und die spezifischen Modifikationen eingeht, denen das landeskundliche Vorhaben im Spannungsfeld verschiedener Textsorten, Gattungen und Diskurse unterliegt (vgl. ebd. S. 443-446 und S. 455-461).
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Münkler/Grünberger: Nationale Identität. Ebd. S. 218. Münkler/Grünberger: Nationale Identität, S. 211. Etwa Asher: National Myths.
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346 Positionen allererst hervortreibt, mit anderen Worten: Die Ausbildung eines identitätsstiftenden Diskurses um die deutsche Nation ist mittelbar die Folge dessen, was als »Erfindung der italienischen Nation« bezeichnet worden ist. Wenngleich die einzelnen Zwischenschritte auf diesem Weg hier nicht zu referieren sind, so zeichnen sich doch die Konturen der Gesamtentwicklung deutlich ab. So kommt in diesem Zusammenhang den Schriften Petrarcas, vor allem im Umkreis von Cola di Rienzos Projekt einer Restitution der römischen Republik, herausragende Bedeutung zu. In ihnen erscheint nicht nur das Denkschema der Renaissance erstmals in voller Ausbildung, es wird auch deutlich, daß die hier angestrebte >renovatio< zunächst unter nationalen Auspizien zu verstehen ist: Die >Wiedererweckung< des antiken Rom ist als ein Akt zur (Wieder-)Herstellung nationaler Größe gedacht und bezieht ihren patriotischen Akzent aus der Polemik gegen die barbarischen Franzosen, die den Papst in avignonesischer Gefangenschaft halten, wie gegen einen deutschen Kaiser, der als Repräsentant einer noch immer barbarischen Nation gezeichnet wird, die glücklicherweise von der eigenen durch den >Schutz der Alpen< getrennt sei.6 Petrarcas Schriften sind so der Ausgangspunkt all jener exkludierenden Stereotype, die sich in der Literatur des 15. Jahrhunderts zu einem >Barbarenverdikt< verdichten, welches das gängige »Bild des Deutschen« im italienischen Bereich bestimmt.7 Auf diese italienische Erfindung der eigenen Nation im Rekurs auf eine als nationale Vorgeschichte vereinnahmte römische Antike reagiert nun, mit einigem zeitlichen Abstand, der Diskurs der deutschen Humanisten um die eigene Nation, die in diesem Zusammenhang gleichfalls allererst >erfunden< wird.8 Aus dieser Ausgangslage ergeben sich zweierlei Konsequenzen: Die Idee einer deutschen Nation (neben der eines Heiligen Römischen Reiches deutscher Nationen) entsteht zunächst als Entwurf einer intellektuellen Elite, die mit seiner Hilfe die prekäre eigene Situation beantwortet. Die Nation als Ausdruck gemeinsamer Identität von Raum, ethnischer Zugehörigkeit und Herkunft ist auf dieser ersten Stufe wesentlich Projekt, eine »imagined community« im Sinne Andersons,9 der im historischen Raum zunächst kein konkretes politisches Gebilde entspricht, und folglich, so läßt sich resümieren, »geht die Nation als Idee der Nation als Realität systematisch wie zeitlich voraus«.10 Damit sich eine solche >Erfindung der Nation< überhaupt bewerkstelligen ließ, mußte jedoch eine weitere Voraussetzung erfüllt sein. 6
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Canzoniere 1 2 8 , 3 3 - 3 5 ed. Contini S. 175: »Ben provide Natura al nostro quando de l'Alpi schermo/pose fra noi e la tedescha rabbia«. Ein klassischer nach Plin. nat. 3,23. Amelung: Bild des Deutschen, S. 3 6 - 4 3 ; Mayer/Münkler: dung der italienischen Nation S. 9 2 - 1 0 3 . Grundlegend Amelung: Bild des Deutschen; Voigt: Italienische Berichte. Zur Reaktion auf das italienische Barbarenverdikt in einzelnen Beispielen lung: Bild des Deutschen, S. 6 6 - 7 3 . Anderson: Imagined Communities. Münkler/Grünberger: Nationale Identität, S. 220.
stato,/ Topos Erfin-
Ame-
347 Für einen Petrarca konstituiert sich die Nation wesentlich durch den Bezug auf gemeinsame Herkunft, mithin in der Rückkehr zu Macht und Kultur des antiken Rom. So ist die Denkfigur von >renascentia< bzw. >renovatiotranslatio imperiirenascentiatranslatio imperiitranslatio studii< im weitesten Sinne anzuschließen habe, bleibt daher das Modell, das für die besondere deutsche Ausgangssituation die größten argumentativen Vorzüge anbot, stellte es doch eine Kultivierung Deutschlands zumindest für die Gegenwart und Zukunft in Aussicht. Freilich blieb auf diese Weise das Vakuum einer nationalen Frühgeschichte zunächst unausgefüllt, eine systematische Archäologie und Historie deutscher Vorzeit war, anders als in Italien, vorerst nicht in Sicht. Konnten sich italienische Historiker wie Flavio Biondo und Sabellico 12 der >antiquitas< der eigenen römisch-italischen Vergangenheit rühmen, so war eine solche Historiographie mit nationaler Perspektive in Deutschland zunächst voraussetzungslos. Diese für die deutschen Humanisten prekäre Ausgangslage ändert sich jedoch abrupt mit der Entdeckung und Publikation einer Schrift, die das Vakuum historischer Informationen zu füllen half. Gemeint ist die Germania des Tacitus, die Mitte des 15. Jahrhunderts aus einem Hersfelder Kloster nach Italien gelangt und von Enea Silvio zunächst unter den italienischen Humanisten verbreitet wird. 13 Die Editio princeps des Werkes erscheint freilich erst 1471, und zunächst bleibt dessen Rezeption auch ganz auf den Kreis der italienischen Humanisten um Enea Silvio beschränkt, die in ihren Schriften tendenziöser Zuspitzung gerade die Germanen-kritischen Züge der Ger11 12
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Grundlegend Worstbrock: Geschichtliches Selbstverständnis. Gemeint sind in oratio 37 Flavio Biondos Historiarum ab inclinatione Romanorum imperii decades. Venedig: Thomas de Blavis. 28. Juni 1484 (GW 4420) sowie Marcus Antonius Coccius Sabellicus' 1487 in Venedig erschienene Decades rerum Venetarum ab urbe condita libri XXIII. Venedig: Andreas Torresanus, 21. Mai 1487 (Hain 14053). Zur Entdeckung der Schrift Krapf: Germanenmythus, S. 11-42; Ridé: L'image du Germain, S. 129-140. Auf die Taciteische Schrift selbst und ihre Zielsetzung kann hier nicht im einzelnen eingegangen werden. Eine neuere Gesamtinterpretation unter Berücksichtigung der Forschungsliteratur bietet Lund: Germania.
348 mania aktualisieren.14 Doch trotz des in weiten Zügen ambivalenten Bildes germanischer >simplicitas< war mit der Schrift des Tacitus ein entscheidender Baustein zur Erhellung der eigenen Vorgeschichte verfügbar geworden. Die Ausbildung nationaler Identität war im humanistischen Diskurs - mit Einschränkungen, über die zu reden sein wird - nur über die Anbindung an antike Autorität zu leisten, Erfindung und Illustration der >Germania nova< wurde entscheidend dadurch gewähleistet, daß man diese - identifizierend oder kontrastiv - zu einer >Germania vetus< in Beziehung setzen konnte, wie sie sich Tacitus, aber auch anderen der nunmehr vorliegenden antiken Quellen entnehmen ließ.15 Eine Hauptrolle in dieser Diskussion sollte vor allem Tacitus' Feststellung der Autochthonie der Germanen spielen, die immer wieder als Argument der besonderen Auszeichnung gegen die italienischen Nachfahren trojanischer Flüchtlinge ins Feld führen ließ.16 Die Taciteische Germania blieb allerdings als Grundlage eines Deutschlandlobs von zweifelhaftem Wert. So positiv ihr Urteil von der physischen Stärke und moralischen Integrität der Germanen war, so eindeutig urteilte sie andererseits über deren Zivilisationsferne, die sich, mißlich genug für die deutschen Verfechter der studia humanitatis, in einer völligen Ignoranz der »secreta litterarum« ausdrückte.17 Die Germanen erscheinen bei Tacitus insgesamt als ein von Segnungen wie Gefährdungen der Zivilisation unberührtes Volk, dessen Hauptcharakteristikum, die Schlichtheit (>simplicitasbarbaries< oder eben als >castitas< bzw. >integritas morum< denotiert werden konnte.18 Immerhin war jedoch mit der Verbreitung der Germania ein grundlegendes Referenzdokument gewonnen, das dazu ermutigte, den Diskurs um das eigene Herkommen unter Hinzunahme weiterer Quellen (Caesar, Strabo, Pomponius Mela u. a.) zu einem konsistenten Mythos der deutschen Frühzeit zu verdichten, der nun wiederum als legitimatorisches Leitbild für die eigene Gegenwart instrumentalisiert werden konnte. Mit der Semantisierung der vaterländischen Historie, deren wichtigster Impresario Celtis wird, gewinnt schließlich das zunächst national-italienisch gemeinte Beschreibungsmodell einer >renovatio< auch für die deutschen Hu14 15
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Krapf: Germanenmythus, S. 4 9 - 6 8 . Eine Sammlung antiker (wie mittelalterlicher) Quellen zur deutschen Vergangenheit, die sich als Bausteine eines nationalen Mythos vereinigen ließen, bietet Borchardt: German antiquity, S. 1 7 7 - 2 4 7 ; Capelle: Das alte Germanien. Germ. 2,1: »Ipsos Germanos indígenas crediderim minimeque aliarum gentium adventibus et hospitiis mixtos«. Münkler/Grünberger: Nationale Identität, S. 2 2 0 - 2 2 5 . Dort S. 221 Anm. 8 mit weiterer Literatur. Ausführlich Münkler u. a.: Nationenbildung, S. 2 3 5 - 2 6 1 . Germ. 19,2: »Litterarum secreta viri pariter ac feminae ignorant«. Ridé: L'image du Germain, S. 1 4 0 - 1 4 9 faßt die wichtigsten Elemente des Taciteischen Germanenbildes zusammen. Die Illiteralität wird zum Signum der >Germania vetus< auch bei E n e a Silvio (Germ. 2,4 ed. Schmidt S. 48): »Nulla bonarum artium studia«. Zu dieser Ambivalenz siehe unten das Kapitel zu Am. 2,9. Krapf: Germanenmythus, S. 47 - 49 und S. 6 8 - 1 0 2 .
349 manisten an Attraktivität und wird neben dem weiterhin gepflegten >translatiostudia< in Deutschland an ein Geschichtsmodell riickbinden, so bot sich angesichts des Taciteischen Barbaren-Verdikts die These einer >translatio< an, die zwar - wie im Fall der Apollo-Ode der Ars versificando9 - eine vorausgehende Existenz kultureller Höhe in Deutschland implizit negierte, andererseits jedoch für den historischen Moment den Eintritt eines zivilisatorischen Aufschwungs proklamierte. Votierte man andererseits für eine bereits antike Kultur der >studia< in Germanien, so mußte man die Taciteischen Angaben insgesamt ausblenden und sich an alternative Berichte halten, aus denen sich - unter Zutat fiktionaler Elemente und mutwilliger Kombinatorik - Beweise einer bereits antiken Hochschätzung der Künste in Deutschland destillieren ließen. Diese Funktion sollte für Celtis und andere der Mythos einer philosophisch-religiösen Missionierung der >Germania vetus< durch die Druiden spielen, wie er vor allem in dem ethnographischen Gallier-Exkurs von Caesars De bello Gallico (sowie Plinius' d. Ä.) enthalten war. Prinzipiell standen sich diese Argumentationskomplexe, die beide an verschiedenen Punkten in Celtis' Werk begegnen, so alternativ wie unvereinbar gegenüber. Die Entscheidung für den einen oder anderen Beweisgang und damit auch für das eine oder andere Geschichtsmodell hing entscheidend von den rhetorischen Zielen ab, die man mit dem Rekurs auf die jeweilige Autorität verfolgte. Das historische Denken und Argumentieren der Humanisten erweist sich damit einmal mehr als Teil eines rhetorisch bestimmten Diskurses, der den Blick auf die Vergangenheit für je wechselnde Ziele in der Gegenwart in Anspruch nimmt. Mit dieser Voraussetzung wird zugleich die Inhomogenität verständlich, die einer nachträglichen Vermittlung der konträren Aussagen nicht nur in Celtis' Fall gegenübersteht. Humanistisches Argumentieren folgt seit Petrarca einer rhetorischen Logik, die sich dem Gebot des >aptumrelativen Wahrheiten< führt 20 . Freilich blieb die Autorität des Tacitus der entscheidende Bezugspunkt auch für rhetorische Volten aller Art. Wo man Argumente einer >laus Germaniae< aus Tacitus' Schrift gewinnen konnte, nutzte man diese, um sie im umgekehrten Fall durch die erwähnten Alternativautoritäten zu ersetzen. So bietet das Bild der frühen Tacitus-Rezeption ein buntes Mosaik in sich widerstreitender Thesen, die sich alle in der einen oder anderen Richtung auf die Schrift des Tacitus berufen konnten. Dies gilt zumal seit Enea Silvios eigener Germania, 19 20
Vgl. Kap. 2.6. Kessler: Petrarca und die Geschichte, S. 159-162.
350 einer »Tendenzsschrift«, 21 in der die >Germania nova< und ihre Blüte der von Tacitus gezeichneten, barbarischen >Germania vetus< gegenübergestellt wird.
6.1.2. Celtis, Tacitus und die Ziele der Germania
illustrata
Bei keinem Autor der Zeit um 1500 treten diese inneren Widersprüche der Tacitus-Rezeption so vielfältig zutage, wie dies in den verschiedenen Texten des Konrad Celtis zu beobachten ist. Überhaupt hat wohl kein anderer Humanist in ähnlicher Weise dazu beigetragen, den Diskurs um die deutsche Nation in alle Richtungen und unter Nutzung aller verfügbaren antiken wie neuzeitlichen Quellen auszudifferenzieren. Celtis war es auch, der die deutsche Tacitus-Rezeption maßgeblich initiierte, indem er nicht nur den bis dahin wenig beachteten Text in einer neuen Ausgabe zugänglich machte, sondern diesen auch im Hinblick auf das zeitgenössische Deutschland, die G e r mania novasilva Hercynia< und die Germania generalis - ergänzte. Beide sollten als Korrektiv und Supplement zur Germania des Tacitus vor allem den kulturellen Aufschwung betonen, den Deutschland in der Neuzeit vermeintlich genommen hatte. Ausdrücklich trägt daher die Germania generalis einen Titel, der sie als Gegenstück und >Ergänzung< der Taciteischen Schrift auswies.22 Beide Schriften, Norimberga wie Germania generalis, werden von Celtis als Vorstudien einer ausgedehnten Deutschlandbeschreibung bezeichnet, die sich im Titel - Germania illustrata - als Antwort auf Flavio Biondos Italia illustrata ankündigte. 23 Die Germania illustrata bleibt indes ein nur chimärenhaft greifbares Projekt, das, obwohl vielfach und noch auf dem Burgkmairschen Gedenkholzschnitt annonciert, keine konkreten Formen mehr annimmt. Rekonstruierbar sind immerhin aus den vollendeten Vorstufen, zu denen ausdrücklich auch die Amores gerechnet werden, thematischer Zuschnitt und methodische Grundprinzipien des Werkes, dessen Genese nur in engstem Zusammenhang mit der Rezeption der Taciteischen Germania (neben zeitgenössischen Dokumenten wie der Germania des Enea Silvio) zu denken ist.
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So Amelung: Bild des Deutschen, S. 59. »De situ et moribus Germaniae additiones. An: Cornelius Tacitus: D e origine et situ Germanorum [Wien: Johann Winterburger, zwischen 1498 und 1500] (Hain 15225); hier Fol. C r - [ C 4]v. Diese Fassung ist bereits ediert bei Adel: Opuscula, S. 55-64; jetzt maßgeblich die Ausgabe Müller: Germania generalis, S. 90-109; Forschungsbericht ebd.: Germania generalis, S. 3 - 8 . Italia illustrata. Verona: Boninus de Boninis, 7. Februar 1482 (GW 4423). Zur Italia illustrata Biondos grundlegend Clavuot: Italia illustrata. Der Forschungsstand zum Thema Germania illustrata ist zusammengefaßt bei Müller: Germania generalis, S. 7 - 1 4 .
351 Will man Celtis' innere Haltung zum Taciteischen Text insgesamt charakterisieren, so ergibt sich der Eindruck einer wechselseitigen Anziehung und Abstoßung, die sich in den Texten oft auf engstem Raum nebeneinander beobachten läßt. 24 Einerseits stellte das »Barbarenverdikt« eines der größten Hindernisse einer identifikatorischen Bezugnahme auf die >Germania vetus< dar. Andererseits wiederum lag mit der Germania erstmals eine Quelle vor, auf deren Grundlage wenigstens in ethnographischer und charakterologischer Hinsicht die Würde der Deutschen im Rückgriff auf die antiken Gegebenheiten zu begründen waren, hatte doch Tacitus neben der rustikalen Unverdorbenheit der Germanen auch deren Unbesiegbarkeit und physische Überlegenheit hervorgehoben. Celtis erklärt dabei den Mangel an Evidenz über die »Germanica virtus« zu einem Problem der literarischen Überlieferung, das zugleich die eigene Bedeutung als potentieller Herold nationaler Größe unterstreicht. Es habe nämlich, so Celtis in einer Elegie der Amores, nicht an ruhmreichen Taten der mittelalterlichen deutschen Kaiser bis zu Maximilian gefehlt, sondern lediglich an einem Dichter, der diesen als >dispensator gloriae< das gebührende Lob spenden konnte. 25 In der Ingolstädter Rede beklagt Celtis, daß trotz deutscher Kriegserfolge in allen Teilen Europas kein Dichter bzw. Historiograph auszumachen sei, >der die germanischen Heldentaten verewigegegen jedes Gesetz der Historiographie< den Deutschen ihren Ruhm bestritten, um desto überschwenglicher das eigene Lob zu intonieren. 26 Immerhin hatte Petrarca bereits definiert: »Quid est enim aliud omnis historia quam Romana laus?« 27 Was Celtis in der Ingolstädter Programmrede als Desiderat beschwört, ist eine Historiographie mit panegyrischen Zügen, die in der >praefatio< zum Amores-Druck nahezu wortgleich - nunmehr mit Rücksicht auf Maximilian - wiederkehren wird. 28 So übernimmt Celtis selbst mit dem
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Dazu unten Kap. 6.7. Am. 2,9,151f. Oratio 37. Celtis' Freund, der Sponheimer Abt Johannes Trithemius, hatte in einem Brief an Wimpfeling, der den eigenen Catalogus illustrium virorum einleitet, sogar behauptet, die Italiener hätten vorsätzlich antike historiographische Informationen über Deutschland (z.B. Plinius' Geschichte des Germanischen Krieges) unterdrückt, um so den eigenen Ruhm heller erstrahlen zu lassen (Opera I, ed. Freher S. 122; der Brief ist datiert auf 1496). Trithemius' Ziel ist es, eine panegyrische Geschichte der deutschen Gelehrtenrepublik zu schreiben, die Celtis' Appell zu historiographischer Bearbeitung der deutschen Vergangenheit in einem Teilbereich einlöst: »Denique multi sunt his temporibus eruditissimi viri, quorum memoriam posteris commendare pietatis est, et non minoris vtilitatis«. Vgl. auch praef. 10. Zum Projekt einer nationalen Gelehrtengeschichte Arnold: De viris illustribus. Wuttke: Humanismus, S. 400 Anm. 24 Rathmann: Nation und Geschichte, S. 270. Das Zitat stammt aus der Apologia tra cuiusdam anonymi Galli calumnias. Müller: Germania generalis, S. 224f.
con-
352 Großprojekt einer historiographisch-landeskundlichen Germania illustrata die in der oratio beschworene Rolle des Panegyrikers mit nationaler Mission. Historiographie wie Topographie, die beide als Ingredienzen einer zu schreibenden Landeskunde mit enkomiastischer Tendenz bereits in der Rede erscheinen, arbeiten einer Semantisierung der »Germania, ut hodie habitatur« zu. Topographie und Charakterologie sollen dabei den aktuellen Status der Germania in Anlehnung und Gegensatz zur >Germania vetus< erhellen, während die Historiographie das Dunkel einer ungeschriebenen nationalen Vorgeschichte beleuchten und der Nation die Würde einer antiken Abkunft verleihen konnte, die für das legitimatorische Denken um 1500 so zentral war. So hat die Germania illustrata in ihrer Verbindung von Historiographie und allgemeiner Landeskunde einen diachronen wie synchronen Bezug, die beide auf ihre Weise zu einer panegyrischen Affirmation des zeitgenössischen Deutschlands beizutragen hatten.29 6.1.3. Zum Verhältnis von Amores und Germania illustrata Seit Joachimsen ist immer wieder Celtis' zentrale Rolle bei der Ausbildung des nationalhumanistischen Paradigmas betont worden. Weithin offen geblieben ist jedoch dabei bis hin zu Müllers neuester Diskussion des Germania-illustrata-Pm]cktss die Frage nach dem Eigenstatus der Amores innerhalb des landeskundlichen Vorhabens. Die Rekonstruktion von Celtis' Plan hat dabei immer wieder von den einschlägigen Äußerungen der >praefatio< zum Druck von 1502 ihren Ausgang genommen, in denen Celtis die umfassendsten Hinweise zum Themenspektrum seiner Germania illustrata mitteilt.30 Als deren Vorstufe werden hier die Amores zusammen mit dem Erstdruck der Norimberga und einer Neuauflage der Germania generalis eingeführt. Indes zerfällt bereits die >praefatioNaturgefühl< abgehandelt von Bauer: Weltwahrnehmung, bes. S. 170-184 zu Celtis' Amores. Pyritz: Flemings Liebeslyrik, S. 233-261, die Wendung ebd. S. 233. Dies ist poetisch vorbereitet im Natureingang des »Poema ad Fridericum« der Ars versificandi. Dazu Kap. 2.3.2.
357 Es war um die Zeit, da sich Phoebus Apoll [sc. die Sonne; J. R.] im regenbringenden Süd erhebt und in seinem Glanz zum Sternbild von Phrixus' Schaf [sc. Widder; J. R.] eilt, da sich Jupiter dem mütterlichen Schoß der Jungfrau nähert, damit sie neuen Nachwachs hervorbingt, die Zeit also, da die ganze Welt im Frühling zur Reife heranwächst und die feuchte Erde ihren warmen Schoß eröffnet, Blumen hervorzubringen und Lilien auf Rosenfeldern oder das Laubdach mit schattenden Blättern zu decken. Nun drängt auch Amor zur Vereinigung, befeuert Cupido, sendet zu brennender Sonne lautlose Pfeile. Da fühlt' ich, Celtis, den Wunsch, fremde Länder zu besehen und kam unter unglücklichen Vorzeichen in östliche Gefilde.
So erfüllt die astronomische Umschreibung der Jahreszeit nicht nur ein Gebot des Ornats, wie es die epideiktische Theorie als Ausweis des >poeta doctus< erfordert. Celtis löst vielmehr zugleich den in der Vorrede entwickelten Programmpunkt ein, >die Jahreszeiten sowie die Veränderungen des Jahreslaufes entsprechend der Sternbilder an den Kardinalpunkten (d.h. die tropischen Sternbilder) am Himmel< zu beschreiben, jene vier Jahrezeiten also, die auch in der >Novenariumpoeta philosophusnährende< und gebärende Mutter Erde (v. 7: »Pariat flores«), in deren Aufgehen sich jene glückliche Konjunktion der Frühlingsgestirnung spiegelt, die astro-mythologisch als Vereinigung des Planeten >Jupiter< mit 49 50 51
Praef. 9. Dieselbe Umschreibung in epigr. 1,50,10. Die Verbindung von Jupiter und Virgo (v. 3) im Frühling bestimmt schon den Moment der Geburt des Dichters (Am. 1,1,26). Vgl. Ov. fast. 4,125. In der Überschrift zu Od. 1,9 (»Ad Salemnium Delium erotice in iucunditatem veris«) wird eine Verbindung von Frühling und Liebe formuliert, ohne daß freilich das Gedicht selbst auf beides Bezug nehmen würde. Sonst finden sich im ersten Buch der Oden offenbar keine Hinweise auf eine Situierung im Frühling. Od. 4,l,9f. führt die Ankunft der Venus und des Frühlings mit astrologischen Implikationen aus: »Sollicitatque suis stimulis Venus incitata ab astris,/ut prole terras impleat renata«.
358 dem Sternbild Jungfrau, mithin als heilige und >Götterhochzeit< im Sinn der Vorrede, 52 repräsentiert wird. 53 Die Semantik der Erneuerung (v. 4: »Novam prolem«; »novus mundus«) wie die erotische Untergrundmetaphorik (v. 6: »Solvit tepidos húmida terra sinus«) bereiten so den Stimmungsgrund für den Beginn der Liebe zu Hasilina, den der zweite Teil des Gedichts beschreibt: Wie die Natur >sich zur Zeugung bereit findet< (»pubescit«), so steht auch der Held noch in der »pubertas«, die im Titel des ersten Amores-Buches genannt ist.54 Es ist dies nicht der einzige Hinweis auf die Konstruiertheit der jahreszeitlich-biographischen Verschränkung. Nicht >Naturgefühl< äußert sich in solchen Szenerien; diese stellen vielmehr einen traditional verbürgten Zeichenraum dar, der mit Hilfe berechneter Versatzstücke und Modelle programmgemäß semantisiert wird.
6.2.3. Erotische Initiation. Literarische Modelle und Bezüge von Am. 1,3 Sieht man von einzelnen Versatzstücken ab, ist Celtis' kosmischer Natureingang ohne unmittelbares Vorbild in klassischer Dichtung. Entsprechendes findet sich jedoch in der zeitgenössischen Elegie, etwa einem Stück aus Cristoforo Landinos Zyklus Xandra (Elegie 1,3), dessen Frühjahrsbeschreibung der in Am. 1,3 hinsichtlich Motivausstattung und Funktion analog ist.55 Die Parallelen zu Celtis' Jahreszeitenbild erstrecken sich dabei nicht nur auf die stereotype Wendung, die den Zeitpunkt der Eroberung des Ichs charakterisiert (»tempus erat«); auch die Bezeichnung des Sonnenstandes kleidet sich in dieselbe mythologische Umschreibung (»Phrixei veliera signi«). Innerhalb der erotischen Elegie des italienischen Quattrocento ist Landinos Beispiel freilich nicht der einzige Beleg dafür, wie die >descriptio veris< einen naturhaft stilisierten Korrespondenzraum, eine >lyrische Landschaft für die erste Begegnung des elegischen Ichs mit der Geliebten eröffnet. 56 52 53
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Praef. 29. Hier liegt vielleicht ein Anklang an Lukrez' Tableau von Venus und Mars im genannten Eingangshymnus von De rerum natura vor. Die Konjunktion von Jupiter und Venus findet sich auch in Am. 2,5,77f. Demgegenüber nennt die entsprechende Kartusche des Titelblatts als Altersstufe die >adolescenciapubertas< als >prima aetas< konzipiert, etwa in Am. 4,6,27. In Am. 1,16,58, dem letzten Vers des ersten AmoresBuches, stellt Celtis fest: »Sic cedo primo laesus amore puer«; Am. 4,15,47f.: »Prima aetas puero fuerat mihi phlegmate piena,/Sanguineo subiit mox iuvenilis honos«. Landino: Xandra 1,3,19-26 (ed. Perosa S. 4): »Quin et tempus erat quo iam sub vere tepenti/pectora nostra soient igne calere n o v o / - aurea Phrixei nam tum per vellera signi/maxima lux mundi, sol agitabat equos - / c u m sua nascentes depingunt floribus herbae/prata, novis foliis cum viret omnis humus,/cum Veneris placidae stìmulìs excita volucris/demulcet querulis frondea rura sonis.« Strozzi: Eroticon 1,2,9-12 (ed. Arnaldi S. 252f.). Entsprechendes findet sich auch in Eroticon IV: »Laus Veris ad Sylviam« (Fol. 41r). Fraglos verdankt sich das Früh-
359 Signifikanter als diese Einzelnachweise ist allerdings die Funktion, in der solche Natur- und Jahreszeitentableaus im Verbund ihrer Zyklen erscheinen: Alle drei Elegien sind Varianten eines Typus< >elegisches Eröffnungsgedichtfoedus< geschildert bzw. rekapituliert wird. Schon die Titel der italienischen Texte unterstreichen dies ausdrücklich, 57 während Celtis das erotische Thema in der Überschrift der Elegie, wie so oft in der Vorrede, geflissentlich übergeht. Hinter den genannten Beispielen steht als Archetyp die Einleitungselegie zum ersten Elegienbuch des Properz, der Cynthia Monobiblos,58 in dem die Eroberung des Dichter-Liebhabers durch den Blick, die >Augen< der geliebten Cynthia geschildert wird. 59 Neben anderem ist bei Properz jene retrospektive Haltung angelegt, von der aus der Beginn der Liebe aus der zeitlichen Distanz rekapituliert und auf das gegenwärtige elegische >servitium< bzw. den >furor amoris< reflektiert wird. 60 Wie sehr Celtis im ganzen das Properzische Schema der erotischen Initiation samt der mit ihm verbundenen elegischen Lebens- und Gefühlswahl voraussetzt, wird vor allem am Ende der Elegie deutlich. Nachdem der Dichter auf seinem Weg Krakau erreicht hat, begegnet und verfällt er Hasilina, deren Augen ihn, wie bei Properz angelegt, >erobernservitium< aus der zeitlichen Distanz eines Jahres repräsentiert: Properz formuliert: »Et mihi iam toto fu-
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lingsthema hier dem Modell Petrarcas, dessen Liebe zu Laura im Canzoniere ebenfalls im Frühling, am Karfreitag (6. April) des Jahres 1327, beginnt (Canz. 9). Friedrich: Epochen, S. 192. Zu den »lyrischen Landschaften« von Petrarcas Sonetten ebd. S. 210-214. Stierle: Petrarcas Landschaften. Landino: »Quo tempore amore oppressus sit«; Strozzi: »Quod die solemni divi Georgii amare Anthiam coepit«. Verkannt von Lüh: Die unvollendete Werkausgabe, S. 385-387, der nur Ovid in Betracht zieht. Prop. 1,1,If. Scaliger wird im dritten Buch seiner Poetik die »commemoratio diei a quo initium amandi factum fuit, eiusdem laudatio aut exsecratio« als eines der Themen der Elegie bezeichnen (III Kap. 124 ed. Deitz S. 202). Am. 1,3,76: »Captus luminibus mox, Hasilina, tuis«; so auch Am. 2,3,2: »Felicem tumido captum in amore tuo«. So auch Am. 1,9,1: »Prima mei fueras, Hasilina o, causa doloris«. Vgl. Prop. 1,1,2: »Contactum nullis ante cupidinibus«; Landino: Xandra l,3,13f.: »Tu mea servitio pressisti colla nefando/ut primum dominae vidimus ora meae«. So auch bei Maximian, der aus dem Alter auf seine Jugend zurückschaut (El. 3,5-8): »Captus amore tuo demens, Aquilina, ferebar/Pallidus et tristis, captus amore tuo./Nondum quid sit amor uel quid Venus ignea noram,/Torquebar potius rusticitate mea«.
360 ror hic non deficit anno,«63 was Celtis der Sache nach exakt, freilich erneut in gelehrt-astrologischer Drapierung, wiederholt.64 Exponiert wird so, gleichfalls in Analogie zu Properz, die elegische Lebenswahl65 wie das Thema des elegischen >morbus amorispraefatio< im Stile einer apotreptischen Liebeskunst diskutiert hatte66 und den bereits Properz im ersten Gedicht seiner Monobiblos als Leitmotiv einsetzt.67 Zur Erklärung des eigenen >morbus amoris< werden bei Celtis zwei alternative Ursachen namhaft gemacht. Zunächst wird in gelehrt-mythologischer Allusion auf die Parzen verwiesen, »die solche Lebensfäden mir gewoben haben, daß sie mich zwingen, vor lauter Liebe dahinzusterben«.68 Wenn Celtis ferner seine Liebeskrankheit mit dem Pseudo-Terminus έρόνοσος bezeichnet, so soll dies, wie weiter oben gezeigt,69 den topischen >morbus amoris< der Liebesdichtung in einen medizinischen Diskurs transponieren, der den Anschluß an die zeitgenössische Iatromathematik herstellt. 6.2.4. »Ut patriae fines quattuor canas«. Apoll und die Exposition der Deutschlandbeschreibung Doch nicht nur die liebeselegische Schicht der Amores wird in Am. 1,3 exponiert. Auch die Deutschlandbeschreibung »secundum quattuor latera« wie insgesamt die erotische »peregrinatio« des Dichters wird von hier aus leitmotivisch für den gesamten Zyklus eröffnet. Unmittelbar im Anschluß an das einleitende Frühlingsbild schildert der Dichter, wie er in Sichtweite der polnischen (>Sarmatischenhöchsten Vater< um 63 64
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Prop. 1,1,7. Am. 1,3,91-94: »En semel obliquum lustravit Cynthius orbem/Duodeciesque tulit cornua plena soror,/Ex quo dura meas tenuisti tempore curas/Igneque non facili mollia corda coquis«. Umfassend Steidle: Lebenswahl. Am. 1,3,95-100. Prop. 1,1,6: »Furor hic«; 1,1,25: »Non sani pectoris auxilia«. Auch dies kann Celtis der bereits zitierten Elegie aus Strozzis Eroticon entnehmen (1,2,43): »At mihi si legem Parcae imposuistis amandi«. Die Idee einer astrologischen Determination der eigenen >miseria< geht wesentlich auf Ovids Exilgedichte zurück; z. B. trist. 5,3,271; pont. l,8,64f. Der antizipierte Tod des Liebhabers infolge einer verzehrenden Liebe gehört zur eisernen Topik der Liebesdichtung. Prop. 2,1,47: »Laus in amore mori«; Ον. Am. 2,7,10; Ον. ars 1,372. Dazu vgl. eingehend oben Kap. 5.4.3. Bereits hier (v. 71-74) exponiert Celtis also das Thema der vier Himmelsrichtungen, für die vier Hauptwindrichtungen stehen. Die vier Winde bzw. Windrichtungen finden sich abgebildet auf dem Philosophia-Holzschnitt und werden aufgeführt in der >NovenariumVater der Dichten, sondern auch als Gott der Medizin figuriert und seinem bedrängten >vates< die >gewohnte Hilfe< zuteil werden läßt. Ermunternd spricht er den Dichter an: »Surge!« - ait, - »et priscum capiant tua membra vigorem, Ut patriae fines quattuor ipse canas, Turgidus Eois quam claudit Vistula ab oris, Sed latus austrinum maximus Hister habet, Rhenus ab occiduis limes sed dicitur oris Et boreae partem gens Codonea tenet. Hinc quicquid mediis Germania continet oris, Carmine Phoebeo nota sub orbe dabis. Sed patiens varias tolerabis, Celtis, aerumnas, Orbe decennalis dum peregrinus eris. Magna venit nulli sine magno fama labore Et vaga sudorem gloria semper habet«.
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»Auf nun«, sprach er zu mir, »dein Leib komme wieder zu Kräften, damit du alle vier Grenzregionen deiner Heimat besingen kannst: die, welche die schwellende Weichsel von den Landen des Ostens trennt, die Südflanke, welche die mächtige Donau beherrscht. Der Rhein dagegen ist die Grenze nach Westen und den nördlichen Teil beherrscht das Volk an der Ostsee. Dann wirst du aber auch im Liede verkünden, was die Mitte Deutschlands bereithält. Geduldig wirst du dabei, mein Celtis, die verschiedenen Mühen ertragen auf deiner zehnjährigen Fahrt. Ruhmesfülle ward nie ohne große Müh einem Menschen und sich verbreitendes Lob ist noch stets mit Schweiß verbunden.
Die Worte Apolls fassen bündig jenes Anliegen der Deutschlandbeschreibung zusammen, das Celtis in der Vorrede zum Amores-Oxuc)/. hervorgehoben hatte.71 Deutlich zeichnet sich hier die Disposition des zeitgenössischen Deutschlands nach den vier Flanken, markiert durch die vier (von Ost nach West aufgeführten) natürlichen Grenzen Weichsel, Rhein und Ostsee sowie nach >ihren Binnenländern< ab, die bereits das Titelblatt des Druckes zeigt. Der Auftrag an den >poeta vatesdie Grenzen der Heimat zu besingenin der Welt bekannt zu machen< (v. 68). Dies gilt freilich vor allem für deren noch unbekannte und unbeschriebene Binnenlande um >jene Elbe, dieden Römern vor Zeiten noch unbekannt warzehnj ähriger Wanderschaft< und >geduldigem Ertragen mannigfacher Strapaz e n (v. 69) ab. Am. 1,3 inszeniert so die eigene Person als >peregrinator< und Herold eines poetischen Deutschlandbildes, der jene >unbekannten< Welten erst ausloten soll, die der antiken Topographie im Innern Deutschlands und jenseits des Elbflusses blinde Flecken geblieben waren. Die beiden komplementären Inhalte - liebeselegische Eröffnung und Berufung zur (poetischen) Landesbeschreibung - orientieren sich dabei an verschiedenen Modellen. Ein klassisches Vorbild liegt so auch der apollinischen Dichterweihe im Zentrum der Elegie zugrunde. Wie im »Poema ad Fridericum« der Ars versificandi gestaltet Celtis hier den in der Literatur der Augusteer verbreiteten Typus des >mahnenden Apollaerumnae< des Dichters, die sich offenbar zu gleichen Teilen den >Mühsalen< des Weges wie der erotischen Passion verdanken, 79 ihre biblische Entsprechung.
6.2.5. Celtis in Krakau. Elegische Vita und autobiographisches Konstrukt Solch elaborierte Kunststücke der Selbststilisierung lassen Zweifel aufkommen an jeglicher biographischer Wertigkeit der Begebenheiten, die den Beginn der Lebens- und Deutschlandfahrt unseres Dichters begleiten. Dessen Vita erscheint so vom ersten Moment an als Konstrukt und Inszenierung, als Selbstdarstellung im Gattungsbezirk der erotischen Elegie.80 Nur schwach wird die Elegie transparent auf das biographische Substrat von Celtis' ersten Krakauer Erlebnissen. 81 So bleiben die Motivationen, die zur sarmatischen 76 77
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Act. 9,3-6. Paulus referiert dies nochmals ebd. 22,6-16 und 26,12ff. Ebd. 9,4-7: »>Saul, Saul, quid me persequeris?Quis es, Domine?Ego sum Iesus, quem tu persequeris! Sed surge et ingredere civitatem. (vgl. Am. 1,3,75), et dicetur tibi quid te oporteat facereAerumnae< als Synonym elegischer >miseria< finden sich erwähnt in praef. 42; 3,5,57. In epigr. 5,1,5-8 (Ha: 5,1,1-4) sind es die Fährnisse der Dichterexistenz allgemein, die für solche Strapazen verantwortlich gemacht werden. Die Mühsal im Dienste der >studia< wird ebenfalls in oratio lOf. betont. Dazu zusammenhängend Kap. 7. Zu dieser biographischen Episode Kozietek: Konrad Celtis in Krakau; Grossing: Krakau.
364 Reise führen, ebenso vage wie jene biographische Spanne, die zwischen der Geburt von Am. 1,1 und der erotisch-patriotischen Berufung in Am. 1,3 liegt. Wenn der Autor sich in Am. 1,3,11 auf seine Augenlust und >curiositas< beruft, so appelliert er damit zwar an ein Motiv, das seit Petrarcas Besteigung des Mont Ventoux immer wieder vernehmbar wird. Im Kontext freilich erfüllt der sehr unspezifische Beweggrund der Neugierde auch die Funktion, dem ersten Buch und der Krakauer Episode einen markanten Einsatz zu verleihen. Was dieser als biographisch stilisierten Kehre und ihrer Inszenierung vorausliegt, ist als Vakuum der Liebe für den >Liebesroman< belanglos und findet allenfalls, wie schon bei den antiken Elegikern, in Sphragis oder biographischen Durchblicken seinen Niederschlag. Erst mit der erotischen Bindung an die Geliebte wird der Liebende zum Dichter,82 und so bezeichnet die Dauer der erotischen Existenz auch jenen Ausschnitt und Aspekt seiner Vita, der in der Dichtung zur Sprache kommen kann. Entsprechend vage bleibt daher das Vorher der erotischen Initiation, fehlt jede spezifische Motivation der >peregrinatiovirtus genialislocus a formalaus ab originelaus sui< instrumentalisiert, ermöglicht und inszeniert argumentativ eine >laus patriaevera nobilitasi 1 1 läßt so auf ein Bedürfnis gesellschaftlicher Anerkennung schließen, das sich an vielen Stellen Ausdruck schafft. In Am. 1,12 wählt Celtis freilich eine überraschende Ausflucht aus dem Dilemma der Herkunftslosigkeit, indem er kurzerhand eine eigene glänzende Herkunft hypostasiert. Das ist, im Lichte alternativer Aussagen im Werk, nur als Mystifikation aus rhetorischem wie psychologischem Bedürfnis zu deuten, wie es sich auch in der Celtis-Vita der Sodalitas Rhenana widerspiegelt. 112 In den Zusammenhang einer Erfindung der eigenen Herkunft gehört es auch, wenn Celtis in Am. 1,12 als Heimatstadt betont die >Metropole< Würzburg - nicht Wipfeld - angibt, liefert doch erst diese Korrektur den Anknüpfungspunkt für die etymologische Anbindung der eigenen Patria an eine griechische Urgeschichte des Herkynischen Waldes. 113
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uterque parens nam probitate fuit./Inclita quemque facit prestantem nobilitate/Virtus, et extollit, nec veterum soboles« (ed. Baron S. 37-40); vgl. Bebel: Apologia »Henrici Bebeiii contra Zoilum de stirpe sua« (in: Kühlmann: Humanistische Lyrik, S. 210-213); Landino: Xandra 24. Diese Diskussion schließt in ihrem Tenor an Juvenals achte Satire an, die mit der provokativen Frage: »Stemmata quid prosunt« einen Diskurs um die >vera nobilitas< eröffnet. Am. 2,8,671 Am. 4,15,451 Vgl. unten Kap. 7.2.2. Anm. 275. Am deutlichsten wird der Tenor dieses Arguments in oratio 261, wenn er die Schulung in den >studia humanitatis< gegen traditionelle Standesaktivitäten der Nobilität wie Jagd und Pferdehaltung setzt. Ebenso Am. 1,4,191 BW Nr. 339, S. 610: »Conradus Celtis Protucius, familia Celtica honesta et apud primores Franciae honorata«. Bemerkenswert ist daneben auch die von Celtis lancierte Behauptung einer Abstammung von den Kelten. So spricht die Vita von einer Herkunft aus einer »familia Celtica« und bezeichnet Franken in ähnlichem Redezusammenhang wie in Am. 1,12, als »patria Celtici poetae«. In der Sache ist dies eine klare Fiktion. Andererseits liegt in dieser Ableitung des eigenen Namens eine gleichsam potenzierte Mystifikation: Geht der lateinische Name allererst aus gelehrt-spitzfindiger Übertragung des volksprachlichen hervor, so wird jener in einem zweiten Schritt etymologisch als Toponym re-interpretiert. Worauf es auch hier anzukommen scheint, ist die enge Verbindung des Dichters mit seiner Herkunftsregion, sofern nicht an einen Zusammenhang mit den >keltischen< Druiden gedacht ist, der jedoch nicht expliziert wird. Zwar spricht etwa Caesar von den Druiden als >GalliernKelten< bezeichneten.
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6.3.1. >Έλληνικά ad patriam iam retulisse meamHerbipolisErabipulis< (hinter Blatt 286 in der deutschen Fassung), die vielleicht auf dieselbe Ableitung von >Erebos< zurückgeht. Die griechische Etymologie der lateinischen Bezeichnung Würzburgs fügt sich in eine Tendenz des Amores-Drucks ein, Celtis' Griechischkenntnisse durch Gräzisierungen vor allem in der Vorrede, den Amores und in der Norimberga deutlicher herauszustreichen. Dem dient auch der Abdruck des griechischen Alphabets im Anhang des Druckes. Entscheidend bleibt jedoch, daß die Gräzisierung im Fall der Etymologie Würzburgs eine präzise Funktion im Projekt einer Rekonstruktion der deutschen >origo< erhält. Solche sinnstiftende Namensableitung bzw. -Spekulation praktiziert Celtis auch andernorts, etwa im Fall des Namens seines Freundes Joannes Tolophus/Tolhopf (Nor. Kap. 3, S. 123), den er im Amores-Druck zu »Johannes θεωφιλος« gräzisiert, und dies gerade in einem Kapitel, das die Druiden-»coenobia« des Herkynischen Waldes behandelt. Etymologie von Nürnberg in BW Nr. 66, S. HOf.
371 die Griechen, näherhin deren Priester, die Druiden, auf ihrem Weg nach Frankreich überall in Franken bzw. im Gebiet des Herkynischen Waldes Tempel für den Erebos bzw. Dis errichtet, die Stadt Würzburg gegründet und dieser ihren aus dem Griechischen abgeleiteten Namen >Herbipolis< gegeben. Celtis geht freilich noch weiter und behauptet eine Kontinuität bis in die Gegenwart. Noch immer seien in Franken Spuren der antiken griechischen Kultur präsent: Hinc a Dite dabant urbi sua nomina Graeca, Graecorum linguam gensque hodierna tenet. Nam faciunt lingua Graecorum sacra quotannis Et templum Argolicis personat omne modis, Ante gradus cuius veterum simulacra deorum Palladis et Martis signa vetusta manent. Graecorumque gerunt priscas in corpore vestes.116
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Deshalb gaben sie ihrer Stadt nach dem >Dis< ihren griechischen Namen und noch heute bedient sich das Volk dort der griechischen Sprache. Denn einmal im Jahr hält man noch die Messe auf Griechisch und von argolischen Weisen hallt wieder das Gotteshaus, vor dessen Stufen noch heut' der alten Götter Athene und Mars antike Statuen zu sehen sind. Am Leib tragen sie die altehrwürdigen griechischen Kleider. Konsequent wird dabei der deutsche Name der Stadt, mithin die Ebene der Volkssprache, ausgespart und in einer Art Petitio principii das griechische Etymon des lateinischen >herbipolis< zum Beleg für eine antike Besiedlung und Kultivierung des Landes durch die Griechen angeführt. Dabei verbinden sich zeitgenössische Evidenz - der Brauch, bei der >Missa graeca< die Teile Gloria, Credo, Pater noster und Agnus Dei griechisch zu singen bzw. zu lesen 1 1 7 - und antiquarisches Wissen, das Celtis bevorzugt der Germania des Tacitus, aber auch Caesars De bello Gallico entnimmt, 1 1 8 zu einer Kulturent116
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Die Information, wonach sich vor den Kirchen Statuen antiker Gottheiten fänden, entnimmt Celtis aus Caes. Gall. 6,17: »Deorum maxime Mercurium colunt. Huius sunt plurima simulacra, hune omnium inventorem artium ferunt [...] post hune Apollinem et Martern et Iovem et Minervam«. Celtis nimmt die >interpretatio Romanas der Caesar in diesem Kapitel die germanischen Götter unterwirft, wörtlich und gewinnt daraus die Überzeugung, der Kult der klassisch-antiken Gottheiten sei bereits zur Zeit Caesars, wenn nicht bereits lange zuvor, im Bereich der >Hercynia silva< heimisch gewesen (vgl. Joachimsen: Geschichtsauffassung, S. 112 und S. 162). Gemeint ist die griechische Meßliturgie am Sonntag >QuadragesimaeCredo in unum deum patrem omnipotentem, poetam coeli et terrae««. Nach Germ. 3,3 sei Odysseus auf seinen Irrfahrten auch nach Deutschland gekommen und habe dort »Asciburgium« gegründet. Celtis' Hinweis, die Griechen seien »ad Rheni ripas« gezogen, findet sich in diesem Passus wieder. Die antiken Belege zur deutschen Frühgeschichte sind gesammelt bei Borchardt: German Antiquity, S. 177247.
372 stehungshypothese mit nationaler Tragweite. 119 Freilich deuten nurmehr Reste auf diese autochthone deutsch-griechische Kultur, die in einer Zwischenphase des Verfalls eine >mutatio< zum schlechteren hin vollzogen haben. Gründe hierfür seien nach Meinung des Dichters jene so oft als Erklärungsmodell bemühte >conversio siderum< (v. 49: »Quas partim refluo mutavit tempore caelum«), 120 aber auch Prasserei und Verbindungen mit Fremden (v. 50: »Peregrinus amor«). Vor allem letzteres Argument gewinnt Celtis unmittelbar aus Tacitus' Germania.121 So konstruiert Celtis aus Caesar- und Tacitus-Reminiszenzen ein Geschichtsmodell, das dem Dichter seine besondere Schwellen- und Mittlerfunktion anweist. Indem Celtis inmitten eines Landstrichs geboren wird, der noch immer von Zeichen und Namen griechischer Kultur durchsetzt ist, mithin >von griechischem Blut abstammte erscheint er wie niemand sonst prädestiniert, diese weithin verschüttete Kultur zu erneuern und >nunmehr Hellenisches in meine Heimat zurückzubrin-
6.3.2. Nationale Selbstbeschreibung zwischen >translatio< und >restitutio< Bemerkenswert an dieser Aussage ist weniger der emphatische Anspruch auf die Mittler- bzw. >translatortranslatio< vorausgeht, als >barbaries< und >tabula-rasa-Situation< charakterisiert, so wird dieses Vakuum einer deutschen Vorgeschichte nunmehr durch einen Kulturmythos gefüllt, der die Gegenwart über eine zwischenzeitliche Verfallsperiode an eine als erfüllt gedachte griechisch-antike Hochblüte anbindet, welche wiederum der italisch-italienischen Glanzzeit eine distinkte Stufe vorausgeht. Hält man sich dieses Grundschema vor Augen, so wird deutlich, wie Celtis an dieser Stelle das Progressionsmodell der
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Explizit abgelehnt wird Celtis' Etymologie dann von Sebastian Münster. Cosmographia. Basel: Heinrich Petri, März 1572, hier S. 804. Müller: Germania generalis, S. 415-417. Am vollständigsten in Nor. Kap. 9 S. 122: »Multa enim desiisse, quae hodie non sint (H: sunt), et multa renasci in rerum natura, quae olim non fuerint (H: fuerunt), nova coelestium corporum, si quid in mundo novum aliquid emergere potest, configuratione crediderim«. Nicht nur an dieser Stelle ist die Übereinstimmung zwischen Amores und Norimberga evident. Dies gilt auch für Am. 2,9. Tac. Germ. 4,1. Am. l,12,51f. Ähnliches formuliert die Celtis-Vita der Sodalitas Rhenana, die in vielen Zügen auf Celtis selbst zurückgehen dürfte (BW Nr. 339, S. 611): »Primus eloquentiam Romanam, quantum Germano homini concessum, cum rudimentis Graecae linguae in Germaniam retulit« (!).
373 >translatio< durch die zyklisch-triadische Denkfigur der >renovatio< ersetzt. 123 A n die Stelle einer erstmaligen, kulturstiftenden >invectio artium< tritt in Am. 1,12 deren Rückführung (»retulit«), die jedoch wiederum an die Person des Dichters gebunden wird. Zwischen beiden Modellen besteht, wie Worstbrock zu Recht betont hat, eine grundsätzliche strukturelle Differenz. 1 2 4 Dabei zeichnet sich präzise eine Grenzscheide zwischen beiden Stufen in Celtis' Werk ab, die durch die Rezeption der Taciteischen Germania bezeichnet ist. D e r nationale Diskurs konnte sich so um einen Kristallisationskern anreichern, indem die Taciteischen Materialien einerseits weiterkolportiert, andererseits im Hinblick auf die Gegenwart ergänzt oder modifiziert wurden. Erst durch diesen Katalysatoreffekt gewinnt die Frage nach der deutschen >origo< und >vetustas< ein konkretes Gerüst, wird die Renaissance-Idee für die deutschen Humanismen operabel. 125 Nur von einem solchen Modell aus findet die Gegenüberstellung von Einst und Jetzt, wie sie spätestens nach der Tacitus-Rezeption zur Topik des Diskurses um die nationale Vorzeit gehört, ihre Berechtigung. 126 Damit wird auch deutlich, wie variabel sich Celtis der konkurrierenden Modelle historischer Selbstbeschreibung bedienen konnte. Beide, >translatiorestitutiodes Cornelius TacitusHercynia silvac »Itaque ea quae fertilissima Germaniae sunt loca circum Hercyniam silvam, quam Eratostheni et quibusdam Graecis fama notam esse video«. Denkbar wäre auch, daß Celtis sich hier auf das Werk Strabos bezieht, den er im Passus um die >poetica theologia< (oratio 106) zitiert.
376 Schrift des Tacitus angespielt wird.139 Daraus ergibt sich der Befund, daß Celtis' Tacitus-Kenntnis mindestens in das Jahr 1492, wenn nicht sogar noch weiter zurückdatiert, da die Briefe der Jahre 1487-1491 im Briefwechsel ausgefallen sind. Ob Celtis indes die Germania um das Jahr 1491 im Zuge seiner Nürnberger Kontakte (Hartmann Schedel) oder womöglich bereits in Italien kennengelernt hatte, ist auf der Grundlage des Quellenmaterials heute nicht mehr zu eruieren. Es ist dies nun aber auch die Periode in Celtis' Schaffen, in der erstmals der Plan einer Germania illustrata greifbar wird.140 Zunächst, noch ohne Nennung des Projekttitels, an der oben zitierten Stelle der oratio, in der Celtis seinen Landsleuten ihr Desinteresse an der Erkundung und Beschreibung der Patria vorhält. Immerhin nennt Celtis dabei Komponenten der Nationalbeschreibung, die er später in der Vorrede zum Amores-Otuck unmittelbar auf die Germania illustrata anwendet.141 So ist das Projekt, das zunächst noch im engeren Sinne historisch orientiert scheint,142 zwar noch ohne Namen, in der Sache aber bereits 1492 konzipiert.143 Konkreter wurde es offenbar 1493 im Zuge von Celtis' Engagement für eine Überarbeitung der Schedeischen Weltchronik.144 Möglicherweise besteht auch ein Zusammenhang zu dem nie realisierten Vorhaben eines Archetypus triumphantis Romae, einer »Art humanistische Realenzyklopädie«,145 an der Celtis 1494 zusammen mit Sebald Schreyer und Peter Danhauser arbeitete.146 In dieselbe Zeit fällt nun auch die Arbeit an der Norimberga, die sich, wie erwähnt, schon im Titel in die Nachfolge des Tacitus stellt. Gleichzeitig enthält die Nürnberg-Monographie - und zwar schon in der Urfassung von 1495 - den ersten ausdrücklichen Hinweis auf das Projekt einer Germania illustrata.1*1 Läßt man, wofür manches spricht, die Datierung des Tolhopf-Briefes auf 1492 unangestastet, so wird die zeitliche Koinzidenz von Tacitus-Rezeption und Germania illusfrata-Plan deutlich. Erst in dem Augenblick, als Celtis mit der Germania ein 139
Zur Entstehung der oratio BW Nr. 2 0 - 2 2 . Zu Entstehung und Format der Germania illustrata mit den wichtigsten Stellen jetzt grundlegend Müller: Germania generalis, S. 441-483; vgl. Krapf: Germanenmythus, S. 99-102. 141 Oratio 31: »Moresque nostros, affectus et ánimos verbis tanquam picturis et lineamentis corporum expresserint«. Vgl. praef. 53: »Patriae suae linguae fines et términos gentiumque in ea diversos ritus, leges, linguas, religiones, habitum denique et affectiones corporumque varia lineamenta et figuras vident et observaverit. Iliaque omnia in illustrata Germania nostra, quae in manibus est, faventibus Germanis nostris numinibus et tuae inclitae maiestatis praesidio et auxilio quattuor Iibris, particularibus gentium tabulis explicemus«. 142 Vgl. Oratio 38. 143 Ridé: Germania illustrata, S. lOlf. 144 § 142f. Anm. 1; Rücker: Nürnberger Frühhumanisten. 145 BW Nr. 216 Anm. 1. 146 Grundlegend jetzt Schoch: Archetypus. 147 Nor. S. 105: »Editionem illustratae Germaniae, quae in manibus est«. 140
377 Dokument erhält, das Licht in die dunkle Vorgeschichte Deutschlands bringen kann, scheint auch die Deutschlandbeschreibung, das Vorhaben einer Germania illustrata, geboren. Läßt sich somit für Celtis' Zugang zur Germania allenfalls sichern, daß er offenbar bereits um das Jahr 1491 stattgefunden hat, so ist das Vorhaben einer Germania illustrata offenkundig in die Jahre 1492-1493 zu setzen. Der Titel des geplanten Werkes setzt andererseits die Kenntnis von Flavio Biondos Italia illustrata voraus, die Celtis offensichtlich in eben diesem Zeitraum kennengelernt hat. Die Norimberga wiederum stellt nach den Worten ihres Autors einen Probelauf für die geplante größere Arbeit dar. Daß Celtis dabei seine Germania illustrata als Supplement und Korrektiv der Taciteischen Monographie verstanden wissen möchte, geht aus verschiedenen Indizien hervor. So kennzeichnet er seine Germania generalis, die er dem Wiener Druck der Germania beifügt, im Titel ausdrücklich als »additiones« zum Werk des Tacitus.148 In derselben Weise wird das Werk auch von den Freunden und Sodalen rezipiert. Jakob Locher etwa weist auf die Ergänzungsbedürftigkeit der Schrift des Tacitus hin, während Celtis' eigene Germania dem >Nationalcharakter und der glänzenden Herkunft der Deutschem weitaus eher gerecht werde. 149 Hieronymus von Croaría würdigt Celtis nach Erhalt des Germania-Druckes dafür, daß er durch seine >Werke und Schriften die Germanen vor den anderen Nationen gegen das Verdikt barbarischer Sitten in Schutz zu nehmen versuche·«, womit nur das zweite Kapitel der Germania generalis (»De situ Germaniae et moribus«) gemeint sein kann. 150 Die Komposition des Germania-Omckcs versammelt auf diese Weise mit Norimberga und Germania generalis Texte, die Celtis ausdrücklich als Vor148
Adel: Opuscula, S. 55 (Überschrift): »Conradi Celtis de situ et moribus Germaniae additiones«. Zur Tacitus-Ausgabe vgl. BW Nr. 236-239. 149 Nr. 238, S. 397. »Accepi diebus quadragesimalibus, mi preceptor, Cornelii Taciti, viri clarissimi, D e origine et situ Germanorum libellum industria tua ac meraca emaculatione castigatum et distinctum, qui licet Romanum succum Plinianamque maiestatem aliquantisper sapiat et more veterum mores et nationes depingat, non tarnen satisfacere mihi videtur Germanorum moribus et clarissimo primordio, quod tu in Germania tua copiosius magnificentiusque facis«. Unklar bleibt an dieser Stelle, ob Jakob Locher unter der hier erwähnten Germania die mitgelieferte Germania generalis oder die geplante Germania illustrata versteht. Die Verwendung des Präsens (»facis«) scheint für ersteres zu sprechen, desgleichen die Würdigung der »glänzenden Anfänge< der Germanen, die auf das Demogorgonkapitel der Germania generalis anspielen könnte. Krapf: Germanenmythus, S. 100 scheint Lochers Aussage dagegen - ohne eine Diskussion der Frage zu bieten - auf die Germania illustrata zu beziehen, deren Entstehung er im folgenden kurz resümiert. In der Version des dritten Kapitels der Norimberga, die im Rahmen der Tacitus-Edition gedruckt wird, verwendet Celtis selbst für seine Deutschland-Monographie den Titel Germania·. »Ut sigillatim in Germania dicemus«. Nor. Kap. 3 S. 122 und S. 126 (nur in H); Adel: Opuscula, S. 70 und 71. 150 Nor. Kap. 1 S. 105: »Ingenii experimentum (Ed. 1: experientiam) ante editionem illustratae Germaniae, quae in manibus est«. Zitat in BW Nr. 237, S. 396.
378 lauf seiner Deutschlandbeschreibung verstanden wissen will.151 Auch im Amores-Omck erscheinen beide erneut vereinigt. All dies gibt nun auch einen Hinweis auf die relative Chronologie eines Textes wie Am. 1,12, der Inhalte und Themen einer Germania illustrata in elegischem Gewand vermittelt.152 Der Titel der Elegie benennt die Taciteische Programmatik von >origo et situsAntiquitas< meint dabei eben jene Taciteische Frage nach dem Ursprung der Germanen, die Celtis auf den Spuren der Germania mit der Würde einer antiken Vorgeschichte verbindet. Am. 1,12 und die verwandte Elegie Am. 2,9 weisen, wie die hier versammelten Aussagen zur germanischen Vorzeit belegen, auf den Kontext der Germania illustrata, insbesondere aber auf eine Schrift wie die Norimberga, die eine Vielzahl der nationalen Motive aus Am. 1,12 enthält und im Zusammenhang entfaltet.
6.4.
Archäologie einer Kulturnation. Druiden, Indigenität und die Frage der Herkunft
6.4.1. Der Druidenexkurs der
Norimberga
Dies trifft zunächst für das eigentümliche Thema der Druiden im antiken Deutschland zu, das Celtis (zusammen mit Trithemius) mit reichem Nachleben bis ins 17. Jahrhundert in den Diskurs um die kulturellen Wurzeln der Germania einführt.153 Folgt man den Angaben in Am. 1,12, so sind diese 151
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Germ. gen. praef. 7f. (nur im Nürnberger Druck): »Haec rogo pauca legas donee germania tota/Illustrata tibi Maximiliane detur«. Die Beiläufigkeit, mit der das gelehrte Wissen dem elegischen Grundtext beigegeben wird, kennzeichnet Celtis im Titel einzelner Stücke der Amores immer wieder mit dem Begriff >commemorare< (>erwähnenunter auswärtigen Göttern zu leiden hatteein einziger Gott war, von dem das Volk seinen Namen bekamPhilosophenbei den Galliern griechische Lebensart< bewahrt hätten. Ihr Namen leite sich von dem griechischen Wort für >Eiche< (δρυς, δρυός) her, da sich unter Eichen der Wille der Götter offenbare.155 Erst kürzlich, so Celtis weiter, habe er zusammen mit dem Freund Johannes Tolhopf (Tolophus) in einem Kloster (>coenobiumgriechischen< Druiden an die Migrationsbewegungen im Gefolge des Trojanischen Krieges, wie sie den Ausgangspunkt für zahlreiche genealogische Modelle darstellen, ist von Celtis ausdrücklich nicht vorgesehen. 164 Tac. Germ. 28,1: »Validiores olim Gallorum res fuisse summus auctorum divus Iulius tradit, eoque credibile est etiam Gallos in Germaniam transgressos«. 165 Vgl. Tac. ann. 14,30; hist. 4,54.
381 in Deutschland bezieht. So hatte Tacitus in seiner Schrift berichtet, man könne noch immer >Denkmäler und Gräber im Grenzgebiet zwischen Deutschland und Rätien, welche griechische Inschriften tragenGermaniatumuli< will er etwa in Trier gefunden haben. 167 Im übrigen aber stellt sich Celtis' Spurensuche, vor allem in dem zitierten Druidenkapitel der Norimberga, wiederum als Konstrukt und Petitio Principii dar, die eben das (die Existenz von Druiden in Deutschland) als gegeben voraussetzt, was sie zu beweisen angetreten war.
6.4.2. D i e D r u i d e n u n d das Ideal einer christlich-germanischen Religiosität Angesichts der evident rhetorischen Ziele solcher Ursprungsmythik verwundert kaum mehr die relative Vagheit und Inkonsistenz der historischen Zuordnungen zum Wirken der Druiden, wie sie sich an verschiedenen Stellen in Celtis' Schriften belegen läßt. 168 Diese resultiert einerseits aus dem Versuch, eine begrenzte Anzahl oft beiläufiger Einzelhinweise verschiedener antiker Quellen zu harmonisieren und die so gewonnene Autorität der >veteres< auf die zeitgenössische Evidenz der Denkmäler in Deutschland zu beziehen. Andererseits jedoch geht es Celtis eben nicht, wie später Peutinger und anderen, um eine Materialsammlung aus rein antiquarischem Interesse. Die humanistische Rekonstruktion der Vergangenheit zeigt sich von vornherein eingerückt in ein von rhetorischen Prämissen bestimmtes Argumentationssystem, in dem zu je verschiedenen Beweiszielen je spezifische Facetten aus dem verfügbaren Bild der eigenen Vergangenheit abgerufen werden können. Welche Schwankungen sich dabei in Denotationen bedeutsamer Begriffsfelder, etwa der These germanischer >simplicitas< in Am. 2,9 oder Od. 4,4, ergeben, wird weiter unten zu zeigen sein. 169 Celtis' Spekulationen über die Wirksamkeit der Druiden sind zutiefst in der Gegenwart des Schreiben166
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Germ. 3,3. Natürlich paßt diese geographische Situierung wiederum nicht in Celtis' Diskurs um den Herkynischen Wald. In Am. 3,13,83f.: »Vidimus hic Grais έπιγράμματα multa lituris/Multa Mosellanis castraque celsa iugis«. Vgl. Od. 3,26,17. Weiteres bei Lüh: Die unvollendete Werkausgabe, S. 410f. Anm. 35. Zusammenfassend, jedoch mit entgegengesetzter Tendenz Müller: Germania generalis, S. 418-424. Kap. 6.7.
382 den und seinen Zielen verwurzelt. Die gallisch-griechischen Priester stehen im Zentrum einer Kulturentstehungslehre mit nationalen Vorzeichen, die vor allem das allgegenwärtige Barbarenverdikt entkräften soll. Vor diesem Hintergrund enthüllen sich Celtis' Aussagen als Rückprojektion zeitgenössischer Ideale, denen so historische Tiefe und Genealogie verliehen werden soll. In diesem Sinne versucht Celtis, die Druiden als Mittlerfiguren und Schaltstellen zwischen antiker Natur- und Arkanphilosophie (unter Einschluß der Magie)170 und Christentum bzw. christlicher Theologie zu (re-) konstruieren. Ausdrücklich werden sie in der Norimberga als »genus illud philosophorum« angesprochen, womit neben einer Aussage Strabos171 vor allem der Bericht in Caesars De bello Gallico konsequent zu Ende gedacht wird. Die Druiden figurieren hier als Vertreter einer pythagoreisierenden Philosophie der Seelenwanderung,172 vor allem aber als φυσιολόγοι, die sich mit Fragen der Naturphilosophie im allgemeinen (Astronomie bzw. Astrologie, Geographie, aber auch der Theologie) beschäftigen und ihr Wissen an die Jugend weitergeben.173 Vor allem die Vermittlung von paganem Weltwissen und wahrer christlicher Lehre mußte Celtis' Argumentationszielen wie seinem eigenen Ideal einer universellen Philosophie gelegen kommen. Nimmt man hinzu, daß die Druiden nach einer Überlieferung in der Naturgeschichte des Plinius auch als Dichter-Seher bezeichnet werden, die ihr Wissen in Form von rituellen Liedern174 bzw. Lehrdichtungen überliefert haben sollen,175 so zeichnet sich ab, wie Celtis in seinem Entwurf einer griechischgermanischen Priesterkaste vor allem sein eigenes Ideal retrospektiv und unter Ausschluß kritischer Elemente176 in den antiken Zeugnissen entwickelt. Zunehmend wird dabei die Bemühung erkennbar, die synkretistische Schwellenposition druidischer Weisheit und Wirksamkeit eigens hervorzuheben. So stellt Celtis erst in der Version des Amores-Omcks von 1502 im
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Nach Plin. nat. 16,249. Strabo Geogr. 4,4,4. Kendrick: Druids, S. 1 0 4 - 1 1 0 . Gall. 6,14,5f.: »In primis hoc volunt persuadere non interire animas, sed ab aliis post mortem transiré ad alios, atque hoc maxime ad virtutem excitari putant metu mortis neglecto. multa praeterea de sideribus atque eorum motu, de mundi ac terrarum magnitudine, de rerum natura, de deorum immortalium vi ac potestate disputant et iuventuti tradunt«. Ähnlich Pomponius Mela 3,19: »Hi (sc. druidae) terrae mundique magnitudinem et formam, motus caeli ac siderum, et quid dii velini scire profitentur«. Als >φυσικοίφυσιολόγοι< werden die Druiden bei Cie. div. 1,90 bezeichnet. Mit Physiologie und Theologie sind die beiden Bereiche erfaßt, die auf dem Philosophia-Holzschnitt als Ausgangspunkt und Ziel des auf der Schleppe der >Philosophia< angedeuteten Bildungskursus erscheinen. Am. 2,9,1371 Plin. nat. 30,13. Diese Information findet sich zuerst bei Strabo 4,4. Kendrick: Druids, S. 84. Hinweise auf Auswüchse der Druidenreligion beziehen sich auf die immer wieder erwähnten Menschenopfer. Caes. Gall. 6,16; Luc. 1,444; Tac. Ann. 14,30.
383
relevanten Norimberga-Kapitei eine Verbindung zwischen den göttlichen Eichen als Orakelsitz und der biblischen Eiche Abrahams und Gideons her. 177 Ex post erweisen sich in dieser archäologischen Konstruktion griechisch-germanische und christliche Philosophie und Theologie als ursprünglich wesensidentisch. Die Druiden sind demnach Garanten eines Wissens um die ersten Ursachen, wie sie andererseits den christlichen Glauben auslegenDruide< Trithemius und ein nationaler Kulturentstehungsmythos (Od. 3,28) Am sinnfälligsten lassen sich diese aktuellen Anliegen der Druidenkonstruktion in Celtis' Ode an Johannes Trithemius ablesen (Od. 3,28). Bereits die Überschrift des Gedichts stimmt auf die Linie ein, die im folgenden eingeschlagen wird. Trithemius, der Sponheimer Abt,181 wird von Celtis nicht nur an dieser Stelle als »druida« bezeichnet und so in eine illustre Tradition gestellt.182 Der Text gewährt damit zugleich Aufschluß darüber, welche Erwartungen und Projektionen sich für Celtis an seine gelehrte Rekonstruktion druidischer Wirksamkeit in Deutschland knüpfen. Trithemius wird zum Muster einer Priestergilde, in der sich christliche Religiosität und pagane erste Philosophie als ursprünglich vereint denken ließen. Auch diese gelehrte Spekulation vollzieht sich indes nicht in einem abstrakten Raum der Theorie, sondern ist eingelassen in die panegyrische Form der Freundschaftsode, die der geläufigen, auch von Celtis tradierten Topik der Lobrede folgt.183 Mit Nachdruck wird dies in der Mitte der Ode hervorgehoben, wenn der Dichter als deren Intention die >laudes< seines Freundes angibt.184 Diese dient zugleich als Kristallisationspunkt einer panegyrischen Rekonstruktion antikgermanischer Zivilisation, an deren Ende Deutschland - genauer: das Einzugsgebiet des Herkynischen Waldes - kulturell Italien wie Frankreich gleichgestellt wird.185 Der Eingang preist jene Männer in Deutschland, die sich der bibliophilen Pflege alter, vom Staub der Jahre bedeckter Wissensschätze widmen.186 Unter diese reiht Celtis auch Trithemius ein, den die Musen mit zahlreichen 181
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Zu seiner Person grundlegend Arnold: Trithemius. Celtis lernt Trithemius offenbar zwischen Mai und Juni 1494 kennen. Terminus post quem ist der 11. Mai 1494, wie aus einem Brief des Erasmus Australis hervorgeht, in dem vorausgesetzt ist, daß Celtis den Abt noch nicht persönlich kennt (BW Nr. 74, S. 123). In einem Brief des Rutgerus Sicamber an Celtis (BW Nr. 78, S. 130) betont dieser Celtis' Freundschaft mit Trithemius (»te, qui in amicitia eius es receptus«). Der erste erhaltene Brief des Trithemius an Celtis datiert vom 11. April 1495 (BW Nr. 88). Trithemius selbst bezeichnet sich ebenfalls geläufig als >Druidenloci< mit der Zusammenstellung der >loci laudis< in der Epitoma ( A 5 v - [ A 7]v). Hier ließe sich bis ins Detail nachweisen, wie eng sich Celtis in der Struktur seiner Oden an Schemata des Personenlobs anlehnt. Eine solche systematische, auf das rhetorische Substrat hinweisende Untersuchung zu Celtis' Odenwerk steht bislang aus. Im Hinblick auf Horaz vgl. Gall: Struktur. Od. 3,28,46-48. Dieses Lob fordert zwingend das >genus grande< heraus, wie Celtis eingangs betont (v. lf.): »Maiore flatu tendite tibias,/Dulces Camenae«. So auch in der Ode an Johann von Dalberg (Od. 3,1,2). Ebd. v. 81-84: »Coepere pulchris condere legibus./Sic nostra crevit pars Alemanica, /Ut Italis et Gallicanis/Ingeniise modo par resurgat«. Ganz analog epigr. 3,27-30.
385 >munera< ausgestattet hätten. Was folgt, ist eine Serie von Topoi >a scientiaGeheimnissenalter pythagoreischer Art< von Fisch, Kohl und Kraut lebe. 189 Eine solch unprätentiöse Ernährung entspreche zugleich den Gewohnheiten der (deutschen) Vorväter, die ohne exotische Kräuter, Gewürze und Medizin ausgekommen seien. Dies gelte auch deshalb, weil erst in jüngerer Zeit ausschweifender Lebenswandel und Völlerei die körperliche Konstitution der Germanen geschwächt habe. 190 Worauf diese Schilderung von Trithemius' Lebensweise abzielt, wird bereits aus der kurzen Zusammenfassung der Argumente deutlich. In Celtis' panegyrischer Ode erscheint der Abt als Erneuerer antik-germanischer Tradition, von Lehre und Lebensform der Druiden. Mehr als einmal wird in der Ode das Element der Erneuerung und Wiederaufnahme (v. 21f.: »κοινόβιον suum/restaurat«) betont, an mehreren Stellen auch die intendierte Entsprechung zur Praxis der germanischen Vorfahren. Trithemius' Lebensweise ist nicht nur >pythagoreischWiedergeburt< bzw. >Wiedererweckung< einer zwischenzeitlich in Vergessenheit gesunkenen, protogermanischen Zivilisation, deren Elemente wie >in Staub begrabene Bücher< (v. 5f.), obsolete Lebensformen und philosophisch-theologisches Arkanwissen erst wieder rückgewonnen werden müssen. Dem Geschichtsmodell des >renasci< entspricht es daher, wenn Celtis die zeitgenössische Gegenwart und unmittelbare Vergangenheit als Periode
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Od. 3,28,15f.: »Et quicquid arcanum vetustis/Carmina concinuere libris«. V. 2 1 - 2 4 : »Hic liberalis κοινόβιον suum/Restaurat ornans omne latus sacrum/Cum versibus Graecis, Latinis,/Cum Solymis pariter figuris«. Diese >vita Pythagorica< nimmt natürlich Caesars >interpretatio Romana< des druidischen Seelenwanderungsglaubens in Gall. 6,14,5 auf. An dieser Stelle liegt die Verbindung zur Synkrisis nationaler Vergangenheit und Gegenwart, wie sie Am. 2,9 bietet. So kehrt dort auch die frugale Ernährung als Signum altgermanischer Lebensweise wieder (Am. 2,9,73f.): »Arborei fetus et agrestia muñera caules/et rapum teneris faucibus esca fuit«. Demgegenüber habe es an auswärtigen Verlockungen völlig gefehlt (ebd. v. 115f.): »Zingiber et crudum piper et crocus et cinamonum/instrumenta gulae fugerant ora ducum«. Vgl. unten Kap. 6.7.2.
386 der Dekadenz in moralischer wie auch physiologischer Hinsicht betrachtet. 191 Die vertraute Dialektik von Einst und Jetzt ist so in verschiedenen Schichten in der Ode präsent. Dies bedeutet jedoch gleichzeitig, daß es keine eigentliche Kontinuität in der von den Druiden nach Deutschland verpflanzten Kultur in diesem Raum geben kann. So finden sich zwar verschiedentlich Relikte druidischer Wirksamkeit, etwa das von Celtis und Tolhopf beschriebene >coenobium< im Fichtelgebirge. 192 Eine lebendige Fortführung der alten Wissensgehalte und Lebensformen sieht Celtis jedoch nicht gewährleistet, so daß es erst deren Restitution durch Trithemius bedarf, um an Vätersitte und vergessenes Geheimwissen anknüpfen zu können. Betont wird allerdings von Celtis die >liberalitas< des Sponheimer Abts, der als stets gastfreundlicher Mittelpunkt eines Kreises von Sodalen eingeführt wird. Nicht das neuerliche Verfügen über antikes Arkanwissen allein, sondern allererst die Stiftung einer sympotischen Gemeinschaft unter Gleichgesinnten prädestiniert Trithemius zum Kontinuator druidischer Tradition. So werden im Rahmen von Trithemius' >convivia< nicht nur antike Bücher in den drei Bildungssprachen diskutiert, sondern auch >all das, was die Druiden aus Gallien nach Deutschland brachtentranslatio artium< bzw. >sapientiae< als eines räumlichen Transfers aufgreifenden Kulturentstehungsmythos mit nationalen Signaturen. Wie die mythischen Sänger Orpheus, Amphion und Linus durch ihren Gesang die griechischen Städte und Gemeinschaften allererst geschaffen hätten, so hätten auch die Druiden inmitten des Herkynischen Waldes die unkultivierte, noch nicht seßhafte Bevölkerung zu Siedlungen vereint und in Kulturtechniken wie Ackerbau unterwiesen. 193 191
V. 28ff. Erst durch die Verweichlichung und Luxus hätten Krankheiten Einzug gehalten, »quae nunc molestant corpora morbida«. Immer wieder verweist Celtis dagegen auf den kraftvollen Wuchs der Germanen, wobei zwischen antikem und modernem Befund nicht durchgehend differenziert wird. Stellen bei Sponagel: Nationalbewußtsein, S. 25-27. So spricht Celtis in Germ. gen. 6 6 - 6 8 von der kraftvollen Physis der Germanen, meint dabei freilich dezidiert die gegenwärtigen: »Pectoribus similes ingentes corporis artus,/prodiga cui natura dedit per lactea colla/candida proceris tollentes corpora membris«. Dies zeigt einmal mehr die Kontextgebundenheit von Celtis' Aussagen, die im einen Fall (Am. 2,9) zu paränetischen Zwecken den Aspekt der Dekadenz, im anderen Fall für nationalpropagandistische Ziele die >laus Germanorum< antiker Quellen entsprechend übernehmen. Der Topos findet sich etwa bei Caes. Gall. 4,1,9, des weiteren Tac. Germ. 4,2 und Mela 3,3,26. Das Thema der zeitgenössischen moralischen Dekadenz mit den üblichen Topoi auch in Od. 3,4. Die Vorstellung einer physiologischen Dekadenz hat ihren klassischen Ort in Lukrez' Wort von der >erschöpften< Erde, die nur mehr schwächliche Wesen hervorbringe (2,1150-1152; 5,826f.).
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Nor. S. 123. Celtis paraphrasiert hier die Beschreibung, die Enea Silvio in seiner Germania (Germ. 2,4 ed. Schmidt S. 47) von den Bewohnern der >Germania vetus< gibt: »Parum quidem ea tempestate a feritate brutorum maiorum tuorum vita distabat: Erant
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387 Dieser Rückgriff auf die mythischen Sängerfiguren der Antike verweist auf die Intentionen, die Celtis mit dem Druidenkonstrukt verbindet. Das Tertium zwischen beiden ist das im Sinne der Gemeinschaftsbildung operationalisierbare, wirkende Wort einer Gruppe von Kulturstiftern, die durch ihr Wissen den Weg von der >barbaries< in zivilisierte Kulturstufen weisen. Wie die antiken Lyriker mit ihrem Gesang, so versammeln die Druiden das »silvestre vulgus« durch ihre gefälligen Worte. 194 Aktualisiert werden hier Topoi einer für den humanistischen Sprachdiskurs geläufigen >laus eloquentiaeeloquentia< und ihren Vertretern eine Schlüsselfunktion im Prozeß der Konstitution und Erhaltung von Gesellschaft zugeschrieben wird. Es war dies bereits der Tenor, den Celtis dem Orpheus- und Amphionmythos in der Ars versificarteli gegenüber dem Mäzen Friedrich von Sachsen verliehen hatte. Bereits hier erschien der Mythos der antiken Sänger als Allegorie auf die gemeinschaftsstiftende, zivilisatorische Kraft des wirkenden Wortes. 195 Dabei kommt wenig darauf an, aus welchen antiken und zeitgenössischen Quellen Celtis dieses Standardargument einer >laus eloquentiae< im einzelnen kombiniert hat. 196 Entscheidend ist vielmehr, daß im Wirken der Druiden das Ideal einer Verbindung von gelebter Weisheit und Redekunst konkrete, historische Gestalt und Beispielfunktion für die Gegenwart annimmt. 197 D i e Druiden sind in der Vorgeschichte der eigenen Nation
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enim plerumque pastores, silvarum incole ac nemorum [...] . Nec munite his urbes erant ñeque oppida muro cincta«. Der Passus greift vor allem den Orpheus-Mythos in der Fassung des Horaz auf (ars 391-396). Dabei werden Leistungen, die dort dem Orpheus zugeschrieben sind, nunmehr auf die Druiden übertragen. Neben Gemeinschaftsbildung und Kultivierung ist dies auch die Rolle als Priester und Vermittler der Götter (391f.: »Sacer interpresque deorum [...] Orpheus«). Ars Fol. C lv. Vgl. Kap. 2.4. An erster Stelle dürfte dabei das Proöm von Ciceros Traktat De inventione stehen, den Celtis in seiner Epitoma verwertet. Dort schildert Cicero in groben Zügen das Bild einer Kulturentstehung durch eine der >sapientia< verpflichtete >eloquentiamagus< Trithemius198 wird zur Emblemfigur einer >conspiratio in unumtranslatio< bezeichnet (v. 55f.: »quicquid a Gallis in oras/Teutonicas druidae intulere«). Als weitere, nunmehr historisch anhand der Quellen fixierbare Instanzen der Kulturexpansion treten sie zwischen die mythischen Dichterarchegeten der Antike und die eigene Gegenwart, die sich in ihnen typologisch wie genealogisch präfiguriert sieht. Andererseits war es vor allem der in den antiken Berichten enthaltene Grundzug einer okkulten ersten Philosophie, der auf Celtis und seinen Umkreis besondere Anziehungskraft ausüben mußte, blieb doch hier das profane Volk, auch im Sinne ritueller Geheimhaltung, außen vor. 204 In Am. 3,9, einer Elegie aus dem >rheinischen< Buch der Amores, sucht Celtis die Unwissenheit der Nonnen in den heiligen Sprachen durch Bedenken der Druiden, d.h. der Mönche, zu erklären, die Geheimnisse der Bibel könnten einem profanen Volk bekannt gemacht oder zu magischen Praktiken mißbraucht werden. 205 Popularisierung der >studia< und Beseitigung der >barbaries< sind daher zwar erklärte Ziele, gefährden jedoch andererseits das auszeichnende Privileg einer alleinigen Verfügungs- und Zugangsgewalt über die Inhalte der Bildung. Zwischen beiden Tendenzen vollzieht sich so eine oszillierende Bewegung, die auf eine Aporie des humanistischen Bildungswissens und seiner möglichen Diffusion verweist. Nirgends ist diese Ambivalenz zwischen Missionierungseifer und Unbehagen gegenüber einer Profanierung des Arkanen eindrücklicher zu verfolgen als in dem besagten Text Am. 3,9, der im Rahmen weniger Verse unentschieden zwischen beiden Extrempositionen schwankt. So unterliegt auch der Buchdruck einer ambivalenten Bewertung: Einerseits Instrument einer weiteren Verbreitung der >studiaalles liegt nun beim Drucker, nichts auf der Welt ist mehr verborgen^ 206 203 204
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Caes. Gall. 6,14. So schon oratio 80. Der integumentalen Deutung entspricht hier soziologisch der Rückzug auf den Zirkel der Wenigen, die sich den Zugang zur geheimen, jedoch verhüllten Wahrheit teilen. A m . 3,9,23-26; ebenso Am. 3,10,65f. A m . 3,9,33. Sogar innerhalb der Verse changiert die Einschätzung der schwarzen Kunst zwischen beiden Polen (v. 31 - 3 4 ) : »Sed nunc Germanis tot pressa Volumina terris/Ut scateat libris quaeque taberna sacris./Omnia pressor habet; nil nunc absconditum in orbe est/cunctaque sub lucem iam rediere novam«. Uneingeschränkt
390 Ihren konkreten Widerhall finden die arkanphilosophischen Inhalte druidischen Wissens in jenem intellektuellen Umfeld, das Celtis innerhalb der Sodalitas Rhenana kennenlernt. Eine wichtige Rolle spielen dabei vor allem Reuchlin und der >Druide< Trithemius, die Celtis mit pythagoreischen Spekulationen in Berührung bringen, wie sie der zuerst Genannte in seinem 1494 erschienenen Dialog De verbo mirifico verarbeitet hatte und wie sie auch den >Magier< Trithemius immer wieder beschäftigten. 207 So dürfte es vor allem diese Inspiration an Reuchlins Spekulation um die pythagoreische Tetraktys gewesen sein, die Celtis zu einer philosophisch-pythagoreischen Überhöhung der seit 1494 abgeschlossenen Amores veranlaßt hat. 208 Wie an anderer Stelle zu zeigen war, verdankt sich das Zitat aus Pseudo-Dionysius Areopagita, das sich vor dem Kolophon des Amores-Drucks findet, 209 offenkundig neben Ficinos De amore auch der gelehrten Diskussion mit Trithemius, der eine Übersetzung der Werke des Areopagiten aus dem Urtext in Angriff genommen hatte. Überhaupt verbindet sich für Celtis und seine rheinischen Sodalen mit dem Hebräischen wie auch dem Griechischen die Konnotation des Arkanen und Hieroglyphischen, das schon durch die äußeren >figurae< profanierendem Zugriff entzogen ist. Auch dies entspricht etwa Reuchlins Umgang mit dem Hebräischen in De verbo mirifico. Es ist dies der biographische und bildungssoziologische Kontext, vor dem Celtis' Entfaltung des Druidenmythos in der Ode an Trithemius zu sehen ist. Dieser erfüllt demnach grundsätzlich zwei komplementäre Funktionen: Zunächst ist er vor der Folie einer >aemulatio Italorum< zu sehen, die in Celtis' vaterländischen Interessen der neunziger Jahre auf eine neue Stufe gehoben wird. 210 War der Rückstand Deutschlands gegenüber den Italienern in der Ars versificandi noch fraglos hingenommen worden, so eröffnete sich im Zuge der Erschließung antiker Quellen die Option, aus diesen eine nationale Vergangenheit zu rekonstruieren, mit der eine italienische Vermittlungsstufe - gar unter entscheidender Mithilfe der >sedes apostolicaGermania vetus< behauptet hatte. 212 Der Import von >sapientia< und >eloquentia< durch die vermeintlich hellenischen Druiden band die Kultivierung Deutschlands unmittelbar an die Griechen zurück, so daß Celtis am Ende seines Druidenexkurses in der Norimberga ausrufen kann: Magna profecto Graecis nunc et sempiterno a nobis gratia habenda est, qui populum olim efferum et quem nulla arma domare unquam potuerunt, hunc illi religione et vitae sanctitate ad mitiora studia et ingenia converterunt. Großen Dank sind wir in der Tat jetzt und in der Zukunft den Griechen schuldig, die ein einstmals wildes Volk, das nie durch Waffengewalt zu bezwingen war, durch religiöse und untadlige Haltung zu zivilisierter Lebensführung und Geistesart bekehrt haben. 213 Mit der Dignität einer zivilisierten antiken Vorgeschichte ausgestattet tritt Deutschland ebenbürtig den Italienern zur Seite, deren Kultur ihrerseits erst durch >invectio< von den Griechen gestiftet war. Der Druidenmythos nivelliert auf diese Weise nicht nur die Abhängigkeitsverhältnisse, sondern auch den Zeitpunkt des Zivilisationssprunges, der für Italien wie Germanien schon als antik angenommen wird. D o c h diese polemische und national-propagandistische Funktion erklärt nur eine Seite des Mythos und seiner Attraktivität. Die andere ist in der beschriebenen Projektionsfunktion zu suchen, welche Celtis und seine Gesinnungsgenossen in der keltisch-griechischen Priesterkaste erkennen. D i e Druiden sind als umfassende Mittlerfiguren und >translatores< als Widerspiegelung dessen entworfen, worin man die ideale Rolle der eigenen Sozietät
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Eine vergleichbare Abtrennung der Christianisierung Deutschlands vom Wirken der römischen Kirche intendiert Wimpfeling in seiner Epitome Germanorum wie auch in seiner Schrift Responso et replice ad Eneam Silvium (ed. Schmidt), wenngleich der Autor in letzterer feststellt: »Religio barbariem detersit« (Kap. 6 ed. Schmidt S. 130). Muhlack: Geschichtswissenschaft, S. 206-208. Zum Zusammenhang von Christianisierung und allgemeiner Kultivierung im frühneuzeitlichen Epochenverständnis ebd. S. 313f. Germ. 2,4 (ed. Schmidt S. 48): »Ipsa quoque religio barbara, inepta, idolorum cultrix«. Nor. S. 125. Mit dieser >Konversion< zu den >studia< ist das als historischer Ist-Zustand gekennzeichnet, was noch in der oratio als projektive Aufgabe in Aussicht gestellt wird (oratio 96): »Quamobrem convertite vos, Germani, convertite vos ad mitiora studia, quae sola vos philosophia et eloquentia docere potest«. Als Dokument einer christlich-literarischen Kultur der mittelalterlichen Germania wertet Celtis auch die Werke der Hrotsvit. An ihnen könne man »veterum nostrorum patrum et progenitorum, circa litteras et religionem Christianam nostram, diligentiam« erkennen (BW Nr. 267, S. 463). In der Norimberga bezeichnet Celtis die Christianisierung Nürnbergs und seiner Umgebung - mit beinahe den gleichen Worten wie im Druidenkapitel - als Werk des Heiligen Sebald (Nor. S. 160), welcher seinerseits auf dem Wirken von Briten, Schotten und Galliern aufbaut. Dabei bleibt offen, ob es sich bei diesen um Druiden gehandelt habe.
392 sieht. Als Rückprojektion aktueller Sinnbedürfnisse wird dem Konstrukt einer griechisch-germanischen Urkultur ein Nachleben beschieden sein, das solange reicht, wie die Struktur der humanistischen Gelehrtenrepublik und gemeinschaft als solche nach mythischer Überhöhung verlangt.214 Celtis hat damit nicht nur die Institution der humanistischen Sodalität in Deutschland begründet, er hat auch zugleich deren mythisches Selbstbild entworfen und propagiert. Über die Werke seiner Schüler und Freunde wie Aventin, Trithemius u. a. gelangt der gesamte Komplex schließlich in den historischen und nationalen Diskurs des 16. und 17. Jahrhunderts.215 Im Vergleich der verschiedenen Zeugnisse hat sich andererseits auch gezeigt, daß Celtis' Einlassungen zum Wirken und Fortwirken der Druiden nicht in allen Punkten untereinander harmonisierbar sind. Der Grund hierfür liegt in der spezifisch rhetorischen Ausrichtung der nationalen Konstrukte, die von Fall zu Fall differieren und zu einer wechselnden Betonung unterschiedlicher Aspekte tendieren. Nur in Umrissen lassen sich auf diese Weise aus Celtis' Äußerungen (vor allem in Od. 3,28) vier Perioden der deutschen Kulturgeschichte gewinnen, die durch die Tätigkeit der Druiden bestimmt sind.216 Auf eine erste Zeit der >barbariesunter den Karolingern, unter König Arnulf und den Ottonenillustratio< Deutschlands in Gegenwart und Vergangenheit wird rückgebunden an Erfahrungen des elegischen Ichs, in dessen »decennalis peregrinatio« sie allererst statthat, oder anders ausgedrückt: Es gibt in Celtis' Verständnis keine Semantisierung der zeitgenössischen Germania, die ohne Beteiligung des sehenden und bezeugenden Ich auskäme. 223 Die oben behandelte Episode über Celtis' gemeinsam mit Tolhopf unternommene Erkundung im Fichtelgebirge belegt nicht nur die wechselseitige Stützung von
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von Zeitgenossen Arnold: Trithemius, S. 167-179; Ridé: L'image du Germain, S. 1032-1051. Ridé: L'image du Germain, S. 1043. In Trithemius' Fall richtet sich die Argumentation freilich nicht allein gegen die Italiener, sondern ebenso gegen die Franzosen. Zum Begriff Grafton: Invention of Traditions; Hobsbawm/Ranger: Invention of Tradition. Vgl. Praef. 53. Hinweise bei Müller: Germania generalis, S. 299-302.
395 Buch- und Anschauungsevidenz. Sie unterstreicht auch, daß der Erkenntniszugewinn, den Celtis gegenüber den antiken Autoritäten, namentlich Caesar und Tacitus, erstrebt, allererst ein solcher der Autopsie sein kann. So tendiert schon die Topographie selbst mit ihrem zeitgemäßen Entdeckerpathos zu einer dauernden Präsenz des sehenden und bezeugenden Subjekts, an dessen biographische Erfahrung die >illustratio< gebunden wird. Auch dies mußte eine Einfassung des nationalen Diskurses ins Koordinatensystem der Liebeselegie befördern. Gleichzeitig sorgt diese umseitige Verbundenheit von beobachtendem Subjekt und beobachtetem Sujet dafür, daß beide an entscheidenden Stellen wie in Am. 1,12 in einen Begründungszusammenhang geraten, der die biographische Wahrheit ebenso verformend re-konstruiert wie dies für die notwendig spekulative Nachbildung deutscher Vergangenheit je schon gilt. Die Einheit der Amores zwischen Eros, Topographie, Reisebeschreibung und akzidenteller Germania illustrata beruht wesentlich auf der Zentralität des erfahrenden und poetisch >beschreibenden< Ichs, in dem die Fäden der verschiedenen Themen zusammenlaufen. Es ist, pointiert gesagt, die Funktion des >Ego-DokumentsMusa iocosa< und des elegischen Parallelsystems fällt dem Dichter-Ich unvermittelt die Gelegenheit zu einer Vervielfachung seiner biographischen Identitäten zu: Die Pluralisierung der Herkunftsentwürfe wird erst dadurch möglich, daß die Geschichte des Ichs in den Weltzusammenhang der Liebeselegie transponiert wird, für den die historisch-biographische Wahrheit keine Verbindlichkeit beanspruchen kann. Der >Musa iocosa< bzw. dem >lusus amorum< kommt damit, wie noch zu zeigen sein wird, bei der frühneuzeitlichen Entdeckung des Ichs eine Schlüsselrolle zu. 225 Im folgenden Abschnitt soll es daher um die Frage gehen, wie Am. 1,12 und andere Texte eine Ursprungs- und Mittelpunktsutopie ins Bild setzen, die sich in wörtlichem wie übertragenem Sinn konzentrisch um die Figur des Dichters legt. Dieser Mittelpunktsdiskurs ist vor allem deshalb bemerkenswert, weil er den Blick freigibt für Celtis' Deutschlandbild, wie es sich innerhalb des Projekts der Germania illustrata konstituieren sollte. Ausgehend von Am. 1,12 sollen am Ende dieses Ab-
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Dies entspricht im übrigen einer Tendenz zur Biographisierung, wie sie analog auch die volkssprachliche Erzählprosa erkennen läßt. Müller: Volksbuch/Prosaroman, S. 68f. Vgl. Kap. 7.1.
396 schnitts zwei mythisch-utopische Denkformen in Celtis' Diskurs um die deutsche Herkunft angesprochen werden.
6.6.
Bilder und Figuren der Patria in den Amores
6.6.1 Mittelpunktsdiskurse und symbolische Topographie der Patria Mythisch-utopisch ist zunächst der Blick auf den Welt-Ort dieser Patria selbst. Die Art und Weise, wie Celtis diese topographisch verortet, macht deutlich, daß es hier nicht um einen kartographischen Befund, sondern vielmehr um symbolische Räume und Signaturen gehen wird.226 So erscheint in Am. 1,12 die fränkische Heimat des Dichters als bukolisch-idyllischer Idealort im Herzen Deutschlands, als poetisch erinnerte und re-konstruierte Landschaft der Jugend, die räumlich wie zeitlich unter dem Signum des Ursprünglichen steht: Elysios credas campos et amoena piorum Hic loca, quae Cererem vinaque blanda créant. Intonsique greges passim per prata vagantur Et nemora alituum vocibus alta sonant. Hic me non lento Phoebus dilexit amore, Hic dédit et resonis plectra movere iugis. O ego te patrias si possem ferre sub oras, Ditior Arctoo nulla puella solo!
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Für elysische Felder oder die lieblichen Auen der Frommen könnte man diese Gefilde halten, die Weizen und süßen Wein hervorbringen. Mit dichtem Vlies streifen überall dort die Herden durch die Wiesen und die hohen Haine erklingen vom Sang der Vögel. Hier war's, wo ich mich der innigen Zuneigung Apolls erfreute, hier verlieh er mir die Gabe, auf den Hügeln die Leier zu schlagen, daß der Ton von ihnen widerhallte. Ach, könnt' ich dich doch in heimatliche Gefilde führen, dann wäre kein Mädchen aus dem Norden reicher als du!
Welche Signaturen diesem zugleich geographisch wie biographisch gemeinten Ursprungsbild zukommen, betont Celtis sogleich selbst, wenn er die Heimat als >elysische Felden und ausdrücklich als »amoena loca« kennzeichnet. Solcherart versammelt Celtis in wenigen Strichen Requisiten des topischen Idealorts: Blühende Felder, der Wein des Bacchus ebenso wie die Schafe als Emblemtiere eines bukolischen Rückzugs. In Zitat und Anspielung bezieht Celtis dabei seine Heimat auf die elysischen Felder einer Vergilischen Unterwelt als Refugium der >piiElysischen Feldern< aufzusuchen: Verg. Aen. 5,734f.: »Tartara habent, tristes umbrae, sed amoena piorum/concilia Elysiumque colo«.
397 Dichterheroen Orpheus (Aen. 6,645) und Musaios, der Aeneas den Weg weist. 228 In Am. 1,12 wiederholt sich so das Vergilische Bild des auserwählten Dichters in amöner Landschaft, wie es im Descensus der Aeneis angelegt war. 229 Wie so oft sind es damit die Konturen des mythischen Sängers Orpheus, in denen sich Celtis am utopischen Ursprungsort spiegelt. Als ein zweiter, nunmehr durch die Wanderschaft in die Fremde getriebener Orpheus evoziert der Dichter seiner Hasilina das utopische Idealbild seiner Heimat, die zur paradiesischen »Saturnia tellus« im geographischen Zentrum stilisiert wird. 230 Einmal mehr sind damit in Am. 1,12 Lob Frankens und Lob der eigenen Person funktional aufeinander abgestimmt. Der Blick auf die eigene Herkunft verbindet sich mit dem auf die nationale Vorzeit als zu restituierender >aurea aetasdas Griechische zurückbringtsubjektive< elegische System die Neuausrichtung der historisch-geographischen Daten an der Person des erzählenden Ich.
6.6.2. Neue Überlegungen zum Raumschema der Germania oder: Celtis' topographische Quadratur des Kreises Mit der Festlegung auf eine solcherart mystifizierende Germania illustrata im elegischen Modus könnte die Analyse von Am. 1,12 ihren Abschluß finden. Es bietet sich indes an, von hier aus einen Schritt weiterzugehen und nach Celtis' Deutschlandbild zu fragen, wie es sich von den mythisch-utopischen Zentrierungen unseres Ausgangstextes beginnend für die Amores, vielleicht sogar für Celtis' Deutschlandbeschreibungen insgesamt erschließen läßt. Mit dem Begriff >Zentrierung< ist dabei bereits ein Leitkonzept angesprochen, das sich über Am. 1,12 hinaus quer zu allen nationalen Arbeiten des Celtis belegen läßt. In der Elegie scheint sich das Bild der Nation wie des elegischen Ichs in der Form konzentrischer Kreise anzulegen, deren Mittelpunkt - symbolisch wie geographisch genommen - die in mythische Ferne getauchte Geburt und Unterweisung des Dichters mit der Lyra darstellt. Der Geburtsraum des Dichters, die >silva Hercyniaeingeschlossen und umgeben< ist. Wie andernorts beschrieben, verbalisiert Celtis an dieser Stelle das Strukturschema, welches das Titelblatt der Amores mit seiner symbolisch verkürzten und verrätselten Geographie entwirft. Mit gutem Grund also wählt Celtis für diesen Holzschnitt das Schema des Kreises, das über seine änigmatisch-symbolische Valenz hinaus geeignet ist, das eigene Hintergrundmodell einer um einen fixen geometrischen Mittelpunkt zentrierten Germania zu repräsentieren. So stellt Celtis' Bild der Germania eine Art topographischer Quadratur des Kreises dar, indem neben die Dialektik von Zentrum und Peripherie eine quadratisch->tetragonalelatera< wie nach >interioraHodoeporica< bezeichneten Texte, in denen Celtis auf den Spuren Enea Silvio den Flüssen als Leitlinien seiner Darstellung folgt. 236 Er tut dies indes in einem sehr konkreten Sinne, indem die Beschreibung der Stätten nach den vier Seiten bzw. Flüsen konstitutiv an den Weg des Dichters, mithin an die Autopsie des erfahrenden Individuums, seine geographische Augenhöhe und individuelle Erfahrung gebunden bleibt. Nur dort, wo dem Individuum die Erfahrung eigenen Sehens zuteil wird, erhellt sich der Raum zur Kenntlichkeit, wird das Dunkel des vormals Unbeschriebenen gelichtet und durch die Ekphrasis des Autor-Ichs semantisiert bzw. illustriert. 237 Die Amores setzen in der elegischen Form und unter dem Signum einer idealen Biographie eine topographische Innovation des Enea Silvio um, die »Hereinnahme des beweglichen Betrachters« in die Raumbeschreibung. 238 Nimmt man diesen Kontext ebenso wie die Kopplung frühneuzeitlichen Wissens und Erfahrens an die Person des Erkennenden als gegeben, 239 so kann das auf den ersten Blick so hybride Unterfangen der Amores, Reisebeschreibung, Elegie und biographisches >Ego-Dokument< miteinander zu kombinieren, kaum mehr verwundern, begegnen sich doch alle genannten Komplemente in einer Tendenz, die sich, metaphorisch ausgedrückt, als Entdeckung des Augenpunktes, mithin des subjektiven Standortes darstellt. So können in den Amores Entdeckung von Ich und (nationaler) Welt konvergieren, indem die Welt aus der Perspektive des Ichs beschrieben wird, während dieses erst zu seinem dichterischen Ausdruck kommt, indem es auf seinem Weg durch Deutschland zu seiner Bestimmung als Dichter findet.
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Zu dieser Innovation Enea Silvios gegenüber Bruni vgl. Kugler: Vorstellung der Stadt, S. 202. Am. 2,4; 3,1; 4,2. Dazu kommt im ersten Buch Am. 1,3, das nicht ausdrücklich als >Hodoeporicon< bezeichnet ist. Immer wieder erscheint so die Autopsie als Voraussetzung eines Schreibens. Neben praef. 53 auch Am. 4,13,55f.: »Primus Teutónicas conspexi finibus oras/Quattuor et scripsi quattuor inde libros«. Kugler: Vorstellung der Stadt, S. 206. Dazu erhellend Müller: Erfarung.
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6.6.3. Pluralismus der Zentren. Das Bild Deutschlands und sein Mittelpunkt Doch wir haben vorerst noch einige Kontexte dieses Mittelpunktsdenkens zu beleuchten. So konstant das Bezeichnen von Zentren Celtis' topographische Arbeiten durchzieht, so variabel ist in ihm immer wieder die Position des Mittelpunktes ausgefüllt. Offenbar sollte in einer ersten Planungsphase, die sich im Titelblatt der Amores widerspiegelt, die böhmische Hauptstadt Prag, in der sich Celtis 1491 für kurze Zeit aufgehalten hatte, die geographische Mitte der Germania bilden. Aus diesem Entwurf bleibt im Druck von 1502 die Funktion der Elbe als Grenzscheide in der Mitte Deutschlands erhalten. 240 Was Celtis jedoch in einem Text wie Am. 2,4 über Prag als Zentrum Deutschlands zu sagen weiß, entspricht wörtlich den Topoi, die bereits bei der Beschreibung Würzburgs in Am. 1,12 bzw. der Beschreibung der >Hercynia silva< in der Norimberga Verwendung fanden: Exceptus fueram per terram divitis arvi, Qua Praga vitiferis collibus alta micat, Cingitur Hercynio quo laeta Boemia saltu Teutónicas gentes undique clausa videns. Qualiter in Graiis memorantur Thessala regnis Tempe sub Emathiis saepta fuisse iugis, Taliter Almanis se laeta Boemia terris Erigit et largis ilumina fundit aquis.
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Da empfing mich ein reicher Landstrich, dort, wo das hohe Prag im Glanz seiner Weinberge liegt, wo das reiche Böhmen inmitten des Herkynischen Waldes überall auf deutsche Völker schaut, die es umgeben. Wie in Griechenland das thessalische Tempetal eingeschlossen unter Hügeln Emathias lag, so erhebt sich das blühende Böhmen in Deutschland und entsendet Ströme, die breit dahinfließen.
Wir müssen auf den Schematismus des Beschreibens und die Entsprechungen zum oben Ausgeführten kaum mehr hinweisen: In aller Deutlichkeit kehren in dem zitierten Abschnitt nicht allein die >weinrebenbestandenen Hügel< aus Am. 1,12 wieder, auch der Vergleich mit dem amonen Tempe-Tal sowie die zentrale Lage innerhalb der >silva HercyniaVorliebe für geometrische Regelhaftigkeit und Proportion am Werk wie in den zahlreichen Beispielen idealer Stadtansichten. Zur Bedeutung der Athen-Rede des Aelius Aristides für Bruni vgl. Baron: Bruni's Laudatio, S. 156-159. Die Filiationen, die von Bruni und Enea Silvio, aber auch von Celtis' Norimberga ausgehen, resümiert kurz Kugler: Vorstellung der Stadt, S. 219-221. Men. Rh. 349,3-12; Aristid. Panath. 99,10ff. ed. Jebb. Laudatio ed. Baron S. 240: »Urbs autem media est tanquam antistes quedam ac dominatrix; [...] Quemadmodum enim in clipeo, circulis sese ad invicem includentibus, intimus orbis in umbelicum desinit, qui médius est totius clipei locus: eodem hic itidem modo videmus regiones quasi circuios quosdam ad invicem clausas ac circunfusas. Quarum urbs quidem prima est, quasi umbelicus quidam totius ambitus media. Hec autem menibus cingitur atque suburbiis. Suburbia rursus ville circumdant, villas autem oppida; atque hec omnis extima regio maiore ambitu circuloque
402 punktsschema, wie es die Beschreibung der Lage der Stadt (>situs urbisdescriptiones< bzw. >laudes urbium< wie in Enea Silvio Beschreibungen der Stadt Basel, der ersten ihrer Art in Deutschland, 250 die zugleich wichtige Strukturmodelle für Celtis' Monographie der Stadt Nürnberg bereitstellten. 251 Der Autor, Enea Silvio, bezeichnet die Stadt in seiner zweiten Basel-Beschreibung nicht nur als »Christianitatis centrum,« 252 sondern zeigt sich weiterhin bemüht, von diesem Mittelpunkt ausgehend zunächst die Region, d.h. den Herkynischen Wald, und schließlich die gesamte Germania in den Blick zu nehmen. Wenngleich zuletzt auf solche Abhängigkeiten und Strukturen von Celtis' Norimberga hingewiesen wurde, 253 so blieb dabei jedoch im wesentlichen unbeachtet, wie sehr etwa die topographischen Anordnungen in den Beschreibungen Brunis oder Enea Silvios unmittelbar Vorbild und Anreger jener Zentrum-Peripherie-Figur sind, wie sie dem Titelholzschnitts der Amores entsprechend dem geographischen Bild Deutschlands zugrunde liegen sollte. Setzt man diese Figur etwa neben Brunis Vergleich der Stadt-Land-Beziehung mit dem Verhältnis von Umfang zum Zentrum (»Buckel«, lat.: >umboumbilicussitus< vgl. Gernentz: Laudes Romae, S. 10-13. Brunis Schrift selbst verfiel dabei nach anfänglich großer Verbreitung in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts mehr und mehr dem Vergessen. Baron: Bruni's Laudatio, S. 152f. Enea Silvio: BW Nr. 16 und Nr. 28 ed. Wolkan; Voigt: Italienische Berichte, S. 105f.; Kugler: Vorstellung der Stadt, S. 195-201. Morper: Bamberg, S. 1 1 - 1 5 zum Thema Stadt als Nabel der Welt mit weiterführender Literatur. Nor. S. 81-84. Kemper: Die illustrierte Stadt. Enea Silvio: BW Nr. 28 ed. Wolkan I, S. 86: »Basilea sicut mihi videtur aut Christianitatis centrum aut ei próxima est«. Müller: Germania generalis, S. 376-380. Nor. S. 105. Ridé: Germania illustrata, S. 104.
403 Amores beigegeben ist.255 Wie auf dem Titelblatt erscheint das Bild der Stadt hier inquadriert in die vier Haupthimmelsrichtungen, die entsprechend dem Deutschlandschema des Amores-TileXbXaXts in griechischer Sprache und Schrift aufgetragen sind. 256 Wie schon in der Norimberga sind in den Amores die Städte programmatisch Mittel- und Ausgangspunkte der >illustratio Germaniaesilva Hercyniavier Flüsse enthaltend^, ein preziöses Kompositum, das im antiken Latein ein einziges Mal belegt ist, nämlich im Cathemerinon des christlichen Dichters Prudentius. Dort findet es sich in einer Beschreibung des biblischen Paradieses: Tünc per amoena virecta iubet frondicomis habitare locis, ver ubi perpetuum redolet prataque multicolora latex quadrifluo celer amne rigat.262 Dann heißt er sie, auf grünen Wiesen an belaubtem Ort zu leben, wo ewiger Frühling strahlt und vielfarbene Wiesen das hurtige Naß in vier Strömen benetzt. Angesprochen ist hier der im Mittelpunkt des biblischen Paradieses entspringende Fluß, der sich vor dessen Toren in die vier Ströme Phison (identifiziert mit dem Ganges), G e o n oder Gion (gleichgesetzt mit dem Nil), Euphrat und Tigris zerteilt. 263 Was Prudentius dabei in poeticis vorführt, erweist sich als >parodia Christiana< der Vergilischen Elysiumsschilderung in der Aeneis, die durch eine Junktur wie »amoena virecta« leitmotivisch evoziert wird. 264 In der Poetisierung des biblischen Genesis-Berichts geht das pagane Paradies Vergils ebenso auf wie die Topik des locus amoenus, die in der christlichen Dichtung fortan immer wieder zur Zeichnung des Gartens Eden bemüht werden wird. 265 Eine solche Übertragung lag von vorneherein nahe, waren
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Celtis in einem Atemzug »urbes etiam insigniores et Septem metropolitanas patriasque doctorum virorum« als Objekte der Beschreibung nennt. Prud. cath. 3,101-105. Gen. 2,10-14. Aen.6,635-637: »His demum exactis, perfecto muñere divae,/devenere locos laetos et amoena virecta/fortunatorum nemorum sedesque beatas«. Zwischen paganem Lustort und biblischem Paradies bestehen Verbindungen, auf die Curtius: Europäische Literatur, S. 204-206 hinweist. Ein mittelalterliches Beispiel für solche Überblendungen bietet Kugler: Vorstellung der Stadt, S. 69f.
406 doch die Gemeinsamkeiten beider amönen Orte evident. Beide sind idealisierte Ursprungs- bzw. Rückzugsbezirke in räumlichem wie zeitlichem, fallweise auch genealogischem Sinn.266 Beide erscheinen als umfriedete Bereiche, auf die sich die Topik des Lustortes als eines irdischen Refugiums und Paradieses übertragen ließ. Indem Celtis das seltene, nur bei Prudentius belegte Adjektiv >quadrifluus< auf die heimischen, im Fichtelgebirge entspringenden Flüsse bezieht, aktualisiert er die genannten Kontexte als Sinnhintergund für sein Bild der >Hercynia silvaElysischen Felder< Vergils zitiert, so ist nunmehr in Am. 2,10 der christliche Vorstellungshintergrund präsent. Die >Hercynia silva< und in ihrem Zentrum das Fichtelgebirge (»Pinifer mons«) werden in solchen intertextuellen Spiegelungen zum säkularen Paradies und Weltmittelpunkt stilisiert. Der konkrete geographische Befund (die vier im Fichtelgebirge entspringen Flüsse) erscheint auf einer biblischen Deutungsfolie, und es sind offenkundig gerade solche biblischen Signaturen, die Celtis immer wieder auf diese spezielle geographische Gegebenheit hinweisen lassen. Bereits in der Norimberga ist die Mittelpunktsfunktion der >silva Hercynia< und der vier Flüsse ein zentraler Gliederungsfaktor der Region. 267 Wiederholt wird dies auch in der Germania generalis,268 Die Schlüsselfunktion der PrudentiusStelle für solche Synkretismen von säkularer und Heilsgeographie wird in den Amores vor allem daran erkennbar, daß Celtis immer wieder das Attribut >quadrifluus< zur Beschreibung des topographischen Sachverhalts anklingen läßt.269 Man mag die Betonung der Vierzahl der im Fichtelgebirge ent266
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Dies schließt andererseits nicht aus, daß die biblische Paradieserzählung auch topographisch gelesen werden konnte. Dazu mußte schon die Erwähnung der vier Flüsse beitragen, von denen zwei ohnehin real lokalisierbar waren, während die beiden gleichfalls genannten Ströme Phison und Geon mit dem Ganges bzw. dem Nil gleichzusetzen waren. So erhält der Bericht der Genesis, etwa in der Paraphrase der Schedeischen Weltchronik (Fol. 7v. ff.: »Von dem paradeis und seinen vier Aussen«), eine geographische Realität, die es erlaubte, Spekulationen über Charakteristika des Ortes, etwa seine geographische Position »schier under der wag und dem wider gelegen in dem aufgang« (Fol. 8v) anzustellen. Insgesamt ist die Paradiesesschilderung in der Weltchronik eingelassen in weitläufige geographisch-kosmographische Überlegungen. Der Garten Eden ist so zwar ein idealer, nicht jedoch ein kosmographischer Betrachtung gänzlich entzogener Ort. Nor. Kap. 3 S. 115: »A quo, hoc est a Pinífero monte, ut ille quatuor Ínclitos et dites amnes intra spatium duum ferme milium passum non sine admiratione et naturae maiestate effundit, ita ab eo monte, amnium et silvarum parente, quattuor ramos veluti immania cornua in diversas orbis partes porrigit«. Auch das Durchfließen des Flusses durch den betreffenden Ort ist in den Paradiesesschilderungen vorgeprägt: »Auß des mittel geet ein prunn der es gantz erfeuchtet, und der selb prunn wirdt in vier geperende flúss geteylt«. Schedeische Weltchronik Fol. 6v. Germ. gen. 187-191: »Herciniumque iugum medio Germania tractu/Erigit et multis dispargit cornua terris,/Ex quibus ingenti dorso stans pinifer atrum/Tollit in astra caput liquidoque a vertice quatuor/Quattuor ad mundi fundit vaga ilumina partes«. Am. 2,2,47-52. Am. 3,13,3f.: »Quaque tibi Moenus miscetur nomine claro,/Flumina quadrifluo qui sua monte trahit«.
407 springenden Flüsse gleichfalls in einen Zusammenhang mit den Amores und ihrer Tetradenspekulation bringen. Immerhin hat ein unmittelbarer Nachfolger des Celtis, Agrippa von Nettesheim, in seiner Tetradenmatrix auch die vier Paradiesflüsse berücksichtigt. 270 Daneben ist allerdings auch zu bedenken, daß topographische Beschreibungen, vor allem mit enkomiastischer Ausrichtung, ohnehin von jeher bemüht sind, ihren jeweiligen Gegenständen die Signaturen des locus amoenus zukommen zu lassen. Schon in Enea Silvios zweiter Beschreibung von Basel erscheint auf diese Weise die gesamte Region um die Stadt geradezu als >Paradiessitus urbislaudes urbium< verankert ist. Auch die zentrale rhetorische Abhandlung zum Thema, der Traktat des Menander Rhetor, weist, unter ausdrücklichem Bezug auf den Panathenaikos des Aristides, auf den Topos der Mittelpunktslage beim Stadtlob hin. Celtis' Mittelpunktskonstrukte knüpfen dabei vor allem an solche Beschreibungen an, die einzelne Städte in der Mitte größerer Räume zeigen. Weithin imitiertes Urmodell ist hier das Athen-Lob des Aelius Aristides, in dem die Stadt im Zentrum zunächst der Region Attika, sodann des gesamten griechischen Landes erscheint. Es ist so wesentlich Aristides, der das Schema der konzentrisch sich ausweitenden Ringe um das feste Zentrum der zu lobenden Stadt entwickelt. Eine weitere Öffnung des Blicks über diese hinaus ist dabei in der Topik des >situs urbis< ausdrücklich angelegt, und so verweist Aristides im Panathenaikos darauf, daß auf der Ebene von Land und Nation Griechenland selbst inmitten der gesamten Welt liege.272 Über die Zwischenstufe von Leonardo Brunis Florenzlob bestimmt Aristides' Schema fortan die poetische Praxis der >laudes urbiumcaput orbis
aemulatio Italorum< einordnet. Demselben Telos dient auch die in Am. 2,4 beschriebene Verschiebung des geographischen Weltzentrums nach Prag. So sind es nunmehr deutsche Städte (bzw. solche der >magna Germaniacaput orbis< Rom konkurriert. 274 Nachdem Prag als Zentrum der >Germania nova< fallengelassen ist, rückt schließlich Nürnberg als »Augusta praetoria«275 und (seit 1424) Aufbewahrungsort der Reichsinsignien276 an dessen Stelle, und nicht nur Celtis hofft »auf den Aufstieg der Stadt zu einem modernen Rom«.277 Nürnberg figuriert zumal im humanistischen Umfeld der Jahre vor und um 1500 als jener Ort, der, wie die Schedeische Weltchronik feststellt, »schier in den mittel teutschs lands gelegen« ist278 und als Sitz der »keyserlichen zaichen« (ebd. Fol. lOlr) nicht nur geographisches, sondern in der >aetas Maximiliana< auch politisches Zentrum des Reiches ist.279 Diese nationale Zentralität der Stadt bestätigt auch die Kartographie, die in Nürnberg ihre Hochburg hat. So zeigt die Deutschlandkarte Hieronymus Münzers, die am Ende
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Od. 1,27,9-12: »Visa non urbs est meliore caelo,/Explicat Septem spatiosa colles/ Ambitu murorum imitata magnae/Moenia Romae«; Zablocki: Beschreibungen des Ostens, S. 154-158. In der Germania generalis fehlt ein ausdrücklich bezeichnetes städtisches Zentrum der Germania. Im Fall Roms werden freilich hauptsächlich anthropomorphe Metaphern (>caputdominamater orbis< etc.) verwendet, keine geometrischen Koordinaten. Celtis' mysteriöses Attribut »praetoria« aus praef. 51 (sowie der Hrotsvit-Edition BW Nr. 267, S. 467) bedeutet nach Lüh: Die unvollendete Werkausgabe, S. 242 soviel wie »aus dem kaiserlichen, den Reichsstatthalter beherbergenden Nürnberg« stammend. Zu den politischen Argumenten in Celtis' Nürnberg-Lob ebd. S. 241 243. Vgl. Nor. S. 104. Die zahlreichen Reichstage in der Stadt erwähnt Celtis ebd. S. 141f. und 171f. Lüh: Die unvollendete Werkausgabe, S. 198. Fol. lOlr und 268r. Schon Enea Silvio hatte dies in seiner Europa (in: Opera, Basel 1551, S. 436; Muhlack: Geschichtswissenschaft, S. 212) behauptet; zu Nürnberg als Zentrum Deutschlands Bezold: Celtis, S. 39; Buck: Piccolomini und Nürnberg, S. 25; Stromer: Hec opera, S. 268; Machilek: Kartographie, S. 2. Zum Kontext des Nürnberg-Lobs im 15. und 16. Jahrhundert Lebeau: L'éloge.
409 der Schedeischen Weltchronik eingebunden ist, Nürnberg ebenso im Mittelpunkt wie die Romweg-Karte Erhard Etzlaubs aus dem Jahre 1500. 280 Darüber hinaus ist die Stadt jedoch nicht nur nationales Zentrum des Reiches, sie rückt in der humanistischen Propaganda eines Enea Silvio, Regiomontan oder Johannes Cochlaeus auch in die Mitte Europas, wie Etzlaubs Straßenkarte Europas von 1501 erkennen läßt. 281 Celtis faßt dies 1495 in der handschriftlichen und 1502 in der gedruckten Ausgabe seiner Norimberga zusammen, wenn er ausdrücklich betont, die Stadt liege nicht nur im geographischen Zentrum der Region 2 8 2 und Deutschlands, sondern ganz Europas. 283 Auf dem Nürnberg-Holzschnitt, welcher der Norimberga im Druck der Amores von 1502 vorausgeht, heißt es (epigr. 5,80): »In medio Europae mediaque in Teutonis ora,/Hanc relegas urbem, lector amice, precor«. 284 Die Stadtansicht selbst spannt mit der Angabe der vier Himmelsrichtungen den Bogen zurück zum Titelblatt der Amores, in dessen geographisch-spekulatives Tetradensystem sie sich als »Urbs Norinberga Quadrifinia« 285 einordnet. Gleichzeitig jedoch setzt die Bezeichnung >quadrifinia< die Stadt in Konkur-
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Machilek: Kartographie, S. 2. Abbildung in Wuttke: Nürnberg als Symbol, S. 554. Sebald Schreyer hatte Celtis am 11.8.1500 ein Exemplar einer Karte der >Germania superior« des Erhard Etzlaub zugesandt: »Habes quoque in hoc praesenti fascículo colligatam superioris Germaniae effigiem continentem adiacentum partículas provinciarum« (BW Nr. 247, S. 414; zu Etzlaub Schnelbögl: Etzlaub). Zu Regiomontan und dem Aufschwung von Astronomie und Kartographie im Nürnberg des ausgehenden 15. Jahrhunderts vgl. die Studien in Hamann (Hg.): Regiomontanus-Studien. Einen interessanten Beitrag zu dieser Fragestellung leistet die typologische Gliederung von Stadtansichten bzw. -darstellungen, die Krings: Text und Bild gibt. Hier ist besonders ein Typ der Stadtansicht, der sog. >Rundprospekt< der Stadt Nürnberg (Abb. ebd. S. 333) von Bedeutung. Nor. S. 130: »in mediis eius regionis [...] aedificata«. Ebd. S. 147: »Quo fit, ut urbs non modo universae Germaniae, sed totius Europae medio centro condita sit«. Begründet wird dies streng geographisch durch den gleichen Abstand von Ostsee und Adria (Mittelmeer) sowie vom Atlantik und dem Don. Innerhalb der Stadt bilde die Burg das Zentrum (Nor. Kap. 2 S. 107). Dies wiederum erinnert an Brunis laudatio Florentinae urbis, die als Mittelpunkt der Stadt den Palazzo Vecchio angegeben hatte. Baron: Bruni's Laudatio, S. 157. Pindter: Lyrik, S. 205. Ebenso Nor. Kap. 14 S. 190 (Ed. 2): »Danubium, Albin, Rhenum et Moenum, quibus fluminibus et silvis urbs ad quatuor mundi latera in medio sita circumsepta est«. In die gleiche Richtung äußerte sich im übrigen auch Pirckheimer (Opera ed. M. Goldast S. 110): »Sita est autem Norimberga, non solum in Germaniae, sed et totius Europae umbilico: tantum enim distat à flumine Tanaide (Don) quantum a Gadibus (Cadiz), ab Oceano quoque Germanico, quantum et à mari Mediterraneo«. Werminghoff, der die Stelle Ausgabe S. 148 Anm. 1 zitiert, vermutet hinter diesen Äußerungen den Einfluß des Celtis. Nor. S. 150 (Ed. 2). Der Zusammenhang mit dem Programm der Amores bzw. dem des Druckes wird daraus ersichtlich, daß dieser Passus erst in der gedruckten Fassung eingerückt ist, wie eben der Nürnberg-Holzschnitt mit den vier Himmelsrichtungen auch erst an dieser Stelle begegnet. In den Zusammenhang der Tetradenkonzeption gehört auch der Hinweis, wonach unter der Hallerwiese vier Quellen entspringen (Nor. Kap. 4 S. 136).
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renz zu Rom, die schon von Ennius als »quadrata« bezeichnet wird.286 So tritt Nürnberg dezidiert als >aemula< der ewigen Stadt und ihres Anspruchs, >caput orbis< zu sein, auf. Um diese geographisch-weltpolitische >translatio< der Hegemonie Roms zu beweisen, stattet Celtis die Stadt mit einer Reihe von Zügen aus, die ihren Sinn einzig und allein aus dem Verweis auf das (antike) Rom beziehen.287 Wie das Beispiel der >Roma quadrata< zeigt, sind es dabei vor allem Aspekte der Entstehungsgeschichte beider Städte, in denen sich Parallelen wiederfinden bzw. konstruieren ließen. So modelliert Celtis etwa die Gründung Nürnbergs durch das Zusammenwachsen der aus dem Umland zuströmenden Urbevölkerung (»aborigines«) nach dem Schema des Berichts, den Sallust in seinem Exkurs zur römischen Urgeschichte in De coniuratione Catilinae mitteilt.288 Um andererseits das Alter der Stadt nachzuweisen, bezieht Celtis eine Angabe aus der Geographie des Ptolemaeus auf Nürnberg, »quam ex coniectura longitudinum et latitudinum Segodunum a Claudio Ptolomeo nominatam invenio«.289 Die Schedeische Weltchronik diskutiert eine Gründung der Stadt unter Nero,290 während Pirckheimer annahm, Noriker hätten die Stadt gegründet, die von den Römern an diesen Ort vertrieben worden seien.291 Daneben verwiesen, so Celtis, einzelne Gegebenheiten und Bräuche auf das Vorbild Roms. So sollen etwa die doppelköpfigen Reichsadler auf den Befestigungstürmen der Stadtmauer den »rostra« des Forum Romanum entsprechen.292 Die Reihe der Beispiele einer derartigen >imitatio Romae< wäre bei eingehender Sichtung noch zu erweitern, zumal diese Grundintention der Norimberga, in der sich Altersbeweis (>locus ab antiquitateumbilicusaemulatio< zum antiken Rom werden nunmehr die Germania und ihre wechselnden >Metropolen< bzw. Zentralregionen wie die >silva Hercynia< fokussiert. Man kann hier mit vollem Recht von einer vaterländischen Konzentration sprechen, bei der sich Region, Land und angrenzende Nachbarn um 293
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Kugler: Vorstellung der Stadt, S. 191; ders.: Symbolische Weltkarten, S. 4 4 - 4 8 (mit zahlreichen Abbildungen); Müller: Heilige Stadt, S. llOf.; Simek: Erde und Kosmos, S. 95-104. »Jherusalem umbilicus est terrarum [...] civitas regalis, in orbis medio posita«. Zitiert nach Kugler: Vorstellung der Stadt, S. 192. In Jerusalem selbst war es Golgatha, wo nach einer verbreiteten Auffassung der erste Mensch Adam begraben lag. Dieser wurde vom Blut des gekreuzigten Jesus benetzt und dadurch erlöst. Bouché-Leclercq: L'astrologie grecque, S. 816 Anm. 1. Etwa Eliade: Mythos der ewigen Wiederkehr; ders.: Die Religionen und das Heilige, S. 430-433; vgl. auch Müller: Heilige Stadt.
412 einen fixen Mittelpunkt legen. Diese selektive, perspektivisch auf die Patria eingeengte Wahrnehmung verdankt sich einerseits dem besonderen Anliegen der Nationalbeschreibung, der es allererst und vor allem um die Germania, nicht den >orbis terrarum< insgesamt zu tun ist. Dennoch sind in den hier beleuchteten Zentrierungen Mechanismen der Ausblendung bzw. der Neuorientierung der nationalen Gewichte unverkennbar. Was geographisch außerhalb des hier abgezirkelten Raumes einer Germania magna liegt, wird als angrenzende Umgebung auf diesen selbst ausgerichtet oder verfällt, wie der gesamte Mittelmeerraum, einem vielsagenden Schweigen. Die Grenzen der Germania fallen damit, wie zu Recht festgestellt worden ist, »zeichenhaft« mit denen des Erdkreises zusammen. 298 Nun ist dieser Tunnelblick auf die Patria alles andere als etwas grundlegend Neues innerhalb des topographischen Diskurses. Wie das Beispiel des Aristides und seiner Athenrede zeigt, lag das Mittelpunktsdenken einerseits in der Gattung der >laudes urbium< begründet, in der es auch in der Neuzeit seit Brunis Lobrede auf die Stadt Florenz über Enea Silvios Baselbeschreibungen seinen Platz behauptete. Andererseits war das Schema nun auch in der antiken Ponderierung der Mittelmeerwelt um und auf das Zentrum Rom angelegt, denn »die Römer der Kaiserzeit hatten durchaus die Vorstellung, daß die Grenzen ihres Imperiums mit denen des ganzen Erdkreises identisch seien«. 299 Man muß sich dazu nur die Argumentation vergegenwärtigen, die Manilius' kosmographischer Exkurs im vierten Buch seiner Astronomicon libri V durchführt, um die diskursgeschichtlichen Voraussetzungen für Celtis' Verfahren offenzulegen. Nicht anders als diesem in der Norimberga oder der Germania generalis dient Manilius im zweiten Teil des vierten Buches ein Überblick über die bewohnte Welt sowie über die Sternbilder, die über den jeweiligen Regionen und Ländern stehen, dazu, am Ende die Zentralstellung Roms als >rerum maxima< zu betonen. Norimberga wie Germania generalis bekunden in ihrer Zuschreibung von Position und Bevölkerungscharakter an astronomische Konstellationen nachhaltig den Einfluß des Manilius, ohne daß dessen Lehrgedicht in seiner Bedeutung für Celtis' Beschreibungsmethodik bislang erkannt worden wäre. Immerhin hat sich im Zusammenhang der >illustratio Germaniae< nicht nur der Fokus gegenüber Manilius geändert bzw. weiter nationalisiert: Das gesamte Weltgebäude, so wird Celtis nicht müde zu betonen, ist gegenüber dem antiken Status quo einer grundlegenden >mutatio< unterworfen, deren Ursache immer wieder in einer nicht näher differenzierten glücklichen >conversio siderum< gesehen wird. 300 Die hier untersuchten Texte lassen über Celtis' Projekt hinaus eine Reihe bemerkenswerter Verschiebungen in zentralen >mental habits< frühneuzeit298 299
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Schödlbauer: Entwurf, S. 71 mit Anm. 69. Kugler: Vorstellung der Stadt, S. 191. Dazu Stellen bei Gernentz: Laudes Romae, S. 103-107. Oratio 31; praef. 7. Germ. gen. 273-278. Eingehend auch unten Kap. 6.7.1.
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licher Weltwahrnehmung erahnen. Offensichtlich neu ist jene Pluralisierung der Weltmitte, die sich sowohl in der Vereinnahmung symbolischer Zentren in den Raum der Patria als auch, innerhalb dieser selbst, in der Besetzung der interiora Germania mit verschiedenen Städten (Würzburg, Prag, Nürnberg) widerspiegelt. Wir haben dabei mehrfach auf die Bedeutung der topischen >laudes urbium< für die Propagierung solchen Mittelpunktsdenkens hingewiesen. Bereits für Enea Silvio erscheint so Basel, das »geographisches und zugleich ein Bedeutungszentrum« 301 ist, nicht mehr Jerusalem oder Rom als »Zentrum der Christenheit«. Die Geburt konkurrierender Weltmittelpunkte aus der Topik des Städtelobs überschreitet freilich die reine »literarische Konvention«, 302 die rhetorisch-begründete Vertauschbarkeit der Perspektiven. Zwei Tendenzen der Zeit vor und um 1500 sorgen nachhaltig für eine solche Pluralisierung der Weltgeometrie: Die Ausdifferenzierung der Nation aus dem mittelalterlich-universalistischen Weltbild sowie die Subjektivierung des Weltmittelpunktes im Hinblick auf den Betrachter. Wie Til Eulenspiegel sich vor der versammelten Prager Universität mit einer Fingerbewegung zum Weltmittelpunkt macht, so verlegt Celtis in Texten wie Am. 1,12 oder Am. 2,2 seine Herkunft oder Wirksamkeit an diesen imaginären neuen Mittelpunkt, der zugleich den Ursprung der eigenen wie der nationalen Geschichte bezeichnet. Die Untersuchung von Am. 1,12 hat deutlich werden lassen, welchen Motivationen sich ein solches Ineinander der Ursprungsmythen verdankt. Franken und Würzburg im speziellen werden gerade deshalb zum Mittelpunkt der Nation, weil hier die nationale Vorgeschichte als an ihrem Ursprungsort und in Spuren noch präsent gedacht wird. Die Semantisierung des Raumes einer Germania magna, wie sie Celtis' intendiert, durchwebt ihrerseits die kartographische Realität mit Signaturen einer symbolischheilsgeschichtlichen Weltgeometrie, die nicht ohne eine »Symbolik der Mitte« (Eliade) bzw. eine »Idealisierung der Weltmitte« (Blumenberg) auskommt. 303 Der Prozeß der frühneuzeitlichen Ausdifferenzierung nationaler Kraftzentren ist nur ein Aspekt in diesem Zusammenhang. Ihre historische Voraussetzung ist die wachsende Bedeutung der Stadt als eines kulturellen Zentrums der Region, wie sie Celtis als Argument nationaler Apologetik einsetzt. Die Städte gewinnen im Zuge einer frühneuzeitlichen »Geometrisierung des Raumes« 304 besondere Bedeutung als »Weltmitte zweiter Ordnung« zwischen kosmischer und funktionaler Ordnung. 305 Der hier greifbare Paradigmenwechsel vom Aggregat- zum Systemraum 306 rückt die Städte als
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Kugler: Vorstellung der Stadt, S. 197. Ebd. S. 201. Blumenberg: Genesis I, S. 237-246. Cassirer: Individuum und Kosmos, S. 187-190. Kugler: Vorstellung der Stadt, S. 194. Ebd. S. 192-196.
414 »relative Mitte« 307 ins Zentrum der sie konzentrisch umgebenden Großräume. Entscheidend ist dabei das Anliegen eines vermessenen Raumes, der mit mathematischen bzw. kartographischen Mitteln im Sinne eines Koordinatensystems rationalisiert wird. Solche Übergänge von symbolischem zu kartographisch-mathematischen Raumbildern vollziehen sich um 1500 durchaus in Nuancen und Schattierungen, die immer wieder zu hybriden Denk-Gebilden führen. Ein solches ist auch das Konzept, das Celtis mit den vier Regionenholzschnitten vor den jeweiligen libri Amorum verfolgt. Jedes Bild für sich bemüht sich wieder um die Verbindung des Heterogenen: Die Vermittlung des Typus »Stadtpanorama« 308 (das eben nur, wie der beigegebene Nürnbergholzschnitt, die Stadt selbst, nicht aber deren umgebende Region darstellen soll) mit einer kartographischen Vermessung Deutschlands nach Länge und Breite, wie sie das Titelblatt der Amores ankündigt und die Regionenholzschnitte ausführen. Das Ergebnis ist eine hybride Bildform, deren Kern dem Typus des Stadtprospekts entspricht, während der Rahmen die kartographische Vermessung der Patria mit leidlicher Korrektheit durchzuführen bemüht ist. Nimmt man noch die spekulative Tetradenreihe des >Novenarium< hinzu, so zeichnen sich die Synkretismen im Raum der Amores, dessen bildliches Argumentum die Regionenholzschnitte entwerfen sollen, 309 sichtbar genug ab. Was sie mit dem topographischen Diskurs ihrer Zeit verbindet, ist einerseits die Betonung der Stadt als Zentrum des sie umgebenden Raumes, andererseits das Nebeneinander von symbolischer Raumsemantik und kartographischer Vermessung. Die >descriptio< steht dabei immer zugleich im Dienst einer >laus patriaepraefatio< verheißt, unter solchen Umständen kein rein wissenschaftliches Projekt, sondern immer schon eine Werbe- und Verkündigungsschrift mit ethnographisch-kartographischer Orientierung war, dürfte ebenfalls deutlich geworden sein. Die Grundfunktion der >illustratio< verbindet begrifflich beide semantischen Komponenten, die des erklärenden Beschreibens wie die des Lobens. 311 Vor allem aber hat die Analyse der Texte und ihrer Bildäquivalente erstmals eine Kontinuität der Beschreibungsmodelle freigelegt, die alle im Druck der Amores versammelten Fragmente des großen vaterländischen Projekts unter ein Schema, nämlich das von Mittelpunkt und Peripherie, von >latera< und >interiora< versammelt. 307 308 309 310 311
Ebd. S. 207. Lüh: Die unvollendete Werkausgabe, S. 182-188. Ebd. S. 155-189. Kugler: Vorstellung der Stadt, S. 32-36. Offenbar hat bislang lediglich Muhlack: Geschichtswissenschaft, S. 201 im Zusammenhang mit Biondos Werk über die Semantik des lateinischen >illustrare< reflektiert. In der Bedeutungskomponente >rühmen< findet sich das Verb bei Celtis in BW Nr. 25 (Widmungsvorrede zur Epitoma) S. 45 sowie in Nor. S. 102.
415 6.7.
>Germania vetusGermania novae Archäologie der Patria und nationales Selbstbewußtsein
6.7.1. Theorien kultureller Transformation: >Mutatio< und >conversio siderum< Eines der Grundprobleme der humanistischen Landesbeschreibung war die Frage nach dem Verhältnis von Veränderung bzw. Kontinuität zwischen antikem und zeitgenössischem Status. Diskrepanzen waren hier in allen Bereichen spürbar, so daß zumal innerhalb der Landeskunde ein unreflektierter Bezug auf Tradiertes nur bedingt möglich war. Für Flavio Biondo, 312 den Autor der bereits erwähnten Italia illustrata (1453, gedr. 1471), ergab sich bei seiner Arbeit am Projekt einer Landesbeschreibung mit historischer Perspektive ein Dilemma: Einerseits sollte die Historiographie als rhetorisches Genus durchgehend im sprachlichen Ornat der klassischen Vorbilder erscheinen. Andererseits erkannte Biondo in der Sache das Problem einer, wie er in der Einleitung zur dritten Dekade der historiae ab inclinatione Romani imperii betont, »rerum singularum vocabulorum mutatio«. Eine solche Veränderung gegenüber der Antike warf jedoch nicht nur ein sprachlich-stilistisches, sondern mehr noch ein sachliches Problem auf, das tief in die aktuellen Ziele eingriff, denen die Landesbeschreibung zuarbeitete. So hatten sich etwa die topographischen Zuordnungen wie die Grenzen Italiens überhaupt gegenüber der Antike verschoben, so daß eine an der antiken Nomenklatur festhaltende Darstellung sich der Gefahr aussetzen mußte, für den zeitgenössischen Leser dunkel oder unverständlich zu werden. Biondos Auseinandersetzung mit dieser Frage erhellt deutlich ein Dilemma zwischen antiker Autorität und aktuellen Bedürfnissen, das nach methodischen Konzepten der Vermittlung verlangte. Für den Italiener wird auf diese Weise die >mutatio< in sprachlicher wie sachlicher Hinsicht zu Leitkategorie und »Strukturprinzip« 313 der Landesbeschreibung, und dies mit weitreichender Wirkung für die Systematik der nachfolgenden Historiographen und Landeskundler von Enea Silvio bis zu Celtis.314 Als methodisches Konstrukt und Axiom erfüllte die >mutatio< den pragmatischen Zweck, die augenfälligen Diskrepanzen zwischen Antikem und Zeitgenössischem begrifflich-terminologisch zu benennen und aufeinander zu beziehen. Darüber hinaus machte der Leitgedanke der >mutatio< deut312 313 314
Seine Bedeutung für Celtis arbeitet Müller: Germania generalis, S. 233-250 heraus. Muhlack: Geschichtswissenschaft, S. 203. Der Aspekt der >mutatio< als Indiz und Argument der Lobrede ist keineswegs, wie die neuere Forschung glauben machen will, ein Novum humanistischer Nationalbeschreibung im Gefolge Flavio Biondos. Er findet sich vielmehr schon bei Menander Rhetor als Topos >άπό μεταβολών< (Men. Rh. 355,15) theoretisch formuliert und durchzieht von hier aus die gesamte Tradition des Städtelobs. Gernentz: Laudes urbium, S. 3 3 - 3 8 , bes. S. 31.
416 lieh, worum es der Landesbeschreibung eigentlich ging, nämlich um die Beschreibung des gegenwärtigen Status quo, nicht um antiquarische Gelehrsamkeit um ihrer selbst willen. Dieser aktuelle Sinnzusammenhang wird schon im Titel des Werkes (Italia illustrata) offenbar, der andeutet, daß hier »ebenso gelehrte Aufklärung wie nationale Verherrlichung« 315 angestrebt war. Auch in Biondos Landesbeschreibung konvergieren damit, nicht anders als in der Stadtbeschreibung, ekphrastisches und enkomiastisches Anliegen, die Komponente der >descriptio< integriert die der >laudesmutatio< wird, wie in der Forschung zuletzt ausführlich erörtert, zum grundlegenden Denkprinzip der Landeskunde bis hin zu Celtis' Projekt einer Germania illustrata, die sich schon im Titel als Konkurrenzunternehmen zu Biondo aus dem Geist der >aemulatio< ankündigte. 316 Ausgehend von Flavio Biondos Italia illustrata war es schließlich Enea Silvios Germania,317 mit der die Denkkategorie der >mutatio< in den deutschen Raum und auf die deutschen Verhältnisse übertragen wurde. So stehen sich in der Schrift des Sienesers durchgehend zeitgenössische >Germania nova< und >Germania vetus< gegenüber, welche allererst durch die Entdeckung der Taciteischen Germania wahlweise als Identifikations- oder als Kontrastfolie verfügbar wurde. Diese Synkrisis der >alten< mit der >neuen< Germania, mithin die Dokumentation einer Verwandlung in kultureller wie wirtschaftlicher Hinsicht - wird zum Grundanliegen von Enea Silvios Schrift. Martin Mayer, Kanzler des Erzbischofs von Mainz, hatte in seinem Brief an Enea Silvio, zu diesem Zeitpunkt Kardinalsprälat in Rom, die These vertreten, das einstmals reiche und mächtige Deutschland sei aufgrund der finanziellen Forderungen der römischen Kurie nunmehr unterjocht und verarmt. 318 Enea Silvios Antwortbrief, der unter dem Titel Germania Verbreitung fand, nimmt von dieser Anklage seinen Ausgang und verfolgt zu deren Widerlegung eine Verteidigungsstrategie, welche die Mayerschen Gravamina gegen die Kurie nicht unmittelbar, sondern indirekt auflöst, indem sie diese gegenstandslos werden läßt. Enea Silvio stimmt dazu ein Lob des zeitgenössischen Deutschlands an, das den Vorwürfen Mayers ihre empirische Voraussetzung, die These einer Verarmung und Entmachtung des Landes durch die Geldforderungen der Kurie, entziehen will. Es ist oft übersehen worden, daß der >mutatioGermania vetus< mit der augenscheinlichen Evidenz der zeitgenössischen >Germania novamutationes< zwischen beiden sich immer wieder in den Vordergrund schob. Will man den systematischen Ort des >mutatioconversio siderum< die Funktion von Biondos >mutatio< ein. Inhaltlich jedoch wird diese Verwandlung von Celtis für einen ausgegrenzten Diskurs behauptet, nämlich den der Blüte und Kultivierung einer zuvor >barbarischen< Germa325 326 327
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Praef. 51. Ebd. 50. Schon in Paneg. 155: »Laeto praedicere tempora coelo«. Vgl. oben Kap. 6.3.1. Anm. 120. Tac. Germ. 2,1. Oratio 31.
420 nia, daneben auch, in Fortführung der Perspektive Enea Silvios, für den politisch-ökonomischen Machtzuwachs der >Germania nova< insgesamt. So kann die Gestirnwendung auch als Erklärung für die von Enea Silvio betonte Erweiterung des deutschen Herrschaftsraumes eintreten, denn diese, so die Vorrede der Amores, sei wesentlich das Ergebnis jener >glücklichen Wendung der Gestirnes in deren Folge die Grenzen der Germania sich nach Norden ausgedehnt hätten. Auf diese Weise befinde sich die Elbe, ehemals Grenzfluß im Norden, nunmehr >mitten im Körper des Reichest 3 3 0 Gerade an dieser Stelle, die eine Aussage aus der Germania des Enea Silvio paraphrasiert, 331 werden einerseits die universale Reichweite der >conversio siderum< und ihre funktionale Entsprechung zum >mutatioCharaktere und Temperamente< von Himmelsstrich und klimatisch-jahreszeitlichen >mutationes< hin. Welch enge Verbindung dabei zwischen klimatischen und charakterologischen Verhältnissen bestehen, unterstreichen in Norimberga und Germania generalis jene Kapitel, die den »sidera verticalia« der jeweiligen Region bzw. der Germania insgesamt gewidmet sind. 333 Bereits in der Kosmogonie der Germania generalis waren es die Gestirne, die für eine ordnende Disposition der Elemente in einer zuvor ungeordneten Welt sorgten. Am Ende der Schrift schließlich führt Celtis die Kultivierung und Urbanisierung der Germania ursächlich auf die größere Nähe der Sonne zum Land zurück, die auch dafür sorgt bzw. sorgen soll, daß die Germanen insgesamt ihre >ruditas< und >barbaries< ablegten und zivilisierter würden. 334 Umgekehrt werden in Am. l,12,49f. die kosmischen Veränderungen auch für die Abkehr von griechischer Kleidung ver330 331
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Praef. 6. Germ. 2,6 ed. Schmidt S. 48: »Danubius ac Rhenus, qui quondam Germanie limites clausere, nunc per medios Germanorum dilabuntur agros«. So fragt Celtis in Am. 2,2,20: »Cunctaque mutantur, quae vagus Orbis habet?« Problematisch, wenngleich nicht zu Ende gedacht ist die Implikation, daß die conversio siderum< den Gedanken einer Veränderbarkeit der Gestirnwelt selbst konzediert, der nach der zugrundeliegenden aristotelischen Weltsicht eigentlich ausgeschlossen ist. Germ. gen. Kap. 3: »De syderibus verticalibus Germanie«; Nor. Kap. 6 S. 146-153: »De verticalibus urbis sideribus et qualitate aeris, valetudine et habitu populi«. Germ. gen. 276-278.
421 antwortlich gemacht, wie sie die, so Celtis, ursprünglich griechisch geprägte Bevölkerung der >Hercynia silva< getragen habe. 335 In keinem dieser Fälle jedoch wird die Vorstellung der >conversio siderum< in ihrer Mechanik weiter präzisiert. Als Hilfskonstruktion dient sie im wesentlichen dazu, die Veränderungen - in positiver wie negativer Hinsicht - zwischen >Germania vetus< und >nova< wissenschaftlich zu motivieren und in einen astronomischen Begründungszusammenhang einzufügen, den Celtis für die Amores (wie offenbar für die geplante Germania illustrata insgesamt) als verbindlichen Leitdiskurs ansetzt. Als Äquivalent des >mutatioillustratio Germaniae< mit dem elegischen Thema des >de amore scriberelascivia< neben Verschwendung eine besonders drastische Rolle. Insofern ist dem Text durchaus eine enkomiastische Sicht auf die deutsche Vorvergangenheit eingeschrieben, welche als Exemplum und Paränese für die Zeitgenossen vorgestellt wird. Celtis hat, wie der Forschung weithin entgangen ist, die vermeintliche moralische Degeneration auch sonst immer wieder thematisiert, während die Germania generalis, wie gesehen, kritische Aspekte zugunsten eines nahezu ungebrochenen Deutschlandlobs zurückstellt. Charakterologische Fragen behandelt Celtis etwa im sechsten und siebten Kapitel der Norimberga, und bereits hier wird der Abfall von einstiger Stärke und Moral beklagt 342 und als Folge eines korrumpierenden Einflusses von außen gewertet. Noch enger verwandt zeigt sich ein Exkurs zum »ornatus mulierum« in der Norimberga, der die wesentlichen Argumente von Am. 2,9 enthält, diese jedoch ins Positive wendet, indem die Nürnberger Frauen als Beispiel für Sparsamkeit und bescheidenes Auftreten gefeiert werden. 343 Doch damit sind nur die inhaltlichen Zusammenhänge der Elegie, ihr Sitz im System der Germania illustrata, bezeichnet. Der Text bietet aber mehr als 339
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Zum Schema des >olimnunc< vgl. Tiedemann: Tacitus, S. 2 5 - 3 3 ; Muhlack: Geschichtswissenschaft, S. 218. Joachimsen: Entwicklung, S. 350. Am. 2,9,151f.: »Sed quoniam nullas habuit tunc terra Camenas^Idcirco laudes non habuere suas«. Damit wiederholt Celtis die Forderung nach einer national-panegyrischen Geschichtsschreibung aus oratio 38. Zum Topos vgl. Hör. carm. 4,8,20ff. Nor. S. 152: »Ut iam in multis aliis a prisca Germanorum virtute desciverunt, ita quoque nedum a patrum suorum, verum etiam a patriae moribus degeneraverunt«. Nor. S. 159. Ebd. S. 156 wird andererseits ausdrücklich der >cultus< der Niirnbergerinnen gepriesen.
424 eine mit Taciteischen Informationen bestückte paränetische Scheltrede an die deutsche Nation. Entscheidend ist auch hier das literarische Medium, in dem der nationale Diskurs sich entfaltet. Die folgenden Überlegungen werden zeigen, wie sich in der exemplarischen Kritik von >luxus< und >lascivia< der Geliebten drei Textsorten und -traditionen überlagern: die sachlichen Auskünfte der Taciteischen Germania (in enger Verflechtung mit den ethnographischen Partien aus Caesars De bello Gallico), die Satire in der Tradition Juvenals (namentlich die sechste, sog. >Weibersatiredolorfurorcastitas< als idealer Gegenpol zum verurteilten Verhalten der Geliebten aufgebaut ist (v. 23; 30). Dies veranlaßt nun den Dichter, ein Idealbild germanischer Sitten vorzuführen, das im folgenden bis zum Ende des Gedichts als Gegenentwurf einer sittlich dekadenten Gegenwart gezeichnet ist. 345 An der Schnittstelle zwischen Einleitungs- und Hauptteil wird der behauptete moralische Gegensatz von antiker und zeitgenössischer Germania zunächst als Thema des Folgenden klar benannt. Wird erstere mit dem Prädikat einer >casta simplicitas< versehen, so letztere mit dem Verdikt des >luxusGermania vetus< und >nova< betont Celtis am Ende des
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So schon Krapf: Germanenmythus, S. 77. Diese Exempelfunktion der Geliebten belegt in gleichfalls satirischem Kontext eine Stelle aus Am. 1,14, in der Hasilina ausdrücklich als »Beispiel für viele< bezeichnet ist: »Se dat huic sociam non lentam Hasilina ruinae/Atque aliae multae« (Am. l,14,13f.). Eine ähnlich satirisch-invektivische Deklamation bietet auch der Eingang von Am. 1,14, der, gleichfalls im Rekurs auf Juvenals sechste Satire, die Zustände der Gegenwart, namentlich seitens der Frauen beklagt. Dazu Wiegand: Magie. Für das umgewertete Wertesystem der Elegie ist Properz' Absage an die »castae puellae« (Prop. 1,1,5f.) bezeichnend. Von hier aus ergibt sich bereits in der klassischen Elegie ein Changieren zwischen sittlicher Lockerung und Anklage der ungetreuen Geliebten. Die Inkonsequenz des moralischen Standpunktes aus affektischer Beteiligung gehört so zum Inventar des »Poema elegiacum« an sich. Die wichtigsten Belege bei Müller: Motivkatalog, S. 66-70.
425 Textes. Einerseits nämlich trägt die Elegie jenes Lob der germanischen Vorzeit nach, das aufgrund des Fehlens dichterischer Zeugnisse aus der Vergangenheit bis dato aussteht. Andererseits wird die Makellosigkeit der autochthon-germanischen >mores< gegen eine Kontamination durch den >peregrinus luxus< gepriesen, der wesentlich auf italienischen Einfluß durch Kurie und Klerus zurückgeführt wird. Es ist seit langem erkannt worden, daß Celtis' >laudes< der antiken Germania in Am. 2,9 im wesentlichen Material verwerten, das der Germania des Tacitus, aber auch Caesars De Bello Gallico entstammt. 347 Nach Krapfs eingehender Behandlung von Motivdependenzen und Struktur der Elegie mag es an dieser Stelle genügen, den Argumentationsgang von Am. 2,9 mit seinen Retuschen und Ausblendungen kurz unter Hinweis auf die entsprechenden Kapitel der Germania (17-20) nachzuvollziehen, die in der Elegie wiederkehren. Die von Celtis eingangs eröffnete Kleidungsthematik nimmt Kap. 17 der Germania auf, während die Frage der Ehe- und Sexualmoral (Am. 2,9,47ff.) dort in Kap. 18 und 19 abgehandelt wird. Über die Themen Kindererziehung (Am. 2,9,69-72; Germ. Kap. 20) und Nahrung der alten Germanen gelangt Celtis schließlich zu einer Partie, in der die germanische Welt in den Signaturen einer goldenen Zeit (Nahrung, vgl. Germ. 23,1; Fehlen von Krankheit, Habgier, Spielsucht, vgl. Germ. 24) gezeichnet wird, die freilich durch die Zufuhr von >luxus< (v. 97) nunmehr in eine »declivior aetas« abgeglitten sei. In einem weiteren Block wird auf gesamtgesellschaftliche Dekadenzphänomene, marode Gerichtsbarkeit, Zerstrittenheit der deutschen Fürsten, Geld- und Zinsverkehr (Germ. 24,1) sowie die Habgier des Klerus Bezug genommen, die, so Celtis, in der germanischen Vorgeschichte gänzlich unbekannt gewesen seien (v. 97-114). Anspruchslos sei auch die Nahrung in dieser Zeit gewesen (v. 115f.; vgl. v. 73ff.), als es noch keinen Handel auf deutschen Flüssen gab. Das Ende der Elegie mündet dann unmittelbar in die beiden genannten Hauptintentionen ein: Zunächst führt ein idealisierender Rückblick auf die altgermanische >vaterländische< Religiosität (v. 42: »Patria religio«) und den Kult des autochthonen Gottes Tuisto (Germ. 2,2) zu einer Schelte der römischen Kurie und ihrer materiellen Begehrlichkeiten, um schließlich über eine Auflistung bedeutender deutscher Herrscher bis zu Maximilian I. auf die Bedeutung dichterischer >laudes< für das fortdauernde Andenken nationaler Heldentaten zu sprechen zu kommen. 348 Der kurze Überlick über die Themen von Am. 2,9 deutet bereits die mitunter disparate Fülle von Details an, die der >poeta doctus< mit erkennbarer 347 348
Krapf: Germanenmythus, S. 80ff. Am. 2,9,145ff. Das beiläufige Lob der deutschen Kaiser und Maximilians löst das programmatische Versprechen aus praef. 10 ein. Im Horizont der Gattung entspricht es den panegyrischen Partien der klassischen Elegie. Weitere Splitter dieser Art bei Celtis sind Am. 1,12,25-28; 2,13,19-22; 3,1,45-50; 4,14,154-162; 211-224.
426 Lust an der Ausbreitung von Gelehrsamkeit entfaltet. Grundtenor der Argumentation ist die Diskrepanz zwischen den »sancti mores« der germanischen Urzeit und der eigenen »proclivior aetas«, die in den schillerndsten Farben der Satire gezeichnet wird. Damit scheint die Tendenz dieser Revue deutscher Tugend und Untugend, welche die in der >praefatio< annoncierte Beschreibung deutscher Charaktere einlöst (praef. 53), hinreichend beschrieben. Problematisch allerdings werden Celtis' Aussagen dann, wenn man den argumentativen Zusammenhang von Am. 2,9 verläßt und die aus Tacitus und Caesar gewonnenen Memorabilien der deutschen Vergangenheit, wie sie von Celtis in unterschiedlichen Texten verarbeitet werden, gegeneinanderstellt. Ein Beispiel ist Celtis' Bewertung der Physis der zeitgenössischen Germanen. In Am. 2,9 (vor allem v. 67ff.) wird der idealen körperlichen Disposition der antiken Germanen die der gegenwärtigen vorgehalten, die nunmehr, nach dem Einzug von Krankheit und Verschwendung, dem Verfall preisgegeben seien. Alle hier genannten Indikatoren von Dekadenz (Luxus, Weinbau, Krankheit) bezieht Celtis dabei aus der Schrift des Tacitus (ergänzt durch die Angaben Caesars). Demgegenüber wird im zweiten Kapitel der Germania generalis, das Lage und >mores< der Germanen beschreibt, die Kontinuität der altgermanischen Physis bis in die Gegenwart hinein mit intertextuellen Verweisen auf Tacitus (aber auch mit Retuschen an dessen Aussagen) 349 behauptet. Entsprechendes gilt für den Weinbau, der in Am. 2,9 als Ursache für eines der deutschen Erzlaster, die schon von Tacitus gerügte Trunksucht, 350 erscheint, während seine Einführung in der Germania generalis und an anderer Stelle ausdrücklich als Signum kultureller Blüte in der Folge einer >conversio siderum< gilt.351 Die Reihe der Themen, die je nach ihrem Kontext eine veränderte Bewertung erfahren, ließe sich von hier aus erweitern. Auf den Widerspruch zwischen vermeintlich autochthoner Religion und Christianisierung der Druiden ist an anderer Stelle bereits hingewiesen worden. 352 Sie alle indizieren jenen »rhetorisch-taktischen Widerspruch« 353 in der Vermittlung von >Germania vetus< und >novawie sie heute bewohnt wirdnova< eine Phalanx untergeordneter »asymmetrischer Gegenbegriffevitia< bezeichnet.362 So implantiert Celtis die Aussagen der antiken Quellen über die Germania geschickt dem gewählten poetischen Rahmen, dessen Bezüge uns noch im einzelnen beschäftigen werden. Der Blick auf das Weltalterschema der Ovidischen Metamorphosen unterstreicht, daß für ein Verständnis nicht nur die antiquarischen Informationen eines Tacitus und Caesar zu bedenken sind, sondern eben auch topische Zeit- und Wertungsschemata wie der Weltaltermythos, die sich den ethnographischen Kulturmodellen ein- oder vorordnen ließen. Die >simplicitas< der Taciteischen >Germania vetus< erscheint so 359
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Krapf: Germanenmythus, S. 48. Die Ambivalenz des Konzepts >simplicitas< in nationalem Kontext ist noch die entscheidende Voraussetzung für Friedrich Dedekinds negativen Preis deutscher Grobschlächtigkeit in seinem Grobianus (1549). Der Beginn des Werkes appelliert geschickt in satirischer Stoßrichtung an Stereotypen des Nationaldiskurses, indem es nicht nur die Indigenität und Charakterstetigkeit der Germanen, sondern auch die positiv konnotierte >simplicitas< der Deutschen unter umgekehrten Vorzeichen betont: »Quisquís es a nullo qui te patiere doceri,/imperia et qui non vis aliena pati:/hinc pete degendae praecepta salubria vitae./si tibi simplicitas rusticitasque placent« (Zitiert nach Schnur: Lateinische Gedichte deutscher Humanisten, S. 92, Kap. 1 v. 1 - 4 ) . Ironisch verbindet Dedekind die Antithese von >simplicitas< und >cultuscultus simplicitatis< der Zeitgenossen spricht (S. 96 v. 38). Der besondere Effekt des Grobianus beruht bei all dem auf einer gezielten Überlagerung des Wertekosmos der Taciteischen Germania mit dem >cultussimplex< bzw. >simplicitas< fällt nur Germ. 23, dort allerdings in einschlägigem Zusammenhang (»cibi simplices«). Damit ist insgesamt der Einspruch von Müller: Germania generalis, S. 424-428 gegen Krapf hinfällig. Met. 1,113-115. Die Entwicklung und Entartung von Gerichtsbarkeit ist auch für Celtis Signum des Verfalls. Vgl. Ov. met. 1,91t Celtis wählt die Form des Ovidischen Weltaltermythos auch in Od. 3,8, wenn er die Erfinder des Gewehrs (>bombardaDoch bei einer solchen Lebensweise gab es keine Bildung (Tac. Germ. 19,1), keine gesetzlichen Regelungen, keine Bemühung um die schönen Künstebarbaries< wird in Am. 3,9 durchgeführt. Price: Desiring the Barbarian. Oratio 66.
430 Nun hat uns das Wohlleben der Italiener und ihre rücksichtslose Brutalität beim Auspressen unheilvoller Gelder in einem Maße verdorben, daß wir schlichtweg mit mehr heiligem Anstand in jener wilden und unzivilisierten Existenzform dahinvegetierten, wo wir uns immerhin in Selbstbescheidung übten, als nun soviele Objekte für unersättliche Völlerei und Ausschweifung einzuführen und fremde Sitten zu übernehmen.
Der Passus versammelt deutlich sichtbar die zentralen asymmetrischen Gegenbegriffe< aus Am. 2,9. Wörtlich zitiert Celtis etwa die Auswirkungen des italienischen Luxus (Am. 2,9,116: »Instrumenta gulae«), der Zusammenhang mit der gedanklichen Architektur der Elegie ist evident. Das ursprüngliche Leben der Germanen ist nicht nur >rudis< und >silvestrisrein< und von >Maß< geprägt, während die Dekadenz mit dem Eindringen fremder Sitte einhergeht, die den unverfälschten Urzustand korrumpieren. Man sieht deutlich: Auch hier steht hinter dem regressiven Ursprungsideal ein Indigenenmythos, der als invektivische Spitze gegen die Italiener gewendet wird. Kulturelle Verfeinerung erscheint hier in pejorativer Sicht als Unersättlichkeit in sinnlicher wie finanzieller Hinsicht. Die beißenden Ausfälle gegen die Italiener bzw. den >Italicus luxus< verleihen der Zeitklage eine Schärfe, die den Text in einem gattungstypologischen Übergangsfeld von Elegie und Moralsatire verortet. Am. 2,9 leistet genau das, was Celtis in der Ars versificarteli als Aufgabe des »poema Satiricon« bezeichnet, nämlich daß in diesem >verworfene und unehrenhafte Subjekte eine Abreibung erhaltene 368 Ihrer Tendenz nach ist die Satire eine >sentimentalische< Gattung, und so zielt Celtis' Verdikt über die Dekadenz der Italiener - und in ihrem Gefolge der Deutschen seiner Zeit - auf ein positives Idealbild ab, das retrospektiv in der Lebensform der alten Germanen gezeichnet wird. Demnach bilden Lob der Vorzeit und satirische Abrechnung mit der Gegenwart nur zwei unterschiedliche Annäherungsweisen eines Projektes und einer Intention. >Laudes< und >vituperatio< sind rhetorisch und topologisch komplementär, so daß das eine für und neben das andere treten kann, das Enkomion die Satire flankiert und umgekehrt. Poetologisch reflektiert hat Celtis dies an anderer Stelle, in der bereits behandelten Od. 3,28 (»Ad Ioannem Tritemium druidam, abbatem in Spanhaim«), 369 die nicht nur das entscheidende Zeugnis für Celtis' Druidenmythos darstellt, sondern auch, auf die Person des Freundes Trithemius abzielend, ein Lob altdeutscher Lebensweise anstimmt. So kommt der Dichter im Zusammenhang mit Trithemius' maßvoll-pythagoreischer Lebensweise auf die der deutschen Vorväter zu sprechen, die sich in entsprechender Weise von Kohl und anderem Gemüse ernährt hätten. Zu deren Zeit habe es noch keine orientalischen Gewürze wie Pfeffer und Safran gegeben, aber auch keine Krankheiten, die nun die Kräfte der Heutigen schwächten (Am. 2,9,85: »Rarus erat 368 369
Fol. C l v - C 2r: »Quo turpes (C 2r) inhonestique defricantur«. Vgl. oben Kap. 6.4.3.
431 morbus«), ebensowenig wie Hurerei (>scortaFreundschaftsode< vor allem um ein Enkomion des Adressaten, nicht um >vituperatio< in allgemeiner Sache. 370 Celtis' Rede von einem >Preislied auf Trithemius< hat poetologische Reichweite, unterstreicht sie doch die rhetorische Verankerung eines wichtigen Odentyps in der epideiktischen Form der Lobrede. Andererseits verweist die Wendung von den »carmina turpium« auf die zitierte Definition der Satire als Strafrede gegen >turpes< und >inhonestipathetischen Satire< Juvenals für Text und Gattungsspektrum der Amores weiter als bisher zu bedenken. 372 Man hätte hier mit Am. 1,14 zu beginnen, das schon in seiner metrischen Form aus dem Rahmen der Elegie herausfällt (»De exclusione; necromanticas et magicas artes commemorat«). 373 Es genügt in diesem Zusammenhang, den pathetischen Auftakt des Gedichts zu zitieren, um das Gemeinsame in Stillage und Thematik, das Am. 1,14 wie Am. 2,9 an die satirische Tradition eines Juvenal rückbindet, zu kennzeichnen: 370
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Daher bricht Celtis den satirischen Ausfall mit den Worten ab (Od. 3 , 2 8 , 4 6 - 4 8 ) : »Non sunt canenda hic carmina turpium,/Sed laudibus summis colendus/Tritemius, decus omne nostrum.« Blänsdorf: Horaz' Satiren, bes. S. 291t. (zu Am. 2,9) sowie Wenk: Abenteuer im Kopf zeigen dies anhand der Horaz-imitatio der Amores. Celtis' Verhältnis zu Juvenal ist offenbar von Anfang an eng gewesen. In der Ars versificandi reiht er etwa den Satiriker unter die »optimi auctores« ein. Später hat er offenbar eine Zeit lang eine Edition des Juvenal geplant, wie aus einem Brief des Petrus Neve an Celtis hervorgeht ( B W Nr. 143, S. 236f„ dort S. 237): »Petimus ego cum triginta honestis viris, ut nobis utramque Ciceronis rethoricam et Juvenalem inceptum, quam primum poteris, absolvas«. Dazu umfassend Wiegand: Magie.
432 Quo pudor et probitas, veteris vestigia saecli, Quo fugit aut virtus venerandaque semper honestas? Moribus antiquis non est aequabile nostrum Aevum; et in aetherias iterum compellitur auras Ire pudicitia et fugit indignata tenebras. 374 Scham und Sitte, die Spuren der alten Zeit, wohin sind sie entflohn, und wohin entflohen Anstand und Rechtschaffenheit, die man doch stets pflegen sollte? Mit alter Sitte läßt sich unsre eigene Zeit nicht vergleichen; ein zweites Mal sieht sich Frau Ehre gezwungen, in den Himmel zu enteilen, so flieht sie voller Empörung das finstere Dunkel (der Erde). Durchsetzt mit Vergilischen und Ovidischen Junkturen wird hier der Beginn von Juvenals sechster, der sog. >Weibersatireaurea aetasPudicitia< (luv. 6,14) und D i k e (ν. 19) aus einer zerrütteten Welt reicht (luv. 6 , 1 - 2 0 ) . Es ist dies dieselbe Ovidische Folie, die beide Texte in den
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Amores
Am. 1,14,1-5. luv. 6,1-8. Schon bei Juvenal sind »caules« die bevorzugte Nahrung dieser idealen Vorzeit (luv. 6,19). Vgl. Celtis, Am. 2,9,73.
433 voraussetzen, und beide Male werden sie, wie von Juvenal vorgezeichnet, zur Form einer exemplarischen Weiberschelte, an der sich alle anderen Übel der Zeit - Verweltlichung des Klerus, Luxus, Habgier u. a. - kristallisieren können. Sieht man auf Thematik und Metrum, zeichnet sich die Linie einer sukzessiven Gattungsverschiebung ab, die von Juvenals exordium von sat. 6 über das metrisch-thematische Äquivalent von Am. 1,14 zur Übersetzung der Weiberschelte in die elegische Welt in Am. 2,9 führt. Konstant erhalten bleibt dabei das Dreieck von Ovidischem Kulturentstehungsmythos, kultur- und zivilisationskritischer Attitüde und Konzentration auf das »muliebre nefas« als Ausdruck einer allgemeinen Depravation sittlicher Maßstäbe. Von dieser Konstante aus wären die Einzelmotive, die den Grundkontrast von archaischer >simplicitas< und zeitgenössischer Überfeinerung ausmalen, weiter zu beschreiben. Bereits Juvenal dekliniert über Hunderte von Versen einen ganzen Stereotypenkatalog misogyner Weltsicht durch, aus dem sich Celtis für seine >vituperatio< bedient. Aufschlußreicher für eine Gattungsbeschreibung sind jedoch die Schnittstellen, an denen sich eine wechselseitige Übersetzung von »poema satiricum« und »poema elegiacum« nachvollziehen läßt. Angelegt ist dieser Brükkenschlag zwischen den Gattungen bereits bei Juvenal. In der zitierten Eröffnungspassage nennt er als Vertreterinnen korrupter Moral die Cynthia des Properz und die Lesbia Catulls (v. 8f.) und bezeichnet so jenen Berührungspunkt zwischen Elegie und Satire, an den Celtis in Am. 1,14, vor allem aber in Am. 2,9, anknüpfen kann. Die elegische Welt und ihre Protagonisten erscheinen bei Juvenal in satirischer Überzeichnung als Hort von >lascivia< und >luxuriavituperatio< der Geliebten sind hier nicht nur deren notorische Untreue und die daraus resultierende Eifersucht des Liebhabers, sondern auch die »künstliche Körperpflege^ 378 Die bezeichnendste Parallele in diesem Zusammenhang bildet Prop. 1,2, wo der Dichter energisch Klage über den künstlichen Putz und die »misera luxuria« der Geliebten führt. 379 Schon hier stehen sich so natürlich-unaffektierte Schönheit (v. 5: »naturae decus«) und künstlich-fremdländischer >cultus< (v. 4: »peregrinis muneribus«) gegenüber, wird die Schönheit des »nudus Amor« gegenüber ausländischen Importen betont. 380
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Krapf: Germanenmythus, S. 70. Stellen bei Müller: Motivkatalog, S. 69. Die Wendung: »Ostrina sub veste tumens« (Am. 2,9,3) findet sich in einschlägigem Zusammenhang auch in Prop. 2 9 B 25f. Ähnlich schon Prop. 18d 26: »Turpis Romano Belgicus ore color«. Prop. 4,1,17: »Nulli cura fuit externos quaerere divos«.
434 Indes findet sich erst bei Ovid, zunächst in den Amores, auch das Leitwort der >simplicitas< in einschlägigem Sinne verwendet, wenn der Dichter über die aufkeimende Habgier der Geliebten, ihr Verlangen nach Geschenken klagt. 381 Im Gestus der Zeitklage und vor der Folie des Weltaltermythos, der hier in einigen seiner Motive vorbereitet ist, greift Ovid das Thema in Am. 3,8 erneut auf. 382 Mit nationalen Spitzen gegen die augusteische >aurea aetas< wird die Ars amatoria diesen Komplex erneut durchspielen. 383 Entscheidend ist dabei, daß bereits Ovid die kulturelle Verfeinerung (>cultusKlage über Habgier und >luxuria< der Geliebtem in die Phalanx topischer Gegenstände der Elegie ein, die auch im neulateinischen Bereich weite Verbreitung fanden. 385
6.7.3. Bilder des Nordens. Die Lappen und Celtis' Semantik der Kulturferne (Od. 4,4) Celtis hat die Ambivalenz germanischer >simplicitas< mehr als einmal im Umkreis der Germania illustrata verhandelt. Hingewiesen wurde bereits auf Od. 3,28, die das Lob einer frugalen Vorzeit mit einem Enkomion an den Freund und >Druiden< Trithemius verband. Als ambivalentes Phänomen erscheint >simplicitas< dann ein weiteres Mal im Korpus der libri Odarum quattuor, nämlich in der auch von Krapf diskutierten Lappen-Ode (Od. 4,4: »De Lapponibus silvestribus et situ Livoniae«). 386 Der Dichter schildert hier wie in Am. 4,14 und Od. 4,3 eine fingierte Reise zum äußersten nördlichen Rand der bekannten Welt, 387 dessen winterlich-dunkle Unwirtlichkeit zunächst breit und mit Rekurs auf Topoi Ovidischer Exildichtung ausgeschmückt wird (v. 1-32). Im folgenden zeichnet Celtis unter Berufung auf eigenen Augenschein (v. 37: »Vidimus«) ein Bild der unzivilisierten Lebensweise der Lappen bzw. >FinnenFenni< identifiziert, welche Tacitus im Schlußkapitel seiner Germania als ein Volk von ausgesuchter
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Ov. Am. l,10,13f. Vor allm Am. 3,8,35ff. Ars Am. 3,101ff., vor allem 113: »Simplicitas rudis ante fuit; nunc aurea Roma est«. Ebenso ebd. 1,2411 und 2,624. Ov. ars 3,211: »Sed quia cultus adest, nec nostros mansit in annos/Rusticitas, priscis illa superstes avis«. Ebenso im erhaltenen Prolog der Medicamina, der ein Lob des >cultus< bietet. Etwa Pontano: De Amore coniugali 1,1 und 1,16 ed. Soldati. Krapf: Germanenmythus, S. 8 8 - 9 1 . Einzelnes in: Kühlmann: Humanistische Lyrik, S. 973-976. Od. 4,4,21: »Inter extremos ea terra tractus«.
435 Rohheit< und >gräßlicher Armut< beschreibt. 388 In Ausschmückung der knappen Hinweise der Germania erscheinen die Lappen als ein nomadisches Volk, das ohne feste Wohnsitze, mit Fellen bekleidet, ein gemeinschaftsfernes und stummes Dasein in den nordischen Wäldern führt. Zur Beschreibung der Lebensweise dieses »incomptum« und »silvestre vulgus« (v. 34) wird über die Informationen des Tacitus hinaus ein ganzes Arsenal topischer Bestimmungsmerkmale kultureller Ödnis bemüht: neben der einfachen Kleidung und der ungepflegten Erscheinung vor allem das Fehlen urbaner Kultur, das sich in der dissoziierten Lebensweise dieser umherziehenden (v. 57: »Vagum vulgus«) Waldmenschen ausdrückt (v. 33-60). 3 8 9 Besonders negativ konnotiert erscheint dabei das Fehlen eines sprachlichen »commercium« (v. 45ff.), 390 ergreifen doch die Nordländer die Flucht, als der Dichter das Wort an sie richtet. Der unzivilisierte und erst vom Dichter, so die Fiktion, entdeckte und beschriebene Rand des bekannten >orbis< trägt so alle Signaturen einer letzten Welt. Dabei entspricht die Unzivilisiertheit ihrer Bewohner der klimatischen Unwirtlichkeit der Region »sub Arctois terris«. 391 Es ist dies dieselbe stereotype Verbindung, die bereits in der »Ode ad Apollinem« der Ars versificarteli hergestellt wurde, in der Celtis die andauernde Unzivilisiertheit der Deutschen sowohl durch das Fehlen des >Latii lepos< als auch durch Bilder klimatischer Ödnis »gelido sub axe« motiviert hatte. Im Diskurs um die Unkultur, wie ihn Celtis' Werke immer wieder inszenieren, ergänzen sich das Fehlen sprachlich-urbaner Gemeinschaft und Kultur, unzivilisierte Lebensform und nördliche Lage zu einem topischen Grundmodell, das frei auf verschiedene Regionen und Nationen anwendbar scheint. 392 Daß dabei der Gegensatz zwischen Kultur und Unkultur immer als ein solcher geographischer Räume, namentlich zwischen zivilisiertem Süden und unkultiviertem Norden, angelegt wird, ließ sich bereits an der Apollo-Ode beobachten. 393 Auf den generellen Zusammenhang zwischen Volkscharakter und geographischer Lage, der im Sinne einer Klimatheorie Celtis' Projekt einer Germania illustrata durchzieht, wird programmatisch in der Vorrede zum AmoresDruck hingewiesen. 394 Entscheidend ist dabei, daß man es mit einem topi388
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Tac. Germ. 46,1. Ebenso ausführlich in Germ. gen. 141-149, eine Stelle, auf die Krapf nicht hinweist. Das Fehlen von städtischer Kultur und Zivilisation ist eines der schwerwiegendsten Taciteischen Verdikte über die >Germania vetus< (Germ. 16), das auch von Enea Silvio aufgegriffen wird, um die Wendung zur nunmehr kultivierten Gegenwart zu betonen (Germ. 2,4 ed. Schmidt S. 47). Deutlicher in Germ. gen. 144f.: »Et nostri fugiunt rigidi commertia mundi/Congressusque hominum nec habentes ore loquelas«. Germ. gen. 146: »Hórrida barbaries rigido damnata sub axe«. Zu dieser Wahrnehmung eines >öden Nordens< vgl. Simek: Erde und Kosmos, S. 87 - 90. Kap. 2.6. Zu Celtis' stilisierten Nordlandbeschreibungen Zablocki: Beschreibungen des Ostens, S. 150-154. Praef. 9.
436 sehen Argumentationssystem, nicht mit dem Ergebnis konkreter ethnologischer Feldforschung zu tun hat. Celtis' vermeintliche Autopsie der Lappen und ihrer Lebensweise ist nichts anderes als eine literarische Fiktion, die den Zweck erfüllen soll, im Kontext der Germania illustrata einen Ersatz für die fehlenden Beschreibungen des Nordens anzubieten. Bezeichnend für die Aufwertung der Autopsie im topographisch-ethnologischen Diskurs ist es dabei, wenn diese gerade auch solche Berichte autorisieren muß, die erkennbar von literarischen Vorlagen und Stereotypen ausgehen. Wie in Am. 2,9 die »casta simplicitas« der germanischen Vorväter ein historisches Gegenbild idealer sittlicher Verfaßtheit zeichnet, so verkörpern die Lappen mit demselben Ziel ein geographisches Gegenbild. Die >simplicitas< der Lappen ist so, im negativen Sinne von >barbariesGermania novaconversio siderum< - konkret die nunmehr größere Nähe der Sonne - Bedingung, so die Kultivierung und Urbanisierung der Germania die konsequente Folge einer >mutatio< zwischen antiker und moderner >GermaniaFenni< angelegt war. 397 Der Blick des satirischen Zeitkritikers wandert von den Depravationen der eigenen Zeit in einen idealen Bezirk, der sich negativ durch die Absenz von >vitia< und >crimina< bestimmt. So summiert Celtis eine Liste derjenigen Folgeübel der Zivilisation auf, die ebenso das ursprüngliche Leben der Lappen loben wie die eigene Zeit satirisch aufs Korn nehmen wollen. Jede Art von Luxus (namentlich der topische Weingenuß), jede Habgier sowie das unselige Wirken von Advokaten, Ärzten und Klerikern sei den Lappen unbekannt, ebenso der Gebrauch des Geldes, das Anlaß zu unaufhörlichem Streit, Mord und Betrug sei. Wie sehr dies als sittliches Beispiel aufgefaßt sein soll, wird am Ende der Ode deutlich, wenn Celtis die Lappen als Idealbild einer glücklichen menschlichen Gemeinschaft apostrophiert, die frei von Verfehlungen sei. 398 Damit ist deutlich geworden, wie Celtis das Fehlen von Kultur (>simplicitasmores< vs. >cultusstudiasimplicitas< eine Ambivalenz auf, die der Taciteischen Schrift von jeher inhärent war. Celtis nimmt gegenüber den Lappen, Sarmaten, aber auch gegenüber der >Germania vetus< jenen doppelten Blick des Tacitus ein, der einerseits von der Warte des zivilisierten Römers auf die Rohheit der Germanen herabsieht, angesichts vermeintlicher Dekadenzerscheinungen der eigenen Zeit jedoch die Anspruchslosigkeit des nordischen Volkes, das ethnisch-moralisch noch ganz bei sich selbst ist, immer wieder zum Sittenspiegel für die eigenen, sich selbst und ihrem Ursprung entfremdeten Landsleute werden läßt. So ist selbst die Feststellung des Ungeschliffenen kein ausschließlich negatives Verdikt. Bereits in der Ingolstädter Rede gewinnt Celtis ihr - am Beispiel eines weiteren Nordvolkes, den Skythen - eindeutig 397
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So bemerkt Tacitus am Ende seiner Darstellung süffisant die Bedürfnislosigkeit und gelassene >securitas< der >Fennicultus< und >simplicitas< in Ovids Ars amatoria verdankt. Vor allem die Ingolstädter Rede ist insgesamt verstehbar aus der Rolle des neuen Tacitus, der seinen Landsleuten paränetisch und satirisch einen Sitten- und Zivilisationsspiegel vorhält. Die Überlegungen zu Aspekten der Semantisierung von >barbaries< und >simplicitas< in verschiedenen Texten hat darüber hinaus die »situationsbezogen einseitigen Argumentationen« 401 des Celtis auf verschiedene Faktoren und >circumstantiae< zurückgeführt. Neben der Feststellung der Kontextvarianz, die >simplicitas< zwischen >probitas< einerseits und >barbariesruditas< andererseits verortet, ist es vor allem der gattungslogische Zusammenhang, der in Am. 2,9 und anderen hier diskutierten Stücken zu bedenken ist. So ist die laudatio temporis acti< in Am. 2,9 in einen elegischen Typus mit 399
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Oratio 13: »Ut vastis et inaccessis solitudinibus pecorum ritu oberrent, ferarum pellibus et earum coriis, a quibus illis nomen est, se tantum ab aeris inclementia et illius coeli asperitate vindicantes«. Celtis leitet die Volksbezeichnung >Skythen< damit vom griechischen >σκ€τοςmeretrixFides históricas >Erlebnisphilologie< und elegischer Ich-Entwurf Für die ältere Celtis-Forschung stand im Bann von »Ausdrucks- und Erlebnisphilologie«1 die Personalunion von Autor-Ich und elegischem Protagonisten der Amores außer Frage. Der offenkundige, vom Autor selbst behauptete biographische Nukleus dieser Dichtung, die wechselnden Kulissen der zehnjährigen Deutschlandodyssee mit ihren wechselnden Geliebten, deren eine, Hasilina, sogar einen tschechischen Brief hinterlassen hatte 2 - all dies schien eine historische Authentizität anzuzeigen, die Werk und Vita wechselseitig transparent werden ließ. So galten die Elegien nicht nur dem Herausgeber des Briefwechsels, Hans Rupprich, als »dem Inhalt nach deutsche biographische Dichtung des Mittelalters«.3 Bereits der erste Biograph des Celtis, Engelbert Klüpfel,4 synthetisiert ohne weiteres die Informationen der poetischen Werke zu einer fortlaufenden Vita des Dichters, ohne sich an offensichtlichen Mystifikationen, zumal in den Amores, weiter zu stören.5 Solch lückenloses Beim-Wort-Nehmen der Dichtung bestimmt die ältere Celtis-Forschung, namentlich die nach wie vor rezipierten Würdigungen von Bezold,6 Schroeter,7 Ellinger8 bis hin zu Lewis Spitz9 insgesamt. Gemeinsam 1 2 3 4 5
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Hess: Erfundene Wahrheit, S. 136. BW Nr. 255 und 255a. Rupprich: Geschichte der deutschen Literatur IV. 1, S. 609. Klüpfel: Vita. Ein Beispiel für viele mag belegen, zu welch absurden Konsequenzen solcher Glaube an die >fides historica< des Dichterwortes führt. So nimmt Klüpfel die hintergründige Aussage der Eröffnungselegie, wonach Celtis' Mutter bei der Geburt beinahe hundert Jahre alt gewesen sei (Am. 1,1,33), für bare Münze und paraphrasiert den Text der Amores in diesem Sinne: »Matrem decrepitam ad aetatem pervenisse, ac prope centenariam vidisse quartam generationem, Celtis ipse testatum facit« Klüpfel: Vita I, S. 25. Bezold: Celtis. Schroeter: Beiträge. Ellinger: Geschichte I, S. 443-460. Spitz: Celtis.
441 ist den genannten Arbeiten dabei, wie eingangs betont, ein apologetisches Moment, nämlich der Versuch, Celtis' Dichtungen im Sinne des ErlebnisParadigmas zu beschreiben und somit gegenüber den Verdikten der älteren Forschung (namentlich den Vorwürfen des Undeutschen und der Künstelei) in Schutz zu nehmen. So spiegeln auch sie ex negativo jene »gestörte Rezeption« neulateinischer Dichtung, wie sie Günter Hess in ihren Spielarten beschrieben hat.10 Die neuere Forschung hat demgegenüber, in der Folge von Conradys richtungweisender Arbeit (wie in Fernwirkung von Hugo Friedrichs >Struktur der modernen Lyrik«11), einen Paradigmenwechsel vollzogen, der auch Celtis' >nicht-lyrischer Lyrik< und ihren spezifischen Anliegen gerechter zu werden versucht.12 Bestimmend trat hier der Gedanke der Nicht-Identität von Leben und Dichtung, einer >Verlarvungnicht-lyrische< Grundhaltung der Amores, Rang und Reichweite ihrer Ich- und Autor-Funktion näher zu bestimmen. Die Unterschiede zum erlebnislyrischen Paradigma sind dabei schon an der Oberflä10 11 12 13 14
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Hess: Gestörte Rezeption. Friedrich: Struktur der modernen Lyrik. Conrady: Dichtungstradition, bes. S. 177-182. Hess: Erfundene Wahrheit, S. 139. Pindter hat dies in ihrer Monographie durchaus berücksichtigt, aber mit den negativen Vorzeichen von Verstellung und Hypokrisie versehen: »Gerade hier wird deutlich, wie er das Erlebte mit den Farben einer überlieferten Liebesrhetorik malt und wirkliche Situationen neben typische stellt. Er vermag sich von der überlieferten Formelsprache noch nicht frei zu machen und gestaltet daher auch wirklich Erlebtes zum Teil in ihrem Gewände«. Pindter: Lyrik, S. 83. Hess: Erfundene Wahrheit, S. 141. Freilich argumentiert Hess weniger aus dem Rahmen der Gattung Elegie als auf der Grundlage einer punktuellen, wenngleich sehr bezeichnenden Etymologie des Namens >HasilinaSterbebild< zeigen wird, im Vordergrund der einzelnen Elegien wie der Sammlung insgesamt. Die Ich-Rede der Elegien, das lyrische Sprechen in eigener Person ist eingepaßt in Handlungs- und Affektmuster der klassischen Liebeselegie, deren Mechanismen, Modelle und Voraussetzungen in den vorausgehenden Kapiteln deutlich geworden sind. Entscheidend ist es dabei, die Problematik der Ich-Modellierung nicht auf eine strenge Alternativentscheidung zuzuspitzen: Das Celtis-Ich der Amores steht in durchaus wechselndem Abstand zum Ich des Autors, es laviert beständig zwischen einer von der Gattung (wie von einer Reihe anderer zeitgenössischer Diskurse) bestimmten Rollentypik und einem Sprechen in eigener Sache bzw. eigenem Namen, das die Übereinstimmung beider Instanzen zu programmatischen Zwecken von Paränese, Selbstabbildung oder Zeitklage voraussetzt. Freilich: So sehr das Rollenhafte und Theatroide, der gleichsam >prosopopoietische< Aspekt neulateinischer Dichtung, 17 seit Conrady betont worden ist, so wenig sind dessen Voraussetzungen in der zeitgenössischen Poetik und Rhetorik bislang in den Blick gekommen. Wie diese Semantik von >RolleSzene< und >Theatralitätex persona alicuius< seinen Hintergrund in rhetorisch-exegetischen Anweisungen der antiken Grammatik findet, ist in der Vorrede zu den Elegien immer wieder nachvollziehbar. 18 Ausweislich der >praefatio< sind die Amores Frucht und Elaborat einer zehnjährigen Wanderschaft des Dichters durch die vier Regionen Deutschlands: »Libros amorum nostrorum decennali peregrinatione a me conscriptos«. 19 Als dichterischer Ertrag der Wanderjahre ist der Zyklus so ausdrücklich auf ein biographisches Substrat bezogen. Dieses bleibt freilich eng an jene Partien und Aspekte des Werkes gebunden, die auf das Projekt einer Germania illustrata und ihr methodisches Prinzip - das Nebeneinander von Quellensammlung und eigener autoptisch vorgehender Recherche - verweisen. 20 Werden auf der einen Seite Wanderschaft wie Zehnjahreszeitraum als Entstehungsdauer stark akzentuiert, so fehlt andererseits jeder explizite Hinweis auf einen biographischen Grund des Liebesthemas. 21 Der zitierte Einleitungssatz der >praefatio< läßt aus naheliegenden Intentionen in der Schwebe, inwiefern auch die erotischen Aventiuren des Protagonisten Celtis Erlebnisse der eigenen Vita zur Voraussetzung haben. Wenn dieser eingangs der >prae17
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Anregend mit Perspektive auf die Neuzeit Menke: Prosopopoiia und dies.: Die Stimme des Textes, hier bes. S. 227f. Vgl. Kap. 4.3. Praef. 1. Ebenso praef. 49. Eine solche lyrische Differenz zwischen biographischem Nukleus und poetischer Selbstdarstellung wird am Beispiel Am. 1,3 in Kap. 6.2.5. beschrieben. Am. 4,1,65-72.
443 fatio< von den »libri amorum nostrorum« spricht, so bleibt diese Aussage mit voller Absicht polyvalent: Sind hier die >Liebeserlebnisse< des Dichters als biographische Realität angesprochen, deren literarische Darstellung die Amores bieten, oder ist vorrangig der Titel des Werkes gemeint, das sich solchermaßen als >imitatio Ovidii< zu erkennen gibt? 22 Man darf angesichts des apologetischen Kontextes der Vorrede der zweiten Variante den Vorzug geben. In der >praefatio< spricht der Autor Celtis, der seinen geneigten Lesern eine nicht undelikate Materie anempfiehlt und daher die >RealitätsreferenzTraktates über die Liebe< 24 bekundet: Dienen die Erlebnisse des Dichter-Ichs nur einer negativen Didaxe, einer assignatio oppositorum,25 so waren sie nicht dem historischem Individuum, sondern dem poetischen Zweck satirisch-belehrender Nutzwirkung zuzurechnen. Einer solchen Bestreitung der Realitätsreferenz dient vor allem die Trennung von Autor-Instanz und literarischer Figur, die Behauptung der gattungshaften Theatralität der Elegie, die Celtis unter Hinweis auf Hrotsvits Dramen wie auf biblische Texte in der >praefatio< vorbringt. Beide Argumente aktualisieren, wie erörtert, in komplementärer Weise ein apologetisches Manöver, das dem Argumentationssystem antiker Liebesdichtung entnommen ist. Als sog. »Fiktions-Topos«, der »ausschließlich zur Verteidigung erotischer Dichtung
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Relevant wird eine solche Ambivalenz jedoch nur beim Versuch, den Begriff selbst im Deutschen adäquat wiederzugeben, im Lateinischen zählen Amores wie die Wendung »amores (con)scribere« zum Repertoire poetologischer Selbstbeschreibung des Elegikers (Prop. 2,1,1: »Quaeritis, unde mihi totiens scribantur amores«). Die Frage des Titels und seiner Umschreibungen stellt bereits für die antike Elegie ein Problem dar. Gauly: Liebeserfahrungen, S. 33-40, bes. S. 37. Eine Tendenz zum Exemplarisch-Didaktischen, das von der biographischen Wertigkeit der dargestellten Amores abstrahiert, wird vor allem bei Ovid bestimmend (ebd. S. 39). Burck: Wesenszüge, S. 209: »Das Verfahren der Elegiker aber wird in ihren Augen vor allem dadurch gerechtfertigt, daß es sich bei ihrer ich-gebundenen Darstellung immer um allgemein menschliche Bezüge und um wesenhafte Elemente des Liebesphänomens handelt«. Den Ausführungen rinascimentaler Kommentarliteratur ist demgegenüber zu entnehmen, daß hier Properz' Dichtung mehr oder minder ungebrochen auf ein autobiographisches Substrat bezogen wird, wenngleich seine eigentliche Leistung nicht in der Erlebniseinheit beider Sphären, sondern in der »angemessenen« und »plausiblen« Darstellung und Deixis des Liebesaffekts besteht. So betont Filippo Beroaldo in seinem Properzkommentar (Bologna 1487, Fol. A 4r): »Hic unus omnium affectiones cupidineas apte: miseranter: lachrymose: inflamanter exequutus est: Idque sentiet esse uerissimum quisquís miles est cupidinis: et in castris ueneriis iam fecit prima stipendia« und schließlich im argumentum zur Eröffnungselegie: »Propertius suos et cynthiç scripturus amores in principio operis ostendit quam sit imperiosus in ipsum cupido«. So findet die Dichtung zwar ihren Anlaß, nicht aber ihr Ziel im Biographischen.
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Feichtinger: Poetische Fiktion, S. 181 u.ö. So die Formulierung in praef. 48. Hartl: >Stultifera Navis< Bd. 1,1, S. 144.
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444 aufgerufen wird«, 26 avanciert es zum Standardargument auch der neulateinischen Liebesdichtung mit reichem Fortleben bis ins 18. Jahrhundert. 27 Aus der apologetisch verengten Perspektive der >praefatio< bleibt damit die Qualität der Amores
als Ich-Rede in der Tradition der >subjektiv-erotischen Liebesele-
gie< ausgespart, so sehr sie zu den konstitutiven, von der Gattungspoetik bis ins 19. Jahrhundert wahrgenommenen Vorzeichen des Genus gehört. 2 8 Wir müssen daher, bevor wir auf die Stellung der Amores
in einer Geschichte des litera-
rischen Ichs um 1500 zu sprechen kommen, einen kursorischen Blick auf Voraussetzungen der klassischen römischen Liebeselegie werfen.
7.1.3. Entdeckung des elegischen Ichs. Zum Status der Ich-Rede in der Liebeselegie In der antiken Elegie wie in der Lyrik horazisch-äolischer Tradition führt sich der Dichter als sprechendes und handelndes Ich ein, das in eigener Sache und, anders als seine Geliebten, 2 9 unter eigenem N a m e n auftritt. D i e antike Elegie spricht von Fall zu Fall diese gedachte Einheit von Autor-Ich und literarischer Projektion, die Voraussetzung des (erotischen) Dichtens im eigenen Erfahren, explizit aus. 30 D e r Elegiker wird sich selbst zum Stoff, 3 1 indem er >seine eigene Nichtsnutzigkeit poetisch verarbeitet. 3 2 Als Distink26 27 28 29
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Stenzel: Musa iocosa, S. 654. Ebd. S. 665-671. Stroh: Werbende Dichtung, S. 5 mit Anm. 18. Erinnert sei an die Ovidische Aussage (trist. 4,10,591): »Moverat ingenium totam cantata per Urbem/nomine non vero dicta Corinna mihi«, auf die Celtis in Am. l,9,39f. anspielt. Die klassischen Belege sind hier Prop. 2,1 und die Rede vom »usus« im Proöm zu Ovids Ars amatoria (ars 1,29). Ον. Am. 2,1,2: »Ille ego nequitiae Naso poeta meae«; trist. 5,1,10: »Argumenti conditor ipse sui«. Uberhaupt führt die Ovidische Exildichtung diesen biographischen Zug der Liebeselegie weiter. Dazu eingehend Vf.: Exulis haec vox est. Ausdrücklich behauptet Ovid die Spontaneität der Leidensbekundung, die nichts Konstruiertes (»non ingenio«) sei, sondern sich allein dem eigenen Leiden verdanke (»propriis malis«); z.B. trist. 5,1,25-28: »Si tarnen ex vobis aliquis, tarn multa requiret/unde dolenda canam: multa dolenda tuli/non haec ingenio, non haec componimus arte:/ materia est propriis ingenios malis«. Zur Entwicklung der Exilelegie aus der Liebesdichtung grundlegend Nagle: Poetics of Exile, bes. S. 19-70; Stroh: Werbende Dichtung, S. 250-253. Das weite Changieren des elegischen Ichs zwischen auktorialem und Rollen-Ich ist für die antike Liebeselegie erst in letzter Zeit in den Blick gekommen. In diese Richtung argumentieren etwa Feichtinger: Poetische Fiktion; Glatt: Andere Welt. Von einer »fiktiven Autobiographie« spricht Holzberg: Liebeselegie, S. 29 zu Recht schon für Properz' erstes Elegienbuch. Burck: Wesenszüge, S. 215 stellt fest: »Wichtiger dürfte es sein, daß die Elegiker in der Nachfolge Catulls ihrem Werke die allgemeine Vorstellung zugrunde gelegt haben [...], daß persönliche Erlebnisse des Dichters dargestellt werden [...]. Diese Phasen sind nicht biographisch gemeint und auswertbar, sondern sollen nur einen allgemeinen äußeren Rahmen abstecken, innerhalb dessen der Dichter seine Aussagen von den Erlebnissen und Empfindungen des liebenden Menschen und vom Wesen der Liebe und der Liebesdichtung machen
445 tionsmerkmal ist das Sprechen in eigener Sache und Person für die Poetik der Liebeselegie jedoch wenig bedeutsam geworden. In antiker wie frühneuzeitlicher Lyrik stellt es nicht mehr als eine >Beiläufigkeit< 33 dar, die erst mit dem Paradigmenwechsel von der Nachahmungs- zur Ausdrucks- und Aussprachepoetik relevant werden wird. Nur wo lyrische bzw. elegische Dichtung in der Tradition eines Diomedes 3 4 nach dem sog. >Redekriterium< klassifiziert wird, tritt die Frage der Sprecherrolle überhaupt kategoriell in Erscheinung. 35 D i e Elegie wird hier zusammen mit Epos, Jambus, Satire und anderen dem >genus mixtum< zugeschlagen, >in dem der Dichter selbst spricht und Figuren sprechend eingeführt werdenFiktionstopos< zeichnet sich nämlich in den zeitgenössischen Vorreden und Kommentaren um 1500 ab, wie elegisches Dichten - wie die Lyrik insgesamt - zunehmend (auto-)biographisch gelesen und verstanden werden konnte, 37 ohne daß dies allerdings auch hier neben den traditionellen Definitionen der Gattung poetologisch weiter reflektiert würde. Zumindest die implizite Poetik der frühneuzeitlichen Elegie, die hierin einer mit Petrarca einsetzenden allgemeinen Biographisierung der Lyrik folgt, 38 stellt die kalkulierte Ambivalenz von in-
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will«. Weiterhin Knoche: Erlebnis; Kraus: Idealität. Gauly: Liebeserfahrungen. Eine vergleichbare Problemstellung ergibt sich im Hinblick auf die Ovidischen Verbannungsgedichte, etwa bei Ciaassen: Poeta, exsul, vates; Chwalek: Verwandlung, S. 32 nimmt in diesem Zusammenhang eine dreifache Differenzierung in »die historische [...] Verbannung des relegierten Ovid, die poetische Welt des poetischen Ego und die auktoriale Gestaltungsbasis des Dichters Ovid« vor. Friedrich: Epochen, S. 461 erörtert dies am Beispiel von Tassos Lyrik. Auch hier ist die Ich-Rede für die theoretische Bestimmung der Lyrik irrelevant: »Was gänzlich fehlt in dieser Theorie, ist das Interesse an der Subjektivität des lyrischen Dichtens. Ichrede galt auch für Tasso als eine herkömmliche Beiläufigkeit, nicht als wesentliches Gattungsmerkmal«. Zusammenfassend zu Diomedes' Taxinomie der Dichtungsformen, die auf Piatons Politeia (393c) basiert, Behrens: Einteilung, S. 25-30. Eine kurze Zusammenfassung der Renaissancepositionen zur Lyrik bietet Buck: Dichtungslehren, S. 42ff. Die drei Kategorien lauten bei Diomedes: »Genus activum« (»δραματικόν«: Tragödie, Komödie, Satyrspiel, Mimus), »genus enarrativum« (»διηγηματικόν«: Lehrdichtung) und »genus commune« bzw. »mixtum« (»μικτόν«: Epos, Elegie, Jambus, Satire). Auch Lausberg: Handbuch, § 291 S. 167. »In quo poeta ipse loquitur et personae loquentes introducuntur«. Behrens: Einteilung, S. 26f. Auch Macrobius differenziert bei Vergil nach Ausrufen »ex persona poetae« und »ex ipsius quem inducit loquentem« (Sat. 4,6,17). Der italienische Theoretiker Minturno entwickelt bereits die auf Conrady vorausweisende Theorie, wonach auch Petracras Canzoniere, wie ein epischer Text »den Wechsel von narrare und vestirsi l'altrui persona aufweise«. Regn: Mimesis, S. 391. Ludwig: Lateinische Literatur, S. 348 und oben Anm. 22. Grundlegend zur autobiographischen Qualität des Canzoniere die Studie von Santagata: I frammenti dell'anima.
446 szenierendem und inszeniertem Ich, die sich von Fall zu Fall annähern, berühren und wieder trennen, stillschweigend in Rechnung. Schon für die antike Elegie hat man daher vermittelnd von einem >idealen Ichintertextuellen< Netz von Anspielungen und Verweisbezügen zur Geltung bringen«. 53 Auch die Amores zeugen trotz oder wegen der in ihnen sichtbaren Ambiguität der Ich-Funktion von der emanzipatorischen Kraft der >imitatio< antiker Gattungen und Diskurse für eine Formung und Formulierung des frühnuezeitlichen Ichs. 54 Der Rekurs auf lyrische Genera be48
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Will man in diesem Zusammenhang den emphatischen Begriff der Autobiographie vermeiden, so bietet sich für die humanistischen Selbstbeschreibungen in Versen, die von Petrarca bis Christian Günther immer wieder Ovids poetischer Autobiographie (trist. 4,10) folgen, der weitere, bewußt unschärfere Terminus >Ego-Dokument< an. Schulze: Ego-Dokumente, hier bes. S. 11-30. Hahn: Identität, S. 18f. Zur Autobiographie noch immer Misch: Autobiographie; weiterhin Wagner-Egelhaaf: Autobiographie, hier bes. S. 127-140; Pascal: Autobiographie. Wertvoll für die theoretisch-rhetorischen Voraussetzungen Niedermeier: Poetische Autobiographie. Zum historischen Kontext um 1500 (vor allem auf volkssprachlicher Seite) vgl. Wenzel: Autobiographie, besonders das Kapitel: »Zum Verständnis der deutschen Autobiographie im 15. und 16. Jahrhundert«, ebd. S. 9-18; zur Autobiographie in neulateinischer Dichtung mit Bibliographie Ijsewijn: Companion II, S. 212-214. Zuletzt wieder Burke: Renaissance, S. 273 - 276, der unter ausdrücklichem Bezug auf Burckhardt von einer »Entdeckung der eigenen Persönlichkeit« spricht. Dazu der vierter Abschnitt der Cultur der Renaissance, hier 4. Kapitel: »Geistige Schilderung in der Poesie«. Die Bedeutung der Lyrik als Medium des Ichbezugs hebt schon Misch: Autobiographie IV,1, S. 311ff. hervor. Am Anfang der Entwicklung sieht er Dantes Vita nuova, die einen »Fortschritt in der Selbsterkenntnis, in dem dichterischen Erfassen des Seelenlebens« bedeute (Misch: Autobiographie IV,1, S. 311). Kühlmann: Humanistische Lyrik, S. 907. Dies setzt voraus, daß man die >imitatio< als umfassenden Prozeß versteht, der nicht allein auf die >verba< des Vorbilds, sondern auf komplexe Welthaltungen verweist.
448 zeichnete dabei zugleich den potentiellen Rahmen wie die gattungstypologischen Grenzen, in denen sich Selbstbezug literarisch konzeptualisieren ließ. Die Modellierung des Ichs wie der Versuch, >sich selbst zu schreiben^ war namentlich im humanistischen Kontext nicht denkbar außerhalb traditionaler Bezüge. Das Individuum war nur in dem Maße sag- und darstellbar, wie es sich in einem bestehenden Diskursgeflecht und -universum situieren ließ, das von einer Vielzahl soziopragmatischer wie rhetorisch-literarischer Erwartungen und Forderungen infiltriert war. Es versteht sich dabei von selbst, daß diese Entdeckung des lyrischen Ichs zunächst fern von Introspektion oder empirischer Psychologie auf Darstellung einer durch >imitatio< bestimmten literarischen Oberfläche gerichtet war. Nicht der auf Echtheit zielende Ausdruck eines Inneren, von Emotionen und Affekten, sondern deren rhetorisch gelungene, d.h. auf >evidentia< zielende Beschreibung und Nachahmung war hier das eigentliche Ziel. So spricht die vormoderne Poetik über Klopstock hinaus nicht generell von einem >Ausdruck des Ichs< (dieser spielt nur in der imitario-Debatte im Streit um stilistischen Selbstausdruck, das se ipsum exprimere, eine Rolle 55 ), sondern zumeist, wie schon Celtis in seiner Definition des »poema elegiacum«, objektivierend von einem >Ausdruck von Affektenexprimere< hier zunächst vor allem sprachliche >Darstellung< und Aktualisierung nach berechenbaren Regeln von Rhetorik und Gattungspoetik meint. 56 Die Forderung nach einem reinen Aus- und Abdruck von Innerlichkeit ohne rhetorische Reibungsverluste bezeichnet dann einen neuerlichen, im Zeichen der Repräsentationsepisteme stehenden Paradigmenwechsel, der im Verlauf des 18. Jahrhunderts die rhetorische Affektivität frühneuzeitlicher Lyrik zugunsten einer neuen Semantik der Tiefe und des Inneren als des Echten und Wahren ablöst. 57 Eine Beschreibung und Bewertung von Celtis' Amores wird indes noch immer erschwert durch fehlende Einzelstudien wie durch fehlende Vernetzungen der Frühneuzeitforschung insgesamt. So ist der Bezug lyrischer Genera zu Formen der Selbstthematisierung und des >Self-fashioning< um
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Dazu Quint, inst. 10,2,27. Zur Bedeutung der >imitatio< im Rahmen frühneuzeitlicher Selbstmodellierung des Individuums s. eingehend oben Kap. 5.2. und Vf.: Norm, Kritik, Autorität. Theatralität des rhetorisch geformten Sprechens und authentischer Selbstausdruck erscheinen als konfligierende Größen etwa in Erasmus' Ciceronianas wie in der gesamten >imitatioAusdruck< ist angesprochen, wenn Gottsched etwa in seinem Versuch einer Critischen Dichtkunst die »Klag-Gedichte« eines Canitz und Besser als »Muster schön ausgedruckter Affekten« bezeichnet (4. Kap. ed. Steinmetz S. 82). Grundlegend Campe: Affekt und Ausdruck.
449 150058 weder von der philologischen Humanismusforschung noch von der Mentalitätsgeschichte bislang eingehender diskutiert worden. Weder als Kontextphänomen kultureller Umbauprozesse an der Schwelle zur Neuzeit noch im literarhistorischen Horizont der Gattungspoetik 59 hat die umfangreiche lyrische Produktion der Neulateiner weitere Beachtung gefunden. Auch eine Synthese mit Forschungen zu Ich-Rolle und autobiographischem Status der antiken Elegie, die gerade in jüngerer Zeit vorangekommen sind, 60 steht noch aus. Immerhin hat die klassische Philologie inzwischen das biographische Substrat der antiken Elegie als ein zentrales Charakteristikum der Gattung neu eingekreist und beschrieben. Eine behutsame Einschränkung der seit den Rhetorik-Forschungen der Sechziger Jahren topisch gewordenen Bekenntnisse zur nicht-lyrischen, mithin nicht-biographischen Objektivität vormoderner Lyrik ist schon deshalb geboten, weil die neulateinische Elegie gerade an die kryptobiographische Ausrichtung 61 ihrer antiken Modelle anschließt und diese - unter Überblendung mit angrenzenden elegischen Formen wie der Ovidischen Exildichtung - intensiviert, ein Vorgang, für den die >syntagmatische< Narrativierung der Dichter-Vita in den Amores den Präzedenzfall geliefert hat. Für eine Bewertung des ambivalenten Potentials, das Celtis' Dichtung als Form biographischer Selbstdarstellung bereithält, ist daher mehr denn je ein differenzierter Zugriff vonnöten, der sowohl die Skylla unhinterfragter Biographistik als auch die Charybdis einer ausschließlich fiktionalen Einschätzung der Ich-Rolle vermeidet. Das Ich der Amores bezieht in jedem der 64 Texte einen neuen, je changierenden Standort zwischen elegischer Rolle, auktorialem Dichter-Ich und einem nur fragmentarisch faßbaren historisch-lebensweltlichen >Ich an sichhistoria< des OichteT-peregrinator erst im Medium der Elegie sagbar wird: Beide Bereiche, das »Biographische« wie das »Fiktionale« des Celtis-Ichs »gelten auf der Ebene des Werks gleich« 63 bzw. verbinden sich in ihm. So scheint es ratsam, weder auf noch hinter die Burckhardtsche Position zurückfallen, die Emphase der >Entdeckung des Ichs< historisch zu relativieren und auf ihre Voraussetzungen und Verankerungen in einem rinascimentalen Glauben an die »Formativität« des Ichs und seiner
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Greenblatt: Self-Fashioning, bes. Einleitung, S. 1 - 9 . Hempfer: Gattungstheorie; mit rein klassifikatorischer Ausrichtung und erst bei Scaliger beginnend Trappen: Gattungspoetik. Dazu oben Anm. 32. Veyne: L'élegie érotique, S. 55: »L'élégie est une poésie pseudo-autobiographique où le poète est de mèche avec ses lecteurs aux dépens de son propre Ego«. Genette: Discours du récit, S. 72. Worstbrock: Konstitution, S. 27.
450 Rede zu bedenken, in dem imitative Formung und Anbindung an antike Muster der Selbstthematisierung zugleich Verpflichtung wie potentielle Emanzipation bedeuten. 64 Denn unübersehbar zeichnen sich andererseits in Celtis' Werk Differenzen und Berührungen gegenüber genuin autobiographischem Schreiben ab. Einerseits ist dessen Ichzentriertheit durchgehend auch für die Amores konstitutiv, dienen auch sie »in ihrer elaborierten schriftlichen Gestaltung dem Bedürfnis nach Anerkennung und Überlieferung des eigenen Namens, sowie der Ordnung und Sinngebung des Lebens«. 65 Auch die narrative Straffung des >Liebesromans< trägt zur Annäherung an das autobiographische Ziel einer »Geschichte der Persönlichkeit« 66 bei, für die auch die parallel zu den Elegien entstandenen Viten des Celtis Zeugnis ablegen. Andererseits jedoch fehlt in den Amores selbst jede Form von Erinnerung, Rückblick oder Introspektion. Als Form affektischen Sprechens gestattet die Elegie nur ausnahmsweise restrospektives Innehalten und Räsonieren im Stile jener pentimento^ und >conversiomiseria< bezogen, ohne wie im Falle Petrarcas eine quasi-auktoriale Ebene erinnernder Reue jenseits des >Liebesromans< selbst zu konstruieren. Die elegische Zeitstufe ist das Präsens, sie ist bestimmt von der distanzlosen Unmittelbarkeit der Emotion. Eine vergleichbare Ebene auktorialer Übersicht bezieht Celtis dagegen in seiner Widmungsvorrede (wie in Am. 4,15), um sie sogleich wieder in Frage zu stellen, da hier in der apologetischen Absicht, Autor-Ich und Ich der Dichtung zu trennen, die Reflexion über Ereignisse der elegischen Welt gerade nicht als biographische im Sinne eines >pentimento< geführt wird. So läßt sich insgesamt festhalten: Celtis' Selbstdarstellung im Medium der Elegie ist ein aktiver Prozeß biographischer Selektion und literarischer Synthetisierung, wenn nicht >bricolageEinwirkung< spricht. Die beiden folgenden Kapitel, die sich mit Beginn (Am. 1,1) und 64 65 66
Zum Begriff vgl. Vf.: Norm, Kritik, Autorität, S. 600-604. Velten: Das selbst geschriebene Leben, S. 352. Lejeune: Der autobiographische Pakt, S. 14, definiert daher die Autobiographie als »rückblickende Prosaerzählung einer tatsächlichen Person über ihre eigene Existenz, wenn sie den Nachdruck auf ihr persönliches Leben und insbesondere auf die Geschichte ihrer Persönlichkeit legt«.
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Ende (Am. 4,15) der elegischen Vita beschäftigen, wollen unter diesen Vorzeichen einen exemplarischen Einblick in die Genese frühneuzeitlicher Selbstdarstellung aus dem Geist der >Musa iocosa< eröffnen. Ihre Analyse kann dabei an die Überlegungen zu Texten wie Am. 1,3 oder Am. 1,12 anknüpfen, in denen biographisches Substrat, landeskundliches Interesse und elegischer Handlungsrahmen eine untrennbare Verbindung eingehen.67 Auftaktelegie und Sphragis der Amores sind auch gattungstypologisch insofern hervorzuheben, als sie jene Elemente des Zyklus darstellen, die am wenigsten von Lösungen der antiken Elegie determiniert sind. Beide Texte dienen dazu, der elegischen >peregrinatio< jene biographisch->syntagmatische< Linearität zu verleihen, die sie von ihren antiken Gattungsvorgängern abhebt und die Amores zu einem der bedeutendsten literarischen >Ego-Dokumente< und Memorialprojekte des frühen deutschen Humanismus werden läßt.
7.2.
Die Geburt des Dichters und die erotisch-astrologische Kinetik der Amores (Am. 1,1)
7.2.1. Entstehung, Form, Funktion: Pighinutius' Einleitungsode zu Am. 1,1 und der Gedichttypus >De natali suo< Die Amores werden von einer Briefelegie eröffnet, die sich an den langjährigen Freund Fridianus Pighinutius aus Lucca richtet.68 Im Druck der Amores wie in der sog. Nürnberger Handschrift,69 dem poetischen »Notizbuch des Dichters«,70 ist der Text überschrieben: »Ad Fridianum Pignucium Lucensem infeliciter se ad amorem natum esse configuratione horoscopi sui« (>An Fridianus Pignucius aus Lucca. Wie er aufgrund seiner Nativität eine unglückliche Disposition zur Liebe besitzeSäkularausgabe< geplant hatte. 7 5 Die
einzelnen libri Amorum
sollten hier von je einer Ode präludiert werden, die
ein Freund und Sodale an Celtis richtete, ein Vorhaben, das auch noch die Wiener Fragmente der Druckvorlage zu den Amores
erkennen lassen. Das
zweite Buch der Elegien sollte so von einer Ode A d a m Werners, das dritte von einer Ode Jakob Lochers und das vierte von einem Gedicht Reuchlins eingeführt werden. 7 6 Keiner dieser Texte wurde freilich in der Druckfassung der Amores
von 1502 berücksichtigt. Die Freundschaftsoden beschwören,
ähnlich wie der Brief des Sebald Schreyer, der dem Druck von 1502 zusam-
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Am. 1,1,1t: >In Versen soll ich dir eröffnen, mein Freund Pignucius, welches meine Nativität istsinus Codanus< behandelt, fehlt dagegen. Offenbar hatte Celtis Mühe, einen entsprechenden Sodalen aus dem Norden Deutschlands zu finden. Einen Ersatz hierfür stellt offenbar der - wohl von Celtis fingierte Brief des Quirinus, des Syndikus von Lübeck (BW Nr. 259), dar. Auch die Ode des Pighinutius motiviert mit ihrer Frage nach der Nativität des Dichters strenggenommen nur Am. 1,1, nicht spezifisch das erste Buch der Amores. Auf dieses verweist vielmehr die Ode des Adam Werner von Themar, die bereits im ersten Vers Hasilina apostrophiert und in ihrer Vergöttlichung der polnischen Geliebten einem Text wie Am. 1,8 zu korrespondieren scheint.
453 men mit einem Antwortschreiben beigegeben ist, einen Celtis, der Zentrum und Ausgangspunkt eines Kreises von Sympathisanten der >studia< bildet. Der Autor der Amores erscheint hier als neuer Orpheus, als translator artium< und »princeps lyricae cohortis«, wie Locher schreibt, 77 daneben auch als >poeta peregrinuscarmen lyricumpoeta laureatus< auf sein Horoskop zu sprechen. So bleibt es hier noch bei den >laudes< des >poeta doctus< Celtis, der sich nunmehr anschickt, >alle gefeierten Dichter< des Nordens wie des Südens in seiner Dichtung zu übertreffen. 82 Wie in der Ars versificandi ist es der Italiener Pighinutius, von dem sich Celtis seine nunmehr erreichte Gelehrsamkeit und poetische Meisterschaft bestätigen läßt. Der Druck des Proseuticum läßt exemplarisch die lange poetische Inkubationszeit eines Textes wie Am. 1,1 erkennen, der in Pighinutius' >paränetischer< Ode bereits seit 77 78
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Pindter: Amores, S. 107, v. 29. Ebd. V. 1 - 4 : »Qui diu multis peregrinus oris/Ductus herois fidibus fuistiySiste iam duras penetrare terras,/Optime Celtis«. Hess: Typen, S. 485. Zur Bedeutung der poetischen Epistel für den Humanismus vgl. Borinski: Poetik Bd. 1, S. 127; vgl. Schäfer: Deutscher Horaz, S. 24ff. Der Druck enthält keine Jahreszahl, ist aber sicher aufgrund des aktuellen Gehalts unmittelbar nach der Krönung entstanden (1487). Der Titel der Ode lautet hier (Fol. [l]v): »Fridiani Pighinucij itali oratorie et poete Ernesti Parthenopolitani archipresulis ad Conradum Celtis Ode paranetice«. Vor allem die enge Verbindung zu Pighinutius, die auf dessen Rolle in den Begleitdichtungen zur Ars versificandi (1486) verweist, rückt das Gedicht in den Kontext des Jahres 1487. Das berührt sich in der Tendenz mit einer elegischen Epistel des Pighinutius, die sich im Anhang der Ars versificandi (Fol. C 5 v - C 6r) findet (abgedruckt in BW Nr. 4). Dazu eingehend oben Kap. 2.6.3.
454 1487 potentiell angelegt war. Freilich differiert die Version der Nürnberger Handschrift erheblich von derjenigen im Proseuticum ad diuum Fridericum tercium. Es dürfte Celtis selbst gewesen sein, der den Text des Pighinutius seinen neuen Interessen entsprechend modifiziert und in den Zusammenhang der Amores eingelassen hat.83 Dies dürfte in gleicher Weise für die übrigen Vorsatzoden der vier Elegienbücher gelten. Für Lochers Ode, die in einem Fragment der Österreichischen Nationalbibliothek erhalten geblieben ist, läßt sich dies noch an einem Textvergleich verifizieren.84 Im Hinblick auf Am. 1,1 sind nun vor allem die Metamorphosen der Pighinutius-Ode von Bedeutung, da sich in ihnen deutlich die Akzente widerspiegeln, die der Autor für die innere Disposition seines Zyklus setzt. Beide Versionen der Ode sind ihrer Grundtendenz nach gleichartig, beide intonieren ein Enkomion auf den Dichter Celtis, in dem verschiedene Topoi des rhetorischen Personenlobs durchdekliniert werden. In diesem Zusammenhang zielt die Frage nach der Geburtsgestirnung, wie sie am Anfang, im Zentrum und am Ende der Ode aufgegriffen wird, auf eine >laus a geniturapoeta doctuspraeceptor< (»Precipis quantis rigeant pruinis«), dessen Erudition der Unterweisung der >Stadt< gemeint ist offenbar Nürnberg - zu Gute komme (»instruis urbem«). Um so bezeichnender sind Celtis' redaktionelle Eingriffe in den gedruckten Text der Ode. Beschnitten ist in der Fassung der Nürnberger Handschrift vor allem der Eindruck des Exotischen und Mirabilienhaften (vor allem die 83
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So zu Recht Adel: Series nova, S. 81f.; Adel: Arbeitsmethoden, S. 9 - 1 1 . Die Modifikationen erläutert, freilich sehr summarisch, Adel: Series nova, S. 8 0 - 83. Dort findet sich (S. 81£) auch eine synoptische Edition beider Gedichte. Beide Fassungen sind synoptisch abgedruckt bei Adel: Series nova, S. 91f. Celtis tilgt in der Mitte des Gedichts drei Strophen, in denen Locher von der eigenen Person spricht. In der revidierten Fassung ist die Ode ganz auf das Lob des Celtis als >alter Orpheus< und translator artium< bezogen. Im übrigen bezieht erst Celtis das Gedicht auf Buch II der Amores, indem er den Namen der Geliebten »Elsula« einsetzt. Die Atlanten sind ein im äußersten Westen anzusiedelndes, unbekanntes Volk, von dem der Chorograph Pomponius Mela berichtet (1,23): »Ultimos ad occasum Atlantas audimus«; vgl. 1,43; Plin. nat. 5,45.
455 Erwähnung des »basiliscus« in Strophe IV). Celtis redigiert den Wortlaut der Ode so, daß sie sich nunmehr in den Kontext des nationalen und topographischen Programms der Amores einfügt. War der geographische Akzent in der ersten Fassung nur beiläufig mit den erwähnten Exotica verbunden, so tritt er nunmehr stark und fast ausschließlich hervor. Allein die Atlanten bleiben erhalten, während die entfernteren Völkerschaften wie Inder und Äthiopier gänzlich ausgespart werden. In der Fassung der Nürnberger Handschrift fokussiert die Ode so das Lob des Geographen Celtis, konkret des Illustrator Germaniaec So werden bereits in der zweiten Strophe die mythischen Äpfel der Hesperiden zugunsten der großen Ströme in und am Rande der Patria eingesetzt (v. 7f.): »Quicquid et Rhenus Rhodanusque volvit,/Carmine scribis«. Völlig neu gegenüber der ersten Version ist schließlich eine Strophe, die dem Rahmenprogramm der Germania illustrata gewidmet ist, wie es die >praefatio< im Druck von 1502 formulieren wird: Patrias gentes, populos et urbes, Aequora et montes fluviosque, silvas Noscis et toto rutilantia Olympo Sidera calles. 86 Die Stämme der Heimat, ihre Völker, Städte, Meere und Berge kennst du, ihre Wälder und Flüsse, auch die leuchtenden Sterne am ganzen Himmel.
Celtis wendet auf diese Weise das recht allgemein gehaltene Enkomion des Freundes Pighinutius in eine programmatische Einstimmung auf die konkreten Gegenstände seines elegischen Hauptwerkes um. Demgegenüber konnte die zweite Hälfte des Gedichts, in der die Frage nach Celtis' Nativität gestellt und dieser als neuer Orpheus 87 evoziert wird, weitgehend unverändert beibehalten werden. Pighinutius liefert so mit seiner Frage nach Celtis' Geburtsgestiraung den Ausgangspunkt für Am. 1,1 und bestimmt die Konstituenten der poetischen Nativität dabei nicht unerheblich mit. Versuchen wir daher, einige intertextuelle Fäden und Dialoge zwischen beiden Texten näher zu bezeichnen. Wie angedeutet, hat Celtis die astrologischen Partien von Pighinutius' Ode weitgehend unangetastet gelassen. An einer Stelle, in der siebten Strophe der ursprünglichen Fassung, präzisiert er sogar den originalen Wortlaut, um das Thema des Geburtshoroskops noch deutlicher hervortreten zu lassen (v. 22: »Natalicia sub hora«). 88 Freilich liefert Pighinutius' Text noch in einem weiteren Sinne die Voraussetzung für Celtis' Horoskopelegie. Er enthält nicht nur die motivierende Frage nach den Gestirnen, welche die Dichtergeburt bestimmen, sondern suggeriert selbst bereits die wesentlichen Eckpunkte von 86 87 88
V. 13-16. Dazu Lüh: Die unvollendete Werkausgabe, S. 381 Anm. 12. Die ursprüngliche Fassung lautet: »Maije [...] Filius terris rutilans habendum/Te dedit«; daraus wird (v. 22f.): »Maiae [...] Filius natalicia sub hora/Fulsit«.
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Celtis' Horoskop. Grundlage der Astrologica und ihrer Deutung ist dabei das astronomische Lehrgedicht des Manilius, das Celtis bereits in der Ars versificandi mehrfach zitiert und das in der Kommunikation der Freunde von Anfang an eine besondere Rolle gespielt haben muß. Über Celtis' Geburt, so Pighinutius, hätten insbesondere Merkur und Jungfrau (>VirgoErigonestudium< und >artescausae rerumpoeta doctus< bzw. >philosophus< Celtis, der in den Amores mehr als einmal seine Prätentionen auf die Schau der verborgenen Urgründe der Dinge anmeldet. Pighinutius, das zeigt die erste Fassung der Ode, rekurriert seinerseits an dieser Stelle unmittelbar auf Manilius, wenn er das geistige Auge seines Freundes erwähnt. Celtis ist dieser Suggestion eines natalen Einflusses der Virgo gerne gefolgt, und so finden wir das Sternzeichen des Dichterphilosophen an zentraler Stelle in seiner Geburtskonfiguration wieder, nämlich im astrologisch bedeutsamen >medium caeliMelpomeneWie man sich selbst lobt, ohne Mißgunst zu erregenfatamiseria< führen, anknüpfen.101 In Am. 1,1 werden solche punktuellen Anregungen astrologisch-technisch beim Wort genommen und in ihren Einzelheiten nachträglich extrapoliert. Ein im antiken Zusammenhang blindes oder ephemeres Motiv wird unter dem Eindruck zeitgenössischer Anliegen erweitert und konkretisiert. So werden an Celtis' Horoskopelegie weniger antike als zeitgenössische Signaturen ablesbar. In der vorliegenden Form und Funktion verdankt sich Am. 1,1 wesentlich der notorischen Affinität des 15. und 16. Jahrhunderts zur Astrologie, zumal der Horoskopie.102 Ihr Potential macht der humanistische Dichter einer Selbstmystifizierung dienstbar, indem er seinen Eintritt in die Welt mit der Signifikanz der besonderen kosmischen Konfiguration auszustatten sucht.103 Celtis nimmt hier Tendenzen und Diskurse des italienischen Quattrocento auf, und so kann es nicht überraschen, gerade in der Dichtung italienischer Neulateiner auf vergleichbare Beispiele poetischer Horoskope zu stoßen. 104 Solche synchronen Bezüge zeichnen sich ab, wenn man Celtis'
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mit diesen Versen des Horaz, die er mit einem Zitat aus Hör. carm. 4,6,29f. kontaminiert (BW Nr. 59, S. 98). In math. 6,30,23ff. werden die Konstellationen von Homer, Archilochos und Pindar analysiert. Auch Homers Aszendent ist - wie der des Celtis - der Schütze. Kühlmann: Humanistische Lyrik, S. 982. Etwa. Ov. epist. 15,81f.: »Sive ita nascenti legem dixere Sorores/nec data sunt vitae fila severa meae«. Hieran anknüpfend bei Giovanni Marrasio (Carmina 15,23-26 ed. Altamura): »Contribuere mihi nascenti sidera legem/et connexa pari fila fuere manu,/ut nunquam sine amore velint mea corda manere,/seu Paris ipse mihi, seu mihi Nestor ero«. Wichtig ist eine Stelle wie Prop. 1,6,291, aus der sich die schicksalhafte Bindung an das erotische Genus und damit an die elegische Vita herleiten ließ: »Non ego sum laudi, non natus idoneus armis/hanc me militiam fata subire volunt«. Konstant begegnet das Motiv der fatalen Geburtsgestirnung vor allem in Ovids Exilgedichten, z. B. trist. 5,3,27f.: »Me quoque, [...] /ferrea sors vitae difficilisque premit«; Pont. l,8,64f. Gerade von den Exilelegien ausgehend wird das Thema im 16. Jahrhundert immer wieder aufgenommen, etwa in Erasmus: »Ad Robertum Gaguinum carmen de suis fatis« (in: Schnur: Lateinische Gedichte deutscher Humanisten, S. 108-113): »Miror quae mihi sidera/nascenti implacido lumine fulserint«. Zur Astrologie in der Renaissance umfassend Garin: Astrologie. Celtis' astrologische Aussagen sind zusammengestellt bei Pindter: Lyrik, S. 145-159 und Geiger: Geographie, S. 32ff. Jetzt systematisch Vf.: Astrologie in den Amores. So stellt Grossing: Naturwissenschaft, S. 63 ein stetig wachsendes Interesse an der Geburtshoroskopie fest: »Die Geburtsgestirnungen, waren sie bis ins 14. Jahrhundert nur wenig gestellt worden und kaum in Gebrauch, kamen ab dem 15. Jahrhundert in Schwung und sind dann im 16. Jahrhundert an Zahl bereits unüberblickbar«. So hat etwa Pontano poetische Horoskopdarstellungen verfaßt. Hübner: Rezeption, S. 55-58; Preiss: Celtis, S. 241. Lüh: Die unvollendete Werkausgabe, S. 388.
459 Text etwa eine Elegie des Giovanni Pico della Mirandola gegenüberstellt, 105 die in Thema wie Funktion eine exakte Entsprechung zu Am. 1,1 darstellt. Wie Celtis gibt auch Pico eine astrologische Begründung und Rechtfertigung für die eigene erotische Disposition. Das zwanghafte Bejahen des >dulce malum< erscheint auch hier als fatale Konsequenz einer widrigen Gestirnung, die aus der Nativität - »ex configuratione horoscopi«, wie Celtis sein Gedicht überschreibt - erwächst. So kommt es zu der überraschenden Wendung, daß der nachmalige Astrologiekritiker in dieser »excusatio quod amet« (so Picos Überschrift) als einer der ersten neulateinischen Dichter die Astrologie als apologetisches Argument im Dienst elegischer >inertia< für sich entdeckt. Bei Pico wie bei Celtis wird der erotischen Fixierung eine gleichsam wissenschaftliche Aitiologie unterlegt, die das Skandalon der >vita voluptuosa< spielerisch in der Zuschreibung an kosmische Vorgänge auffängt. So betont Pico im ersten Teil seiner Elegie den determinierenden Zwang der eigenen Nativität: 106 Cogimur, est animo maior vis indita nobis, quae negat arbitrio vivere quemque suo. illa reluctantes violento vexat ab axe, illa sua mentem sub ditione tenet, stat fati series, stat non mutabilis ordo, stant leges, vetita non licet ire via. condita sunt primo firmataque foedera ab aevo quae rata sanxerunt tempus in omne dei. si sequor hanc vitam, nobis haec vita sequenda est; volvit ab imperio me mea stella suo.
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Zwang ist's! Eine Macht, die größer ist als unser Planen und Denken wirkt in uns; sie läßt uns nicht nach unserem Willen leben. Gewaltsam beherrscht sie den einzelnen vom Himmel herab, auch wenn er sich sträubt, und hält ihn in ihrer Macht. Fest steht das Schicksal, fest steht auch die unerschütterliche Ordnung der Dinge, fest die Gesetze, niemand kann auf verbotenem Pfade wandeln. Gegründet und fest sind von Urzeiten her die Bande, welche die Götter mit ewiger Gültigkeit bestimmten. Wenn ich dieses Leben führe, dann weil ich es muß. Unter seinem Regiment treibt mich mein eigenes Gestirn.
Pico expliziert dies, indem er im folgenden zweiten Teil seiner Elegie die Positionen der Zodiakalzeichen in den 12 Häusern des eigenen Geburtshoroskopes der Reihe nach in j e einem Distichon durchgeht. Dabei bleibt die Darstellung der Nativität im wesentlichen deskriptiv, eine explizite Deutung der Konstellation wird am Ende dem astrologisch Versierten überlassen: »Iudicet, Assyria qui stellas novit ab arte,/si mihi bella sequi, si nec amare li-
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Carm. 2 ed. Speyer S. 40f. Die Elegie befindet sich in einer handschriftlichen Sammlung von neun Stücken, die offenbar das erste Buch von Picos Amores darstellen. Der Autor hat seine Sammlung offenbar selbst später - aus künstlerischen bzw. moralischen Erwägungen - verworfen. Zur Überlieferung ed. Speyer S. 8 - 1 9 ; zu carm. 2 ebd. S. 26. Ebd. v. 1 1 - 2 0 .
460 cet.« 107 Die Elegie ist aber schon deshalb der bemerkenswerteste Vergleichsfall zu Am. 1,1, weil sie innerhalb des Zyklus von Picos carmina eine Position einnimmt, die der von Celtis' Eröffnungsstück entspricht. So wird der Blick auf die Gestirnkonfigurationen bei der eigenen Geburt zum vertrauten Motiv in der Dichtung des 16. Jahrhunderts, das sich dem astrologischen und kosmologischen Leitdiskurs einfügt. Immer wieder tritt es dabei als Sonderfall platonischer Inspirationslehre108 wie als Appell für den Aspekt der Naturbegabung (>naturaarsDe natali suo< zu skizzieren, für den sich weitere Belege bei Eobanus Hessus, Petrus Lotichius Secundus, Georg Sabinus oder Melissus Schede finden. 112 In den Amores wird Celtis' Nati107 108
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Ebd. v. 53f. Vadian: Poetik ed. Schäffer S. 103: »Piatonis quidem tota de furore tractatio diligenter iudicantibus ad istam naturae vim et divinitatem quam ingenia vatum ab geniturae exordio sortiuntur deflecti potest, quam coelestem esse maxime convenit, cum e coelo nobis veniat«; Steppich: Vorstellung, S. 273-281. Dabei weist Vadian in seiner Poetik ausdrücklich auf die erwähnte Stelle aus der Mathesis des Firmicus Maternus hin (ebd. S. 19). Zu philosophischen Voraussetzungen solcher Vorstellungen ebd. S. 205 - 250. Die Diskussion der italienischen Renaissance zur Frage des Primats von >ars< oder >natura< bei Steppich: Vorstellung, S. 143-155. Am. 3,10,33f.: >Eher wird er (als Dichter) geboren, als vom Lehrer dazu gemachte Entsprechend äußert sich Paul Melissus Schede. Steppich: Vorstellung, S. 282. »Neben der Geburt hat eine fast größere Bedeutung der Moment der Empfängnis«. Boll/Bezold: Sternglaube, S. 153f. »War das Datum der Konzeption nicht zu ermitteln, dann konnte der Astrologe aus den Lebensschicksalen und Taten eines Menschen dasselbe errechnen« (ebd. S. 154). Grossing: Naturwissenschaft, S. 167 resümiert zur Stelle: »Vers 31 dieses Gedichts (Am.I/i) beweist, daß Celtis die sogenannte Trutina Hermetis (Waage des Hermes) bekannt war, wodurch der genaue Konzeptionstermin zu bestimmen war«. Eobanus Hessus begründet in einem Gedicht der Farragines mit dem Titel: »Ad Amicum, cur vocetur Helius« seine besondere Beziehung zu Phoebus/Apoll/Sol, aus welcher der Dichter den Namen >Helius< herleitet, mit dem Horoskop seiner Geburtsstunde. Die enge Affinität zu Am. 1,1 ist mit Händen zu greifen: »Sol mihi nascenti primo praeluxit ab ortu,/Et quia prima mihi, Phoebi erat illa dies./Grata Deo Soli Lyra tunc fulgebar in astris/Natali primum surgere visa meo« (Farrag. S. 374; zitiert nach Steppich: Vorstellung, S. 272). Steppich: Vorstellung, S. 281 Anm. 843 stellt eine Liste von deutschen Humanisten zusammen, die ihr Geburtshoroskop als entscheidendes Bestimmungsmoment poetisch verarbeiten. So etwa
461 vität zu einem Leitmotiv, das zyklisch in jenen Elegien wiederkehrt, die sich mit dem Geburtstag des Dichters beschäftigen. 1 1 3 Der Parallelfall Picos hat verdeutlicht, wie sehr Celtis gerade in Am. 1,1 italienische Anregungen verarbeitet, ohne daß hier von unmittelbaren Modellen gesprochen werden könnte. Die Pluralität der von Celtis' kombinierten Elemente weist einmal mehr auf jene >mirifica permixtiomiseria< in der Liebe gleichsam wissenschaftlich aus der Geburtsgestirnung abzuleiten: »Infeliciter se ad amorem natum ex configuratione horoscopi sui«. D e m entspricht in der Elegie das Fabula docet des Schlußabschnitts, in dem, offenbar vom Standpunkt des auf sein Leben zurückblickenden Celtis, die Konsequenz des erotischen Lebens- und Stationenweges gezogen wird (v. 51f.: »Inde mihi facilem nulla est quae femina mentem/Praebeat«). Wie Picos Elegie so bestimmt auch Am. 1,1 ein apologetisches Anliegen, nämlich das einer - wenngleich spielerisch vorgetragenen - Begründung und >Entschuldigung< der eigenen Liebesbindung. Als Programmelegie, in welcher der Dichter aus auktorialer Distanz auf die Liebesbindungen aller vier Altersstufen zurückblickt, ist Am. 1,1 offenkundig eigens als Prolog des Zyklus angelegt. In der Nürnberger Celtis-Handschrift findet sich das Gedicht von wenigen Varianten 1 1 6 abgesehen in nahezu iden-
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Petrus Lotichius Secundus, El. 1,1, für die Ludwig: Prolegomena, S. 210f. eine Abhängigkeit von Celtis postuliert. Der Dichter, der als Soldat in der Fremde zu leiden hat, blickt zu den Sternen seiner Geburt auf: »Unde oculos tollens ad magni lumina mundi/Sidera natali metior orta meo«. (1,1,·42f.), woran sich ein kurzes poetisches Horoskop anschließt. In El. 2,8 findet sich sowohl ein Horoskop als auch eine Rede des Phoebus an den neugeborenen Dichter: »Tuque peregrini longis in tractibus orbis/Multa feres belli taedia, multa viae« (ed. Burmann S. 59). Die Bedeutung des Celtis betont auch Steppich: Vorstellung, S. 293-295. Am. 1,9,3—6;1,12; 2,8; auch 3,10,113-118; 3,12. Vgl. Kap. 2.5.6. Anm. 240. Ars Fol. A 3 r - A 3v. Dazu Pindter: Amores, S. 109.
462 tischem Wortlaut. Dabei entspricht der astrologische Befund der Dichtung den im nebenstehenden >thema coeli< erfaßten Daten. Ein Vergleich beider Quellen belegt, daß Celtis bei der Auswahl der signifikanten Informationen aus dem Thema durchaus selektiv verfährt. Eine Reihe weniger bedeutsamer Details wird in der poetischen Umsetzung aus noch zu diskutierenden Gründen ausgespart. 117
7.2.2. Zur Funktion des Astrologischen: Wirkungen der Dichternativität und doppelte Bestimmung des Liebenden Die Art und Weise, wie das astrologische Datensubstrat in Am. 1,1 aufbereitet wird, ist eine genuin poetische. Die statischen Beziehungen und Konstellationen des Horoskopschemas werden dynamisiert und in mythologische Aktion umgesetzt (>lustrareassensit< als Metaphern für günstige Oppositionen und Aspekte). So vollzieht sich in Am. 1,1 eine Götterszene gleichsam epischen Zuschnitts, in der über das Schicksal des Protagonisten im Rahmen einer Kontroverse widerstreitender Instanzen entschieden wird. Wie in Vergils Aeneis endet dabei das Geschehen mit der Verfolgung des Helden durch den unversöhnlichen, die Handlung motivierenden Zorn eines oder mehrerer Götter. So spricht auch Celtis von den >immites deos< und meint damit in erster Linie den leidvollen Aspekt von Saturn und Venus, die sich bei der Geburt des Dichters in feindlichem Schein< (»inimico lumine«) und widerstreitendem Verbund< (»male concordi foedere«) - astrologisch-technisch gesehen im >Geviertschein< (>QuadratEinflüssenFische< (Imum caeli), >Stier< (6. Haus), >Zwillinge< (7. Haus), >Krebs< (8. Haus), >Waage< (11. Haus) und >Skorpion< (12. Haus). Kober: Humanistenleben, S. 251f. Anm. 11. Zur technischen Verwendung von >foedus< vgl. Manil. 2,271, der am Beginn des Kapitels über die Aspekte feststellt: »Consensu quoque fata movent (sc. astra) et foedere gaudent«. Zu Manilius' Behandlung des tetragonalen Aspektes Hübner: TCerkreiszeichen, S. 464-472. Am. 1,1,47f.: »Efficiam: Quicumque sub hac vitam accipit hora,/Sentiat immites semper amore deos.« Boll/Bezold: Sternglaube, S. 48f. Die Voraussetzungen und Entwicklungen dieser Annäherung von Mythologie und Astrologie legt exemplarisch Seznec: Fortleben, S. 31-63 dar. Nach Müller-Jahncke: Weltbild, S. 140 ist solch >mythisches Denken
allegoria physica< mit umgekehrten
Vorzeichen. 121
und An-
ders als Pico, der die Elemente seiner Nativität lediglich auflistet und sich auf die E b e n e des Astrologisch-Technischen beschränkt, läßt Celtis die vertraute Polyvalenz der paganen Mythologie immer wieder spielerisch aufscheinen, vor allem in der Figur des Phoebus Apoll, der zugleich als Dichter- wie als Sonnengott, aber auch metonymisch 1 2 2 als der Himmelskörper >Sonne< selbst erscheint. 1 2 3 Mythologisches Geschehen (Auszug des Apoll/Sol mit seinem Sonnenwagen, aber auch die Figur des Lyra-spielenden Gottes) und siderischer Einfluß bestimmen so die Qualität des Gottes auf seinen verschiedenen Deutungsebenen. Der Moment, den Celtis hier ins mythologisch-astrologische Tableau bannt, ist entsprechend der Zeitangabe im Text (»horaque post medium tertia noctis erat«) der Beginn des Tagesanbruchs, an dem das erste Morgenrot (»roséis equis«) sichtbar wird, mithin Phoebus/Sol seinen Sonnenwagen zur Ausfahrt vorbereitet. 1 2 4
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Voraussetzung magischer Welthaltung. Für die wichtige Quelle Manilius stellt Klibansky: Saturn und Melancholie, S. 221 fest, daß »die Vorstellung der Gottheit von der des nach ihr benannten Gestirns nicht mehr getrennt gehalten, sondern mit ihr gleichgesetzt« werde. Solche Mythendeutung gehe nicht von der Methode »abstrakter Allegorese«, sondern von »konkreter Analogiesetzung« aus. Ficino hat diese heidnischen Projektionen mythologischer Figuren in astrale Körper und Wesenheiten (vor allem unter Rückgriff auf neuplatonische Quellen und Pseudo-Dionysius Areopagita) mit christlichen Anschauungen zu vermitteln versucht. Steppich: Vorstellung, S. 221f. Bei dieser Zuordnung des Charakters der mythologischen Figuren zu den entsprechenden Gestirnen stützte sich Ficino einerseits auf neuplatonische Göttertaxonomie (Zerlegung der Wesensaspekte des Göttlichen auf die olympischen Gottheiten der Mythologie), andererseits auf eine reichhaltige mythographische Literatur, die Charakteristika und Zuständigkeiten der Götter beschrieb. Zu den Quellen dieser Auffassung ausführlich Steppich: Vorstellung, S. 234f. Klibansky: Saturn und Melancholie, S. 218. Sie ist etwa in der Gestalt der Iris in Vergils Aeneis (Aen. 4,700-702 bzw. 5,609f.) greifbar, die einerseits mythologische Figur, andererseits die von ihr begründete meteorologische Erscheinung, der Regenbogen, ist. Celtis hat das Phänomen Iris in drei Epigrammen (epigr. 3,15-17) behandelt, von denen das letztere ein mythologisches Aition bietet. Im Sinne einer >Umbenennung< (Metonymie) des Funktionsbereiches durch die Gottheiten. Stellen bei Lausberg: Handbuch, § 568b, S. 292. Das hindert nicht daran, daß Celtis die Sonne wenige Verse zuvor (Am. 1,1,5) in eigentlichen Weise als >sol< bezeichnet. Am. 1,1,13-22. Ähnliches findet sich bereits angelegt im »Poema ad Fridericum«. So tritt Apoll hier zunächst in der Konstellation des >mahnenden Dichtergottes< auf, der dem Dichter Auskünfte über den Gehalt der Ars versificando erteilt, um im zweiten Teil der Elegie als Metonymie für die Sonne selbst zu stehen: »Sed sua per sudum reparat cum lumina phebus/Et reduci darum fulget in orbe iubar« (Fol. A 3r; v. 73f.).
464 Die Spekulation über das eigene Horoskop ist bei aller Selbstmystifizierung so transparent gehalten, daß sie den programmatischen Sinn der Elegie, die lebenslange erotisch-apollinische Doppelbindung des Dichters aitiologisch-spielerisch zu begründen, nicht verschleiert. Dieser funktionale Zusammenhang mit dem Gesamtzyklus wird vor allem aus dem Schlußteil deutlich, der in den elegischen Kosmos überleitet (v. 49f.). Wird so das Leitthema der >miseria< am Ende, in der Konfrontation von Saturn und Venus beleuchtet, so vollzieht sich die Selbstaffirmation des Dichters Celtis zu Beginn der Elegie. Versuchen wir, die Struktur des Gedichtes und die elementaren astrologischen Verhältnisse kurz zu umreißen.125 Am. 1,1 weist eine sehr durchsichtige, achsensymmetrische Struktur auf. Die Darstellung des Horoskopes überspannt den Mittelteil des Gedichts, das von der einleitenden Anrede an Pighinutius und der abschließenden Perspektivierung des Horoskopes auf die eigene erotisch-elegische Vita umrahmt wird. Das Horoskop selbst zerfällt dabei in drei Hauptteile: V. 5 - 1 2 behandeln den Zeitpunkt der Geburt sowie den sich hieraus ergebenden, für das gesamte Thema zentralen Aszendenten des Dichters. Der Hauptteil (v. 13-50) setzt die astrologischen Verhältnisse und Beziehungen der >Zodiakaluhr< poetisch um. Dabei enthalten v. 13-22 die Belehnung des Dichters durch Apoll/Sol, der in wörtlicher Rede eingeführt wird. Einen Gegenpol hierzu bildet die zweite Rede der Elegie, Saturns Tirade gegenüber Venus (v. 39-50). Damit sind zugleich die drei Planetengötter genannt, die Celtis' Nativität prägend bestimmen: Apoll auf der einen, Saturn mit Venus auf der anderen Seite begründen in ihren Prophezeiungen die polaren Bindungen des Helden. Auch innerhalb der genannten Großabschnitte trifft Celtis eine sehr durchsichtige Disposition, die hier nicht im Detail nachvollzogen werden muß.126 Abgeschritten wird die Reihe der sieben Planeten, deren Mittelpunkt Jupiter bildet. Im bedeutsamen >medium caeli< steht er in der Jungfrau und scheint so auf reiche Ehren für die musisch-philosophischen Aktivitäten des Neugeborenen zu deuten.127 Vor Jupiter behandelt Celtis die männlichen 125
Dazu Hinweise bei Kober: Humanistenleben, S. 248-254. Zu Celtis' Nativität weiterhin Grossing: Naturwissenschaft, S. 166f. und 196f. Ein weiteres Mal erscheint Celtis' Geburtshoroskop bei Jo(h)annes Garcaeus (Gartz/Garz, Gahrceus/Gartius u.a.): Methodus astrologiae, Basel 1570, der etwa 400 Horoskope zusammengestellt, berechnet und kommentiert hat (S. 359): »Conradus Celtes, primus Germaniae poeta, Anno 1459 Februarij D. H. M. 1.3. Mane«. Celtis' poetische Nativität hat offenbar immer wieder Leser dazu angeregt, die Daten der Elegie in das vertraute Horoskopschema zu übertragen. Einen solchen Eintrag zeigt etwa ein Exemplar der Amores in der Bibliothek Otto Schäfer (Sign.: BOSS, OS 80). Dazu die Beschreibung von Vf. in: Wiener u. a. (Hgg.): Amor als Topograph, S. 61f.
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Kober: Humanistenleben, S. 248f. Am. 1,1,26. Das >medium caeli< entscheidet über die Ehren, die dem neu Geborenen zuteil werden (Manil. 2,810-812): »Primus (sc. cardo) erit, summi qui régnât culmine caeli/et medium tenui partitur limite mundum;/quem capit excelsa sublimem Gloria sede«. Das Sternbild Jungfrau andererseits disponiert, wie oben erwähnt, zu musi-
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465 Planeten (Sonne, Saturn, Mars), nach diesem die weiblichen Mond und Venus. Dabei beginnt Celtis zunächst mit dem mittleren Planeten, der Sonne, um daraufhin zunächst die oberhalb des Sonnenorbits, dann die unterhalb befindlichen Planeten zu behandeln.128 Bedeutsamer für die Selbstdarstellung des Dichters sind indes einige signifikante Eckpunkte des Horoskops. Dies betrifft zuerst Celtis' Aszendenten 129 Schütze, der Manilius zufolge vor allem Scharfsinn und rasche Auffassungsgabe mitteilt:130 Nox erat et Februae submerso sole Calendae Transierant (,) mensis februa maesta colens.131 Candidus inflexa Phoebus tunc stabat in Urna, Próxima cui nitidae stella serena Lyrae, Cumque Sagittiferi surgebant sidera signi Horaque post medium tertia noctis erat, Itone mea me genitrix reserata effudit ab alvo Et dederat vitae stamina prima meae.
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Nacht war's, die Sonne untergegangen, der erste Februar vorbei, jener Monat, in dem das finst're Entsühnungsfest begangen wird. Strahlend stand da Phoebus Apoll in der geschwungenen Urne [sc. im Wassermann; J. R.], neben dem das heitere Sternbild der Leier strahlte. Als dann das Sternzeichen des Schützen aufging, es war die dritte Stunde nach Mitternacht, da entließ mich meine Mutter aus ihrem Leib und ließ den Faden meines Lebens beginnen.
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scher wie philosophisch-theoretischer Tätigkeit (Manil. 4,189-193). In diesem Befund scheint sich die Erwartung des Celtis zu spiegeln, durch seine >eloquentia< und >sapientia< verbindende Dichtung bleibenden Ruhm zu gewinnen. In einer Ode an Höltzel weist Celtis explizit auf die Wirkung des Jupiter im Medium caeli hin (Schäfer: Nachlese, S. 250, v. 25-28): »Candidam famam, placidamque uitam,/Integram mentem dabi, et quietam/Iupiter celso residens olympo/Rite precamur«. Ebenso Am. 2,10,71: »Iuppiter aeternos tribuat tibi, Celtis, honores«. Überhaupt ist Jupiter für Celtis das glückverheißende Gestirn, das eine >joviale< Natur verleiht (Od. l,9,3f.): »Et cui mite dedit sidere Iuppiter/Felici ingenium darum et amabile«. Kober: Humanistenleben, S. 249. Darauf weist der Terminus »surgebant« (= >ascendereDatumslüge< 135 qualifiziert werden konnte, verdienen eine eingehendere Betrachtung. Sie verweisen auf die Stilisierungsabsicht des >poeta doctusPhoebo nascere, quisquís eris. Ipse meam citharam plectro gestabis eburno Lesboaque canes carmina blanda chely, Seu te Germano contingat cardine nasci, Sive Italo, Gallo Sarmaticove polo, Nam mea sunt toti communia numina mundo, Sim licet Arctois languidior radiis.Sei du nun ein Kind Apolls, wer immer du bistmedium caeli< hervor (v. 25 - 28). Text und Übersetzung des >carmenvelamentum< präsentiert. Die Lyra gilt in der mythographischen Tradition als Instrument des Orpheus, das nach dessen gewaltsamem Tod unter die Gestirne versetzt worden sei.142 So bleiben Sternbild und mythisches Schicksal des archetypischen >poeta lyricus< auch in der astronomisch-astrologischen Diskussion aitiologisch aufeinander bezogen. Dies läßt sich etwa für jene Partien im Lehrgedicht des Manilius belegen, die der Lyra gewidmet sind. Manilius erwähnt die Leier einmal im Kontext der Sternbilder der nördlichen Hemisphäre,143 ein weiteres Mal im Zusammenhang der sog. >ParanatellontaBegleitsternbildereinst alles, was er durch Singen erreichte, in Bann schlugt Entsprechend sei die Leier, so stellt Manilius im fünften Buch der Astronomica fest, verantwortlich für musisch-musikalische Begabungen, >für Gaben der Stimme und der klingenden SaitenAstronom< Hygin in seinem vielgelesenen Kompendium De astronomia im Zusammenhang mit dem Sternbild Lyra (astr. 2,7) verschiedene Varianten der Sage über den Tod des Orpheus, die ein bezeichnendes Licht auf die mythische Szenerie von Am. 1,1 werfen. So vermerkt er etwa: »Apollo lyra accepta dicitur Orphea docuisse, et postquam ipse citharam inuenerit, illi lyram concessisse.«148 Der hier mit knappen Worten angedeutete Vorgang der Belehnung des Sängers durch Apoll entspricht im Kern dem, was Celtis in den Versen 12ff. in dramatische Aktion faßt, wenn er Apoll verkünden läßt: »Ipse meam citharam plectro gestabis eburno/Lesboaque canes carmina blanda chely.«149 Aus dieser Parallelität der Szenenführung wird deutlich, daß Celtis in seinem eigenen Horoskop Hygins Referat der Übergabeszene für seine eigene Person aktualisiert, um sich so als neuer Orpheus einzuführen. Auch andere Arrangements der Nativität von Am. 1,1 deuten in diese Richtung, so etwa
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Eobanus Hessus: Heroides 3,9,59f.: »Quaque ego nascebar fulsit lyra nocte, fuitque/ Vna ortus facies illius atque mei«; zitiert nach Kühlmann: Humanistische Lyrik, S. 330. Astr. 2,7,3. In der mythographischen Tradition besteht Unklarheit darüber, wer als Erfinder der Lyra bzw. »cithara«, mithin also des lyrischen Gesangs überhaupt, zu gelten hat. Celtis selbst bezeichnet im Titel der Apollo-Ode zwar (nach Hyg. astr. 2,7) Apoll als »citharae repertor«, weist diese aber in Am. 1,1 das eine Mal dem Apoll, das andere Mal Merkur als »eigenes« Instrument zu. Diese Version findet sich neben Am. 1,1,35f. auch Am. 2,10,73, während Apoll in Germ. gen. 46 als »Ueneri socius cithareque repertor« erscheint. Horaz bezeichnet (carm. 1,10,6) Merkur als »curvaeque lyrae parentem«. Vgl. auch die Darbietung des Orpheus-Stoffes im 5. Buch von Boccaccios Genealogie deorum gentilium, die Celtis sicher kannte (Genealogie 5, Kap. 12); Hege: Apologie, S. 252-275. Daneben besteht auch über das Instrument selbst Unklarheit. Meist werden in der mythographischen Tradition Lyra und Kithara identifiziert. Ziegler: Orpheus, Sp. 1251. Dabei sind sowohl die metonymische Bezeichnung »chely« als auch deren Zuordnung zur Insel Lesbos auf Elemente der Orpheussage, wie sie bei Hygin belegt ist, zu beziehen.
470 der allgemeine Charakter des Aszendenten Schütze, der, so Manilius an einer bereits zitierten Stelle, die Gabe verleiht, >Tiger zu erweichen und dem Löwen die rasende Wildheit zu nehmenLieblicher als Orpheuszu seiner Leier (>chelysDatumslüge< als wohlberechnete Korrektur, die der eigenen Herkunft jene Signifikanz sichert, die sie aus den referierten mythischen Verstrebungen bezieht. Die Verschiebung des Geburtstages geht offenbar von dem in den Ovidischen Fasti geschilderten Spätuntergang der Lyra am nördlichen Sternenhimmel aus und konstruiert von hier unter Rückgriff auf die mythographische Tradition Verbindungslinien zum 150 151 152
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Manil. 4,235. V. 33i: »Est tibi tantum decus ore, Celtis,/Ut queas tigres rapidas morari«. Pighinutius greift damit auf Hör. carm. 1,12 zurück. Vgl. Celtis, Od. 2,14,5-10. Wenn Pighinutius davon spricht, Celtis lasse die Sonne am Firmament stehenbleiben, so könnte sich darin eine Anspielung auf Josua, den Nachfolger Mose, verbergen, der in der Schlacht bei Gibeon die Sonne zum Stillstand bringt (los. 10,12f). Pindter: Amores, S. 107, v. 21-24: »Nempe vocali genitus Camena es,/Cuius ad cordas modulante plectro/Constitit Phoebus, silet et Minerva/Carmine capta«. Ebd. v. 25-28: »Ad chelyn totum Codanum vocasti/Vistulam et Rhenum trahis et per agros/Alveum latum fluvialis Histri,/Blandior Orpheo«. Epigr. 5,87,7-10. Ebenso Dietrich Ulsenius in einer Elegie auf den toten Celtis (BW Nr. 345, S. 621f. v. 1 - 8 ) .
471 archetypischen Lyriker Orpheus. Wenn Celtis sich auf der Grundlage von Hyg. astr. 2,7 als Schüler und Schützling des Apollo zeichnet, so verfolgt dies dieselben Intentionen der Selbstbeglaubigung wie sie das »Poema ad Fridericum« gezeigt hatte. Die Bindung an Apoll und mit ihr die Disposition zum Lyriker ist jedoch nur der eine Pol einer lebenslangen Grundspannung, die in Am. 1,1 eröffnet wird. Neben den prägenden Einfluß des Dichtergottes tritt in der zweiten Hälfte der Elegie die Einwirkung von Venus und Saturn, deren widriges Zusammenspiel (Geviertschein) die gattungskonforme >miseria< des unglücklich liebenden Helden motiviert. Im Hinblick auf den Zyklus in seiner spezifisch elegischen Dialektik von Liebesleid und Liebesfreud liegt auf dieser sinistren Konjunktion der Planeten der Hauptakzent, wie sich dies bereits im Titel der Elegie ankündigt. 156 Motiviert wird dies im Schlußabschnitt von Am. 1,1 (v. 37-50), der das kompositorische Pendant zur einleitenden Apollo-Rede bildet. Celtis faßt auch diesen Teilaspekt seines Horoskopes in ein dramatisches Tableau. Zunächst wird dabei der astrologische Befund bestimmt: Venus steht im Zeichen des Widder (»Vervex«) und, so geht aus dem folgenden Distichon hervor, im >Geviertschein< (>Tetragonum< bzw. >QuadraturUnbarmherzige Venus, die ich gezeugt aus unserem Vater, als ich sein abgeschnittenes Glied ins Meer warf: Warum spottest du über das ehrwürdige Alter meines Körpers und über die Sichel, mit der ich alles auf Erden abmähe? Ich, der ich mit dir in sinistrem Widerschein umhergehen und dir uneinträchtig verbunden sein muß, will folgendes bewirken: Wer immer in dieser Stunde sein Leben beginnt, soll stets in der Liebe die Feindschaft der Götter zu spüren bekommene So sprach er, zerbrach die unbarmherzigen Pfeile der goldnen Venus und entsandte nunmehr bleierne und träge. Celtis entwirft so ein durchaus traditionelles Bild des >maleficus< Saturn, der, wie wenige Verse zuvor festgestellt, d e m Dichter >so oft Schaden bringen sollte< (v. 24: »Saturnus, totiens qui mihi damna tulit«). 1 6 0 Charakteristik und Ikonographie des Saturn in den zitierten Versen lassen keine Spur des revidierten Saturnbildes im Sinne einer »Glorifizierung der Melancholie und des Saturn« (>Melancholia generosaalles auf Erden niedermähtstellae maleficae< und >beneficae< vgl. Boll/Bezold: Sternglaube, S. 50 und Nachträge ebd. S. 127-129. Auch der von Celtis intensiv konsultierte Macrobius bezeichnet den Saturn zusammen mit Mars als >maleficus< (Macr. somn. 1,19,20). Diese Zuordnung des Saturn zu den >bösen< Planeten kann auf eine lange antike Tradition zurückschauen, die von Klibansky: Saturn und Melancholie, S. 220 beschrieben wird. Mars als >maleficus< bei Celtis in Am. 2,10,72. Grundlegend Klibansky: Saturn und Melancholie, S. 351-394. V. 23f. Zum Prädikat der Kälte Klibansky: Saturn und Melancholie, S. 216. Dies entspricht Dürers Darstellung des Boreas auf dem Philosophia-Holzschnitt, welcher dem Winter wie dem melancholischen Temperament zugeordnet ist. Zu Recht stellt Klibansky: Saturn und Melancholie, S. 401 fest: »Diese Vorstellung unterscheidet sich in nichts von der mittelalterlichen Überlieferung«. Am. 1,1,44.
473 Beschreibung, die Celtis auch andernorts wiederholt.164 In der iatromathematischen Zuordnung der Elemente ist ihm das >Blei< zugewiesen, das für Trägheit und Verzögerung verantwortlich ist, etwa in v. 50, wo von den bleiernen Pfeilen< des Saturn die Rede ist.165 So begegnet dieser in Celtis' Texten kein einziges Mal als jener »Schutzgott des geistigen Menschen« im Sinne Ficinos, vielmehr als >malignus Croniustristitia< keine Rede sein. So stellt Celtis in einem Epigramm ein durchaus vertrautes Tableau saturnischer Dispositionen zusammen: »Saturni quicunque die fuit ortus in orbe,/Tristis, aerumnosus, relligiosus erit«. 167 Furchtsamkeit168 und >tristitiasenectusin der Liebe unnachsichtige Götter< und - so dürfte der schwierige Passus (v. 49f.) zu verstehen sein - zerbricht die Pfeile der Venus, um stattdessen seine eigenen, trägen Geschosse auf den Dichter abzusenden. 174 Der Krankheitsbringer Saturn wird damit auch zum Auslöser von Celtis' >morbus amorisPlanet, der die Verbindungen der Liebenden knüpftamor honestus< verbürgt, den die >praefatio< des /tmores-Drucks so hymnisch hervorgekehrt hatte. 178 Eine solche Verbindung der Liebenden wird in Celtis' Konstruktion durch den widrigen Aspekt, in dem Saturn zur Venus tritt, prinzipiell ausgeschlossen. Die Motorik der Liebeselegie und ihres immer wieder vereitelten >foedus amoris< erhält damit eine überraschende astrologische Aitiologie. Angesichts einer solchen prästabilierten Rollenverteilung liegt es auf der Hand, daß Saturn in Celtis' Logik gar nicht anders denn als Gegenspieler der Venus fungieren kann, soll die Dialektik von 173
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Firm. math. 6,9,11: >Saturn und Venus im Geviert: Dies kündigt Verhängnis und bitteres Unglück durch Frauen an und verleiht nicht etwa Anmut und Lieblichkeit. Niemals gestattet es vielmehr diese Konjunktion, daß die Liebe der Betroffenen ein gutes Ende findetmiseria< auf die eigene Nativität. Saturns Prophétie, der Dichter werde >in der Liebe immer die Härte der Götter zu spüren bekommene erweist sich vor diesem Hintergrund als überraschende Umsetzung eines Topos der Liebeselegie, wie er sich etwa auch bei Properz findet, der sich in seiner Eröffnungselegie gleichfalls über >widrige Götter< beklagt. 184 Ein Begründungs- und Rechtfertigungsgefüge, das dem Celtis'schen noch näher steht, wurde eingangs am Beispiel von Picos Elegie »Ad amicum excusatio quod amet« beschrieben. Auch für Pico manifestiert sich in der eigenen >mise-
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Macr. somn. 1,12,13: »In Saturni (sphaera anima delapsa producit) ratiocinationem et intelligentiam, quod λογιστικόν et θεωρητικόν vocant«. Klibansky: Saturn und Melancholie, S. 241f. Kober: Humanistenleben, S. 258. Ebd. S. 260. Klibansky: Saturn und Melancholie, S. 398f. Hier auch der Hinweis auf Poníanos Urania 1,1. Giehlow: Melancolía I, S. 10 verweist auf Gelehrte aus Celtis' unmittelbarem Umfeld in Wien, etwa Georg Tannstetter-Collimitius. Bekannt ist der Fall Luthers, der seine Nativität unter Saturn (und Sol) beklagt: »Ego Martinus Luther sum infelicissimis astris natus, fortassis sub Saturno. Was man mir thun vnd machen soll, kann nimermehr fertig werden; Schneider, schuster, buchpinder, mein weib verzihen mich aufs lengste« (zitiert nach Warburg: Weissagung, S. 78). Luthers Geburtstag und Nativität ist überhaupt der signifikanteste Fall einer durch Mystifizierung und Polemik motivierten >DatumslügeFebruarpiamina< stehen dabei offenbar in Beziehung zum Fest der Luperkalien, das traditionell im
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Auch Celtis setzt die in Am. 1,1 begonnene astrologische Diskussion in der folgenden Elegie fort. Der Beginn von Am. 1,2 demonstriert gleichsam die Folgen der sinistren Nativität für die eigene apollinische Bestimmung und soll dem Titel zufolge belegen, daß der Dichter >in der Liebe befangen sich den Helikonischen Musen nicht zuwenden könneReinigung/Sühne< in besonderer Weise konnotierte. Gefeiert wurde und wird hier nämlich das Fest >Mariae Lichtmeß< bzw. >purificatio Mariaeder vierte Sproß< seiner Mutter. So bildet ein mehr atmosphärischer Gleichklang ohne exakte Entsprechung in der Sache das Tertium beider Ankündigungen. Ein philosophischer Synkretismus, der paganen und christlichen Ritus systematisch aufeinander abbilden wollte, läßt sich an der Szene ebensowenig rekonstruieren wie eine emphatisch verstandene »Parallelisierung des Amores-Dichters mit Jesus Christus«. 193 Vielmehr verrät die allusive Engführung beider Texte Celtis' Freude an spekulativer Gelehrsamkeit, die, ohne den letzten theosophischen Ernst zu investieren, ein Beglaubigungsmodell für die numinose Umrahmung der eigenen Geburt bereitstellte. Offensichtlicher kommen solche christlichen Signaturen an einer anderen Stelle von Am. 1,1 zum Tragen. Gemeint ist das Distichon v. 33f. (»Mater, centenos quae quasi impleverat annos/Et vidit quartam stirpe sua subolem«), das Celtis offenbar unmittelbar vor dem Druck eingefügt hatte. Immerhin fehlen die fraglichen Verse in der Nürnberger Handschrift noch. 194 Celtis macht hier eine der wenigen Angaben zu seinen Eltern. Das wahrhaft biblische Alter der Mutter, die beinahe hundertjährig ihr viertes Kind zur Welt bringt, intensiviert die Grundierung des Außerordentlichen und Mirakelhaf189 190
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Wissowa: Februarius. Kober: Humanistenleben, S. 254. Der konkrete Sinn dieser >Reinigung< ist, entgegen den forschen Mutmaßungen bei Kober, theologisch durchaus ungeklärt und hängt entscheidend von der Lesart des Possessivpronomens in Luk. 2,22 ab. Ziegemaus: Darbringung, S. 143. Offenbar aber geht es um alttestamentarische Kultvorschriften (Lev. 12,1-8). Seit 1969 wird am 2. Februar die >Darstellung des Herrn< gefeiert. Am. 1,1,16. Kober: Humanistenleben, S. 254f. Kober: Humanistenleben, S. 255; zum theologischen Hintergrund knapp Stöger: Darbringung. So Kober: Humanistenleben, S. 255, dessen Spekulationen zum Perikopentext an dieser Stelle den Wortlaut überfordern. Klüpfel: Vita I, S. 30f.: Klüpfel meldet keine Zweifel an der Aussage an; die beiden Verse wurden wahrscheinlich - »tumultuaria opera«, wie Klüpfel ebd. S. 31 Anm. 1 aus den metrischen Verstößen des Distichons folgert - zum Druck eingefügt (S. 30).
478 ten der Dichtergeburt und, das wird zu zeigen sein, sie verleiht dieser eine biblische Signifikanz, vor welcher der fragile biographische Zusammenhang der Verse jede Relevanz verliert. Celtis' Angabe, seine Mutter habe bei seiner Geburt >beinahe hundert Jahre vollendet^ 195 fordert, sofern dies nicht sprichwörtlich oder hyperbolisch aufzufassen ist, 196 eine Erklärung. Eine biographische Verifizierung der Aussage ist schon dadurch ausgeschlossen, daß Celtis innerhalb seines gesamten Werkes seine Mutter nur an dieser Stelle nennt. 197 Auch die Celtis-Vita der Sodalitas Rhenana schweigt sich über Namen und Herkunft der Mutter aus. 198 Einigen Aufschluß bietet lediglich ein Brief des Neffen Konrad Wiland vom 13.12.1499, der sich im Celtis-Briefwechsel erhalten hat. 199 Aus ihm geht hervor, daß Konrad Wiland - rund 40 Jahre nach der Geburt des Celtis - »cum matre tua senili« nach Würzburg gegangen sei (ebd. S. 379). Der Brief erlaubt weiterhin den Schluß, daß Celtis tatsächlich noch drei Geschwister, einen Bruder und zwei Schwestern gehabt haben muß. Die Angabe von Am. 1,1, wonach Celtis der >vierte Sproß< der Familie gewesen sei, entspricht so offenbar dem biographischen Befund. Allerdings geht es gerade an dieser Stelle nicht um Authentizität in Celtis' Herkunft und Familien Verhältnissen, eher im Gegenteil. Der lebensweltlich-biographische Tatbestand wird nach Kräften mit einem mystifizierenden Schleier umgeben, der auf die intendierte Selbstmodellierung des Dichters verweist. Celtis' poetisches Geburtsdrama ist alles andere als ein autobiographisch gemeintes Lebensbild, und so sind auch weitere Aussagen über Umstände der Geburt oder Herkunft der Eltern gänzlich ausgespart. Nicht weniger aufschlußreich ist es ferner, daß die wenigen konkreten Informationen der Elegie - das Geburtsdatum wie die Angaben zu Eltern und Geschwistern - allesamt nur schwer mit den bekannten Fakten der Celtis-Vita in Einklang zu bringen sind, sofern sie diesen nicht evident zuwiderlaufen. Gerade Celtis' Angaben zum Alter der Mutter erweisen sich auf den ersten Blick als >erfundene Wahrheit< mit intendiertem biblischem Hintersinn. Wenn Celtis seine Mutter nämlich bei der Geburt >fast hundert Jahre alt< 195
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So offenbar der Sinn der Wendung »centenos [...] quasi impleverat annos«. Die Partikel »quasi« erhält hier, in Zusammenhang mit einer Zahlangabe, die Bedeutung >fast, beinaheimitatio< biblischer Modelle an sich, sondern in deren Transposition in den Bereich des Dichters bzw. Künstlers, wo sie der Konstruktion einer Privatmythologie zuarbeiten. Die Flucht in mythisch-astrologische Bezüge kommt in Celtis' Fall einer Flucht aus der realen biographischen Herkunft gleich, die in Am. 1,1 bis auf verwertbare Reste zur Gänze getilgt ist.214 Mythologische wie biblische Maske sollen von zwei Seiten den Anspruch auf wahre Nobilität sichern, denn - darin liegt das Fanal des Gedichttyps >De natali suo< - die Horoskopie wie die >imitatio< christlicher Figuren war bis ins vierzehnte Jahrhundert hinein auch und vor allem ein Prärogativ des Adels bzw. des Herrschers. Dieser ursprüngliche Sitz der astrologisch unterlegten >imitatiodemokratisiert< wird, 215 zeigt sich, wenn man einen Holzschnitt Burgkmairs aus Maximilians Weisskunig betrachtet, 216 auf dem die Geburt des jungen Weisskunig un verhüllt in der Ikonographie der Maria mit Kind - unter Verwendung des Christusmonogramms auf der Wiege - erscheint, der Herrscher mithin als >göttlicher Mensch< und >christomimetes< figuriert. 217 Der nebenstehende Text unterstreicht diese Funktion noch zusätzlich durch die Erwähnung eines >Kometenimitatio Christi< bereithal213 214
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Eine wichtige Grundlage bietet noch immer Kris/Kurz: Legende. Zur kompensatorischen Tendenz solcher Stilisierungen zutreffend Hess: Typen, S. 490. Burke: Renaissance, S. 395 gebraucht diesen Begriff im Zusammenhang mit dem Aufkommen des Portraits in der Renaissance. Weisskunig ed. Schultz S. 48. Das Kapitel (ebd. S. 4 7 - 4 9 ) ist überschrieben: »Wie die kunigin ainen sun gepar«. Müller: Gedechtnus, S. 147f. Weisskunig ed. Schultz S. 49: »So was doch dieser comet mit seinem schein fruntlich anzusehen, nemlich das ain jegelich herz sich zunaiget in die sehung des comets, das dann ain besonder einflus, zaichen und Offenbarung des kinds gepurt gewesen ist«. Zum »Rollenportrait« vgl. Schuster: Individuelle Ewigkeit, S. 132-137. Wuttke: Dürer und Celtis; weitere Literatur bei Schuster: Individuelle Ewigkeit, S. 152 Anm. 53. Freilich ist innerhalb der theomorphen Selbstabbildungen um 1500 sorgfältig nach Traditionen und Intentionen der >conformitas Christi< zu fragen. Diese differieren zwischen Herrscherrepräsentation, religiöser Nachfolge im engeren Sinne oder, wie bei Celtis u.a., einer spielerischen Angleichung an biblische Modelle, die lediglich auratische Bezüge assoziieren soll, ohne dabei erkennbar christliche Positionen einzunehmen und sich als »Prophet göttlicher Weisheit in Gestalt Christi« (Schuster: Individuelle Ewigkeit, S. 132) zu fühlen.
482 ten wird. 219 Mühen und Leid sind so, auch bei Celtis, die immer wieder betonte Kehrseite der göttlichen Erwählung. 220 Am. 1,1 ist damit nicht »bloßes Einleitungsgedicht der Amores«,221 sondern exponiert diese als Darstellung eines idealen Dichterlebens in vier Stationen und Altern. Dabei hat sich einmal mehr gezeigt, wie die >erfundene< - besser: die signifikante Wahrheit von Anfang an alle biographischen Residuen absorbiert. Man kann mit Recht den hohen Grad an Lebensferne, die soziale Irrelevanz und Unverbindlichkeit einer solchen Privatmythologie konstatieren. Celtis' Elegie fügt sich ein in die Bemühungen ihres Autors, den eigenen Rang als Dichter, die eigene Ortlosigkeit in einer zeitgenössischen Bildungshierarchie mit Wunschprojektionen zu kompensieren, die der prätendierten Sendung eine wie auch immer fiktive Beglaubigung verschaffen.
7.3.
>Mortuus et vivus vates aeternus in orbe estmemoria< zu sehen, wie sie für die humanistische Selbstdarstellung in Literatur wie bildender Kunst um 1500 charakteristisch wird. Im Rahmen dieser bildungssoziologisch bedeutsamen Genese artistischer Selbstdarstellung gebührt Celtis' Elegie wie deren Komplementen in der Druckgraphik ein besonderer, weil initialer Rang für den Humanismus nördlich der Alpen. In Am. 4,15 wie in Burgkmairs, in Celtis' Auftrag entstandenem sog. >Sterbebild< (Abb. 6), tritt das originäre Projekt einer ganz auf die eigene Person zugeschnittenen Säkularausgabe in aller Deutlichkeit hervor. Celtis' lebenslanges Anliegen, die Darstellung einer exemplarischen Dichterexistenz, konnte oben anhand der Genese der verschiedenen Publikationsstadien nachvollzogen werden.229 Offenbar sollten in einer ersten Planstufe, der >SäkularphaseOpera in poetica< des Celtis ein geschlossenes Bild von Leben und Werk des Dichters entwerfen, in das sich sowohl die im Amores-Druck wie in anderen Werken erhaltenen Holzschnitte, als auch eine Vita einreihen sollten, die den Dichter im vorgesehenen Jahr der Publikation - wahrscheinlich 1500 - bereits als verstorben darstellte und so die fingierte Rede von Am. 4,15 zur biographischen Realität erklärte.231 In dieses Bild paßt auch, daß das Titelblatt der Amores dem vierten Buch als Altersstufe nicht die >senectus< zuweist (wie dies die Überschrift im Text angibt232), sondern vielmehr den Tod. Aus all dem werden die komplizierten Schichtungen deutlich, zu denen die verwickelte, noch immer nicht restlos geklärte Entstehungs- und Publikationsgeschichte von Celtis' Werken geführt hat.233 Jenseits der philologischen Rekonstruktionen, die für Epi-
229 230 231
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Kap. 4.1.2. Begriff von Schäfer: Nachlese, S. 235 u.ö. Diese Celtis-Vita hat sich in einer Abschrift Hartmann Schedels erhalten (clm. 434). Dort (Fol. 70r) wird festgestellt: »Vixit annos quadraginta duo ad annum domini 1500«. Schäfer: Nachlese, S. 228f. Wuttke: Humanismus, S. 363. Im Inhaltsverzeichnis der Nürnberger Celtis-Handschrift (Fol. [l]r) findet sich der Vermerk: »Vita eius cum clare dictis et indicibus capitum librorum«. Darauf folgen die vier Bücher Elegien sowie die fünf Bücher Epigramme. Dazu Vf. in: Wiener u. a. (Hgg.): Amor als Topograph, S. 4 1 - 4 5 . Die Vita sollte also offenbar, wie dies auch später in der Odenausgabe von 1513 der Fall war, die Werkedition flankieren. Dies entspricht der üblichen Druckanordnung für Dichterausgaben. Die später in der Odenausgabe 1513 publizierte Vita der Sodalitas Rhenana gelangte offenbar nur bis zum Jahr 1496 und wurde nach Celtis' Tod sehr knapp ergänzt. Lüh: Die unvollendete Werkausgabe, S. 315 und Kemper: Redaktion, S. 6 8 - 7 2 . Vgl. Pindter: Amores, S. 75. Ein neuerliches Resümee der Publikationspläne nimmt mit Blick auf die Odensammlung Schäfer: Nachlese, S. 2 2 7 - 2 5 9 vor.
485 gramme, Oden und Holzschnitte vorgenommen worden sind, ist das Celtis'sche Werkprojekt selbst noch kaum auf jenen Problemkreis hin befragt worden, der für die Signaturen humanistischer Kultur um 1500 von zentraler Bedeutung wäre, nämlich die Frage nach der Selbstbeschreibung und -representation des Künstlers. Burgkmairs Sterbebild ist zwar vor allem in der kunsthistorischen Forschung immer wieder intensiv diskutiert und in seiner Schlüsselfunktion für das >Gelehrtenbild< nördlich der Alpen gewürdigt worden. Demgegenüber stellt jedoch eine Interpretation von Am. 4,15 ebenso ein Desiderat dar wie eine Synthese beider Zeugnisse im Hinblick auf den eben genannten Kontext von Memorialkultur und Selbstmodellierung um 1500. Beide Dokumente erfüllen eine analoge Funktion. Sie entwerfen Lebens- und Todesbilder, in denen sich die »Verwandlung des flüchtig Biographischen ins Vorbildliche und Dauerhafte« 234 vollziehen soll, beide nicht nur Burgkmairs Bild - fixieren als »papierne Epitaphe« (Panofsky) ein Vermächtnis an die Nachwelt. Die folgenden Ausführungen wollen ein Streiflicht auf solche, in der Renaissanceforschung immer wieder diskutierten Problemfelder im Umkreis von Burckhardts These einer >Entdeckung des Menschen< bzw. des Individuums werfen und vor allem jene Synergieeffekte sichtbar machen, die Celtis aus der Verbindung von Bild und Text für seine spezifischen Repräsentationsabsichten zu erzielen hoffte. Beginnen wir daher zunächst mit dem Schlußgedicht der Amores.
7.3.2. Eine Rede an die deutsche Jugend: Formen, Funktionen und Kontexte Einmal mehr legiert Celtis in Am. 4,15 in freier Form Themen und Elemente aus verschiedenen Kontexten und poetischen Modellen. Ihrer Funktion nach folgt die Elegie dem verbreiteten Typus der literarischen Sphragis, die den Dichter in eigener Sache zu Wort kommen und am Ende des Werkes zur Kennzeichnung der eigenen Autorschaft Angaben zu Person und Biographie vortragen läßt.235 Entscheidend orientiert sich Celtis dabei an klassischen Modellen. Aus den zahlreichen antiken Sphragides leitet sich vor allem die Hoffnung auf ein Fortleben im dichterischen Werk, aber auch die Imagination des eigenen Todes als dessen Vorbedingung her. Das Ovidische Modell der poetischen Lebensbilanz, die autobiographische Elegie trist. 4,10, 234
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Schuster: Individuelle Ewigkeit, S. 122. Zu Celtis' Todesbetrachtung Füllner: Natur und Antike, S. 9 2 - 9 8 . Kühlmann: Humanistische Lyrik, S. 1017. Die prägnantesten Parallelen bieten hier Hör. epist. 1,20; carm. 3,30; Prop. 1,22; Ον. Am. 3,15, und besonders Ov. trist. 4,10. Die Sphragides sind, vor allem in der lateinischen Dichtung, der angestammte Ort für Angaben zur eigenen Biographie. So besteht zwischen antiker Autobiographie und den Sphragidestexten ein genetischer Zusammenhang. Dazu Niedermeier: Poetische Autobiographie.
486 schließt gleichfalls mit einem fingierten Epitaph und bildet so den klassischen Parallelfall zu Am. 4,15. Dies gilt freilich nur mit einer bedeutsamen Einschränkung: Anders als bei Ovid, der die verschiedenen Stationen seiner (Dichter-)Vita rekapituliert, bleiben Celtis' biographische Einlassungen in Am. 4,15 wie schon in Am. 1,1 und an anderen Stellen des Zyklus betont unscharf. Die Lebensbilanz des Dichters beschränkt sich am Ende der Elegie auf eine schematische Zuordnung der vier Lebensalter einerseits auf die vier Temperamente, andererseits auf die vier Planeten, die über je ein Stadium des Menschenlebens herrschen. 236 Das Aussparen konkreter biographischer Angaben, an dem einmal mehr der Konstruktcharakter des poetischen Lebensentwurfs in den Amores sichtbar wird, führt zu demselben Befund, den Stücke wie Am. 1,1 oder Am. 1,12 angedeutet hatten: Celtis entwirft gerade mittels der Eckstücke seines Zyklus eine symbolische Biographie, die entschieden dem Ziel dient, den Dichter in einer exemplarischen, dem spezifischen Zusammenhang der Amores zugewiesenen Rolle vorzuführen. Diese Stilisierung des Biographischen ins Rollenhafte fügt sich dabei einer Tendenz zum Exemplarischen ein, die bereits Conrady als Signum neulateinischer Literatur ausgemacht hat. 237 Sie verbindet Celtis' Text auffällig mit einem anderen humanistischen >Ego-Dokumentconfirmatio< in seiner Epitoma (Fol. C 5v) ganz entsprechend: »Confirmatio est cum aliqua uel que non adest persona vel res muta et informis eloquens et habens formam introducitur, ut si Scipio reuiuiscat, diceret, ego urbi pacem peperi, uos bella concitastis«. Derselbe Gestus in Epod. 12,1, verbunden auch dort mit einem Appell zum Einsatz für Dichtung und studia: »Carmina, germano, iuvenes, quae lusimus, orbe,/Aequate vel superate nostra, posteri«. Am. 4,15,59; dieselbe Betonung der Retrospektive auch in v. 29: »Ipse meam ante actam dum verso pectore vitam«. Auch dies ist charakteristisch für einen Typus der poetischen Grabschrift, in dem der Tote als Sprecher auftritt. Segebrecht: Prolegomena, S. 456-459. Die Selbstdeutung des verstorbenen Sprechers »repräsentiert ein höheres Wissen als es den im irdischen Leben Befangenen zugänglich ist; denn seine Stimme kommt bereits aus dem Jenseits und ist entsprechend geläutert« (ebd. S. 456f.). Immer wieder hat Celtis in den Oden wie auch in den Amores solche Priamelreihen am Anfang einzelner Gedichte verwendet. Ein illustratives Parallelbeispiel stellt etwa der Beginn von Am. 3,10 dar. Orientierungsmuster war auch hier der >Horatius ethicuslaborignaviadicta memorabilialaborgravitasdefensio amorum< und >poeticespraefatio< begonnen hatte. Auf geschickte Weise werden Dichtung wie Liebesthematik hier als pädagogisch wertvoll qualifiziert und am Ende der Elegie zum Vehikel philosophischer Lebenslehre erhoben. Andererseits wird die Beschäftigung mit Dichtung wie mit den >studia< gleich zu Beginn der Elegie vom Odium des Müßigganges befreit und als entbehrungs- und arbeitsreiche Tätigkeit eingeführt. 262 Vor allem aber konterkariert Celtis unausgesprochene Vorwürfe gegen die >Musa iocosainertia< und >nequitia< - seit Ovid Schlüsselbegriffe elegischer Welthaltung - polemisiert. 263 Ähnliches gilt für die Scheltrede gegen Ehebruch und Ausschweifung, die in den Amores durch Stücke wie Am. 3,5 und Am. 4,4, in denen der Dichterprotagonist offen als Ehebrecher und unbelehrbarer >scortator< auftritt, widerlegt wird. So erfüllt das emphatische Bekenntnis zu »probitas« und »virtus« im Zentrum von Am. 4,15 vor allem den Zweck, von der erotischen Materie abzulenken und mit ähnlichen Argumenten wie in der Vorrede (praef. 15-20 und praef. 42-47) die Integrität des Verfassers der Amores gegenüber seiner literarischen Rollenprojektion im Werk zu betonen. Gerade die Ernennung zum Vorstand des »Collegium poetarum et mathematicorum« erforderte eine solche Hervorhebung pädagogischer Kompetenzen. Die Stiftungsurkunde, die Celtis von Maximilian in Bozen übergeben wird und die programmatisch im Kontext der Amores-Edition erscheint, weist der Erziehung der angehenden Staatsdiener eben jene Rolle im Hinblick auf die »bene et beate vivendi radones« zu. 264
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Sentenzen im dichterischen Werk: »Eius dicta memorabilia, praeter ea, quae carmine conscripsit«. Innerhalb der Biographik hat das Apophthegma mit moralistischem Gehalt seinen Ort vor allem in der Philosophenvita. Am. 4,4,5f. Schon in Am. 1,3,69-73 werden >labor< und >aerumnae< als Leitmotive der z e h n jährigen Wanderschaft bezeichnet. Ov. Am. 1,15,1; 2,1,2. BW Nr. 266, S. 459.
491 Im Zentrum der Elegie steht freilich ein Bekenntnis zu jenem >modernen Ruhmpii vates< auf dem >Sterbebildaetates< bis zum Tod des Dichters reicht. Andererseits ist der Tod, wie an den Zitaten aus Am. 4,15 und Am. 2,8 ablesbar, die unbedingte Voraussetzung für »fama« und »nobilitas«, die dem lebenden Dichter nur in begrenztem Maße zuteil werden können. Erst der verschiedene Dichter kann als >vir illustris< zum Gegenstand lobender Nach-Rede werden. 272 Solche Paradoxien des modernen Ruhms erklären auch Celtis' Einübung in den Nekrolog in eigener Sache, wie er bereits im poetischen Epitaph »ad lectorem« in der Ars versificarteli begegnet. 273 Die Reihe vergleichbarer Äußerungen in Celtis' Werk ließe sich beliebig erweitern, und noch die Vita registriert unter den Gnomen des Meisters die bezeichnende humanistische Variation einer >meditatio mortise »Dulcissimam esse mortem, quae cum gloria apud posteritatem reviviscet«.274 Man sollte trotz solcher stereotypen Formeln mit ihren christlichen Anklängen an Wiederkehr und Auferstehung nicht die soziologische Dimension der Fixierung auf den Nachruhm übersehen. Am. 4,15 ist in diesem Zusammenhang ein illustratives Beispiel für die lebensweltlichen Sorgen und Nöte des humanistischen Dichters um 1500, die sich in den Zwischenräumen der sonoren Ruhmesrhetorik unüberhörbar Luft verschaffen. Der oben zitierte Abschnitt aus Am. 2,8 weist dabei auf einen zentralen humanistischen Legiti-
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verstorbene Ursula in Am. 3,14,91f.: »Nullus enim maior poterit mortalibus addi./ Quam, qui defunetos concomitatur, honos«. Kessler: Brief an die Nachwelt, S. 24 stellt in diesem Sinne für Petrarca fest, »daß er (sc. Petrarca), so wie er sich als idealer Leser seiner Autobiographie mit seinen Interessen und Bedürfnissen in die Zukunft projiziert hatte, als Gegenstand seiner Autobiographie in die Vergangenheit projiziert und zu jenem >vir illustris< stilisiert, der es nach den Kritierien seiner Historiographie verdient, als Exemplum aus der Vergangenheit einer zukünftigen Gegenwart vor Augen gestellt zu werden«. Ars Fol. [D l ] v - [ D 2]r. Worstbrock: Ars versificandi, S. 47 steht Celtis' zwanghafter Antizipation des Todes als Bedingung der Möglichkeit dichterischen Nachruhms verständnislos gegenüber und verkennt die Kontinuität des Sprechens über den Tod im Werk des Dichter, die sich in »ad lectorem« bereits voll ausgeprägt findet, Versen, »in denen der 27jährige Celtis merkwürdig schon über Tod, Nachleben und Ewigkeit sinnt«. Worstbrock bringt dies mit Celtis' vermeintlicher Furcht vor einer Pesterkrankung zusammen, die ihn nach der schweren Erkrankung des Pighinutius befallen haben könnte, eine Auffassung, die Wenk: Flaccus, S. 248 zurückweist. Er sieht dies »nicht so sehr als Dokument früher Todesnähe, sondern früher Horazimitation« (nämlich carm. 2,20). BW Nr. 339, S. 613. Weiter unten betont Celtis, durchaus im Geist der Zeit, die Bedeutung einer >ars moriendi< (BW S. 613): »Non quomodo vivendum, sed quomodo moriendum cogitandum esse«.
493 mationsdiskurs, dem sich auch die Sphragis der Amores zuordnen läßt. Es ist dies das Thema der >vera nobilitasi die nicht mehr dem Geburts-, sondern dem Geistes- und Tugendadel zuerkannt wird. 275 So vollzieht Celtis unterderhand eine subtile Umwertung traditioneller gesellschaftlicher Werthierarchien. Einerseits, indem er in einer Anknüpfung an christliche >Vanitasdominatiogloriahonoresgenusvirtus< und >probitas< einzutreten, den der Dichter stillschweigend für die eigene Vita und Lebensführung beansprucht. So triumphiert der Dichter, von der Nachwelt am Leben erhalten, kraft seines poetischen wie moralischen Handelns über die nur durch Herkunft und Ahnentafel (>stemmatavera nobilitasi Wie groß hier die Diskrepanz zwischen Wunschbild und gesellschaftlicher Wirklichkeit gerät, läßt sich ermessen, wenn man in Am. 2,8 und andernorts im Umkreis der Ruhmesemphase auch die Klage über das Desinteresse der deutschen Fürsten an ihren Dichtern liest. 277 Die Herkunft aus kleinen Verhältnissen muß Celtis zeit seines Lebens als zu kompensierender Makel erschienen sein, darauf deuten die zahlreichen Aussparungen und Mystifizierungen im poetischen Werk. 2 7 8 Dient auf diese Weise die Eröffnungselegie Am. 1,1 (in anderer Hinsicht auch Am. 1,12) dazu, die >obscuritasHeidentum< etwa Nowotny: Weltanschauung, S. 11-27.
495 In den bisherigen Überlegungen hat sich abgezeichnet, wie Celtis' begriffliche und formale Hohlformen christlicher Provenienz für spezifisch humanistische Gedenkabsichten einzusetzen weiß. Der Dichter gibt sich dabei einmal mehr als Meister der Ambivalenz zu erkennen, der zwar an keiner Stelle ausdrücklich christliche Konzepte und Inhalte benennt, diese jedoch immer wieder so assoziiert, daß sich daraus eine Anbindung und Legitimation säkularglorifizierender Perspektiven des Epitaphs ableiten lassen. So steht die Begrifflichkeit auf halbem Wege und daher unangreifbar zwischen christlicher und paganer Todesreflexion. Es überrascht daher nicht, daß gerade solche Schlagworte ausgewählt und angesprochen werden, die sich beiden Gedankenwelten zuordnen lassen. Das gilt für den >laborstudia bona< zu widmen, aber auch für den Appell zur >imitatioimitatio Celtis< ohne weiteres ihre Plausibilität aus christlichen Formeln bezogen, und tatsächlich hat Celtis diese zunächst in kalkulierter Ambivalenz gehaltenen Gedanken an anderer Stelle in einen genuin christlichen Zusammenhang rückübersetzt. 290 Aber auch in Am. 4,15 bleibt ein Strukturplan und »Redesystem« 291 wirksam, wie es sich noch in den Epitaphien des 17. Jahrhunderts nachweisen läßt. So zeichnen sich auch in Celtis' elegischem Memento mori die von van Ingen benannten konstitutiven Elemente a) Vanitas-Litanei, b) Mahnung zu rechter Lebensführung und schließlich c) ein Ausblick auf das Jenseits, mithin eine »Erweiterung durch andere Elemente: Gericht, Himmel, Hölle« ab. 292 Dennoch bestehen inhaltlich charakteristische Unterschiede zwischen christlicher und humanistischer Position. Zwar wird die Strukturerwartung des christlichen Modells erfüllt, die einzelnen Bestandteile der Todesreflexion erscheinen jedoch unter spezifisch humanistischem Blickwinkel. So tritt an den angestammten Platz der Beichte und des Hinweises auf eine christliche »Lebensgestaltung sub specie aeternitatis«, 293 der stolze und selbstgenügsame Rückblick auf die eigene Vita und ihre Leistungen, die angesichts der christlichen Negativbestimmung weltlicher >superbia< bzw. >vana gloria< ein dezidiertes, nicht unprovokatorisches Signal setzen. 294 Tatsächlich subsumiert Celtis >gloria< und >honores< zunächst unter jenen säkularen Werten, denen sub specie aeternitatis kein Bestand zukommt. 295 Scheinbar mechanisch integriert er mit dem antitheti289
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Der stoisierende Habitus solcher Mahnungen findet sich auch in einem Epigramm auf Herakles (epigr. 5,23,9-12): »Exemplar vitae tibi sum, quo (Ha: qui) ferre labores/pro virtute velis, fortis adesse bonis,/Ut tuus emeritus, fessos ubi liquerit artus,/ Spiritus aethereum possit inire polum«. Man vergleiche dazu etwa Themen und Motive aus Am. 4,15 mit einem Stück aus der Oeconomia: »Ad dedicata(m) omnipotentis dei imaginem decastichon«; ed. Adel: Opuscula, S. 36. Der Begriff nach Segebrecht: Prolegomena, S. 430. So die Strukturelemente des Memento mori in van Ingen: Vanitas, S. 58-144. Van Ingen: Vanitas, S. 77-98 mit zahlreichen christlichen Gegenbeispielen und Traditionen, die illustrieren, wie Celtis einen für die Struktur des Memento mori eigentümlichen Gegensatz von irdischem und himmlischem Besitz in seiner Weise umbesetzt. Worstbrock: Konstitution, S. 23. In der Ablehnung materiellen Besitzes trifft sich im übrigen christliche >Contemp-
497 sehen Ton und Gestus christlicher Vanitas-Klage auch deren Gegenstände, um auf der anderen Seite jedoch ein emphatisches Bekenntnis zu Ruhm und Nachleben im Werk anzulegen. Es ist dies nicht die einzige gedankliche Inkonsistenz, die sich einer Kontaminierung humanistischer Vorstellungen mit einem christlichen Ausdrucks- und Formelsubstrat verdanken. 2 9 6 So liegen die Bereiche dicht nebeneinander, und eben dies ist die Intention der Ausdruckssymbiose. Entscheidend für die mentalitätsgeschichtliche Stellung humanistischer D o k u m e n t e wie A m . 4,15 ist jedoch, daß sie jede offene Konfrontation zwischen >säkularer< und christlicher Weltsicht zu umgehen suchen und allenfalls in der Umbesetzung einzelner Konzepte die neuen Ideen durchscheinen lassen. Wie in anderen zeitgenössischen Beispielen präsentiert sich die neue Sichtweise auf die letzten Dinge als ein christlich-paganes Amalgam, das schon zu seiner eigenen Beglaubigung den Anschluß an vertraute R e d e f o r m e n und -inhalte suchen muß. 2 9 7
7.3.4. P a r a l l e l a k t i o n e n : B u r g k m a i r s >Sterbebild< u n d A m . 4 , 1 5 A m . 4,15 stellt freilich nicht das einzige D o k u m e n t von Celtis' Bemühung um eine Monumentalisierung der eigenen >memoria< dar. Ihm zur Seite steht der von Burgkmair nach Vorgaben des Autors verfertigte Portraitholzschnitt, das sog. >Sterbebilduntätigem Leben< (Tib. 1,1,5). Dieselbe pagan-christliche Ambivalenz in der Bewertung von >gloria< findet sich schon bei Petrarca; vgl. Kessler: Petrarca und die Geschichte, S. 159f. Müller: Gedechtnus, S. 93 stellt daher für die Projekte im Umkreis Maximilians fest: »Der Gedanke der Unsterblichkeit durch literarische >gedechtnus< amalgamiert sich mit autochthonen Überlieferungen: christlichem Totengedächtnis und adeligem Ahnenkult; beide werden unter humanistischem Einfluß >literarisiertorationes funebresmodernen Ruhm< scheint evident und wird, trotz notorischer Einwände gegen Burckhardts emphatischen Renaissancebegriff, auch von der kunsthistorischen Forschung kaum mehr in Zweifel gezogen. 302 Konzentriert man sich auf den deutschen Raum, so wird deutlich, wie sich in den Jahren vor 1500 die Selbstrepräsentation des Gelehrten und Künstlers in allen Kunstformen intensiviert. In der Nachfolge italienischer Zeugnisse kommt es eben nicht nur zu einer Häufung autobiographischer Bildnisse, »die ihren Gegenstand im Medium der Kunst auf ewig retten wollen«. 303
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Nachruhm, S. 2 5 - 2 8 (zu Spruchbändern). Zum Aufkommen des Portraits in der Renaissance vgl. Burke: Renaissance, S. 2 7 8 - 2 8 3 und Burke: Individualism. Das stimmt zu den Ergebnissen, die sich aus dem Vergleich von >praefatio< und Regionenholzschnitten, aber auch aus der Gegenüberstellung von oratio und Philosophia-Holzschnitt ergeben haben. Kap. 3. Bächtiger: Vanitas, S. 158. Unterschiede zwischen den Versionen mit Literatur bei Lüh: Die unvollendete Werkausgabe, S. 282-284. Erneut als These in der Nachfolge Burckhardts bei Boehm: Bildnis und Individuum; Burke: Individualism S. 394. Schuster: Individuelle Ewigkeit, S. 121.
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Abb. 6: Hans Burgkmair d. Ä.: »Sterbebild des Conrad Celtis«. Einblattholzschnitt (ca. 1507?; 1. Zustand). München, Staatliche Graphische Sammlung, Inv. Nr. 1934:64.
500 Auch die Breite und Dichte literarischer >Ego-Dokumente< nimmt quer durch alle Gattungen und Textsorten in nie gekannter Weise zu. Celtis' Werk und vor allem die Amores nimmt in diesem Zusammenhang eine Schlüsselposition für den deutschen Bereich sein. Sind die Amores auf literarischem Gebiet der erste Versuch, ein exemplarisches Lebensbild im Modus der lateinischen Liebeselegie zu entwerfen, so stellt das >Sterbebild< den Ausgangspunkt einer ikonographischen Tradition des Gelehrtenportraits dar, dessen weitere Ausprägungen (Cuspinian/Aventin) oft entschieden an Celtis' bzw. Burgkmairs Lösungen anknüpfen. 304 Wie auch immer man die von Celtis intendierte Bedeutung des Sterbebildes für seine Säkularedition der >Opera in poetica< - und damit auch die konkrete Entstehungszeit des Holzschnittes - veranschlagt,305 so besteht doch offenkundig ein funktionaler Zusammenhang zu anderen Darstellungen des Dichters, die innerhalb und außerhalb der Amores-Edition erscheinen. Ikonographisch zeigt Burgkmairs Holzschnitt den Einfluß römischer Grabplastik,306 der im Zusammenhang mit einem zeitgenössischen Interesse an Epigraphik zu sehen ist, wie es sich etwa in den gleichzeitig zum Sterbebild entstandenen Romanae vetustatis fragmenta des Celtis-Freundes Konrad Peutinger widerspiegelt.307 Alle Elemente des römischen Portraitgrabsteines finden sich auch auf dem Sterbebild: Genannt werden Namen, Alter, Stand, Amt und Todestag des Dargestellten.308 Dieser Typus des Bildnisgrabsteins ist gerade in jenem Augsburger Umfeld, das für Celtis in den Jahren um und nach 1503 so wichtig wird, in vielfältiger Weise rezipiert worden. Eine typologisch nahe verwandte Form des Epitaphs weist etwa das Grabmal des Augsburger Arztes und Celtis-Freundes Adolph Occo auf, der am 4. Juli 1503 verstorben war.309 Freilich spiegeln sich noch weitere zeitgenössische Bildtraditionen, auf die hier nicht einzugehen ist, in Burgkmairs Gestaltung wider.310 Wichtig sind neben antiken Formen vor allem italienische Ausprägungen des Gelehrtenbildes in der Plastik des ausgehenden Quattrocento.311 304
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Panofsky: Grabplastik, S. 76 nennt das »papierne Epitaph« sogar ein »Muster« für alle folgenden Epitaphe von Dichtern und Gelehrten. Zur Frage der Datierung ausführlich Lüh: Die unvollendete Werkausgabe, S. 2 9 4 304, der mit guten Argumenten für einen Frühansatz plädiert: »Nicht der >todesmatte< Celtis gab im Jahr 1507 bei Burgkmair sein >Sterbebild< in Auftrag, sondern auf der Höhe seines Lebens faßte der Leiter des florierenden Poetenkollegs um 1503/1504 den Entschluß, die Ausgabe seiner Werke auf vier Bände zu erweitern und bis zum Jahr 1507 zu vollenden« (S. 344). Panofsky: Grabplastik, S. 77 spricht von »Epitaphe(n) alla Romana«. Lüh: Die unvollendete Werkausgabe, S. 290f. Celtis fordert Peutinger sogar persönlich auf, er solle sein Werk der interessierten literarischen Öffentlichkeit vorlegen (BW Nr. 329t). Panofsky: Grabplastik, S. 34; Lüh: Die unvollendete Werkausgabe, S. 290. Falk: Burgkmair S. 50; Lüh: Die unvollendete Werkausgabe, S. 347f. Lüh: Die unvollendete Werkausgabe, S. 292-294. Ebd. S. 333-335.
501 Interessanter für unseren Zusammenhang ist die Frage nach dem Sitz im Leben des Gelehrtenbildtypus. Hier scheint sich von jenem Anfang an, den Celtis' Sterbeportrait setzt, eine auf den humanistischen Zirkel bestimmte Verwendung für einen »intensiven Bilderdienst unter freundschaftlich Gesinnten« 312 anzudeuten. Es bildet sich in den zahlreichen Variationen von Burgkmairs Typus, die aus dem Kreis der Sodalen erwachsen, ein Verständnis des Sterbebildes heraus, das dieses als eine »Säkularisierung des Andachtsepitaphs« erscheinen läßt, eine Form der Bildverwertung, für die sich zahlreiche Beispiele im humanistischen Umfeld finden lassen. 313 So ist auch das Celtis'sche Sterbebild, wofür schon seine vermutliche Entstehungszeit spricht, weniger antizipierte >Todesanzeige< im Angesicht des Endes als expliziter Hinweis auf die eigene >virtusmemoria< von Am. 4,15 noch ein Reflex der ganz auf den Autor selbst zugeordneten >Säkularphase< dokumentieren, während die Ausrichtung auf Maximilian und dessen >memoria< schließlich einen konkurrierenden Pol im Konzept des ytmores-Druckes schuf. Doch welche Reichweite erwartet sich Celtis von der im Sterbebild zu bewahrenden >memoria