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German Pages 308 Year 1972
Guido Kisch Studien zur humanistischen Jurisprudenz
Studien zur humanistischen Jurisprudenz Von
Guido Kisch
W G DE
1972 Walter de Gruyter · Berlin · New York
ISBN 3 11 003600 2 © 1971 by Walter de Gruyter & Co, Berlin 30, Genthiner Str. 13. Alle Redite, insbesondere das der Ubersetzung in fremde Spradien vorbehalten. O h n e ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es audi nicht gestattet» dieses Buch oder Teile daraus auf photomedianlsdiem Wege (Photokopie, Mikrokopie) zu vervielfältigen. Printed in G e r m a n y Satz und Druck: Saladrudc, 1 Berlin 36
Vorwort D er vorliegende Band enthält drei bisher unveröffentlichte Abhandlungen, ferner mehrere Aufsätze und Buchbesprechungen, welche bereits früher publiziert wurden. Die Anregung, meine im Lauf von nunmehr sechs Jahrzehnten in verschiedenen wissenschaftlichen Zeitschriften in Europa und Amerika erschienenen Arbeiten gesammelt neu vorzulegen, ging von dem Leiter der Abteilung Geisteswissenschaften des Verlages Walter de Gruyter & Co., Herrn Professor Dr. Heinz Wenzel, aus. Den Studien zur humanistischen Jurisprudenz sollen in einem zweiten Sammelbande Studien zur mittelalterlichen Rechtsgeschichte folgen. Studien zur Rechtsgeschichte des Deutschordenslandes sollen in einem gesonderten Bande vereinigt werden. Die bereits veröffentlichten Arbeiten sind von neuem durchgesehen und dem gegenwärtigen Stand der Wissenschaft entsprechend ergänzt. Auf Wunsch des Verlages wurde eine Bibliographie beigegeben, welche zunächst nur die Publikationen des Verfassers zum Problem „Humanismus und Jurisprudenz" umfaßt. Sie soll den Zugang zu seinen nicht aufgenommenen Arbeiten über verwandte Themen erleichtern. Die Anordnung der Abhandlungen und Aufsätze bedarf keiner Erläuterung. Wie beim Erscheinen seiner letzten Bücher, so ist es dem Verfasser wiederum eine angenehme Pflicht, der Deutschen Forschungsgemeinschaft in Bad Godesberg wärmsten Dank für die großzügige Förderung seiner wissenschaftlichen Arbeit abzustatten, die auch diesem Buch zugute gekommen ist. Sein Dank gilt ferner Herrn Heinz Helbing für die Erlaubnis, die in Publikationen des Basler Verlages Helbing und Lichtenhahn vom Verfasser erstmals veröffentlichten Arbeiten in diesen Band aufzunehmen, sowie Herrn Bibliotheksrat Wolfgang Leisten in Tübingen für seine wertvolle Hilfe beim Korrekturlesen.
Basel, im Frühjahr 1971.
Guido Kisch
Inhaltsverzeichnis Vorwort Inhaltsverzeichnis Abgekürzt angeführte Werke
5 7 11
Erster Teil Erstmals veröffentlichte Abhandlungen I. Der Einfluß des Humanismus auf die Jurisprudenz 1. Die humanistische Jurisprudenz im Spiegel der Rechtsgeschichte 2. Humanismus und Rechtswissenschaft 3. Die humanistische Jurisprudenz und die Rechtsentwicklung 4. Ergebnisse der Untersuchung I I . Das juristische „Plagiat" im 16. Jahrhundert 1. Das Schrifttum zur Geschichte des Plagiats 2. Die Glossatoren und Kommentatoren 3. Die Humanisten 4. Die Humanisten-Juristen 5. Sdilußbetrachtung I I I . Ein unbekanntes Consilium des Johannes Sichardus (1548) 1. Johannes Sichardus 2. Die Rechtsstellung der Juden in Württemberg in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts 3. Veranlassung, Inhalt und Würdigung des Gutachtens . . 4. Der Wortlaut des Gutachtens
17 30 45 59 65 73 83 90 103 107 112 116 121
Zweiter Teil Neu bearbeitete Abhandlungen I. Bonifacius Amerbadi, Gedenkrede anläßlich der vierhundertsten Wiederkehr seines Todestages 127
Inhaltsverzeichnis
8
II. Bonifacius Amerbach als Rechtsgutachter 1. Bonifacius Amerbach und seine Rechtsgutachten 153 2. Die Rechtsgutachten als Quelle der Rezeptionsgeschichte 163 3. Recht und Billigkeit in Amerbachs Gutachten 178 Anhang Zwei Rechtsgutachten Bonifacius Amerbachs III. Johann Samuel Stryk und die Basler Juristische Fakultät 1. Zur Einführung 2. Johann Samuel Stryk 3. Stryks Gastvorlesung in Basel 4. Akademische Nachwirkungen Anhang Urkunden über Johann Samuel Stryk und die Basler Juristische Fakultät 1. Stryks Gesuch um Zulassung zu einer öffentlichen Disputation ohne Praeses 2. Stryks Zulassung zu öffentlicher Disputation ohne Praeses 3. Notiz über das Festessen zu Ehren Stryks 4. Stryks Ersuchen um Verleihung der Würde eines Lizentiaten der Rechte in absentia 5. Eine juristische „Promotio in absentia" in Basel IV. Kleine Beiträge Basel 1. Cantiunculas 2. Cantiunculas 3. Ulrich Zasius
187 197 199 202 208
213 215 216 216 219
zur Geschichte humanistischer Juristen in Erasmus-Bibel Rechtsgutachten und Briefe und Basel
223 230 235
Dritter Teil Literaturanzeigen Gian Luigi Barni, Le lettere di Andrea Alciato giureconsulto . . Max Brod, Johannes Reuchlin und sein Kampf Adalbert Erler, Thomas Murner als Jurist Julian H . Franklin, Jean Bodin and the Sixteenth-Century Revolution in the Methodology of Law and History
243 248 251 257
Inhaltsverzeichnis
Myron P. Gilmore, Humanists and Jurists: Six Studies in the Renaissance Friedrich Schaffstein, Die europäische Strafrechtswissenschaft im Zeitalter des Humanismus Wiebke Schaich-Klose, D. Hieronymus Schiirpf, Leben und Werk des Wittenberger Reformationsjuristen Hans Georg Wackernagel, Die Matrikel der Universität Basel. I. und II. Band Hans Georg Wackernagel, Die Matrikel der Universität Basel. I I I . Band Wolfgang D. Wackernagel, Bonifacius Amerbach und seine Wappenscheibe von 1560 Hans Winterberg, Die Schüler von Ulrich Zasius
9
259 266 268 271 274 277 279
Verzeichnis der Schriften von Guido Kisch über Humanismus und Jurisprudenz 283 Von Wilhelm Güde
Register Personen- und Sachverzeichnis Verzeichnis moderner Autoren
301 307
Abgekürzt angeführte Werke Folgende Werke werden bloß mit den Namen der Verfasser oder mit den in eckiger Klammer angegebenen Abkürzungen angeführt. August Buck, Die humanistische Tradition in der Romania. Bad Homburg v. d. H. 1968. Woldemar Engelmann, Die Wiedergeburt der Rechtskultur in Italien durch die wissenschaftliche Lehre. Leipzig 1938. Guido Kisch, Humanismus und Jurisprudenz. Der Kampf zwischen mos italicus und mos gallicus an der Universität Basel (Basler Studien zur Rechtswissenschaft, Heft 42). Basel 1955 [Kisch, Humanismus]. Guido Kisch, Erasmus und die Jurisprudenz seiner Zeit. Studien zum humanistischen Rechtsdenken (Basler Studien zur Rechtswissenschaft, Heft 56). Basel 1960 [Kisch, Erasmus]. Guido Kisch, Die Anfänge der Juristischen Fakultät der Universität Basel 1459—1529 (Studien zur Geschichte der Wissenschaften in Basel, Band XV). Basel 1962 [Kisch, Fakultät]. Guido Kisch, Melanchthons Redits- und Soziallehre. Berlin 1967 [Kisch, Melanchthon]. Guido Kisch, Gestalten und Probleme aus Humanismus und Jurisprudenz. Neue Studien und Texte. Berlin 1969 [Kisch, Gestalten]. Guido Kisch, Claudius Cantiuncula. Ein Basler Jurist und Humanist des 16. Jahrhunderts (Studien zur Geschichte der Wissenschaften in Basel, Band X I X ) . Basel 1970 [Kisch, Cantiuncula]. Roderich Stintzing, Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft. Erste Abteilung (Geschichte der Wissenschaften in Deutschland, 18. Band). München und Leipzig 1880 [Stintzing, I]. Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Entwicklung. 2. Aufl., Göttingen 1967. Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische, Kanonistische, Romanistische Abteilung [ZRG, (G), (K), (R)].
ERSTER
TEIL
ERSTMALS VERÖFFENTLICHTE ABHANDLUNGEN
I Der Einfluß des Humanismus auf die Jurisprudenz
I
Die humanistische Jurisprudenz im Spiegel der Rechtsgeschichte D i e geistige Bewegung, die, seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts mit dem Namen „Humanismus" bezeichnet, ihre Aufgabe im Studium der antiken griechischen und römischen Welt auf Grund ihrer literarischen Erzeugnisse erblickte und sie seit dem 15. Jahrhundert als Vorbild für die Gestaltung eines neuen Lebensstils betrachtete, ist auch für die Jurisprudenz nicht ohne Bedeutung geblieben 1 . Die Rechtswissenschaft gehörte wie die Theologie und die Naturwissenschaften nicht zum eigentlichen Bereich der studia bumanitatis, ein Ausdruck, der in seiner allgemeinen Bedeutung auf Cicero und Gellius zurückgeht, in Italien von Coluccio Salutati und Leonardo Bruni wiederaufgenommen wurde 2 . Dort waren es die führenden Geister der italienischen 1 Über Renaissance und Humanismus im allgemeinen sowie über den italienischen Renaissance-Humanismus im besonderen siehe eingehend Paul Oskar Kristeller, Renaissance Thought: The Classic, Scholastic, and Humanistic Strains (Harper Torchbooks 1048), New York 1961, darin hauptsächlich die Kapitel 1 : „The Humanist Movement" und 5 : „Humanism and Scholasticism in the Italian Renaissance"; Kristeller, Renaissance Thought II, Papers on Humanism and the Arts (Harper Torchbooks 1163), New Y o r k 1965, darin hauptsächlich die Kapitel I : „Humanist Learning in the Italian Renaissance" und I I I : „The European Diffusion of Italian Humanism", mit reicher Dokumentation und ausführlichen Literaturangaben; Kristeller, Studies on Renaissance Humanism during the last Twenty Years, in: Studies in the Renaissance, I X , 1962, S. 7—30, mit Auswahl-Bibliographie für die Zeit von 1941 bis 1961; ferner August Buck, Die humanistische Tradition in der Romania, Bad Homburg v. d. H . 1968; neuestens Kristeller, Der italienische Humanismus und seine Bedeutung (Vorträge der Aeneas Silvius-Stiftung an der Universität Basel, X ) , Basel 1969. Allgemein: Hans Oppermann (Herausgeber), Humanismus (Wege der Forschung, Bd. X V I I ) , D a r m stadt 1970. — Zur Bedeutung und Geschichte des Wortes „Humanismus" Buck, a. a. O., S. 36, Anm. 97. 2 Über die „studia humanitatis" siehe Buck, Die „studia humanitatis" und ihre Methode, a . a . O . , S. 133—150; vgl. Georg Weise, Der Humanismus und das Prinzip der klassischen Geisteshaltung, in: August Buck (Herausgeber), Zu Begriff
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Der Einfluß des Humanismus auf die Jurisprudenz
Humanistenschule, der hervorragende Kenner der Antike und ihrer Rechtslehre, Laurentius Valla (1407—1457), und der audi im kanonischen Recht bewanderte Angelus Politianus (1454—1494), die ihre Angriffe gegen Accursius und Bartolus, die bedeutendsten Repräsentanten der mittelalterlichen Jurisprudenz richteten, indem sie Kenntnis des lateinischen Sprachschatzes und der römischen Geschichte als unumgänglich notwendige Voraussetzungen für das Verständnis der römischen Rechtsquellen, somit des römischen Rechts und seiner Entwicklung erklärten. So kam es, daß die in Italien zur Geltung gelangte philologische Richtung, welche im Namen der „litterae" das Studium von Grammatik, Rhetorik sowie Geschichte propagierte und in den Vordergrund des Wissenschaftsbetriebs stellte, auch auf die juristische Lehre und Forschung Einfluß geübt hat 3 . Auf juristischem Gebiet wurde ebenfalls eine philologisch-historische Richtung inauguriert. So kann man die Entstehung einer humanistischen Strömung in der Jurisprudenz beobachten und ihre Vertreter im Zeitalter des RenaissanceHumanismus als Humanisten-Juristen bezeichnen. Außerhalb Italiens wurde die humanistische Jurisprudenz von dem französischen Philologen Gulielmus Budaeus (1468—1540) und dem italienischen Juristen Andreas Alciatus (1492—1550) geführt. Dieser sagte sich von der überlieferten Methode der Glossatoren- und Kommentatorenschule völlig los und fand deshalb in der Heimat keine Resonanz. Der juristische Humanismus erlebte seine Blüte in der Rechtsschule von Bourges, wohin Alciat im Jahre 1529 berufen wurde. Hier konnte er, von der scholastischen Tradition in der Jurisprudenz abgewendet, seine humanistisch-modernen Lehren zu voller Entfaltung bringen. Hier wirkte er als „Neuerer und Reformator, ein Anreger und Pfadfinder, dessen Tätigkeit in dem Emporblühen der humanistischen Schule Frankreichs unter Cujaz und Donellus die glänzendsten Früchte getragen hat" 4 . Auf die Rechtswissenschaft ganz und Problem der Renaissance (Wege der Forschung, Bd. C C I V ) , Darmstadt 1969, S. 2 8 0 — 3 2 5 . 3 Guido Kisch, Gestalten und Probleme aus Humanismus und Jurisprudenz. Neue Studien und Texte, Berlin 1969, S. 36 ff., auch zum folgenden. 4 So Ernst von Moeller, Andreas Alciat ( 1 4 9 2 — 1 5 5 0 ) , ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte der modernen Jurisprudenz, Breslau 1907, S. 51. Vgl. die ähnlich treffende Formulierung von Hans Erich Troje, Wissenschaftlichkeit und System in der Jurisprudenz des 16. Jahrhunderts, in: Philosophie und Rechtswissenschaft, hg. von J . Blühdorn und J . Ritter, Frankfurt a. M. 1969, S. 7 9 : „Der große
Die humanistische Jurisprudenz im Spiegel der Rechtsgeschichte E u r o p a s h a t die so in F r a n k r e i c h
zu voller
Entwicklung
h u m a n i s t i s c h e J u r i s p r u d e n z , deshalb mos gallicus
19 gelangte
b e n a n n t , o b w o h l sie
z u m Teil i h r e n U r s p r u n g d e m italienischen H u m a n i s m u s
verdankte,
E i n f l u ß g e w o n n e n , w e n n sie auch nicht ü b e r a l l ü b e r die t r a d i t i o n e l l e , r e i n a n a l y t i s c h exegetisch-scholastische L e h r - u n d des mos und
italiens
vielen
Forschungsmethode
einen Sieg e r r i n g e n k o n n t e , die a n d e n italienischen
mitteleuropäischen
Universitäten
noch
weiter
gepflegt
wurde. W e n n m a n jene n e u a r t i g e S t r ö m u n g in d e r J u r i s p r u d e n z w ü r d i g e n u n d i h r e B e d e u t u n g f ü r die juristische W i s s e n s c h a f t u n d die R e c h t s e n t w i c k l u n g n a m e n t l i c h in D e u t s c h l a n d w e r t m ä ß i g a b s c h ä t z e n w o l l t e , h a t m a n sich bis in u n s e r e T a g e z u m e i s t b l o ß a l l g e m e i n e n E r w ä g u n g e n hingegeben
und
rein
gefühlsmäßig
über
Wert
oder
Unwert
ihrer
L e i s t u n g g e u r t e i l t . M a n h a t lediglich i h r e philologischen u n d h i s t o r i schen P o s t u l a t e in den V o r d e r g r u n d gerückt, sich a b e r keine G e d a n k e n d a r ü b e r g e m a c h t , in w e l c h e r A b h ä n g i g k e i t sich i h r e L e h r - u n d s c h u n g s m e t h o d e v o n d e r des H u m a n i s m u s befindet u n d in W e i s e sie z u s t a n d e g e k o m m e n ist. F e r n e r sind z e n t r a l e
For-
welcher
Fragestellun-
gen w i e e t w a die V e r f o l g u n g d e r D o g m e n g e s c h i c h t e e i n z e l n e r R e c h t s Fortschritt der Rechtswissenschaft im 16. Jahrhundert wird . . . ermöglicht durch die Impulse, die der Italiener Andreas Alciat vom italienischen Humanismus empfangen und nun, endlich, indem er gleichwohl Jurist und als soldier Humanist blieb, in die Jurisprudenz eingebracht und an einen ausgezeichneten Schülerkreis weitergegeben hatte". Bio- und ergographische Angaben über Alciat und Bude siehe bei G. Kiscb, Erasmus und die Jurisprudenz seiner Zeit, Studien zum humanistischen Rechtsdenken (Basler Studien zur Rechtswissenschaft, Bd. 56), Basel 1960, S. 304 f., Anm.*, 1, und S. 177 ff., Anm.*, 1—3; dazu noch Donald R. Kelley, Guillaume Bud¿ and the First Historical School of Law, American Historical Review, L X X I I , 1967, S. 807—834; Buck, Die humanistische Tradition in der Romania, S. 181—194: „Guillaume Budes humanistische Programmschriften"; neuestens Kelley, The Rise of Legal History in the Renaissance, in: History and Theory, I X , 1970, S. 174—194.— Es trifft nicht zu, daß Budaeus und Ulrich Zasius Schüler Alciats gewesen sind, wie bei Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl., Göttingen 1967, S. 90, zu lesen ist. Bude war fast 25 Jahre älter als Alciat und ist mit diesem ein einziges Mal zusammengetroffen, worüber von Moeller (S. 37) berichtet. Zasius ist 31 Jahre älter als Alciat gewesen und hat nach seiner eigenen Aussage niemals in Italien oder Frankreich studiert; darüber G. Kisch, Gestalten, S. 94 f.; anders irrtümlich Wieacker, S. 155. Zasius und Alciat haben einander niemals gesehen; von Moeller, a. a. O . — Auch Wieackers Annahme eines Einflusses von Zasius auf die Wittenberger Juristen (S. 162) ist irrig. Als fanatischer Katholik und entschiedener Gegner Luthers und der Reformation hatte er keinerlei Beziehungen zu den Wittenberger Humanisten.
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Der Einfluß des Humanismus auf die Jurisprudenz
einrichtungen im Lichte der neuen Sicht oder die Beobachtung der Wandlungen grundlegender Rechtsideen vom Altertum durch Mittelalter und Renaissance über die Rezeptionszeit hinaus, wenn überhaupt, so höchst selten erfolgt. Wurden auch dann und wann Einzelfragen im Zusammenhang mit anderen Studien berührt, so sind doch Probleme von so grundsätzlicher Bedeutung wie zum Beispiel Aequitas und Epieikeia in der Beleuchtung hervorragender Repräsentanten der humanistischen Rechtslehre in den verschiedenen Phasen der historischen Entwicklung nicht studiert worden. Um den Stand der Forschung zu kennzeichnen, ist an erster Stelle darzulegen, zu welchen individuellen Auffassungen und herrschend gewordenen Lehren es gekommen ist, bevor der Anfang gemacht wurde, durch umfassende monographische Untersuchungen und den aus ihnen zu ziehenden Folgerungen für die Geschichte der humanistischen Jurisprudenz einen soliden Unterbau zu schaffen. Der folgende Überblick soll eine Vorstellung davon vermitteln, welche Meinungen über Wesen und Bedeutung des juristischen Humanismus in der jüngsten Vergangenheit bis in die Gegenwart von bedeutenden Gelehrten geäußert wurden und allgemein vorherrschend geblieben sind. Der kürzlich verstorbene Historiker Gerhard Ritter hat in einem Aufsatz „Die geschichtliche Bedeutung des deutschen Humanismus", in welchem er die Forschungsergebnisse zu diesem Problem zusammenfaßte, dargelegt: „Daß die Entwicklung der juristischen Wissenschaft durch den Humanismus zunächst so gut wie gar nicht beeinflußt worden ist — trotz des juristischen Studiums so zahlreicher Humanisten! —, ist längst anerkannt". Ohne Angabe von Gewährsmännern fährt er mit der folgenden Einschränkung fort: „In Deutschland hat freilich Ulrich Zasius den sehr bemerkenswerten Versuch gemacht, auch den scholastischen Betrieb der Rechtswissenschaft durch den humanistischen Grundsatz originaler Textbetrachtung anstelle des übermäßig entwickelten Glossatorenwesens zu reformieren. E r ist aber isoliert und ebenso erfolglos geblieben wie die Angriffe Laurentius Vallas auf die italienische Jurisprudenz" 5 . Nun ist Ritter freilich 5 Historische Zeitschrift, C C V I I , 1923, S. 4 1 7 ; Neudruck durch die Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1963, S. 2 5 ; vgl. dazu Ritters Nachwort daselbst.
Die humanistische Jurisprudenz im Spiegel der Rechtsgeschichte
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kein Jurist und kein Rechtshistoriker gewesen; er hat aber später in seiner Geschichte der Heidelberger Universität wertvolle Beiträge zur Geschichte des Rechtsunterrichts und der juristischen Wissenschaft geliefert, die ihn zu einer Korrektur seiner hier wiedergegebenen Ansicht hätten veranlassen können 8 . Seine ursprüngliche Feststellung und ihre Formulierung sind in ihrer Allgemeinheit mindestens unklar und jedenfalls mißverständlich. Hinsichtlich der Einwirkung des Humanismus auf den Bereich des Rechts muß man drei Fragenkomplexe unterscheiden. Zunächst hat die Betrachtung einem etwa möglichen Einfluß jener Geistesbewegung auf die Rezeption des römischen Rechts zu gelten; sodann ist ihre Bedeutung für Rechtslehre und Rechtsstudium ins Auge zu fassen; schließlich muß die Einwirkung der humanistischen Jurisprudenz auf die praktische Rechtsanwendung und materielle Rechtsgestaltung untersucht werden. Einzelnen dieser Fragestellungen wurde in neuerer Zeit von berufenen Rechtshistorikern bereits Aufmerksamkeit zugewendet, wodurch die wissenschaftliche Erörterung Anregungen empfangen und Förderung erfahren hat 7 .
« Erster Band: Das Mittelalter (1386—1502), Heidelberg 1936, mehr nicht erschienen. 7 Eine eingehende Charakteristik der Eigenart und der Ziele der humanistischen Jurisprudenz bietet Francesco Calasse, Introduzione al diritto comune, Milano 1951, S. 181—205. Ein guter Überblick über die neuere Literatur bis 1956 ist bei Domenico Maffei, Gli inizi dell'umanesimo giuridico, Milano 1956, S. 11—14, vgl. S. 31—59 (die Neuauflage von 1964 ist ein unveränderter Nachdruck); noch Guido Astuti, L'humanisme chrétien dans la renaissance du droit, in „Pensée humaniste et tradition chrétienne aux X V e et X V I e siècles", hg. von Henri Bêdarida, Paris 1950, S. 136 f.; Guido Kisch, Humanismus und Jurisprudenz. Der Kampf zwischen mos italicus und mos gallicus an der Universität Basel (Basler Studien zur Rechtswissenschaft, Bd. 42), Basel 1955; dazu Gerhard Wesenberg, Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, rom. Abt., L X X I I I , 1956, S. 474—476; ferner G. Kisch, Gestalten und Probleme aus Humanismus und Jurisprudenz. Neueste Literaturübersicht bei Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl., Göttingen 1967, S. 88 f., Anm. 37; vgl. S. 45 f., Anm. 1. Über die ältere, zum größten Teil überholte Literatur berichtet Luigi Chiappelli, La polemica contro i legisti dei secoli X I V , X V e X V I , Archivio giuridico, X X V I , 1881, S. 295—322.— Nach Vollendung der vorliegenden Arbeit erschien die Studie von Hans Erich Troje, Die europäische Rechtsliteratur unter dem Einfluß des Humanismus, in: lus commune, I I I , 1970, S. 33—63, deren Ergebnisse hier nicht mehr kritisch untersucht und verwertet werden konnten.
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Der Einfluß des Humanismus auf die Jurisprudenz
Für die erste Fragestellung hat Franz Wieacker mit Redit betont, daß „nur eine wirkliche Untersuchung der Begegnungen des Humanismus mit dem deutschen Rezeptionsvorgang auf literarischem und pädagogischem Gebiete lehren könne, wieweit er als Anlaß oder Ursache" dieses weltgeschichtlichen Phänomens mitgewirkt habe. Wieacker verlangt „immer erneute Einzeluntersuchungen der Begegnung des Humanismus mit der deutschen Rezeption". Auf Grund der kritischen Analyse einer allerdings nicht originellen und relativ späten pädagogischen Schrift Johannes Apels (1486—1536), eines humanistisch gebildeten Juristen des reformierten Wittenberger Kreises um Melanchthon, ist er für die Entwicklung in Deutschland, der auch die folgenden Betrachtungen vornehmlich gelten sollen, zu folgendem Ergebnis gelangt: „Der literarische Humanismus war weder Ursache der beginnenden noch wirksamer Antrieb des Fortschritts der Rezeption in Deutschland. Die Rezeption hatte begonnen und war in vollem Gang, ehe der Humanismus einen deutschen Juristenstand hätte formen können" 8 . Seine übereinstimmende Erkenntnis hat Paul Koschaker wie folgt formuliert: „Die Rezeption und das Studium des römischen Redits überhaupt war keine humanistische Angelegenheit, weil beide, wenn auch noch nicht in Deutschland, zu einer Zeit begannen, die vom Humanismus noch nichts wußte" 9 . Schon Roderich Stintzing hatte die Frage aufgeworfen, ob es überhaupt zu einer Rezeption des römischen Rechts gekommen wäre, wenn die Glossatoren und Kommentatoren Humanisten gewesen 8 Franz Wieacker, Einflüsse des Humanismus auf die Rezeption, eine Studie zu Johannes Apels Dialogus, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, Bd. 100, 1940, S. 424, 4 5 6 ; jetzt audi bei Wieacker, Gründer und Bewahrer: Rechtslehrer der neueren deutschen Privatrechtsgeschidite, Göttingen 1959, S. 46 f., 9 0 ; zu S. 4 2 4 [46 f.] vgl. das gleiche Postulat von Arnaldo Momigliano, Rivista Storica Italiana, L X I X , 1957, S. 2 9 1 ; zu S. 456 [90] Helmut Coing, Die Rezeption des römischen Redits in Frankfurt am Main, Frankfurt a. M. 1939, 2. Aufl. 1962, S. 189 f.; dazu Paul Koschaker, Europa und das römische Recht, München 1947, S. 225, Anm. 1. — Wieacker, a . a . O . , S. 426 [49], datiert die Entstehung von Apels Isagoge per dialogum in quatuor libros Institutionum D. Iustiniani Imperatoris, die 1540 postum in Breslau erschien, „nach 1 5 3 4 " , obwohl die Schrift vor 1530 entworfen sei. 9 Koschacker, a. a. O. Die daselbst angeführte Äußerung Wieackers (Vom römischen Recht, Leipzig 1944, S. 234), daß „trotz blühendem literarischen Humanismus England und die Schweiz keine Rezeption gekannt haben", bedarf infolge der neuesten Forschungen über die Rezeption in der Schweiz einer Modifizierung.
Die humanistische Jurisprudenz im Spiegel der Rechtsgeschichte
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wären. Er hat sie verneint. Ihm stimmte Koschaker zu, obwohl er aus wissenschaftlichen Gründen die Berechtigung der Frage in Abrede stellte: „Wären die Glossatoren und Kommentatoren Humanisten gewesen, so wäre es höchstwahrscheinlich zu keiner Rezeption des römischen Rechts gekommen, weil die Juristen an der praktischen Verwertbarkeit des Corpus iuris hätten verzweifeln müssen, wenn sie seine Bestimmungen mit den Augen der Humanisten in ihrem geschichtlichen Sinn und in ihrer Zeitbedingtheit gesehen hätten. Ja, man kann darüber hinaus fragen, ob nicht die im Gange befindliche Rezeption hätte Hemmungen erfahren müssen, als in der Rechtswissenschaft die humanistische Richtung zur Herrschaft gelangte" 10 . In der Tat macht Woldemar Engelmann, dem sich Erich Genzmer anschloß, den Humanismus verantwortlich dafür, daß er „den Niedergang der italienischen Rechtswissenschaft am Ende des 15. und im 16. Jahrhundert nicht ändern oder aufhalten konnte". „Nicht Rückkehr zur Antike', sondern nur Weiterarbeit, um mit Hilfe des Bartolus und Baldus über Bartolus und Baldus hinauszukommen, würde Hilfe gebracht haben. Der Humanismus habe den sittlichen Anforderungen der Gerechtigkeit nicht genügt, denn sein blendender und eitler Persönlichkeitskultus sei nicht geeignet gewesen, die Gewissenhaftigkeit zu stärken" 11 . Trotz Anerkennung der wissenschaftlichen Leistung einzelner humanistischer Rechtsgelehrten wie Cuiacius und Donellus und trotz Hinweises auf die Leistung eines Jacobus Gothofredus schließt Genzmer mit einer vollständig negativen Beurteilung,
10 Roderich Stintzing, Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft, I, München und Leipzig 1880, S. 113; Koschaker, S. 111, 113, 116 f., auch zum folgenden; im Anschluß an ihn ebenso Astuti, a. a. O., S. 126 f. 11 Woldemar Engelmann, Die Wiedergeburt der Reditskultur in Italien durdi die wissenschaftliche Lehre, Leipzig 1938, S. 241 f.; Erich Genzmer, Kritische Studien zur Mediaevistik I, Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, roman. Abt., L X I , 1941, S. 328 f., über Engelmann referierend. Genzmer weist audi auf Wieackers oben erwähnten Aufsatz hin, ebenso auf die in seiner eigenen Anmerkung 25 angeführten Schriften von Salvatore Riccobono; vgl. besonders Riccobono, Mos italicus e mos gallicus nella interpretazione del Corpus Iuris Civilis, in: Acta Congressus I u r i d i c i . . . Romae 1934, II, Rom 1935, S. 3 7 7 — 3 9 8 . Ähnlich wie bei den genannten Autoren liest man gelegentlich in Darstellungen der Geschichte der Naturwissenschaften, der italienische Humanismus habe den Fortschritt der Physik um 200 Jahre verzögert; darüber eingehend Kristeller, Der italienische Humanismus und seine Bedeutung, S. 24.
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Der Einfluß des Humanismus auf die Jurisprudenz
ja sogar mit einer Verurteilung des H u m a n i s m u s in seiner Bedeutung u n d W i r k u n g f ü r die Entwicklung der Rechtswissenschaft: „Der H u m a n i s m u s , im ganzen besehen, w a r ein Schaden f ü r eine f o r t schrittliche Rechtsdogmatik". Ähnlich urteilte auch Heinrich Mitteis, welcher der humanistischen J u r i s p r u d e n z — ausgenommen in Frankreich — jede juristisch p r o d u k t i v e Bedeutung absprach. D e r einzige H u m a n i s t unter den J u r i sten, den er gelten läßt, ist Ulrich Zasius: „ H ä t t e n wir mehr M ä n n e r vom Schlage Zasius gehabt oder w ä r e ihm eine größere Wirksamkeit über seinen schwäbischen Winkel hinaus beschieden gewesen, so h ä t t e die Rezeption weit mehr z u m Segen des deutschen Volkes ausschlagen können" 1 2 . Demgegenüber h a t Erik Wolf eine zurückhaltendere Meinung geä u ß e r t : „Die humanistische Idee absoluter Vorbildlichkeit der wiederentdeckten A n t i k e f ü r das Leben w a r ein Bildungsgedanke, kein rechtspolitisches oder soziales P r o g r a m m . Er f o r m t e z w a r das geistige Gesicht der Zeit mit, h a t aber keine unmittelbare W i r k u n g auf das Rechtsleben üben können. Die humanistische Richtung h a t die Praxis der A n w e n d u n g römisch-rechtlicher G r u n d s ä t z e wenig beeinflußt". „Die ersten H u m a n i s t e n in der deutschen Rechtsgelehrsamkeit haben z w a r bewirkt, d a ß der ursprünglich n u r auf geschichtliche u n d literarische Stoffe gerichtete humanistische Bildungsgedanke nun a u d i das Rechtsdenken (wie bei Erasmus u n d Morus das Staatsdenken) in die Erneuerung des abendländischen Geisteslebens einzubeziehen begann. D a m i t w u r d e eine geistesgeschichtliche Leistung erbracht, die einmalig u n d unersetzlich w a r . Ihr Blickfeld erweiternd, w u r d e die Rechts lehre geistig bereichert u n d vor neue A u f g a b e n gestellt; die Rechts/?rax« freilich h a t von dieser Humanistengelehrsamkeit k a u m Vorteile geh a b t " . T r o t z d e m aber weist er auf die Anregung hin, „das materielle Recht unter leitende G r u n d s ä t z e zu stellen u n d neben dem ins strictum der philosophischen Aequitas u n d Epieikeia, erneuertem Verständnis der aristotelisch-ciceronianischen T r a d i t i o n gemäß, Geltung zu verschaffen". „Dieses Suchen nach humanistischer Veritas iuris im deutschen R a u m w a r mehr als nur eine W e n d u n g v o m mos italiens z u m 12 Mitteis, Renaissance, Humanismus und Rezeption der fremden Rechte in Deutschland, in den unter dem Titel „Die Rechtsidee in der Geschichte" postum gesammelten Abhandlungen, Weimar 1957, S. 561 f.
Die humanistische J u r i s p r u d e n z im Spiegel der Rechtsgeschichte
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mos gallicHS. Es ging weit weniger auf ein ,System' des Rechts aus als auf seine praktisch-sittliche Vertiefung. Die deutschen Humanistenjuristen des 16. Jahrhunderts zeigen den italienischen wie den f r a n z ö sischen gegenüber ein mehr praktisch-ethisches, volkspädagogisches Fühlen, weniger theoretisch-logisches Denken und politisches Wollen". D a m i t gelangt Erik Wolf doch zu einer positiveren Einschätzung der humanistischen Jurisprudenz 1 3 . Auch er weist auf Zasius als hervorragenden Vertreter der humanistischen Richtung in Deutschland hin. In der neuen Auflage seines großen Werkes Privatrechtsgeschichte der Neuzeit beschäftigt sich Franz Wieacker sehr ausführlich mit Geschichte und Bedeutung des juristischen Humanismus in Deutschland 1 4 . Dies geschah unter dem Eindruck des umfangreichen Schrifttums zu dem Problem, welches die letzten anderthalb Jahrzehnte hervorgebracht haben 1 5 . Von seinem abgewogenen Urteil zeugen folgende Formulierungen: „Auch von der Jurisprudenz forderte der H u m a nismus die Rückkehr zur unverfälschten Quelle. Das f ü h r t e neben philologischen Entdeckungen (die freilich nach der Kenntnis der Digesten der Rechtskultur k a u m neuen Gewinn bringen konnten) zur Ablehnung der Vermittlung des antiken römischen Rechts durch die mittelalterlichen Autoritäten. . . . D e r nordalpine Humanismus beschränkte sich nicht auf die antiquarische Erforschung der römischen Rechtsquellen und die Kritik des literarischen und kulturellen Stils, sondern wendete sich besonders pädagogischen Reformen und systematischen Versuchen zu. . . . So schienen auf dem H ö h e p u n k t des deutschen Humanismus zwischen 1510 und 1530 die K r ä f t e sich auszubilden, die noch den modernen Geist und damit auch die Rechtswissenschaft zukünftig bestimmen sollten: eine neue Entdeckung des Altertums und ein Wille zum inneren System, welcher der Entdeckung der geistigen Gesetzlichkeit des Rechts entsprang. U n d doch sollte in " Erik Wolf, G r o ß e Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte, 4. Aufl., Tübingen 1963, S. 72 f. In der 3. Auflage seines Werkes (S. 72) hatte er geschrieben: „Richtet man den Blick vom Zeitlichen auf das Überzeitliche, dann w i r d ein U n v e r lierbares sichtbar, das uns im Humanismus auch einen wirklich aufbauenden Wert im Rechtsleben erkennen läßt. Es ist die sittliche und geistige Erneuerung des Rechtsdenkens durch wissenschaftliche Forschung im Dienst der Gerechtigtkeit". 14 S. 88 ff., 146 ff., 161 ff. und passim. 15 Wieacker, S. 161, A n m . 41, gibt einen Oberblick über die von ihm benutzte neuere Literatur.
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Der Einfluß des Humanismus auf die Jurisprudenz
Deutschland diese frühe Blüte wegen ihres inneren Widerspruchs zu den Notwendigkeiten des Tages vorzeitig verkümmern" 16 . Die Leistungen des Humanismus für den Bereich der Rechtswissenschaft hat Paul Koschaker sachlich und ohne Voreingenommenheit zu würdigen versucht. Nach ihm „kann nicht der geringste Zweifel bestehen, daß er vom Standpunkt des heutigen Wissenschaftsbegriffs einen großen Fortschritt bedeutete". Dabei hat er vor allem das von den humanistischen Juristen verfolgte „echte wissenschaftliche Prinzip" im Auge, welches das Vordringen zu den römischen Quellen und zur geschichtlichen Wahrheit, die sie enthielten, postulierte. Trotz Anerkennung dieser Vorzüge hält aber auch Koschaker den Humanisten-Juristen bedenkliche Unzulänglichkeiten ihrer Methode vor: „Indem die Humanisten für das Studium des römischen Rechts vom Forscher und Rechtsbeflissenen Philologie und Geschichte, ja ein geradezu enzyklopädisches Wissen verlangten, haben sie nicht bloß fremde Elemente in die Rechtswissenschaft hineingetragen, ja sie in ihr zu den beherrschenden gemacht, sondern ihr auch einen exklusiven Charakter aufgeprägt, den sie vorher nicht hatte. Rechtsgelehrt war das Studium des römischen Rechts wegen der Schwierigkeit des Corpus iuris immer; nunmehr aber zeigte es die Tendenz, zum Privileg einer kleinen Gruppe von Gelehrten zu werden, die über die notwendige umfassende humanistische Bildung verfügten, und so die Fühlung mit der Masse der Juristen und der Praxis zu verlieren". So mußte der Humanismus zu Weitabgewandtheit und zu Zweifeln über die Brauchbarkeit des römischen Rechts für die Bedürfnisse der eigenen Zeit mit Notwendigkeit führen. „Die Arbeit der Humanisten des mos gallicus trug dazu bei, die Autorität des Corpus iuris zu untergraben. Dem entspricht es, daß der Einfluß der Humanisten auf die Praxis gleich Null war, ja sie vielfach eine Trennung von Theorie und Praxis, eine Abspaltung der letzteren von den Universitäten herbeiführten" 17 . »« Wieacker, S. 91, 162, 165; vgl. auch Wieacker, ZRG, (G), 78, 1961, S. 424, 426, 421 (Besprechung von G. Kisch, Erasmus und die Jurisprudenz seiner Zeit, Basel 1960). Wesentlich negativ war Wieackers Einschätzung der humanistischen Jurisprudenz in der oben, Anm. 8, angeführten, 1959 fast unverändert wieder abgedruckten Abhandlung. 17 Kosthaker, S. 111—117.
Die humanistische Jurisprudenz im Spiegel der Rechtsgeschichte
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Dieser Kritik, die sich sogar auf Gelehrte berufen kann, welche jener Zeit näher standen, wie auf den italienischen Verfechter des mos italiens in England, Alberico Gentili (1552—1608), und den ebenfalls italienischen Rechtsphilosophen Gian Battista Vico (1688—1744), wird in einzelnen Beziehungen sicherlich eine gewisse Berechtigung nicht abzusprechen sein, obwohl man nicht vergessen darf, daß namentlich Gentiii in seiner apologetischen Rolle größere Strenge in der Kritik walten lassen mußte 18 . Man wird das Urteil aber ebenso gewiß nicht verallgemeinern und die humanistische Jurisprudenz, wie es geschehen ist, in Bausch und Bogen verdammen dürfen wegen ihrer rein „antiquarischen" oder „eleganten" Tendenz, die der Beziehung zum Leben, und zwar zur Rechtspraxis ermangelt und daher nicht rechtsschöpferisch gewirkt habe. Trotz seiner recht kritischen Haltung hat selbst Koschaker hervorgehoben, daß die Humanisten-Juristen „gerade durch tief bohrende Exegese einzelner Stellen — darin liegt die Bedeutung Cujaz' — zum historisch richtigen Verständnis der Quellen des römischen Rechts unendlich viel beigetragen haben". Wolfgang Kunkel scheint der humanistischen Strömung in der Jurisprudenz des 16. Jahrhunderts positivere Seiten abzugewinnen 18
Über Gentiii siehe Gezina Hermina Johanna van der Molen, Alberico Gentili and the Development of International Law, His Life and Times, Amsterdam 1937, S. 206 ff.; über Vico siehe Guido Astuti, Mos italicus e mos gallicus nei dialoghi De iuris interpretibus di Alberico Gentili, Bologna 1937, S. 86. Johann Gottlob Heineccius (1681—1741) widersprach der oben geschilderten Auffassung in der Einleitung zu seiner Neuausgabe von Ezechiel Spanheims Werk Orbis Romanus (Halle 1728), S. 3: „. . . id sane nobis praebuit excellentissimus Spanheimius simulque in ruborem dedit homines barbaros, qui istis litteris excultos ad iurisprudentiam et res gerendas parum aptos esse iudicant"; vgl. G. Kisch, Redit und Gerechtigkeit in der Medaillenkunst, Heidelberg 1955, S. 19, Anm. 4. Im Gegensatz dazu äußerte kein geringerer Rechtshistoriker als Maitland seine Ansidit wie folgt: „Some of these ,elegant' French jurists were so much imbued with the historical spirit that in their hands the study of Roman law became the study of an ancient history"; Frederic William Maitland, English Law and the Renaissance, Cambridge, 1901, S. 58, Anm. 28. Ein ähnliches Urteil scheint Stephan Kuttners folgender Äußerung zu Grunde zu liegen: „And with all due respect for the age of Godefroy and Antoine Favre and Cujas, we have to go down to the nineteenth century and the German historical school before the horizon begins to widen and we encounter a new jurisprudence whidi would no longer identify the history of law with the history of legislation nor with delight in legal antiquities"; Kuttner, Methodological Problems concerning the History of Canon Law, Speculum, XXX, 1955, S. 540 f.
Der Einfluß des Humanismus auf die Jurisprudenz
28 als
die m e i s t e n
seiner
romanistischen
Fachgenossen:
„Man
möchte
g l a u b e n , d a ß es nicht z u l e t z t die h u m a n i s t i s c h e R i c h t u n g seines D e n kens w a r , die ihn [ U l r i c h Z a s i u s ] z u dieser L e i s t u n g b e f ä h i g t e lich z u r V e r s c h m e l z u n g
deutscher
und fremdrechtlicher
[näm-
Gesetze
im
F r e i b u r g e r S t a d t r e c h t ] . Vielleicht w ä r e die R e z e p t i o n s g e s c h i c h t e e t w a s a n d e r s v e r l a u f e n , vielleicht w ä r e die Ü b e r n a h m e d e r f r e m d e n R e c h t s s ä t z e nicht so blind u n d urteilslos e r f o l g t , w e n n die
humanistische
S t r ö m u n g eine s t ä r k e r e V e r b r e i t u n g in d e r deutschen
Rechtswissen-
schaft g e f u n d e n h ä t t e " 1 9 . L i e g t in dieser F e s t s t e l l u n g i m p l i c i t e die A n e r k e n n u n g d e r rechtsschöpferischen L e i s t u n g d e r h u m a n i s t i s c h e n J u r i s p r u d e n z f ü r das G e biet d e r G e s e t z g e b u n g i m F a l l e des Zasius, so l ä ß t sich aus d e n in m e i n e m E r a s m u s - B u c h v o r g e l e g t e n u n d d e n seither e r a r b e i t e t e n schungsergebnissen das hier a u f G r u n d d e r bisherigen L i t e r a t u r
Forge-
zeichnete G e s a m t b i l d v o n W e s e n u n d B e d e u t u n g d e r h u m a n i s t i s c h e n Jurisprudenz
n o c h wesentlich e r g ä n z e n
modifizieren20. Durch
und
die U n t e r s u c h u n g e n
in günstiger
Richtung
und Beobachtungen,
auf
19 Wolfgang Kunkel, Quellen zur neueren Privatrechtsgeschichte Deutschlands, I, 1, Weimar 1936, S. X X I I I ; einschränkend dagegen Kunkel, daselbst, I, 2, 1938, S. X L I V . Vgl. noch die sehr positive Würdigung der wissenschaftlichen Bedeutung der humanistischen Jurisprudenz durch einen anderen Romanisten: Hans Julius Wolff, Roman Law: An Historical Introduction, Norman, Oklahoma 1951, S. 211—213. Freilich billigt auch er ihr kaum einen günstigen Einfluß auf die Praxis zu. — Neuestens hat sich auch Helmut Coing in einem erst nach Abschluß der vorliegenden Studie erschienenen Aufsatz „Philologie und Jurisprudenz, Eine Analyse der ,Dialogi' des Gentiiis", in: „Das Altertum und jedes neue Gute", [Festschrift] für Wolfgang Schadewaldt, Stuttgart 1970, S. 343—356, über die humanistisdie Jurisprudenz geäußert. Seine Betrachtungen können hier nicht mehr verarbeitet werden, doch sei der Vollständigkeit halber ihr Ergebnis mit seinen Worten wiedergegeben (S. 353): „So hat, vom Standpunkt des heutigen Betrachters aus, der die Geschichte der folgenden Jahrhunderte übersieht, der juristische Humanismus uns zwar den Weg für das Verständnis des römischen Rechtes als eines historischen Phänomens erschlossen, er hat aber andererseits die Bedeutung des römischen Rechts als Ordnung der jeweiligen Zeit und überzeitliche ratio scripta gefährdet". Eine ähnliche Stellung wie Alberico Gentili hat im Streit zwischen mos gallicus und mos italiens nahezu sechzig Jahre vor ihm 1524/25 der bedeutende Basler Jurist Bonifacius Amerbach (1495—1562) eingenommen; darüber ausführlich G. Kisch, Gestalten und Probleme, S. 62, 102 ff., 166—178. Die daselbst eingehend behandelte und vollständig abgedruckte Rede Amerbachs Defensio interpretum iuris civilis ist Coing entgangen. 2 0 Außer seinem Erasmus-Buch sei nur auf folgende Arbeiten des Verfassers hingewiesen: Humanismus und Jurisprudenz. Der Kampf zwischen mos italicus und
Die humanistische Jurisprudenz im Spiegel der Rechtsgeschichte
29
welche im folgenden das Augenmerk gelenkt werden soll, w i r d sich die positive Einschätzung des Einflusses des Humanismus auf die Jurisprudenz genauer erklären und wesentlich verstärken. mos gallicus an der Universität Basel (Basler Studien zur Rechtswissenschaft, Bd. 42), Basel 1955. — Enea Silvio Piccolomini und die Jurisprudenz, Basel 1967. — Melanchthons Rechts- und Soziallehre, Berlin 1967. — Gestalten und Probleme aus Humanismus und Jurisprudenz. Neue Studien und Texte, Berlin 1969. — Claudius Cantiuncula. Ein Basler Jurist und Humanist des 16. Jahrhunderts (Studien zur Geschichte der Wissenschaften in Basel, XIX), Basel 1970. — Die bemerkenswertesten kritischen Besprechungen des Erasmus-Buches sind aufgezählt bei G. Kisch, Die humanistische Jurisprudenz, in: La Storia del Diritto nel Quadro delle Scienze Storiche, Atti del I Congresso Internazionale della Società Italiana di Storia del Diritto, Firenze 1966, S. 469, Anm. 2.
II
Humanismus und Rechtswissenschaft Z u n ä c h s t ist noch einmal auf die Frage „Humanismus und Rezeption" zurückzukommen. Wohl trifft es zu, was die vorangehenden Darlegungen bereits gezeigt haben, daß der literarische Humanismus die Rezeption im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation nicht etwa als motivierender Faktor verursacht hat. Wie es aber dazu gekommen ist, daß seine Grundsätze und Methoden auch für die Lehre und Erforschung des römischen Rechts vorbildlich gewirkt haben, auf sie sogar übertragen wurden, wodurch das Eindringen des fremden in das heimische Recht und die teilweise Verdrängung des letzteren nicht unwesentlich gefördert wurde, das bedarf noch der Untersuchung. Bei diesem Vorgang spielte ebenso wie bei der allgemeinen Entwicklung im Gesamtbereich der studia humanitatis der persönliche Faktor eine wichtige Rolle. „Der Einfluß des italienischen Humanismus außerhalb Italiens begann schon im 14. Jahrhundert, wurde in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts stärker und erreichte seinen Höhepunkt im 16. Jahrhundert" 1 . Dieselbe Erscheinung läßt sich auch auf dem Gebiet der Rechtswissenschaft beobachten, die bekanntlich wie Theologie und die Naturwissenschaften nicht eigentlich zum Bereich der studia humanitatis gehörte. Waren es früher Pilgerfahrten ins Heilige Land gewesen, welche Besucher von jenseits der Alpen vorübergehend nach Italien führten, so übte das Humanistenland seit dem 13. Jahrhundert und erst recht vom 15. an starke Anziehungskraft auf Studenten aus. Die hohen Schulen von Pavia und Bologna bildeten das Ziel ihrer Bildungsreisen, namentlich derjenigen, die sich 1 So Kristeller, Der italienische Humanismus und seine Bedeutung, S. 13 ff., auch zum folgenden. Der persönliche Einfluß italienischer Gelehrten außerhalb Italiens spielt bereits in der Glossatorenzeit eine wichtige Rolle; vgl. Peter Weimar, Die legistische Literatur und die Methode des Rechtsunterridits der Glossatorenzeit, in: lus commune, II, 1969, S. 43 f., Anm. 2.
Humanismus und Rechtswissenschaft
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dem Studium der Rechtswissenschaft widmen oder in ihr weiter ausbilden wollten. Die erhaltenen und für die Universitätsgeschichte ausgewerteten Matrikelbücher sowie die Mitgliederverzeichnisse der Universitätsnationen weisen Rechtsstudenten von jenseits der Alpen in nicht unbeträchtlicher Zahl aus2. Während ihrer Studienzeit kamen sie mit dem Humanismus und den an den Universitäten lehrenden Humanisten in Berührung, sie lernten die dem Unterricht zugrunde gelegten Quellen kennen und wurden mit den angewendeten Lehrmethoden vertraut. Um nur ein Beispiel aus dem engeren Forschungsbereich des Schreibenden anzuführen, sei Peter von Andlau aus dem Elsaß (gest. 1480) erwähnt, der sich in Pavia eine gründliche Kenntnis der antiken Autoren aneignete und einzelne ihrer Werke selbst abgeschrieben hat. Nach Erlangung des Lizentiats im kanonischen Recht wurde er 1444 Kaplan am Münster zu Basel. Hier war er an der Gründung der Universität maßgebend beteiligt, für deren Einrichtung er in einem Gutachten die Bestimmungen der Statuten von Pavia zur Annahme empfahl 3 . Später wurde er Ordinarius des kanonischen Rechts und Vizekanzler der Universität. Zu seinen Schülern zählten nachmals bekannte Humanisten und Juristen wie Sebastian Brant und Jacob Wimpheling. Von einem anderen, freilich weniger bedeutenden, Jacob Louber aus Lindau, hat sich sein ganzes Studien2 Vgl. z . B . für die Schweiz: Sven S telling-M ich and, Les Juristes Suisses à Bologne (1255—1330), Genève 1960; derselbe, L'Université de Bologne et la pénétration des droits romain et canonique en Suisse aux X I I I e et X I V e siècles, Genève 1955; derselbe, Catalogue des manuscrits juridiques (droit canon et droit romain) de la fin du X I I e au X I V e siècle conservés en Suisse, Genève 1954; dazu Franz Wieacker, ZRG. (R), 73, 1956, S. 454—461, mit berechtigt betontem Hinweis auf den juristischen Humanismus in Basel „als bevorzugtem Schauplatz einer Frührezeption"; Stelling-Michaud, Le transport international des manuscrits juridiques bolonais entre 1265 et 1320, in: Mélanges d'histoire économique et social en hommage au Antony Babel, Genève 1963, S. 95—127; auch Hans-Rudolf Hagemann, Basler Stadtrecht im Spätmittelalter, ZRG. (G), 78, 1961, S. 185.— Über die juristische Ausbildung in Deutschland im Mittelalter im allgemeinen Rudolf Limmer, Bildungszustände und Bildungsideen des 13. Jahrhunderts, München-Berlin 1928, S. 30—38. 3 Hans Georg Wackernagel, Die Matrikel der Universität Basel, I, Basel 1951, S. 3, Nr. 3; G. Kisch, Die Anfänge der Juristischen Fakultät der Universität Basel 1459—1529 (Studien zur Geschichte der Wissenschaften in Basel, Bd. X V ) , Basel 1962, Register unter Andlau, Peter von, insbesondere S. 64 ff.; vgl. auch Verena Vetter, Baslerische Italienreisen vom ausgehenden Mittelalter bis in das 17. Jahrhundert (Basler Beiträge zur Geschichtswissenschaft, Bd. 44), Basel 1952, S. 48 ff.
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D e r Einfluß des Humanismus auf die J u r i s p r u d e n z
material, einschließlich von Nachschriften der Vorlesungen Peter Andlaus erhalten, ebenso der Text seiner Disputation zur Erlangung des juristischen Lizentiats, welche über Geschichte und Zweck des Verjährungsrechts handelte 4 . Bei ihrer Rückkehr aus Italien brachten die Studenten neue geistige Interessen, selbst angefertigte Kolleghefte, auch neue Bücher mit, die sie während ihrer oft ausgedehnten Studienzeit entweder selbst abgeschrieben oder käuflich erworben hatten. So gelangten viele Handschriften, die kanonische und römische Rechtsquellen und Kommentare zu diesen enthielten, schon im 13. und 14., erst recht im 15. und 16. Jahrhundert in ausländische Bibliotheken, wo sie sich vielfach bis in die Gegenwart erhalten haben. Bald nach Erfindung des Buchdrucks erlangten Erzeugnisse der Druckerpresse ähnlichen Inhalts von dem damals führenden Zentrum des internationalen Buchhandels Venedig über Italien hinaus zunächst auf dem gleichen Wege weite Verbreitung. Wiederum läßt sich aus Basel ein eindrückliches Beispiel beibringen. Daselbst hat sich die schöne Bibliothek des Professors legum und Vizekanzlers der Universität, Arnold zum LufFt (1453 bis 1517), der in Siena studiert und promoviert hatte, erhalten 5 . Sie besteht aus Handschriften und Drucken der Digesten, des Codex und der Institutionen. Auch enthält sie Kommentare des Azo, Dinus, Bartolus, Baldus, Paulus de Castro, Alexander de Imola, Iason und 4 Darüber ausführlich Hans-Rudolf Hagemann, Jurisprudenz und Rechtsleben in den ersten Jahrzehnten der Universität Basel, in: Gestalten und Probleme aus der Geschichte der Universität Basel (Rektoratsprogramm der Universität Basel f ü r das J a h r 1960), Basel 1960, S. 2 9 — 5 4 . Über die wissenschaftliche V e r w e r t u n g solchen Studienmaterials allgemein Kristeller, The University of Bologna and the Renaissance, in: Studi e memorie per la storia dell' Università di Bologna, N . S. I, Bologna 1956, S. 313. 5 Max Burckhardt, Aus dem Umkreis der ersten Basler Universitätsbibliothek, Basler Zeitschrift, 58/59, 1959, S. 1 8 1 f f . ; Kisch, Fakultät, S. 73 f . ; Hagemann, Basler Stadtrecht im Spätmittelalter (oben, A n m . 2), S. 149, A n m . 3 9 ; audi Hagemann, 2 R G . (G), 77, 1960, S. 2 7 1 , 277. — Schon v o r f ü n f z i g Jahren hatte Ludwig Bertalot auf die v o n Deutschen auf italienischem Boden geschriebenen Manuskripte hingewiesen als „die beredtesten Zeugen des direkten literarischen Imports und zugleich der inneren Anteilnahme und geistigen Aneignung durch die, die sie schrieben oder schreiben ließen. Denn das waren fast ausnahmslos Juristen, denen die Beschäftigung mit der Philologie kein Brotstudium, sondern eine freiwillig gesuchte geistige Erholung w a r " ; so Ludwig Bertalot, Humanistisches Studienheft eines Nürnberger Scholaren aus P a v i a (1460), Berlin 1 9 1 0 , S. 2.
Humanismus und Rechtswissenschaft
33
von anderen. Es handelt sich wohl um den ältesten Basler Bücherbestand, in dem sich römisches und kanonisches Recht bereits einigermaßen die Waage halten. Einige der schönsten handschriftlichen Werke stammen aus älterem Besitz der Familie, namentlich vom Oheim Peter zum Lufft (gest. 1474), dem ersten D e k a n der Basler Juristenfakultät. Die starke, bereits ins 13. Jahrhundert zurückgehende Tradition, die Schweizer junge Leute zum Rechtsstudium nach Bologna führte, ist in den erwähnten umfassenden personen- und wissenschaftsgeschichtlichen Studien von Sven Stelling-Michaud beleuchtet worden. Hinzu kommt, daß an die nach Bologneser Muster neu gegründete Universität Basel italienische Rechtslehrer berufen wurden, die daselbst kürzere oder längere Zeit wirkten 6 . So entwickelte sich in Basel ein Mittelpunkt der Rechtslehre und des Rechtsstudiums, zumal das römische Recht schon bei Gründung der Juristenfakultät in ihren Lehrplan aufgenommen worden war. Hier scheint der Humanismus am frühesten in die Jurisprudenz eingedrungen zu sein. Hier wurden denn audi die ersten K ä m p f e zwischen mos gallicus und mos italiens lautstark zum Austrag gebracht 7 . Dies geschah in den Hörsälen der Universität, doch auch, und zwar in gemäßigterer Form und mit wissenschaftlichen Argumenten, in programmatischen Schriften vor allem des jungen aus dem französischen Lothringen stammenden Rechtslehrers und bedeutenden Rechtsdenkers Claudius Cantiuncula 8 . Dieser hatte allerdings — ebenso wie sein viel älterer Freund und humanistisch-juristischer Gesinnungsgenosse Ulrich Zasius in Freiburg — selbst nicht an italienischen Universitäten studiert 9 . Nach dem in Löwen begonnenen Rechtsstudium kam er nach Basel, wo er bald unter den literarischen Einfluß des Erasmus gelangte, der — seit 1521 daselbst ansässig — den Mittelpunkt des Basler Humanistenkreises bildete. Dieser humanistische Einfluß läßt sich deutlich bis in den Wortlaut hinein in zwei Schriften Cantiunculas nachweisen, die er 1522 in Basel erscheinen ließ, in der Oratio Apologetica in patro» Kisch, Fakultät, S. 3 9 — 5 2 . Bei Kisch, Humanismus, werden Verlauf und Ausgang des Kampfes eingehend geschildert; vgl. audi Kisch, Fakultät, S. 94 ff. 8 Kisch, Cantiuncula, S. 45 ff.; auch zum folgenden. 9 Siehe oben, Kapitel I, Anm. 4. 7
34
D e r Einfluß des Humanismus auf die Jurisprudenz
ciniurn iuris civilis und in der Paraenesis de ratione studii legalis. Hier entwickelte er zum ersten Mal im deutschen Sprachgebiet das humanistische Reformprogramm in seiner spezifischen Anwendung auf Rechtswissenschaft, Rechtslehre und Rechtsstudium 10 . Schon vorher hatte Cantiuncula auf humanistischen Pfaden gewandelt. In seinem 1520 ebenfalls in Basel veröffentlichten Erstlingswerk Topica, auch als Topica legalia bekannt, hat er die Loci-Lehre auf die Rechtstradition „e puris le gum jontibus et doctorum commentariis aliisque autoribus" angewendet. Aus Vorlesungen entstanden, sollte das Werk der Einführung in das juristische Denken und Argumentieren dienen. Cantiuncula suchte dieses Ziel dadurch zu erreichen, daß er nach dem Vorbild Ciceros, Rudolph Agrícolas und Melanchthons die Grundsätze der Logik und Rhetorik systematisch auf die juristische Argumentation übertrug. Seine Topica sind nicht unzutreffend als „das juristische Gegenstück zu Melanchthons Loci communes rerum theologicarum" bezeichnet worden (Wilhelm Maurer). Kein Wunder, daß ihm dieses Erstlingswerk bereits den uneingeschränkten Beifall seiner humanistisch-juristischen Freunde Zasius und Alciat einbrachte, aber audi das Lob des mehr konservativ eingestellten bedeutenden Basler Juristen Bonifacius Amerbach fand. Lange vor Johannes Apel und Christoph Hegendorf suchte Cantiuncula die bis dahin nur in der Philosophie verwendete dialektische und logische Methode sozusagen ins Juristische zu übertragen. Fast zu gleicher Zeit wie er äußerte sich Alciat in seiner Avignoneser Antrittsrede unter Hinweis auf Plato ausführlich über das Verhältnis von Philosophie und Rechtswissenschaft 11 . Ob es sich um eine zufällige Koinzidenz oder eine Abhängigkeit handelt, entzieht sich exakter Beweisführung. N u r so viel steht fest, daß beide Humanisten-Juristen, denen ungefähr die gleiche Lebensspanne beschieden war, Freundschaft und wissenschaftliche Geistesverwandtschaft verband. Auf den offensichtlichen und starken Kisch, Cantiuncula, S. 46 ff. Kisch, Melandithon, S. 60 f . ; Kisch, Cantiuncula, S. 80, A n m . 54. Auch Bonifacius Amerbach betonte die Bedeutung der Philosophie, namentlich der Moralphilosophie, f ü r die Jurisprudenz; siehe Kisch, Fakultät, S. 1 2 2 f. Er erklärt geradezu: „Die Rechtswissenschaft ist ein Zweig der Moralphilosophie". Es ist unklar, was Wieacker (S. 158) meint, wenn er hervorhebt, „daß in W a h r h e i t Amerbach politischer Jurist, nicht Wissenschaftsreformer oder humanistischer Liter a t war". 10
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Humanismus und Rechtswissenschaft
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Einfluß vor allem von Budaeus und Alciatus, geringeren auch von Zasius und Angelus Politianus auf Cantiuncula habe ich bereits an dem angegebenen Orte hingewiesen. Namen und Lehren besonders der beiden zuerst erwähnten Führer der französischen Humanistenschule werden in seinen Schriften, so schon in den Topica, häufig unter Äußerung höchster Bewunderung und mit sachlicher Zustimmung erwähnt, die Letztgenannten werden seltener angeführt12. Ähnliche Gedanken wie die von Cantiuncula in der Paraenesis vorgetragenen sind später auch von anderen im juristischen Reformschrifttum Deutschlands vertreten worden. In direktem Anschluß an das französische Vorbild wurden sie jedoch am frühesten von ihm selbständig entwickelt und eingehend begründet. Es ist daher ganz natürlich, daß Cantiuncula auch andere grundsätzliche Gedanken und pädagogische Methoden für das Rechtsstudium empfiehlt, die auf den italienischen Humanismus zurückgehen und durch Alciat nach Frankreich verpflanzt worden sind. Für das deutsche Sprachgebiet ist Cantiuncula aber als ihr Protagonist zu betrachten. Was er vor allem vom angehenden Juristen verlangt — abgesehen von Gottesfurcht, Sittlichkeit und Reinheit der Gesinnung — ist humanistische Bildung, namentlich Kenntnis der lateinischen Sprache; auch in der griechischen soll er womöglich bewandert sein120. Geschichtskenntnis und in gewissem Umfang sogar ein enzyklopädisches Wissen ist ein weiteres Erfordernis. Das Studium des Rechts soll mit dem Lesen und Wiederholen der Institutionen begonnen werden, wobei der Anfänger sich keinerlei Kommentarien, Summen und Repertorien, sondern allein der Auslegung seines Lehrers bedienen und die Quellen selbst aufsuchen solle. Die allgemeinen Regeln (generaliores iuris traditiones) sind sach- und ordnungsgemäß zu notieren und solche „loci" zu memorieren.
1 2 Siehe auch zum folgenden Kisch, Humanismus, S. 26 f. und die daselbst, S. 130 f., Anm. 40, wiedergegebenen charakteristischen Zitate aus Cantiunculas frühen Schriften ; vgl. die Hinweise im Notenapparat der neuen Ausgabe seiner Paraenesis bei Kisch, Cantiuncula, S. 2 1 8 — 2 7 5 . 1 2 ° Schon im 15. Jahrhundert wird Griechisch reguläres Unterrichtsfach an den italienischen Universitäten; vgl. Kristeller, Die italienischen Universitäten der Renaissance (Schriften und Vorträge des Petrarca-Instituts Köln, I), Krefeld o. J . [1953], S. 2 5 ; Buck, Die humanistische Tradition in der Romania, S. 140.
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Der Einfluß des Humanismus auf die Jurisprudenz
Es sind dies allgemeine Grundregeln der studia humanitatis, deren Vorbild schon im Altertum gefunden werden kann. Bekannt ist die Schilderung des jüngeren Plinius, wie sich sein Onkel bei der Lektüre stets Notizen zu machen pflegte. Cicero und Quintilian und dann das Mittelalter haben eine ganze Theorie der Mnemonik entwickelt, deren Anwendung sich wie für das Studium der antiken Autoren so audi für das der römischen Rechtsbücher mit ihrer reichen Kasuistik vortrefflich eignete. Deshalb wurde sie von den humanistischen Juristen selbst praktiziert und im Unterricht angelegentlich empfohlen. Cantiuncula war nur einer, und zwar ein früher Propagator dieser Methode, die in der Jurisprudenz nicht erst, wie man gemeint hat, durdi eine fünfzig Jahre später erschienene Schrift des Matthaeus Gribaldus eingebürgert worden ist 13 . Auch Juristen, die sich nicht völlig der humanistischen Richtung angeschlossen hatten, wie Bonifacius Amerbach, machten sich diese nützliche Methode zu eigen, wie sidi heute nodi aus den zahlreichen von ihm studierten — audi griechischen — Werken in der Universitätsbibliothek Basel ersehen läßt, deren Blattränder mit Notizen und Glossen vielfach völlig übersät sind. Die mnemonische loci-communes- und Glossierungsmethode war nicht das einzige Mittel, durch welches die humanistisch gerichteten Juristen dem Studium und damit der Aufnahme des römischen Rechts im deutschen Sprachgebiet den Weg gebahnt und gangbar gemacht haben. Ein anderes Hilfsmittel, das sich nicht nur für das Studium, sondern auch für die juristische Praxis nützlich erwies, bildeten die von ihnen verfaßten Rechtsvokabulare und Rechtslexika14. Auch sie 1 3 So Buck, S. 1 4 7 ; daselbst, S. 143 ff., allgemein über die loci-communesMethode bei den Humanisten und die durch dieselbe verursachte „schöpferische Anverwandlung" fremden geistigen Eigentums, eine treffende Bezeichnung Bucks für jene literarische Erscheinung (S. 149), die im neueren Schrifttum bisweilen als Plagiat mißverstanden wird; darüber Kisch, Cantiuncula, S. 62 f., 69, Anm. 3 4 ; Kisch, Gestalten, S. 132 und Anm. 7 ; und Kisch, Das juristische „Plagiat" im 16. Jahrhundert (die folgende Abhandlung). 1 4 Vgl. Heinrich Eduard Dirksen, System der juristischen Lexicographie, Leipzig 1834; Emil Seckel, Beiträge zur Geschichte beider Rechte im Mittelalter, I . B d . : Zur Geschichte der populären Literatur des römisch-kanonischen Rechts, Tübingen 1898; siehe ferner Kisch, Juridical Lexicography and the Reception of Roman Law, in: Seminar, An Annual Extraordinary Number of the Jurist, II, Washington 1944, S. 5 1 — 8 1 (auch selbständige Ausgabe); Pietro Fiorelli, Vocabulari giuridici fatti e da fare, Rivista Italiana per le scienze giuridiche, N . S. I, 1947,
Humanismus und Rechtswissenschaft
37
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m i t a l p h a b e t i s c h e r A n o r d n u n g . D o c h schon seit d e m 1 3 . u n d 1 4 . J a h r h u n d e r t w u r d e n i m L a n d e d e r K l a s s i k u n d der a l t e n H e i m a t
des
r ö m i s c h e n R e c h t s u n d seiner W i s s e n s c h a f t j u r i s t i s c h - d o g m a t i s c h e
mit
rechtsterminologischen
Studien
a l p h a b e t i s c h e r W e r k e de verborum
verbunden,
die
signifieatione
zur
Kompilation
führten. W o h l
v e r b r e i t e t s t e ist des A l b e r i c u s d e R o s c i a t e (gest. 1 3 5 4 ) iuris
utriusque,
das
Dictionarium
e n t s t a n d e n e t w a zwischen 1 3 3 5 u n d 1 3 5 4 , d a s f r ü h -
z e i t i g auch in D e u t s c h l a n d b e k a n n t u n d n a c h g e a h m t w u r d e 1 5 . dieses b e r u f t sich J a c o b
Spiegel ( u m
1483—1547)
seines e r s t m a l s 1 5 3 8 erschienenen Lexicon
iuris
civilis,
in d e r
Auf
Vorrede
das innerhalb
eines Z e i t r a u m e s v o n nicht g a n z v i e r z i g J a h r e n bis 1 5 7 7
vierzehn
Auflagen
Alciatus,
erreicht
hat16.
Seine
wichtigsten
Quellen
sind
S. 293—327; Kisch, Bonifacius Amerbadi als Rechtsgutachter (weiter unten), S. 175 f. und Anm. 31, 32; auch das daselbst erwähnte von Thieme veröffentlichte und kommentierte Iselinsche Rechtsvokabularium ; ferner Burckhardt (oben, Anm. 5), S. 171. 1 5 Vgl. Friedrich Carl von Savigny, Geschichte des Römischen Rechts im Mittelalter, 2. Ausg., V, Heidelberg 1850, S. 132; Seckel, S. 193 ff., 470 f.; Fiorelli, S. 298 f. Auch der bekannte Humanist Maffeo Vegio (1407—1458) verfaßte ein juristisches Lexikon mit dem Titel De verborum signif¡catione; vgl. Georg Voigt, Die Wiederbelebung des klassischen Altertums oder das erste Jahrhundert des Humanismus, 3. Aufl., II, Berlin 1893, S. 40, 484 f. — Auf die verschiedenen handschriftlich und gedruckt in Deutschland verbreiteten Rechtsvokabularien aus der Frühzeit der Rezeption ist hier nicht einzugehen; über sie Kisch, Juridical Lexicography, passim. — Im neuesten Schrifttum ist die große Literatur der Rechtsenzyklopädien des 16. Jahrhunderts nur flüchtig erwähnt bei Nobert Horn, Die juristische Literatur der Kommentatorenzeit, in: lus commune, II, 1969, S. 121; nicht berücksichtigt ist sie bei Arno Buschmann, Enzyklopädie und Jurisprudenz, Archiv für Kulturgeschichte, 51, 1969, S. 296—317. 16 Dirksen, S. 38 f.; Stintzing, I, S. 580 ff.; Seckel, S. 476 f.; Fiorelli, S. 306; Kisch, Cantiuncula, S. 149. — Spiegels Lexikon war nicht das erste seiner Art im 16. Jahrhundert. Es hatte als Vorgänger schon im Jahre 1506 des Antonius Nebrissensis Lexicon iuris civilis adversus quosdam insignes Accursii errores editum; über dieses siehe Dirksen, S. 37, Anm. 16; Savigny, a. a. O., V, S. 236, Anm. c; VI, S. 454 f.; Seckel, S. 476 f . — Uber den humanistischen Juristen Jacob Spiegel siehe Joseph R. v. Aschbach, Die Wiener Universität und ihre Humanisten im Zeitalter Kaiser Maximilians I., II. Bd., Wien 1877, S. 357—362; Stintzing, I, S. 579 ff.; Gustav Knod, Jacob Spiegel aus Sdilettstadt, ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Humanismus (Beilage zum Programm des Gymnasiums zu Schlettstadt, 2 Teile), Straßburg 1884, 1886; Hans Winterberg, Die Schüler von Ulrich Zasius,
38
Der Einfluß des Humanismus auf die Jurisprudenz
Budaeus, Zasius und Haloander. Dem Lexicon hat Spiegel Reden und Arbeiten von anderen humanistischen Juristen beigegeben. Es finden sich solche von Cantiuncula, Haloander, Oldendorp, Hegendorf, Laurentius Valla; ferner „juristische" Reden Melanchthons, dazu noch andere Beigaben, die sich wissenschaftlich und praktisch nützlich erwiesen und den Wert des Lexikons erhöhten17. Das ebenso beliebte wie verbreitete, wenngleich wissenschaftlich nicht sehr hochstehende Werk hat denn auch zahlreiche Nachfolger und Nachahmer gefunden. Die Verfasser der lexikalischen Werke von Johannes Oldendorp, Pardulphus Prateius, Simon Schard, Franciscus Hotomanus, Barnabas Brissonius, Hieronymus Verrutius, Johannes Kahl (Calvinus) brachten teilweise eine ganz andersartige, viel gründlichere gelehrte Ausrüstung für ihre Arbeiten mit und verfolgten mit diesen auch andere Zwecke18. Daß diese lexikalische Literatur aber der romanisierenden juristischen Praxis gute Dienste geleistet hat, ist allein schon durch ihre Mannigfaltigkeit und zahlenmäßig große Verbreitung erwiesen. Die beiden zuletzt genannten Faktoren waren bedingt und gefördert durch die rapide Entwicklung der kaum erst erfundenen Kunst des Buchdrucks. Wiederum ist es Basel gewesen, wo sie hervorragende Pflege fand19. Das daselbst schnell emporblühende Druckgewerbe und Verlagswesen hat auf Erasmus wie auf viele andere Stuttgart 1961, S. 69 f.; künftig die von mir angeregte Freiburger Dissertation von Thomas Burger, Jacob Spiegel, ein humanistischer Jurist des 16. Jahrhunderts. 1 7 Sie sind aufgezählt bei Stintzing, I, S. 581 f. Den ersten Ausgaben, Argentorati 1538/39, ist vom Verleger ein (nicht vollständiges) Verzeichnis der von Spiegel herangezogenen Autoren (72 Namen) beigegeben: „Autores, qui hoc in Opere exacta cura C. V. lac. Spiegeiii Seiestadien, congesto, continentur, per loan. Schottum, quurn illud recognosceret, hunc in modum digesti". Das Verzeichnis fehlt in den späteren Ausgaben des Lexicon. 1 8 Vgl. Seckel, S. 477 if.; Fiorelli, S. 306. 1 9 Vgl. Friedrich Luchsinger, Der Basler Buchdruck als Vermittler italienischen Geistes 1470—1529, Basel 1953; Peter Bietenholz, Der italienische Humanismus und die Blüte des Buchdrucks in Basel, Basel 1959. Leider haben beide Autoren die Jurisprudenz, von letzterem als „einer der wichtigsten und ältesten Faktoren italienischen Einflusses auf das Basler Geistesleben" bezeichnet (S. 11), von ihrer D a r stellung ausgeschlossen. Das gleiche gilt für die neueste Studie zur Geschichte des Basler Buchdrucks, für Martin Steinmann, Johannes Oporinus. Ein Basler Buchdrucker um die Mitte des 16. Jahrhunderts, phil. Diss. Basel, Basel 1966, obwohl bei Oporin eine ganze Anzahl juristischer Werke erschienen ist. Auf die Wichtigkeit des Buchdrucks für die Rezeptionsgeschichte weist jetzt ganz allgemein Wieacker (S. 170) hin.
H u m a n i s m u s und Rechtswissenschaft
39
bedeutende humanistische Gelehrte starke Anziehungskraft ausgeübt. So ist die oberrheinische Stadt zur Metropole humanistischer Gelehrsamkeit und geistiger Produktivität geworden. In den frühen Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts wurden in den Basler Offizinen die bedeutsamen Ergebnisse aller Gebiete humanistischer Gelehrtenarbeit veröffentlicht. Dies gilt in besonderem Maße für die Rechtswissenschaft. Hier erschienen die Werke von Zasius, Alciatus und Cantiuncula, um nur die bedeutendsten Autoren zu erwähnen. In den Jahren zwischen etwa 1530 und 1590 entstanden in Basel ferner jene Gesamtausgaben italienischer, französischer und anderer Humanisten- und Juristenwerke, die für manche Autoren bis auf die Gegenwart endgültig geblieben sind. So ist — ein einziges Beispiel — seit der großen Basler Ausgabe seiner Annotations in Pandectas und anderer ausgewählten Schriften aus dem Jahre 1557 noch nicht eines von den Werken des Führers der französischen Humanisten Gulielmus Budaeus neu publiziert worden 20 . Auch die Erzeugnisse der sogenannten populären juristischen Literatur fanden in Basel ihre Drucker und Verleger. „Formelbücher, prozessualische Schriften, summarische Darstellungen, alphabetische Sammlungen, Vokabularien, meist auf italienischen Vorlagen beruhend, teils in lateinischer, teils in deutscher Sprache gehalten, vermittelten den Lernbegierigen einen, wenn auch vielfach noch äußerlichen, formalen Kontakt mit den neuen Rechten und leisteten dank ihrer Übersichtlichkeit und Handlichkeit audi den ausgebildeten Juristen in deren praktischer Tätigkeit wertvolle Dienste. Trotz den nicht ganz unberechtigten Klagen eines Zasius und eines Melanchthon über diese ,Pest der verderbtesten Schriftstellerei' hat diese Literatur eine große historische Aufgabe erfüllt" 21 . Die durch den Buchdruck eröffneten Möglichkeiten förderten auch die philologischen Studien und editionstechnischen Bestrebungen der humanistisch orientierten Juristen. Sie waren es, denen durch ihre kritische Einstellung gegenüber den justinianischen Rechtsquellen die 20 Vgl. G. Kisch, Forschungen zur Geschichte des Humanismus in Basel, Archiv für Kulturgeschichte, XL, 1958, S. 201 ff. 21 Hans-Rudolf Hagemann, Der Processus Belial, in: Festgabe für M a x Gerwig (Basler Studien zur Rechtswissenschaft, Bd. 55), Basel 1960, S. 72, der dieser Literatur auch andere sorgfältige Untersuchungen gewidmet hat; vgl. insbesondere Hagemann, Rechtswissenschaft und Basler Buchdruck an der Wende v o m Mittelalter zur Neuzeit, ZRG. (G), 77, 1960, S. 241—287, besonders S. 256 ff., 273 ff.
Der Einfluß des Humanismus auf die Jurisprudenz
40
A n f ä n g e d e r m o d e r n e n wissenschaftlichen E r f o r s c h u n g des r ö m i s c h e n R e c h t s z u d a n k e n sind. Sie b e m ü h t e n sich, d e n d u r c h T r i b o n i a n u n d seine R e d a k t i o n s k o m m i s s i o n v i e l f a c h g e ä n d e r t e n u n d v e r d e r b t e n T e x t des Corpus
iuris
in seiner R e i n h e i t w i e d e r h e r z u s t e l l e n , i n d e m sie die
Interpolationenforschung „immer
neue
begründeten,
Tiefenschichten
der
die erst
römischen
geschichte frei l e g t e " 2 2 . G r e g o r H a l o a n d e r
im
19. Jahrhundert
Text-
(um 1501
und
Rechts-
bis 1 5 3 1 )
hat
nicht b l o ß die I n s t i t u t i o n e n , die P a n d e k t e n u n d alle z w ö l f B ü c h e r des C o d e x kritisch b e a r b e i t e t u n d h e r a u s g e g e b e n , s o n d e r n auch die erste A u s g a b e des griechischen T e x t e s d e r N o v e l l e n J u s t i n i a n s n e b s t einer v o n i h m g e f e r t i g t e n lateinischen Ü b e r s e t z u n g b e s o r g t . „Sein R u h m ist die erste humanistische, w e n n a u c h nicht s t r e n g kritische D i g e s t e n a u s g a b e a u f G r u n d l a g e d e r F l o r e n t i n e r H a n d s c h r i f t , eine philologische L e i s t u n g ersten R a n g e s , v e r g l e i c h b a r d e m griechischen N e u e n
Testa-
m e n t des E r a s m u s " 2 3 . Sie w u r d e z w a r nicht in Basel, s o n d e r n in N ü r n berg
auf
Empfehlung
Wilibald
Pirckheimers,
der,
wie
schon
sein
V a t e r , selbst einst in I t a l i e n J u r a s t u d i e r t h a t t e , u n d P h i l i p p M e l a n c h t h o n s u n t e r d e r P a t r o n a n z des N ü r n b e r g e r R a t e s 1 5 2 9 in e i n e r auch 2 2 So Wieacker, S. 420; vgl. auch Donald R. Kelley, Legal Humanism and the Sense of History, in: Studies in the Renaissance, X I I I , 1966, S. 188 f. — Über die Entstehung der humanistisch-philologischen Textkritik, deren Vorkämpfer in Italien Laurentius Valla und Angelus Politianus waren, im allgemeinen und besonders bei Guillaume Budé, Buck, S. 185 — An diese Stelle gehört nodi ein Hinweis auf die Pionierleistungen einzelner Humanisten-Juristen auf dem Gebiet nichtrömisch-rechtlicher Quelleneditionen. Besonders erwähnenswert ist Johannes Sichardus (um 1499—1552), der in den wenigen Jahren seiner Basler Tätigkeit nicht weniger als 24 Quelleneditionen auf der Grundlage von Handschriften bearbeitet und herausgegeben hat; darüber eingehend G. Kisch, Johannes Sichardus als Basler Rechtshistoriker (Basler Studien zur Rechtswissenschaft, Bd. 34), Basel 1952, S. 29 ff.; vgl. audi Hagemann, Rechtswissenschaft und Basler Buchdruck, (oben, Anm. 21), S. 259 f. Freilich kam Sichardus von der Philologie her, wie übrigens auch Budaeus. Andererseits haben hervorragende Humanisten wie Enea Silvio Piccolomini und Joachim Vadian mit dem Studium der Rechtswissenschaft begonnen; darüber G. Kisch, Enea Silvio Piccolomini und die Jurisprudenz, Basel 1967, S. 26, 68 f. und Anm. 3. Ebenso übrigens auch Giovanni Boccaccio und Maffeo Vegio; über diese Georg Voigt, Die Wiederbelebung des klassischen Altertums (oben, Anm. 15), S. 480, 40; über Leonardo Bruni Herbert Weisinger, Die Erneuerung der Bildung in Selbstzeugnissen der Renaissance, in: Zu Begriff und Problem der Renaissance (Wege der Forschung, Bd. CCIV, hg. von A. Buck), Darmstadt 1969, S. 232. 2 3 So Wieacker, S. 157 f., von wo auch das folgende Zitat oben im Text stammt. Über Haloander sowie die Entstehung und Würdigung seiner Corpus iuris-Ausgabe ausführlich mit vollständigen Literaturangaben Kisch, Gestalten, S. 201—240.
Humanismus und Rechtswissenschaft
41
drucktechnisch hervorragenden Ausgabe veröffentlicht. Diese erweckte Staunen und Bewunderung bei den gelehrten Zeitgenossen. Haloanders Emendationen und seine „von Gelehrsamkeit, ja von Geist zeugenden Konjekturen sind bis zur großen Digestenausgabe Mommsens und noch später viel beachtet worden" (Wieacker). Ein anderes Verdienst eines humanistisch gerichteten Juristen liegt auf dem Gebiet der juristischen Methodik und der Methode des Rechtsunterrichts24. Claudius Cantiuncula hat dieses Problem theoretisch und praktisch am systematischsten angefaßt, worauf bereits hingewiesen wurde und worüber an anderem Orte ausführlich berichtet worden ist25. War doch Cantiuncula der typische Repräsentant des mos gallicus. Mit steigendem Interesse für die praktische Seite der Frage entwickelte sich im 16. Jahrhundert eine ganze Literatur, welche der Verbesserung des Rechtsstudiums dienen wollte. In dem Bestreben, den Rechtsbeflissenen die Anfangsgründe des römischen Rechts nicht nur durch den lateinischen Institutionentext, sondern auch durch eine getreue Übersetzung in die deutsche Sprache nahe zu bringen, ist Thomas Murner (1475—1537) in Basel seiner Zeit weit vorausgeeilt26. Er ist nicht nur der erste Ubersetzer der Institutionen, sondern zugleich der erste Universitätslehrer, der eine juristische Vorlesung in deutscher Sprache gehalten hat 27 . „Die Übertragungen römischer Rechtsquellen durch Thomas Murner sind ebenso aufschlußreich für die geistes- und rechtsgeschichtliche Situation des Humanismus wie für die Entstehung der modernen deutschen Rechtssprache"28.
24
Über das Problem der Methodik bei den Juristen des 16. Jahrhunderts hat schon Stintzing (I, S. 140 ff.) Beobachtungen gemacht. 25 Kisch, Cantiuncula, S. 41—71. 28 Kisch, Fakultät, S. 89 f.; Adalbert Erler, Thomas Murner als Jurist, Frankfurt a. M. 1956; dazu Kisch, ZRG. (G), 74, 1957, S. 371—376. 27 Erler, S. 24, 46 f.; Kisch, Fakultät, S. 90. Früher wurde diese Errungenschaft Christian Thomasius (1655—1728) zugeschrieben, der fast 200 Jahre später gelebt hat; vgl. Max Fleischmann, Christian Thomasius und die akademischen Vorlesungen in deutscher Sprache, ZRG. (G), 30, 1909, S. 315—318; dazu Erler, S. 24. Hans Liermann, Die Altdorfer Juristen, in: Festschrift Karl Siegfried Bader, Zürich 1965, S. 269, hat darauf hingewiesen, daß Johann Thomas Freigius (1543—1583) „hundert Jahre vor Thomasius akademischen Unterricht in deutscher Sprache forderte". 28 So Erler, S. 20 f.
42
Der Einfluß des Humanismus auf die Jurisprudenz
Nicht vergessen werden darf schließlich auch die gewaltige Literatur der juristischen Konsiliensammlungen, die ihren Ursprung ebenfalls in Italien hat 2 9 . Ihre Publikation setzte schon bald nach Erfindung der Buchdruckerkunst an verschiedenen Orten ein und dauerte ohne Unterbrechung bis zum Ende des 18. Jahrhunderts an. Weit über Italien hinaus, nördlich der Alpen und in ganz Europa, wurden die Konsiliensammlungen nachgedruckt und seitens der humanistischen Juristen nachgeahmt. Sie übten bedeutenden und nachhaltigen Einfluß auf die Rechtspraxis, Rechtswissenschaft und Rechtslehre. Zusammengestellte Listen der im deutschen Sprachgebiet nachgedruckten italienischen Konsiliensammlungen sollten diesen augenscheinlich machen. Mit Recht wurde das allgemeine Ansehen der Konsilienliteratur mit dem der heutigen höchstrichterlichen Entscheidungen verglichen. Für die Verbreitung und das Verständnis des römischen Rechts bildete diese Literaturgattung ein äußerst wichtiges Medium. Die hier aufgezeigten verschiedenen Kanäle, durch welche humanistisches Gedankengut und humanistische Methodik im 16. Jahrhundert der Jurisprudenz im deutschen Sprachgebiet vermittelt wurden, lehren deutlich, auf welchen Wegen und auf welche Weise in dieser Zeit Eindringen und Verbreitung des römischen Rechts begünstigt und theoretisch wie praktisch gefördert wurden. Dies ist von zwei Gesichtspunkten aus bemerkenswert. Zunächst läßt sich beobachten, wie Rechtstheorie, Rechtsmethodik und Rechtslehre der unmittelbaren oder mittelbaren Einwirkung des Humanismus ausgesetzt waren. Er hat auf diese Weise nicht nur zu wissenschaftlichem Verständnis der römischen Rechtsquellen schon im 16. Jahrhundert geführt, sondern ist auch für die RechtsanWendung und weitere Rechtsentwicklung nicht bedeutungslos geblieben. Eindrucksvoll kommt dies zum Ausdruck in den Worten des deutschen Humanisten-Juristen Martin Brenninger (1451—1501), eines bedeu-
2 9 Über sie zuletzt G. Kisch, Consilia. Eine Bibliographie der juristischen Konsiliensammlungen, Basel 1970, mit historischer Einleitung und ausführlichen Literaturangaben. — In diesem Zusammenhang ist auch auf die spätere große Kommentarliteratur hinzuweisen, die „ohne die humanistische Jurisprudenz nicht denkbar ist"; so Ernst Holthöfer, Literaturtypen des mos italicus in der europäischen Rechtsliteratur der frühen Neuzeit ( 1 6 . — 1 8 . Jahrhundert), in: lus commune, II, 1969, S. 149, 146 ff.
Humanismus und Rechtswissenschaft
43
tenden Rechtsgutachters: „Petrarca, Bruni, Guarinus, Valla und Poggio haben neuerdings in Italien eine geistige Blüte hervorgebracht. Durch ihre wissenschaftlichen Bestrebungen haben sie eine Wiederbelebung der lateinischen Sprache bewirkt, die schon beinahe untergegangen war. Es wäre ein sträfliches Unrecht, von der Übung so hervorragender und berühmter Männer abzugehen" 3 0 . Ferner wurde klar, welche Rolle bei diesem Vorgang der schon von Erasmus als „inclyta Germaniae Basilea" gerühmten Stadt Basel, auf dem Wege von Italien nach dem Norden einerseits und zwischen Frankreich und dem Nordosten andererseits gelegen, sowie ihrer Universität, an der sich zuerst der Kampf zwischen mos italiens und mos gallicus abspielte, zugefallen ist. Wenn jedoch weder in Basel noch in jenen Gebieten Deutschlands, nach denen von dort der juristische Humanismus ausstrahlte, sich die humanistische Jurisprudenz auf breiter Basis und für die Dauer durchzusetzen vermochte 31 , so bedeutet das keineswegs, daß es sich um einen Fehlschlag jener Bewegung in der juristischen Geistesgeschichte handelt, in der bedeutende Juristen und Humanisten führend gewirkt haben. Im Gegenteil werden die nodi folgenden Betrachtungen, die sich zum Teil auf die in meinem Buch „Erasmus und die Jurisprudenz seiner Zeit" erarbeiteten 30 Brenninger, De conficiendis epistolis, Manuskript, Cod. Seitenstetten 178, fol. 23 ν—24, zitiert nach Kristeller, Renaissance Thought, I I (Harper Torchbooks 1163), New York 1965, S. 87 und Anm. 70: „Franciscus Petrarcha, Leonardus Arretinus, Guarinus Forenensis (sie), Lau. Vallensis, Poigius (sic) Florentinus, qui iam noviter apud Ytalos claruerunt et latinam linguam, que pene interierat, sua opera studio industria reviviscere fecerunt. Nephas igitur putandum est discedere ab usu virorum tarn insignium tamque preclarorum". Über Brenninger (Prenninger) siehe Hermann Seeger, Die strafrechtlichen Consilia Tubingensia von der Gründung der Universität bis zum Jahre 1600, Tübingen 1877, S. 7 £F. ; Stintzing, I, S. 35; Allgemeine deutsche Biographie, 26, Leipzig 1888, S. 567 f.; Kristeller, Supplementum Ficianum, I, Florenz 1937, S. 75, 130 f.; G. Wulz, Die Prenninger von Erding, eine bayerische Gelehrtenfamilie, o. O. 1928, S. 9; Johannes Haller, Die Anfänge der Universität Tübingen 1477—1537, I, Stuttgart 1927, S. 148 f.; II, 1929, S. 51* f. Nach den Angaben bei Wulz und Haller sind Prenningers Lebensdaten in der früheren Literatur (audi bei Kisch, Consilia, S. 73) zu berichtigen. — Mit Recht weist Hagemann, (oben, Anm. 4), S. 34 und 43, auf „einen padägogisdi-praktisdien Zug" im Basler juristischen Unterricht des ausgehenden Mittelalters hin; vgl. audi Gertrud Schubart-Fikentscher, Untersuchungen zur Autorschaft von Dissertationen im Zeitalter der Aufklärung (Sitzungsberichte der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, philol.-hist. Kl., Bd. 114, Heft 5), Berlin 1970, S. 97. S 1 Darüber Wieacker, S. 93, 147 f., 165 f. (siehe oben, Kapitel I, bei Anm. 16).
44
D e r Einfluß des Humanismus auf die Jurisprudenz
Forschungsergebnisse stützen, ferner zeigen — wenn dies nicht bereits geschehen sein sollte — , daß die humanistische Jurisprudenz einen sehr beachtenswerten und fruchtbaren Einfluß auf das juristische Geistesleben und die Rechtsentwicklung ausgeübt hat. Sie werden versuchen, ein anderes — und wie der Schreiber dieser Zeilen hoffen möchte — von Vorurteilen freieres Bild zu geben, als es gegenwärtig in manchen rechtshistorischen Werken zu finden ist 32 . 3 2 Schon Stintzing, I, S. 95 ff. (vgl. audi S. 139 ff.) hat beobachtet: „Es konnte nicht ausbleiben, daß die humanistische Bewegung mit der Zeit auf die Jurisprudenz einen positiven Einfluß geltend machte. Berührten sie sich darin, daß auch das römische Recht eine Überlieferung des klassischen Altertums war, so kam es nur darauf an, die Grundsätze des Humanismus auf die Behandlung der Rechtsquellen zu übertragen und die Ergebnisse der Altertumswissenschaft bei ihrer Auslegung zu verwerten". U m diesen Einfluß unter Beweis zu stellen, wußte Stintzing freilich nur Budaeus, Alciatus und Zasius als bedeutende Repräsentanten der humanistischen Juriprudenz allgemein zu rühmen. Vgl. jetzt auch die oben, Kap. I , Anm. 7, erwähnte Abhandlung von Hans Erich Troje.
III Die humanistische Jurisprudenz und die Rechtsentwicklung D as bereits erwähnte Suchen der Humanisten-Juristen nach neuen Lehr- und Lernmethoden, um eine umfassendere Aneignung und gründlichere Durchdringung des Stoffes des römischen Rechts zu erreichen, hat in neuerer Zeit schon die Aufmerksamkeit der Wissenschaft auf sich gelenkt. Zwar sind darüber ausführliche Veröffentlichungen erschienen1, doch bedarf das Thema weiterer ausgreifender Untersuchungen für die einzelnen Rezeptionsgebiete. An dieser Stelle sei lediglich noch ergänzend der Aufstellung juristischer Studienprogramme nach humanistischem Vorbild gedacht, wobei selbst das bekannte Bienengleichnis nicht fehlt 2 . Ein solches Programm ist auch 1 Vincenzo Piano Mortati, Considerazioni sugli scritti programmatici dei giuristi del secolo X V I , Studia et Documenta Historiae et Iuris, X X I , 1955, S. 276—302; Mortari, Dialettica e giurisprudenza: Studio sui trattati di dialettica legale del sec. X V I , Milano 1955; Wieacker, Ratschläge f ü r das Studium der Rechte aus dem Wittenberger Humanistenkreise, in seinem Buche: G r ü n d e r und Bewahrer, S. 92—104; Friedrieb Merzbather, Johann Apels dialektische Methode der Rechtswissenschaft, eine Station in der Entwicklung des juristischen Unterrichts, Z R G . (R), 75, 1958, S. 364—374; Werner Vogel, Franz H o t m a n n und die Privatrechtswissenschaft seiner Zeit, jur. Diss. Freiburg i. Br., Münster 1960, S. 28, 63, 102 f., 118; auch Hans Winterberg, Die Schüler von Ulrich Zasius, Stuttgart 1961; dazu G. Kisch, Z R G . (G), 79, 1962, S. 408 f.; neuestens Wieacker, S. 164, die Hinweise daselbst und bei Troje (oben, K a p . I, Anm. 7), S. 33, A n m . 1. 2 Ebenso ausgezeichnet wie eindrucksvoll ist Claudius Cantiunculas De ratione studii legalis Paraenesis, kritische Ausgabe und Ubersetzung bei Kisch, Cantiuncula, S. 218—275. Vgl. z . B . daselbst, S. 244: „Docet Seneca, non referre, quam multos libros legas, sed q u a m bonos. ,Varia', inquit, ,lectio delectat, certa prodest' . . . Accipe Isocratis, autoris gravissimi, testimonium Budaeo interprete: ,Quomodo apes videmus variis stirpium germinibus insidentes ab uno quoque desumere, quod sibi maxime sit usui, sic eos, qui doctrinae desiderio capti sunt, ut nihil intactum relinquere, sic undique colligere, quod sit operae pretium, convenit'". Über das zuerst von Lucrez verwendete Bienengleichnis Jürgen von Stackelberg, Das Bienengleichnis, Romanische Forschungen, 68, 1956, S. 280—293, woselbst jedoch weder Isokrates noch Budaeus e r w ä h n t ist; auch Buck, Die humanistische Tradition in der Romania, S. 139, 141.
46
Der Einfluß des Humanismus auf die Jurisprudenz
von Alciat seinen Schülern empfohlen worden, indem er ihnen das Studium einzelner besonders namhaft gemachter mittelalterlicher Juristen nahelegt3. Aus den Hinweisen der Humanisten-Juristen auf die Glossatoren und Kommentatoren auf ihre „ambivalente" Haltung zu schließen, ist natürlich abwegig 4 . Die durch die geschilderten Bestrebungen bewirkte Neueinrichtung des juristischen Unterrichts hat frühzeitig zweifellos einen maßgeblichen Einfluß auch auf die Umgestaltung des Rechtslebens ausgeübt, wenngleich dies zunächst nur auf lokaler Ebene erfolgte. Als Beispiel sei auf die Geschichte der baslerischen Verjährungsgesetzgebung hingewiesen5. Was die Bedeutung der humanistischen Rechtswissenschaft als solcher und einzelner Humanisten-Juristen für die Rechtsanwendung in umfassendem Rahmen betrifft, so ist eine solche schon von Stintzing geleugnet worden, dem neuere Gelehrte gefolgt sind, wie im ersten 8 Vgl. die bisher kaum beachtete kleine Schrift des Andreas Alciatus Judicium, quos legum interpretes potissimum parare sibi studiosi debeant. Sie ist des Conradus Lagus, Methodica Iuris Utriusque Traditio, Lugduni 1566, angehängt und enthält folgendes Poem von Alciat (S. 1023): In iure primas comparatus caeteris Partes habebit Bartolus. Decisiones ob frequentes actio Baldum forensis sustinet. Non negligenda maxime est tyronibus Castrensis explanatio. Opinionum tutius symplegadas Superabis Alexandro duce. Ordinis Iason atque lucis nomine Videndus est properantibus. His si quis alios addiderit interpretes, Onerat quam honorât verius. Dieses und ähnliche Poemata anderer Juristen sind audi abgedruckt bei [Nicolaus Reusner], Appendix Cynosurae Iuris, Speier 1589, S. 29 ff.; Kisch, Humanismus, S. 136 f., Anm. 4. — Uber die Aufstellung humanistischer Studienprogramme und Autorenkataloge im allgemeinen siehe Buck, S. 139 ff.; Buck, Der Rüdegriff des Renaissance-Humanismus auf die Patristik, in: Festschrift Walther von Wartburg zum 80. Geburtstag, Tübingen 1968, S. 162 f. 4 Darüber eingehend Kisch, Cantiuncula, S. 76—84 und passim. 5 Uber diese siehe Hagemann, Jurisprudenz und Rechtsleben in den ersten Jahrzehnten der Universität Basel (oben, Kap. II, Anm. 4), S. 48—53; vgl. dazu Kisch, Johann Samuel Stryk und die Basler Juristische Fakultät, Zeitschrift für schweizerisches Recht, 79, 1960, S. 181 ff.; auch Hagemann, Basler Stadtrecht im Spätmittelalter, ZRG. (G), 78, 1961, S. 185.
Die humanistische Jurisprudenz und die Rechtsentwicklung
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Kapitel dieser Arbeit ausführlich dargelegt worden ist6. Zur Erhärtung der gegenteiligen Ansicht braucht man aber nicht erst an später hervorragende Juristengestalten wie Jacques Cujas (1522—1590) und Hugo Donellus (1527—1591) zu denken, deren Wichtigkeit nicht nur für die Theorie, sondern auch für die Praxis des Rechts im 16. Jahrhundert selbst von jenen Rechtshistorikern anerkannt wird, die den juristischen Humanismus scharf kritisieren. Man sollte jedoch nicht vergessen, jenen Namen neben manchen anderen, von denen noch einige genannt sind und namentlich die holländische Schule hervorgehoben wurde, zum Beispiel auch Charles Dumoulin (1500—1566) trotz seiner bartolistischen Neigung hinzuzufügen. Als praktischer wie als theoretischer Jurist ragt er in gleichem Maße hervor und stellt neben Cujaz wohl die bedeutendste Gestalt in der französischen Rechtsgeschichte des 16. Jahrhunderts dar 7 . Er war Johannes Sichardus' Nachfolger in der Tübinger Professur und schlug später das Angebot, Ulrich Zasius' Lehrstuhl in Freiburg zu übernehmen, aus. Dumoulin sind außerhalb Frankreichs vor allem die noch im 15. Jahrhundert geborenen und im ersten Viertel des 16. Jahrhunderts wirkenden Ulrich Zasius (1461—1535) und Claudius Cantiuncula 6 Stintzing, I, S. 96: „Der Humanismus vermag dem Rechte nur von der Seite seines klassischen Ursprungs ein Interesse abzugewinnen; die praktische Bedeutung ist ihm gleichgültig"; über Stintzings Nachfolger in dieser Meinung siehe oben, Kap. I. 7 Über Dumoulin (Carolus Molinaeus) siehe Myron P. Gilmore, Argument from Roman Law in Political Thought 1200—1600 (Harvard Historical Monographs, X V ) , Cambridge, Mass. 1941, S. 62—70; daselbst S. 62, Anm. 23, eine Auswahl aus der älteren Literatur. Eine ausführliche neuere kritische Biographie Dumoulins fehlt. Franz Gamillscheg, Der Einfluß Dumoulins auf die Entwicklung des Kollisionsrechts (Beiträge zum ausländischen und internationalen Privatrecht, Bd. 25), Berlin-Tübingen 1955, S. 1—16, gibt einen Lebensabriss mit Bibliographie; vgl. auch den (von Mängeln nicht freien) Versuch der postum veröffentlichten Würzburger Dissertation Gert Meyer, Charles Dumoulin, ein führender französischer Rechtsgelehrter, Nürnberg 1956; daselbst, S. 36 ff.: „Dumoulin unter dem Einfluß des Humanismus"; René Filhol, Dumoulin â Montbéliard (1555—1556), in: Etudes historiques à la mémoire de Noël Didier, Paris 1960, S. 111—119. Vgl. neuestens Donald R. Kelley, Foundations of Modem Historical Scholarship, New York 1970, S. 151 ff., 164, Anm. 25. Eine Anzahl unveröffentlichter Briefe Dumoulins befindet sich in der Universitätsbibliothek Basel; zwanzig Briefe an Bonifacius Amerbach aus den Jahren 1553—1557, fünf an Coelius Secundus Curio (1552—1553), einer an Dolanus (1555), einer an Herzog Christoph von Württemberg (1556).
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(um 1 4 9 0 — 1 5 4 9 ) an die Seite zu stellen, welche als Theoretiker und Rechtslehrer bedeutend gewesen sind, sich auch an gesetzgeberischen Arbeiten beteiligten 8 , daneben aber und nicht minder einflußreich auf juristisch-praktischem Gebiet als vielbeanspruchte Gutachter gewirkt haben. Erst kürzlich ist mit der Erforschung ihrer Konsilien und Konsiliarpraxis ein Anfang gemacht worden 9 . Ihnen wird niemand Weitabgewandtheit zum Vorwurf machen können. Dasselbe gilt von dem für Basel maßgebenden und auch außerhalb seiner Vaterstadt vielbegehrten Konsiliaranwalt Bonifacius Amerbach, der zwar keine literarische Tätigkeit entfaltet, nie ein systematisches oder theoretisches juristisches Werk verfaßt hat, aber an Gelehrsamkeit seinen beiden genannten Freunden durchaus nicht nachstand. Durch seine Synthese des mos italiens mit dem mos gallicus hatte er in seiner praktischen Denkungsart an der Neugestaltung der Redits anwen dun g sogar einen weitaus unmittelbareren Anteil als Cantiuncula; übrigens war er auch durch Erstattung von Rechtsgutachten an der Modernisierung des württembergischen Vormundschafts- und Eherechts maßgeblich beteiligt 10 . 8 Uber Zasius' Arbeit an der Reformation des Freiburger Stadtrechts von 1520 siehe Hansjürgen Knoche, Ulrich Zasius und das Freiburger Stadtrecht von 1520 (Freiburger rechts- und staatswissenschaftliche Abhandlungen, Bd. 10), Karlsruhe 1957; Hans Thieme, Die „Nüwen Stattrechten und Statuten der löblichen Stadt Fryburg" von 1520, in: Freiburg im Mittelalter (VeröffentliAung des Alemannischen Instituts, Nr. 29), Bühl 1970, S. 96—108; über Cantiunculas Teilnahme an der Reformation des Nürnberger Stadtrechts F. P. Bremer, Dr. Claudius Cantiunculas Gutachten über das Nürnberger Stadtrecht, ZRG. (G), 15, 1894, S. 123—167. Vgl. ferner über Sichardus' Teilnahme an den Vorarbeiten zur ersten württembergischen Eheordnung und zum ersten württembergisdien Landrecht von 1555 sowie der mömpelgartischen Gerichtsordnung Gustav Mandry, Johannes Sichardt, in: Württembergische Jahrbücher für Statistik und Landeskunde, Jahrgang 1872, II. Teil, Stuttgart 1874, S. 28, 44, Anm. 32; Hans Erich Feine, Johann Sichard, in: Schwäbische Lebensbilder, V, Stuttgart 1950, S. 70; Wolfgang Kunkel, Quellen zur neueren Privatrechtsgeschichte Deutschlands, I, 2, Weimar 1938, S. X X I I f.; Wieacker, S. 156, 197; Thieme, a . a . O . , S. 107; über Johannes Fichards (1512—1581; über ihn Stintzing, I, S. 586 ff.) Arbeit am Solmser Landrecht von 1571 und an der Redaktion der zweiten Frankfurter Reformation von 1578 Kunkel, a. a. O., S. X X X ff.; Wieacker, S. 157, 194. 9 Siehe oben, Kapitel II, Anm. 29; Kisch, Cantiuncula, S. 99—116: Cantiuncula als Rechtsgutachter. 10 Kisch, Erasmus, S. 368 ff.; Kisch, Bonifacius Amerbach als Rechtsgutachter, in: Festschrift für Max Gerwig (Basler Studien zur Rechtswissenschaft, Bd. 55), Basel 1960, S. 85—120 (jetzt auch unten, S. 151—194); Walther Köhler, Boni-
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Gelehrte wie Gulielmus Budaeus ( 1 4 6 8 — 1 5 4 0 ) und Andreas Alciatus ( 1 4 9 2 — 1 5 5 0 ) , die Verfechter des humanistischen Gedankens in der Jurisprudenz und Initiatoren der humanistisch orientierten Rechtsschule in Frankreich, sind ebenfalls hierher zu stellen. Denn auch sie hatten ein praktisches Anliegen und von ihnen, namentlich dem zuerst genannten, ging eine bedeutende, nicht minder nachhaltige Wirkung auf die Praxis wie auf die Theorie des europäischen Redits aus, welche sich über Deutschland, Italien, Spanien und England erstreckte 11 . Alciat hat zahlreiche Gutachten verfaßt, obwohl er sich kritisch gegen das Konsiliarwesen und die Konsiliarjurisprudenz wendete 1 2 . Ferner dürfen Franciscus Hotomanus' (François Hotman, 1 5 2 4 — 1 5 9 0 ) Bemühungen, eine Kodifikation des französischen Redits in die Wege zu leiten, nicht vergessen werden. Sein Kodifikationsprogramm wurde von Hermann Conring ( 1 6 0 6 — 1 6 8 1 ) übernommen, der es durch den Hinweis auf Aristoteles' Postulat verstärkte, demzufolge möglichst alles durch die Gesetzgebung geregelt und möglichst wenig richterlicher Entscheidung überlassen werden solle (Rhet. I, 1, 1354 a, 3 1 — 3 4 ) 1 3 . In diesem Zusammenhang verdient ferner Johannes Oldendorp ( 1 4 8 8 — 1 5 6 7 ) Erwähnung, der durch seine literarische Tätigkeit vor allem der Praxis dienen wollte 1 4 . facius Amerbadi und die württembergische Eheordnung von 1553, in: [Festschrift] Zum siebzigsten Geburtstag von Eberhard Vischer: Vom Wesen und Wandel der Kirche, Basel 1935, S. 60—77. 11 Kiscb, Erasmus, Kapitel 8 und 9. 12 Friedrich Schaffstein, Zum rechtswissenschaftlichen Methodenstreit im 16. Jahrhundert, in: Festschrift für Hans Niedermeyer, Göttingen 1953, S. 200, 214; Kiscb, Consilia, unter „Alciatus", und Einleitung, I, Anm. 1; Kisch, Bonifacius Amerbach als Rechtsgutachter, S. 91, Anm. 18, (auch unten, S. 160, Anm. 18). 13 Hermann Conring, De origine iuris Germanici liber unus, 2. Aufl., Helmstedt 1649, Kap. X X X I V , S. 213 f., und Kap. X X X V , hinzugefügt in der 3. Aufl. von 1665; vgl. Kisch, Erasmus, S. 315, Anm. 16, und 420. — Ober Hotmann siehe J. van Kan, François Hotman en de codifikatiepolitiek van zijn tijd, Tijdschrift voor Rechtsgeschiedenis, III, 1922, S. 1—11 ; Vogel, Franz Hotmann, (oben, Anm. 1), S. 82 ff.; Ralph E. Giesey, When and Why Hotman Wrote the Francogallia, Bibliothèque d'Humanisme et Renaissance, X X I X , 1967, S. 580—611; Ciesey, The Monarchomach Triumvirs: Hotman, Beza and Mornay, daselbst, X X X I I , 1970, S. 41—56. — Über Conrings Abhängigkeit von Hotman siehe Julius Baron, Franz Hotmanns Antitribonian, ein Beitrag zu den Kodifikationsbestrebungen vom X V I . bis zum X V I I I . Jahrhundert, in: Litterarum Universitati Bononiensi, saecularia octava . . . celebranti, rite gratulatur litterarum Universitatis Bernensis rector ac senatus, Bern 1888, S. X X V I f.; Vogel, S. 115 f. 14 Kisch, Erasmus, Kapitel 10.
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D e r Einfluß des H u m a n i s m u s auf die J u r i s p r u d e n z
Wenn man so den Anteil jedes einzelnen Juristen an der Förderung der Rechtswissenschaft, der Beeinflussung der Rechtsanwendung und Teilnahme an Gesetzgebungsarbeiten abwägt, werden diese Anteile wohl verschieden groß ausfallen. Von rechtsschädlicher Weltfremdheit und spielerisch-antiquarischer Professorengelehrsamkeit aber kann gewiß nicht die Rede sein. Auch diesen Humanisten-Juristen stand der Dienst am Recht im umfassendsten Sinne des Wortes als Aufgabe ihrer Wirksamkeit und Ideal ihres Lebens vor Augen; ihm widmeten sie ihr Forschen und Lehren. Gerade sie sind es gewesen, die trotz aller Bekämpfung der Glossatoren und Kommentatoren des römischen Rechts sich von den Errungenschaften ihrer juristischen Geistesarbeit nicht lossagen wollten. Sie bauten auf dem von jenen in jahrhundertelangem Mühen fundierten Boden — jedoch nicht ohne eigene Kritik — weiter und leisteten oder bemühten sich, gerade das zu leisten, was ihre modernen Kritiker von ihnen verlangen, „mit Hilfe des Bartolus und Baldus über Bartolus und Baldus hinauszukommen". Das läßt sich besonders deutlich an Cantiuncula beobachten15. Letzten Endes hat jeder von den Humanisten-Juristen, die sich, um ein Beispiel zu geben, mit der Billigkeitslehre beschäftigten, seinen eigenen Begriff der Aequitas gebildet oder in die Bezeichnung Epieikeia hineingelegt, um durch diese auf Aristoteles zurückgehende Konzeption auch für die Praxis einen geeigneten und möglichst untrüglichen Rechtsbehelf zu schaffen. Darin liegen Sinn und Bedeutung der theoretischen Erörterung und der für die praktische Anwendung berechneten Ausgestaltung der Epieikeialehre bei den humanistischen Juristen. Freilich ließen sich einige unter ihnen, wie zum Beispiel Budaeus, durch ihre philologischen und antiquarischen Neigungen manchmal auf Irrwege leiten. Es gelang auch nicht allen, ein vollkommenes Gleichgewicht zwischen ihren theoretischen Neigungen und der notwendigen Pflichterfüllung gegenüber den Forderungen der Praxis herzustellen. Deshalb darf aber die Bedeutung ihrer Arbeit am Ausbau des Rechtsgebäudes, ihrer Leistung für die Wissenschaft und für die Anwendung des Rechts, nicht unterschätzt werden. Sehr wesentliche ihrer Errungenschaften haben sich bisher der rechtsgeschichtlichen 15
Kisch, Erasmus, K a p i t e l 7, S. 169 ff.; vgl. auch Kiscb, Cantiuncula, S. 76 ff.
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Forschung entzogen; wo diese aber ihren Spaten angesetzt hat, ist Licht auf die bedeutende Wirkung der humanistischen Schule auf Rechtswissenschaft und Rechtsanwendung gefallen. So machten die historisierenden Humanisten-Juristen durch ihre wissenschaftliche Arbeit eigentlich überhaupt erst das Feld für die Lehre von der Souveränität frei 16 . Die juristischen Aspekte und theoretischen Grundlagen der höchst komplizierten und äußerst schwierigen Geldwertlehre wurden zur Verwirklichung der Rechtsprinzipien in der französischen Praxis durch Dumoulin herausgearbeitet in einer Weise, die in der Geschichte des Geldrechts bis zur Gegenwart an Interesse nicht verloren hat 17 . Auch das Gebiet des Kollisionsrechts ist von ihm wesentlich gefördert worden 18 . Humanisten-Juristen verdankt das moderne Rechtsdenken die Einführung und gedankliche Erschließung der weiten Gebiete von Aequitas und Epieikeia in den mannigfaltigen Wandlungen der dogmatischen Auffassungen von Aristoteles über Budé bis in die Zeit des Naturrechts und in die Gegenwart, wie aus den in meinem Erasmus-Buche vorgelegten Forschungsergebnissen hervorgeht. Besonders eindrücklich zeigt sich an der Geschichte der aristotelischen Epieikeialehre und der Ausgestaltung ihres gedanklichen Inhalts, wie ernst die humanistische Rechtswissenschaft um die Klärung fundamentaler theoretischer Begriffe gerungen hat, um sie der
16 Vgl. Gilmore, Argument from Roman Law in Political Thought 1200—1600, S. 45—92; Astati, (oben, Kap. I, Anm. 7), S. 132; über den Einfluß der Basier Juristen des letzten Viertels des 16. Jahrhunderts auf Johannes Althusius (1557 bis 1638) Hans Ulrich Scupin, La notion de souveraineté dans les oeuvres de Jean Bodin et de Johannes Althusius, in: Annales de la Faculté de Droit et des Sciences Economiques de Lille, 1963, S. 8 ff. — Für die Zeit der Glossatoren vgl. Francesco Calasso, I glossatori e la teoria della sovranità, 3. Aufl., Milano 1957. 17 Vgl. Ernst Stampe, War Carolus Molinaeus Nominalist? Eine Untersudiung über seinen „Valor extrinsecus monetae", in: Sitzungsberichte der Preussischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, phil.-hist. Kl. 1926, Nr. IX, Berlin 1926, S. 37—66; weitere Untersuchungen desselben Verfassers zur Geschichte des französischen Zahlkraftrechts in den Abhandlungen der Preussischen Akademie der Wissenschaften, Jahrg. 1930, phil.-hist. Kl. Nr. 2, Berlin 1930 (siehe S. 92) und daselbst 1932, Nr. 3, Berlin 1932. Diese Arbeiten sind in der neueren Literatur über Dumoulin, auch bei Gamillscheg, nicht erwähnt. Vgl. noch John T. Noonan Jr., The Scholastic Analysis of Usury, Cambridge, Mass. 1957, S. 367—370; Gert Meyer, Charles Dumoulin, S. 57 ff.; noch Arthur Nussbaum, Money in the Law, Brooklyn 1950, S. 217, Anm. 67, 267 f. 18 Siehe oben, Anm. 7.
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praktischen Rechtsanwendung in zweckvoller und dem Rechtsideal entsprechender Weise dienstbar zu machen. Durch ähnliche monographische Untersuchungen dürfte das hier gezeichnete Bild Vervollständigung und Erweiterung erfahren. Noch ein anderes Ergebnis der vorgelegten Untersuchungen darf Anspruch darauf erheben, bei der Einschätzung der Bedeutung der humanistischen Jurisprudenz in der geschichtlichen Entwicklung des Rechts nicht übersehen und richtig gewürdigt zu werden. Gemeint ist ihre Hinneigung und Hinwendung zur Rechtsphilosophie. Mit Recht hat man „das eigentlich Wesentliche der humanistischhistorischen Jurisprudenz einmal als eine Rückkehr zu den Quellen, andererseits als eine sich daraus ergebende Einsicht in das historische Werden des Rechts" erkannt und beschrieben19. „Ganz genau in dem gleichen Geiste, in dem ein Erasmus den ,wahren' Text des Neuen Testaments aufzudecken sich unterfängt, um aus ihm das ,wahre' Christentum zu entnehmen, ist ein Alciatus bemüht, die ja allgemein bekannten Texte des Corpus iuris von den Umrankungen einer interpretierenden Glosse zu befreien und sie unter Zuhilfenahme von historischen, philosophischen und sonstigen Quellen des Altertums zu interpretieren"20. Mit diesem zweifellos bloß obiter dictum hat Carl J . Friedrich in glücklicher Formulierung und mit spezieller Exemplifizierung den Kern dessen getroffen21, was einen wesentlichen Teil des Ergebnisses der in meinem Erasmus-Buche angestellten Untersuchungen bildet. Scheint die Parallele zwischen Erasmus und Alciatus bei ihm 19 Carl ]. Friedrich, Die Philosophie des Rechts in historischer Perspektive (Enzyklopädie der Redits- und Staatswissenschaft), Berlin 1955, S. 32. 20 Friedrich, a. a. O., S. 32. Der Vergleich der Bedeutung und Wirkung des humanistischen Rufes „Ad fontes" für die Bereiche der Theologie und Jurisprudenz ist naheliegend und häufig gemacht worden; vgl. ζ. B. Wieacker, Privatrechtsgeschichte, l.Aufl., 1952, S. 4 3 : „Auch für die Jurisprudenz fordert der Humanismus die Rückkehr zu den reinen Quellen, so wie er durch die Rückkehr zum reinen Schriftwort (der hebräisdien und griechischen Bibeltexte) die Reformation wissenschaftlich vorbereitet hat". Wieacker spricht von den „reformbedürftigen Ordnungen der Kirche wie der Juristenkirdie" (diese treffenden Formulierungen fehlen in Wieackers 2. Aufl., S. 9 1 ; doch wird der Gedanke auf der folgenden Seite wieder aufgenommen; daselbst spricht Wieacker von den „reformbedürftigen Ordnungen der Kirdie wie der Jurisprudenz"); vgl. auch Koschaker, S. 106. 21 Für die folgenden Darlegungen sei auf Friedrichs knappe, im wesentlichen zutreffende Analyse der humanistischen Jurisprudenz (S. 3 0 — 3 4 ) generell verwiesen.
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mehr aus allgemeinen Erwägungen und rein gefühlsmäßig gezogen worden zu sein, so hat meine Untersuchung der grundsätzlichen Einstellung des Erasmus zu Rechtsproblemen den Platz zu bestimmen versucht, der seinen Äußerungen über Gesetz und Recht im Rahmen seines Gebäudes der Christi Philosophia zukommt 22 . Wohl ist seine Auffassung von der Antike her und von der Lehre des Evangeliums, namentlich von der Bergpredigt aus bestimmt. Aber es ist nicht der Geist des von der Scholastik entwickelten christlichen Naturrechts und der kirchlichen Aequitaslehre, der sich bei ihm offenbart; vielmehr tritt der Humanitätsgedanke als Ausdruck der freien Entfaltung des menschlichen Geistes im Sinne und Rahmen der erasmischen Philosophie mit ihrer Betonung des ethischen Elements in den Vordergrund 23 . An diese erasmische christliche Philosophie hat sich Claudius Cantiuncula angelehnt, genauer ausgedrückt, er hat sie bei seinem Kampf für die humanistische Jurisprudenz übernommen und ins Juristische übertragen 24 . An seiner juristisch-geistigen Entwicklung, die auch auf andere Humanisten-Juristen des 16. Jahrhunderts, zum Beispiel Oldendorp und Bonifacius Amerbach, Einfluß gewonnen hat, läßt sich ein wesentlicher Zug beobachten, der für die humanistische Jurisprudenz als charakteristisch betrachtet werden darf und sich aus der intensiven Beschäftigung mit dem antiken Geistesgut erklärt: die Kisch, Erasmus, Kapitel 5. Kisch, Erasmus, Kapitel 5, besonders S. 120 ff. 24 Kisch, Erasmus, Kapitel 6. Ihre Einwirkung läßt sich audi bei anderen bedeutenden Juristen erkennen, z . B . bei Zasius, der 1526 an Bonifacius Amerbach schreibt: „. . . intellego magnum Erasmum nondum a me defecisse, cuius cominodum et honorem, famam et prominentiam, si ullae midii vires essent, tueri et corpore cupio, quando ingenio destituor. . . . Chrystianismum Erasmi sequamur, acutas cavillationes sophistis relinquentes, cum nimia disceptatio (ut nos vulgo dicimus) et perdat veritatem et deum offendat"; Alfred Hartmann, Die Amerbachkorrespondenz, III, Basel 1947, N r . 1113, S. 148. Durch den Nachweis von Erasmus' Einfluß auf das juristische Denken hat sich auch für das Gebiet der Rechtswissenschaft als richtig erwiesen, was ein hervorragender Erasmusforscher in folgende Worte faßte: „Avec Calvin, Budé, Rabelais ou Montaigne, il [Erasme] domine l'histoire intellectuelle de notre X V I è m e siècle"; Augustin Renaudet, L a critique érasmienne et l'humanisme français, in der holländischen Erasmusgedenkschrift in: Bijdragen voor Vaderlandsche Geschiedenis en Ouheidkunde, Serie VII, N r . 7, 1936, S. 226. Vgl. auch Erasmus' Einfluß auf Hugo Grotius, der selbständiger Untersuchung bedarf; siehe vorläufig Johannes Spörl, Hugo Grotius und der Humanismus des 17. Jahrhunderts, Historisches Jahrbuch, L V , 1935, S. 3 5 0 — 3 5 7 . 28
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Neigung zur Rechtsphilosophie. Hatte er ursprünglich seine „christliche" Aequitaslehre unter Anpassung an sein eigenes von Baldus beeindrucktes rechtsphilosophisches Denken aus der erasmischen Philosophie abgeleitet, wobei er wie dieser trotz ihrer Ablehnung doch auch der Scholastik verpflichtet blieb, so führte Cantiuncula schließlich die weitere Vertiefung seiner Aequitaslehre zu intensiverer und unabhängig kritischer Beschäftigung mit Aristoteles, für die er sich der zu seiner Zeit bekannten Kommentare zur Nikomachischen Ethik bediente 25 . Dieselbe geistige Einstellung, und zwar in nodi viel stärkerem Maße und in nodi wesentlich sachkundigerer Weise, wenngleich ohne Cantiunculas literarische Schöpferkraft, kann bei seinem Freunde Bonifacius Amerbach beobachtet werden, der Aristoteles im griechischen Originaltext zu lesen imstande war. Ihm erscheint das Studium der Philosophie, namentlich der Moralphilosophie, in welcher die letzte und wahre Quelle des Rechts zu finden sei, geradezu als das einzige Mittel, um die Schwierigkeiten eines methodischen Eindringens in das Recht zu überwinden und dem Wesen des Rechts auf den Grund zu kommen 26 . So führt ähnlich der Entwicklung von der Theologie zur Philosophie hier die Entwicklung von der Rechtsgeschichte und Rechtsdogmatik zur Rechtsphilosophie. Mag diese Rechtsphilosophie auch abstrakte Wege einzuschlagen scheinen, so darf man doch nicht vergessen, daß auch die humanistisch orientierten Juristen des 16. Jahrhunderts den Rechtsbedürfnissen ihrer Zeit dienen wollten, das heißt, daß sie das römische Recht für 25 Kisch, Erasmus, Kapitel 11 und 12 sowie Exkurs V I ; Kisch, Cantiuncula, S. 79 f., Anm. 54. 26 Kisch, Erasmus, Kapitel 15; Kisch, Fakultät, S. 122 f.; oben Kapitel II, Anm. 11. Siehe ferner Andreas Alciatus, Oratio in laudem iuris civilis, in seinen Lucubrationes in ius civile, II, Basel 1546, S. 508 f.: „Ad Philosophiam venio, quae ita cum hac professione coniungitur, ut altera sine altera esse nullo modo possit. N a m ea demum vera Philosophia est, quae iustitiae inhaeret. . . . Ille divinus Plato censuit sapientiam, quae a iustitia seiungatur, calliditatem esse, nec quicquam ad virum bonum pertinere. Si igitur civilibus studiis iuncta sit sapientia, tunc demum nomen suum retinet, ut merito nos veram philosophiam colere, caeteros simulatam, Ulpianus senserit [D. 1. 1. 1. 1. i. f . ] " . Vgl. Francesco Galasso, Introduzione al diritto comune, Milano 1951, S. 193 f. — An dieser Stelle ist vielleicht ein Hinweis auf die in neuerer Zeit aufgeworfene allgemeine Frage angebracht, ob schon die italienischen Humanisten auch Philosophen waren; darüber eingehend Jerrold E. Seigel, Rhetoric and Philosophy in Renaissance Humanism, Princeton, Ν . J. 1968, S. 256 ff.
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die Erfordernisse ihres Zeitalters anwendbar zu machen bestrebt waren. Dies trifft gewiß für Alciat und seine Schule, aber ebenso für Cujas und die meisten anderen zu. So hat denn Friedrich wohl mit Redit gesagt, „daß hinter dieser gelehrten Fassade sich ein Kampf um das ,richtige Recht' im Sinne seiner Angemessenheit für die gesellschaftlichen Verhältnisse [der Zeit] verbarg". „Die humanistischen Rechtsgelehrten haben", so meint er weiter, „derart die sogenannte Rezeption des römischen Rechts stark gefördert". Seine Behauptung aber, daß „an die Stelle von scholastisch-theologischer Vernunft nun die historisierende Vernunft trat, die dann ihrerseits wieder den Weg zu der grundsätzlich-philosophischen Fragestellung des neueren Naturrechts bahnte", was vielleicht für Alciat zutreffen mag, bedarf einer ergänzenden Erläuterung. Geistesgeschichtliche Entwicklungen erstrecken sich meist über lange Zeiträume und führen selten auf unverschlungenem Wege unmittelbar vom Anfangsstadium zum Endpunkt hin. So war es auch hier. Wohl mit der einzigen Ausnahme von Budaeus, dem Rechtsbereich und christliche Philosophie noch als unvereinbare Gegensätze erscheinen27, ist es allen von mir behandelten Rechtsdenkern, ob sie dem alten Glauben treu blieben oder sich mehr oder weniger kompromißlos dem neuen anschlossen, gelungen, das Recht theoretisch und praktisch nicht nur mit der Philosophie, sondern audi mit dem Gottesgedanken in harmonischen Einklang zu bringen. Die Synthese vollzog sich auf der Grundlage der christlichen Philosophie des Erasmus, jener „vergeistigten Religiosität" (Josef Sellmair),
27 Kisch, Erasmus, Kapitel 9, S. 224 ff. Anderer Ansicht Buck, S. 192 f. und Anm. 243, der meint, daß „Budes Humanismus doch von vornherein christlich getönt ist". Auch er weist jedoch auf die neueren Interpretationen von Budes letzter bedeutender Schrift De transitu Hellenismi ad Christianismum hin, in der dieser einen unüberbrückbaren Gegensatz zwischen Hellenismus und Christentum behauptet; vgl. Daniel F. Penham, Guillaume Budé (1468—-1540), De transitu Hellenismi ad Christianismum; A Study of a Little Known Treatise of Guillaume Budé, Followed by a Translation into English, Typescript, N e w York 1954 (Columbia University Library). — Allgemein über den Einfluß des RenaissanceHumanismus auf Religion und Theologie siehe Kristeller, Studies on Renaissance Humanism during the Last Twenty Years, in: Studies in the Renaissance, I X , 1962, S. 18 ff. Daselbst (S. 20) betont Kristeller: „We need more work on the religious ideas of the humanists, and also on their biblical, patristic, and historical scholarship as it affected the theology of the Reformation period, and finally on the humanist background of the sixteenth-century theologians".
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der auch Budaeus stark verpflichtet war. Dieses Stadium, welches Redit, Religion (nicht Theologie) und Philosophie zu harmonisieren strebte, mag sich vielleicht durch die starke religiöse Bedingtheit des deutschen Geistes ergeben und den Entwicklungsprozeß logisch, aber notwendigerweise kompliziert gestaltet haben 2 8 . Aus doppeltem Grunde ist diesem Stadium Wichtigkeit beizumessen. 2 8 Vgl. dazu G. Ritter, Historische Zeitschrift, 127, 1923, S . 4 5 2 f . ; Ritter, Erasmus und der deutsche Humanistenkreis am Oberrhein (Freiburger Universitätsreden, Heft 23), Freiburg i. Br. 1937, S. 14. Treffend bezeichnet Ernst Reibstein bei Erörterung der geistigen Gestalt des spanischen Juristen Fernandus Vasquius (1512—1569) eine solche Synthese, „eine humanistische Zusammensdiau von Moral und Recht nach philosophischen Prinzipien, die der christlichen Tradition nicht widersprachen, aber von der Theologie, der alten wie der neuen, unabhängig waren", als ein „Zeitbedürfnis" des 16. Jahrhunderts; Reibstein, Johannes Althusius als Fortsetzer der Schule von Salamanca, Karlsruhe 1955, S. 144. Er glaubt, „daß die humanistisch-profanjuristische Naturrechtslehre um die Mitte des 16. Jahrunderts in Spanien als charakteristische Synthese von Moralphilosophie und Jurisprudenz ausgebildet worden ist" und „daß ohne die Vorarbeit der Spanier ein Johannes Althusius als Naturrechtslehrer nicht denkbar wäre", S . V . ; vgl. ferner S. 25: „Diese Kritik und Auseinandersetzung ist das schöpferische Werk der spanischen Spätscholastik, die damit dem Humanismus die Hand zu einem ersprießlichen Zusammenwirken gereicht hat. Erasmus von Rotterdam hat Spanien nie betreten, aber man könnte glauben, daß er sich jahrzehntelang südlich der Pyrenäen aufgehalten habe, so wichtig ist für die europäische Geistesgeschichte, und namentlich für die Gestaltung der moralphilosophischen und politischen Ideen, das Thema .Erasmus in Spanien' geworden". — Vgl. neuestens Werner Kaegi, Erasmus ehedem und heute, 1469—1969 (Basler Universitätsreden, 61. Heft), Basel 1969, S. 14 f. — Aus den Darlegungen im Text und in Erasmus, Kapitel 6, 14, 15, jeweils am Ende, ist ersichtlidi, daß diese Entwicklung nicht als spezifisch spanische anzusprechen ist. Sie hat sich bereits drei bis vier Jahrzehnte vor dem Erscheinen von Vasquez' Hauptwerk Controversine illustres unter der unmittelbaren Einwirkung der christlichen Philosophie des Erasmus anderwärts vollzogen. Die von mir oben im Text ausgesprochene Vermutung wird durdi die Tatsache verstärkt, daß ein ähnlicher geistesgeschichtlicher Vorgang gerade im katholischen Spanien erfolgen konnte. Wie weit Erasmus' Philosophia Christi etwa auf die Rechtslehre der spanischen Spätscholastik ausgestrahlt hat, bedarf noch der Untersuchung. Nichts findet sich darüber in dem umfassenden Werk von Marcel Bataillon, Erasme et l'Espagne, Recherches sur l'histoire spirituelle du X V I a siècle, Paris 1937, obwohl sein Verfasser dem Einfluß der erasmischen Ideen auf verschiedene Literaturgebiete sorgfältig nachgegangen ist und darauf hingewiesen hat, daß Nachdruck und Übersetzung der maßgebenden Werke des Erasmus in Spanien besonders früh einsetzten (S. 586 f., 590 f.). Der Name Fernando Vasquez kommt in dem ausführlichen Index zu seinem Buche nicht vor. — Die Erstausgabe der Controversiae illustres wird in der Literatur, auch von Reibstein, für 1559 angesetzt, ein anderer Frühdruck als der von Venedig 1564 ließ sich bisher nicht ermitteln; vgl. Hans Thieme, ZRG. (G), 70, 1953, S. 250, Anm. 28. Die von mir in der Venediger Ausgabe von
Die humanistische Jurisprudenz und die Rechtsentwicklung
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Zunächst zeigt es, daß die philosophische Loslösung des Rechts von der Verbindung mit einer religiösen Grundlage nicht das Werk der humanistischen Jurisprudenz ist, und daß sie weder durch die Aufnahme der aristotelischen Rechtslehre noch durch die des „heidnischen" römischen Rechts bewirkt wurde. Cantiuncula, der treue Katholik, der das römische Redit gegen den Vorwurf, den Lehren des Evangeliums zu widersprechen, verteidigen will 2 9 , muß sich, um seinen Zweck zu erreichen, auf theologischen Grund begeben, wie er in der Widmungsvorrede zur Oratio Apologetica seinem Freunde Amerbach entschuldigend und erläuternd auseinandersetzt 30 . E r endigt aber bei der christlichen Philosophie des Erasmus, auf deren Grundlage seine Christiana aequitas, allgemein christlich, nicht theologisch begründet, beruht. Erst Jean Bodin ( 1 5 3 0 — 1 5 9 6 ) hat mit seiner Staatslehre die religiöse Grundlage verlassen, wozu nach neueren Forschungen die Lehre vom merum Imperium, die schon bei den Glossatoren und Kommentatoren eine große Rolle gespielt hatte, in der Beleuchtung Alciats die mittelbare Veranlassung geboten hat 3 1 . Ferner bezeugt die Aufnahme der aristotelischen Epieikeialehre im Anfang des 16. Jahrhunderts, ihre Einführung in das juristische Gedankengebäude und die Beschäftigung mit den frühen Aristoteleskommentaren der Zeit, daß die Anfänge rechtsphilosophischen Den1595 eingesehene Dedikationsepistel an König Philipp II. ist „Venetiis V. Kaiend. Februarii M D L X I I I [ 1 5 6 3 ] " datiert: Controversarium illustrium. . . Libri tres. „Nunc denuo longe quam antea emendatius ac elegantius editi". Danach wäre die Ausgabe von 1564 als Primärdruck zu betrachten. 29 Kisch, Erasmus, Kapitel 4, S. 94 ff.; Kisch, Cantiuncula, S. 45 ff. 3 0 Oratio Apologetica in patrocinium iuris Civilis, Basel 1522, S. 2 ; Kisch, Cantiuncula, S. 1 6 6 : „. . . Desines vero mirari, si rescieris, me valde theologum esse factum, sie tarnen, ut a iure civili non defecerim. Ostendo enim, illud Silenum quendam theologicum aluisse, qui Aegyptium templum antiquo proverbio celebratum multo magis vicissitudine quadam mereatur quam dii quidam ridiculos!, qui illud hactenus occuparunt, et quorum exquisito honori tantus impensus fuit labor. — Aenigmata loqui me putas? Te Oedipum esse volo. Tametsi quid opus Oedipo? Fato quodam nuper adactus sum, ut iustis et ordinariis legum civilium adsertoribus operam succisivam quasi succenturiaturus honeste detrectare non possem". Trotz vielen Nachsuchens und Nachdenkens sowie Beratens mit Herrn Dr. Alfred Hartmann ist es noch nicht gelungen, das Rätsel des ägyptischen Tempels zu lösen. 3 1 Vgl. Myron P. Gilmore, Argument from Roman L a w in Political Thought 1 2 0 0 — 1 6 0 0 , Cambridge, Mass. 1941, S. 4 7 — 5 7 ; Friedrich, Die Philosophie des Rechts in historisier Perspektive, S. 32, 34 f.; audi Reibstein (oben, Anm. 28),
Der Einfluß des Humanismus auf die Jurisprudenz
58
kens a u f die H u m a n i s t e n - J u r i s t e n z u r ü c k g e h e n . Seine G r u n d l a g e w a r z w a r christlicher, j e d o c h nicht theologischer N a t u r ; es w a r d a h e r d e r Kirche gegenüber natürlichen
selbständig,
Recht
fundiert,
mehr
also
im
römischen
Recht und
säkulär-philosophisch
dem
orientiert32.
D i e s e E n t w i c k l u n g e r f o l g t e h u n d e r t J a h r e v o r H u g o G r o t i u s ( 1 5 8 3 bis 1645),
der
als
der
Rechtsphilosophie
Begründer
angesehen
jener
wird,
Richtung und
und
zwei
der
modernen
Menschenalter
vor
A l b e r i c o G e n t i l i ( 1 5 5 2 — 1 6 0 8 ) , d e r als sein V o r l ä u f e r g i l t 3 3 . A l s f r ü h e m V o r l ä u f e r e i g e n e r A r t w i r d in Z u k u n f t C a n t i u n c u l a ein P l ä t z chen nicht v e r s a g t w e r d e n k ö n n e n , u n d z w a r vor
Johannes
Olden-
d o r p , d e r in seinen m a ß g e b e n d e n S c h r i f t e n a u f j e n e m b a s i e r t 3 4 . diesem
Zusammenhang
darf
auch
des
Johannes
Lodovicus
In
Vives
( 1 4 9 2 — 1 5 4 0 ) nicht vergessen w e r d e n , o b w o h l sein H a u p t i n t e r e s s e in beruflicher u n d literarischer B e t ä t i g u n g nicht d e r
Rechtswissenschaft
galt35. S. 104 f., 129, 212 f. Über die Säkularisierung der Rechtswissenschaft, namentlich die Rolle des Alberico Gentili, aufschlußreich van der Molen (oben, Kap. II, Anm. 18), S. 210 ff. Auf die spätere Entwicklung der Abgrenzung der Rechtslehre von der Moraltheologie braucht hier nicht eingegangen zu werden. 32 Cantiuncula, Oratio Apologetica, S. 20 ff., jetzt bei Kisch, Cantiuncula, S. 194 ff.; dazu S. 46 ff. Guido Astuti hat in einer anregenden Schrift (oben, Kap. I, Anm. 7) die Bedeutung des Christentums für die Renaissancebewegungen auf juristischem Gebiet von den Glossatoren bis zu den Humanisten-Juristen behandelt, ohne den oben im Text hervorgehobenen Gesichtspunkt in Betracht zu ziehen. 33 Giorgio del Vecchio, Lehrbuch der Rechtsphilosophie, 2. deutsche Auflage, Basel 1951, S. 113, 119 f. Vgl. die Bermerkungen von Slavomir Condanari, Humanismus und Rechtswissenschaft (Ewiger Humanismus, Schriften der österreichischen Humanistischen Gesellschaft in Innsbruck, 8. Heft), Innsbruck 1947, S. 13 f., über die an Cantiunculas Methode der Beweisführung in der Oratio Apologetica erinnernde Logik der Schlußfolgerungen bei Grotius. 34 Kisch, Erasmus, Kapitel 10, S. 232 ff., 242, Anm. 25. Von Johannes Oldendorp spricht Levin Goldschmidt als „dem ersten modernen Rechtsphilosophien" in seinem „Beitrag zur preussischen und deutschen Rechtsgeschichte", Rechtsstudium und Prüfungsordnung, Stuttgart 1887, S. 380, Anm. 227. Wieackers Bestreitung der im Text aufgestellten und an den angeführten Stellen auf Grund Oldendorps eigener Aussage erwiesenen Behauptung (ZRG. [G], 78, 1961, S. 422, Anm. 10) ist nicht überzeugend; umso weniger, als Wieacker keinerlei Gegenbeweis erbracht hat, weil ein solcher eben nicht zu führen ist; dazu jetzt ausführlich Kisch, Cantiuncula, S. 69, Anm. 33. 35 Kisch, Erasmus, Kapitel 3, besonders S. 73, Anm. 6. Über Vives neuestens Carlos G. Norena, Juan Luis Vives (International Archives of the History of Ideas, Bd. 34), The Hague 1970, woselbst seinen juristischen Studien jedoch kaum Beachtung geschenkt ist.
IV Schlußbetrachtung D ie Ergebnisse meiner Untersuchungen dürften Bedeutung und Bewertung der humanistischen Rechtslehre in einem von der vorherrschenden, wenngleich neuestens gemilderten Auffassung verschiedenen, viel günstigeren Lichte erscheinen lassen. Man wird der humanistischen Jurisprudenz nicht nur keinen schädlichen Einfluß auf die fortschrittliche Rechtsdogmatik zuschreiben, ihre Wirkungen nicht als bloß negative betrachten dürfen, sondern vielmehr die positiven Kräfte, die in ihr zur Geltung gelangten, in ihrem vollen Ausmaß und Wert erkennen. Dieser geistigen Bewegung des 16. Jahrhunderts kommt für die Fortentwicklung des Rechts, der Rechtswissenschaft und Rechtslehre, der Rechtsideen und ihrer Nutzbarmachung für die Rechtsanwendung bleibender Einfluß und Wert zu. Für das moderne Recht grundlegende Gedanken haben erst durch sie ihre neuzeitliche Prägung erhalten. Selbst ein Autor wie Franz Wieacker, der die negativen Seiten des juristischen Humanismus trotz neuerlicher Abschwächung seines ursprünglichen Urteils immer noch stark betont, muß zugeben: „Als Systematiker haben die Eleganten Juristen zum erstenmal den Stoff des Gemeinen Rechts synthetisch durchgeformt und damit die Zivilrechtswissenschaft der neueren Zeit konstituiert" 1 . Das Erwachen des historischen Sinns im Bereich der Rechtswissenschaft bildet genau so wie auf anderen Gebieten der Geistesgeschichte ein bedeutsames Phänomen, und die dadurch heraufgeführte Epoche stellt eine Entwicklungsperiode dar, die sich nicht ausschalten läßt und in ihrer Bedeutung nicht zu verkennen ist, obwohl sie bisher von den Rechtshistorikern, von den Romanisten ebenso wie von den Rechts1 Wieacker, S. 167; vgl. audi S. 169, 340: „Diese Elegante Jurisprudenz brachte [in Frankreich] außer vorziiglidien Philologen und Antiquaren auch die großen Systematiker des Gemeinen Rechts hervor, denen noch fachwissenschaftliche Grundlagen des Code civil zu verdanken sind".
60
Der Einfluß des Humanismus auf die Jurisprudenz
philosophen, entweder übersehen oder absichtlich übergangen wurde. Zwei Gedankenrichtungen lassen sich bei den Juristen dieser Zeit unterscheiden: die eine wendet sich ganz den Quellen, ihrem Studium, ihrer Kritik, ihrem Verständnis auf philologischer Basis und vom historischen und archäologischen Hintergrund aus zu; die andere widmet sich mehr der Rechtsdogmatik, mit dem Ziele, das Recht und die juristische Denkarbeit einer antiken Kulturperiode den Erfordernissen der zeitgenössischen Gesellschaft anzupassen und nutzbar zu machen, sowie durch sinngerechte Interpretation die Anwendbarkeit in der Praxis zu ermöglichen und zu erreichen2. Man sollte bei der Bewertung der beiden Richtungen keinen ungleichen Maßstab anlegen. Aus rechtshistorischer Perspektive ist beiden Wichtigkeit und Verdienstlichkeit nicht abzusprechen. Diejenigen, welche der ersteren allzu starke „Verwissenschaftlichung" (charakteristischer wäre, von „Vergeschichtlichung" zu sprechen) im Sinne von Theoretisierung („Professorenrecht") zum Vorwurf machen zu müssen glauben, seien darauf hingewiesen, daß selbst die Ergebnisse rein theoretischer und vielleicht bloß akademischer Studien zumeist unverlorene Arbeit bedeuten, die von anderen, Gleichzeitigen oder Späteren, aufgenommen und praktisch verwertet wird. Solch rein abstrakter Theorie war es im wesentlichen zu danken, daß, um nur ein Beispiel zu geben, Jean Bodin und Charles Loyseau (1564—1627) ihre höchst praktischen Lehren von Souveränität und öffentlicher Gewalt entwickeln konnten 3 . Weitere Forschungen, namentlich die Untersuchung zentraler juristischer Probleme in der Art des merum imperium oder der Aequitas und Epieikeia dürften — so ist zu hoffen — der mit ausführlicher Begründung hier vorgetragenen, mehr positiven Wertung der humanistischen Jurisprudenz förderliche Stütze gewähren. Wenn den Humanisten-Juristen weiter nichts zu danken wäre, als die Einführung der aristotelischen Epieikeialehre in das juristische Denken und ihre Behandlung und Neugestaltung von den mannigfaltigen 2 Die gleiche Einteilung der dem Humanismus verpflichteten französischen Juristen in zwei Gruppen trifft Christoph Bergfeld, Franciscus Connanus (1508 bis 1551) (Forschungen zur neueren Privatrechtsgeschichte, Bd. 12), Köln 1968, S. 39, ohne jedoch diese von mir bereits 1960 in meinem Erasmus-Buch (S. 402 f.) hervorgehobene Unterscheidung der beiden Gedankenrichtungen zu erwähnen. 3 Darüber siehe Gilmore, (oben, Kap. 3, Anm. 31), S. 70 f., 98 f., 113 ff., 93—126.
Schlußbetrachtung
61
Aspekten aus, die in meinem Erasmus-Buche aufgezeigt wurden, so würde dies allein schon genügen, die konstruktive Arbeit und das aufbauende Gedankenwerk der humanistischen Jurisprudenz mit ihrem großen und bleibenden praktischen Wert ins richtige Licht treten zu lassen. Zum Abschluß sei die Richtigkeit der Feststellung moderner Humanismus- und Renaissanceforscher betont, daß der Humanismus der Renaissance — weit entfernt davon, bloß die Sache weltfremder Gelehrten und selbstgefälliger Ästheten zu sein — eine bedeutende geistige Bewegung und Kraft darstellt, die das Denken und die Kultur ihrer eigenen Zeit und der Folgezeit tiefgehend beeinflußt, befruchtet und verändert hat 4 . Auch auf dem Gebiete des Rechts schuf der Humanismus — mit seinen Verdiensten und mit seinen Beschränkungen — die Grundlagen, auf denen sich die moderne Rechtswissenschaft entwickeln und die Rechtsanwendung einen sicheren Boden finden konnte. 4 Vgl. Kristeller, Der italienische Humanismus und seine Bedeutung, S. 28 und passim; Buck, Die humanistische Tradition in der Romania, passim, auch Rückseite des Buchumschlags.
II Das juristische „Plagiat" im 16. Jahrhundert
I
Das Schrifttum zur Geschichte des Plagiats U nter Plagiat im weitesten Sinne des Wortes versteht man die unbefugte Aneignung fremden geistigen Eigentums, in welcher Form immer eine solche geschehen mag. Sie war schon im alten Rom nicht unbekannt. So verwahrte sich der römische Epigrammdichter M. Valerius Martialis (gest. etwa 104 n. Chr.) dagegen, daß ein gewisser Fidentinus unveröffentlichte Gedichte Martials als eigene Schöpfungen vortrug. Martial bezeichnete seine Epigramme bildlich als freigelassene Sklaven und nannte den unbefugten Nutznießer derselben plagiarius, Menschenräuber1. Diese Bezeichnung wirkt bis in die Gegenwart in dem urheberrechtlichen technischen Ausdruck Plagiat für die widerrechtliche Aneignung fremden geistigen Eigentums fort, selbst nachdem die Rechtsentwicklung die sublime Sphäre des Persönlichkeitsrechts entdeckt hat, wenngleich die Literatur Begriff und Inhalt des Plagiats sehr verschieden auffaßt und auch heute noch nicht fest abzugrenzen vermag2. Seitdem Plagiatoren ihr Unwesen zu treiben begonnen haben, hat sich auch der Widerstand gegen jene geregt, welche die „fructus 1 Eingehende rechtshistorische und etymologische Erörterung der Äußerungen Martials und der einschlägigen Digestenstellen mit Hinweis auf die Literatur bei Marie-Claude Dock, Contribution historique à l'étude des droits d'auteur, Thèse pour le doctorat en droit, Paris 1962, S. 36—40 und Anm. 62. Vgl. das profunde Werk von Eduard Stemplinger, Das Plagiat in der griechischen Literatur, Leipzig und Berlin 1912; auch noch Aegidius Forcellini, Totius latinitatis Lexicon, IV, Prati 1868, s. v. plagiarius, plagiator, plagium. * Vgl. Erich Schulze (und andere), Plagiat (Schriftenreihe der Internationalen Gesellschaft für Urheberrecht, Bd. 14), Berlin 1959. Über den modernen Plagiatbegriff in der urheberrechtlichen Literatur und seinen Inhalt, über sein Wesen, seinen Wandel und seine moralisch-ästhetische Bewertung handelt eingehend und scharfsinnig Konrad Engländer, Gedanken über Begriff und Erscheinungsformen des musikalischen Plagiats, in: Archiv für Urheber-, Film- und Theaterrecht, III, 1930, S. 20—32; vgl. ferner die geistvolle Studie von Georg Müller, Beckmessers „Plagiat", daselbst, VI, 1933, S. 312 f., 316 f. Allgemein zum literarischen Plagiat
66
Das juristische „Plagiat" im 16. Jahrhundert
laborum et vigiliarum", die Früchte redlicher Mühen geistiger Arbeiter, entwenden und sich zueignen. Ähnlich Martial hat Martin Luther die Nachdrucker seiner Bibelübersetzung mit Straßenräubern und Dieben verglichen3. Im Mittelalter schon hatte Eike von Repgow (um 1180— nach 1233), der Verfasser des Sachsenspiegels, in der Reimvorrede zu seinem Rechtsbuch vor Änderungen des Werkes sowie vor Verfälschung des von ihm aufgezeichneten Rechts gewarnt und zur Abschreckung allen Übertretern seines Fälschungsverbots Aussatz und Hölle gewünscht4. Und Goethe hat im 16. Buch von „Dichtung und Hermann Kantorowicz, Grundbegriffe der Literaturgeschichte, in: Logos, XVIII, 1929, S. 113 f.; jetzt wiederabgedruckt bei Kantorowicz, Rechtshistorische Schriften (Freiburger Redits- und Staatswissenschaftliche Abhandlungen, Bd. 30), Karlsruhe 1970, S. 15 ff. (S. 25). 3 „In der .Vorrede und Vermanunge an die Drucker' vor der ,Auslegung der Episteln und Evangelien' vom September 1525 fragt Luther die Drucker, ob sie Diebe und Straßenräuber geworden seien, weil sie ihm sein Eigentum s t ä h l e n ? . . . Zugleich klagt er darüber, daß die Nachdrucker seine Bücher .falsch und schändlich zurichten'"; Horst Kliemann, Uber einige Versuche, sich gegen Nachdruck zu wehren, in: Festschrift f ü r Josef Benzing zum sechzigsten Geburtstag, Wiesbaden 1964, S. 252 f.; dazu Georg Müller (unten, Anm. 8), S. 292, Anm. 4; Müller (oben, Anm. 2), S. 317. Vgl. Josef Kohler, Das Autorrecht, in: Jherings Jahrbücher, 18, 1880, S. 211; Josef Kohler, Shakespeare vor dem Forum der Jurisprudenz, Würzburg 1883, S. 86, 72. — Κ. H. Haug, Luthers Bedeutung in der Geschichte des Urheberrechts, jur. Diss. München 1955 (nur maschinenschriftlich), war mir nicht zugänglich. 4 Sachsenspiegel, Landrecht, Reimvorrede, Verse 230—234 und 238—248: Allen, die unrecht verfahren und verfälschen dieses buch, denen send' ich diesen fluch, audi die falsches hierzu schreiben: die mieselsudit soll sie bekleiben . . . Gott der Herr und Heiland an ihnen er es räche, die seele er zerbreche zusammen mit dem leibe. Der bösen sdirift sie bleibe als teufelsschrift in teufels banden, solang sie unvertilgt vorhanden. Wer dem teufel ohne ende zugehören will, der sende ihm dies zur künde und fahre zu der hölle gründe. Deutsche Übersetzung von Hans Christoph Hirsch, Eike von Repgow: Sachsenspiegel (Landrecht), Berlin und Leipzig 1936, S. 103, 105.
Der
67
Das Schrifttum zur Geschichte des Plagiats
W a h r h e i t " m i t B i t t e r k e i t d a r ü b e r geklagt, „ d a ß g e r a d e das so sehr gesuchte u n d b e w u n d e r t e T a l e n t in D e u t s c h l a n d als a u ß e r d e m G e s e t z u n d v o g e l f r e i b e h a n d e l t w e r d e " 5 . I n einem Gespräch m i t d e m K a n z l e r M ü l l e r b e m e r k t e e r : » W e r keinen Geist h a t , glaubt nicht a n Geister u n d s o m i t auch nicht a n geistiges E i g e n t u m der S c h r i f t s t e l l e r " 6 . Solche Ä u ß e r u n g e n enthüllen die beiden A s p e k t e , u n t e r denen das Problem
„Plagiat"
sich darstellt u n d b e t r a c h t e t w e r d e n m u ß :
den
moralischen u n d den juristischen. W e n n es nicht u m g e r a d e z u offensichtlich u n r e c h t m ä ß i g e
Aneig-
n u n g geht, zeigt sich die Schwierigkeit zu entscheiden, ob q u a l i t a t i v u n d q u a n t i t a t i v B e n u t z u n g eines Geisteswerkes o d e r aber eine originale geistige Schöpfung beziehungsweise N a c h s c h ö p f u n g v o r l i e g t . A l l e A s p e k t e des P l a g i a t p r o b l e m s sind in d e m fast unübersehbaren S c h r i f t t u m z u m literarischen u n d künstlerischen U r h e b e r r e c h t i m H i n blick a u f die sich i m m o d e r n e n R e c h t ergebenden juristischen F r a g e n m i t g r ö ß e r e r o d e r geringerer Ausführlichkeit e r ö r t e r t w o r d e n 7 .
In
dieser umfangreichen L i t e r a t u r w i r d die Geschichte des U r h e b e r r e c h t s i m allgemeinen u n d die des P l a g i a t p r o b l e m s i m besonderen
kaum
5 Goethe, Aus meinem Leben: Dichtung und Wahrheit, 16. Buch, in: Goethes Sämtlidie Werke, Jubiläumsausgabe, 25. Bd., S. 12. 6 Goethes Unterhaltungen mit dem Kanzler Friedrich von Müller, hg. von C. Α. H. Burkhardt, 3. Aufl., Stuttgart 1904, S . 6 8 ; vgl. daselbst, S. 47, v. Müller über den (später berühmten) Prager Physiologen Johannes Evangelista Purkinje, „der Goethes Farbenlehre predigt, ohne ihn nur zu zitieren, so daß Goethe sich jetzt in der Morphologie den Spaß macht, sich selbst bei Kritik jenes Werkes zu allegieren. Man muß gar nicht leben, sich nicht mitteilen wollen, wenn man sich solche Plagiate nicht ruhig gefallen lassen will. Der größte Virtuos im Aneignen fremder Federn war Bertudi, der sogar den armen Batsch, als dieser ein neues System der Naturgeschichte schrieb, zwang, sich gefallen zu lassen, daß Bertuch ankündigte, da er selbst nicht Zeit habe, werde Batsch seine (Bertuchs) Ideen dem Publikum vorlegen". Goethe widmete in seiner Studie „Meteore des literarischen Himmels" von 1820 (Jubiläumsausgabe, 39. Bd., S. 37—43) dem Plagiat einen besonderen Abschnitt, der auch heute noch nach 150 Jahren von Interesse ist. Weitere Äußerungen Goethes zum Urheberrechtsgedanken und „Gedankenraub" sind nachgewiesen bei Georg Müller (unten Anm. 8), S. 291, Anm. 1; 330, Anm. 2. 7 Ubersichten über ausgewählte Literatur zum Urheber- und Verlagsrecht finden sich in dem weiter unten (Anm. 8) anzuführenden Werk von Ludwig Gieseke, S. 8 f.; bei Erid] Schulze, Plagiat, S. 83—86; ferner bei Walter Bappert, Wege zum Urheberrecht. Die geschichtliche Entwicklung des Urheberrechtsgedankens, Frankfurt a.M., 1962, S. 311—317, und bei Dock (oben, Anm. 1), S. 204—212, der jedoch ausschließlich französische Werke verzeichnet.
Das juristische „Plagiat" im 16. Jahrhundert
68
b e h a n d e l t u n d w e n n ü b e r h a u p t , so n u r flüchtig berührt. E r s t i n n e u e rer Z e i t ist d i e L ü c k e durch e i n e d e n historischen S t o f f f ü r D e u t s c h l a n d z u s a m m e n f a s s e n d e u n d b e l e u c h t e n d e D i s s e r t a t i o n aus d e r Schule v o n H a n s T h i e m e geschlossen w o r d e n 8 . D i e s e D a r s t e l l u n g stellt i n i h r e n M i t t e l p u n k t d i e E n t w i c k l u n g des Schutzes g e g e n N a c h d r u c k u n d g e g e n E i n g r i f f e i n das V e r l a g s e i g e n t u m , das A u f k o m m e n u n d d i e G r u n d l a g e n der Lehre v o m g e i s t i g e n E i g e n t u m , w i d m e t d e r Geschichte des P l a g i a t s jedoch n u r k n a p p eine Seite. A u c h i n der e r w ä h n t e n A b h a n d l u n g v o n W a l t e r B a p p e r t über d i e geschichtliche E n t w i c k l u n g
des
U r h e b e r r e c h t s g e d a n k e n s w i r d das P l a g i a t n u r i n g e l e g e n t l i c h e n
Be-
m e r k u n g e n berührt. A b g e s e h e n v o n d e n e r w ä h n t e n S t u d i e n z u r G e schichte des P l a g i a t s in der griechischen u n d r ö m i s c h e n L i t e r a t u r f e h l t es aber k e i n e s w e g s a n V o r a r b e i t e n , d i e s o g a r bis i n d a s 17. J a h r h u n d e r t zurückreichen. A n erster S t e l l e ist eine 1 6 7 3 u n t e r d e m P r ä s i d i u m des L e i p z i g e r Professors
der
Moralphilosophie
und
Eloquenz
Jacob
Thomasius
( 1 6 2 2 — 1 6 8 4 ) , d e m V a t e r des C h r i s t i a n T h o m a s i u s , v e r f a ß t e D i s s e r t a t i o n De plagio
literario
z u n e n n e n 9 . I n ihr w i r d d a s „ p l a g i u m
litera-
8 Ludwig Gieseke, Die geschichtliche Entwicklung des deutschen Urheberrechts (Göttinger rechtswissenschaftliche Studien, Bd. 22), Göttingen 1957; dazu Heinz Kleine, Savigny-Zeitschrift für Rechtsgeschichte, german. Abt., 76, 1959, S. 467—470. Ein kurzer Überblick über die Geschichte des Urheber- und Verlagsrechts findet sich schon vorher bei Max Rintelen, Urheberrecht und Urhebervertragsrecht nach österreichischem, deutschem und schweizerischem Recht, Wien 1958, S. 4—22. Dagegen hat Manfred Herrmann, Der Schutz der Persönlichkeit in der Rechtslehre des 16.—18. Jahrhunderts (Beiträge zur neueren Privatrechtsgeschichte, Bd. 2), Stuttgart 1968, der Geschichte des Urheberrechtsschutzes keine Aufmerksamkeit zugewendet. Das in der vorigen Anmerkung erwähnte Werk von Bappert gibt eine interessante Darstellung der Entwicklungsgeschichte des Urheberrechtsgedankens, berücksichtigt jedoch nur das „Nachdruckerzeitalter" (18. und frühes 19. Jahrhundert). In der einschlägigen Literatur völlig übersehen ist die wertvolle Studie von Georg Müller, Vorstufen des Urheberrechts, in: Max Fleischmann, Christian Thomasius, Leben und Lebenswerk (Beiträge zur Geschichte der Universität Halle-Wittenberg, 2. Bd.), Halle a. S. 1931, S. 289—344, besonders S. 289 bis 296, 328—331. — Neuere Dissertationen zur Geschichte des Urheberrechts sind verzeichnet bei Gerhard Köhler, Bibliographie der deutschen Hochsdiulschriften zur Rechtsgeschichte (1945—1964), Göttingen 1969, S. 128 f. 9 Dissertatio philosophica de plagio literario, q u a m . . . sub praesidio M. Jacobi T h o m a s i i . . . d. 9. Augusti Anno 1673 . . . respondendo publice defendit Joh. Michael Reinelius, 3. Aufl., Suobaci [Schwabach] 1692, 283 Quartseiten, mit einem Anhang von 72 Seiten (die Universitätsbibliothek Basel besitzt zwei frühere
Das Schrifttum zur Geschichte des Plagiats
69
rium" in dem ihm von Martial beigelegten Sinne als „furtum eruditorum seu eruditis proprium" definiert. Es wird in einem theoretischen und einem historischen Teil moralphilosophisch wie juristisch in weitläufig detaillierter Weise behandelt. Beispiele aus verschiedenen Jahrhunderten werden beigebracht. Ein umfangreicher Katalog vermeintlicher Plagiate wird aufgestellt. Der dabei zugrundegelegte, weit über den Rechtsbegriff hinaus gefaßte und mehr moralisch zu verstehende Plagiatbegriff wurde später auch von anderen übernommen10. Die Plagiatkataloge wurden vermehrt und erweitert. Jedoch schon einer der nachfolgenden Autoren, Johann Albert Faber, hat darauf hingewiesen, daß noch nicht jeder „qui exscribere aliquid dicitur vel qui in singulis versibus auctores non allegai, plagiarius statim est"11. Nach Giesekes Ansicht war es „wahrscheinlich das Hauptanliegen von Jacob Thomasius, den Plagiator der poena positiva, der wissenschaftlichen Schmach und Schande, verfallen zu lassen. Doch wurde dem auch die poena privativa gegenübergestellt, die Nennung des ver-
Auflagen: die erste Leipzig 1673, die zweite Leucopetrae [Weissenfeis] 1679). Der Titel sagt zwar, daß Reinelius das Werk öffentlich verteidigen werde bzw. verteidigt habe. Sicherlich aber hatte nach damaligem Brauch Jacob Thomasius die Arbeit im wesentlichen selbst verfaßt. In der Literatur wird sie insgemein als die seinige betrachtet und genannt. Darüber Georg Müller (oben, Anm. 8), S. 294, Anm. 4; 298 f., 328 f.; dazu jetzt allgemein Gertrud Schubart-Fikentscher, Untersuchungen zur Autorschaft von Dissertationen im Zeitalter der Aufklärung (Sitzungsberichte der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, philologischhistorische Klasse, Bd. 114, H e f t 5), Berlin 1970, besonders S. 18, 42 ff., 96 ff. 10 Gieseke, a. a. O., S. 71 f. In Anm. 234 verzeichnet er noch folgende, dem letzten Viertel des 17. und dem Anfang des 18. Jahrhunderts entstammende Schriften: Theodoras Janssonus ab Almeloven, Opuscula et plagiariorum syllabus, Amsterdam 1686. — Daniel Georg Morhof, Polyhistor sive de notitia auctorum et rerum, Lübeck 1688. — Johannes Albertus Faber, Decas Decadum sive Plagiariorum et Pseudonymorum Centuria, Leipzig 1689. — De plagio litterario Dissertano I, q u a m . . . submittunt praeses M. Jo. Gonradus Schwartz et respondens C. T. Stempel, Halae Magdeburicae 1701, neue Auflage Leipzig 1706. Hinzu kommt die von C. F. Hommel (siehe weiter unten) angegebene bibliographisch sonst nicht identifizierbare Arbeit: Guilelmus Hieronymus Bruckner [1656—1736], De plagio litterario in studio iuris; und Stephanus Forcatulus [gest. 1574], Prometheus sive de raptu animorum. Dialogus festiuissimus, alienae inuentionis praedones et ineptos imitatores incessens, Paris 1578. — Ober Plagiat bei Christian Thomasius (1655— 1728) siehe Georg Müller (oben, Anm. 8), S. 329 ff., besonders auch über seine Stellung zu dem Werk seines Vaters De plagio literario. 11 A. a. O., S. 3 ν ; Gieseke, S. 72.
70
Das juristische „Plagiat" im 16. Jahrhundert
letzten wahren Autors, dem ,sua sie restituuntur'"12. Durch die häufige Behandlung des Themas sei der aufkommende Urheberrechtsgedanke gestärkt und die sich entwickelnde Lehre vom geistigen Eigentum gefördert worden. Dem Schreiber dieser Zeilen sind rechtshistorische Monographien über das Plagiat aus dem 18. und 19. Jahrhundert außer den bereits genannten nicht bekannt. Mit ausdrücklicher Berufung auf Jacob Thomasius hat der Leipziger Rechtslehrer Carl Ferdinand Hommel (1722—1781) seinem Werk Litter atura iuris, das 1779 zu Leipzig in zweiter Auflage erschien, ein Kapitel mit dem Titel eingefügt: „De furtis litterariis iureconsultorum aliisque fraudibus". Er zieht diese Bezeichnungen,
den „restauratores latinae linguae Hermolaus Barbarus und Laurentius Valla" folgend, den Ausdrücken plagium, plagiarius vor. Die Bedeutung Entlehnung aus fremden Büchern ohne Nennung ihrer Verfasser, so führt er aus, haben sie nicht im klassischen Latein, sondern erst im 16. Jahrhundert erhalten. Was Hommel in den zehn Paragraphen seines Kapitels bietet, ist ein auf Juristen beschränkter Katalog von angeblichen Plagiatoren des 16. und 17. Jahrhunderts, die nach dem von Reinelius (Thomasius) in seiner Dissertation geschaffenen Vorbild vorgeführt werden 13 . Einleitend bemerkt der Verfasser: „Nos aliquot iurisconsultorum furta improbiora, sine lance tarnen licioque, neque enim virgines adsunt, quarum pudori parcendum sit, anquiramus". Dabei hebt er besonders auch das „Verbrechen" jener Autoren hervor, die ihre eigenen Gedanken anderen zur Vermehrung des eigenen Ansehens zuschreiben : „ . . . eorum scelus, qui, quod ipsi primum exeogitarunt, petulanter aliis adscribere, et suos ingenii foetus sub nomine alieno vendere soient, quale Triboniani est, quem constat veteribus iureconsultis sua et sui temporis effata non raro affinxisse. Quis eius emblemata ignorât, tam in codice, quam in
12 A . a . O . , mit Hinweis auf Reinelius (Jacobus Thomasius), §§ 329, 3 2 8 : „Privativae parti vel hoc sufficit, si quis demonstret autorem, cui sua sublegit alter. Quo pacto simul satisfit justitiae respectu laesi, nam huic sua sic restituuntur, simul laedens punitur, cui dolet excidere sua vel spe, vel possessione". 13 Hommel, Kap. X X , S. 2 5 0 — 2 6 2 ; die Zitate des Textes stehen daselbst auf S. 252, 258 f., 260. — Literatur über Hommel ist verzeichnet bei Guido Kisch, Recht und Gerechtigkeit in der Medaillenkunst, Heidelberg 1955, S. 20, Anm. 6.
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pandectis, a d m i s s a ? . . . Non solum Tribonianismos habemus . . v e rum etiam Gratianismos et in Decretalibus Raymundi emblemata . . . . Immo patriis in legibus Repcovianismi obveniunt et Zobelianismi" (Christoph Zobel veranstaltete 1535 eine einflußreiche Ausgabe des Sachsenspiegels Eikes von Repgow.) „Quis omnes eorum [eruditorum] dolos [et fraudes] enumerare possit? Nam omnino scias, amplissimam eruditorum gentem in duas familias esse divisam, ut aut fallantur, aut fallant". Schlimmer kann man wohl über die juristischen Gelehrten nicht denken. Man wird an das Wort „Juristen böse Christen" erinnert. In Wirklichkeit steht es jedoch durchaus nicht so schlimm. Hommel übertreibt sehr und gießt seinen ganzen Spott und Sarkasmus über die juristischen Gelehrten vergangener Jahrhunderte und seiner Zeit aus. Er war, ebenso wie seine juristischen Vorgänger in früheren Zeitaltern, zu abwägender rechtshistorischer Kritik und zu den feinen Nuancierungen der modernen Wissenschaft des Urheberrechts noch nicht vorgedrungen. Als rechtsgeschichtliche Monographie kann auch die „Das Plagiat" betitelte umfangreiche Studie von Ernst Röthlisberger nicht betrachtet werden 14 . Sie enthält zwar manche historische Betrachtungen zum Thema aus der deutschen, französischen und englischen Literatur, erschöpft sich aber in der Wiedergabe und Erörterung aufsehenerregender Begebenheiten und praktischer Rechtsfälle aus neuerer Zeit, die sich in den verschiedensten Ländern auf literarischem, musikalischem und photografischem Gebiet zugetragen haben 15 . Im Gegensatz zu den Studien, die sich vorwiegend oder ausschließlich mit den Rechten des Autors und des Verlegers am Schutz der Veröffentlichung und Vervielfältigung einer geistigen Produktion befassen, wollen die folgenden Darlegungen eine kleine Vorarbeit für 14 Zeitschrift für schweizerisches Recht, LVIII, 1917, S. 131—200. Dasselbe gilt von Hölscher, Die Stellung der mittelalterlichen Rechtswissenschaft zum Plagiat, in: Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht, 35. Jg., 1930, S. 991—1008. Der Titel dieses Aufsatzes verspricht viel mehr, als der Inhalt bietet. Es handelt sich um eine weitschweifige Darstellung von Besitz und Eigentum im römischen und mittelalterlichen Recht. Von Plagiat ist mit Ausnahme des Hinweises auf zwei bei Thomas von Aquino erwähnte Fälle (S. 1005) kaum die Rede. 15 In seiner Einführung erklärt der Verfasser (S. 137), er wolle sich „hinsichtlich der Beispiele hauptsächlich an Vorgänge aus der Neuzeit und an Aktualitäten halten".
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die nodi fehlende künftige Geschichte des Plagiats leisten. An ausgewählten Beispielen aus der Zeit der Glossatoren und Kommentatoren, der Humanisten und der Humanisten-Juristen soll die damalige Auffassung eines Tatbestandes, der heute als Plagiat bezeichnet würde, sowie die Einstellung der zeitgenössischen Gelehrten zu Plagiatbeschuldigungen gezeigt werden. Mit der quellengeschichtlichen Betrachtung soll jeweils die Wiedergabe der Beurteilung des Problems durdi die moderne Wissenschaft parallel gehen.
II
Die Glossatoren und Kommentatoren B a r t o l u s de Sassoferrato (1313—1357), neben seinem Schüler Baldus de Ubaldis (1327—1400) die bedeutendste Gestalt unter den mittelalterlichen Kommentatoren des römischen Rechts, ist wegen seiner „Plagiate" am meisten umstritten. Obwohl Baldus seinem Lehrer oft große Anerkennung zollte, hat er ihm doch allgemein zum Vorwurf gemacht, was auch andere in Einzelfällen rügten, daß er die von ihm benutzten Quellen nicht so sorgfältig angibt, wie es der sehr gewissenhafte Baldus selbst tat und wie es später bei den italienischen Juristen allgemein üblich wurde 1 . Weil so die Abhängigkeit des Bartolus, dessen Werke sich schon zu seinen Lebzeiten und später jahrhundertelang hohen Ansehens und weiter Verbreitung erfreuten, von seinen Vorgängern nicht deutlich zu ersehen ist, war die Folge, daß der berühmt gewordene Verfasser als Urheber aller Lehren betrachtet wurde, über deren Ursprung bei ihm keine Auskunft zu finden war. In Baldus' Kommentar zum Codex ist zu lesen (zu C. 5. 2, Nr. 17): „Nota, quod super his brocardis dom. Bartolus fundavit totum tractatum suum in 1. ambit, de decret. ab ord. fa. [D. 50. 9. 4] et furatus fuit Petro (de Bellapertica)" 2 ; und nach wörtlicher Anführung des Bartolus schreibt er (zu C. 6. 26. 8, 1 Zu den folgenden Darlegungen über Baldus' an Bartolus gerichtete Vorwürfe mit den ersten drei Zitaten siehe Woldemar Engelmann, Die Wiedergeburt der Rechtskultur in Italien durch die wissenschaftliche Lehre, Leipzig 1938, S. 234. Von der zuerst erwähnten Stelle hat bereits Savigny den Schluß angeführt; Friedrich Carl von Savigny, Geschichte des römischen Rechts im Mittelalter, VI, 2. Ausg., Heidelberg 1850, S. 154, Anm. c; die zweite ist erst von Engelmann ermittelt worden. 2 Über die Zuschreibung der Brocarda an Petrus de Bellapertica (gest. 1308) siehe neuestens die scharfsinnige Studie von Hans Kiefner, Zur gedruckten Codexlectura des Jacques de Revigny, Tijdschrift voor Rechtsgeschiedenis, X X X I , 1963, S. 5—31, besonders S. 17 ff., 31.
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Nr. 59): „Attende tu, nam haec verba fuerunt antiqui doctoris Nicolai de Matarellis, unde: aut Bartolus, qui utitur hoc sermone, fuit fur, aut in duobus corporibus fuit una forma intellectus. Invenio tarnen in multis, quod tacuit veterum nomina et sibi applicavit ingenia, quod fiendum non est, ubi laus recte quaeritur". Uber das öftere Verschweigen der Autorschaft seines Kollegen und Freundes Franciscus de Tigrinis (gest. nach 1359) durch Bartolus berichtet Angelus de Ubaldis (gest. 1407) und nach ihm Paulus de Castro (gest. 1441) in seinem Digestenkommentar zu 46. 3. 18, Nr. 2: „ . . . Ita voluit Bartolus per hanc 1. et fuit dictum originaliter do. Francisci de Pisis, de cuius dictis Bartolus fecit sibi multum honorem et parum ipsi do. Francisco, quia numquam ipsum allegabat vel raro, ut hic inquit Angelus" 3 . Nach Hans Kiefner „hat Bartolus wohl [noch] manch keckeres Plagiat begangen als gerade hier" 4 .
3 Inhaltlich im wesentlichen gleich, jedoch mit einigen beachtenswerten Nuancen im Wortlaut wird die Stelle mit Berufung auf Angelus de Ubaldis und Paulus de Castro im Digestenkommentar des Iason von Mayno zu D. 45. 1. 132, Nr. 38 a. E. (Ausg. Venedig 1590) wiedergegeben: „Et idem Baldus, in 1. precibus in 13. columna in principio C. de impuberum et aliis substitutionibus [C. 6. 26. 8] dicit, quod Bartolus in multis tacuit veterum nomina et sibi applicavit ingenium aliorum, quod fiendum non est, ubi laus recte quaeritur; et quod Bartolus ascribit sibi opiniones Nicolai de Matarellis Mutinensis antiqui doctoris, unde aut Bartolus fuit fur, aut in duobus corporibus fuit una soma intellectus. Angelus et Paulus de Castro in 1. si quis servo ff. de solutionibus dicunt, quod Bartolus de dictis domini Francisci Tigrini de Pisis fecit sibi multum honorem, et parum ipsi domino Francisco, quia ipsum nunquam allegabat vel raro"; abgedruckt bei Guido Rossi, La „Bartoli Vita" di Tommaso Diplovataccio secondo il codice Oliveriano 203, in: Bartolo da Sassoferrato: Studi e documenti per il V I centenario, II. Bd., Milano 1962, S. 492, Nr. 26. — Erstaunlicherweise hat das Problem der literarischen „Entlehnungen" des Bartolus in diesem zweibändigen umfassenden Werk, das dem Haupt der italienischen Kommentatorenschule anläßlich des sedishundertsten Jahrestages seines Todes gewidmet wurde, keine Bearbeitung gefunden. Nach der hier wiedergegebenen Stelle aus Iasons Digestenkommentar wären alle Wesensmerkmale, welche das moderne Urheberrecht mit dem Plagiatbegriff verbindet, restlos gegeben. 4 Kiefner, a . a . O . , S. 18, Anm. 52; siehe auch E. M. Meijers, Etudes d'histoire du droit, hg. von R . Feenstra und H. F. W. D. Fischer, I I I , Leiden 1959, S. 286 f.; vgl. Feenstra, Savigny-Zeitschrift für Rechtsgeschichte, rom. Abt., 73, 1956, S. 465; dazu G. Kisch, Erasmus und die Jurisprudenz seiner Zeit, Studien zum humanistischen Rechtsdenken (Basier Studien zur Rechtswissenschaft, Bd. 56), Basel 1960, S. 233 f., Anm. 9.
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Durchaus zu Recht hat aber Engelmann für Bartolus' Ehre eine Lanze gebrochen: „Ein Vorwurf der Unehrlichkeit ist nicht gerechtfertigt". Er begründet dieses Urteil mit dem Hinweis darauf, daß bei einem so umfangreichen Werk wie dem des Bartolus „gelegentliches Wegfallen einzelner Angaben aus Zufall oder Vergeßlichkeit erklärlich ist". Ferner ist überliefert, daß Bartolus kein gutes Gedächtnis für Quellenstellen gehabt habe. Thomas Diplovatatius (1468—1541) berichtet mit Berufung auf Angelus de Ubaldis und Paulus de Castro, daß Bartolus „satis subtilis, sed non memoriosus" gewesen sei. Wenn ihn bisweilen sein Gedächtnis verließ und er die benötigten Gesetzesstellen nicht finden konnte, wendete er sich an seinen Freund Tigrinus, der ihm die gesuchten leges namhaft machte5. Dasselbe ist in Bartolus' Kurzbiographie bei Johannes Fichard (1512—1581) zu lesen®. Er verteidigt Bartolus ebenfalls, und zwar mit dem Hinweis darauf, daß es nie ein so hervorragendes und vollkommenes Genie gegeben habe, das nicht auch neidische Nebenbuhler und Hasser gehabt hätte. Diese
5 Thomae Diplovatacii Liber de claris iurisconsultis, pars posterior (Studia Gratiana, X), Bononiae 1968, S. 280, Zeile 15—21: „...Bartolus legit Pisis, sed continuavit quasi semper in Perusio et ibi domicilium habebat, quo tempore ibi legebat Franciscus Tigrini de Pisis, et erant amici ut fratres. Fuit enim Bartolus satis subtilis, sed non memoriosus in tantum, quod, quando aliquid cogitabat et non reperiebat leges ad propositum, ibat ad dictum dominum Franciscum et ille dicebat sibi leges". An anderer Stelle (daselbst S. 284, Z. 4) berichtet Diplovatatius: „Fuitque vir recolende memorie secundum Angelum in Consilio 160, [quod] incipit: ,Pro decisione' in fine" ; ebenso bei Rossi, a. a. O., S. 477, der auf S. 499, Nr. 50, die Stelle aus Angelus' de Ubaldis Consilia wiedergibt. ' Joannes Fichardus, Vitae recentiorum iureconsultorum, Patavii 1565, S. 8 [er folgt dem Bericht des Diplovatatius, knüpft an ihn jedoch folgende eigene Betrachtung an] : „Reprehenditur autem Bartholus alias quoque hoc de vitio, quod similiter veterum quoque nomina tacuerit et illorum inventa sibi sumpserit, praecipue autem Nicolai de Matarellis Mutinensis antiqui Doctoris, cuius permultas opiniones sibi ascripserit. Sed ita profecto res habet, quod nullum tam excellens perfectumque ingenium fuit unquam, quin suos habuerit aemulos et osores, et eo quidem plures infestioresque quo ipsum est caeteris praestantius. Equidem nec ingenium, nec memoriam Bartolo defuisse, facile iudicare potest, qui consideret et Hebraicas ipsum literas et Mathemata (quorum usum ad ius quoque civile in Commentariis suis induxit) perdidicisse et plurium disciplinarum quam iuris civilis peritiam habuisse." Dagegen bemerkt Marcus Mantua Benavides (1489—1582) in seinem kleinen Büchlein Epitoma virorum illustrium, qui vel scripserunt, vel iurisprudentiam docuerunt in sdiolis..., Patavii 1555, S. 15 a, ganz trocken: „Bartolus . . . omnia habuit a Francisco Tigrini, quem nunquam citat tarnen."
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Erklärungen erscheinen an sich schon plausibel 7 , selbst wenn man die allgemeine Einstellung der mittelalterlichen Gelehrten zu den Werken ihrer Vorgänger und deren Benutzung bei mangelnder Angabe ihrer Quellen nicht in Rechnung zu stellen brauchte. Sehr zutreffend bemerkt auch Kiefner, der noch eine andere Wirkung von Bartolus ins Auge faßt: „So sehr man bei Bartolus offenbar immer zusehen muß, ob er nicht Fremdes als Eigenes ausgibt, . . . so wenig darf übersehen werden, daß eben doch er es war, der nachfolgenden Generationen vermittelt hat, was sonst ohne Wirkung geblieben wäre; seine überragende Bedeutung für die Dogmengeschichte behält er deshalb trotz mancher fragwürdigen Züge". Schon die Glossatoren haben sich gar nicht selten auf die Werke älterer Autoren gestützt, diese bisweilen stellenweise bedenkenlos wörtlich ausgeschrieben, ohne es für notwendig zu finden, ihre Vorlagen namhaft zu machen. Während die ähnliche Gepflogenheit des Bartolus, der im Schrifttum bisher keine eingehende Betrachtung gewidmet wurde, hier ausführlicher zu behandeln war, genügen bloß kurze Hinweise auf die Entlehnungspraxis der Glossatoren auf Grund der Beobachtungen früherer Autoren in der einschlägigen Spezialliteratur 8 . Schon bei Irnerius (1055?—1130?), dem Gründer der Rechtsschule von Bologna, „dessen Ruhm seinen Namen vor allen anderen seines Fachs auszeichnet" (Savigny), sind Entlehnungen aus früheren und gleichzeitigen Glossatorenschriften wahrscheinlich. Sie im einzelnen nachzuweisen, hat Pescatore, der das Verhältnis seiner Glossen zu den Arbeiten seiner Vorgänger und Zeitgenossen untersucht hat 9 , für unmöglich erklärt. Dies wird durch Kantorowicz' Hinweis auf die Tatsache bekräftigt, daß nur einzelne seiner Glossen publiziert sind, während die weitaus größte, nach Tausenden zählende Mehrheit noch 7 Vgl. etwa noch Fulvio Crosara, Spunti Bartoliani, in: Annali della Facultà di Giurisprudenza dell' Università di Camerino, X I X , 1952, S. 73. 8 Ein für allemal sei verwiesen auf die beiden grundlegenden Werke: Savigny, Geschichte des römischen Rechts im Mittelalter, IV—VI, 2. Ausg., Heidelberg 1850—1851; Hermann Kantorowicz, Studies in the Glossators of the Roman Law, Cambridge 1938, auch zum folgenden, namentlich S. 33 über Irnerius. ' Gustav Pescatore, Die Glossen des Irnerius, Greifswald 1888, S. 1 6 — 3 4 ; S. 20, Anm. 1 von S. 19: „Ob der Plagiator nebenbei audi noch einen Kanonisten ausgeplündert hat, scheint mir ziemlich gleichgültig"; siehe auch S. 25.
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immer in Manuskripten verborgen ist. U b e r h a u p t ist es ein ungemein schwieriges und kompliziertes Problem, die Prioritäts- und Originalitätsfrage zu beantworten. Jedoch h a t Pescatore „von dem bei Irnerius nachweisbaren Bestände rechtswissenschaftlicher Kenntnisse" m a n cherlei als „von Vorgängern oder auch von Zeitgenossen übernommen" betrachtet. Wenn er von dem Verfasser des Florentiner Rechtsbuchs als „ausplünderndem Plagiator" spricht, so gibt sich seine Beurteilung solcher Entlehnungen deutlich kund. Er hat diese Bezeichnung auf Irnerius allerdings nicht ausdrücklich angewendet, obwohl er ihm ausnahmslose Originalität nicht zubilligt. Anders, gerechter und f ü r die zeitgenössische Auffassung verständnisvoller hat Erich Genzmer über die „Plagiate" eines A z o (gest. u m 1230) geurteilt 10 . Er soll hier selbst zu Worte kommen. „Sehr ausgiebig hat Azo seine Vorgänger benutzt, ohne dies durch Zitierung kenntlich zu machen, wie eine Vergleichung seines Apparats mit der Beckhausschen Ausgabe des Bulgarus und mit den Literaturzitaten bei Accursius ergibt. Aber kompilatorisches Zusammentragen genügt nicht, um den Kompilator zum Plagiator zu stempeln. Aus dem apparatus maior zu D . 50. 17 des Azo läßt sich sogar eine (freilich durch Induktion auf breiterer Grundlage nodi zu erhärtende) gewohnheitsmäßige Regel abziehen 11 , nach der er Zitierung f ü r erforderlich oder überflüssig hält. Er zitiert, wenn eine Kontroverse, ein Bedürfnis nach Ergänzung, die Möglichkeit verschiedener Lösungen, eine originelle Zusammenstellung, die neue Erkenntnis eines Problems sich an die zitierte Ansicht k n ü p f t . Dagegen übernimmt er stillschweigend Meinungen und Formulierungen, an denen niemand, auch er selber nicht, etwas auszusetzen hat. Das ist nach den Anschauungen der Zeit kein unehrliches Abschreiben; es w a r durchaus erlaubt, die vermehrte und verbesserte Neuauflage eines jedem Kundigen bekannten Werkes unter dem N a m e n des Bearbeiters in die Welt gehen zu lassen, zumal 10 Erich Genzmer, Die iustinianische Kodifikation und die Glossatoren, in: Atti del Congresso Internazionale di Diritto Romano, Bologna 1933, Vol. I, Pavia 1934, S. 395 f. 11 Vgl. etwa Genzmer, a. a. O., S. 395, Anm. 221 : „Unbeschadet freilich der Haltung des Azo gegenüber Placentinus. Dieser wird gehässig verschwiegen, w o er den Bulgarus modifiziert und Azo die Modifikation für zutreffend hält. Azo verheimlicht es dann, daß der Außenseiter an dem Urheber der orthodoxen Richtung etwas zu verbessern gefunden hat". — Das folgende Zitat steht bei Genzmer, S. 410.
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wenn der Bearbeiter der Schüler des ursprünglichen Verfassers ist". Genzmer hat den wahrscheinlich kurz vor 1191 verfaßten azonischen Apparat hinsichtlich der Benutzung und Zitierung anderer Glossatoren genau studiert. Er hat dabei auf Schulfeindschaften hingewiesen, welche Zitierungen mit vollem Namen veranlaßten, „um dem Gegner einen Hieb zu versetzen". Aber bezüglich des Azo kommt er doch zu folgendem Ergebnis: „Einen Plagiator darf man Azo nicht nennen. Wie hätte er ein jedem sachkundigen Zeitgenossen genau bekanntes Werk plagiieren können. Vielmehr ist der durch viele andere Umstände bestätigte Schluß geboten, daß — entsprechend einem Treueverhältnis zwischen dominus und socius — der Schüler in seinen Lehren und Werken die wissenschaftliche Persönlichkeit seines dominus fortsetzte, der wissenschaftliche successor in locum defuncti war, und daß jeder Leser es für selbstverständlich hielt, in einem neuen Lehrbuch aus der Johannesschule weithin die Ansichten und Formulierungen des Johannes [Bassianus] zu finden". Ähnliche Beobachtungen kann man bei anderen Glossatoren und Kommentatoren machen. Aus der großen Zahl sollen drei bedeutende Beispiele herausgegriffen werden. In seinen ausgezeichneten Studien über die Glossatoren des römischen Rechts hat Kantorowicz gegen Hermann Fittings Annahme eines Plagiats an Irnerius 12 überzeugend nachgewiesen, daß Rogerius (Mitte des 12. Jahrh.) der Autor der historisch wichtigen Summa Trecensis ist, deren erste Bearbeitung eine Kompilation aus Schriften der frühesten Bologneser Glossatoren war, und daß die zweite Redaktion als wesentlich verbesserte Version Rogerius' eigenes Werk darstellt 13 . An seinen tiefgründig eingehenden Beweis der Autorschaft des Rogerius knüpft Kantorowicz folgende allgemeine Bemerkung: „Rogerius' Verdienst als Verfasser der ,prima summa, quae umquam fuit facta' (Odofredus) scheint in moralischer Hinsicht dadurch beeinträchtigt zu sein, daß er nie andere Juristen erwähnt, nicht einmal, wenn er sie wörtlich und ausführlich zitiert. In solchen Fällen pflegt man vom Plagiat zu sprechen. Aber dieser Ausdruck wird von Histo-
12 Hermann Fitting, Summa Codicis des Irnerius, Berlin 1894; dazu jetzt Kantorowicz, a. a. O., S. 145—180. 13 Kantorowicz, a. a. O., besonders S. 152 f f 1 7 0 f.
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rikern auf dem Gebiet der mittelalterlichen Literatur zu wahllos und unterschiedslos verwendet. Von Plagiierung im Sinne eines moralisch zu beanstandenden Verhaltens sollte man nur sprechen, wenn ein Verfasser in Täuschungsabsicht sich das Werk eines anderen zueignet. . . . Rogerius muß gegen den Vorwurf der Begehung eines Plagiats verteidigt werden, obwohl die erste Redaktion seiner Summa als Kompilation zu betrachten ist, ähnlich zahlreichen mittelalterlichen Werken" 1 4 . „The Middle Ages aimed not at originality but at style and therefore expected everybody to copy everybody". Obwohl diese Formulierung Kantorowicz' etwas überspitzt scheint, ist ein Körnlein Wahrheit darin doch enthalten. So hören wir, daß Iason von Mayno (gest. 1519) es liebte, sich die Arbeiten seiner Vorgänger und Zeitgenossen nutzbar zu machen, indem er sie seinen eigenen Werken einverleibte. In der Vorrede zu seinem Kommentar zum ersten Teil des Digestum vetus hat er den ersten Abschnitt von Sallusts Geschichte der Verschwörung Catilinas paraphrasiert. Mit dieser Paraphrase hatte er seine Eröffnungsvorlesung in Padua 1487 eingeleitet, ohne seine Quelle namhaft zu machen, was dann auch im Druck nicht geschah 15 . J a , er soll sogar Scholaren bezahlt haben, die in den Vorlesungen ausgezeichneter Rechtslehrer deren Darlegungen für ihn nachschreiben mußten 1 6 , ein Vorgang, der — wenn die Überlieferung auf Wahrheit beruht — freilich selbst über die nach den Anschauungen des Mittelalters zu rechtfertigenden literarischen Gepflogenheiten hinausgeht. Schließlich sei noch des letzten Glossators und seines opus magnum, der Magna Glossa des Accursius (um 1 1 8 1 / 1 1 8 5 — 1 2 5 9 / 1 2 6 3 ) gedacht. Sie stellt nach Engelmann, dem die Rechtsgeschichte eine ausgezeichnete Analyse und der modernen Wissenschaft gemäße Würdigung des accursischen Glossenwerkes verdankt, die „endgültige Zusammenfassung der allseitigen Quellenbearbeitung der Glossatoren einerseits für den Gebrauch der römischen Quellen in Lehre und 1 4 Die Übersetzung aus dem Englischen stammt von mir. Vgl. noch Kantorowicz, Grundbegriffe der Literaturgeschichte, in: Logos, X V I I , 1929, S. 113 f. 15 Myron P. Gilmore, Humanists and Jurists, Six Studies in the Renaissance, Cambridge, Mass. 1963, S. 72. 18 Guido Panzirolus, De claris legum interpretibus libri quatuor, Leipzig 1721, S. 2 2 9 ; Savigny, VI, S. 408.
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Praxis, anderseits die dauernde Rechtserkenntnisquelle für die Zeit der Glossatoren dar" 1 7 . Bei seinem — im besten Sinne des Wortes — schöpferisch kompilatorischen Werk mußte sich Accursius der Sache entsprechend getreu an seine Vorgänger halten, da er ein solches Riesenwerk, wie die Glosse es darstellt, unmöglich aus Eigenem, sondern nur mit Benutzung früherer Autoren schaffen konnte 18 . „Dafür, daß er im allgemeinen die Absicht hegte, jedem von ihm Exzerpierten das Seinige zu lassen, spricht, daß er durchweg zu den Glossen die Siglen ihres Autors hinzugesetzt haben soll; diese Siglen sind freilich in den Handschriften und noch mehr in den Drucken nach und nach größtenteils verlorengegangen; trotz dieses Umstandes aber sind die Zitate anderer Glossatoren in der accursischen Glosse nodi außerordentlich häufig. Findet sich, wie auch oft der Fall, unter einzelnen Glossen die Sigle oder selbst der volle Name des Accursius, so beweist dies gar nicht die Absicht des Accursius, die betreffende Glosse für sich als Autor in Anspruch zu nehmen; vielmehr war es Gebrauch bei den Glossatoren, daß der letzte, welcher eine schon vorhandene Glosse neu bearbeitete oder auch nur für sich benutzte, sei es mit, sei es ohne Konservierung der Sigle des eigentlichen Autors, seine Sigle daruntersetzte. Daß Accursius bisweilen so gehandelt hat, kann ihm demnach nicht zum Vorwurf gemacht werden". Hinsichtlich der Treue des Accursius gegenüber den von ihm benutzten Autoren und hinsichtlich der Zuverlässigkeit der Wiedergabe ihrer Meinungen „sind gegen ihn im großen und ganzen eigentlich nie besondere Vorwürfe erhoben worden und scheint er solche auch wirklich nicht zu verdienen. Wenn er auch oft die Form dessen, was er aufnahm, geändert haben mag, etwa um es einer größeren Glosse einzufügen, so hat er 1 7 So Woldemar Engelmann, Die Wiedergeburt der Rechtskultur in Italien durch die wissenschaftliche Lehre, S. 176. Mit den hier interessierenden Fragen hat sich Engelmann in seiner mehr als fünfzig Seiten umfassenden Darstellung (S. 175 bis 227) mit Bezug auf Accursius und seine Glosse nicht näher befaßt. Zu Accursius siehe noch Guido Kisch, Gestalten und Probleme aus Humanismus und Jurisprudenz, Berlin 1969, S. 3 6 — 7 4 . 1 8 Siehe auch zum folgenden Ernst Landsberg, Die Glosse des Accursius und ihre Lehre vom Eigentum, Leipzig 1883, S. 53 f., der allein — soweit ich sehen kann — sich mit dem Verhältnis der Glosse zu ihren Quellen beschäftigt und die Frage erörtert hat, wie getreu Accursius den Wissensschatz seiner Autoren der Nachwelt überliefert hat. — Die wörtlichen Zitate aus Landsberg sind durch Anführungszeichen kenntlich gemacht.
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dodi inhaltlich, soweit sich dies nach den uns sonst aus jener Zeit erhaltenen Werken konstatieren läßt, sich sehr genau an seine Vorlagen gehalten. Sei es nun, daß uns die Ansicht eines Glossators in einer bestimmten Frage aus dessen eigenen Schriften, sei es, daß sie uns aus den Distinktionen, Quästionen- und Kontroversen-Sammlungen bekannt ist: stets läßt sich konstatieren, daß die Nachrichten dieser Quellen mit den von der Glosse gegebenen Notizen völlig übereinstimmen." „So würde die Sammlung des Accursius das Lob vollständiger Genauigkeit und Zuverlässigkeit verdienen, wenn nicht doch bisweilen ein gewisses tendenziöses Verfahren zum Durchbruch käme. Er scheint nämlich von Autoren, welche ihm ihrer persönlichen und wissenschaftlichen Stellung nach nicht ganz genehm waren, verhältnismäßig weniger Stellen und dann audi nodi wohl besonders gern solche aufgenommen zu haben, in welchen diese Autoren sich nicht eben von ihrer besten Seite zeigen. Daß er geradezu dazu übergegangen wäre, jenen Dinge unterzuschieben, welche von ihnen nicht herstammten, läßt sich nicht behaupten, vielmehr muß in dieser Beziehung daran festgehalten werden, daß er zuverlässig ist; aber einzelne leichte Nuanceänderungen zu Ungunsten zum Beispiel des Placentinus müssen ihm allerdings zur Schuld gelegt werden. Dieses Verfahren, so selten und ausnahmsweise er es eingeschlagen hat, verdient freilich, besonders bei einem Sammler, schweren Vorwurf; bedenkt man aber, wie wenig ausgebildet damals noch das Gefühl literarischer Ehrlichkeit war, und nimmt man hinzu, daß in der Regel Accursius sich doch so unparteiisch zeigt, daß er bisweilen sogar den Ansichten eben jener Glossatoren beistimmt, gegen welche er sonst wohl eine gewisse Antipathie an den Tag legt, so darf man geneigt sein, ihn schließlich trotzdem zu entschuldigen." Man wird auch heute noch nach nahezu neunzig Jahren an dieser scharfsinnigen und gerechten Kritik Landsbergs festhalten dürfen. „Der methodische Weg der Glossierung ist bei Accursius bis zum letzten Ende gegangen" (Genzmer). Uber die Methode der italienischen Juristen hat sich Engelmann, der sich neben Kantorowicz am eindringlichsten mit den Glossatoren und Kommentatoren befaßt hat, sehr zutreffend so geäußert: „Die oft wiederholte Behauptung, daß die italienischen Juristen ,einander
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abzuschreiben pflegten', ist so allgemein überhaupt unzutreffend, seit der Mitte des 14. Jahrhunderts aber durchaus unrichtig. Richtig ist, daß sie das, was andere gesagt haben, in deren Wortlaut wiedergeben und regelmäßig den Namen anführen und daß sie sich nicht bemühen, was klar gesagt ist, durchaus mit neuen Worten auszudrücken" 19 . " Engelmann, S. 207, Anm. 2.
III Die Humanisten D as Verständnis für Bedeutung, Wert und Wirkung des geistigen Eigentums in moralischer und rechtlicher Beziehung hat sich im Lauf des 16. Jahrhunderts erheblich verstärkt. Freilich ist die klare Herausarbeitung der grundlegend maßgebenden Gedanken mit juristischer Schärfe, um die sich erst das moderne Urheberrecht mit größerem oder geringerem Erfolg bemüht, noch nicht gelungen. Daher begegnet man in der Rechtsliteratur jener Zeit gar nicht selten berechtigten, ebenso aber auch unberechtigten Plagiatbeschuldigungen von namhaften juristischen Autoren und gegen sie. Volles Verständnis und scharfe Verurteilung der Entwendung geistigen Eigentums hat Erasmus, der zwar kein Jurist war, jedoch die moralischen wie juristischen Aspekte des Plagiatproblems mit tiefer Einsicht frühzeitig erfaßte, in verschiedenen Adagien seiner berühmten Sprichwortsammlung und -erläuterung zum Ausdruck gebracht1. Er wendet sich nachdrücklich gegen Plagiarismus im echten Sinne des Wortes. Seine scharfe Kritik ist oft mit einer Prise Sarkasmus gesalzen. So schreibt er in dem Adagium Viro esurienti necesse furari: Das Sprichwort passe auch auf jemand, der aus Ruhmsucht oder Ehrgeiz fremdes geistiges Eigentum als sein eigenes veröffentlicht, da er selbst aus Eigenem nichts Bedeutendes zu produzieren vermag2. An anderer Stelle (zum Adagium Choenici ne insideas) berichtet Erasmus, daß im Jahre 1517 Ludovicus Coelius Rhodiginus (1450—1525) ein opus antiquarum lectionum herausgegeben habe, 1 Eine gute Zusammenstellung der betreffenden Adagien findet sidi bei Theodore Charles Appelt, Studies in the Contents and Sources of Erasmus' Adagia, phil. Diss. Chicago 1942, S. 56 f. — Die folgenden Zitate beziehen sich auf die Basier Ausgabe der Adagia von letzter Hand, bei Frobenius, Basel 1536, erschienen. * Adagia, S. 753, N r . L X V : „ . . . Aut si quis avidus gloriae, aliena pro suis aedat, cum ipse de suo nihil possit egregium aedere".
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ü b e r das er i m A u g e n b l i c k m i t s e i n e m U r t e i l
zwar
zurückhalten
m ö c h t e . J e d o c h w e i s t er d a r a u f hin, d a ß d e r V e r f a s s e r w e d e r
des
G e o r g i u s V a l l a , n o c h des V o l a t e r a n u s , n o c h des E r a s m u s selbst E r w ä h n u n g g e t a n h a b e , o b w o h l R h o d i g i n u s aus d e n W e r k e n dieser drei A u t o r e n g a n z e A b s c h n i t t e e n t l e h n t habe. E r a s m u s schließt s e i n e l ä n geren A u s f ü h r u n g e n m i t d e m H i n w e i s d a r a u f , d a ß R h o d i g i n u s nach seinen I n f o r m a t i o n e n e i n M a n n v o n christlicher I n t e g r i t ä t g e w e s e n sei, d e r bis ins h o h e A l t e r u n d bis a n sein L e b e n s e n d e u n e r m ü d l i c h der W i s s e n s c h a f t g e d i e n t h a b e . D e s h a l b w i l l er i h m d i e leichte V e r f e h l u n g vergeben. D e n n : „Plus enim apud m e valet publica studiorum utilitas q u a m m e i n o m i n i s r a t i o " 3 . Schließlich w e n d e t er sich in d e m S e i t e n f ü l l e n d e n A d a g i u m Festina
lente
viele
ausführlich gegen Drucker,
d i e d e n h o c h a n g e s e h e n e n N a m e n des A l d u s m i ß b r a u c h e n , u m V e r k a u f ihrer P i r a t e n e d i t i o n e n v o n W e r k e n des A r i s t o t e l e s ,
den
Cicero
u n d Q u i n t i l i a n , d i e bei j e n e m erschienen w a r e n , z u f ö r d e r n . I n d i e s e m Zusammenhang fordert Erasmus Gesetze z u m Schutz
rechtmäßiger
B ü c h e r v e r ö f f e n t l i c h u n g , i n d e m er s o w o h l S c h u t z des A u t o r s w i e a u d i des V e r l e g e r s g e g e n s k r u p e l l o s e , g e w i n n s ü c h t i g e A u s p l ü n d e r u n g v e r l a n g t 4 . „ W e r i n E n g l a n d g e f ä r b t e s T u c h f ü r solches v e r k a u f t , d a s in
® Adagia, S. 16 (ohne Nr.). 4 Adagia, S. 358—360: „Ex legum autoritate datur redibitio, si quis pannum ut cocco tinctum vendiderit, si deprehendatur in tinctura nihil additum cocci; quin muleta afficitur, quisquís in huiusmodi mereibus fueum fecit. Et lucro suo vel furto potius fruitur, qui eadem opera tot hominum milibus imponit? Olim et in describendis libris adhibebatur religio non minor quam nunc adhibetur in notariis publicis ac iuratis, certe maior debebatur, nec aliunde tam prodigiosa librorum confusio profecta est, quam quod obscuris quibuslibet et monadiis imperitis, mox etiam mulierculis citra delectum rei tam sacrae tractatio committebatur. At quantulum est mali, quod adfert scriba negligens aut indoctus, si conféras typographum? Et hie oscitant leges publicae. Punitur, qui vendit pannum apud Britanno: tinctum pro panno tineto apud Venetos, et audacia sua fruitur, qui meras cruces et ingenii tormina vendit pro bonis autoribus. Dices, non est venditoris emptori praestare quodvis vitium. Certe hic debebat esse, si titulus promittit exactam diligentiam et liber scatet mendis. Et sunt errata, quae nec ab eruditis statim deprehenduntur. Iam typographorum innumerabilis turba confundit omnia, praesertim apud Germanos. . . . Dicet hic aliquis: heus divinator, quid haec ad typographos? Quia nonnullam mali partem invehit horum impunita licentia. Implent mundum libellis, non iam dicam nugalibus, quales ego forsitan scribo, sed ineptis, indoctis, maledicis, famosis, rabiosis, impiis ac seditiosis, et horum turba facit, ut frugiferis etiam libellis suus pereat fructus. Provolant quidam absque titulis, aut titulis, quod est sceleratius, fictis. Deprehensi respondent: ,Detur unde alam familiam, desinam taies
Die Humanisten Venedig
gefärbt
wurde,
verfällt
G a l g e n s c h e l m e als g u t e A u t o r e n
der
85
Bestrafung;
verkauft,
aber
wer
k a n n r u h i g die
bloß
Früchte
seiner U n v e r s c h ä m t h e i t g e n i e ß e n " . A u f diese Ä u ß e r u n g e n des E r a s mus, einen f r ü h e n u n d drastischen H i n w e i s a u f die
Notwendigkeit
gesetzlichen U r h e b e r - u n d V e r l a g s s c h u t z e s , ist meines W i s s e n s bisher in k e i n e m m o d e r n e n W e r k ü b e r U r h e b e r - u n d V e r l a g s r e c h t a u f m e r k sam
gemacht worden,
obwohl
Erasmus'
Kampf
gegen
unbefugten
N a c h d r u c k bisweilen e r w ä h n t w i r d 5 . M i t seinen B e m ü h u n g e n in dieser R i c h t u n g 6 h ä n g t vielleicht d a s erste a l l g e m e i n e V e r b o t des N a c h d r u c k s f ü r einen b e s t i m m t e n
ört-
lichen U m k r e i s u n d a u f b e s t i m m t e Z e i t , d a s die V e r f ü g u n g des B a s l e r
libellos excudere*. Aliquanto meliore fronte respondeat fur, impostor aut leño: ,Da qui vivam et desinam his artibus uti'; nisi forte levius crimen est, clam minuere rem alienam, quam palam eripere famam alienam, aut sine vi ad quaestum abuti tuo alienove corpore, quam vitam alterius ac famam vita quoque diariorem impetere. Sed querelae iam dudum satis. Indicandum est remedium. Mitigabitur hoc malum, si principibus ac magistratibus curae fuerit, ut quantum fieri potest, excludantur ociosi, quos potissimum bella mercenaria nobis progignunt; deinde si improbis, quos nec ratio nec pudor cohibet, leges ostendant fustem paratum, ni se verterint ad meliora; deinde conantibus ea, quae faciunt ad publicam utilitatem, si viribus destituantur, succurrant praemia, vel a principibus, vel ab episcopis et abbatibus, vel ex aerario publico." 5 So weist Gieseke (Kap. I, Anm. 8), S. 38, und ihm folgend Bappert (Kap. I, Anm. 7), S. 209 f., auf einen Brief des Erasmus vom 27. Januar 1522 an Wilibald Pirckheimer hin (Leidener Ausgabe von Erasmus, Opera omnia, III, 1, Nr. 616, S. 707), in dem die besondere Schutzwürdigkeit von Erstdrucken betont wird. Er ist jetzt gedruckt bei P. S. Allen, Opus epistolarum Des. Erasmi Roterodami, V, Oxford 1924, S. 201 f., Nr. 1341, unter dem Datum 28. Januar 1522/23: „Nemo nescit quantum bonae litterae debeant Frobenio, qui solus omnium suo damno nostris studet compendiis; sed ut sunt κεραμείς, plerique insidiantur homini, propemodum coniurati ut illum perdant. Ubi quid novi operis prodit, quod putent fore vendibile, mox unus atque alter suffuratus ex ipsius officina exemplar, excudit ac venditat minimo. Iterim Frobenius immensam pecuniam impendit in castigatores, frequenter et in exemplaria. Huic iniquitati facile succurretur, si fiat Imperatorium interdictum, ne quis librum primum a Frobenio excusum, aut cui sit aliquid ab autore additum, excudat intra biennium. Tempus longum non est, et officina Frobeniana vel ob hoc favore digna est, quod nihil ex ea prodit ineptum aut seditiosum." Frobenius erhielt in der Tat am 14. Februar 1523 ein solches Schutzprivileg für alle von ihm gedruckten Bücher für die Dauer von zwei Jahren nach der Publikation; darüber Allen, S. 202, Anm. 10. • Vgl. audi den Bericht des Erzbischofs John Carondelet in einem Brief an Erasmus vom 8. März 1534 über ein allgemeines kaiserliches Nachdrucksverbot bei Allen, Opus epistolarum, X , Oxford 1941, Nr. 2912, S. 364.
86
Das juristische „Plagiat" im 16. Jahrhundert
Rates vom 28. Oktober 1531 statuierte, mittelbar zusammen7. Unmittelbar veranlaßt war es durch einen Streit des Basler Bearbeiters und späteren Druckers Valentin Curio mit dem bekannten Druckerherrn Andreas Cratander wegen eines ursprünglich bei Aldus in Venedig publizierten griechischen Lexikons8. Um die juristischen „Plagiate" richtig beurteilen zu können, seien zunächst einige nichtjuristisdie erwähnt. Der Hinweis gilt vor allem zwei Kommentaren zur Nikomachischen Ethik des Aristoteles: dem offenbar wenig verbreiteten des Petrus Tateretus (Tartaretus), eines bedeutenden Skotisten, Lehrers und 1490 Rektors an der Universität Paris, der zwischen 1480 und 1490 literarisch tätig war, mit dem Titel Quaestiones magistri Petri Tatereti super sex libros Ethicorum Aristotelis (Paris 1496); ferner dem ebenfalls in Paris 1518 erschienenen Kommentar des Joannes Buridanus (vor 1300 bis nach 1358), des Führers der Pariser Nominalisten, mit dem fast gleichen Titel Quaestiones super decern libros ethicorum Aristotelis ad Nicomachum. Tartaretus hat, was ich an seinen Ausführungen über Epieikeia gezeigt habe, sämtliche Gedanken und Darlegungen teils paraphrasierend, zumeist jedoch wortgetreu aus Buridanus übernommen, ohne seiner Quelle Erwähnung zu tun9. Schon Johannes Turmair (Aventinus, 1477—1534) hat das 1518 erschienene Werk des Franciscus Irenicus Germaniae exegeseos Volumina duodecim mit der Beschuldigung verworfen, der Verfasser habe sich die Arbeiten des Trithemius und Stabius angeeignet: „Legi quendam, qui Ioannis Stabil ac Ioannis Tritemii antistitis Spanhamensis libros impudentissime compilavit". Dazu bemerkt ein moderner Gelehrter: „Das wird nur in dem Sinne richtig sein, daß Irenicus hier
7 Über die Verfügung und ihren Wortlaut siehe Eugen Huber, System und Geschichte des schweizerischen Privatrechts, IV, Basel 1893, S. 298, Anm. 3 1 ; Georg Müller (Kap. I, Anm. 8), S. 2 9 2 ; Bappert, a. a. O., S. 220 f. 8 Über diesen Streit ausführlich Friedrich Luchsinger, Der Basler Buchdruck als Vermittler italienischen Geistes, 1 4 7 0 — 1 5 2 9 (Basler Beiträge zur Geschichtswissenschaft, Bd. 45), Basel 1953, S. 63 ff.; vgl. Bappert, a. a. O., S. 220 f. — Über Nachdruck in Basel im Bereich der juristischen Buchproduktion Hans-Rudolf Hagemann, Rechtswissenschaft und Basler Buchdruck an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit, Savigny-Zeitschrift für Rechtsgeschichte, germ. Abt., 77, 1960, S. 275 f. 9 Siehe den eingehenden Nachweis bei G. Kisch, Erasmus und die Jurisprudenz seiner Zeit, S. 289 ff., 466 f., 4 8 2 ff., 491 ff.
Die Humanisten
87
wie anderswo zusammenraffte, was er fand, Trithemius
wenigstens
h a t e r o f t genug z i t i e r t " 1 0 . U b e r die „schamloseste A u s p l ü n d e r u n g " Oratio
continens
historiam
R e u c h l i n ) aus d e m J a h r e
Ioannis 1552
Capnionis
der R e d e
Melanchthons
Phorcensis
(Johannes
d u r c h einen u n g e n a n n t e n
Verfasser
berichtet a u s f ü h r l i c h L u d w i g G e i g e r in e i n e m kleinen Schriftchen u n d w e i s t i h m zugleich „ m a n g e l h a f t e s V e r s t ä n d n i s in d e r B e n u t z u n g seiner Q u e l l e " nach, die j e n e r nicht e i n m a l z u n e n n e n f ü r n ö t i g h i e l t 1 1 . A u f Geigers A u s f ü h r u n g e n k a n n h i e r v e r w i e s e n w e r d e n 1 2 . D o c h g e n u g d e r nichtjuristischen Beispiele. V o r B e s p r e c h u n g j u r i stischer „ P l a g i a t e " beziehungsweise P l a g i a t v o r w ü r f e sei das
Augen-
m e r k noch a u f die s e l t s a m e E r s c h e i n u n g des S e l b s t p l a g i a t s
gelenkt.
V o n e i n e m solchen s o n d e r b a r e n F a l l v o n S e l b s t p l a g i i e r u n g des f r a n zösischen H u m a n i s t e n L u d o v i c u s R e g i u s ( L o u i s L e R o y ,
1510—1577),
d e r sich z u seiner Z e i t als G e l e h r t e r u n d U b e r s e t z e r , als J u r i s t u n d Geschichtsphilosoph,
als B i o g r a p h
von
Gulielmus
Budaeus
großer
B e r ü h m t h e i t e r f r e u t e , b e r i c h t e t in seiner neuesten L e b e n s b e s c h r e i b u n g 10 Paul Joachimsen, Geschichtsauffassung und Geschichtschreibung in Deutschland unter dem Einfluß des Humanismus, Leipzig und Berlin 1910, S. 182; von dort, S. 282, Anm. 114, stammt das Zitat aus Aventins Germania illustrata von 1531; vgl. dazu Gerald Strauss, Historian in an Age of Crisis: The Life and Work of Johannes Aventinus 1477—1534, Cambridge, Mass. 1963, S. 131, 82, 84. — In ähnlicher Weise bezichtigte der Dichter-Philosoph Giordano Bruno (1548—1600) Paracelsus des Plagiats an Ramón Lull; darüber Peter Amelung, Das Bild des Deutschen in der Literatur der italienischen Renaissance (1400—1559) (Münchner romanistische Arbeiten, Heft 20), München 1964, S. 145, Anm. 10. 11 Ludwig Geiger, Über Melanthons Oratio continens historiam Capnionis, eine Quellenuntersuchung, Frankfurt a. M. 1868, S. 76 ff. 1 2 Die Möglichkeit eines „Plagiats" an Melanchthon durch Gregor Haloander (1501—1531) hinsichtlich des griechischen Textes der Apostolischen Kanones zieht W. Beneszewicz nebst einer „audacia in textu constituendo nimia" in Erwägung, schließt jedoch seine Ausführungen wie folgt: „Melanchthon mußte sich allmählich daran gewöhnen, daß man über seine literarische Produktion ziemlich ungeniert verfügte: Zuhörer, Verleger und Freunde waren gleich eifrig bei dieser Arbeit. Haloander hat nur ein winziges Stückchen vom reichen Festmahl abgebröckelt, ohne von Melanchthon bemerkt worden zu sein; das Große und Wesentliche an dem kleinen Werk Melandithons konnte und wollte er sich nicht aneignen"; W. Beneszewicz,, Melanchthoniana, Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, philos.-histor. Abt., Jahrg. 1934, Heft 7, München 1934, S. 25 ff., 53 f. Eine sorgfältige neuerliche Untersuchung des Problems wäre wünschenswert. Über Haloander zuletzt G. Kisch, Gestalten und Probleme aus Humanismus und Jurisprudenz, Berlin 1969, S. 199—240.
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Das juristische „Plagiat" im 16. Jahrhundert
Werner L. Gundersheimer13. Es handelt sich um einen Anhang zu Le Roys politischer Schrift De l'excellence du gouvernement royal (1575) unter dem Titel Advertissement aux François sur les maux et calamitez advenans aux peuples Dieses Advertissement ist eine vollständige Wiedergabe von des gleichen Verfassers Exhortation aux François pour vivre en concorde et jouir du bien de la paix aus dem Jahre 1570 mit ganz geringfügigen Änderungen ohne Hinweis auf die Quelle oder die Identität der beiden Schriften. „This is perhaps the most flagrant case of self-plagiarism in Le Roy" meint sein moderner Biograph. Er führt diese Vortäuschung eines neuen Werkes auf die Tatsache zurück, daß sich der Verfasser längst geistig verausgabt hatte, „that he rarely has anything new to say". Das gleiche Motiv scheint ein anderes Selbstplagiat veranlaßt zu haben, dessen Aufdeckung mir erst kürzlich gelungen ist. Der Magister Petrus Antonius Finariensis (gest. 1512), der in den ersten Jahren nach Gründung der Universität zugleich mit anderen italienischen Rechtslehrern in Basel auftauchte, hielt aus Anlaß seiner Anstellung als „Poet" am 21. Februar 1464 vor einer Versammlung von Mitgliedern der Hohen Schule und Basler Bürgern eine Lobrede auf die Stadt und Universität Basel. Sie ist in einer einzigen Handschrift erhalten geblieben, die von mir veröffentlicht wurde14. Nachdem Finariensis Basel verlassen hatte und eine neue Anstellung an der Universität Heidelberg suchte, hielt er daselbst vor versammelter Universität und in Anwesenheit des Kurfürsten Friedrich eine andere Lobrede, diesmal auf Heidelberg. Der Heidelberger Freundeskreis Jakob Wimpfelings ließ die Rede Ende 1499 drucken. Gerhard Ritter, dem der Hinweis auf diesen seltenen Drudi zu danken ist, hebt sie als „das erste literarische Zeugnis dieser Art" für Heidelberg besonders hervor, als „das erste Glied gleichsam in einer langen Kette von Lobeshymnen auf die schöne Neckarstadt, die sich durch die Jahrhunderte seither hinzieht und schon dadurdi von besonderem lokalls Gundersheimer, The Life and Works of Louis Le R o y (Travaux d'Humanisme et Renaissance, L X X X I I ) , Genève 1966, S. 143. 14 Kisà), Gestalten und Probleme, S. 2 5 0 — 2 7 9 , besonders S. 258 f. — Die im T e x t folgende Äußerung Ritters steht in seinem Aufsatz „Petrus Antonius Finariensis, der Nachfolger Peter Luders in Heidelberg, ein Beitrag zur Geschichte des Frühhumanismus am Oberrhein", Archiv für Kulturgeschichte, X X V I , 1935, S. 102 f.
Die Humanisten
89
historischem Interesse". D a Ritter jedoch ihres Verfassers Basler Lobrede nicht gekannt hat, konnte er nicht ahnen, daß ihr umfangreiches Kernstück der Laudatio Basileae urbis wörtlich entnommen ist, die Finariensis einst am Beginn seiner Tätigkeit in der Oberrheinstadt gehalten hatte. Lediglich die für das geänderte Objekt des Lobhymnus erforderlichen Änderungen im Wortlaut wurden von ihm vorgenommen. Eine Vergleichung der beiden Texte hat mich zu dieser Feststellung geführt, durch die natürlich Ritters Bewertung der Heidelberger Rede und ihre lokalhistorische Bedeutung stark herabgetönt werden. Es handelt sich um ein evidentes Selbstplagiat des Finariensis, dessen Entdeckung erst nach 470 Jahren erfolgt ist. 15 ls Über ein ebenfalls erst nach vierhundert Jahren entdecktes Plagiat (nicht Selbstplagiat) von Peter Luders Antrittsrede in Heidelberg vom 15. Juli 1457 durch den Heidelberger Hofkaplan Pfalzgraf Friedrichs I. Matthias von Kemnat berichtet Wilhelm Wattenbach, Peter Luders Lobrede auf Pfalzgraf Friedrich den Siegreichen, Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins, 23, 1871, S. 23. — Bibliographie über Peter Luder bei Kisch, Gestalten und Probleme, S. 257, Anm. 20; dazu nodi Frank E.Baron, The Beginnings of German Humanism: The Life and Work of the Wandering Humanist Peter Luder, University Microfilms Inc., Ann Arbor, Michigan 1967, mir nicht zugänglich; über Matthias Kemnat Gerhard Ritter, Die Heidelberger Universität, I, Heidelberg 1936, S. 363, 457 ff.
IV Die Humanisten-Juristen I N ach dieser kurzen Abschweifung, welche durch Heranziehung bisher unbeachteter Quellen die Gedanken des hervorragendsten Humanisten über Plagiat sowie Nachdruck und deren Bekämpfung beleuchtet hat, soll — wiederum an ausgewählten Beispielen — gezeigt werden, wie sich die Empfindlichkeit gegen unberechtigte oder vermeintlich unberechtigte Aneignung fremden geistigen Eigentums im 16. Jahrhundert mehr und mehr auch bei juristischen Gelehrten geltend machte. Dies führte zunächst zur moralischen Bloßstellung des (vermeintlichen) Missetäters, wo solche berechtigt erschien, aber auch zur Abwehr unbegründeter Beschuldigungen. Die moderne wissenschaftliche Untersuchung wird sich einer feinen Sonde bedienen müssen, um unter Berücksichtigung der literarischen Gepflogenheiten der Zeit Licht und Schatten richtig zu verteilen. Zwei Fälle unzweifelhafter Plagiierung sind in der Literatur ausführlich behandelt worden. Der eine betrifft unrechtmäßige Aneignung seitens eines Autors, der andere eine solche durch einen, beziehungsweise mehrere Drucker und Verleger. Der erste verwickelte zwei angesehene Juristen in einen Streit 1 : Joachim Mynsinger von Frundeck (1514—1588), einen der bedeutendsten Schüler von Ulrich Zasius und Nachfolger seines Lehrers im Freiburger Lehramt, und Andreas Gaill (1525—1587), Assessor am Reichskammergericht zu Speyer. Auch Mynsinger war acht Jahre lang Beisitzer des Kammergerichts. Seit 1563 veröffentlichte er in Bänden von je hundert Entscheidungen des Reichskammergerichts: Singula1 Über diesen ausführlich Roderich Stintzing, Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft, I, München und Leipzig 1880, S. 494, 498 f.; siehe auch die daselbst, S. 485, Anm. 2, erwähnten älteren Biographien Mynsingers; vgl. ferner Günter Herrmann, Johan Nikolaus Hert und die deutsche Statutenlehre (Neue Kölner Rechtswissensdiaftliche Abhandlungen, H e f t 25), Berlin 1963, S. 36 f. und Anm. 185.
Die Humanisten-Juristen
91
rium observationum Judicii Imperialis Camerae centuriae quatuor, die unter ständiger Vermehrung viele Auflagen erlebten. In der Dedikationsepistel zur Ausgabe von 1584 warf er Andreas Gaill vor, in der von diesem 1578 herausgegebenen Sammlung von Observations seine eigenen ohne Angabe der Quelle ausgebeutet zu haben, indem er sein Werk vielfach benutzt und vieles daraus entlehnt habe, ohne dessen irgendwie zu gedenken. Das sei gegen die gute literarische Sitte, die er selbst niemals verletzt habe. Nach dem Urteil des Gesdhichtsschreibers der deutschen Rechtswissenschaft jener Periode, Roderich Stintzing, „ist die Berechtigung dieser Beschwerde nicht zu bestreiten, wenn sich audi im einzelnen nicht sicher nachweisen läßt, wie weit Gaill aus Mynsinger unmittelbar oder aus gemeinsamen Quellen geschöpft hat. Dies letztere behauptet natürlich Gaill in seiner aus Bonn datierten Erwiderung vom Jahre 1586 2 ; daß er den Namen irgend eines von ihm benutzten Schriftstellers absichtlich verschwiegen habe, leugnet er". Stintzing berichtet noch von einer „gehässigen Insinuation Gaills, welche Mynsinger wohl mit größerem Rechte hätte zurückgeben können", und schließt mit folgender Feststellung: „Wir greifen wohl nicht fehl, wenn wir uns Gaills Verhalten weniger aus Rivalität und wissenschaftlichem Gegensatz, als vielmehr aus seiner kirchlichen Antipathie gegen den protestantischen Kanzler, sowie aus der Mißbilligung, welche Mynsinger durch das Reichskammergericht erfahren, und der sich daran knüpfenden Spannung erklären. Ein Werk, welches das Kammergericht perhorresziert hatte, mochte Gaill nicht durch Allegation zur Geltung bringen" 3 . 2 Ein analoges modernes Beispiel: ein Verfasser, dem i A ausführlich und mit sorgfältiger Dokumentation evidentes Plagiat nachgewiesen hatte (was den H e r ausgebern der Monographs of the Mediaeval Academy of America, N r . 12, entgangen war), suchte sich mit derselben Ausfludit zu rechtfertigen; siehe den eingehenden Bericht über diesen Fall bei G. Kisch, Forschungen zur Rechts- und Sozialgeschichte der Juden in Deutschland während des Mittelalters, Zürich 1955, S. 2 4 8 — 2 5 5 . Ein ähnliches, diesmal aufsehenerregendes modernes Plagiat wurde von den englischen bzw. amerikanischen Rechtshistorikern Goudy („Plagiarism — A Fine A r t " ) , Dicey, Pound, Vinogradoff im Jahre 1909 aufgedeckt; darüber Frank I. Schechter, Paul Vinogradoff — »The Pontiff of Comparative Jurisprudence", in: Illinois Law Review, 24, 1930, S. 534 f. ® Von Mynsingers Observations erschienen mindestens 15 Ausgaben, von denen Gaills 16; siehe G. Kisch, Consilia, eine Bibliographie der juristischen Konsiliensammlungen, Basel 1970, S. 68, 56.
92
Das juristische „Plagiat" im 16. Jahrhundert
Eine andere Art der unrechtmäßigen Aneignung seiner geistigen Leistung mußte Conradus Lagus (gest. 1546) erfahren, der zunächst als Privatlehrer des Rechts in Wittenberg und Jena wirkte, später Syndikus des Danziger Rates geworden ist 4 . Seine eingehende systematische, von der hergebrachten Lehrmethode abweichende Darlegung der Rechtslehre, die ein systematisches Lehrbuch des Pandekten- und Prozeßrechts darstellt, diktierte er seinen Zuhörern zu ihrem Privatgebrauch mit der ausdrücklichen Weisung, die Nachschrift nicht zu veröffentlichen, wie es damals nicht selten vorkam. Lagus' Methodica iuris utriusque traditio erlangte große Beliebtheit bei den Studenten und wurde in vielen Exemplaren abschriftlich nicht nur in Wittenberg, sondern in ganz Deutschland verbreitet. Im Jahre 1543 erscheint das Werk bei dem bekannten Buchdrucker und Verleger Christian Egenolf in Frankfurt am Main auf Grund einer fehlerhaften Abschrift von Lagus' Diktaten zwar unter seinem Namen, jedoch gegen seinen Willen. Die ausdrückliche Ablehnung, seine Erlaubnis zur Veröffentlichung zu erteilen, vermochte diese ebensowenig zu verhindern wie die Drohung des Autors mit Diebstahlsklage. Denn, so führt der plagiierte Verfasser aus, durch den Druck einer verstümmelten und fehlerhaften Nachschrift werde sein Ruf geschädigt und seine Ehre schwer gekränkt. Lagus läßt im folgenden Jahre einen Protest gegen die unberechtigte Veröffentlichung seiner Rechtslehre erscheinen, Pro-
testatio adversus improbam
suorum commentariorum
editionem
ab
Egenolpho factam, mit ausdrücklicher Beschuldigung des Plagiats, und zwar als Sendschreiben an den Drucker Johannes Oporinus in Basel, der ihn ebenfalls erfolglos um die Publikationserlaubnis gebeten hatte. Es folgt eine in der Literatur als „unverschämt" bezeichnete Verteidigung Egenolfs. Der Verfasser ist machtlos gegen die Piraten. Ein Jahr nach der Egenolfschen erscheint sogar noch eine zweite Aus4 Die Geschichte dieses Falles ist ausführlich dargestellt bei Theodor Muther, Zur Geschichte der Rechtswissenschaft und der Universitäten in Deutschland, Jena 1876, S. 308—319, 335—351, 413—416, 419; dazu Gustav Pescatore, Miscellen (Zur Rechtsgeschichte des 12., 13. und 16. Jahrhunderts) (Wissenschaftliche Beilage zum Vorlesungsverzeichnis der Universität Greifswald), Greifswald 1901, S. 17—24; vgl. ferner Stintzing, a . a . O . , S. 298—304; Bappert, Wege zum Urheberrecht, S. 152; Gerhard Theuerkauf, Lex, Speculum, Compendium iuris. Rechtsaufzeichnung und Rechtsbewußtsein in Norddeutschland vom 8.—16. Jahrhundert (Forschungen zur deutschen Reditsgesdiichte, 6. Bd.), Köln 1968, S. 203 ff., 208 f.
Die Humanisten-Juristen
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gäbe bei Sebastian Gryphius in Lyon; 1552 gibt Justin Gobier eine dritte heraus. Von 1546 bis 1592 erscheinen noch vier Ausgaben bei Gryphius, eine weitere bei Egenolf, die 1563 von Oporinus nachgedruckt wird. Nachdem das Werk wegen seiner Polemik gegen manche Einrichtungen und Gesetze der römischen Kirche auf den Index gekommen war 5 , folgten nunmehr zwei „katholisch kastrierte" (Muther) Ausgaben in Löwen. Schließlich wurde der Inhalt des Buches noch in zwei weiteren Ausgaben von Johannes Thomas Freigius nach der ramistischen Methode in tabellarische Form gebracht. Das ist die Geschichte eines für die Zeit typischen Plagiats, an dem sich die Buchhändler „mästen" konnten, während der Autor nicht imstande war, auch nur sein moralisches Recht und seine Ehre als Verfasser erfolgreich gegen sie zu verteidigen. Die Idee des Urheberrechtsschutzes mußte so lange in der Luft schweben, als wirksamer gesetzlicher Rechtsschutz noch fehlte. Im Laufe des 16. Jahrhunderts mehren sich daher die Plagiatbeschuldigungen und Proteste gegen literarischen Diebstahl seitens der noch schutzlosen Autoren. Um noch ein Beispiel anzuführen: Eine ähnliche Erfahrung wie die des Lagus veranlaßte Andreas Alciatus (1492—1550) öffentlich Beschwerde über ein an ihm begangenes Plagiat zu erheben, weil ein unbekannter Außenseiter offenbar von einem seiner Hörer die Nachschrift seiner Vorlesung zu unlauteren Zwecken erworben hatte®. Durch Geltendmachung des moralischen Aspekts des 5 Darüber neuestens ausführlich Gisela Becker, Deutsche Juristen und ihre Schriften auf den römischen Indices des 16. Jahrhunderts (Schriften zur Rechtsgeschichte, Heft 1), Berlin 1970, S. 137—145. ® Andreae Alciati Parergon iuris libri tres, Basel 1538, III, Cap. XVI, S. 83, zu 1. si priusfquam] de operis novi nunt. [D. 39. 1 . 1 5 ] : „ . . . q u a e omnia a me latius in magnis commentariis explicata hie brevius attingere volui, quoniam nescio, quis Symmista redemptis ab auditore nostro aliquo dictatis omnes hasce meas traditiones sibi asseruerat et alienis plumis induta cornicula penes huius rei inscios plurimum sibi honoris vendicarat omnibus admirantibus, unde tantum acuminis de repente illi obortum esset". — Sdion Lorenzo Valla (1407—1457) tadelte im Vorwort zum zweiten Buch seiner Elegarttiae latinae linguae (entstanden zwischen 1435 und 1440, bis etwa 1450 überarbeitet und ergänzt) das gleiche, also schon hundert Jahre früher praktizierte Verfahren: „Quamquam quod ad cupiditatem meam attinet, quae tandem secordia atque ignavia mea extitisset, si commisissem, ut alius hanc laudem mihi qualemcumque praeriperet? Sunt enim qui nonnulla horum quae a me praecipiuntur, vel de me vel de auditoribus meis audita, nunquam enim ista suppress!, in opera sua rettulerint festinentque edere, ut ipsi priores invenisse
Das juristische „Plagiat" im 16. Jahrhundert
94 ungelösten
Problems
(materielle
Interessen
fehlen
zumeist
noch)
suchen die b e n a c h t e i l i g t e n V e r f a s s e r i h r e R e c h t e w e n i g s t e n s in
der
literarischen Z u n f t z u r G e l t u n g z u b r i n g e n . T r o t z d e r geschilderten S a c h l a g e m u ß die e x a k t e m o d e r n e
For-
schung i m m e r w i e d e r noch nicht e n t d e c k t e E n t l e h n u n g e n o h n e Q u e l lenangabe
auch bei n a m h a f t e n
Autoren
des
16. Jahrhunderts
fest-
stellen. H a n d e l t e es sich bei den e r w ä h n t e n beiden F ä l l e n u m gröbliche —
w i e ich sie n e n n e n m ö c h t e — echte P l a g i a t e , so m u ß e r s t g e p r ü f t
w e r d e n , o b die n o c h z u e r w ä h n e n d e n E n t l e h n u n g e n g r ö ß e r e n
oder
g e r i n g e r e n A u s m a ß e s w i r k l i c h u n t e r d e n e n g e r e n B e g r i f f des P l a g i a t s z u subsumieren sind. G i o r g i o D e l V e c c h i o h a t festgestellt, d a ß H u g o G r o t i u s ( 1 5 8 3 bis 1 6 4 5 ) das W e r k des italienischen J u r i s t e n u n d O x f o r d e r A l b e r i c o G e n t i l i ( 1 5 5 2 — 1 6 0 8 ) De giebigsten W e i s e b e n ü t z t ,
iure
belli
(1588/89)
es a b e r k a u m e r w ä h n t h a t " 7 .
bereits C a r l F e r d i n a n d H o m m e l
(1722—1781)
Professors
„in d e r a u s Das
beobachtet,
hatte
Grotius
jedoch nicht n u r eines P l a g i a t s nicht v e r d ä c h t i g t , s o n d e r n ihn gegen die
videantur. Sed res ipsa deprehendet cuius domini vere sit haec possessio. Quorum unius libellos quosdam pro amicitia cum legendos eo praesente cepissem, deprehendi quaedam mea, et quae amisisse me nesciebam furto mihi sublata cognovi. Parco illius nomini. Erat autem locus de per et quam in compositione, de qua re proximo libro disputavi, et de quisquam cum adiungitur superlativo. Negligenter ille quidem et inscite tractatus, ut scires aliunde decerptum, non ex se prolatum, et auditum non excogitatum esse. Conturbatus tamen sum et inquam homini: ,hanc ego elegantiam agnosco, et mancipium meum assero teque plagiaria lege convenire possum'"; Eugenio Garin, Prosatori latini del Quattrocento, Milano 1952, S. 606. — Ober ähnliche Proteste und Klagen der Hallesdien juristischen Professoren Christian Thomasius und Justus Henning Boehmer nodi am Ende des 17. und in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts siehe Gertrud Schubart-Fikentscher (Kap. I, Anm. 9), S. 95 f. und Anm. 8. — Ein ganz analoger Fall von Piraterie geistigen Eigentums betraf nodi im Jahre 1726 den berühmten holländischen Professor der Medizin Hermann Boerhave in Leiden; dieser Fall echten Plagiats ist ausführlich juristisdi analysiert bei Rudolf Stammler, Deutsches Reditsleben in alter und neuer Zeit, I, Charlottenburg 1928, S. 312—320: „Schädigung Boerhaves in seinem Urheberrecht 1726—1728" (freundlicher Hinweis von Professor Hans Thieme in Freiburg). Zweihundert Jahre später widerfuhr mir selbst genau das gleiche Mißgeschick, als ich im Jahre 1926 an der Universität Prag Rechtsgeschidite dozierte, indem meine Vorlesungen in verstümmelter Gestalt unbefugt veröffentlicht und zu hohen Preisen verkauft wurden. 7 Giorgio Del Vecchio, Lehrbuch der Rechtsphilosophie, 2. deutsche Aufl., Basel 1951, S. 120.
Die Humanisten-Juristen
95
Anwürfe anderer in Schutz genommen8. Del Vecchio sdireibt ihm immerhin einige, „wenn audi nicht große Originalität" zu 9 , läßt ihm somit ebenfalls, allerdings in sehr abgeschwächter Weise, Gerechtigkeit zuteil werden. Über Johannes Oldendorps (1488—1567) Abhängigkeit, welche bisweilen wortgetreue Entlehnung erreicht, von Guilelmus Budaeus, Nicolaus Everardus, Claudius Cantiuncula, Aymarus Rivallius, die von ihm überhaupt nicht genannt werden, sodann auch von Melanchthon, Zasius, Alciat, Haloander und Spiegel, deren Namen immerhin in Dedikationsschreiben erscheinen, ohne daß Tatsache und Umfang ihrer Benutzung angegeben würden, habe ich bereits früher ausführlich berichtet 10 . Schon damals wurde von mir die Bemerkung angefügt, man werde Oldendorp aus seinem Verhalten gegenüber den von ihm benützten oder ausgeschöpften älteren oder gleichzeitigen Autoren „kaum einen größeren Vorwurf machen können als anderen Autoren von Namen und Rang, die sich des gleichen heutzutage unzulässig erscheinenden Verfahrens bedient haben, obwohl er bisweilen die Meinungen einzelner Glossatoren und Kommentatoren unter ausdrücklicher Nennung ihres Namens anführt oder bekämpft". Freilich hat sich Oldendorp in dieser Hinsicht eine sehr weitgehende Freiheit 8 Hommel, Litteratura iuris, 2. Aufl., Leipzig 1779, S. 254: „Ipsi Grotio libros Alberici Gentiiis De iure belli non inutiles fuisse crediderim, nec dubitarunt aliqui et hunc praedonibus annumerare, quorum in nostris arvis tanta abundat copia, ut solis nominibus indicandis vix pagina sufficiat." Ausdrücklich und viel nachdrücklicher verteidigte Grotius gegen den Vorwurf des Plagiats schon Johannes Albertus Faber, Decas decadum sive plagiariorum et pseudonymorum Centuria, Leipzig 1689, Nr. XLIII: „Maiore ingenio atque eruditione fuit Grotius, quam cui opus fuerit ad Arabum lacunas secedere, ut inde quicquam furaretur, quod cum alia eius monumenta tum notae aureo isti libello postea subiectae manifestum faciunt." • Del "Vecchio, a . a . O . : „...Grotius hat gegenüber Gentiii wie gegenüber anderen gleichartigen Schriftstellern das besondere Verdienst, es unternommen und verstanden zu haben, von den besonderen Einzelfragen des Völkerrechts aus zu den rechtsphilosophischen Grundprinzipien den Weg zu finden. Er war nicht bloß Jurist, sondern auch Philosoph, und es gelang ihm derart ein systematisches Werk, wenn auch nicht von großer Originalität, zu vollenden". 10 G. Kisch, Erasmus und die Jurisprudenz seiner Zeit, S. 232 f. und Anm. 9, 238, 242 f., 252 f., 401. Bei den daselbst gemachten Beobachtungen und Feststellungen muß es verbleiben trotz der Einwendungen von Franz Wieacker, Savigny-Zeitschrift für Rechtsgeschichte, germ. Abt., 78, 1961, S. 422 und Anm. 10; vgl. dazu G. Kisch, Claudius Cantiuncula. Ein Basler Jurist und Humanist des 16. Jahrhunderts, Basel 1970, S. 69, Anm. 33, 34.
96
Das juristische „Plagiat" im 16. Jahrhundert
e r l a u b t 1 1 . A u f die f ü r ihre Beurteilung a n z u w e n d e n d e n G r u n d g e d a n ken u n d P r i n z i p i e n w i r d n o d i z u r ü c k z u k o m m e n
sein. Ü b r i g e n s
ist
O l d e n d o r p gegenüber später die gleiche M e t h o d e a n g e w e n d e t w o r d e n , deren e r sich gegenüber seinen V o r g ä n g e r n bedient h a t t e 1 2 . E i n e Plagiatbeschuldigung gegen A n d r e a s A l c i a t u s ist m i r aus d e m zeitgenössischen S c h r i f t t u m nicht b e k a n n t g e w o r d e n 1 3 . W i e es t r o t z des A u f k o m m e n s „ k r i t i s c h e r " E d i t i o n e n i m 1 6 . J a h r h u n d e r t bei den H e r a u s g e b e r n alter L i t e r a t u r w e r k e noch nicht üblich w a r , m e h r als bloß v a g e A n g a b e n ü b e r die v o n ihnen v e r w e n d e t e n M a n u s k r i p t e z u machen, so h a t t e sich die wissenschaftliche A r b e i t s weise der G e l e h r t e n auch noch nicht d a r a n g e w ö h n t , d e m heutigen B r a u c h ähnlich, ihre A r b e i t e n m i t e x a k t e n Q u e l l e n z i t a t e n
zu
ver-
sehen 1 4 . D o d i , w i e bereits e r w ä h n t w u r d e , v e r s t ä r k t e sich das wissenschaftliche V e r a n t w o r t u n g s g e f ü h l
gegenüber jenen Gelehrten,
deren
11 Vgl. z. B. Heinrich Eduard Dirksen, Obersicht der bisherigen Versuche zur Kritik und Herstellung des Textes der Zwölf-Tafel-Fragmente, Leipzig 1824, S. 32 ff.: „Joh. Oldendorpius hat, ohne der Rezension des [Aymarus] Rivallius Erwähnung zu tun, sich der Resultate derselben in vollem Umfang bemächtigt. Form und Inhalt des Textes sind nämlich buchstäblich von Rivallius abgeschrieben; die unechten Sätze, welche dieser anerkennt, finden sidi auch hier ohne weitere Prüfung aufgenommen, und diejenigen, welche bei Rivallius übergangen sind, vermißt man audi bei Oldendorp, ohne daß irgendein Grund zur Rechtfertigung dieses Verfahrens angegeben wäre. Die nicht selten höchst fehlerhafte Restitution der Textesworte bei Rivallius hat Oldendorp nirgends verlassen und nicht einmal einen Versuch zu deren Berichtigung gemacht." " Vgl. Stintzing, I, S. 399 f., über Valentin Forster (1530—1608); ferner neuestens G. Becker (oben, Anm. 5), S. 213—215. 13 Donald R. Kelley, Guillaume Budé and the First Historical School of Law, American Historical Review, 72, 1967, S. 827, hat offensichtlich Alciats Äußerung in einem Brief an Bonifacius Amerbach ( A l f r e d Hartmann, Die Amerbadikorrespondenz, III, Basel 1947, Nr. 1336, S. 408) mißverstanden. Es handelt sich daselbst nicht um einen Vorwurf des Plagiats; vielmehr äußert Alciat die (unbegründete) Befürchtung, bei Budaeus, zu dem er ein freundliches Verhältnis haben möchte, Anstoß zu erregen, wenn er vor Antritt seiner Professur in Bourges seine Schrift De ponderibus et mensuris veröffentlichen würde. Von einer „suggestion that Alciato had plagiarized Budé's work on coinage" (so Kelley, a. a. O.) ist überhaupt nicht die Rede. Vergleiche dagegen oben, Anm. 6, Alciats eigene Äußerung darüber, wie er selbst plagiiert worden sei. 14 Das empfiehlt der italienische Jurist Tiberius Decianus (1509—1582) in seiner Apologia pro iuris prudentibus, qui responsa sua edunt adversus dicta per Alciatum Parergon lib. XII, cap. ult. (1579); vgl. Friedrich Schaff stein, Zum rechtswissenschaftlichen Methodenstreit im 16. Jahrhundert, in: Festschrift für Hans Niedermeyer 1953, Göttingen 1953, S. 213.
Die Humanisten-Juristen
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Arbeiten andere Gelehrte Förderung verdankten oder die diesen als Quelle gedient hatten. Trotzdem oder vielleicht gerade deshalb begegnet man in der zeitgenössischen Literatur immer wieder Plagiatsvorwürfen. Daß in dem bekannten Streit des Zasius mit Budaeus wegen dessen Methode zur Auflösung von Antinomien in den Digesten 15 der Plagiatsvorwurf eine Rolle spielte, darf nicht allzu ernst genommen werden 1 6 . Budes starke Empfindlichkeit namentlich in wissenschaftlichen Prioritätsfragen sowie seine große Eifersucht verwickelte ihn in Streitigkeiten audi mit anderen Gelehrten, wie Johannes Baptista Egnatius, Andreas Alciatus und sogar mit Erasmus. Immer von neuem glaubte er, sich gegen vermeintlichen literarischen Diebstahl verteidigen zu müssen. Der Ausgabe seiner Schrift De asse vom Jahre 1528 gab er den Titel: „De asse libri quinqué nuper recogniti et ampliores facti a furtoque vindicati". E r bekannte aber darin selbst: „ . . . in ordinis iurisconsultorum olim offensionem inconsulto fervore incidi" 1 7 . Zudem hatte Zasius in seinem Digestenkommentar zu D. 1. 1. 10 ausdrücklich angegeben, daß das meiste von dem dort Mitgeteilten von Budaeus stamme. In diesem Fall handelt es sich somit um einen heftigen Gelehrtenstreit, aber wohl kaum um ein echtes Plagiat.
1 5 Über diesen Streit sehr ausführlich S tint zing, Ulrich Zasius. Ein Beitrag zur Geschichte der Rechtswissenschaft im Zeitalter der Reformation, Basel 1857, S. 134—145, 196 f., 200 f., besonders 198—201; auch G.Kisch, Gestalten und Probleme, S. 56 ff. 1 5 Dies tut wiederum Donald R. Kelley, De origine feudorum: The Beginnings of an Historical Problem, Speculum, X X X I X , 1964, S. 218, 224, wo er eine Äußerung Charles Dumoulins ohne Quellenangabe erwähnt, „that Zasius shamelessly plagiarized from Bude". Dumoulins Beschuldigungen sind zu finden in Caroli Molinaei Omnia quae extant Opera, Paris 1681, S. 6, Nr. 23 und 25. 17 Der vorstehende Bericht mit den im Text wiedergegebenen Zitaten folgt der stets zuverlässigen Darstellung von Stintzing (oben, Anm. 15), S. 196—201, da mir die in Bassel nicht vorhandene Ausgabe der Schrift des Budaeus De asse vom Jahre 1528 mit dem Epilog nicht zur Verfügung stand und die Ausgabe Paris 1532 den Epilog nicht enthält. — Das folgende Zitat aus Zasius' In Dig. Veteris títulos Lecturae steht in der Ausgabe Basel 1537 auf S. 29 und lautet: „Haec, quae diximus, bona ex parte sumpta sunt ex Budaeo." Noch im November 1528 oder 1529 schreibt Bonifacius Amerbach an seinen Freund Claudius Cantiuncula: „Video, adhuc vetus odium Budaei in Zäsium ob dissolutas antinomias nondum extinctum, sed etiamnum subesse fomenta, quae per alium excitantur"; Hartmann, Die Amerbachkorrespondenz, III, Nr. 1306, S. 371, Z. 40 ff., vgl. Z. 55 ff.
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Das juristische „Plagiat" im 16. Jahrhundert
Gewichtiger erscheint dagegen der gegen Claudius Cantiuncula (um 1 4 9 0 — 1 5 4 9 ) erhobene Plagiatsvorwurf 18 . Seitdem Andreas Tiraquellus (Tiraqueau, 1 4 8 8 — 1 5 5 8 ) in seinem Werk De legibus connubialibus et iure maritali gegen Cantiuncula, zwar ohne Namensnennung, jedoch unmißverständlich und rücksichtslos, bezüglich seines Werkes Topica (1520) die Beschuldigung des Plagiats erhoben hatte, ist ihm dieser Makel auch von modernen Gelehrten wiederholt angeheftet worden. Derselbe Vorwurf lastete auch auf dem französischen Juristen Bartholomaeus Chassanaeus ( 1 4 8 0 — 1 5 4 1 ) , wozu Hommel darauf hinwies, daß Tiraquellus sich selbst ähnliche Entlehnungen habe zuschulden kommen lassen19. Für die Beurteilung des Falles mag Cantiunculas eigene Stellungnahme zum Problem der literarischen Quellenangabe anläßlich der Veröffentlichung seines letzten Werkes, der De officio iudicis libri duo im Jahre 1543, nicht ohne Bedeutung sein. Nach Angabe der Dedikationsepistel war das Buch schon etwa vierzehn Jahre vorher entworfen und lag bereits 1529 in endgültiger Gestalt vor. Daß die Ausgabe erst nach fast anderthalb Jahrzehnten erfolgte, entschuldigt Cantiuncula mit der durch die Rücksicht auf die Anfänger im juristischen Studium früher gebotenen und weniger schwierigen Veröffent18 Zum folgenden siehe Kisch, Erasmus, S. 290 ff., 294 f., Anm. 18 (auch über andere literarische Abhängigkeiten); S. 263, Anm. 6 (Tiraquellus' Plagiatsbezichtigung); S. 265, Anm. 8; ferner G. Kisch, Claudius Cantiuncula. Ein Basler Jurist und Humanist des 16. Jahrhunderts (Studien zur Geschichte der Wissenschaften in Basel, Bd. X I X ) , Basel 1970, S. 61 ff., 69, Anm. 34. 19 Hommel, letteratura iuris, S. 254. Wenzel Hartl und Karl Schrauf, Nachträge zum dritten Band von Joseph Ritter von Aschbachs Geschichte der Wiener Universität, I, 1, Wien 1898, S. 101, erwähnen am Ende der Aufzählung der Schriften des Humanisten und Wiener Professors Johannes Alexander Brassicanus (1500—1539) „die Angabe Jöchers (Allgemeines Gelehrten-Lexicon, IV, Sp. 1220), daß der französische Jurist Andreas Tiraqueau in seinem Buche De nobilitate et iure primigeniorum an Joh. Alex. Brassicanus ein Plagium begangen haben soll; das davon betroffene Werk wird jedoch nicht bezeichnet". Demgegenüber ist in einer neueren biographischen Studie über Brassicanus zu lesen: „ . . . Darum entbehrt auch jeder Glaubwürdigkeit, was bei Jöcher, Gelehrten-Lexicon, Bd. 4, Sp. 1220, zu dem Buch De nobilitate des Juristen Andreas Tiraquellus (Paris 1549) gesagt wird, er habe an Jo. Alex. Brassicano ein Plagium begangen"; so Reinhold Rau, Die Tübinger Jahre des Humanisten Johannes Alexander Brassicanus, in: Zeitschrift für württembergische Landesgesdiichte, X I X , 1960, S. 123, Anm. 100. Raus Behauptung scheint nicht schlüssig zu sein. Doch ist hier nicht der Ort zu untersuchen, welche der beiden Angaben zutrifft.
Die Humanisten-Juristen
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lichung seiner Paraphrase zu den Justinianischen Institutionen, die zehn Jahre vorher zu erscheinen begann. Später und bis in die Gegenwart sei er durch die Tätigkeit im kaiserlichen Dienst an der Veröffentlichung verhindert gewesen. Audi jetzt hätte er sich zur Publikation, ohne die letzte H a n d anzulegen und dem Werk einen Abschluß zu geben, nicht entschlossen, wenn nicht kürzlich, und zwar vor gar nicht so vielen Jahren, Schriften mehrerer bedeutender Gelehrten ans Licht getreten wären, durch welche den Darlegungen in seinen ersten zwei Büchern sowie den in den späteren nodi geplanten die für einen Autor wichtigen Eigensdiaften der Originalität und Neuheit weggeschnappt (praeripuisse) zu sein schienen, obwohl keine Wahrscheinlichkeit bestehe, daß dies absichtlich geschehen sei. Zwar stünden allen Autoren dieselben Quellen zur Verfügung, jene Gelehrten befänden sich aber im Besitze eines reicheren literarischen Apparates und erfreuten sich größerer Muße. Obwohl Cantiuncula sicherlich aus den neuen Schriften hätte manches lernen, in seinen eigenen manches reicher gestalten, reifer anordnen, glätten und erklären können, so habe er dodi davon Abstand genommen. Er habe es vorgezogen, das von ihm im Jahre 1529 Aufgezeichnete an die Öffentlichkeit zu bringen, wobei er einiges fortgelassen, jedoch durchaus nichts hinzugefügt habe, damit ihm nicht etwa von ihm nicht selbst Erarbeitetes nachgewiesen werden könnte. Wenn er in den später noch hinzuzufügenden Büchern durch die Arbeit jener Gelehrten gefördert würde, werde er das offen bekennen und dem Verfasser gebührendes Lob zollen. Deshalb werde er den Vorwurf des Plagiats um so weniger befürchten müssen, als er in seinen früheren Schriften ebenso wie in den vorliegenden zwei Büchern dieses Gebot des Taktes sehr wohl beobachtet zu haben glaubt. 2 0 Cantiuncula hat dies tatsächlich öfter beobachtet,
20 Kisch, Erasmus, S. 2 6 0 — 2 6 3 , mit wörtlicher Wiedergabe des Wortlauts bei Cantiuncula; siehe besonders daselbst, S. 263, Anm. 5 und 6. In diesem Zusammenhang verdient eine allgemeine Äußerung Cantiunculas über die Praktik des Plagiierens bei den Juristen, namentlich den Rechtsgutachtern, erwähnt zu werden. Sie findet sich in seiner De ratione studii legalis Paraenesis (Basel 1522), jetzt gedruckt bei Kisch, Cantiuncula, S. 252 f.: „Et, quod in his pessimum est venenum, non modo suum cuique pulchrum videtur (ut sua quoque simiae proles), sed mutuum etiam senes fricant seque invicem ineptis eulogiis passim citant et quasi Delphica oracula proponunt, immo alter ab altero integras lineas, paginas aut certe nonnunquam integra folia et Volumina sumit saepiusque repetit, vel mutuo vel furto, clam vel
100
Das juristische „Plagiat" im 16. Jahrhundert
was zu seiner Zeit nicht allgemein üblich war, zum Beispiel in seiner Institutionenparaphrase (1534), wo er am Rande Aristoteles' und Ciceros Werke angibt, „unde plurima, quae hic subiciuntur, petita sunt"21. Daß dem indes nicht immer ganz so gewesen ist, kann man an der 1522 erschienenen Oratio Apologetica beobachten, wo Cantiuncula Erasmus und einzelne seiner von ihm benützten Werke wohl öfter erwähnt, jedoch die Angabe der Antibarbari unterläßt, aus denen er allerlei wörtlich entlehnt hat. Wie Cantiuncula in dem genannten Werk Gedankengut für seine Aequitas-Epieikeia-Untersuchung aus zwei Kommentaren zur Nikomachischen Ethik herangezogen hat, ohne diese namentlich zu erwähnen, ist an anderer Stelle von mir dargelegt worden22. Daselbst habe ich aber auch gezeigt, wie er der aristotelischen Lehre selbst unabhängig gegenübergetreten ist und sich ihre Ergebnisse nicht zu eigen gemacht hat. Er schlug andere Wege ein, die zu anderen Resultaten führten, wie ein Vergleich der betreffenden Kapitel in den Werken jener Autoren deutlich lehrt. Diese Beobachtung führt noch zu einer anderen Überlegung, welche den Vorwurf des Plagiats seitens zeitgenössischer wie moderner Gelehrten in andere Beleuchtung rückt. Man kann literarische Entlehnungen, wie sie für Erasmus ebenso wie für Budaeus nachgewiesen sind und auch für andere Gelehrte von Rang vermutlich nachweisbar wären, nicht unter dem modernen Begriff des Plagiats betrachten und diesem gleichstellen. Wenn auch im vorliegenden Fall bei Cantiuncula Entlehnungen von methodischen oder auf den Gegenstand bezüglichen Gedanken vorliegen, so hat er sie durch Umgestaltung und Neugestalprecario, adiectis novis opinionibus aut interdum erroribus, ne nihil mali attulisse videatur. Hinc illa ingentium voluminum, quae multi asini clitellarii non ferant, vasta [et] multum diuque deplorata immensitas etc." 21 Vgl. auch Cantiuncula, Topica, Basel 1520, S. 4, wo er Cicero, Boetius, Trapezontius, Rodolphus Agricola ausdrücklich als seine Quellen angibt; Kisch, Erasmus, S. 165 f., Anm. 20. 22 Ausführlich Kisch, Erasmus, S. 289 ff.; selbst Hans-Peter Ferslev, Claudius Cantiuncula: Die didaktischen Schriften, jur. Diss. Köln 1967 (über diese Arbeit kritisch Kisch, Cantiuncula, S. 60 ff.), der Cantiunculas Entlehnungen von anderen Autoren sehr ungünstig beurteilt (vgl. etwa S. 59, 77—82), muß zugeben (S. 68): „Die Übereinstimmungen sind jedoch nie oder zumindest selten so gestaltet, daß man von einem direkten Plagiat sprechen könnte. Fast durchweg hat Cantiuncula die Stellen, die er mutmaßlich von Everardus übernommen hat, für seine Zwecke überarbeitet, wobei Überarbeitung in den meisten Fällen gleichbedeutend ist mit Selektion und Kürzung"; Kisch, Cantiuncula, S. 63, Anm. 15.
Die Humanisten-Juristen
101
tung seiner eigenen Auffassung völlig angepaßt. Seine Gelehrtenleistung kann daher nicht beeinträchtigt und sollte Zweifeln nicht ausgesetzt werden, indem man einen der Zeit ihrer Entstehung nicht entsprechenden modernen Maßstab anlegt. Ist audi die wissenschaftliche Arbeitsweise zur Zeit des Schaffens von Cantiuncula — abgesehen davon, daß allgemein Quellen- und Literaturangaben bisweilen unterlassen werden — primitiverer Art als heute, so darf man doch die eigene schöpferische Tätigkeit und Gestaltungskraft an anscheinend übernommenem fremdem Geistesgut bei Gelehrtenpersönlichkeiten vom Rang eines Erasmus oder Cantiuncula weder verkennen noch unterschätzen. Ein moderner Renaissanceforscher hat bei derartigen „Entlehnungen" oder „Ubernahmen" antiken Geistesguts durch die Humanisten von „geistiger Aneignung von Vorbildern", von „Imitatio" gesprochen. Er bezeichnet die Methode, die auch bei den hier besprochenen Fällen in Erscheinung tritt und als solche verstanden werden muß, treffend als „Anverwandlung des Fremden" 2 3 . Tatbestand und Begriff des Plagiats sind auf sie nicht anwendbar. Noch ist einer seit dem 16. Jahrhundert häufig geübten Praxis zu gedenken, auf welche der geschilderte Beurteilungsmaßstab nicht zutreffend ist. Vielmehr handelt es sich um Fälle echter Plagiierung, ähnlich dem früher geschilderten, der den Streit des Conradus Lagus mit dem Frankfurter Drucker Egenolf veranlaßte. Gemeint sind die zahlreichen Druckausgaben einzelner Rechtsgutachten oder ganzer Gutachtensammlungen, die ohne oder gegen den Willen ihrer Ver-
23 August Buck, Die humanistische Tradition in der Romania, Bad Homburg v. d. H . 1968, S. 139, 141; S. 139: „Im vorliegenden Zusammenhang interessiert dieses Prinzip in Bezug auf seine methodische Bedeutung für die Art und Weise, wie sidi die Humanisten ganz allgemein antikes Geistesgut angeeignet haben." Vgl. Franz Wieacker, Savigny-Zeitschrift für Rechtsgeschichte, germ. Abt., 78, 1961, S. 4 2 5 : „Es ist oft schwer zu entscheiden, wo bloß übernommen (oft einfach: abgeschrieben, nachgeredet oder geradezu plagiiert) wird oder wo der Gedanke fruchtbar fortschreitet. . . . Wir können leichter nachweisen, wer abgeschrieben hat als wer einen fruchtbaren Gedanken innerlidi erfuhr und weiterbildete." Daher können auch Übersetzungen oder editorische Emendationen und Ergänzungen von Texten nidit unter den Begriff des Plagiats fallen, „sunt ita emendata, ut furti omnis procul habenda sit suspicio"; Revilo Pendleton Oliver, E r a plagiario Poliziano nelle sue traduzioni di Epitteto e di Erodiano? in: Il Poliziano e il suo tempo, Atti del IV Convegno internazionale di studi sul Rinascimento, 2 3 — 2 6 , Settembre 1954, Firenze 1957, S. 2 5 3 — 2 7 1 .
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Das juristische „Plagiat" im 16. Jahrhundert
fasser im Buchhandel erschienen. Die Herausgeber oder Verleger verschafften sich — sicherlich nicht ohne gewinnsüchtige Absicht — Abschriften von Gutachten, die namentlich von Konsilien angesehener Juristen häufig angefertigt zu werden pflegten. So konnte es vorkommen, daß ein Rechtsgelehrter, der selbst beabsichtigte, seine Konsilien zu veröffentlichen, das Nachsehen gegenüber einem Herausgeber oder Drucker haben mußte, der sich bereits Abschriften der Gutachten verschafft hatte und mit ihrer Herausgabe dem Verfasser zuvorgekommen war. Diese oft zu beobachtenden Zustände veranlaßten den als Rechtsgutachter vielbegehrten Wittenberger Juristen Hieronymus Schürpf (1480—1554), wohl audi andere Konsiliatoren, seine Gutachten, die in vielen Abschriften verbreitet wurden, in mehreren Hundertsammlungen ausgewählter Konsilien der Öffentlichkeit durch den Druck zugänglich zu machen, um unberufenen Herausgebern zuvorzukommen 24 . Die bei derartigen echten Plagiaten geübten Praktiken, zum Beispiel Weglassung des Namens des Gutachters oder gar Zuschreibung eines Konsiliums einem bekannten Juristen, sind zahlreich und mannigfaltig 25 . Immerhin hat selbst die unrechtmäßige Veröffentlichung von Konsiliensammlungen, besonders solcher, die nach dem Tode von Konsiliarjuristen erfolgte, dazu beigetragen, Gedanken und Arbeit der Gutachter über ihre eigene Lebensdauer hinaus zu verbreiten und zur Geltung zu bringen 26 . Wenngleich die geschilderte Plagiatpraxis nicht verteidigt werden kann und soll, so sollte ein Hinweis darauf nicht unterlassen werden, daß durch sie doch einiger Nutzen gestiftet worden ist. Damit sei die Detaildarstellung abgeschlossen. Nunmehr kann zur Zusammenfassung der Ergebnisse der Untersuchung geschritten werden. 24 Theodor Muther, Aus dem Universitäts- und Gelehrtenleben im Zeitalter der Reformation, Erlangen 1866, S. 187. 2 5 Sie sind ausführlich beschrieben bei Hans-Joachim Mayer, Die Bedeutung der Rechtsgutachten in der Rezeptionszeit, jur. Diss. Basel 1962 (nur masdiinenschriftlich), S. 180 ff. 2 6 Vgl. G. Kisch, Consilia. Eine Bibliographie der juristischen Konsiliensammlungen, Basel 1970. Von einer ähnlichen Erscheinung beim Nachdruckbuchhandel des 18. Jahrhunderts berichtet Bappert, Wege zum Urheberrecht, S. 265 f.
ν Schlußbetrachtung D ie historische Betrachtung der Entwicklung, der verschiedenen Auffassungen sowie der wechselnden Bedeutung des Plagiatbegriffes in den aufeinanderfolgenden Zeitaltern hat zu dem Ergebnis und den daraus resultierenden Folgerungen geführt, die sich in Kürze so zusammenfassen lassen: Während die moderne wissenschaftliche Kritik nicht selten dazu neigt, namentlich gegen Gelehrte der Renaissancezeit Plagiatvorwürfe zu erheben, muß man größere Vorsicht walten lassen, um zu einer gerechten Beurteilung zu gelangen. Verschiedene Zeitalter und verschiedene Gelehrte haben über das geistige Verhältnis und Verhalten späterer Generationen von Wissenschaftlern zu ihren Vorgängern verschieden gedacht. Die moderne Forschung muß von evidentem geistigem Diebstahl, also editem Plagiat 1 , die „Anverwandlung", das bloß scheinbare und zu Unrecht so genannte „Plagiat", sorgfältig unterscheiden. Wohl haben manche Forscher den Unterschied instinktiv empfunden und für die von ihnen beobachteten Entlehnungen verschiedene Motive zu deren Rechtfertigung angegeben2. Man hat aber bisher vielfach übersehen oder nicht richtig gewürdigt, daß namentlich durch die geschilderte „An ver Wandlung" 1 Selbst f ü r das moderne Recht stellt Konrad Engländer, G e d a n k e n über B e griff und Erscheinungsformen des musikalischen P l a g i a t s , in: Archiv f ü r U r h e b e r Film- und Theaterrecht, I I I , 1930, S. 23, zutreffend f e s t : „ N i c h t schon jede bewußte Ü b e r n a h m e und Entlehnung f r e m d e n Geistesgutes ist P l a g i a t , sondern die bewußte Entlehnung wird z u m P l a g i a t dadurch, d a ß der w a h r e A u t o r , der dem Werke o d e r Teilen des Werkes das geistige G e p r ä g e gibt, verschwiegen w i r d , und d a ß die Absicht vorliegt, die Entlehnung zu verschleiern und d a m i t zugleich die Absicht, d a s neuentstandene W e r k als völlig selbständige und eigene geistige Leistung hinzustellen." 2 S o w i r d der deutsche H u m a n i s t und H i s t o r i k e r J o h a n n e s Aventinus gegen den P l a g i a t s v o r w u r f verteidigt und sein methodisches V e r f a h r e n wie f o l g t e r k l ä r t : „ M o d e r n critics seldom hesitate to charge a Renaissance writer with plagiarism, but surely such an indictment is beside the point. . . . In a closed intellectual universe,
104
Das juristische „Plagiat" im 16. Jahrhundert
eine geistige E n t w i c k l u n g g e f ö r d e r t w u r d e , a u f welche die K o n t i n u i t ä t in d e r Geschichte d e r Geisteswissenschaft
und damit
der
geistigen
K u l t u r z u r ü c k z u f ü h r e n ist. D a s k a n n a n d e m W a n d e l d e r A u f f a s s u n gen u n d E n t w i c k l u n g e n nicht b l o ß a u f d e m G e b i e t d e r R e c h t s w i s s e n schaft3,
sondern
auch
auf
anderen
Gebieten
der
Betätigung
des
menschlichen Geistes 4 b e o b a c h t e t w e r d e n . N u r so w i r d m a n z u einer richtigen historischen B e t r a c h t u n g u n d z u gerechter W ü r d i g u n g
der
geistigen L e i s t u n g d e r verschiedenen G e l e h r t e n g e n e r a t i o n e n u n d des wissenschaftlichen F o r t s c h r i t t s in d e r G e l e h r t e n a r b e i t g e l a n g e n nen.
Denn
„auch
Wissenschaft,
das
Schaffen
der
größten
Meister
in
Musik und Kunst baut immer unmittelbar
K u l t u r g u t der Vergangenheit, auf den G e d a n k e n und
kön-
Literatur, auf
dem
Schöpfungen
unzähliger Vorgänger a u f " 5 . knowledge was timeless. Men might recover, repossess, restore, but they coirtd not create anew. All that was true and intelligible had been said, all possible combinations of events had occurred. . . . For the modern scholar there was nothing left but to understand, and to append the bit of time to which he was witness to the sum total of events. . . . Aventinus selected his material in the field, wherever he found it, but, like the bee, he prepared and digested it by his native powers, gave it substance, flavor, purpose, an identifiable character, a mark of style. That was the difference, and Aventinus perceived it clearly. From this awareness came his confidence in the merit of his work and his trust in its ultimate recognition"; Gerald Strauss, Historian in an Age of Crisis: The Life and Work of Johannes Aventinus 1477—1534, Cambridge, Mass. 1963, S. 82 f., 83 f. — Über Johannes Reuchlin schreibt Otto Kluge, Die hebräische Sprachwissenschaft in Deutschland im Zeitalter des Humanismus, Zeitschrift für die Geschichte der Juden in Deutschland, III, 1931, S. 95: „Reuchlins Arbeit würde man heute zweifellos als Plagiat bezeichnen; aber diese Art der Arbeit ist entschuldbar, weniger durch einen den Sitten des Cinquecento und der Renaissance gemäßen .Kollektivgeist' der prinzipiellen Laxheit in Fragen des geistigen Eigentums als dadurch, daß Reuchlin in der Übersetzung der von Kimchi [Sepher Michlol] zitierten Bibelstellen im Lexikon doch immer eigene Arbeit leistete. Man muß doch auch bedenken und es mehr noch bewundern, daß Reuchlin eine bei dem Mangel anderer Hilfsmittel gewiß schwierige freie Gestaltung des Stoffs vornahm und die Fehler der früheren Zeiten aufdeckte, daß er in das erstaunlich verwickelt, verwinkelt und eigensinnig angelegte grammatische Gebäude eine klare, freundliche und gefällige Architektur brachte und es damit zugänglich, lidit und fast bewohnbar machte." — Vgl. auch über Melandithon Hans von Dadelsen, Die Pädagogik Melanchthons. Ein Beitrag zur Geschichte des humanistischen Unterrichts im 16. Jahrhundert, phil. Diss. Straßburg 1878, Stade 1878, S. 31 f., 35, 36 f. 3 Als einziges Beispiel sei die Entwicklung der Epieikeia-Aequitas-Lehre genannt; über sie ausführlich Kisch, Erasmus. 4 Vgl. die in Anm. 2 angeführten Beispiele. 5 So Engländer, a. a. O., S. 27.
III Ein unbekanntes Consilium des Johannes Sichardus 1548
I
Johannes Sichardus Verfasser des in der vorliegenden Studie behandelten Rechtsgutaditens ist der Humanist und Jurist Johannes Sichardus (1499—1552). Die Voranstellung seiner Bezeichnung als Humanist ist chronologisch und sachlich begründet. Unter dem Einfluß des aufstrebenden deutschen Humanismus in der Erfurter Lateinschule vorgebildet, erhielt er nach vierjährigem Studium in Ingolstadt, wo noch die Lehrtätigkeit des Konrad Celtes nachwirkte, 1518 die Würde eines Magister artium. Nach kurzer Tätigkeit an der schola poetica in München zog er 1521 nach Freiburg. Daselbst gewann er die Zuneigung des damals auf der Höhe des Lebens und Lehrens stehenden bedeutenden humanistisch gerichteten Juristen Ulrich Zasius. Doch die Erlangung einer Professur glückte nicht. In Freiburg konnte Sichard keinen festen Boden finden. So wendete er sich 1524 nach Basel, wohin ihm Zasius den Weg geebnet hatte. Hier war er zunächst als Lehrer der Rhetorik in der Artistenfakultät mit der Interpretation klassischer Schriftsteller beschäftigt, bis er nach dem Fortgang des Juristen Claudius Cantiuncula zu dessen Nachfolge in die juristische Fakultät berufen wurde. Doch gehörte während der sechs Jahre seines Basler Aufenthalts seine wissenschaftliche Tätigkeit ganz humanistischer Editionsarbeit, der Herausgabe wichtiger Quellenschriften des Altertums und Mittelalters, klassisch-literarischer, theologischer und juristischer Werke. Die religiösen Kämpfe vertrieben Sichard — wie Erasmus und Glareanus — im Frühjahr 1530 aus Basel. Auch er begab sich nach Freiburg. Dort vollendete sich für ihn der vollständige und endgültige Übergang zur Rechtswissenschaft bei weiterer Förderung durch Zasius. Fünf Jahre dauerte es jedoch noch, bis er nach erfolgter Promotion zum Doctor iuris utriusque eine juristische Professur in Tübingen erlangte. Hier erschloß sich ihm ein weiter und einflußreicher Wirkungskreis als Rechtslehrer, Rechtsgelehrter und Rechtsberater. Seine Be-
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Ein unbekanntes Consilium des Johannes Sichardus 1548
fähigung und Tätigkeit in Wissenschaft und Unterricht war nun ganz auf die praktischen Aufgaben des Juristen ausgerichtet. Sein bedeutender Ruf als ausgezeichneter Rechtsgutachter verschaffte ihm nicht nur eine angesehene Stellung als Rechtsberater der Herzöge von Württemberg, sondern er erhielt auch Angebote, als Syndicus in den Dienst der Reichsstadt Nürnberg zu treten, sowie Assessor am Reichskammergericht in Speyer zu werden. Diese Berufungen wurden jedoch von Sichard abgelehnt, und er verblieb bis an sein Lebensende in Tübingen. Sichards Leben und Wirken hat frühzeitig literarische Würdigungen gefunden. Außer der Leichenrede seines Tübinger Kollegen Matthias Garbitius Illyricus wurden noch im 16. Jahrhundert zwei ausführliche Lebensbeschreibungen von den beiden Zeitgenossen, Schülern und persönlichen Freunden Johann Fichard und Konrad Humbracht verfaßt. Literargeschichtliche Werke des 17. und 18. Jahrhunderts enthalten Kurzbiographien, die meist aus Fichard geschöpft sind und denen daher kein selbständiger Wert zukommt. Das Gegenteil gilt von den wissenschaftlichen Würdigungen durch Gelehrte des 19. und 20. Jahrhunderts, die auf der Erforschung des erhaltenen Quellenmaterials beruhen. Sichards Persönlichkeit und Bedeutung wird in ihnen von verschiedenen Gesichtspunkten aus beleuchtet. Gustav Mandry würdigte in einer akademischen Rede die Gesamtpersönlichkeit, besonders den Tübinger Professor und praktischen Juristen; Paul Lehmann in dem umfangreichsten Werk, das über Sichard geschrieben wurde, den Philologen und humanistischen Entdecker, Erforscher und Herausgeber von Handschriften; Guido Kisch den Basler Rechtshistoriker 1 . 1 Eine vollständige Übersicht über die ältere biographische Literatur bietet Gustav Mandry, Johannes Sichardt. Eine academische Rede. In: Württembergisdie Jahrbücher für Statistik und Landeskunde, Jahrgang 1872, II. Teil, Stuttgart 1874, S. 31 f.; eine solche des neueren lebensgeschichtlichen Schrifttums Guido Kisch, Johannes Sichardus als Basler Rechtshistoriker (Basler Studien zur Rechtswissenschaft, Bd. 34), Basel 1952, S. 10 f., 70 f.; vgl. ferner Paul Lehmann, Iohannes Sichardus und die von ihm benutzten Bibliotheken und Handsdiriften (Quellen und Untersuchungen zur lateinischen Philologie des Mittelalters, Bd. 4, Heft 1), München 1911; G. Kisch, Die Anfänge der Juristischen Fakultät der Universität Basel 1459—1529 (Studien zur Geschichte der Wissenschaften in Basel, Bd. XV), Basel 1962, S. 105—112, 358 f. (Bibliographie).
Johannes Sichardus
109
Erstaunlicherweise hat es bisher jedoch noch niemand unternommen, Sichards bedeutende Tätigkeit als Rechtsgutachter ausführlich darzustellen. Und das, obwohl seine vom akademischen Unterricht freie Zeit und Arbeitskraft während der siebzehn Tübinger Jahre fast ausschließlich der Abfassung von Gutachten über die verschiedensten Rechtsfragen aus zahlreichen Rechtsgebieten gewidmet war. Ein Teil dieser Konsilien wurde nach seinem Tode in einem stattlichen Band publiziert 2 , während andere in erheblicher Zahl noch unveröffentlicht im Stuttgarter Hauptstaatsarchiv, einige auch in der Handschriftenabteilung der Basler Universitätsbibliothek ruhen. Eines von diesen Rechtsgutachten, das sich mit einer die Rechtsstellung der Juden betreffenden Frage beschäftigt, soll den Gegenstand der vorliegenden Studie bilden. Wenn ihr Verfasser auch selbst nicht daran denken kann, für „Sichard als Rechtsgutaditer" eine ähnliche Darstellung zu unternehmen, wie er sie für Bonifacius Amerbach und Claudius Cantiuncula vorgelegt hat 3 , so gibt er doch der Hoffnung Ausdruck, daß durch Veröffentlichung und Bearbeitung des folgenden Gutachtens eine umfassende Darstellung des Problems angeregt werden mag. In der neueren Literatur hat allein Hans Erich Feine das Thema „Sichard als Rechtsgutachter" berührt. Seine kurzen Bemerkungen an ziemlich entlegener Stelle seien hier wiedergegeben4. „Vor allem war es die Tätigkeit als Gutachter in praktischen Rechtsfragen, die bald Sichards Arbeitskraft und Zeit in Tübingen * loannis Sichardi, Magni quondam Germaniae I. C., Responsa Iuris, in quibus diversi casus criminales, matrimoniales, testamentarii, feudales, et ceterorum contractuum perspicue tractantur. A multis diu desiderata, nunc primum opera et studio loannis Georgii Goedelmanni I. C., Comitis Palatini et Electoratus Saxoniae Consiliarii, publicata. Francofurti ad Moenum 1599. 3 G. Kisch, Bonifacius Amerbach als Rechtsgutaditer, in: Festgabe für M a x Gerwig (Basler Studien zur Rechtswissenschaft, Bd. 55) Basel 1960, S. 8 5 — 1 2 0 , jetzt neu bearbeitet im vorliegenden Band; G. Kisch, Claudius Cantiuncula. Ein Basler Jurist und Humanist des 16. Jahrhunderts (Studien zur Geschichte der Wissenschaften in Basel, Bd. X I X ) , Basel 1970, S. 9 9 — 1 1 6 : Cantiuncula als Rechtsgutachter. 4 Hans Erich Feine, Johann Sichard, Humanist, Professor des römischen Rechts und herzoglicher R a t 1499—1552, seit 1535 in Tübingen, in: Schwäbische Lebensbilder, Bd. V, Stuttgart 1950, S. 6 9 — 7 0 . Mehr als siebzig Jahre vor Feine hatte schon Hermann Seeger, Die strafrechtlichen Consilia Tubingensia von der Gründung der Universität bis zum Jahre 1600, Tübingen 1877, S. 2 4 — 8 3 , Sichards gedruckte strafrechtliche Konsilien eingehend analysiert.
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Ein unbekanntes Consilium des Johannes Sichardus 1548
ganz wesentlich in Anspruch nahm und ihn binnen wenigen Jahren zu einem weithin begehrten Rechtsberater machte. Die Versuche Nürnbergs und Kaiser Karls V., ihn ganz für sich zu gewinnen, sind die besten Zeugnisse dafür. Audi Herzog Ulrich von Württemberg verwendete ihn bald, wie später sein Nachfolger Herzog Christoph, zu wichtigen amtlichen Sendungen, so 1543 als Vertreter bei der Visitation des Reichskammergerichts und 1551 auf dem Reichstag zu Augsburg. Vielleicht schon 1544 ernannte Ulrich ihn zum herzoglichen Rat. Ein Teil der Gutachten, die Sichard zumeist in eigenem Namen, einige auch in dem der Fakultät, mitunter zusammen mit seinem Kollegen Kaspar Volland erstattet hat, ist nach seinem Tode von Johann Georg Gödelmann im Jahre 1599 zu Frankfurt a. M. herausgegeben worden, im ganzen 53 Gutachten, die sich über die verschiedensten Rechtsgebiete, Strafrecht, Eherecht, Testamentsrecht, Lehnrecht und Schuldrecht, erstrecken. . . . Schon die veröffentlichten Konsilien zeigen nicht nur die Vielseitigkeit, sondern auch das Geschick Sichards in der Lösung schwieriger Rechtsfragen. In kompliziert liegenden Lebensverhältnissen weiß er die entscheidenden Fragen kurz und klar herauszuheben und zu lösen, ohne viel gelehrten Prunk, freilich durchaus unter Verwendung römischen Rechtsdenkens und römischer Rechtssätze. Noch mehr jedoch als die private Gutachtertätigkeit für Dritte nahmen Sichard die Aufgaben in Anspruch, die ihm sein Herzog selbst stellte. Von den amtlichen Missionen in Speyer und Augsburg, mit denen er betraut wurde, war schon kurz die Rede. Fortlaufend hatte er als herzoglicher Rat Gutachten über staatsrechtliche Fragen aller Art zu erstatten, oft über recht heikle Dinge, welche die Herzöge Ulrich und Christoph (seit 1550) persönlich nahe berührten. Des letzteren Vertrauen genoß Sichard in stärkstem Maße, ö f t e r s mußte er entscheiden, wenn sich die herzoglichen Räte in Stuttgart nicht einigen konnten. Gutachten auswärtiger Rechtsgelehrten wurden ihm zum Obergutachten vorgelegt, wichtige Entschlüsse des Herzogs ihm unmittelbar mitgeteilt. Insbesondere in dem Rechtsstreit der Herzöge Ulrich und Christoph mit dem römischen König Ferdinand seit 1548, dem sogenannten Felonieprozeß, in dem es sich um das Schicksal Württembergs und seiner Dynastie handelte, übte Sichard eine fort-
Johannes Sichardus
111
laufende und einflußreiche Tätigkeit aus und wurde mehr und mehr der eigentliche Leiter der Verteidigung des Herzogs, wie eine Reihe von Gutachten und der Briefwechsel mit dem Herzog bis zum Jahre 1551 beweisen, die das Stuttgarter Hauptstaatsarchiv verwahrt. Und das, obwohl er sich in einer wichtigen Rechtsfrage des Prozesses mit bemerkenswerter Offenheit für den Herzog ungünstig ausgesprochen hatte, in der Frage nämlich, ob das Delikt des Herzogs Ulrich, die Felonie, seinem Nachfolger Herzog Christoph schaden könne".
II
Die Rechtsstellung der Juden in Württemberg in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts U b e r Schicksale und Rechtsverhältnisse der Juden in Württemberg vom Mittelalter bis zur Emanzipation und bis auf die Gegenwart unterrichtet eine reichhaltige historische und rechtsgeschichtliche Literatur 1 . Für die vorliegende Untersuchung kommt lediglich ihre rechtliche Stellung in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts in Betracht 2 . Während des Mittelalters mußten die Juden in den württembergischen 1 Einen Überblick über das Schrifttum bis zum Ersten Weltkrieg bieten: Paul Tänzer, Die Rechtsgeschichte der Juden in Württemberg 1806—1828, Stuttgart 1922, S. 119 f.; Aron Tänzer, Die Geschichte der Juden in Württemberg, Frankfurt a. M. 1937, S. 174—179. — Walter Grube, Quellen zur Geschichte der Judenfrage in Württemberg, in: Zeitschrift für württembergische Landesgeschidite, II, 1938, S. 117—154, gibt zwar eine nützliche Übersicht über das in württembergischen Archiven befindliche Quellenmaterial, ist jedoch völlig aus nationalsozialistischer Sicht geschrieben. Das gleiche gilt in noch viel stärkerem Maße von der als 32. Band der Darstellungen aus der Württembergischen Geschichte veröffentlichten streng antisemitischen Abhandlung von Ottmar Weber, Die Entwicklung der Judenemanzipation in Württemberg bis zum Judengesetz von 1828, Stuttgart 1940 (besonders S. 17—31), sowie von der in den Veröffentlichungen der „Wissenschaftlichen Akademie Tübingen des NSD-Dozentenbundes" erschienenen Arbeit von Thomas Miller, Zur Geschichte und rechtlichen Stellung der Juden in Stadt und Universität Tübingen, Tübingen 1941. 2 Karl P f a f f , Die früheren Verhältnisse und Schicksale der Juden in Württemberg, in: Württembergische Jahrbücher für vaterländische Geschichte, Geographie, Statistik und Topographie, Jg. 1857, 2. Heft, Stuttgart 1859, S. 157—198 (zuverlässig und noch immer nicht überholt); Hermann Bauer, Israeliten im wirtembergischen Franken, in: Wirtembergisch Franken, Zeitschrift des historischen Vereins für das wirtembergische Franken, 5. Bd., 3. Heft, Jg. 1861, Künzelsau 1861, S. 365—384; Carl Georg Wächter, Geschichte, Quellen und Literatur des Württembergischen Privatrechts, I, Stuttgart 1839, S. 178—189; Selma Stern, Josel von Rosheim, Befehlshaber der Judenschaft im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, Stuttgart 1959, passim. Die ausführlichste (freilich streng judenfeindliche) Darstellung der württembergischen Judenrechtsgesetzgebung bietet Gustav Walcher, Geschichte der Juden in Württemberg in ihrem Verhältnis zum Staat bis 1806, staatswirtschaftliche Diss. Tübingen, Tübingen 1852.
Die Rechtsstellung der Juden in Württemberg
113
Gebieten das gleiche Geschick mit ihren Glaubensbrüdern im ganzen Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation teilen: Ansiedlung und Existenz unter ungünstigen Bedingungen in meist unfreundlich gesinnter Umwelt, zeitweilige Duldung, Verfolgung, Austreibung, Wiederansiedlung, worauf der vitiöse Zirkel von neuem begann 3 . In seiner ersten umfassenden Gesetzgebung, der Landesordnung von 1495, hatte Herzog Eberhard V. (1445—1496) bestimmt, „daß man keinem Juden um den Gesuch oder Wucher richten oder Recht ergehen lassen soll, desgleichen sich keiner mit Verschreibung oder Versetzung seiner liegenden Güter an die Juden leg bei Vermeidung Straf an Leib und Gut". „Allein mit einer solchen Bestimmung konnte wenig geholfen werden", meint der Historiker des württembergischen Privatrechts, Carl Georg Wächter, und fährt fort: „Man mußte entweder den Juden das Recht erteilen, ordentliche Gewerbe zu treiben, sie zur Ergreifung derselben und des Landbaues auf eine wirksame Weise veranlassen, und sie so allmählich zu tüchtigen Bürgern erziehen, oder mußte man das Land ihnen gänzlich verschließen und jedes Geschäft mit ihnen für unverbindlich erklären" 4 . Die zweite Alternative hatte Eberhard V. schon vor Erlassung seiner Landesordnung vorgeschwebt; sie war jedoch nicht zu gesetzlichem Ausdruck gelangt. Der Herzog bestimmte aber in seinem Testament vom 26. Dezember 1492: „Es ist unsere Ordnung und unser letzter Willen, daß fürohin unsere Erben in unserer Herrschaft keinen Juden sich ansässig machen oder ein Gewerbe treiben lassen" 5 . Mit ausdrücklicher Berufung auf diese testamentarische Verfügung verordnete die zweite „Regimentsordnung" vom 14. Juni 1498: „Nachdem die Juden, so Zins und Wucher nehmen, Gott dem Allmächtigen, der Natur und christlichen Ordnung gehässig, verschmäht und widerwärtig, auch dem 3 Guido Kisch, The Jews in Medieval Germany. A Study of Their Legal and Social Status, Chicago, 111. 1949; 2. Aufl., New York 1970; derselbe, Forschungen zur Redits- und Sozialgeschichte der Juden in Deutschland während des Mittelalters, Zürich 1955. 4 Wächter, a . a . O . , S. 183 f., mit Nachweis der Urkunden in A. L. Reyschers Vollständige, historisch und kritisch bearbeitete Sammlung der württembergischen Gesetze, Stuttgart und Tübingen 1828 ff. 5 Ρ faff, a . a . O . , S. 167 ff., auch zum folgenden. Nach dem Privilegium von 1530 konnten die Juden wenigstens auf Bezahlung des Kapitals klagen; siehe Wächter, S. 187.
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Ein unbekanntes Consilium des Johannes Sichardus 1548
gemeinen armen Mann und Untertanen verderblich und unleidentlich sind, so wollen wir zuvorderst Gott dem Allmächtigen zu Ehren, zu Handhabung des vorgenannten Testaments und des gemeinen Nutzens wegen, daß die nagenden Würmer, die Juden, in diesem Fürstentum nicht gehalten werden und daß man auch dessen Nachbarn schreibe, sie ebenfalls nicht zu halten. Wenn dies aber dennoch geschieht und solche fremde Juden den Untertanen für Verpfändung liegender Güter Geld leihen, so sollen derartige Verpfändungen tot und ab sein, es soll darauf nichts erkannt werden und der Gläubiger soll außer dem geliehenen Hauptgut nichts zu fordern haben". Nach Übergang des Landes an Kaiser Karl V. wurden die Bestimmungen über die Verbannung der Juden aus Württemberg 1521, 1529, 1530 und 1541 wiederholt und verschärft. In die Landesordnung vom 20. August 1521 wurde der Zusatz aufgenommen: „Wenn ein Jude durchs Land ziehen will, so muß er beim Zöllner an der Grenze um Geleite ansuchen und darf von der gemeinen Straße nicht abweichen". Zuwiderhandlung wurde mit harter Leibesstrafe bedroht. Alle diesem „Privilegium" zuwiderlaufenden Aussprüche des Kammergerichts, des Hofgerichts zu Rottweil und anderer Gerichte wurden für kraftlos erklärt. Auch Herzog Ulrich (1487—1550) berief sich auf das genannte Privilegium, als er nach Wiedergewinnung seines Stammesfürstentums am l . J u n i 1536 mit der neuen Landesordnung ein Reskript gegen die Juden erließ, gegen diese „nagenden und schädlichen Würmer". So blieb es dabei, daß kein Jude im Lande wohnen, audi keiner ohne besondere Erlaubnis des regierenden Herrn durchwandern durfte. Das war die Rechtslage der Juden in Württemberg zur Zeit, als der bedeutende Rechtslehrer und Konsiliarist an der Universität Tübingen, Johann Sichard, im Hinblick auf einen besonderen Rechtsfall vom Herzog zur Erstattung des nachfolgend erstmals veröffentlichten Rechtsgutachtens aufgefordert wurde. Zum Verständnis der in ihm erörterten Rechtsfragen muß noch folgendes erwähnt werden. In demselben Jahre 1530, in welchem Karl V. das von ihm dem Herzogtum verliehene „Privilegium wegen der Juden und des Verkehrs mit ihnen" bestätigte, erneuerte und bestätigte er nodi ein anderes, jedoch freiheitliches Privilegium, das Kaiser Sigismund den elsässischen Juden im Jahre 1433 verliehen hatte. In diesem wurde ihnen
Die Rechtsstellung der Juden in Württemberg
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neben anderen Begünstigungen freier Umzug von einer Stadt in die andere gestattet und gleich den christlichen Untertanen Freiheit und Sicherheit in Krieg und Frieden gewährleistet. Vorher schon hatte Karl im Jahre 1520 bei der Königskrönung in Aachen die Bestätigung der alten königlichen Judenprivilegien gewährt. Auch dieses Konfirmationsprivilegium wurde von ihm am 18. Mai 1530 in seiner Eigenschaft als römischer Kaiser in Innsbruck erneuert 6 . Schließlich veröffentlichte die kaiserliche Kanzlei am 30. Januar 1548 „ein Privileg für alle Juden des Reichs, in dem Karl ausdrücklich darauf hinwies, daß er durch den ,Befehlshaber der Judenschaft im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation' [Josel von Rosheim] über die böswillige Verletzung ihrer Redite aufgeklärt worden sei. E r verlangte von den weltlichen und geistlichen Fürsten, den Rittern, Herren und Städten, ihr den Handel auf den kaiserlichen Straßen und Märkten zu sichern, ihr Leben und Eigentum zu schützen und ihre Synagogen weder zu versperren noch zu zerstören" 7 . Die Diskrepanz des Inhalts dieser Privilegien, namentlich des zuletzt erwähnten, das den Juden im ganzen Reich Bewegungs- und Handelsfreiheit gewährte, verursachte den Tatbestand und die Rechtsprobleme, die in Sidiards Gutachten dargelegt und juristisdi behandelt werden. Stern, a. a. O., S. 90, 58, 82. Ρ f a f f , S. 182; Stern, S. 190. Das Privileg ist gedruckt bei Ludwig Feilcbenfeld, Rabbi Josel von Rosheim, ein Beitrag zur Geschichte der Juden in Deutschland im Reformationszeitalter, phil. Diss. Straßburg 1898, S. 195 f., Nr. X X I I I ; S. 195 f.: „. . . allen andern unsern und des reichs underthanen und getreuen, in was wirden, stadts oder Wesens die sein, den diser unser brief oder glaubwirdig abschrift davon fürkumt, damit ersucht und ermanet werden, unser gnad und alles guts. . . . Demnach gebieten wir euch allen und euer jedem insonders bei Vermeidung unser und des reichs schwären ungnod und straf und den peenen, in jetz gedachtem unserm schütz, schirm- und glaitbrief und der jüdischen freihalten und privilegien begriffen, von röm. kais. macht ernstlich mit diesem brief und wollen, das ir dieselb unser gem. jüdisch, samentlich und sonderlich bei obbestimten bäpstlicher gemainer concillen, aller unserer vorfarn am reiche und desselben zugethanen fürstenthumben, grafschaften, herschaften, landen, Stetten und gebieten sicher handien und wandlen lasset und darüber ir leib, hab oder güter nicht schediget oder belaidiget, auch in gemaine oder Sonderheit von iren heuslichen wonungen, schulen und sinagogen aigenthätlichs fürnemens nit treibet, noch die zerstöret oder versperret, auch si mit neuem, ungewonlichen zoll und glaitgelt und sonst in ander weg wider alt herkommen, recht und billichait nit beschwäret, dringet oder staigert, noch jemands andern zu thun befelhet, schaffet oder g e s t a t t e t . . .". 6 7
III Veranlassung, Inhalt und Würdigung des Gutachtens E i n e zeitgenössische Aufschrift auf dem Umschlag aus gleichem Papier wie das für das Gutachten verwendete faßt seinen Inhalt wie folgt zusammen: „Doctor Johann Sicharden bedenckhen, an securitas sit danda Judaeo remisso et an privilegia Judaeorum nova tollant Vetera ducatus Wirttenbergensis. Mense Novembris 1548". In dem Gutachten ist die Reihenfolge der behandelten Rechtsfragen allerdings umgekehrt: zuerst wird das Problem erörtert, ob die alten württembergischen Privilegien über die Fernhaltung der Juden vom herzoglichen Territorium durch die jüngste kaiserliche Gesetzgebung, durch welche ihnen Bewegungs- und Handelsfreiheit im Reich gewährt wurde, aufgehoben würden. Die Untersuchung der anderen speziellen und individuellen juristischen Frage folgt erst im zweiten Teil des Gutachtens, obwohl sie die erste vermutlich ausgelöst hat. Der besondere Rechtsfall, der offenbar zeitlich und sachlich im Vordergrund stand, betraf einen seinem Gegenstand nach nicht bekannten Rechtsstreit eines mit Namen nicht genannten Juden mit einem Gegner namens Hans Kolblin. Er hatte bereits den fürstlichen Rat beschäftigt und bei geteilten Meinungen unter den Räten doch zu einer Entscheidung geführt. Die mangelnde Einhelligkeit bei ihrem Zustandekommen hatte offenbar die Einholung eines Rechtsgutachtens bei dem nicht nur als Professor der Tübinger Juristenfakultät hochangesehenen, sondern auch als Konsiliaranwalt im allgemeinen und besonders vom Herzog sehr geschätzten Johann Sichard veranlaßt. Seine Argumentation geht von dem in den alten württembergischen Privilegien verbrieften Rechtszustand aus, durch welche den Juden Niederlassung und Aufenthalt im Herzogtum verwehrt waren. Nur auf Grund spezieller Geleitbriefe, durch die ihnen temporärer Aufenthalt und Sicherheit des Lebens gewährleistet werden konnten, durften sie im Fürstentum umherziehen und ihre Geschäfte betreiben.
Veranlassung, Inhalt und Würdigung des Gutachtens
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D i e F r a g e d e r d e r o g a t o r i s c h e n K r a f t der n e u e r e n kaiserlichen G e s e t z g e b u n g b e a n t w o r t e t S i c h a r d in U b e r e i n s t i m m u n g m i t d e n fürstlichen R ä t e n n e g a t i v . A l s einziges A r g u m e n t ausdrücklichen clausula
derogatoria
d i e n t i h m das F e h l e n
einer
in d e m l e t z t e n kaiserlichen P r i v i -
leg v o m J a n u a r 1 5 4 8 . D i e den J u d e n d a r i n g e w ä h r t e
Freizügigkeit
u n d H a n d e l s f r e i h e i t i m g a n z e n R e i c h beziehe sich lediglich a u f solche G e b i e t e , die nicht v o n a l t e r s h e r m i t S p e z i a l p r i v i l e g i e n
gegenteiligen
I n h a l t s b e g a b t seien. M i t dieser einfachen juristischen E r w ä g u n g w i r d die R e c h t s f r a g e v o n S i c h a r d entschieden o h n e sonstige
Begründung,
o h n e H i n w e i s a u f a n d e r e G e s e t z e , ähnliche ä l t e r e F ä l l e o d e r a n a l o g e Entscheidungen. Die andere —
spezielle —
R e c h t s f r a g e scheint juristisch k o m p l i -
z i e r t e r g e l a g e r t z u sein. V o m z u g r u n d e l i e g e n d e n T a t b e s t a n d l ä ß t sich aus d e m G u t a c h t e n n u r erschließen, d a ß d e r J u d e einen R e c h t s s t r e i t vor
dem
hatte,
was
(kaiserlichen) auch
für
Hofgericht
andere
Fälle
zu
Rottweil
urkundlich
anhängig
bezeugt
gemacht
ist 1 .
Dieser
R e c h t s s t r e i t w u r d e v o m H e r z o g jedoch „ a v o z i e r t " , das h e i ß t f ü r die eigene u n m i t t e l b a r e fürstliche G e r i c h t s b a r k e i t r e k l a m i e r t . D a s
Hof-
1 Vgl. z. B. Renate Overdick, Die rechtliche und wirtschaftliche Stellung der Juden in Südwestdeutschland im 15. und 16. Jahrhundert, jur. Diss. Freiburg i. Br. (Konstanzer Geschichts- und Rechtsquellen, Bd. X V ) , Konstanz 1965, S. 81 und Anm. 270; Georg Grube (weiter unten), S. 46. Die neuere Literatur zur Geschichte des Hofgerichts zu Rottweil ist unter kritisdier Betrachtung der älteren nachgewiesen bei Heinrich Glitsch und Karl Otto Müller, Die alte Ordnung des Hofgerichts zu Rottweil, Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, germ. Abt., 41, 1920, S. 282 f.; vgl. ferner über den Kampf zwischen Württemberg und dem Hofgericht zu Rottweil Theodor Knapp, Das württembergische Hofgeridit zu Tübingen und das württembergische Privilegium de non appellando, daselbst, 48, 1928, S. 104 ff. — Erst nach Vollendung dieser Studie kam die neueste umfangreiche Abhandlung zur Geschichte des Rottweiler Hofgerichts mit reichhaltiger Bibliographie zu meiner Kenntnis: Georg Grube, Die Verfassung des Rottweiler Hofgerichts (Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg, Reihe B, 55. Bd.) Stuttgart 1969. Die Zuständigkeit des Rottweiler Hofgerichts für die Juden ist in ihr jedoch nur flüchtig berührt (S. 46). — Ober die Unterwerfung der Juden unter die Jurisdiktion des Rottweiler Hofgerichts siehe den Erlaß Friedrichs I I I . vom 28. April 1460 bei Jose} Kohler, Urkundliche Beiträge zur Geschichte des bürgerlichen Rechtsganges, I : Das Verfahren des Hofgerichts Rottweil, Berlin 1904, S. 40 f. Dieser Verfügung gemäß durften sich die Juden durch „ihr eintrage und abvorderung" der Rottweiler Jurisdiktion nicht entziehen. Vgl. dazu Werner Scharlowski, Die zivilprozeßrechtliche Stellung der Juden in Deutschland während der Neuzeit, jur. Diss. Tübingen, Tübingen 1964, S. 29. Anders geschah es in dem vom Rechtsgutachten behandelten Rechtsfall.
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gericht „deferierte der Avokation mit gebührlicher Remission"; mit anderen Worten, das Hofgericht überließ die Entscheidung des Falles der unmittelbaren fürstlichen Gerichtsbarkeit. Aus diesem Vorgang ergab sich die Rechtsfrage, ob für den Landesherrn als nunmehrigen Gerichtsherrn die Verpflichtung bestehe, dem Juden einen persönlichen Geleitbrief zu gewähren, damit er sein Redit vor der neuen Instanz wahrnehmen könne, oder ob es genüge, anstatt dem Juden persönlich, einem — vermutlich christlichen — Anwalt desselben die Wahrung der Rechte jenes zu ermöglichen, wodurch das alte Privilegialrecht der Fernhaltung von Juden vom herzoglichen Territorium gewahrt und kein Präzedenzfall geschaffen werden sollte. Sichards Entscheidung geht dahin, daß der Herzog rechtens verpflichtet sei, „den Juden für seine Person zu und von dem Rechten genugsam zu vergeleiten". Die Begründung des Gutachters lautet: „Denn das ist nach gemeinem Recht rechtens, daß jeglichem, er sei Christ oder Jude, erlaubt ist, sich allenthalben in Sicherheit zu bewegen, um seine Angelegenheiten rechtlich wahrzunehmen". Diese Berechtigung sei jedoch durch die dem Herzogtum gewährten Spezialprivilegien, Juden von seinem Lande fernzuhalten, modifiziert. Sie bestehe nicht für Juden, „die freiwillig und nach ihrem Belieben", das heißt aus eigenem Entschluß in Württemberg umherziehen wollen. Anders liege der Fall jedoch, wenn Juden durch fürstliche Verfügung und „iussu iudicis" vor dem angeordneten Gerichtsstand zu erscheinen genötigt wären. Das Ausschließungsprivileg habe auf sie keine Anwendung. Wie der Jude „légitimant personam standi in indicio zu Rotweil" gehabt habe, so müsse er dasselbe Recht auch vor dem durch die fürstliche Avokation begründeten neuen Gerichtsstand haben, freilich nicht kraft seiner Eigenschaft als Jude, sondern als Folge der verfügten Avokation und Devolution des Rechtsfalls an das fürstliche Rätegericht in Stuttgart, das an die Stelle des Rottweiler Hofgerichts getreten sei. Ist daher der Jude, ohne Geleite zu begehren, vor der fürstlichen Kanzlei erschienen, so hat er sich nicht strafbar gemacht. Hat er „zum Überfluß" um Geleite angesucht, so kann ihm die Erteilung desselben füglich nicht abgeschlagen werden. Dadurch werde keineswegs ein Präjudiz geschaffen. Bei scharfer juristischer Betrachtung vermag die sehr vereinfachte Entscheidung der ersten Rechtsfrage durch Sichard wenig zu befriedi-
Veranlassung, Inhalt u n d W ü r d i g u n g des G u t a c h t e n s
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gen. Sie entspricht weder dem Wortlaut, noch auch dem Geist des allgemeinen, vom Kaiser den Juden im ganzen Reich verliehenen Privilegiums, welches sich als „Gebot" an alle weltlichen und geistlichen Fürsten des Reichs wendete 2 . Um so beachtenswerter erscheint die Lösung des zweiten Rechtsproblems aus der Sicht des Juristen Sichard. Er läßt sich ausschließlich von juristischen Erwägungen leiten. Trotzdem kann nicht ausgeschlossen werden, daß auch er in den Vorurteilen seiner Zeit gegen die Juden befangen gewesen sein mag wie seine illustren Zeitgenossen Erasmus und sein Lehrer und Freund Ulrich Zasius. Anders als dieser aber ließ sich Sichard in seinem juristischen Urteil von keinerlei nichtjuristischen Motiven oder Empfindungen beeinflussen. Sein Hinweis, daß die Entscheidung der zweiten Rechtsfrage zugunsten des Juden nicht auf dessen Eigenschaft als Jude zurückzuführen sei, muß nicht notwendig auf ein antijüdisches Sentiment oder das Bestreben, dem Willen des Landesherrn entgegenzukommen, schließen lassen. Vielmehr wirkt die Argumentation, daß der Jude nicht freiwillig das fürstliche Territorium betreten habe oder aufsuchen wolle, sondern lediglich durch die Avokation seines Rechtsfalls unmittelbar vor das fürstliche Gericht dazu gezwungen worden sei, durchaus überzeugend. Deshalb spricht ihm Sichard geradezu das Recht auf Gewährung des fürstlichen Geleits zu und verneint eine etwaige Straffälligkeit. Trotz der Aufrollung einer Grundsatzfrage haben wir dem Gegenstand nach kaum einen bedeutenden juristischen, jedoch immerhin einen bemerkenswerten Fall rechtlich-sachlicher Beurteilung vor uns, ähnlich dem juristisch wie politisch viel bedeutenderen gutachtlichen Urteil Johannes Reuchlins über die Rechtsstellung der Juden im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation 3 .
2 Siehe den W o r t l a u t oben, II, A n m . 7. In einem a m 11. August 1 5 5 1 mit den J u d e n geschlossenen „Vergleich" w u r d e ihnen schließlich v o m H e r z o g C h r i s t o p h „aus G n a d e n und nicht aus Gerechtigkeit, auch dem alten H e r k o m m e n und den kaiserlichen Privilegien unnachteilig der Durchzug durch das L a n d ihrer N o t d u r f t nach" bewilligt; doch fiel auch dann das E r f o r d e r n i s eines Geleitmannes oder Geleitbriefes nicht w e g ; siehe Ρ faff (oben, II, A n m . 2 ) , S. 1 7 1 . 3 G. Kisch, Zasius und Reuchlin. Eine rechtsgeschichtlich-vergleichende Studie zum T o l e r a n z p r o b l e m im 16. J a h r h u n d e r t ( P f o r z h e i m e r Reudilinschriften, B d . I), Konstanz 1961.
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Sichards Charakterisierung durch einen seiner modernen Biographen wird durch das vorliegende Gutachten voll bestätigt: „Gerecht, zuverlässig und von sittlicher Integrität, klug und überlegen, frei von jeder Einseitigkeit in weltlichen und religiösen Dingen, fähig, alle Seiten einer Sache zu sehen, sie richtig abzuschätzen und widerstrebende Interessen abzugleichen, wurde er von allen Seiten mit verantwortungsvollen Aufgaben betraut, die er stets gewissenhaft, unparteiisch und erfolgreich erledigte" 4 . 4
So F e i n e (oben, I, Anm. 4), S. 68.
IV Der Wortlaut des Gutachtens D as Manuskript des von Sichard verfaßten Gutachtens, vier Seiten in Folioformat umfassend, befindet sich im Hauptstaatsarchiv zu Stuttgart, Signatur A 56. Β 8.6. Es handelt sich um ein sehr schlecht und flüchtig geschriebenes Konzept. Die zahlreichen Streichungen, Verbesserungen und Einschaltungen erschweren die ohnehin schon sehr schlechte Lesbarkeit. Obwohl nur wenige Worte, deren Fehlen jeweils durch drei Punkte angedeutet wurde, nicht entzifferbar waren, glaubt der Bearbeiter, den bestmöglichen Text hergestellt zu haben. Er ist buchstabengetreu wiedergegeben. Allein das vokalische ν und w wurde der besseren Lesbarkeit halber im Druck durch u ersetzt. Die Interpunktion, Satzteilung oder Satzverbindung und Anbringung von Absätzen wurde dem Sinn gemäß gestaltet. Die vom Gutachter vorgenommenen Streichungen blieben unberücksichtigt. Auf das Gutachten, das bisher weder gedruckt noch rechtshistorisch gewürdigt wurde, ist der Bearbeiter durch die Erwähnung bei Gustav Mandry aufmerksam geworden 1 . Nach Auskunft der Direktion des Stuttgarter Hauptstaatsarchivs hat sich eine Reinschrift nicht erhalten. Auch ist es in die umfangreiche Konsiliensammlung, die nach Sichards Tode veröffentlicht wurde, 2 nicht aufgenommen worden. Die vorliegende erstmalige Veröffentlichung erfolgt beinahe zwei Jahrzehnte nach dem Erscheinen der Monographie des Bearbeiters Johannes Sichardus als Basler Rechtshistoriker, in der das Gutachten damals nicht Raum finden konnte.
E d e l , ehrwirdig, ernvest, hochgebort, gunstig, gebittend Ewr V., Wurde und gunst sye myn willig dinst zuvor! 1 !
Mandry (oben, I, Anm. 1), S. 44. Oben, I, Anm. 2.
hern!
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Eurs eur V. wurd und gunst vermog ains fürstlichen bevelchs deshalb an mich jungst gesunnen hab ich alles inhalts vernommen und neben den fhall, der sich diser zeyt in der judschen remission zutregt, dises furstenthumbs Wirtenbergs und dan der juden fryhytten auch volgends ewer myner hern der fürstlichen rhatten bedencken erwogen. Und wiewol dasselbig zerthylt und nit eynhellig gewest, so ist es doch dermassen gesteh, das ich es in synem fhall nit wüste zu verbessern. Dan so sich uff disen tag begebe, das ein jud wolte im furstenthumb und sunderlich daren wandren, so hett ich gentzlich darfur, er muste darzu sonderlich geleyt und sicherheyt haben. Und werden inen die gemeyne fryheyten, so erstlich zue Regenspurg und dan wider dises furstenthumbs alte und special fryhytten uff verschynem rychstag zue Augspurg der Judenschaft sein gegeben worden, nit furtragen, dan die selbige der Juden genant fryhyten haben khein clausulam derogatoriam specialium precedentium privilegiorum. Aber hynwyder findt idi wol, das die special fryheytten, so dem furstenthumb sein vor vyl jaren geben worden, alle notturftige clausulas motus p r o p r i i . . . und darzu derogatorias habe aller gemyne und sondrliche itziche und khunfftige Satzungen, Ordnungen || alt fryhyt anbedacht der judschn fryhytten, auch alles anders, das wyder dise fryhyt, begnadigung und gäbe im gemynen oder sonderlich von romischen khysern erlangt, geordnet oder furgewendt mochte werden. Deshalb dunkt mich, obglych die kheyserliche Majestät, unser allergnedigster herr, die judischyt mit eynem gemynen privilegio begapt, also das sie furohin durch alle furstenthumb sicher mit iren lyben, haben und guttern wandren mögen, dass solchs verstanden worden von den furstenthumben, die nit darfur sonderlich und in specie von alter her gefryet. Wa aber ain furstenthumb zuvor d a r f u r were in specie gefryet, wie das furstenthumb wirtenberg ist, das dise Judischet general fryhyt derwydr nichs wircken und vyl weniger dasselbig ufFheben möge, und bleibt also dis furstenthumbs special alt fryhyt anbedacht dr judschen general nuw fryhyten in allen crefften und wird, wie weyt sich aber gemelt dises furstenthumb f r y h y t s t r e c k , . . . dan allain das wandren den juden verbotten, idest ne versentur in ducatu. Und ob damit auch ain schlichter durchzug inen den juden verbotten sein, ist von unnotten itzundt zue disputiren, und erfundt sich auch aus
Der Wortlaut des Gutachtens
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gemelts privilegii praefatione, quae plerumque causam finalem privilegii ostendit, erschynt. U n d ist uff diesen tag nit die frag, wie es soll mit den juden, so im furstenthumb vermög irer benempten fryheytten wandren wolten, gehalten werden, sonder so ain rechtliche juden handlung were von Rotwyl durch meynen gn.f. und h. avocirt, und das rotwylisch hoffgeridit deferirte der avocation mit geburlicher remission, wie itzundt geschehen, und solchs die fryheytten und vertrag vermögen. O b man dan in disem fhall den remittirten juden Sicherung und gelyt ufi sein person zue und von dem rechten zu geben schuldig, oder ob es genug syhe, das man || am ehesten an syner stat als syne anwaldt verglytte, und muste der jud daran hebig und benugig sein etc. U n d wie wol es uff bydt wese allerly bedencken hat, wie solichs myne h. die fürstliche rhate wol bedacht, so lass ich mir dodi der hern rhatten meynung gefhallen, die dahin geschlossen, das mein g. f. u. h. dem recht nach schuldig seyhe, den juden für sein person zue und von dem rechten gnugsam zu verglytten. Den das vermag das gemyn recht, das menglichem, er syhe Christ oder J u d , erlaubt ist, das er möge allenthalb sicher und seyner gelegenheyt nach wandren. So nun dis furstenthumb wyder gemyne recht vor den juden gefreyet, also das sie one verglyttens drynen nit sollen noch dorfen wandren, so muss volgen, dass solche fryhytt musse eingezogen und restringirt werden; also das es allein werdt verstanden von den juden, die freywillig und nach irem gefhallen, idest voluntarle wolten in disem furstenthumb wandren, das solchs inen verbotten, und das alsdan solchs ine verbotten werte. Aber denjhenigen, so auss getrungner not uff anruffen meins g. f. und h. und volgends iussu iudicis remittierten, musten im furstenthumb, idest in loco remisso wandren, were mit disem privilegio nichs benommen. N e secundum unum Privilegium oponentur duo specialia, contra ius idest, quod non est dicendum. Es ist auch sonst dem rechten und billikhyt gemess, do so ain sache werdt vor aynem geriditstab abgefordert, und es volge daruff ein remission, das dieselbig remission geschehe cum omnibus circumstantiis et qualitatibus, wie sie zuvor were angefengt. N u n ist aber zwischen dem j| juden selbs personlich und Hansen Kolblin die rechtvertigung zu Rotwyl angefangt und getryben worden, eben die selbig ist uff meins g. f. und h. avocation remittirt worden, so muss ja
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volgen, dass wie der jud legitimam personam standi in iudicio zu Rotwyl gehept, also muss er itzundt propter remissionem factam cum omnibus suis circumstantiis, qualitatibus et appendicibus in furstenthumb auch legitimam personam standi in iudicio nit von syner person wegen, sonder propter remissionem petitam et obtentam. Et ideo iudicium, quod nunc coram illustrissimi principis mei consiliariis Stutgardie vel alibi in ducatu celebrabitur, vocabitur surrogatum iudicio Rotwylensi, quo casu ortum est, surrogatum debere sapere naturam et conditionem surrogantis. Ich hette auch darfur, so diser jud uff die geschehen remission khains gelyts begert het und doch were der remission personlich nochkhummen, im furstenthumb und vor der fürstlichen cantzly erschynen, er het nichts wyder des furstenthumbs fryhyt gehandlet, man mochte inen darumb vermog der fryhyt nit straffen. [Es folgt ein lateinischer Einschub, der weder nach der Photokopie noch nach dem Original zu entziffern war.] Diewyl aber audi der jud in sua et propria persona und zu Uberfluss, wie mich dunkt, ains glydes begert, khan mans ime mit fugen nit wol abschlagen und tregt dis sein beger so nit uff ime, das er andern zum exempell damit konte bekhomen, das der juden jungst ausgepracht Privilegium gegen disem furstenthumb und des alte fryheytten. Dis hab ich Ewer V. erw. und gunst uff derselben begern gutter meynung et salvo iudicio rectiore nit verhalten sollen, denen ich zu dienen nach allen mynem vermögen alzyt willig und bereyt bin. Datum 2. Novembr. An. [15]48. Ewer V., erw. und gunst williger Joh. Sichardus.
ZWEITER
NEU B E A R B E I T E T E
TEIL
ABHANDLUNGEN
I
Bonifacíus Amerbach Gedenkrede anläßlich der vierhundertsten Wiederkehr seines Todestages gehalten am 20. Juni 1962 in der Alten Aula des Museums zu Basel
* Erstmals veröffentlicht als 47. Heft der Basler Universitätsreden, Verlag Helbing & Lichtenhahn, Basel 1962.
Bonifacius Amerbach
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Herr Regierungsrat, Vir magnifice, vir spectabilis, Hochansehnliche Versammlung.
D ie vierhundertste Wiederkehr des Tages, an dem ein bedeutendes Mitglied des Basler Erasmuskreises aus dem Leben schied, würde es allein rechtfertigen, seinem Wirken ein ehrendes Gedenken zu widmen. Freilich leuchtet der Name des „Rechtsgelehrten" Bonifacius Amerbach in der Geistesgeschichte des Reformationszeitalters nicht so hell wie die großen Gestirne, von deren Glanz er angestrahlt wurde, Erasmus, Melanchthon, Oekolampadius, Andreas Alciatus, Ulrich Zasius. Er war nicht eine jener Gestalten, die mit energischer Hand bewegend oder hemmend in die Ereignisse seiner Zeit eingegriffen haben. Sein war vielmehr nur das Leben und Wirken eines bescheidenen Gelehrten. Allzu große Bescheidenheit war die einzige Schwäche, die Erasmus an ihm zu finden glaubte, indem er ihn „immodice modestus" nannte. Aber seine Bedeutung ragt doch über das in seinen Tagen Gewöhnliche weit hinaus. Obwohl Amerbach selbst niemals davon geträumt hat, sei es in der Wissenschaft, sei es gar in der Politik eine führende Stellung einzunehmen, sind die Spuren seiner Erdentage bis in unsere Zeit nicht vergangen. Denn ihm vor allem, neben Erasmus von Rotterdam, hat es die Stadt Basel zu danken, daß sie seit dem 16. Jahrhundert als Pflegestätte und Mittelpunkt des Humanismus gepriesen wird, daß „der Ruhm des Ortes im Munde Unzähliger an allen Enden der Welt lebendig geblieben ist und in Basel selbst das Gefühl dieser Höhe der Zeit" empfunden wird, wie Rudolf Wackernagel in seiner prachtvollen Schilderung der großen Jahrzehnte Basels schreibt. Es ist das Zeitalter des Humanismus, das heißt jener Weltanschauung, die nach dem Bildungsideal der griechisch-römischen Antike mit ihrer Idee des freien Menschentums den Geist und das Lebensideal der abendländischen Völker ausrichten will, den Menschen und die rein menschlichen Eigenschaften zur freien Entfaltung zu bringen trachtet und dadurch in Gegensatz tritt zur Unfreiheit der mittelalterlichen Scholastik und Mystik, zu den Bindungen der Kirchen und des Mönchtums, zur Engherzigkeit und zum Formalismus einer
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verknöcherten Tradition, die alle sie zu überwinden strebt. Auf dieser anthropozentrischen Lebenslehre beruhen die meisten modernen Vernunftsysteme und Weltanschauungen, auch alle auf die Freiheit des menschlichen Geistes eingestellten philosophischen Richtungen des ideellen Liberalismus, die heute in schroffem Gegensatz stehen zu den Auffassungen und Ausartungen gegenteiliger Lehren und gegensätzlicher Systeme, wie sie in den totalitären Denkbereichen herrschen. In Basel war der Boden f ü r die Geistesbewegung des Humanismus, f ü r diese damals neue Welt- und Lebenssicht, schon f r ü h vorbereitet. Bereits die Gründung der Universität mit Privilegium des Humanistenpapstes Pius II. im Jahre 1460 war ein Zeichen der humanistischen Morgenröte. Die Wirksamkeit des Erasmus und seines Kreises, der sodalitas Basiliensis, bildete in den ersten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts dann einen Höhepunkt, und Basel wurde dadurch das europäische Zentrum der humanistischen Geisteshaltung, die alle Wissenschaftsgebiete, die Jurisprudenz eingeschlossen, in ihren Bann zog. Bonifacius Amerbachs Anteil an der verschiedengestaltigen Entwicklung des geistigen Lebens in dieser Stadt mit der weit über ihre Grenzen hinausreichenden Bedeutung hat trotz mancher wertvollen Ansätze nodi keine abschließende historische Gesamtwürdigung gefunden. U m so angelegentlicher ist der Universität und vor allem der Juristischen Fakultät das nobile officium bewußt, anläßlich der Vollendung des vierten Jahrhunderts seit seinem Tode am 25. April 1562 Lebensgang, Werk und Bedeutung eines ihrer verdienstlichsten Mitglieder, eines der bedeutendsten Söhne und Bürger der Stadt Basel in Erinnerung zu bringen. Mir ist es eine besondere Ehre, aus diesem feierlichen Anlaß, von dieser Stelle, zu dieser hochansehnlichen Versammlung sprechen zu dürfen. Bekanntlich liegt es im Wesen der Kunst, daß sie in körperlicher Gestalt das Leben des Geistes darstellt. Bonifacius Amerbachs Gestalt tritt wohl allen Anwesenden deutlich vor Augen, wenn sie sich das prächtige, lebensvolle Porträt des vierundzwanzigjährigen Jünglings von Hans Holbeins des Jüngeren Meisterhand ins Gedächtnis rufen, das als hervorragendes Prunkstück das Basler Kunstmuseum ziert. Im Begriffe, sich zu längerem Studium nach Avignon zu begeben, wo — wie so o f t in jener Zeit — die Pest wütete, ließ sida Amerbach 1519 f ü r seine Geschwister porträtieren, da er nicht wußte, ob er je heim-
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kehren werde. Es gibt nodi zwei Altersbildnisse von weniger hervorragenden Künstlern, das eine, auf 1551 zu datieren, das sich — früher im Basler Justizdepartement — jetzt im Kunstmuseum befindet, stammt von einem weiter nicht bekannten sdilesischen Studenten Christof Roman; das andere, ebenfalls im Kunstmuseum, von Jakob Clauser zeigt die Jahreszahl 1557. Somit verdanken beide Bilder ihre Entstehung ebenfalls bestimmten äußeren Anlässen, nämlich den Jahren, in denen der Sechsundfünfzig- beziehungsweise Zweiundsechzigjährige zum vorletzten und letzten Male das f ü n f m a l innegehabte Rektorat der Universität bekleidet hat. Nach der Schilderung eines jüngeren Zeitgenossen, des bekannten Basler Polyhistors Heinrich Pantaleon, war Bonifacius Amerbach „ein langer gerader Mann, mit einem lieblichen Angesicht, ohne Bart" (das Holbeinsche Bild zeigt ihn bekanntlich mit Vollbart). „Er gebrauchet sich", so heißt es weiter in Pantaleons Heldenbuch, „einer dapfferen ernstlichen Red, und trat in einem langen Kleid züchtig daher. Er forchte Gott, liebet den nechsten und erzeiget sich miltigklich gegen den armen, vorab gegen diesen, so gestudieret." Nach seinem ersten Biographen verband sich in seiner Gestalt „Würde mit Anmut. Aus dem seelenvollen Auge, das unter etwas vorspringender Stirn zurücktrat, blitzte nicht wildes Feuer, sondern ergoß sich ein mildes Licht, das ein Abglanz einer tiefen Innerlichkeit und einer geistigen Harmonie zu sein schien". Diese Beschreibung, gestützt auf die Bildnisse und zeitgenössische Nachrichten, scheint der Wirklichkeit und Wahrheit näher zu kommen als die Interpretation des Kontrastes der Amerbach-Porträts durch zwei namhafte moderne Kunsthistoriker, die „aus dem alles versprechenden, von der Flamme der Geistigkeit durchleuchteten Jüngling" des Holbein-Bildes einen „tragisch berührenden" „trüben Greis" werden läßt, „dessen Ehrgeiz sich dabei beruhigen mußte, eine lokale Größe zu sein". Daran ist nur richtig, daß Amerbach wie jeder Mensch mit zunehmenden Jahren leidend, bisweilen ernstlich krank w a r ; auch schwere Lebenserfahrungen sind ihm nicht erspart geblieben: im besten Mannesalter verlor er seine Frau, er mußte zwei jugendliche Töchterchen, eine Schwiegertochter und ein Enkelkind begraben; die K ä m p f e um die Basler Reformation und die politischen Zustände lasteten zeitweise schwer auf ihm. Aber nichts in seiner angestrengten Arbeit und in seinem ein Leben voll ausfüllenden Werke deutet dar-
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auf hin, daß diese Vorgänge seine Kräfte in ungewöhnlichem Maße oder vorzeitig verringert und sein Gemüt umdüstert hätten. E r liebte Musik, die in seinem Hause gepflegt wurde. Nach den Erbinventaren besaß er eine Laute, eine Harfe und mehrere Klavichorde. Als junger Mensch hat er selbst gern Lieder zur Laute gesungen. Ein starker Glaube, der sich auf Gottes Güte und Weisheit verließ, bewahrte ihn vor allem Hadern mit dem Schicksal. All dies, ja Amerbachs Leben und Wirken in seinem ganzen Verlauf, fast von der Wiege bis zum Grabe, kann aus der in der Universitätsbibliothek erhaltenen Korrespondenz der drei Amerbach-Generationen ersehen, sein und seines Geschlechtes Lebensgang und Charakterbild in allen Einzelheiten studiert werden: angefangen vom Vater Hans, der den ursprünglichen Namen Welcker mit dem seines Herkunftsortes Amorbach vertauschte, dem aus der Geschichte des Basler Frühdrucks bekannten gelehrten Besitzer einer bedeutenden Druckerei, der zusammen mit Johannes Frobenius zu Weltruhm gelangte, über Bonifacius, den Basler Professor der kaiserlichen Rechte und Stadtsyndikus, bis zu seinem Sohne Basilius, dem Nachfolger in der Professur und Fortsetzer seiner Bestrebungen und Sammlungen, mit dessen Tode der Mannesstamm erlosch. Zweitausendsechshundert Briefstücke, die beinahe ebenso viele eng bedruckte Seiten füllen, in fünf umfangreichen Bänden, denen mindestens noch drei folgen sollen, sind durch den allzu früh dahingegangenen ausgezeichneten Bearbeiter Dr. Alfred Hartmann in einer mustergültigen Ausgabe der Forschung erschlossen worden. In diesem epistolographischen AmerbachNachlaß ist die geistige Atmosphäre der Glanzperiode Basels in der Humanistenzeit eingefangen, aus welcher der Name Amerbach nicht wegzudenken ist. Die humanistische Gelehrtenrepublik des 16. Jahrhunderts bildete ein universales Reich des Geistes. Sie besaß ihre Provinzen mit besonderen Mittelpunkten, Verbindungslinien und Treffstellen. Die Lehrund Wanderjahre führten Amerbach in solche, zuerst nach Freiburg zu Ulrich Zasius, sodann zu langem Studium nach Avignon zu Andreas Alciatus und Franciscus de Ripa, bis er zu dauerndem Aufenthalt ins Basler Zentrum zurückkehrte, wo er selbst nachmals einen Mittelpunkt bildete. Lehrer, Kollegen, Schüler der Universität, Geistliche, Musiker, Drucker, Gelehrte, Poeten aus der Heimat wie aus
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nahen und fernen Pflegestätten humanistischer Studien traten mit ihm in menschlich nahen, geistig kongenialen und wissenschaftlich ergiebigen Verkehr. Die wissenschaftlichen und persönlichen Bindungen der Studienjahre werden fortgeführt und lebenslang sorgsam gepflegt. Durch neue Begegnungen erweitert sich ständig der Kreis, in dem schließlich kein Name von Rang und Bedeutung in der Gelehrtenwelt der Zeit fehlt. Die Themen der Amerbach-Korrespondenz sind mannigfaltig, wie die Persönlichkeiten der Korrespondenten, sie entsprechen der Verschiedenheit der Gegenstände und Lebenslagen, welche die Veranlassung des Briefwechsels bildeten. Rein wissenschaftliche Probleme, etwa die Erklärung schwieriger Stellen des Corpus iuris, wechseln mit beruflich-persönlichen Fragen, wie Verhandlungen über Rufe in auswärtige Stellungen, nach Polen, Freiburg im Breisgau, Dole und Straßburg, die Amerbach alle ablehnte. Wir lernen die Ansichten eines passiv Beteiligten, eines Laien und Bürgers, über die Tagesfragen der religiösen Neuordnung kennen und erfahren von den inneren Kämpfen, die seiner persönlichen Entscheidung in der Religionssache vorangegangen sind. Die sich immer mehr vertiefende Freundschaft mit Erasmus, Zasius, Cantiuncula, Alciatus und manchen anderen kommt Basel in verschiedenen Hinsichten zugute, vor allem dem Buchdruckgewerbe. Humanistischer Geist bedarf des Druckers; die Druckerei gedeiht an der Stätte humanistischer Arbeit und mit ihr die Tätigkeit des Verlegers. Drucker und Verleger aber waren den Gelehrten nicht nur geschäftlich verbunden; sie hatten Anteil an Sprache und Gehalt der Schriften, die sie publizierten. So war der Buchdruck der unentbehrliche Vermittler humanistischen Geistes, durch dessen starke, die gelehrte Welt beherrschende Position nachmals gerade in Basel trotz zeitweiligen Erlöschens der Universität durch die Wirren der Reformation die Fortsetzung des gelehrten Lebens ermöglicht wurde. Immer wieder wird Amerbach von bedeutenden auswärtigen Autoren um seine Vermittlung bei den Druckern in Anspruch genommen. Im Interesse der Wissenschaft zeigt er sich als unermüdlichen, wenngleich nicht stets erfolgreichen Mittelsmann. Seinem Ansehen und seiner Energie ist es auch zu danken, daß bereits seit 1536 die aus den Basler Pressen hervorgehenden Werke als Geschenke der Universitätsbibliothek überwiesen wurden. Jahr-
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zehnte hindurch bildeten diese den fast ausschließlichen Zuwachs der Bücherei. Wir sehen ferner die eigene Bibliothek des Professors des römischen Redits, dem der Rat auch das Amt des Stadtkonsulenten übertragen hatte, wachsen, durch Geschenke seiner gelehrten Freunde von fern und nah, doch auch durch ständigen Ankauf neuer und alter juristischer Literatur, die er für seine Vorlesungen und Rechtsgutachten benötigte und in aller Welt aufzutreiben bemüht war. Im Laufe der Jahre wuchs sie zu etwa neuntausend Bänden, in manchen Disziplinen mit einem geschlossenen Bestände, namentlich an seltenen Ausgaben der Glossatoren und Kommentatoren des römischen Rechts, der kanonistischen Literatur sowie der juristischen Schriften des 16. Jahrhunderts aus allen Ländern Europas. Seine philosophischen Neigungen fanden besonderen Ausdruck in der Sammlung aristotelischer Schriften im griechischen Original und in lateinischen Übersetzungen mit den zeitgenössischen Kommentaren. Diese ungewöhnlich reiche, mit großer Sachkenntnis und Sorgfalt zusammengebrachte Büchersammlung, ein kostbarer Besitz der Basler Universitätsbibliothek, dient bis auf den heutigen Tag der Wissenschaft und Forschung nicht nur in dieser Stadt, sondern in der ganzen Welt. Denn die Amerbachschen Sammlungen, „Bibliothek, Raritäten und Gemälde", waren auf großzügigen Beschluß von Burgermeister und Rat im Herbst 1661 aus der Hand der Erben für den Preis von 9000 Reichstalern in den Besitz der Stadt Basel übergegangen. Reichen Aufschluß gibt die Korrespondenz auch über Amerbachs Tätigkeit als juristischer Berater der Stadt, auswärtiger Gemeinwesen und Körperschaften, fürstlicher und anderer privaten Klienten, über die Angelegenheiten der Universität, deren unbestrittene Führung ihm nach den Stürmen der Reformation in allen akademischen Angelegenheiten zugefallen war. Er allein, der bereits 1535 von einem Kollegen, Alban Torinus, als unvergleichlicher Camillus für die Restauration der fast zusammengebrochenen Universität bezeichnet wurde, besitzt Autorität gegenüber Rat und Regenz. Als Verwalter der Erasmusstiftung hat er dauernd über die sinnvolle Verwendung der ansehnlichen Gelder zu wachen, deren Gewinnung für Basel — anstatt für Freiburg — Amerbadi ebenfalls zu danken ist. Aus diesem reichhaltigen, zum größten Teil in lateinischer Sprache durch die Amerbach-Korrespondenz überlieferten Material könnte
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ein geschlossenes Lebens- und Zeitbild für das Basler und ein internationales, nicht minder interessiertes Gelehrten- und Laienpublikum gestaltet werden. Dies muß jedoch der Feder eines der Bedeutung der Aufgabe gewachsenen Biographen überlassen bleiben, der sich in nicht allzu ferner Zukunft finden möge. Er wird die menschliche und persönliche Seite nicht übersehen dürfen, die in köstlichen Stücken des Briefschatzes ihren Niederschlag gefunden hat. Denn manche Briefe enthüllen auch die Freuden und Nöte des Alltags und zeigen einen Mikrokosmus voll editen Lebens, „anmutige Nebensächlichkeiten", um wieder mit Rudolf Wackernagel zu sprechen. Nur ein paar Beispiele seien herausgegriffen. Ulrich Zasius will dem jungen Freunde eine gute Heirat vermitteln. „Das Mädchen bekommt", schreibt Zasius, „tausend Gulden in bar als Mitgift. Die Anwartschaft ist glänzend. Der Vater, alleinstehend, da die Mutter schon lange tot ist, besitzt mindestens achttausend Gulden; andere Kinder außer dieser Tochter und einem Sohn hat er nicht. Bedingung ist, daß du den Doktor machst und nach Freiburg ziehst; der Vater kommt audi dorthin, um an Tochter und Schwiegersohn etwas zu haben". Während Zasius bereits den Ehevertrag aufsetzte und der Vater des Mädchens zur Heirat drängte, beharrte der Jurist Amerbach auf einer Frist von drei Monaten und ließ es darüber zum Bruch kommen. Freilich hat er später die ihm von Zasius zugedachte Martha Fuchs doch nach Basel als Gattin geführt. Aus einer anderen ebenso lebensnahen wie amüsanten Gruppe von Briefen: Wie so oft in jener Zeit unterbricht die Pest, jene verheerende Seuche, der die Menschen hilflos gegenüberstanden, das regelmäßige Leben. Sie scheucht Amerbach mit der ganzen Familie im Spätjahr 1538 aus der stattlichen Residenz „Zum Kaiserstuhl" an der Rheingasse in Kleinbasel, welcher die aufeinanderfolgenden Generationen während fast zweihundert Jahren beherbergt hat. Aus dem Zufluchtsort Neuenburg geht eine in der Gelehrtengeschichte wohl einzigartige Korrespondenz hin und her. Der andere Partner ist der in Basel mutterseelenallein zur Bewachung von Hab und Gut zurückgebliebene Famulus, dem ständig Aufträge über gelehrte, vornehmlich aber über hauswirtschaftliche Angelegenheiten zugehen, die er besorgen soll: Einkauf von Papier, Kerzen, Seife, aber auch Weizen, Mandeln, Zimt und anderem; einmal wird er ersucht, eine „guote feisde gans"
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oder ein Rebhuhn aufzutreiben, ein anderes Mal den Pelzrock auszuklopfen, die Blumenstöcke in den Keller zu tragen, Neujahrstrinkgelder zu verabfolgen, die Studierstube einer gründlichen Frühjahrsreinigung zu unterziehen und dergleichen mehr. Doch genug der unterhaltsamen Beispiele und anmutigen Nebensächlichkeiten. Wir müssen zur Hauptsache eilen, dem eigentlichen Thema des heutigen Abends, das Bonifacius Amerbachs juristischem Wirken gelten soll. Trotz mancher anderen Neigungen war dieses zentral in seinem Leben. Schon aus den Tagen, da er sich von Holbein porträtieren ließ, stammt ein Brief, in dem er als die einzige ihm wesensgemäße Stellung diejenige eines juristischen Dozenten oder Konsulenten nennt. Aber bereits vor anderthalb Jahrzehnten hat Eduard His, der sich in seiner literarischen Tätigkeit selbst wiederholt mit dieser interessanten Gelehrtengestalt befaßt hat, bedauernd feststellen müssen: „Die Bedeutung Amerbachs als Rechtsgelehrter ist bis heute leider noch ungenügend erforscht." Unsere Betrachtung hat sich zwei Aspekten zuzuwenden: Amerbachs Tätigkeit als Lehrer und Forscher; und Amerbach als Rechtsgutachter. Uber Bonifacius Amerbach als Dozent — er war zeitweise nicht nur der einzige Dozent des römischen Rechts, sondern lange Jahre auch der einzige Professor der Juristischen Fakultät überhaupt — sind wir durch seine handschriftlich erhaltenen Vorlesungen gut unterrichtet. Freilich ist es nicht so leicht, sich in ihre Lektüre zu vertiefen, da Amerbachs Handschrift fein, klein, verzwickt und — dessen war er sich selbst bewußt — oft bis zur Unleserlichkeit schwer zu entziffern ist. In einzelnen Fällen helfen einmal eine schöne Nachschrift eines Hörers, ein anderes Mal die etwas deutlichere Abschrift eines Amanuensis aus. Hier fehlen jedoch die buchstäblich unzähligen Allegationen, am Rande vor- und nachgetragen, welche für die rechtshistorische Beurteilung von großer Wichtigkeit sind. Vorweggenommen sei, daß eine tiefe und nachhaltige Wirkung auf die Studenten, die man als Lehrerfolg bezeichnet, Amerbach nicht beschieden gewesen ist. Seine Vorlesungen waren äußerst gründlich vorbereitet und sorgfältig ausgearbeitet, vielleicht für den Hörsaal etwas zu gelehrt, für die Studenten jedenfalls zu hoch, zu abstrakt, zu theoretisch wegen seiner kritischen Auseinandersetzung mit den
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mittelalterlichen Autoritäten des römischen Rechts und mit den zeitgenössischen Schriftstellern, zu stark durchsetzt von Zitaten aus den römischen Rechtsbüchern und aus klassischen Autoren, aus der Bibel und griechischen Schriftstellern, namentlich aus Aristoteles' Werken. Trotzdem war Amerbachs Einwirkung auf die Rechtslehre und ihre Methode an der Basler Juristenfakultät von großer, ja entscheidender Bedeutung. Sie hat ihre eigene Geschichte, deren Titel lautet: der Kampf zwischen mos italicus und mos gallicus an der Basler Universität. Es war die Zeit, in welcher nach einer Stagnierung des Wissenschafts- und Unterrichtsbetriebs in der Juristischen Fakultät tüchtige junge Kräfte neuen wissenschaftlichen Richtungen in Lehre und Forschung zum Durchbruch verhelfen wollten. Sie kamen aus der Schule des Ulrich Zasius, der im benachbarten Freiburg eine bedeutende Lehrtätigkeit entfaltete und große Scharen juristischer Studenten anzog. Es waren kurz nacheinander Claudius Cantiuncula und Johannes Sichardus, die als Lehrer des bürgerlichen Rechts in Basel tätig gewesen sind. Sie waren eifrige Vertreter der von Zasius in Deutschland geführten Richtung, welche von Frankreich ihren Ausgang genommen hatte und behauptete, das römische Recht könne nur durch historische und philologische Auslegung für den praktischen Gebrauch der Schweizer Gerichte den zeitgenössischen Bedürfnissen entsprechend anwendbar gemacht werden. Diese „mos docendi gallicus" genannte Richtung bekämpfte den nach Gründung der Universität in Basel heimisch gewordenen und bis dahin traditionell gebliebenen „mos italicus", welcher dieselbe Aufgabe im Anschluß an die überkommenen Lehren der großen mittelalterlichen Juristen Italiens lösen zu können glaubte. In Prinzipien und Methoden, namentlich in der Forderung, die Kommentare auszuschalten und gemäß dem allgemeinen humanistischen Postulat „Ad fontes!" zu den reinen Quellen zurückzukehren, in der Betonung von Philologie und Historie stand jene humanistische Richtung in scharfem Gegensatz zur älteren italienischen Rechtswissenschaft, vor allem zu den Kommentatoren, deren analytischer Exegese die historische Kritik fremd war. Der mos gallicus wendete sich gegen die herkömmliche Jurisprudenz, ihre Verehrung der Autoritäten und scholastische Unterrichtsmethode. Seine Forderungen waren: Rückkehr zur reinen Rechtsquelle statt bloßer
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Anerkennung der Tradition, Erkenntnis der Rechtsidee statt des Autoritätenkultus, System statt Exegese nach der Legalordnung. In der Schule von Bourges unter der Führung des dorthin berufenen Mailänders Andreas Alciatus und des französischen Philologen Gulielmus Budaeus fand die neue Bewegung ihren Mittelpunkt. Durch ihre temperamentvollen Bewunderer, Ulrich Zasius und dessen Schüler, hat Alciatus' und Budes humanistische Richtung und Rechtslehre ihren Weg auch nach Basel genommen. Eine Zeitlang hatte es den Anschein, als sollte der mos gallicus hier für die Dauer zur Geltung gelangen. Aber die Herrschaft der französischen Richtung blieb nicht lange unbestritten und unangefochten. Der Angriff ging merkwürdigerweise von einem anderen Zasius-Schüler aus, der auch bei Alciat studiert hatte. Der Name des streitbaren Kämpfers und ebenso mutigen wie beharrlichen Verteidigers der Persönlichkeiten und Lehren der Glossatoren und Kommentatoren des römischen Rechts ist Bonifacius Amerbach. Seine Äußerungen insbesondere über die Häupter dieser Schule, über Bartolus und Baldus, weisen in eine andere Richtung. Sie liegen in großer Zahl vor und reichen vom Beginn beinahe bis zum Ende seiner akademischen Tätigkeit. Schon vor und gleich bei Übernahme seines Lehramts richtete er scharfe Kritik gegen den Zustand von Rechtsunterricht und juristischer Methodik, den er in Basel vorfand. Nach verschiedenen privaten Kundgebungen seines Unwillens gelangte sie in seiner Basler Antrittsrede im Sommer 1525 kraftvoll zum Ausdruck. Mit flammender Begeisterung preist er in dieser „Defensio interpretum iuris civilis" die Verdienste der Glossatoren um Recht, Rechtswissenschaft und Rechtslehre. Er verteidigt sie gegen jene Undankbaren, „die ohne Glossen und Kommentatoren auf dem Gebiet des Rechts etwas ausrichten zu können glauben". Man wird seine Haltung erst ganz verstehen und würdigen können, wenn man diese akademische Rede im vollen Wortlaut liest. Nur eine Stelle sei hier in deutscher Übersetzung wiedergegeben. „Ein neues Geschlecht von sogenannten Juristen sagt dem Bartolus, dem Fürsten der Rechtswissenschaft, dem Baldus, Paulus de Castro, Alexander von Imola und den übrigen Interpreten des Rechts, ja selbst dem Accursius, jenem bewunderungswürdigen Gelehrten, Fehde an, weil nach ihrer Meinung dieser durch seine Glossen, jene durch ihre, wie sie sagen, endlosen Kommentare und ihre Lehrmei-
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nungen Helles dunkel, Klares verschwommen, Einfaches verzwickt, Sicheres zweifelhaft, Geordnetes chaotisch, Gerechtes aus Gewinnsucht ungerecht machen, und weil sie mit ihrem einfältigen Geschwätz und ihrer unglaublichen Barbarei nicht nur die klassische Jurisprudenz schänden und verhunzen, sondern auch gegen das Kommentierungsverbot Justinians verstoßen; man müsse daher gemäß seiner Vorschrift alle ihre Bücher vernichten, ja sie selbst als Fälscher bestrafen. Ich selber weiß genau, was wir den verehrungswürdigen unverfälschten Responsa der klassischen Juristen und den Reskripten der Kaiser schuldig sind; ich weiß, daß der Rechtsbeflissene sich nach ihnen zu richten hat wie der Steuermann nach den Gestirnen, und idi meine, daß man in allem auf sie als auf das Original zurückgehen muß und von ihnen — soweit es die christliche Religion zuläßt — keinen Finger breit abweichen darf. Wir sollten für ihre Kommentare dankbar sein. Wir werden durch sie unterstützt, nicht erdrückt, belehrt, nicht verwirrt, empfangen von ihnen Aufklärung, nicht Verdunkelung. Die Interpreten machten keine neuen Gesetze, wohl aber lehren sie, wie die neuen Verhältnisse nach Maßgabe der alten Gesetze zu beurteilen sind." „Freilich enthalten die Kommentare sehr verschiedene Auslegungen und Meinungen; aus ihnen erwachsen dem Rechtsbeflissenen aber mehr Vorteile als Nachteile. Denn nur aus der Vergleichung verschiedener Ansichten lernt man den Sinn der Gesetze und die Wahrheit erkennen." Auch die Praxis könne ohne die Kommentare der großen Juristen nicht auskommen. „Die Doctores", fährt Amerbach fort, „verteidige idi so: ich glaube, daß sie vieles, was das Latein betrifft, nicht wußten; aber ich kann nicht zugeben, daß sie — wie einige behaupten — ABCSchützen oder Analphabeten waren. Sie trieben Rechtskunde, nicht Latein, waren Juristen, nicht Rhetoren... . Kein Mensch kann bestreiten, daß sie im Recht Hervorragendes leisteten, und darum sind sie zu entschuldigen, namentlich weil die Ungunst der Zeiten hinzukommt. . . . Der Jurisprudenz wird, auch wenn sie in sprachlich etwas unreiner Form dargeboten wird, ihre Würde in nichts verringert." In solcher Weise fordert Amerbach Gerechtigkeit für die Leistung jener Rechtslehrer, die sich durch ihre Werke unvergängliche Verdienste um Rechtswissenschaft und Rechtsanwendung erworben
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haben. Treffend hatte er zur Verteidigung der Doktoren ausgerufen: „Rem iuridicam tractarunt, non latinam, iura civilia, non rhetoricen." Die Arbeit der Juristen des mos italicus war somit eine praktischjuristische, eine rechtsschöpferische. Auch die zeitgenössischen jungen Rechtsbeflissenen sollten zu praktischen Juristen und nicht zu Philologen, Historikern und Rhetoren erzogen werden; das Recht dürfe nicht der wissenschaftlichen Erkenntnis um ihrer selbst willen dienen und der Beziehung zur Rechtspraxis ermangeln. Bei allem Sinn für Wissenschaft und antiquarische Forschung hat Amerbach in dem Widerstreit der Meinungen als erster das vornehmlich praktische, rechtsschöpferische Ziel als wichtigste Aufgabe für Rechtswissenschaft und Rechtslehre etwa sechzig Jahre vor dem Oxforder Professor Alberico Gentili, der ohne Kenntnis von Amerbachs Rede später ähnliche Gedanken ausgesprochen hat, klar erkannt und nachdrücklich betont. Bei dieser Auffassung, mit der Amerbach in den Kampf der Geister um Bartolus und seine Schule in jungen Jahren eingegriffen hatte, ist er zeitlebens geblieben. Immer wieder legt er seinen Hörern das Studium der justinianischen Rechtsbücher mit Glosse und Kommentaren ans Herz. In einem Fakultätsgutachten zur Studienreform, das er im Jahre 1536 erstattete, empfiehlt er das Studium des Corpus iuris in gleicher Weise; nur nebenbei sollen sprachliche, historische und antiquarische Studien betrieben werden. Auch im Briefwechsel mit anderen, Kollegen und Studierenden, die seinen Rat einholten, hat Amerbach immer wieder für Bartolus und Baldus eine Lanze gebrochen. Es hat den Anschein, daß ihm der Erfolg bei Behörden und Schülern nicht versagt blieb. Obwohl das Vorurteil der letzteren nicht leicht auszumerzen war, wurden Bartolus' Werke in Basel studiert, und den Hörern wurde das Gefühl vermittelt, daß ihnen trotz der modernen Lehren die großen italienischen Juristen doch eine Menge zu sagen haben und als Lehrer willkommen sein müßten. Hinzu kommt aber noch etwas anderes. In ebenso emsigem wie intensivem Bemühen hat Amerbach das Studium der griechischen Philosophen schon am Anfang seiner Basler Lehrtätigkeit begonnen und sein ganzes Leben hindurch fortgesetzt. Untrüglich beweisen dies die noch heute im Besitz der Basler Universitätsbibliothek befindlichen Aristoteles-Ausgaben und griechischen und lateinischen Kommentare
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aus Amerbadis Bibliothek. In ihnen haben sich seine Lesezeichen erhalten, und die breiten Blattränder sind übersät mit Bemerkungen von seiner H a n d , namentlich mit den griechischen Textstellen, die er den lateinischen Aristoteles-Ubersetzungen beigefügt hat. Auf Grund des Studiums von Plato und Aristoteles neben dem der römischen Rechtsquellen war Amerbach schon früh zur Erkenntnis gelangt, daß es ein einziges Mittel gebe, um alle durch die Ungunst früherer Zeiten verursachten Nachteile und in Jahrhunderten vermehrten Schwierigkeiten für ein methodisches Eindringen in das Recht zu überwinden und dem wahren Wesen des Rechts auf den Grund zu kommen: das Studium der Philosophie, namentlich der Moralphilosophie. Schon wenige Jahre nach Abfassung der „Defensio interpretum iuris civilis", um 1530, empfiehlt er es seinen Freunden, Schülern, um Rat fragenden Reditsstudenten, und später seinem eigenen Sohn aufs wärmste. „Die Rechtswissenschaft ist ein Zweig der Moralphilosphie", erklärt er; „Erläuterung und Verständnis unserer ganzen Pandekten, ja unserer ganzen Wissenschaft muß man nicht sowohl bei Bartolus und Baldus und ihresgleichen, wiewohl bei ihnen ebenfalls, als vielmehr bei Aristoteles und Plato suchen, aus denen unzweifelhaft auch die Alten das Ihrige entlehnt haben. Die Quellen unserer Wissenschaft entspringen in der Philosophie; wenn man sie nicht dort sucht, kann nichts Ordentliches hervorgebracht werden, vielmehr wird man unter dem Deckmantel der Rechtswissenschaft in verhängnisvoller Weise irren, worauf der junge Celsus aufmerksam gemacht hat. Daher kommt es, daß wir summum ius als summa iniuria bezeichnen hören, daher auch, daß man in den Kommentaren so viele verkehrte Meinungen der Interpreten findet." Daher soll man sich sowohl um die Rechtswissenschaft als audi um die Philosophie bemühen, sofern die beiden überhaupt getrennt werden können. Aristoteles' Ethik und Politik sollen eifrig studiert, auch Piatos Werke über den Staat, über die Gesetze und eine Zusammenfassung seiner Philosophie müssen zur Stärkung des juristischen Urteils herangezogen werden. Schon im Jahre 1535 hatte Amerbach in einem Gutachten über die Ausgestaltung des Universitätsunterrichts die Schaffung eines Lehrstuhls für Moralphilosophie in Basel gefordert. In welchem Kontrast steht diese Auffassung und Einstellung Amerbachs zu der eines großen deutschen Juristen, der dreihundert
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Jahre später lebte und dessen hundertsten Todestages im vorigen Herbst vielerorten gedacht worden ist. In Friedrich Carl von Savignys Juristischer Methodenlehre von 1802 heißt es von der Philosophie, sie sei „auch als Vorkenntnis den Juristen durchaus nicht notwendig. Jurisprudenz an sich kann ebensogut ohne Naturrecht als mit solchem studiert werden. Wer nicht zur Philosophie getrieben wird, der lasse sie liegen". Mit Recht hat zu der Äußerung Savignys Hans Thieme die Frage aufgeworfen, ob diese Abwertung des Bemühens um philosophische Besinnung den jungen Juristen nicht allzu sehr von der Frage nach dem eigentlichen Ziel und Zweck seines Berufes, von der Frage nach der Gerechtigkeit, in einen wertfreien Positivismus ablenken mußte. Gerade das Problem der Gerechtigkeit in der Form der aristotelischen Epieikeia und der römischen Aequitas aber ist das, was Amerbach aufs intensivste beschäftigt hat. Darauf wird noch zurückzukommen sein. Zusammenfassend läßt sich zunächst feststellen: Bonifacius Amerbach hat sich zu eigen gemacht, was er als das Beste der französischen Humanistenschule erkannt hat, dabei aber die Bestimmung der Rechtswissenschaft, praktischer Rechtsanwendung und dem Ideal der Gerechtigkeit zu dienen, wodurch sie dem Staat unentbehrlich ist, nie aus dem Gesicht verloren. So konnte er in seinen Vorlesungen ständig die Glosse und die bedeutendsten Kommentatoren, vor allem Bartolus und Baldus, heranziehen, sich aber ebenso häufig gleichzeitig auf Alciatus, Zasius, Budaeus, ja Valla und Polizian berufen. Das war die Synthese beider Richtungen, in die der Kampf zwischen mos italicus und mos gallicus an der Universität Basel unter der Führung Amerbachs ausklingen konnte. So konnte es trotz der Heftigkeit des Aufeinanderpralls der Meinungen in Basel zu einem Ausgleich im Sinne der goldenen Mitte kommen. Ihn zu erreichen, ist Bonifacius Amerbach gelungen, welcher beide Richtungen zu vereinigen wußte, indem er jeder ihre besten Errungenschaften entnahm. Diese Synthese blieb nicht ohne Bedeutung für Rechtslehre und Rechtsanwendung auf Schweizer Boden, wo es einen Gegensatz zwischen „Juristenrecht" und „Professorenrecht" nicht gegeben hat. Die schweizerische Rechtsgeschichte ist durch den vernünftigen Ausgleich zwischen mos italicus und mos gallicus geprägt worden.
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Den zweiten Aspekt von Amerbachs Leben im Dienste von Recht und Gerechtigkeit bildet seine persönlich umfangreiche, sachlich umfassende und örtlich ausgedehnte Tätigkeit als Rechtsgutachter. Seine juristischen Konsilien, von denen etwa hundertzwanzig teils in Konzeptform, teils als Reinschriften auf der Universitätsbibliothek und im Staatsarchiv des Kantons Basel-Stadt auf uns gekommen sind (leider hat sie niemand zu einer Sammlung zusammengefaßt und publiziert), illustrieren die juristische Auffassung, Methodik, Eigenart und Arbeitsweise ihres Verfassers. Außerdem bieten sie dem rechtshistorischen Betrachter ein buntes Bild von Basels Rechtsleben und Rechtskultur in der Vergangenheit. Lediglich einige Beobachtungen können hier dargelegt werden. Amerbachs Ansehen und Geltung als Rechtsberater beruhte nicht nur auf seinen juristischen Kenntnissen und Qualitäten, sondern war auch durch die Eigenart der Disziplin bedingt, über die Rechtsbelehrung zu erteilen oder Auskunft zu geben er von fern und nah angegangen wurde. Das römisch-gemeine Recht besaß bereits im 16. Jahrhundert neben den spärlichen gesetzten nationalen Rechtsbestimmungen als eine Art internationales Weltrecht in Europa Ansehen und tatsächliche Geltung oder war doch im Begriffe, allenthalben solche zu erlangen. Immer wieder wünschen die Rechtsbelehrung Suchenden, unter denen der Basler Rat als Gerichtsbehörde wohl am häufigsten zu finden ist, Auskunft darüber, wie „nach kaiserlichen geschriebenen Rechten" zu urteilen sei, oder „was gemeine geschriebene Recht statuieren und ordnen". Schon die Tatsache allein, daß man sich an einen „kaiserlicher Recht Doctor", wie Amerbach die Gutachten stets unterzeichnet, und noch dazu an den weit und breit als einen der Bedeutendsten bekannten wendete, sei es, um durch sein Gutachten das Gericht zu beeindrucken, sei es, um sich über die mutmaßliche Stellungnahme des Gerichts zu orientieren, sei es, daß letzteres selbst wie der Basler Rat von seinem Rechtskonsulenten unterrichtet zu werden wünschte, all dies zeigt klar, welche Bedeutung dem römischen Recht bereits in der Praxis beigemessen wurde. Jedermann, der irgendwie mit dem Gericht zu tun hatte, fand es ratsam oder notwendig, den zur Behandlung stehenden Rechtsfall im Lichte seiner Normen beurteilt zu sehen und sich aus authentischer Quelle über sie Kenntnis zu verschaffen.
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Die Rechtsbelehrung erfolgte durch mündliche oder schriftliche Beratung der Klienten. Von der ersteren ist bekannt, daß Bonifacius Amerbach, und später ihm folgend sein Sohn Basilius ebenfalls, einen Vergleich stets einem Prozeß vorzuziehen geneigt waren und daß nicht wenige Rechtsfälle auf ihren Rat durch Schiedsgericht erledigt wurden. Betrachtet man die juristische Struktur der schriftlich erhaltenen gutachtlichen Äußerungen, so gewinnt man die Uberzeugung, daß der Niederschrift eine sorgfältige Erfassung und Prüfung jedes Falles nach der tatsächlichen wie nach der rechtlichen Seite vorangegangen sein muß. Daß eine solche stets in seiner Absicht lag, bringt Amerbach selbst einmal einem Klienten gegenüber zum Ausdruck, um die verspätete Ablieferung seines Gutachtens zu entschuldigen. Dabei bemerkt er, daß er sich der besseren Ansicht anderer Doktoren füge, im übrigen aber seine Meinung zu verteidigen wissen werde. Scheint ihm jedoch der Tatbestand und infolgedessen die Rechtslage nicht klar zu sein, so zieht er es vor, die Erteilung eines förmlichen Gutachtens abzulehnen, und gibt manchmal nur formlos, jedoch nicht minder gründlich Auskunft. Der Aufbau der Gutachten folgt strenger Logik, die übersichtliche Anordnung guter Systematik. In der Regel sind eingangs die Rechtsfragen, auf die es ankam, in knapper Fassung klar formuliert. Bei den juristischen Ausführungen befleißigt sich Amerbach ebenfalls möglichster Kürze und größter Deutlichkeit, welche die Interpretation erleichtern und künftige Anfechtung erschweren sollen. Ihrer sachlich richtigen und auch den besonderen Umständen des Einzelfalles Rechnung tragenden Beantwortung, die natürlich rein objektiv sein sollte, galt vor allem die Aufmerksamkeit und das Bemühen des Gutachters. Um diesen Zweck zu erreichen, werden die Normen des römischen Rechts in doppelter Weise auf ihre Anwendbarkeit geprüft. Zunächst wird untersucht, ob der gegebene Tatbestand unter das römische Gesetz subsumierbar sei, sodann, ob der Anwendung desselben nicht etwa andere Normen des weltlichen oder kirchlichen Rechts im Wege stehen, die selbst auch gewohnheitsrechtlicher Natur sein können. Sich mit Fragen des päpstlichen Rechts ex professo gutachtlich zu beschäftigen, lehnt Amerbach grundsätzlich ab, jedoch nicht ohne sich dann und wann eine Ausnahme von der aufgestellten Regel zu gestatten. In den
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an den Basler Rat gerichteten, sehr förmlich gehaltenen Konsilien wird in den Sdilußklauseln, die in devoter Sprache abgefaßt sind, zuweilen „Ewer Streng Ersam Wisheit" nicht nur die Anwendung des Statutarrechts überlassen, sondern allgemein die Heranziehung des römischen Rechts dem Gutdünken anheimgegeben, „so sy geschribner recht Satzungen nachzevolgen gesinnet". Daraus darf geschlossen werden, daß eine bindende Verpflichtung zur Anwendung der römischen Rechtssätze in Basel damals noch nicht angenommen wurde. In seinen juristischen Argumentationen und logischen Deduktionen verfällt Amerbach auch in den Responsa häufig in die von seinen Vorlesungen her gewohnte lehrhafte Weise. Sie gibt nicht selten Veranlassung zur Erklärung altrömischer Lebensverhältnisse und Rechtseinrichtungen, was zur Vergleichung mit den damals modernen Gegebenheiten führt, um schließlich zu einer Entscheidung über die Anwendbarkeit der doch fremden Normen im Einzelfall, der zur Erörterung steht, zu gelangen. Das Recht und die juristische Denkarbeit einer antiken Kulturperiode sollte den Erfordernissen der zeitgenössischen Gesellschaft angepaßt und nutzbar gemacht werden, durch die sinngerechte Interpretation sollte seine Anwendbarkeit in der Praxis ermöglicht und erreicht werden. Das war schon die Aufgabe und das Bestreben der mittelalterlichen Kommentatoren des römischen Rechts gewesen. Das gleiche Ziel steht vor den Augen des praktischen Juristen des 16. Jahrhunderts, der sich als Schüler jener großen Meister des Rechts bekennt und erweist. Bei allen seinen Erwägungen läßt sich Amerbach nicht etwa wie mancher seiner bedeutenden juristischen Zeitgenossen und Kollegen von starrem oder gar übertriebenem Rechtspositivismus leiten. Bei seiner Tätigkeit als Rechtsberater, namentlich des Basler Rates, steht ihm immer als leitender Gesichtspunkt das höhere Ziel vor Augen, daß „ein erbar oberkeit dem gmeinen gut nochzedrachten und dem eignen furzesetzen inhalt göttlicher, naturlicher und keiserlicher rechten schuldig". Wie ersichtlich, steht das kaiserliche Recht in dieser idealen Rangordnung erst an dritter Stelle. Man wird wohl nicht fehlgehen, Amerbachs Auffassung dahin zu verstehen, daß dieses den beiden anderen zuerst genannten nicht nur rangordnungsmäßig nachgeht, sondern, wo es zur Anwendung gelangt, mit jenen höheren
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Rechtssätzen in harmonischem Einklang stehen oder in solchen gebracht werden müsse. Hinsichtlich des göttlichen Rechts kann hier nur kurz darauf hingewiesen werden, daß die Geltung des kanonischen Rechts nicht nur nicht bestritten, sondern daß diesem in gewissen Rechtsbereichen nach wie vor der Vorrang gegenüber dem römischen Recht eingeräumt wird. Es kann daher nicht überraschen, zumal wenn man die religiöse Persönlichkeit Amerbachs mit in Betracht zieht, daß man in seinen Gutachten auch Hinweisen und Bezugnahmen auf das im Alten Testament niedergelegte mosaische Recht begegnet, dessen Vorbildlichkeit als ebenso selbstverständlich vorausgesetzt wird wie die der ethischen Grundsätze des Evangeliums.
D ie Bedeutung Amerbachs für die Geschichte der humanistischen Jurisprudenz beruht einmal auf seinem Eintreten für das römische Recht und seine mittelalterlichen Interpreten und ferner in der philosophischen Fundierung seiner juristischen Tätigkeit sowohl im Bereich der Theorie als auch der Praxis. Die Diskussion von Methode und Ethik in ihrer Anwendung auf das Recht, in deren Rahmen die früher angeführten grundsätzlichen Äußerungen Amerbachs erfolgten, führte von selbst zur Einbeziehung des Problems der Epieikeia, des bonum et aequum, von dessen Übung die „ars boni et aequi" Namen und Sinn empfangen hatte. Die Anregungen und Gedanken, die Amerbach aus dem Studium der antiken Philosophen schöpfte, fanden ihren Niederschlag nicht nur in der Behandlung der theoretischen Probleme von Recht, Gerechtigkeit und Billigkeit in seinen Vorlesungen, sondern auch durch die Anwendung dieser Lehren in seiner praktischen Tätigkeit als Konsiliaranwalt. Was in den urkundlich erhaltenen Niederschlägen dieser Arbeit immer wieder zum Ausdruck kommt, ist die Schlußfolgerung, daß Gutachter ebenso wie Richter ihrer Tätigkeit stets ius und aequitas zugrunde zu legen haben. Denn wie könnte man sich der aequitas ohne die Basis geschriebener Gesetze bedienen, in deren Materialfülle sich immer ähnliche Fälle werden ausfindig machen lassen, so daß ein willkürliches Sichentfernen von jener gesetzlichen Basis vermieden wird?
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Amerbachs Streben gilt stets der inneren Verbindung und Verschmelzung grundsätzlicher Lehren des römischen Rechts mit den Grundanschauungen des Aristoteles. Freilich handelt es sich bloß um die Befolgung einer bereits von dem niederdeutschen Juristen Johannes Oldendorp aufgezeigten Linie. Oldendorp war nach dem noch immer gültigen Urteil Roderich Stintzings „kein gelehrter Forscher, sondern eine praktisch gerichtete Natur. Die Rechtswissenschaft war ihm für den Dienst des Lebens bestimmt, aber auch die Voraussetzung einer gesunden Praxis". Mit seiner Hilfe hat der ähnlich gerichtete Amerbach eine juristische Synthese vorgenommen und die von jenem ausgearbeitete Formel benützt, durch welche dem Konsiliaranwalt wie dem Richter ein mit genügender Sicherheit beschreitbarer Weg zur Handhabung der neudefinierten Aequitas gezeigt wurde. Er hat ihn selbst in seinen zahlreichen Rechtsgutachten betreten und unentwegt verfolgt. Die Basler Richter, denen er jene Formel immer wieder mit den gleichen Worten wie seinen Studenten klarzumachen bemüht blieb, haben ihm Gefolgschaft geleistet. Leider gestattet es die noch verfügbare Zeitspanne nicht, d a f ü r einige Beispiele aus bisher unveröffentlichten Gutachten Amerbachs anzuführen. Ich muß auf meine Abhandlung „Bonifacius Amerbach als Rechtsgutachter" verweisen. Dort enthüllt sich ein detailliertes Bild davon, in welcher Weise die Basler Rechtsprechung und durch sie die Fortentwicklung des Rechts durch Amerbachs philosophisch-juristische Geisteshaltung in einer Zeit des Kampfes, Übergangs und neuer Gestaltung beeinflußt wurde. Es will scheinen, daß die vorangehenden Darlegungen bereits die wesentlichen Grundzüge aufgezeigt haben. Epieikeia-Aequitas hat bei Amerbach aus der angestrebten Synthese griechischer Philosophie und römischen Rechtsdenkens zweifellos unter Einwirkung der erasmischen Philosophia Christi eine Gestalt empfangen, die über die Enge des aristotelischen Anwendungsbereichs hinausführt, indem sie sich zu einer das gesamte Recht umspannenden rechtlich-sittlichen Haltung erhebt. Sie wird somit gleichbedeutend mit dem, was zutreffend als „sittlich-rechtliche Anständigkeit im Sozialbereich" bezeichnet worden ist. Sie soll zum obersten Ziel der Rechtsanwendung, zur Erkenntnis der Gerechtigkeit hinführen. Dabei hat sich Amerbach von der ausschließlich römisch-rechtlichen Orientierung Oldendorps ferngehalten, durch welche dieser aus der Aequitas ein rein formalistisches Schema
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zur Rechtserkenntnis und Rechtsanwendung gemacht und die ursprüngliche Bedeutung und Funktion der Epieikeia eliminiert hatte. Im Gegensatz zu Oldendorp blieb Amerbadi dank seinem emsigen Bemühen um das Verständnis der aristotelischen Lehre vor Einseitigkeit und mehr technischer Äußerlichkeit bewahrt, ohne doch das römische Recht aus dem Auge zu verlieren. Ja, seine rechtliche und moralische Einstellung führt ihn zu einem Ergebnis, welches dem klassischen römischen Ideal sehr nahezukommen scheint; oder, wie Eduard His es formuliert hat: „Amerbachs selbständige Eigenart als Jurist beruhte vor allem darin, daß er, als Kasuistiker nach dem Vorbilde der klassischen römischen Juristen, von allem Formalismus absah und bei allen strittigen Rechtsfragen neben der Form auch nach der aequitas (der Billigkeit) der Entscheidung fragte." „Ordnet Amerbach das positive Recht, ohne seine Bedeutung zu verkennen oder zu unterschätzen (und wie ich hinzufügen möchte, zu überschätzen), den Gesetzen der ,wahren Philosophie' und der ,ars boni et aequi' unter, so erkennt er die Grenze für diese wiederum in ,den göttlichen Lehren des Evangeliums, vor denen alles Menschliche zu verstummen hat'." Während dem Haupt der französischen Humanistenschule und der Rechtsschule von Bourges Gulielmus Budaeus Rechtsbereich und christliche Philosophie noch als unvereinbare Gegensätze erschienen, ist es Bonifacius Amerbach — ähnlich wie seinem ebenfalls erasmisch orientierten Freunde Claudius Cantiuncula — unter Einwirkung der erasmischen Philosophia Christi gelungen, das Recht theoretisch und praktisch mit der Philosophie und dem Gottesgedanken in harmonischen Einklang zu bringen.
Hochansehnliche Versammlung, W ir stehen am Ende der Betrachtung. Wenn wir aus dieser und aus anderen Studien die Summe ziehen, Amerbach nicht — wie das bei Jubiläen häufig geschieht — vergöttern, sondern aus seiner Zeit, aus seinem Denkbereich und seinem Wirkungskreis würdigen wollen, so wird der vorsichtig angelegte Maßstab zu dieser Erkenntnis führen: Amerbach war keine geniale, zeitbestimmende Persönlichkeit, er hat keine neuen, die Welt, selbst nur die Rechtswelt, umgestaltenden eige-
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nen Ideen in sie hineingebracht in jenen sturmbewegten Jahren, da Luther machtvoll das Wort ergriff und Reuchlin selbstaufopfernd für Wissenschaft und Wahrheit kämpfte. Auch hat er nicht in universaler Weite gewirkt wie etwa ein Nicolaus Cusanus, der wesentliche Motive der christlich-mittelalterlichen Tradition mit zukunftsweisenden Einsichten zu philosophischer Gesamtschau zu verbinden wußte. Aber als Gelehrter, dessen Arbeit nur der Wissenschaft und in ihrem Dienste der Rechtsanwendung galt — alle seine anderen Betätigungen liefen nur nebenher —, ist Amerbach ein gewissenhafter Sucher, ein umsichtiger Finder und behutsamer Gestalter, somit ein treuer Diener des Rechts gewesen. Diener der Majestät des Rechts zu sein aber ist der höchste Titel, der einem Menschen verliehen werden kann, und glücklich ist das Volk zu nennen, weldies aus seiner Mitte einen Mann hervorgebracht hat, der den höchsten Gipfel der Rechtswissenschaft erklommen, der die Erfüllung seiner Aufgabe bis zum letzten Atemzug als eine Berufung empfunden und sich dieser Berufung gänzlich hingegeben hat. Bonifacius Amerbach gehörte zu einer kleinen Schar von Ausnahmemenschen, indem es ihm gelungen ist, im Kreise seiner Freunde, der Universität, der Stadt, der humanistischen Gelehrtenrepublik der Jurisprudenz und letztlich, was das Höchste ist, der Gerechtigkeit zu dienen, um ihre Ideale zu Ehren zu bringen und der Verwirklichung entgegenzuführen. Dieses Humanisten im edelsten Sinne des Wortes zu gedenken, was er für die Juristische Fakultät, die Universität und die Stadt Basel einst gewesen ist, und was er uns bis auf den heutigen Tag bedeutet, all dessen noch einmal gewahr zu werden, das ist der Zweck und der Sinn dieser verklingenden Gedächtnisstunde gewesen. Bibliographie Alfred Hartmann, Die Amerbachkorrespondenz. 5 Bände. Basel 1 9 4 2 — 1 9 5 8 . Daniel Albrecht Fechter, Bonifacius Amerbach, Beiträge zur vaterländischen Geschickte, II, 1843, S. 1 6 5 — 2 2 9 . Theophil Burckhardt-Biedermann, Bonifacius Amerbadi und die Reformation. Basel 1894. Eduard His, Bonifacius Amerbadi (1495—1562), Sonntagsblatt der Basler Nachrichten vom 7. Oktober 1945, 39. Jahrgang, N r . 39, S. 1 5 3 — 1 5 5 . Alfred Hartmann, Familiäres aus der Amerbachkorrespondenz, Basler Jahrbudi 1951, S. 3 5 — 5 7 .
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Alfred Hartmann, Bonifacius Amerbach als Verwalter der Erasmusstiftung, Basler Jahrbuch 1957, S. 7—28. Hans Thieme, Die beiden Amerbach, ein Basler Juristennachlaß der Rezeptionszeit, Studi in memoria di Paolo Koschaker: L'Europa e il Diritto Romano, I, Milano 1954, S. 137—177. Guido Kisch, Humanismus und Jurisprudenz. Der Kampf zwischen mos italicus und mos gallicus an der Universität Basel. Basler Studien zur Rechtswissenschaft, Heft 42. Basel 1955. Guido Kisch, Erasmus und die Jurisprudenz seiner Zeit. Studien zum humanistischen Rechtsdenken. Basler Studien zur Rechtswissenschaft, Heft 56. Basel 1960. Guido Kisch, Bonifacius Amerbach als Rechtsgutachter. Festgabe für Max Gerwig, Basler Studien zur Rechtswissenschaft, Heft 55, Basel 1960, S. 85—120. Guido Kisch, Die Anfänge der Juristischen Fakultät der Universität Basel 1459 bis 1529. Studien zur Geschichte der Wissenschaften in Basel, herausgegeben von der Universität Basel, Band X V . Basel 1962.
Anmerkung Vorstehend sind nur die für diese Studie herangezogenen Schriften verzeichnet. Eine vollständige Amerbach-Bibliographie findet sich in dem als letzter Titel angegebenen Buch auf S. 352—354. Zu dieser sind noch folgende seither erschienene Arbeiten zu ergänzen, die chronologisch angeordnet werden. Eridi Döhring, Geschichte der deutschen Rechtspflege seit 1500, Berlin 1953, S. 372 f. (Bibliographie). Edgar Bonjour, Die Universität Basel von den Anfängen bis zur Gegenwart 1460—1960. Basel 1960 (passim, Personenregister). Alfred Hartmann, Bonifacius Amerbach, in: Professoren der Universität Basel aus fünf Jahrhunderten, hg. von Andreas Staehelin, Basel 1960, S. 38. Oskar Vasella, Zeitgeschichtliches aus der Amerbachkorrespondenz, in: Zeitschrift für schweizerische Kirchengeschichte, Bd. 54, 1960, S. 311—325. Wolfgang D. Wackernagel, Bonifacius Amerbach, in: Jurablätter, 24, 1962, S. 113 bis 127. Hans Thieme, Ludwig Iselin-Ryhiner (1559—1612), Erbe der beiden Amerbach. Vom Humanismus zum Barock, in: Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde, 66, 1966, S. 133—155. Godehard Fleischer, Ulrich Zasius und Petrus Stella. Jur. Diss. Freiburg i. Br. 1966, S. 52 ff. Alfred Hartmann und Beat Rudolf Jenny, Die Amerbachkorrespondenz, V I . Band: Die Briefe aus den Jahren 1544—1547. Basel 1967. Guido Kisch, Melanchthons Rechts- und Soziallehre. Berlin 1967. Guido Kisch, Gestalten und Probleme aus Humanismus und Jurisprudenz. Berlin 1969. Guido Kisch, Claudius Cantiuncula. Ein Basler Jurist und Humanist des 16. Jahrhunderts (Studien zur Geschichte der Wissenschaften in Basel, Band X I X ) . Basel 1970. Guido Kisch, Consilia. Eine Bibliographie der juristischen Konsiliensammlungen, Basel 1970.
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Bonifacius Amerbach als Rechtsgutachter
* Erstmals veröffentlicht in der Festgabe für Max Gerwig (Basler Studien zur Rechtswissenschaft, H e f t 55), Verlag Helbing & Lichtenhahn, Basel I960, S. 85—120.
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Bonifacius Amerbach und seine Rechtsgutachten Z u m vierhundertfünfzigsten Gedenktag der Geburt des großen Humanisten und bedeutenden Rechtsgelehrten Bonifacius Amerbach 1 erschien an einer dem Forscher heute schwer zugänglichen Stelle eine konzise, aber inhaltreiche biographische Skizze aus der Feder von Eduard His 2 . Nur jemandem, der wie dieser mit der Atmosphäre vertraut war, von welcher die Hochburg des Humanismus, Basel, in ihrem goldenen Zeitalter erfüllt gewesen ist, und der auch die urkundlichen Zeugnisse jener Glanzperiode geistigen Lebens im rheinischen Wissenschaftszentrum des damaligen Europas durchforscht hatte, konnte es gelingen, ein so lebensvolles und farbenreiches Bild jener hervorragenden Persönlichkeit zu zeichnen, die und deren Andenken mit Basels Geschichte dauernd verbunden ist. Vielleicht hätte His, der audi Amerbachs Charakter im wesentlichen wohl zutreffend gewürdigt hat, eine umfassende Biographie geschrieben oder wenigstens die Bedeutung des Juristen Amerbach für das Rechtsleben seiner Vaterstadt und in seiner Zeit ausführlich geschildert, wenn es ihm vergönnt gewesen wäre, seine Forschungen zu Ende zu führen 3 . So 1 Bonifacius Amerbach, 1 4 9 5 geboren in Basel, 1 5 1 4 — 1 5 1 9 Studium in Freiburg bei Zasius, 1 5 2 0 — 1 5 2 1 und 1 5 2 2 — 1 5 2 4 in A v i g n o n bei Andreas Alciatus, Franciscus de Ripa und Petrus Albertus, 1 5 2 5 Doctor legum in A v i g n o n , seit 1 5 2 5 Professor Ordinarius legum in Basel, seit 1 5 3 5 Ratssyndikus daselbst, am 24. A p r i l 1 5 6 2 gestorben in Basel. Vollständige Bibliographie bei Guido Kisch, Die A n f ä n g e der Juristischen Fakultät der Universität Basel 1 4 5 9 — 1 5 2 9 (Studien zur Geschichte der Wissenschaften in Basel, Bd. X V ) , Basel 1962, S. 3 5 2 — 3 5 4 ; dazu die Ergänzungen oben, S. 150, am Ende der Gedenkrede auf Bonifacius Amerbach. 2 Eduard His, Bonifacius Amerbach ( 1 4 9 5 — 1 5 6 2 ) , Sonntagsblatt der Basler Nachrichten v o m 7. Oktober 1945, 39. Jahrgang, N r . 39, S. 1 5 3 — 1 5 5 , mit mehreren Porträtwiedergaben (im folgenden zitiert als „His"). 3 Über His ( 1 8 8 6 — 1 9 4 8 ) siehe die Nekrologe, die Hans Thieme in der weiter unten in Anmerkung 5 angegebenen Schrift, S. 143, A n m . 1, verzeichnet h a t ; dazu noch das nach Basler Brauch veröffentlichte Gedenkheft „Zur Erinnerung an P r o f .
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konnte er vor seinem Tode nur nodi bedauernd konstatieren: „Die Bedeutung Amerbachs als Rechtsgelehrter ist bis heute leider noch ungenügend erforscht" 4 . Eine Anzahl von Jahren später mußte der Fortsetzer von His' Forschungen über den Amerbach-Nachlaß in der Basler Universitätsbibliothek, Hans Thieme, seine Charakteristik von Amerbachs Rolle im geistigen und gesellschaftlichen Leben Basels im Renaissancezeitalter mit der gleichen Klage eröffnen: „Sein [Bonifacius Amerbachs] und seines Sohnes [Basilius Amerbachs] juristisches Wirken für ihre Vaterstadt fand bisher nur geringe oder gar keine Beachtung. . . . Als Juristen sind uns die beiden Amerbach noch so gut wie unbekannt" 5 . Obwohl die nicht nur für seine Mitwelt sondern auch für den Historiker faszinierende Persönlichkeit des Freundes, Erben und Testamentsvollstreckers des Erasmus oft in den Mittelpunkt geschichtlicher Untersuchungen getreten ist, so sind es doch vorwiegend andere Aspekte seines in der Jugend bewegten, später trotz mancher Schicksalsschläge ebenmäßig verlaufenen Lebens, welche die Aufmerksamkeit der Erforscher der Basler Ortsgeschichte auf sich gelenkt haben 6 . „Bonifacius Amerbach und die Reformation" ist das Thema, das, ab-
Dr. Eduard His" (ohne Ort und Jahr) mit den Trauerreden und einem Lebenslauf; daselbst, S. 18, sagt Felix Staehelin: „Den Vergleich mit den beiden größten genuin baslerischen Humanisten des 16. Jahrhunderts, Bonifacius Amerbach und seinem Sohn Basilius, braucht His wahrlich nicht zu scheuen. Mit Bonifacius verbindet ihn seine eigene Tätigkeit als Rechtskonsulent. Das Studium der juristischen Gutachten Amerbachs war sein letztes Arbeitsthema, das er zu unserem größten Bedauern unfertig bearbeitet hinterlassen mußte". 4 Eduard His, Anfänge und Entwicklung der Rechtswissenschaft in der Schweiz bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, in dem von Hans Schultheß herausgegebenen Werke Schweizer Juristen der letzten hundert Jahre, Zürich 1945, S. 16. Unter dem von ihm selbst angegebenen Mangel leidet His' Kurzbiographie Amerbachs daselbst, S. 15—18. 5 Hans Thieme, Die beiden Amerbach, ein Basler Juristennachlaß der Rezeptionszeit, in: Studi in memoria di Paolo Koschaker: L'Europa e il Diritto Romano, I, Milano 1954, S. 137—177, besonders S. 140 f. (im folgenden zitiert als „Thieme"). • Vollständige Literaturangaben in der oben, Anm. 1, angeführten Bibliographie mit Ergänzungen; dazu die Angaben in thematischer Anordnung bei G. Kisch, Forschungen zur Geschichte des Humanismus in Basel, eine bibliographische Einführung und Übersicht mit besonderer Berücksichtigung der Rechtsgeschichte, Archiv für Kulturgeschichte, X L , 1958, S. 197 f., und im folgenden; vgl. ferner Erich Döhring, Geschichte der deutschen Rechtspflege seit 1500, Berlin 1953, S. 372.
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gesehen v o n einigen ä l t e r e n b i o g r a p h i s c h e n S k i z z e n 7 , die e i n g e h e n d s t e literarische B e h a n d l u n g g e f u n d e n h a t 8 . D e r F a m i l i e A m e r b a d i ,
der
E n t s t e h u n g d e r A m e r b a c h s c h e n S a m m l u n g e n u n d d e r Geschichte seiner B i b l i o t h e k , A m e r b a c h als V e r w a l t e r d e r E r a s m u s s t i f t u n g ,
Amerbadi
als M u s i k f r e u n d sind a n d e r e n e u e r e S t u d i e n g e w i d m e t w o r d e n 9 . D i e monumentale Ausgabe der Amerbachkorrespondenz, samen H a n d
des kenntnisreichen
Philologen und
von
der
sorg-
Kulturhistorikers
A l f r e d H a r t m a n n b e s o r g t , n a c h seinem T o d e v o n B e a t R u d o l f J e n n y f o r t g e s e t z t , h a t einen u n e r m e ß l i c h e n Q u e l l e n r e i c h t u m erschlossen, der A m e r b a c h s L e b e n v o n allen Seiten beleuchtet u n d w e i t ü b e r dieses u n d das B a s l e r M i l i e u hinaus den Z u g a n g zu einer K u l t u r g e s c h i c h t e des europäischen H u m a n i s t e n z e i t a l t e r s e r ö f f n e t 1 0 . 7 Johann Werner Herzog, Athenae Rauricae, Basel 1778, S. 111—113; Daniel Albrecht Fechter, Bonifacius Amerbach, Beiträge zur vaterländischen Geschichte, II, 1843, S. 167—229; Roderich Stintzing, Ulrich Zasius, ein Beitrag zur Geschichte der Rechtswissenschaft im Zeitalter der Reformation, Basel 1857, S. 164—169; Stintzing, Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft, I, München und Leipzig 1880, S. 209 bis 211; Rudolf Thommen, Geschichte der Universität Basel 1532—1632, Basel 1889, S. 143—152. Lediglich der bibliographischen Vollständigkeit halber sei erwähnt: Emanuel Probst, Bonifacius Amerbach, 62. Neujahrsblatt, hg. von der Gesellschaft zur Beförderung des Guten und Gemeinnützigen, Basel 1883. 8 Theophil Burckhardt-Biedermann, Bonifacius Amerbach und die Reformation, Basel 1894. • Th. Burckhardt-Biedermann, Hans Amerbach und seine Familie, in: Historisches Festbuch zur Basler Vereinigungsfeier, Basel 1892, S. 73—114; Wilhelm Merian, Bonifacius Amerbadi und Hans Kotter, Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde, X V I , 1917, S. 140—206 (mit genealogischer Tafel auf S. 145); Martin Staehelin, Musik im Hause Amerbach (ein noch ungedruckter Vortrag), Basel 1970; Alfred Hartmann, Familiäres aus der Amerbachkorrespondenz, Basier Jahrbuch 1951, S. 35—57; Oskar Vasella, Zeitgeschichtliches aus der Amerbachkorrespondenz, Zeitschrift für schweizerische Kirchengeschichte, 54, 1960, S. 311 bis 325; Wolf gang D. Wackernagel, Bonifacius Amerbach, Jurablätter, Nr. 9, 1962, S. 1—15 (Sonderdruck); W. D. Wackernagel, Bonifacius Amerbach und seine Wappenscheibe von 1560, in: Jahresberichte der öffentlichen Kunstsammlung Basel 1959—60, Basel 1961, S. 111—135. — Paul Ganz und E. Major, Die Entstehung des Amerbachschen Kunstkabinetts und die Amerbachschen Inventare, Basel 1907; Carl Roth, Conrad Pfister, Basilius Iselin und die Amerbachische Bibliothek, in: Festschrift Gustav Binz zum 70. Geburtstage, Basel 1935, S. 179—200. — Carl Roth, Das Legatum Erasmianum, in: Gedenkschrift zum 400. Todestage des Erasmus von Rotterdam, hg. von der Historischen und Antiquarischen Gesellschaft zu Basel, Basel 1936, S. 282—298; Alfred Hartmann, Bonifacius Amerbach als Verwalter der Erasmusstiftung, Basler Jahrbuch 1957, S. 7—28. 10 Alfred Hartmann, Die Amerbachkorrespondenz. Im Auftrag der Kommission für die öffentliche Bibliothek der Universität Basel bearbeitet und heraus-
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Amerbachs Bedeutung für die Basler Rechtskultur und Rechtsgeschichte, für den Vorgang der Rezeption des römischen Rechts in Basel und in der Schweiz sowie für die juristische Literaturgeschichte Europas blieb auch bis in die jüngste Gegenwart so gut wie unerforscht. Verschiedene Ursachen haben dies verschuldet, und nicht geringe Schwierigkeiten haben sich einem solchen Unternehmen lange Zeit entgegengestellt. Auf sie hat schon His zum Teil hingewiesen: die schwer leserliche Handschrift der Manuskripte (Amerbach hat fast nichts Gedrucktes hinterlassen), die zahllosen Korrekturen von seiner ständig, oft noch bis zur Reinschrift bessernden und ergänzenden Hand in allen seinen schriftlichen Aufzeichnungen, sein schwer verständliches Humanistenlatein und das komplizierte Deutsdi, das er schrieb. Diese Hemmnisse sind nun durch die mustergültige Ausgabe der Amerbachkorrespondenz und durch die hervorragende Kommentierung der Texte seitens der Bearbeiter für den Forscher zum großen Teil aus dem Wege geräumt. Durch die chronologische Anordnung der mehr als dreitausend Briefstücke und die Beigabe von Personen-, Orts- und Sachverzeichnissen ist auch ein anderes Hindernis so gut wie ganz überwunden: die Massenhaftigkeit und mangelnde Ordnung des Quellenmaterials, zu dem jetzt ein bequemer Zugang erschlossen ist. All das gilt aber nur für die Briefe von und an Amerbach, die bisher mehr als dreitausend eng bedruckte Seiten füllen. Obwohl sich dem Briefwechsel mit den bedeutendsten Juristen der Zeit wie Andreas Alciatus, Claudius Cantiuncula, Johannes Sichardus, Viglius van Aytta, Ulrich Zasius viele aufschlußreiche Beiträge zur juristischen Biographie, Literatur- und Druckgeschichte, sowie zur Geschichte des Basler Redits und der Rezeption des römischen Rechts in Lehre und Praxis entnehmen lassen, enthält der Amerbach-Nachlaß noch in Menge Material von spezifisch juristischem Interesse, dessen sachgemäße Katalogisierung und fachkundige Beschreibung zwar abgeschlossen11, mit dessen rechtshistorischer Auswertung erst ein — gegeben. 5 Bände, 1481—1543, Basel 1942—1958 (zitiert „Hartmann" mit Angabe der Bandzahl); Bd. VI, 1544—1547, auf Grund des von Alfred Hartmann nachgelassenen Manuskripts bearbeitet und herausgegeben von Beat Rudolf Jenny, Basel 1967 (zitiert „Hartmann-Jenny, VI"). 11 Thieme, Die beiden Amerbach (oben, Anm. 5). Die Berichte über die Verwaltung der öffentlichen Bibliothek der Universität Basel enthalten seit 1945
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wenn auch beachtlicher — A n f a n g gemacht ist 12 . D a ß ein solcher möglich war, eine systematische Bearbeitung von Urkundenkomplexen oder rechtsgeschichtlichen Problemen in Angriff genommen werden konnte und nicht nach früherer Weise in der unkritischen Gelegenheitspublikation von Gelehrtenkorrespondenzen fortgefahren zu werden brauchte 13 , verdankt die Forschung außer den Herausgebern der Amerbachkorrespondenz den beiden erwähnten Gelehrten, die mit tiefem Interesse, echtem Gelehrteninstinkt und -fleiß die ordnende H a n d des Juristen und Historikers zugleich an diese rechtshistorischen Schätze gelegt haben, um sie zum Teil selbst zu heben, namentlich aber um anderen Forschern einen leichteren Zugang zu ihnen zu erschließen. Ein von ihnen angefertigter handschriftlicher Zettelkatalog, alphabetisch nach N a m e n und Materien geordnet, gibt jetzt Auskunft über den juristischen Nachlaß des Bonifacius und seines Sohnes und Nachfolgers auf dem Basler Lehrstuhl des römischen Rechts, Basilius Amerbach 1 4 . His hinterließ mehr als zwölftausend Zettel und siebAngaben über die Katalogisierung und die dabei zutage getretenen Funde. Die 1949—1950 vorläufig abgeschlossenen Arbeiten wurden von Thieme 1955 wieder aufgenommen. Näheres in den Berichten über die Jahre 1955, S. 15; 1956, S. 16; 1957, S. 15; 1958, S. 15; 1959, S. 9 f.; 1962, S. 11 f.; 1963, S. 10 f. 1 8 Allgemein: Thieme (oben, Anm. 5); einzelne juristische Themen sind in folgenden Arbeiten behandelt: G. Kiscb, Johannes Sidiardus als Basler Rechtshistoriker, Basel 1952 (Stellung zu Sichard und der aufkommenden humanistischen Jurisprudenz); Kiscb, Humanismus und Jurisprudenz, Basel 1955 (Stellungnahme im K a m p f zwischen mos italicus und mos gallicus); Kisch, Erasmus und die Jurisprudenz seiner Zeit, Basel 1960 (Aequitaslehre); Kiscb, Gestalten und Probleme aus Humanismus und Jurisprudenz, Berlin 1969 (Verteidigung des Bartolus); Thieme, Rechtskultur im alten Basel, Basler Zeitschrift, 49, 1950, S. 81 ff.; Thieme, Die Ehescheidung Heinrichs V I I I . und die europäischen Universitäten, Karlsruhe 1957, S. 16 f.; Thieme, Bonifacius Amerbach et la mainmorte bourguignonne, in: Etudes historiques à la mémoire de Noël Didier, Paris 1960, S. 301—308; Adrian Staehelin (unten, Anm. 16); Kisch, Claudius Cantiuncula, Basel 1970 (siehe Register; Verhältnis zu Cantiuncula). 13 Diese sind aufgezählt bei Kisch, Humanismus, S. 112 f. 14 Ober Basilius Amerbach (1533—1591) seit Thommen (oben, Anm. 7), S. 164—175, Edgar Bonjour, Die Universität Basel von den Anfängen bis zur Gegenwart 1460—1960, Basel 1960, passim (siehe Personenregister); Alfred Hartmann, Basilius Amerbach, in: [Andreas Staehelin], Professoren der Universität Basel aus fünf Jahrhunderten, Basel 1960, S. 50; Thieme, passim, besonders S. 147; Thieme, Eine akademische Sittenpredigt Basilius Amerbachs, Basler Jahrbuch 1952, S. 77—82. Die einzige beachtenswerte, gründliche, in der Literatur jedoch wenig beachtete Biographie ist Frit2 Iselin, Basilius Amerbach, in: Basler Taschenbuch auf das J a h r 1863, Basel 1863, S. 157—244, die nur die Jugend- und Studienzeit be-
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zehn Kataloghefte zur Benützung in der Basler Bibliothek. Diesen hat Thieme in mehrjähriger Arbeit noch eine erhebliche Anzahl hinzugefügt, insbesondere auch den in Basel verbliebenen wissenschaftlichen N a d i l a ß von Amerbachs Lehrer und Freund Ulrich Zasius katalogisiert, dazu eine aufschlußreiche Ubersicht und Analyse des ganzen handschriftlichen Bestandes veröffentlicht und durch Beispiele aus den Manuskripten illustriert. Die Frage der von His geplanten, aber nicht ausgeführten Edition dieses Materials, dessen wissenschaftlich wichtigste Kernstücke die Vorlesungsmanuskripte und Rechtsgutachten bilden, stellt ein schwierig zu lösendes Problem dar. Bevor man es methodisch erfassen und Lösungsversuche unternehmen kann, ist es ratsam, in ähnlicher Weise, wie es auch vor der Inangriffnahme der großen Edition mit den Korrespondenzen geschehen ist, einzelne wichtige Dokumente und bedeutende Problemkomplexe herauszugreifen und zu bearbeiten. N u r zu einem kleinen Bruchteil ist dies in umfassenderen Studien bereits geschehen 15 . Abgesehen von H i s ' bloß flüchtigem Hinweis auf die Einzelvorlesung mit dem Doppeltitel „Περί έπιεικείας" und „De Iustitia et Iure", welche Amerbach im Rahmen seiner Digestenvorlesung gehalten hat, die aber von His wegen der sorgfältigen Ausarbeitung für eine Spezialvorlesung gehalten wurde, hat nur der Verfasser der vorliegenden Studie diesem interessanten Gegenstand Aufmerksamkeit zugewendet. Amerbachs Vorlesungen bedürfen noch gründlicher rechtshistorischer Untersuchung. Eine solche wird sich der
handelt. — Rechtsgutachten des Basilius Amerbach: Hermann Rennefahrt, Ein Rechtsgutachten aus dem 16. Jahrhundert, Zeitschrift des Bernisdien Juristenvereins, 89, 1953, S. 3 9 8 — 4 0 5 ; Thieme, Statutarrecht und Rezeption: Ein Basler Fakultätsgutachten für Breslau, in: Festschrift Guido Kisch, Stuttgart 1955, S. 6 9 — 8 6 . „Auch der juristische Nachlaß des Erben von Basilius Amerbach, des Sohnes seiner Schwester Faustina, Ludwig Iselin-Ryhiner ( 1 5 5 9 — 1 6 1 2 ) muß in das Studium einbezogen werden, weil dieser die Tradition der beiden Amerbach in einer sich allmählich verwandelnden Welt noch während mehr als zwanzig Jahren fortgesetzt hat: am gleichen Ort, in denselben Ämtern, auf möglichst ähnliche Weise"; so Thieme, Ludwig Iselin-Ryhiner (1559—1612), Erbe der beiden Amerbach: Vom Humanismus zum Barock, in: Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde, 66, 1966, S. 1 3 3 — 1 5 5 , eine erstmalige Würdigung dieser für die Rechtsgeschichte Basels immerhin bemerkenswerten Persönlichkeit. Audi ihr Nadilaß in der Basler Universitätsbibliothek ist jetzt von Thieme inventarisiert. 15 Siehe auch oben, Anm. 12.
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inhaltlichen Seite, ihrer Methodik, ihrer Bedeutung f ü r die Rechtsgeschichte, ihrem Verhältnis zur mittelalterlichen und zeitgenössischen Rechtslehre, der dogmatischen Fortentwicklung und philosophischen Vertiefung des Redits, die in ihnen Ausdruck gefunden haben, zuwenden müssen. Diesem Gegenstand eine Monographie zu widmen, wäre eine schöne Aufgabe, welche als Vorarbeit ein Eindringen in die manchmal kaum zu enträtselnde Handschrift und die zahllosen Allegationen notwendig macht, ferner Kenntnis der Glossatoren und Kommentatoren sowie der juristischen Literatur des 16. Jahrhunderts erfordert. Nicht ganz so schwierig, wenngleich ebenfalls nicht leicht, dürfte es sein, in die Zeugnisse von Amerbachs Tätigkeit als Rechtsberater und Gutachter einzudringen. Hinsichtlich der äußeren Beschaffenheit des verfügbaren Urkundenmaterials bestehen an sich die gleichen Schwierigkeiten wie bei den akademischen Vorlesungen. Sie sind aber einigermaßen dadurch gemildert, daß neben den auf der Basler Universitätsbibliothek befindlichen Konzepten zu den Amerbachschen Rechtsgutachten, deren Zahl auf 120 geschätzt wird, teilweise anderwärts, besonders auf dem Staatsarchiv des Kantons Basel-Stadt, die Reinschriften erhalten geblieben sind, welche freilich vielfach die Allegationen nicht enthalten, mit denen die Blattränder der Konzepte von Amerbachs H a n d meist übersät sind. Ferner liegt eine Anzahl von Gutachten bereits im Druck vor, und die Publizierung weiterer Stücke, wenn auch vorerst nur in Auswahl, darf erwartet werden 1 6 . 16 G. Kisch, Bartolus und Basel (Basler Studien zur Rechtswissenschaft, Bd. 54), Basel 1960, S. 53, A n m . 63. Acht Gutachten aus den Jahren 1538 bis 1543 sind als A n h a n g zum f ü n f t e n Bande der Amerbachkorrespondenz (S. 473—510) abgedruckt und in ähnlicher Weise wie die Briefe kommentiert; ebenso sechs weitere im sechsten Bande (S. 593—617). Bei Adrian Staehelin, Die E i n f ü h r u n g der Ehescheidung in Basel zur Zeit der R e f o r m a t i o n (Basler Studien zur Rechtswissenschaft, Bd. 45), Basel 1957, S. 173—180, sind zwei eherechtliche Gutachten von 1548 bzw. 1559 nach den Konzepten im Amerbach-Nachlaß wiedergegeben. Weiter unten folgen anhangsweise zwei vorher unveröffentlichte Konsilien familien-, erb- und strafrechtlichen Inhalts aus den Jahren 1540 und 1547. Eine Anzahl von Gutachten ist nicht erhalten geblieben; vgl. z . B . Hartmann, V, S. 103, A n m . 2; 185, A n m . 1; 218, Anm. 1; wohl ebenso nodi andere. Auf die bei Veröffentlichung der Gutachten anzuwendende Editionstechnik kann hier nicht eingegangen werden. Zugrundelegung der Konzepte von Amerbachs H a n d , denen H a r t m a n n und Staehelin folgen, auch hinsichtlich der Orthographie, erscheint zweckmäßig; sie sind bisweilen ausführlicher als die Reinschriften, in
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Amerbachs gelehrter Kollege Nicolaus Varnbueler in Tübingen nannte die Consilia „gravissima et omnis prudentiae acuminis et aequitatis piena" 1 7 . Leider hat es ihr Verfasser, immodice modestus, wie ihn Erasmus einmal nannte, niemals unternommen, sie selbst zu sammeln und, der Übung der Zeit entsprechend, gedruckt vorzulegen 18 . Audi nach seinem Tode hat sich, anders als bei seinen Zeitgenossen und Freunden Zasius, Cantiuncula und Sichardus, niemand an diese Aufgabe gewagt 1 9 . Durch ihre Lösung wäre nicht nur der zeitgedenen vielfach die Allegationen, ebenso oft aufklärende Randbemerkungen, weggelassen sind. Literarisch hat sich am ausführlichsten mit der Wirksamkeit der Basler Rechtslehrer als Rechtskonsulenten beschäftigt Emil Remigius Frey, Die Quellen des Basler Stadtrechts, namentlich der Gerichtsordnung von 1719, ein Beitrag zur Bildungsgeschichte Schweizerischer Stadtgesetze, Basel 1830, S. 136—159, daselbst auch einiges über Bonifacius Amerbach; siehe neuestens die unter den Namen Amerbach, Cantiuncula und Sichardus angegebene Literatur bei G. Kisch, Consilia. Eine Bibliographie der juristischen Konsiliensammlungen, Basel 1970, S. 29 f. Zu Cantiuncula ist daselbst hinzuzufügen: Kisch, Bartolus und Basel, S. 53 f., Anm. 64. Lediglich die Zeit seit dem Ende des 16. Jahrhunderts behandelt die ungedruckte Basler juristische Dissertation von Anton Pfister, Konsilien der Basler Juristenfakultät, Basel 1929, woselbst sich der Verfasser jedoch mit der juristischen Bedeutung dieser Ratschläge für die hier interessierenden Fragen nicht befaßt hat. Einen guten Überblick und eine treffende Kritik der Pfisterschen Arbeit bietet Andreas Staehelin, Geschichte der Universität Basel 1632—1818 (Studien zur Geschichte der Wissenschaften in Basel, IV—V), Basel 1957, S. 286—290. 17 Brief an Bonifacius Amerbach vom 15. Juli 1550, zitiert bei Thieme, S. 148. 1 8 Bekanntlich bildete die Frage, ob — im Gegensatz zur mittelalterlichen italienischen Konsiliarjurisprudenz — auch für die Gegenwart und Zukunft die Respondententätigkeit der Rechtslehrer und die Veröffentlichung ihrer Gutachten nützlich und angemessen sei, einen wesentlichen Gegenstand im rechtswissenschaftlichen Methodenstreit des 16. Jahrhunderts. Während Andreas Alciatus die Frage verneinte und seine Polemik gegen Veröffentlichung der Responsa sich durch ihre Argumente mittelbar audi gegen die Konsiliarpraxis selbst richtete, stellte sich Tiberius Decianus (1509—1582), ein erfolgreicher Rechtslehrer und gesuchter Konsiliarjurist in Padua, auf den entgegengesetzten Standpunkt, den er in einer 1579 erschienenen Schrift Apologia pro iuris prudentibus, qui responsa sua edunt adversus dicta per Alciatum Parergon lib. XII cap. ult. nachdrücklich verteidigt hat. Er sieht letzten Endes in zwedcvollem Zusammenwirken von Rechtstheorie und Konsiliarpraxis das erstrebenswerte Ziel. Ausführlich über die einzelnen Streitpunkte und ihre Widerlegung in der „Apologia" Friedrich Schaff stein, Zum rechtswissenschaftlichen Methodenstreit im 16. Jahrhundert, in: Festschrift für Hans Niedermeyer, Göttingen 1953, S. 199—214. 18 Responsorum iuris sive Consiliorum Dn. Udalrici Zasii, LL. Doct. clarissimi et in Academia Friburgensi quondam ordinarli, Liber primus, Basileae 1538, Liber secundus, Basileae 1539. Der erste Band dieser Auswahl von Rechtsgutachten war
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nössischen Praxis ein Dienst erwiesen, sondern auch dem modernen Rechtshistoriker die Arbeit wesentlich erleichtert worden. Wie schon His erkannt hat, darf man sich „für die Rechtsgeschichte und Wissenschaftsgeschichte aus der Erschließung dieser reichhaltigen Quellen (Gutachten und Vorlesungen) allerlei Neues und Interessantes versprechen, aber auch für die Geschichte der Stadt und der angrenzenden Länder ergibt die Ausbeute manch köstliches Fündlein" 2 0 . Amerbachs Gutachtertätigkeit war, sowohl was die juristischen Materien anlangt, umfassend als audi in persönlicher Hinsicht ausgedehnt und reichte örtlich über Basel weit hinaus. Hans Thieme gibt folgenden Uberblick, der die Konsiliartätigkeit des Basilius Amerbach und die über diese erhaltenen Urkundenbestände miteinschließt: „Zu den eifrigsten Klienten der beiden Amerbach gehören geistliche und weltliche Grundherren der näheren und weiteren Umgebung, in der Markgrafschaft Baden, im Elsaß, in Burgund und in der Schweiz, und zwar ganz ohne nationale und konfessionelle Schranken. Die Herren von Andlau, von Hallwil und Truchseß von Rheinfelden, die Junker von Landeck, von Schönau, von Hatstatt und wie sie alle heißen, der Abt von St. Blasien, die Grafen von Hanau-Lichtenberg und die Herzöge von Württemberg und Mömpelgart leben im Amerbach-Nachlaß weiter, dazu deutsche, flandrische, eidgenössische Städte und Regierungen bis nach Graubünden und ins Tessin. Das verfallende Lehnrecht, das von dem Basler Hieronymus Artolphus herausgegeben und Bonifacius Amerbach gewidmet. Vgl. Stintzing, Ulrich Zasius, S. 352; Thieme, Zasius und Freiburg, in: „Aus der Geschichte der Rechts- und Staatswissenschaften zu Freiburg i. Br.", hg. von Hans Julius Wolff, Freiburg i. Br. 1957, S. 15 und Anm. 34. — Consilia sive responsa Claudii Cantiunculae, clarissimi nostrae aetatis i u r e c o n s u l t i . . . nunc primum in lucem edita per Guielmum Cnutelium, Coloniae Agrippinae 1571. Vgl. G. Kisch, Cantiunculas Rechtsgutachten und Briefe, Sonntagsblatt der Basler Nachrichten vom 14. Februar 1965, N r . 67, S. 24 (jetzt wieder abgedruckt weiter unten, S. 230 ff.); Kisch, Cantiuncula S. 102 ff. — Ioannis Sichardi, magni quondam Germanise I. C., Responsa Iuris in quibus diversi casus Criminales, Matrimoniales, Testamentarii, Feudales, et ceterorum Contractuum perspicue tractantur . . . Nunc primum opera et studio Ioannis Georgii G ö d e l m a n n i . . . publicata, Francofurti ad Moenum 1599. Vgl. Gustav Mandry, Johannes Sichardt, eine academisdie Rede, Württembergische Jahrbücher für Statistik und Landeskunde, Jahrgang 1872, II. Teil, Stuttgart 1874, S. 27, 43 f., Anm. 30; Hermann Seeger, Die strafrechtlichen Consilia Tubingensia von der Gründung der Universität bis zum Jahre 1600, Tübingen 1877, S. 24—83. *> His, S. 154.
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wie eine riesenhafte Ruine mit seinen kaum mehr verständlichen Rechtssätzen von Ebenburt, Erbfolge, Anwartschaft usw. in eine verwandelte Gegenwart hineinragt, geistert durch die Akten, das Strafrecht, in dem übrigens die Constitutio Criminalis Carolina (1532) unbestrittene Geltung hat, zeichnet Sittenbilder von oftmals recht krassen Farben, Kirchenrecht, Patronatsrecht, Zehntrecht sind durch die Reformation in hoffnungslose Verwirrung geraten, Wasserrecht und Fischerei, Steuer-, Zoll- und Münzrecht erfahren im Werdeprozeß des modernen Staats tiefgreifende Umgestaltung. Auch mit typisch germanistischen Fragen müssen sidi beide Amerbach öfters beschäftigen, mit der burgundischen mainmorte, mit der Stellung des Baumanns, mit Abzugsrecht und Grundruhr . . ." 2 1 . Wenn Basilius Amerbachs Eindringen in das geschichtliche Recht seiner Heimatstadt gerühmt wird, so gilt dasselbe auch für seinen Vater 2 2 . „Zuletzt und am meisten waren es ja eben doch die eigenen Mitbürger, die sich mit ihren Rechtsangelegenheiten an das ,Bureau Amerbach' wandten. Was nur in Basel Rang und Namen hat, gibt sich dort ein Stelldichein: die berühmten Humanisten, Gelehrte, Buchdrucker, Stadtpatriziat, Kaufleute und vornehme Fremde. Ihre Heiratsrotel, Testamente, Erbverträge und Nachlaßteilungen sind es, die Bonifacius Amerbach zum Spezialisten für Familienrecht' (His) werden ließen" 2 3 . Ein buntes Bild von Basels Rechtskultur in der Vergangenheit ersteht vor den Augen des rechtshistorischen Betrachters, der sich in das Studium der Amerbachschen Gutachten versenkt. Thieme, S. 155. Vgl. Hartmann, Die Amerbadikorrespondenz, IV, N r . 1890, S. 312 (1534), w o die Institution der Markgrafen erklärt wird, audi zitiert er den Sachsenspiegel; Kiscb, Humanismus, S. 163, Anm. 61. Ferner Gutachten vom 9. August 1540, Mscr. C V i a 58, 274, jetzt abgedruckt unten im Anhang (nicht bei HartmannJenny, VI), wo Amerbach auf die Rechtseinrichtung Bezug nimmt, derzufolge nach dem Tode des Bauern das beste Stück Vieh („Besthaupt") an den Leib- oder Grundherrn zu entrichten, aus dem Nachlaß des Städters das beste Gewand abzuliefern w a r ; vgl. dazu Rudolf Hühner, Grundzüge des deutschen Privatrechts, 5. Auflage, Leipzig 1930, S. 784. In einem Gutachten vom Mai 1542 behandelt er Geschichte und Bedeutung des Rechtsausdrucks Freistadt; Hartmann, V, Anhang, N r . 5, S. 489 bis 494. Das sind nur einige Beispiele, die sich gut vermehren ließen. 25 Thieme, S. 156 und Anm. 4. 21
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II
Die Rechtsgutachten als Quelle der Rezeptionsgeschichte D ie Analyse und Würdigung des Inhalts der Amerbachschen Rechtsgutachten kann zwei Wege einschlagen. Sie kann sich entweder einem einzelnen, nach irgendwelchen Gesichtspunkten ausgewählten interessanten Consilium zuwenden oder aber alle, beziehungsweise bloß eine Gruppe von Konsilien zusammenfassen und unter die rechtshistorische Lupe nehmen. Letzteres könnte nur in einer umfangreicheren, sicherlich lohnenden monographischen Darstellung geschehen. Aber auch bloß ersteres zu versuchen, liegt nicht im Plan der vorliegenden Studie. Der ihr beigegebene Text zweier bisher unveröffentlichten Gutachten hat nur den Zweck, ein paar Musterbeispiele vorzuführen, die Amerbachs gutachtliche Tätigkeit sowohl auf familien- und erbrechtlichem wie auch auf strafrechtlichem Gebiete zeigen und, obwohl es sich um keinerlei cause célèbre handelt, die juristische Auffassung, Methodik, Eigenart und Arbeitsweise des Verfassers illustrieren. Was auf den folgenden Seiten in der dem Rahmen dieser Studie angepaßten Kürze dargelegt werden soll, sind lediglich einige Beobachtungen, die sich dem Rechtshistoriker beim Studium solcher Gutachten aufdrängen und ihren Wert für die rechtsgeschichtliche Forschung deutlich erkennen lassen. Konsilien, die Amerbach über einzelne bedeutsame Rechtsfragen und Sonderprobleme auf verschiedenen Rechtsgebieten zu erteilen hatte, von denen manche bereits wissenschaftliche Untersuchung gefunden haben, müssen beiseite gelassen werden. Gemeint sind etwa die Gutachten über die Organisation der juristischen Fakultät und die Reform des Rechtsstudiums an der Universität Basel1, seine gutachtliche Mitwirkung an der Erneuerung der Basler Gesetzgebung2, 1 Kisch, Humanismus, S. 56 ff., 146 f., Anm. 13, 97—99. * Thieme, S. 154 f.
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Bonifacius Amerbach als Rechtsgutachter
seine maßgebliche Beteiligung an der Modernisierung des württembergischen Vormundschafts- und Eherechts 3 , seine Stellungnahme zu der Frage, ob seine Vaterstadt Basel, die sich 1501 der Schweizerischen Eidgenossenschaft angeschlossen hatte, noch der Gerichtsbarkeit des Reichskammergerichts unterstehe und zu seiner Unterhaltung beizutragen habe 4 , seine Gedanken über eine neue Edition des Corpus iuris 5 , sein Urteil, ob der Koran, der unter die „falschen verkerten leren, so man ketzerey nempt", gezählt wird, in Basel gedruckt und von dort aus verbreitet werden dürfe 6 , seine Wohlmeinung über die Rechts- und Besitzverhältnisse der Kirche, der Bischöfe, Stifte und Klöster und andere Fragenbereiche, welche durch die Reformation aufgerollt waren, seine Gutachten über die sogenannte causa Brunsvigensis und im württembergischen Felonieprozeß 7 , sie alle müssen hier außer Betracht bleiben. Nur der alltäglichen Rechtspraxis soll die Aufmerksamkeit zugewendet werden. Vielleicht regen die folgenden bloß skizzenhaften Darlegungen trotz ihrer rechtsstofflichen und materialmäßigen Beschränkung zu einer gründlicheren Untersuchung der hier lediglich anzudeutenden rechtsgeschichtlichen Gesichtspunkte und Probleme an. Amerbachs Ansehen und Geltung als Rechtsberater beruhte nicht nur auf seinen juristischen Kenntnissen und Qualitäten, sondern war auch durch die Eigenart der Disziplin bedingt, über die Rechtsbelehrung zu erteilen oder Auskunft zu geben er von fern und nah angegangen wurde. Das römisch-gemeine Recht besaß bereits im 16. Jahrhundert neben den spärlichen gesetzten nationalen Rechtsbestimmun3 Walther Köhler, Bonifacius Amerbach und die württembergische Eheordnung von 1553, in: [Festschrift] Zum siebzigsten Geburtstag von Eberhard Vischer: Vom Wesen und Wandel der Kirche, hg. von der Theologischen Fakultät der Universität Basel, Basel 1935, S. 6 0 — 7 7 . 4 Hartmann, V, Anhang, N r . 7, S. 5 0 1 — 5 0 4 (21. November 1 5 4 2 ) ; dazu Thieme, Tijdschrift voor Rechtsgeschiedenis, X X V I I , 1959, S. 368. 5 Thieme, S. 1 6 0 — 1 6 2 , 145 (zwischen 1556 und 1562). 6 Hartmann, V, Anhang, N r . 6, S. 4 9 4 — 5 0 1 (23. August 1 5 4 2 ) ; dazu S. 378 f., Anm. 2. Uber sonstige gutachtliche Mitwirkung Amerbachs an der von der Universität geübten Bücherzensur Thieme, S. 153 f. 7 Vorläufig Thieme, S. 151 f., 162 f. — Dr. Hartmann hatte die Absicht, in dem von ihm vorbereiteten sechsten Bande der Amerbachkorrespondenz eine Auswahl der im württembergischen Felonieprozeß von Amerbach erstatteten Gutachten zu veröffentlichen.
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gen als eine Art internationales Weltrecht in Europa Ansehen und tatsächliche Geltung oder war doch im Begriffe, allenthalben solche zu erlangen. Immer wieder wünschen die Rechtsbelehrung Suchenden, unter denen der Basler Rat als Gerichtsbehörde wohl am häufigsten zu finden ist, Auskunft darüber, wie „nach kaiserlichen geschriebenen Rechten" zu urteilen sei, oder „was gemeine geschriebene Recht statuieren und ordnen" 8 . Schon die Tatsache allein, daß man sich an einen „kaiserlicher Recht Doctor", wie Amerbach die Gutachten stets unterzeichnet, und noch dazu an den weit und breit als einen der Bedeutendsten bekannten wendete, sei es, um durch sein Gutachten das Gericht zu beeindrucken, sei es, um sich über die mutmaßliche Stellungnahme des Gerichts zu orientieren, sei es, daß letzteres selbst wie der Basler R a t von seinem Rechtskonsulenten unterrichtet zu werden wünschte, all dies zeigt klar, welche Bedeutung dem römischen Recht bereits in der Praxis beigemessen wurde. Jedermann, der irgendwie mit dem Gericht zu tun hatte, fand es ratsam oder notwendig, den zur Behandlung stehenden Rechtsfall im Lichte seiner Normen beurteilt zu sehen und sich aus authentischer Quelle über sie Kenntnis zu verschaffen. Die Rechtsbelehrung erfolgte durch mündliche oder schriftliche Beratung der Klienten. Von der ersteren ist bekannt, daß Bonifacius Amerbach, und später ihm folgend sein Sohn Basilius ebenfalls, einen Vergleich stets einem Prozeß vorzuziehen geneigt waren und daß nicht wenige Rechtsfälle auf ihren Rat durch Schiedsgericht erledigt wurden 9 . Von den schriftlich erteilten Rechtsgutachten befinden sich 8 Zum Beispiel Gutachten Amerbachs an den Basler R a t vom 17. Oktober 1547, Universitätsbibliothek Basel Mscr. C V I a 45, Seite 851, jetzt gedruckt bei Hartmann-Jenny, VI, Anhang, N r . 15, S. 61 I f f . ; Gutachten an die Dreierherren vom 1. März 1548, daselbst, Mscr. C V I a 47, Seite 5 0 7 ; Gutachten vom 25. Juli 1532, daselbst, Mscr. C V I a 47, S. 361 : „Nun würt noch verhörter kuntschafft gefragt, ob die urthel ze Liechstal gefallen sig zu bestetigen oder was sich in diser reditvertigung noch vermög geschribnen rechten zu sprechen gebürt". • Zum Beispiel Schreiben an Franz Frosch (über ihn Hartmann, IV, S. 252) vom 27. Dezember 1539, Hartmann, V, N r . 2369, S. 2 6 0 f.: „Ditz i s t . . . min gering mutmaßen, der billikeitt nodi beyd parthyen zu verdragen vnd, dormitt sy nitt in wyteren kosten wachsen, zu verhieten. Beducht mich, das an dem ort niemants verkürtzt oder vervortheilt, sunder gegen einander der billikeitt noch b e d a c h t . . . wie ich dan mine cogitationes vß guter einfeltiger vnd verdruwter meinung euch endeckt hab, der in der warheitt nütz anders, dan das beyden parthyen mines be-
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Bonifacius Amerbach als Rechtsgutachter
Beispiele für alle Stadien ihrer Entstehung urkundlich im AmerbachNachlaß, „vom flüchtigen Konzept bis zur korrigierten Reinschrift, und alle Größenordnungen, von der ,summarie et paucissimis verbis' abgefaßten Antwort auf eine eilige F r a g e . . . bis zu der gründlichen, mehrfach umredigierten, aus Rechtsquellen und Literatur belegten Erörterung verwickelter Fälle auf vielen hundert Seiten"10. So viel über das Äußerliche. dendcens lydlidi vnd der billikeitt anlidi sudie, damitt auch beyden parthyen zu ruw geholffen vnd wyter spenn, so zu wyterer zerdrennung gmeiner früntschafft dienlich, abgelernt vnd vffgehoben werden"; Brief an Hans Jacob Hoecklin vom 10. November 1540, Hartmann, V, Nr. 2417, S. 307, Z. 7 f.: „Vff das beharr ich noch vff minem alten rot, ob er einherley weg durch Adels personen zu einer früntlichen handlung medit gebrocht werden"; vgl. daselbst, S. 204, Z. 90 f.; 332, Z. 45 ff. — Mit rechtsanwaltlidier Vertretung vor Gericht befaßte sich Amerbach nicht. Vgl. Schreiben Amerbachs an Hans Friedrich von Landeck vom 6. Februar 1539, Hartmann, V, Nr. 2305, S. 204, Z. 103—108: „ . . . a l s dan würt im von nöten sin, ein a d v o c a t e n . . . zubestellen, der im sin handell volfiere; dan ich im darin nitt köndt ze willen werden, der ich mich bitzher aller procuration vnd advocation gemessigett vnd hin furt gantz zu entschlahen willens bin vnd nur in consiliis vnd rotsdilegen wurdt lossen bruchen"; auch daselbst, Nr. 2553 (1543), S. 437. 10 Thteme, S. 148 f. Vgl. dazu Amerbachs Brief an den Basler Stadtschreiber Heinrich Ryhiner vom 25. November 1538, Hartmann, V, Nr. 2247, S. 151, Z. 3 ff.: „ . . . mir ein fast kurtz zill gesteckt, dan mir vnd mines glichen, zu beratschlagen on biecher [Amerbach hatte sich damals vor der in Basel herrschenden Pest nach Neuenburg geflüchtet] vnd ylendt, vast schwer; yedoch, so vil mir in der yl [Eile] zugefallen, hab ich verzeichnet... Schicks doch vch zu, denen das zu vberantwurten, mitt ernstlicher bitt, ir wellen mich minen gn[ädigen] h [erren] in druwen befeldien vnd [so] sy ettwas min hinfurter bedorffen, midis bizyten zu berieffen oder zuzesdiicken; den in der warheitt, solch ylen mich vbel ankumpt vnd die sachen vnderwylen so seltzams, das mans nitt also kan uß dem ermel schütten" (ähnlich daselbst, S. 48, Z. 4, unten, Anm. 34). Zusatz am Rande des Konzepts: „das ich vff ditz von mangel biecher wegen nitt leisten mag. Beducht mich, das dem vlyssig sy nadizugedencken, dan die yetzigen pebst vnd keiser vermeinen nitt minder gwalt haben dan die, so vor ettlich hundert jor gelept". Thieme berichtet auch kulturhistorisch interessante Einzelheiten über die Honorierung der Gutachten und Amerbachs vornehme Haltung in solchen Fragen. Dazu siehe Amerbachs Schreiben an Hans Rudolf von Schönau vom 4. März 1539, Hartmann, V, Nr. 2319, S. 213, Z. 15 ff.: „Der Belonung oder vererung halb ist bitzher min gewonheitt nitt gewesen, von yemants ettwas zu begern oder einich summ zu bestimmen, by welchem ichs dan audi yez bliben loss. Wils Ewer Vest, wormitt sy mich vereren well, heimgesetzt haben, . . .". Aus der Amerbachkorrespondenz notiere ich folgende Angaben über Amerbachs Gutachtenhonorare: Hartmann, V, S. 185, Anm. 1: zwei Gulden; Nr. 2311, S. 209, Z. 15 f.: „Vnd zu vergleidiung obgedachter vnd diser jetziger ewer arbait, so schickhen wir euch hiebey ein silberin vergult trinckgeschirr" ; S. 313, Anm. 1, Notiz Amerbachs betreffend Rat von Straß-
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Betrachtet m a n die juristische S t r u k t u r dieser gutachtlichen Ä u ß e rungen, so g e w i n n t m a n die Uberzeugung, d a ß der Niederschrift eine sorgfältige Erfassung und P r ü f u n g jedes Falles nach der tatsächlichen wie nach der rechtlichen Seite vorangegangen sein muß. D a ß eine solche stets in seiner Absicht lag, bringt Amerbach selbst einem K l i e n ten gegenüber z u m Ausdruck, u m die verspätete A b l i e f e r u n g seines Gutachtens zu entschuldigen. Dabei b e m e r k t er, d a ß er sich der besseren Ansicht anderer D o k t o r e n füge, im übrigen aber seine Meinung zu verteidigen wissen w e r d e 1 1 . Selbst nach A b g a n g des Gutachtens beschäftigt ihn noch die materielle w i e die f o r m e l l e Seite desselben Rechtsfalls, und er sendet dem A u f t r a g g e b e r ergänzende E r k l ä r u n g e n und A n w e i s u n g e n : „ D a r u m b ich allein w a r n e n , das so n ü z v e r s u m p t w e r d t " . Scheint Amerbach jedoch der Tatbestand und infolgedessen die Rechtslage nicht k l a r zu sein, zieht er es v o r , die Erteilung eines förmlichen Gutachtens abzulehnen, und gibt manchmal nur formlos, jedoch nicht minder gründlich A u s k u n f t 1 2 . bürg: „Miserunt... pro honorario 20 thaler post sesquiannum"; S. 461, Anm. 2: „ein vergült silbergeschirr". Bei Hartmann, V, gegenüber S. 485, ist ein Teil einer Seite aus einem Gutaditenmanuskript Amerbachs photographisdi wiedergegeben. 11 Schreiben vom 26. April 1537 an Sigmund von Falckenstein, Hartmann, V, Nr. 2134, S. 48, Z. 3—10: „Hatt das von wegen miner gescheit nitt ee megen sin, dan solch ding nitt glich also vss dem ermell zesdiütten, deshalb idi gern mer wyl gehept hett, alle ding flysig zu besichtigen, aber doch, ob gott wil, nüz versumpt. Verhoff, das, so idi consuliert, in rechten gegründt; beger auch, das mans anderen doctoribus zeige; kan dan mich einer bessers leren, wil idi im gern wichen vnd min sententz mutiern; wo aber nitt, so vnderstandt idi min sententz zubesdiützen vnd schirmen"; vgl. daselbst, Nr. 2181 (1538), S. 91. Bisweilen wurde in der Tat ein anderer Jurist beigezogen, dann aber Amerbach dessen Gutachten zur Stellungnahme vorgelegt; so im Falle Hartmann, V, Nr. 2198, S. 102 f. — Schreiben Hans Albredits von Anwil und Peters Gebwiler an Amerbach vom 22. Oktober 1537, Hartmann, V, Nr. 2165, S. 74; darin Dank für einen von Peter Bitterlin (über ihn Hartmann, III, S. 403 f.) durch Vermittlung (ob auch unter Mitwirkung?) Amerbachs erstatteten Ratschlag: „Haben wir dissen [ratschlag] vff das flyßigst mit aller zierlicheit, auch vff all angezogne puncten der parthyen gemacht befunden, alß das nichts vnderlassen. Deßhalb wir möchten achten, das die arbeit, muhe vnd flyß, so darüber gangen, ettwas hohers erforderten, dann villeicht gelegenheit der sachen ist; . . 12 Schreiben an Hans Friedrich von Landeck vom 6. Februar 1539, Hartmann, V, Nr. 2305, S. 202, Z. 32—35: „ . . . dwil kein kuntsdiafft beyder parthy noch nitt inbrocht, das mir den handel grüntlich zuberatschlagen nitt wol müglich, als dem, wie ein yede parthy an irem fürwenden vnd rechten gegründt oder gefasset, ver-
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Bonifacius Amerbach als Rechtsgutachter
Der Aufbau der Gutachten folgt strenger Logik, die übersichtliche Anordnung guter Systematik. In der Regel sind eingangs die Rechtsfragen, auf die es ankam, in knapper Fassung klar formuliert. Bei den juristischen Ausführungen befleißigt sich Amerbach ebenfalls möglichster Kürze und größter Deutlichkeit, welche die Interpretation erleichtern und künftige Anfechtung erschweren sollen 13 . Ihrer sachlich richtigen und auch den besonderen Umständen des Einzelfalles Rechnung tragenden Beantwortung, die natürlich rein objektiv sein sollte, galt vor allem die Aufmerksamkeit und das Bemühen des Gutachters 14 . Um diesen Zweck zu erreichen, werden die Normen des römischen Redits in doppelter Weise auf ihre Anwendbarkeit geprüft. Zunächst wird untersucht, ob der gegebene Tatbestand unter das römische Gesetz subsumierbar sei, sodann, ob der Anwendung desselben nicht etwa andere Normen des weltlichen oder kirchlichen Rechts im Wege stehen, die selbst auch gewohnheitsrechtlidier Natur sein können. So heißt es gleich am Beginn eines Gutachtens: „ . . . dwil nun beyde eegemecht ab intestato oder on testament abgestorben, ist es vsfundigs rechten, das verlasne beyder eitern hab vnd gut beyde kindt zu glichem geburendem theyl erbwys ist angefallen, wo nitt statt oder landt recht, do das erbfal gefallen, keiserlichen geschribnen rediten, deren inhalt ich nochvolg, zewider" 1 5 . Im Basel des 16. Jahrborgen. Dodi min meinung, so vil vff ditzmol müglidi ist, nitt zu verhalten, is vff den ersten artickel min rot" [folgt formlose, deshalb jedodi nicht minder gründliche Auskunft]; daselbst, S. 204, Z. 85—88: „Were von nöten, das man ein satten bescheid hätte, d o r m i t . . . man wissett, woruff man lenden medit, vnd man nitt ein lär strow dresdiett". 1 3 Schreiben an Hans Rudolf von Schönau vom 4. März 1539, Hartmann, V, Nr. 2319, S. 213, Z. 4 ff.: „Vnd wiewol der [rattsdilag] kurtz, ist doch in dem meines bedunckens nütz zu der sachen nottwendig vnderlossen, dan idi nitt allein, was mich zu vndernemmung yezgemelter renunciation oder verzidiung bequemlich [bedudit], sunder audi deren art vnd natur zum kurtzesten anzeigt hab, damitt diser rattsdilag diser yetzigen handlung auch zu künfftigen zyten, so yemans die verzichung widerfechten vnderstiendt, wie man im rechten gegründt, vnd wie desselben nichtig furnemmen abzuleinen, diene". 1 4 In Zusammenhang mit einem Rechtsgutachten schreibt einmal Amerbadi an einen Klienten: „ . . . e i n doctor kaiserlicher redit soll auff kain person, sonder auff das recht acht haben"; Brief an Hans Rudolf von Schönau vom l.Juni 1542, Hartmann, V, Nr. 2484, S. 371, Z. 12 f. 1 5 Zum Beispiel Gutachten für Hans Rudolf von Schönau, vor dem 4. März 1539, Hartmann, V, Anhang, Nr. 3, S. 480, Z. 5—8.
Die Rechtsgutachten als Quelle der Rezeptionsgeschichte
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h u n d e r t s w u r d e d e n römischen R e c h t s r e g e l n n u r subsidiäre B e d e u t u n g u n d G e l t u n g beigemessen. „ D i e w i l n u n l a n d t v n d s t e t t r e c h t g e m e i n e n geschribnen rechten ir w u r c k s a m e v n d k r a f f t n e m m e n , so l o ß ich auch b y einer E r s a m e n o b e r k e i t Ordnung v n d g e s e t z t e n r e d i t e n
bliben",
schreibt A m e r b a c h in e i n e m a n d e r e n C o n s i l i u m hinsichtlich d e r s t r a f rechtlichen F o l g e n eines E h e b r u c h s ; u n d bezüglich d e r zivilrechtlichen F o l g e n ä u ß e r t er sich i m gleichen F a l l e so: „ L a s s e t s also in civili o d e r b ü r g e r l i c h e r k l a g b y pebstlichem recht v n d h e r g e b r a c h t e n
gewonheit
b l i b e n " 1 6 , das sei a u d i d e r S t a n d p u n k t der E n t w ü r f e d e r P e i n l i c h e n Gerichtsordnung von Augsburg ( 1 5 3 0 ) und Regensburg ( 1 5 3 2 ) .
Sidi
m i t F r a g e n des p ä p s t l i c h e n R e d i t s e x p r o f e s s o gutachtlich z u b e s c h ä f tigen, l e h n t A m e r b a c h g r u n d s ä t z l i c h ab, j e d o c h nicht o h n e sich d a n n u n d w a n n eine A u s n a h m e v o n d e r a u f g e s t e l l t e n R e g e l z u g e s t a t t e n 1 7 .
1 6 Gutachten an den Rat betreffend Johann Herwagen und Katherin Weckhart vom 19. Oktober 1541, Hartmann, V, Anhang, Nr. 4, S. 486, Z. 61—63 und 44—46; d.azu auch Adrian Staehelin (oben, I, Anm. 16), S. 84 f. Auch nach einem Menschenalter noch gelangte Basilius Amerbach zu dem gleichen Ergebnis der nur subsidiären Geltung des römischen Rechts in einem dem Rat der Stadt Breslau 1575 namens der Juristischen Fakultät Basel erteilten Gutachten; vgl. Thieme, Statutarredit und Rezeption (oben, I, Anm. 14), S. 82 f. Thieme scheint diese Auffassung jedoch als eine Abschwächung gegenüber derjenigen der vorangehenden Generation zu betrachten; vgl. Thieme, Die beiden Amerbach, S. 147: „Für ihn [Basilius Amerbach] bedeutet die Subsidiarität der ,kaiserlichen Rechte' offenbar bereits eine, auch politisch bejahte, Notwendigkeit" (Hervorhebung von Thieme). Dagegen ist die ständige Auffassung von der bloßen Subsidiarität des römischen Rechtes in Basel zutreffend bereits betont von Emil Remigius Frey, Die Quellen des Basler Stadtrechts, S. 149 f.: „Ein besonderes Streben, die Grundsätze des römischen Rechts dem Ratfragenden rücksichtslos als einzige Norm aufzudringen, habe idi nie bemerkt. Vielmehr zeigt mir eine Reihe von Gutachten, daß die Stadtkonsulenten, so wie überhaupt unsere Baslerischen Rechtsgelehrten, audi Landesgebräuche wohl zu würdigen verstuhnden, obschon sie daneben die Gemeingültigkeit des römischen und kanonischen Rechts als etwas Unbezweifeltes voraussetzten. Ja, den Grundsatz der Subsidiarität führten sie mit eiserner Konsequenz durch, zumal seit der zweiten Hälfte des siebenzehnten Jahrhunderts". 17 Schreiben an Petrus Dasypodius, Dekan des Thomaskapitels zu Straßburg, vom November 1542, Hartmann, V, Nr. 2504, S. 394, Z. 6 ff.: „. . . quod . . . mea vobis opella nihil opus esse intelligerem.. . meae professionis rationem habens. Nam si Q. Scaeuolae, hominis iurisconsultissimi, moderationem veteres laudarunt, consultores de iure praediatorio ad Furium et Cassellium praediatores reicientis [d. h. an Fachleute], mihi certe iura Caesarea profitenti vicio vertí non posset, si pontificii iuris quaestiones his excuciendas relinquerem, qui in eo versati sunt et exercitati. Attamen malui de officio meo decedere ac hospes alienam aream ingredi, quam vobis quicquam denegare, quos ob raram eruditionem singulari pietati iunc-
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Bonifacius Amerbach als Rechtsgutachter
In den an den Basler Rat gerichteten, sehr förmlich gehaltenen Konsilien wird in den Schlußklauseln, die in devoter Sprache abgefaßt sind, zuweilen „Ewer Streng Ersam Wisheit" nicht nur die Anwendung des Statutarrechts überlassen, sondern allgemein die Heranziehung des römischen Rechts dem Gutdünken anheimgegeben, „so sy geschribner recht Satzungen nachzevolgen gesinnet"18. Daraus darf geschlossen werden, daß eine bindende Verpflichtung zur Anwendung der römischen Rechtssätze in Basel damals noch nicht angenommen wurde. Bei seinen juristischen Argumentationen und logischen Deduktionen verfällt Amerbach auch in den Responsa häufig in die von seinen Vorlesungen her gewohnte lehrhafte Weise. Sie gibt nicht selten Veranlassung zur Erklärung altrömischer Lebensverhältnisse und Rechtseinrichtungen, was zur Vergleichung mit den damals modernen Gegebenheiten führt, um schließlich zu einer Entscheidung über die Anwendbarkeit der doch fremden Normen im Einzelfall, der zur Erörterung steht, zu gelangen19. Das Recht und die juristische Denkarbeit einer antiken Kulturperiode sollte den Erfordernissen der zeittam plurimi fació . . . " . Vgl. etwa auch den in dem Schreiben an Beatus Rhenanus vom 28. April 1543 und einem vorangegangenen des letzteren ( H a r t m a n n , V, N r . 2552, S. 435 f., N r . 2549, S. 433 f.) behandelten Rechtsfall, der vor dem Basler Ehegericht schwebte. 18 Gutachten an den R a t vom 29. November 1546, Universitätsbibliothek Basel Mscr. C VI a 45, 849. Vgl. Gutachten an den R a t vom 19. Oktober 1541, Hartmann, V, Anhang, N r . 4, S. 488, Z. 152: „Ditz i s t . . ., so vil keiserlicher oder geschribner recht Ordnung. . . ze antwurten mines bedunckens vsswysen. Will hiemitt Ewer Ersam Wysheit ir besser meinung, auch ire statuta, Ordnungen vnd bitz hie hergebrachte vnd gevbte in solchen fälen brüch in allweg vorbehalten haben"; ähnlich das unten im Anhang abgedruckte Gutachten vom 9. August 1540: „Also, beducht mich, inhalt keiserlicher geschribnen rechten soll vnd meg geantwurt werden. Doch will ich stett- vnd landtrecht oder bruch, so mir nitt zewissen, desglichen minen gn.herren als den mer verstendigen iren bessern sententz vorbehalten haben". Gutachten an den Rat vom Mai 1542, Hartmann, V, Anhang, N r . 5, S. 493, Z. 195—200: „ . . . welches mir wyters zu deduciern nitt gebürt, so allein keiserlichen rechten halb gefrogt, vnd Ewer Ersam Wysheit sich nitt allein in dem von wegen irs hohen verstandt, sunder vss täglichem bruch vnd erfarung nodi diser statt art vnd gelegenheit wol weis zehalten". 19 Vgl. z. B. die Ausführungen über den römisch-rechtlichen Unterschied zwischen servi und liberti und die durch Vergleich mit den gegebenen Verhältnissen erzielten Folgerungen in dem Gutachten an den Basler Rat vom 9. August 1540, Universitätsbibliothek Basel, Mscr. C VI a 58, 274, jetzt gedruckt weiter unten im Anhang.
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genössischen Gesellschaft angepaßt und nutzbar gemacht werden, durch die sinngerechte Interpretation sollte seine Anwendbarkeit in der Praxis ermöglicht und erreicht werden. Das war schon die Aufgabe und das Bestreben der mittelalterlichen Kommentatoren des römischen Rechts gewesen. Das gleiche Ziel steht vor den Augen des praktischen Juristen des 16. Jahrhunderts, der sich als Schüler jener großen Meister des Redits bekennt und erweist. Die in den Konsilien gebotene Möglichkeit, in jene Richtung zielende Gedankenwege nach Jahrhunderten verfolgen zu können, erschließt dem Rechtshistoriker eine fast unerschöpfliche und dabei höchst zuverlässige Erkenntnisquelle. Anders als bei den mittelalterlichen Schöffensprüchen und Oberhofentscheidungen, in denen die Erwägungen, welche die moderne Rechtssprache mit dem Namen „Entscheidungsgründe" bezeichnet, niemals gesondert zum Ausdruck kommen, sondern nur aus der allerdings zumeist juristisch scharfen Formulierung des Rechtsspruchs erschlossen werden müssen20, eröffnet sich hier ein willkommener Einblick in die Gedankenarbeit und in die juristischen Motive für die Überlegungen eines im 16. Jahrhundert „respondierenden" Juristen. Stehen für diesen audi in erster Linie die Sätze und Gesetze des römisdien Rechts im Vordergrund der Erwägung, so geht er doch an der geistigen Leistung der mittelalterlichen Interpreten nicht achtlos vorüber, sondern dringt in die Kommentare und Auffassungen der Glossatoren und Postglossatoren ein, auf deren Meinungen er mit Angabe ihrer Urheber regelmäßig eingeht. So begegnen in den Responsa gar häufig die Namen der bedeutendsten mittelalterlichen Juristen wie Cinus, Bartolus, Baldus, Angelus, Paulus de Castro, Panormitanus, Alexander Imola, Iason de Mayno und andere 21 . Natürlich werden neben Statuten und kirchlichem Recht auch neuere
20
Vgl. G. Kisch, Leipziger Schöffenspruch Sammlung, Leipzig 1919, Einleitung,
S. 25». 21 Die Erwähnungen sind zu zahlreich, um angeführt zu werden. Vgl. z. B. Hartmann, V, S. 483, Ζ. 139 (Paulus de Castro); V, S. 488, Z. 127 und 136 (Iason); siehe auch G. Kisch, Bartolus und Basel, S. 53 f., Anm. 63, 64. Mit Recht sagt Walther Köhler (oben, Anm. 3), S. 75: „Auf die Persönlichkeit des berühmten Juristen [Bonifacius Amerbach] werfen seine Gutachten erwünschtes Licht. Seine stupende Gelehrsamkeit würde freilich erst die Aufzählung der von ihm an den Rand gesetzten Zitate aus dem römischen und kanonischen Recht oder aus anderen Quellen erweisen".
172
Bonifacius Amerbach als Rechtsgutachter
Gesetze wie die Constitutio Criminalis Carolina in den Rechtsgutachten herangezogen, deren Geltung als selbstverständlich vorausgesetzt ist 22 . Bei allen seinen Erwägungen läßt sich Amerbach aber nicht etwa wie mancher seiner bedeutenden juristischen Zeitgenossen und Kollegen von starrem oder gar übertriebenem Rechtspositivismus leiten 23 . Bei seiner Tätigkeit als Rechtsberater, namentlich des Basler Rates, steht ihm immer als leitender Gesichtspunkt das höhere Ziel vor Augen, daß „ein erbar oberkeit dem gmeinen gut nochzedrachten und dem eignen furzesetzen inhalt göttlicher, naturlicher und keiserlicher rechten schuldig" 24 . Wie ersichtlich, steht das kaiserliche Recht in dieser idealen Rangordnung erst an dritter Stelle. Man wird wohl nicht fehlgehen, Amerbachs Auffassung dahin zu verstehen, daß dieses den beiden anderen zuerst genannten nicht nur rangordnungsmäßig nachgeht, sondern, wo es zur Anwendung gelangt, mit jenen höheren Rechtssätzen in harmonischem Einklang stehen oder in solchen gebracht werden müsse. In Amerbachs Gedanken darüber, in welcher Weise dies im Hinblick auf das natürliche Recht zu geschehen habe, wird das folgende Kapitel dieser Studie einen Einblick gewähren. Hinsichtlich des göttlichen Rechts kann hier nur kurz darauf hingewiesen werden, daß die Geltung des kanonischen Rechts nicht nur nicht bestritten, sondern daß diesem in gewissen Rechtsbereichen nach wie vor der Vorrang gegenüber dem römischen Recht eingeräumt wird. Dies ist in einem Gutachten betreffend Erbverzicht zum Ausdruck gebracht, durch welchen die Beteiligten geloben, „fry gut11 Siehe ζ. B. das unten im Anhang abgedruckte Gutachten vom 17. Oktober 1547. Vgl. Johannes Ν agier, Die Geltung der Carolina in Basel, in: Festschrift zur Feier des 450jährigen Bestehens der Universität Basel, Basel 1910, S. 35—109, besonders S. 68, 71 f. Die Belege für die Geltung der Carolina in Basel aus den Amerbachsdien Gutachten sind daher erheblich früher als die von Nagler beigebrachten, worauf auch Thieme, S. 155, Anm. 2 aufmerksam gemacht hat; Thieme, Festschrift Guido Kisch, S. 82, Anm. 46. 23 His, S. 155, faßt seine Anschauung wie folgt zusammen, ohne spezifische Beispiele aus Amerbachs Gutachtenpraxis beizubringen: „In seinen Gutachten stellt er oft der Lösung nach dem .styffen* Recht eine andere nach der ,Billigkeit' zur Seite und überläßt es dabei dem verantwortlichen Richter, welcher von beiden er den Vorzug geben wolle". 24 Gutachten an den Rat vom Mai 1542, Hartmann, V, Anhang, Nr. 5, S. 489 Z. 2—5.
Die Rechtsgutachten als Quelle der Rezeptionsgeschichte
173
w i l l i g vetterliches v n d mietterliches e r b m i t t d e m e y d v e r z i e h e n v n d d a s styff v n d v e s t z e h a l t e n " . A m e r b a c h stellt f e s t : „ D a n d w i l solcher e y d t n i t t w i d e r d e r seel heil o d e r y e m a n t s a n d e r s p r i n c i p a l i t e r o d e r f u r n e m l i c h e n schaden reichet, w e l l e n v n d s t a t u i r n geistliche recht, d a s solch p a c t o d e r v e r z i c h u n g v n z e r b r o c h l i c h v e r b i n d e v n d solle styff g e h a l t e n w e r d e n , welchen geistlichen rechten keiserliche v o n des e y d t s a u d i gehorchen o d e r g h o r s a m e n " 2 5 .
Es kann daher
wegen nicht
ü b e r r a s c h e n , z u m a l w e n n m a n die religiöse P e r s ö n l i c h k e i t A m e r b a c h s m i t in B e t r a c h t zieht, d a ß m a n in seinen G u t a c h t e n auch H i n w e i s e n u n d B e z u g n a h m e n a u f das i m A l t e n T e s t a m e n t n i e d e r g e l e g t e m o s a ische R e c h t begegnet, dessen V o r b i l d l i c h k e i t als ebenso s e l b s t v e r s t ä n d lich v o r a u s g e s e t z t w i r d w i e die d e r ethischen G r u n d s ä t z e des E v a n g e liums26.
2 5 Gutachten vor dem 4. März 1539, Hartmann, V, Anhang, Nr. 3, S. 481, Z. 46—53. Walther Köhler (oben, Anm. 3), S. 75, scheint mir Amerbachs „starke Unabhängigkeit vom kanonischen Rechte" allzu sehr zu betonen. 2 6 Gutaditen an den Rat vom 19. Oktober 1541, Hartmann, V, Anhang, Nr. 4, S. 486, Z. 52 f., betreffend die Frage der Zulässigkeit der Ehe mit der Witwe des Stiefsohns: „ . . . wie dan das audi in dem mosaischen gsatz (dorus dise miner herren Ordnung gezogen) mines achtens nitt verbotten"; Bezugnahme auf das „göttliche oder mosaische gsatz" auch in dem weiter unten im Anhang abgedruckten Gutachten vom 17. Oktober 1547. In Zusammenhang mit der Reformation spielt das Alte Testament als ius divinum im Rechtsdenken der Zeit eine erhebliche Rolle. Melanchthon soll erwogen haben, das mosaische Redit an die Stelle des römischkanonischen zu setzen, und ein sächsischer Herzog, Johann der Beständige, der jüngere Bruder und Mitregent des Kurfürsten Friedrich des Weisen, konnte nur mit Mühe von dem Projekt abgebracht werden, das mosaische Recht in seinem Lande einzuführen (1524); Stintzing, Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft, I, S. 271 f.; Paul Koschaker, Europa und das römische Recht, München 1947, S. 159 f. Vgl. G. Kisdo, Melandithons Rechts- und Soziallehre, Berlin 1967, S. 105 f. und Anm. 9. Amerbach mußte sich 1539 mit einem ähnlichen Projekt befassen. Pierre Loriot (Petrus Loriotus, gest. 1573) suchte den Basler Rat in einer langen Eingabe, die bei Hartmann, V, Nr. 2348, S. 237 bis 247, mit der von Amerbach verfaßten Antwort (Nr. 2350, S. 248 f.) gedruckt ist, zu bewegen, den Unterricht im römischen Redit an der Universität Basel durch den in den „christlichen Gesetzen" zu ersetzen: „Amatis nempe totis viribus Christo compiacere, quod nunquam efficere poteritis, quamdiu iuri Romano apud vos locus erit, q u o n i a m . . . ius illud non solum Mosaicis, verum etiam Christi legibus est contrarium" (S. 240, Z. 101—104); „Abicite ergo omnia, quae iuri divino contraria sunt; alioqui omnium peccatorum rei eritis" (S. 241, Z. 122 f.); „Hoc igitur meum est consilium, ut legum Romanarum loco, quae publicitus quotidie in celebri universitate vestra docentur, summa diligentia curetis divinas leges explicari et adamussim custodiri" (S. 244, Z. 254—257). Diese Episode aus Loriots Leben war bisher unbekannt. G. Kisch, a. a. O., S. 68,
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Bonifacius Amerbach als Rechtsgutachter
Aber nicht nur an dem gedanklichen und materiell-juristischen Inhalt der Rechtsgutachten läßt sich die Einstellung zum römischen Recht und die Bedeutung, welche diesem in der Rechtspraxis des 16. Jahrhunderts zukam, studieren. Auch aus dem äußeren Gewände, namentlich aus der Sprache der Rechtsbelehrungen, lassen sich mancherlei Aufschlüsse über sein Eindringen und seine zunehmende Geltung auf Schweizer Boden gewinnen. Die einst von Aloys von Orelli vertretene Meinung, daß wir auf Grund der Responsa „den Einfluß des römischen Rechtes und der Wissenschaft auf die Gerichtspraxis und auf die Gesetzgebung in Basel nicht hoch anschlagen können", ist dringend der Revision bedürftig 27 . Es ist richtig, daß das römische Recht erst im Begriffe war, sich eine beherrschende Stellung in gewissen Gebieten der Schweiz zu erobern. Daß dazu aber ein wohlvorbereiteter, sicherer Weg führte, wird kaum zu bestreiten sein. Die in den Gutachten entgegentretende Rechtssprache deutet an, in welcher Weise er sich anbahnte und zum Ziele führte. Wenn auch die Sprache namentlich der an den Basler Rat gerichteten Gutachten die deutsche ist, so war es die der Gelehrten und des gelehrten Rechts schon lange nicht mehr. Das kann man aus den Konsilien spüren, welche für Juristen und geistliche Gerichte selbstverständlich lateinisch geschrieben waren. Es kommt selbst in den in deutscher Sprache verfaßten unmittelbar zum Ausdruck. Für die in die Rechtssprache nun eindringenden lateinischen termini technici wurden die deutschen Entsprechungen den fremden Bezeichnungen regelmäßig beigefügt. Hier folgt eine kleine Sammlung, die aus einem einzigen Gutachten Amerbachs vom Anm. 4 9 ; Adrian Staehelin, Pierre Loriot und seine Ideen von der Einführung des göttlichen Rechts, Zeitschrift für schweizerisches Recht, 101, 1960, S. 1 5 5 — 1 7 1 . Uber Loriot und seine humanistisch-juristische Richtung vgl. Theodor Muther, Zur Geschichte der Rechtswissenschaft und der Universitäten in Deutschland, Jena 1876, S. 109 ff.; Stintzing, a . a . O . , S. 126 f., 373 ff.; Myron Piper Gilmore, Argument from Roman L a w in Political Thought 1 2 0 0 — 1 6 0 0 , Cambridge, Mass. 1941, S. 75 f. 27 Aloys von Orelli, Rechtsschulen und Rechtsliteratur in der Schweiz vom Ende des Mittelalters bis zur Gründung der Universitäten von Zürich und Bern, Zürich 1879, S. 16. Zu der im T e x t aufgeworfenen Frage ausführlich G. Kisch, Forschungen zur Geschichte des Humanismus in Basel (oben, I, Anm. 6), S. 213 ff., sowie die erste im vorliegenden Band veröffentlichte Studie. Abhandlungen zur Geschichte des Eindringens des römischen Rechts in der Schweiz werden jetzt in der Schriftenreihe lus Romanum in Helvetia gesammelt, von der bisher drei Bände vorliegen.
D i e Rechtsgutachten als Quelle der Rezeptionsgeschichte
175
Jahre 1539 zusammengestellt ist 28 : ab intestato oder on testament; mitt irem naturlichem pflichtheil, den man in latin legittimam nemmet (nennt); so die döchter púberes oder vber ire zwelff jar kummen; opinion oder meinung; curatorn oder vogten; curae oder vogty; mitt des vogts auctoritet oder gwaltsame; mitt solemniteten oder zierlicheiten des hofs (Gerichts); ratificiert vnd fur krefftig erkent; exception vnd ausflüchten; repetiern oder affern (wiederholen); vszug oder exception; instrument oder brieff. „Es ist nicht zufällig", wie Karl von Amira einmal treffend bemerkt hat, „daß, wenn audi nicht überall so doch oftmals, die Rechtswissenschaft mit der Philologie begonnen hat. Die ersten eigentlichen Rechtsgelehrten im Mittelalter sind Philologen gewesen. Sie gingen von der Philologie aus und behandelten die geschriebenen Gesetzestexte des römischen Reiches und der Kirche mit den Mitteln der Philologie, und von hier kam man zur Jurisprudenz" 29 . Dies kann in gewisser Hinsicht auch auf die Rezeption des römischen Rechts in Zentraleuropa bezogen werden. Seine Aufnahme in die Rechtspraxis wurde durch eine Phase eingeleitet, die man sehr wohl als das Stadium der sprachlichen Rezeption bezeichnen und der sachlichen gegenüberstellen könnte. Eine frühe Entwicklungsstufe ist durch die Vermerkung und Sammlung technischer Ausdrücke der Rechtssprache gekennzeichnet, die der Ubersetzung, sprachlichen Erklärung und juristischen Interpretation bedürfen. Zu ihrer Erläuterung führte man entweder die entsprechenden deutschen rechtlichen Bezeichnungen an oder man umschrieb ihre Bedeutung kurz in deutscher, bisweilen auch in lateinischer Sprache. Anscheinend genügte manchmal, wie zum Teil auch in den hier betrachteten Fällen, einfach eine deutsche Übersetzung des betreffenden Rechtsausdrucks. Auf den Bedarf der Praxis ist die Anlegung zweisprachiger Wörterverzeichnisse oder Rechtswörterbücher zurückzuführen, die sich mancher Anwalt, Richter oder Stadtschreiber in primitiver Form, bisweilen noch nicht einmal in alphabetische Ordnung gebracht, für den eigenen Gebrauch angelegt hat, 28 Hartmann, V, Anhang, N r . 3, S. 480—484. Allgemein über die juristische Übersetzungstechnik dieser Zeit handelt der philologische Aufsatz v o n Lutz Mackensen, D e r Zasiusübersetzer Lauterbeck, ein Beitrag zur frühneuhochdeutschen Obersetzungstechnik, Germanisch-Romanische Monatsschrift, X I , 1923, S. 304—313. 29 Karl von Amira, Wie studiert man Rechtswissenschaft? München 1909, S. 9.
Bonifacius Amerbach als Rechtsgutachter
176
b e v o r u n d w ä h r e n d schon die g r o ß e L i t e r a t u r d e r R e c h t s v o k a b u l a r i e n zur
Verfügung
stand30.
Es
wäre
leicht,
ein
solches
juristischer T e r m i n i m i t d e n e n t s p r e c h e n d e n deutschen
Verzeichnis Wiedergaben
aus A m e r b a c h s R e c h t s g u t a c h t e n z u s a m m e n z u s t e l l e n , v o n d e m m a n sich allerlei E i n b l i c k e in d e n V e r l a u f d e r R e z e p t i o n s g e s c h i c h t e v e r s p r e c h e n d a r f 3 1 . E i n e S a m m l u n g „Termini f ü r rechtshistorische,
iuridici
verteutscht",
freilich nicht
s o n d e r n w o h l f ü r juristisch-praktische
Zwecke
v o n seinem E n k e l , d e m B a s l e r P r o f e s s o r J o h a n n L u d w i g Iselin a n g e legt, h a t sich i m A m e r b a c h - N a c h l a ß e r h a l t e n 3 2 . W e l c h e m spezifischen Z w e c k sie g e d i e n t h a t , l ä ß t sich o h n e g e n a u e r e s S t u d i u m d e r P e r s ö n lichkeit
und
Wirksamkeit
sowie
des
erhaltenen
wissenschaftlichen
N a c h l a s s e s des V e r f a s s e r s , d e r w i e sein G r o ß v a t e r u n d O n k e l B a s l e r Ratskonsulent
g e w e s e n ist, nicht s a g e n 3 3 . Bei B o n i f a c i u s
Amerbach
3 0 Über diese siehe die nachfolgend genannten beiden Werke, die auch heute noch unübertroffen sind: Roderick Stintzing, Geschichte der populären Literatur des römisch-kanonischen Redits in Deutschland am Ende des fünfzehnten und im Anfang des sechszehnten Jahrhunderts, Leipzig 1867; Emil Seckel, Beiträge zur Geschichte beider Rechte im Mittelalter, Erster Band: Zur Geschichte der populären Literatur des römisch-kanonischen Rechts, Tübingen 1898. Die von Seckel in Aussicht gestellten zwei weiteren Bände sind leider ungeschrieben geblieben. 3 1 Ausführlich über die Bedeutung der Rechtsvokabulare für die Rezeptionsgeschichte G. Kisch, Juridical Lexicography and the Reception of Roman Law, in: Seminar, II, Washington D. C. 1944, S. 51—81, mit zahlreichen Literaturangaben und dem Abdruck bis dahin nur handschriftlicher Rechtswörtersammlungen. Leider ist diese Abhandlung, die während des Krieges in Amerika in englischer Sprache erschien, in Europa so gut wie unbekannt geblieben. Die Geschichte der großen Literatur der Rechtslexika seit dem Mittelalter behandelt Piero Fiorelli, Vocabolari giuridici fatti e da fare, Rivista Italiana per le Scienze Giuridiche, N. S., I, 1947, S. 293—327; siehe auch oben die erste in diesem Band veröffentlichte Studie. 3 2 Sie ist von Thieme, S. 175—177 — leider ohne rechtshistorische Untersuchung — nur dem Wortlaut nach veröffentlicht; dazu jetzt Thieme, Ludwig Iselin-Ryhiner (oben, I, Anm. 14), S. 137. Das Iselinsche Rechtsvokabularium lenkt den Blick zurück auf die mittelalterlichen handschriftlich in der Basler Universitätsbibliothek erhaltenen Vokabulare, von denen keines — soweit idi sehen kann — dem Iselinschen zur Grundlage gedient hat. Das wichtigste von ihnen ist die Epitome alphabetica Basiliensis aus dem Ende des 13. Jahrhunderts, dereinst im Besitz der „fratres ordinis predicatorum domus Basiliensis", die Seckel ([oben, Anm. 30], S. 396—413) beschrieben hat, deren Bedeutung für die Geschichte der Rezeption in Basel noch der Untersuchung bedarf. 3 3 Über (Johann) Ludwig Iselin siehe Herzog, Athenae Rauricae, S. 137 f., mit Verzeichnis des in der Basler Universitätsbibliothek erhaltenen handschriftlichen Nachlasses (jetzt von Thieme inventarisiert); Thommen, Geschichte der Universität Basel, S. 185—200; Thieme, a . a . O . , und das weitere daselbst, Anm. 3, angegebene Schrifttum.
Die Rechtsgutachten als Quelle der Rezeptionsgeschichte
177
wird man die Einführung deutscher Rechtsausdrücke zur Erklärung der römisch-rechtlichen Termini, die ihm selbst zweifellos vertraut und geläufig waren, wohl mit der zugrundeliegenden Absicht erklären dürfen, daß er ihre Bedeutung denjenigen nahezubringen und klarzumachen wünschte, für die die Gutachten bestimmt waren. Das war in zahlreichen Fällen der Basler R a t , dessen Mitglieder damals des römischen Rechts und der lateinischen Sprache unkundig waren 3 4 . Deshalb werden in den Gutachten nicht nur rechtliche, sondern auch nichtjuristische lateinische Ausdrücke und sogar solche, von denen man annehmen könnte, daß sie bereits populär geworden waren, durch deutsche erläutert. Wenn Amerbach einen römisch-rechtlichen Satz zitiert, übersetzt er ihn vielfach gleich ganz ins Deutsche 35 . So wird durch das Studium der Rechtsgutachten ein Weg offenbar, den sich das in die Praxis eindringende römische Recht gebahnt, dem aber die Rechtsgeschichte bisher noch kaum Aufmerksamkeit geschenkt hat. Bei diesen Hinweisen muß es vorläufig sein Bewenden finden. Sie zeigen klar, welche Bedeutung den Basler Rechtsgutachten für die Geschichte des römischen Rechts nicht bloß in Basel und auch, abgesehen von ihrer sachlichen Wichtigkeit, für die Entwicklung der Rechtsinstitute und Rechtsauffassungen zukommt 3 6 . 34 Allgemein über Unkenntnis der lateinischen Sprache bei Ratsmitgliedern im 15. und 16. Jahrhundert G. Kisch, Juridical Lexicography, S. 58 f.; über den Einfluß der humanistischen Übersetzungen auf den latinisierenden Kanzleistil im 15. Jahrhundert Wolfgang Stammler, Popularjurisprudenz und Sprachgeschichte im X V . Jahrhundert, in: Festschrift für Friedrich Kluge zum 70. Geburtstag, Tübingen 1926, S. 133—139. 35 Zum Beispiel Hartmann, V, S. 485, Z. 11—14. 38 Siehe jetzt noch über den Basler Juristen und Freund Amerbachs, Claudius Cantiuncula, als Rechtsgutachter Kisch, Cantiuncula, S. 99—116.
III Recht und Billigkeit in Amerbachs Gutachten* D ie Bedeutung Amerbachs für die Geschichte der humanistischen Jurisprudenz beruht einmal auf seinem in anderem Zusammenhang dargestellten Eintreten für das römische Recht und seine mittelalterlichen Glossatoren und Kommentatoren im Kampf zwischen mos italicus und mos gallicus an der Universität Basel1 und ferner in der philosophischen Fundierung seiner juristischen Tätigkeit sowohl im Bereich der Theorie als auch der Praxis. Auf Grund des Studiums von Plato und Aristoteles neben dem der römischen Rechtsquellen war er schon früh zu der Erkenntnis gelangt, daß es ein einziges Mittel gebe, um alle durch die Ungunst früherer Zeiten verursachten Nachteile und in Jahrhunderten vermehrten Schwierigkeiten für ein methodisches Eindringen in das Recht zu überwinden und dem wahren Wesen des Rechts auf den Grund zu kommen: das Studium der Philosophie, namentlich der Moralphilosophie. Schon wenige Jahre nach Abfassung seiner Verteidigungsrede für die mittelalterlichen Interpreten des römischen Rechts, der Defensio interpretum iuris civilis, um 1530, empfiehlt es Amerbach seinen Freunden, Schülern, um Rat fragenden Rechtsstudenten, * Das vorliegende Kapitel stellt die erste Fassung der Ergebnisse meiner Studien über Amerbadis Aequitaslehre dar. Sie sind jetzt in stark erweiterter endgültiger Gestalt unter dem Titel „Amerbachs Aequitasdenken" als 15. Kapitel in mein Erasmusbuch aufgenommen. Trotzdem wird hier die ursprüngliche Version noch einmal wiedergegeben, wofür zwei Gründe maßgebend waren: zunächst wäre durch Weglassung die vorliegende Studie unvollständig und verstümmelt worden; sodann zeigt der Vergleich beider Versionen das Fortschreiten der Erkenntnis und die Vervollständigung des Bildes durch intensiviertes Studium der Amerbachschen Rechtsgutachten. 1 Darüber Kisch, Humanismus, S. 3 7 — 7 6 , jetzt teilweise überholt durch die Darstellung bei G. Kisch, Gestalten und Probleme aus Humanismus und Jurisprudenz, Berlin 1969, S. 9 9 — 1 7 8 ; daselbst, S. 1 6 7 — 1 7 8 ein Neudruck von Amerbachs Rede Defensio interpretum iuris civilis; über diese a . a . O . , S. 105, Anm. 4, 5 ; vgl. Kisch, Cantiuncula, S. 4 1 — 5 6 .
Recht und Billigkeit in Amerbadis Gutachten
179
und später seinem eigenen Sohn aufs wärmste 2 . „Die Rechtswissenschaft ist ein Zweig der Moralphilosophie", erklärt er, „Erläuterung und Verständnis unserer ganzen Pandekten, ja unserer ganzen Wissenschaft muß man nicht sowohl bei Bartolus und Baldus und ihresgleichen, wiewohl bei ihnen ebenfalls, als vielmehr bei Aristoteles und Plato suchen, aus denen unzweifelhaft auch die Alten das Ihrige entlehnt haben. Die Quellen unserer Wissenschaft entspringen in der Philosophie; wenn man sie nicht dort sucht, kann nichts Ordentliches hervorgebracht werden, vielmehr wird man unter dem Deckmantel der Rechtswissenschaft in verhängnisvoller Weise irren, worauf der junge Celsus aufmerksam gemacht hat". Daher soll man sich sowohl um die Rechtswissenschaft als auch um die Philosophie bemühen, sofern die beiden überhaupt getrennt werden können 3 . Aristoteles' Ethik und Politik sollen eifrig studiert, auch Piatos Werke über den Staat, über die Gesetze und eine Zusammenfassung seiner Philosophie müssen zur Stärkung des juristischen Urteils herangezogen werden 4 . Schon im Jahre 1535 hatte Amerbach in einem Gutachten über die Ausgestaltung des Universitätsunterridits die Schaffung eines Lehrstuhls für Moralphilosophie in Basel gefordert 5 . In ebenso emsigem wie intensivem Bemühen hat er selbst das Studium der griechischen Philosophen und ihrer Kommentatoren sein ganzes Leben hindurch betrieben. Untrüglich beweisen dies die noch heute in der Basler Universitätsbibliothek befindlichen Aristoteles-Ausgaben und griechischen und lateinischen Kommentare aus Amerbachs Besitz; denn in ihnen haben sich nicht nur seine Lesezeichen erhalten, sondern die 2 Vgl. auch zum folgenden Kisch, Humanismus, S. 66 ff., 154 ff., Anm. 37 ff.; auch Laurenz Zellweger, Ein Brief des Bonifacius Amerbach vom 5. Januar 1531, Zeitschrift für schweizerisches Recht, 72, 1953, S. 419—435. 3 Brief Amerbachs an Quirinus Talesius (1505—1573; über ihn Hartmann, III, S. 534) vom August 1531, Hartmann, IV, Nr. 1554, S. 67 f.; Kisch, Humanismus, S. 154 f., Anm. 38. 4 Brief Amerbachs an Bernhard Brand (1525—1594) vom 27. Dezember 1546, Konzept in der Universitätsbibliothek Basel, Mscr. Ki. Ar. 1, 19; Kisch, Humanismus, S. 155 f., Anm. 42, 43; jetzt vollständig gedruckt bei H artmann-Jenny, VI, Nr. 2888, S. 360—362, ohne Hinweis auf den Vorabdruck einiger Stellen bei Kisch, a. a. O., und in Erasmus, S. 349, Anm. 8. 5 Vgl. Theophil Burckhardt-Biedermann, Die Erneuerung der Universität zu Basel in den Jahren 1529 bis 1539, Beiträge zur vaterländischen Geschichte, X I V , Basel 1896, S.431, 479.
180
Bonifacius Amerbadi als Rechtsgutachter
breiten Blattränder sind übersät mit Bemerkungen von seiner H a n d , namentlich mit den griechischen Textstellen, die er den lateinischen Aristoteles-Ubersetzungen beigefügt hat 6 . Die Diskussion von Methode und Ethik in ihrer Anwendung auf das Recht, in deren Rahmen die hier angeführten grundsätzlichen Äußerungen Amerbachs erfolgten, führte von selbst zur Einbeziehung des Problems der Epieikeia, des bonum et aequum, von dessen Ü b u n g die „ars boni et aequi" N a m e n und Sinn empfangen hatte. O b Amerbach die Anregung zum Studium der griechischen Philosophie von Cicero erhalten hat, oder ob er sie nur dem allgemeinen Interesse des Zeitalters für Aristoteles entnahm, ist schwer zu entscheiden 7 . Wie immer dem sein möge, die Anregungen und Gedanken, die er aus dem Studium der antiken Philosophen schöpfte, fanden ihren Niederschlag nicht nur in der Behandlung der theoretischen Probleme von Recht, Gerechtigkeit und Billigkeit in seinen Vorlesungen, sondern auch durch die Anwendung dieser Lehren in seiner praktischen Tätigkeit als Konsiliaranwalt und Rechtsgutachter. Was in den urkundlich erhaltenen Niederschlägen dieser Arbeit immer wieder zum Ausdruck kommt, ist die Schlußfolgerung, daß Gutachter ebenso wie Richter ihrer Tätigkeit stets ius und aequitas zugrunde zu legen haben. Denn wie könnte man sidi der aequitas ohne die Basis geschriebener Gesetze bedienen, in deren Materialfülle sich immer ähnliche Fälle werden ausfindig machen lassen, so daß ein willkürliches Sichentfernen von jener gesetzlidien Basis vermieden wird? 8 6 Eine Auswahl der von Amerbadi studierten, in seiner Bibliothek befindlichen und in seiner Epieikeiavorlesung zitierten Werke des Aristoteles und Kommentare zu diesen ist zusammengestellt bei Kisch, Erasmus, S. 365 f., Anm. 30. 7 Vgl. dazu Hildegard Kornhardt, Summum ius, Hermes, L X X X I , 1953, S. 85 : „Von der Höhe aus, die das römische Recht in jahrhundertelanger Entwicklung erreicht hatte, konnte es aber nur in Richtung auf eine ideale Rechtsordnung weiter entwickelt werden durch den leitenden Einfluß der Philosophie. Diesen Entwicklungsgang kennzeichnet Cicero mit deutlichen Worten als ein Programm; D e legibus, I, 17: ,Νοη ergo a praetoris edicto, ut plerique nunc, ñeque a X I I tabulis, ut superiores, sed penitus ex intima philosophia hauriendam iuris disciplinam, eqs.'". Vgl. dazu Ulrich von Lübtow, Cicero und die Methode der römischen Jurisprudenz, in: Festschrift für Leopold Wenger zu seinem 70. Geburtstag, I (Münchener Beiträge zur Papyrusforschung und antiken Rechtsgeschichte, 34. H e f t ) , S. 234. 8 Amerbachs Vorlesung „ Π ε ρ ί έπιεικείας" (1543), Mscr. C V I a 40, N r . 11 a, der Universitätsbibliothek Basel, fol. 5 ν : „His ita utrimque excussis, ad quaestio-
Recht und Billigkeit in Amerbachs Gutachten
181
Amerbachs Streben gilt stets der inneren Verbindung und Verschmelzung grundsätzlicher Lehren des römischen Redits mit den Grundanschauungen des Aristoteles. Freilich handelt es sich bloß um die Befolgung einer bereits von Johannes Oldendorp aufgezeigten Linie9. Oldendorp war nach dem nodi immer gültigen Urteil Roderich Stintzings „kein gelehrter Forscher, sondern eine praktisch gerichtete Natur. Die Rechtswissenschaft war ihm für den Dienst des Lebens bestimmt, aber auch die Voraussetzung einer gesunden Praxis". Mit seiner Hilfe hat der ähnlich gerichtete Amerbach eine juristische Synthese vorgenommen und die von jenem ausgearbeitete Formel benützt, durch welche dem Konsiliaranwalt wie dem Richter ein mit genügender Sicherheit beschreitbarer Weg zur Handhabung der neu definierten Aequitas gezeigt wurde. Er hat ihn selbst in seinen zahlreichen Rechtsgutachten betreten und unentwegt verfolgt. Die Basler Richter, denen er jene Formel immer wieder mit den gleichen Worten wie seinen Studenten klarzumachen bemüht blieb, haben ihm Gefolgschaft geleistet. Dafür seien einige Beispiele aus bisher unveröffentlichten Gutachten Amerbachs angeführt10. In einem Consilium, das Amerbach auf Ersuchen des Claudius Cantiuncula am 14. September 1543 erstattete, handelte es sich um die Frage, ob bei einer gewissen wechselseitigen Vergabung zwischen Ehegatten eine donatio inter vivos oder mortis causa vorliege und ob eine solche nach römischem Recht zulässig sei11. Auf vielen Seiten nem propositam quid respondendum sit, perspicuum existimo. N a m respondeo, iure et aequitate respondendum de iure vel iudicandum e s s e . . . qui, rogo, absque lege scripta proposita aequitatis usus?" 8 Über Johannes Oldendorp ( 1 4 8 0 — 1 5 6 7 ) R. Stintzing, Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft, I, S. 3 1 1 — 3 3 8 ; Erik Wolf, Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte, 4. Auflage, Tübingen 1963, S. 1 3 8 — 1 7 6 ; Hans-Helmut Dietze, Johann Oldendorp als Rechtsphilosoph und Protestant (jur. Diss. Rostock 1933), Königsberg 1 9 3 3 ; Friedrich Merzbacher, Johann Oldendorp und das kanonische Recht, Festschrift für Johannes Heckel, Köln 1959, S. 2 2 2 — 2 4 9 ; Kisch, Erasmus, Kapitel 10, S. 2 2 7 — 2 5 9 ; daselbst auch ausführliche Kapitel über die Aequitaslehre der im folgenden erwähnten Humanisten-Juristen Claudius Cantiuncula (ca. 1 4 9 0 — 1 5 4 9 ) und Gulielmus Budaeus ( 1 4 6 8 — 1 5 4 0 ) . 1 0 Diese sind aus den mir von Herrn Dr. Alfred Hartmann in Basel zur Einsicht überlassenen Gutachten ausgewählt. 1 1 Universitätsbibliothek Basel, Mscr. C V i a 25, 7 0 5 ; vgl. dazu die Briefe Cantiunculas an Amerbach vom 1. September 1543, Hartmann, V, N r . 2575, S. 453 f. („servata semper aequi et boni regula"); 2580, S. 4 5 6 ; 2583, S. 4 5 9 ; und Amerbachs N r . 2581, S. 457.
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Bonifacius Amerbach als Rechtsgutachter
und mit zahlreichen Zitaten aus dem Corpus iuris wie aus mittelalterlichen Autoritäten werden die Behauptungen des Gegners aufs minuziöseste widerlegt, wobei öfter auf Aristoteles' Nikomachische Ethik (V, 10) hingewiesen, namentlich auf seine „lex καθόλου" (νόμος καθόλου) Bezug genommen und auf die als richtunggebend zu betrachtende etwaige Entscheidung des speziellen Falles durch den Gesetzgeber selbst angespielt wird. Schließlich folgen Erwägungen über aequitas und „summum ius summa iniuria", die für sich selbst sprechen. „ . . . admoneor, eum, qui verba legis amplexus contra eius nititur voluntatem, in legem committere [C. 1. 14. 5; D. 1. 3. 29], item, ius esse artem boni et aequi, aequum vero velut Lesbiam normam omnibus negociis accedere et accommodandum esse et, quod Ulpianus inquit, aequitatem in iure versantes ante oculos habere debere [D. 1 3 . 4 . 4 . 1]. An autem aequitas non iubet nos idem respondere, quod legislator responderet, si interrogaretur? Ita sane non solum docet Aristoteles, sed et Ulpianus innuit, verbum ,ex legibus' intelligendum esse docens tam ex legum sententia quam ex verbis [D. 50. 16. 6], Nec alio respexerunt interpretes, si de aliquo casu agatur, cum verisimile sit, legislatorem, si de eo cogitasset, idem, quod de alio simili, dispositurum [fuisse], utiliter ex lege agi tradentes. Ecquis autem negare potest, Justinianum de causa intestati interrogatum idem responsurum fuisse, cum nulla penitus iusta ratio diversa assignari possit et utrobique idem statuendum aequitas flagitet et Baldus ipse aequissimum esse fateatur? Accedit, quod huius modi legis beneficium favorabile est, ut Decius inquit, eamque ob causam, ut vulgari verbo utar, ampliandum et extendendum est. Quod si in iure relieto aequitatis campo istis verborum angustiis et literarum angulis inhaerendum est [Cicero, Pro Caecina, 84] atque adeo verborum laqueis [Pro Caecina, 83] obstringimur, cur Ulpianus ius artem boni et aequi a p p e l l a t ? . . . Nec sane video, quid supersit, si sic verba nulla aequitatis habita ratione mordicus retinenda sint, quam quod praeclare Paulo referente Celsus adulescens dixit, plerunque sub autoritate iuris perniciose errari [D. 45. 1. 91. 3], item Comicus summum ius summam esse iniuriam [Terenz, Heautontimorumenos 796] . . . " .
Redit und Billigkeit in Amerbachs Gutachten
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Kann es einen deutlicheren Beweis für die hier vollzogene Synthese aristotelischer Epieikeialehre mit der spätrömischen Aequitas geben? Es ist ein besonders schönes aus vielen ähnlichen herausgegriffenes Beispiel. Vielleicht noch deutlicher wird der gleiche Gedanke in einem anderen, diesmal dem Basler Rat erstatteten Gutachten dargelegt. Er hatte einen eigenartigen Betrugsversuch zum Gegenstand. Ein außerhalb Basels lebender, verheirateter Mann, der ein Mädchen entehrt hatte, stiftete seinen achtzehnjährigen Bruder an, sich für ihn auszugeben und das Mädchen zu heiraten. Der Plan wäre gelungen, wenn der Anschlag nicht kurz vor dem Kirchgang entdeckt und vereitelt worden wäre. Die Straftat des Minderjährigen steht zu rechtlicher Würdigung und gerichtlicher Beurteilung. In seinem diesmal in deutscher Sprache verfaßten Rechtsgutachten führte Amerbach folgendes aus: „Dwil ich nun, was gmeine keiserliche geschribne recht in gegenwurtigem handell fur ein penfal statuiren, anzuzeigen erfordert, . . . beducht mich gegenwurtige mishandlung sampt iren qualiteten, circumstantzen und umstenden wol zu erwegen sin. So vil die mishandlung an ir selb belangt, ligt am tag, das durch solche that ein falsch b e g a n g e n , . . . Deshalb hie lex Cornelia de falsis [D. 48. 10] statt hatt, welches ordenlicher pen deportationem, das ist ewige landts verwysung, in sich haltett. Demnoch aber, [diwil] aequitas oder die billikeit ein yedes gsetz, so in gmein gesteh, noch den anhangenden circumstantzen uslegt und also die mittlauffendt umstendt ein yede mishandlung, noch dem sy qualificirt oder gestaltett, beschwern oder lichtem, sindt die auch in gegenwurtigem handell nitt zu underlossen" 12 . Darauf folgt eine eingehende Erörterung und Prüfung der rechtlichen Relevanz der Minderjährigkeit des Angestifteten, seiner Motive und der Tatsache, daß es beim Versuch geblieben und niemandem ein Nachteil erwachsen ist. Zum Schluß wird auf den Grundsatz „In
11 Reditsgutachten vom 29. November 1546, Universitätsbibliothek Basel, Mscr. C V I a 45, 849; jetzt vollständig gedruckt bei H artmann-Jenny, VI, Anhang, Nr. 12, S. 602—604, ohne Hinweis auf den Vorabdruck der oben wiedergegebenen Stelle in der ersten Fassung der vorliegenden Abhandlung sowie bei Kiscb, Erasmus, S. 373.
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Bonifacius Amerbadi als Reditsgutachter
poenalibus causis benignius interpretandum est" [D. 50. 17. 155. 2 ] hingewiesen. Beachtenswert ist die Wiedergabe von aequitas durch das deutsche Wort „billikeit" („aequitas oder die billikeit"). Auch in anderen deutschsprachigen Gutachten bedient sich Amerbadi der gleichen Ausdrucksweise. Einmal wird von ihm gegen die Anfechtung eines Stiefvaters ein von dem Sohn seiner Frau für ein uneheliches Kind hinterlassenes Vermächtnis nach „natürlicher Billigkeit" gültig erklärt 1 3 . Das deutsche Äquivalent für aequitas, das weder in den Vorlesungen noch in den Briefen Amerbachs vor 1531 begegnet, wird erstmals in seinen deutsch abgefaßten Rechtsgutachten und in Zusammenhang mit ihnen gebraucht. Es findet sich schon viel früher in Oldendorps Schrift „Wat byllick unn recht ys", die 1529 erschien14. Eingehendes Studium der zahlreichen Gutachten, die Bonifacius Amerbach während der vielen Jahrzehnte seiner Tätigkeit als Basler Ratssyndikus auf verschiedenen Rechtsgebieten erstattete, könnte ein detailliertes Bild davon enthüllen, in welcher Weise die Basler Rechtsprechung und durch sie die Fortentwicklung des Rechts durch seine philosophisch-juristische Geisteshaltung in einer Zeit des Kampfes, Übergangs und neuer Gestaltung beeinflußt wurde. Es will scheinen, daß die vorangehenden Darlegungen bereits die wesentlichen Grundzüge aufgezeigt haben. Epieikeia-Aequitas hat bei Amerbach, der freilich auf Oldendorp fußte, aus der angestrebten Synthese griechischer Philosophie und römischen Rechtsdenkens zweifellos unter Einwirkung der erasmischen Philosophia Christi eine Gestalt empfangen, die über die Enge des aristotelischen Anwendungsbereichs hinausführt, indem sie sich zu einer das gesamte Recht umspannenden rechtlichsittlichen Haltung erhebt. Sie wird somit gleichbedeutend mit dem, was zutreffend als „sittlich-rechtliche Anständigkeit im Sozialbereich" bezeichnet worden ist 15 . Sie soll zum obersten Ziel der Rechtsanwendung, zur Erkenntnis der Gerechtigkeit hinführen. Dabei hat sich Amerbach von der ausschließlich römisch-rechtlichen Orientierung 1 3 Gutachten vom I . M ä r z 1548, Universitätsbibliothek Basel, Mscr. C V i a 47, 507, auszugsweise gedruckt bei Kisch, Erasmus, S. 374, Anm. 44. 1 4 Dazu Kisch, Erasmus, S. 375, Anm. 45. 1 5 So Josef Endres, Kommentar zur Summa Theologica in der Deutschen Thomas-Ausgabe, 20. Band, München—Heidelberg 1943, S. 479.
Recht u n d Billigkeit in A m e r b a c h s G u t a c h t e n
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Oldendorps ferngehalten, durch welche dieser aus der Aequitas ein rein formalistisches Schema zur Rechtserkenntnis und Rechtsanwendung gemacht und die ursprüngliche Bedeutung und Funktion der Epieikeia eliminiert hatte. Im Gegensatz zu O l d e n d o r p blieb A m e r b a d i d a n k seinem emsigen Bemühen um das Verständnis der aristotelischen Lehre vor Einseitigkeit und mehr technischer Veräußerlichung bewahrt, ohne dodi das römische Recht aus dem A u g e zu verlieren 1 6 . J a , seine rechtliche und moralische Einstellung führt ihn zu einem Ergebnis, welches dem klassischen römischen Ideal sehr nahezukommen scheint; oder, wie H i s es formuliert h a t : „Amerbachs selbständige Eigenart als Jurist beruhte v o r allem darin, daß er, als Kasuistiker nach dem Vorbilde der klassischen römischen Juristen, v o n allem Formalismus absah und bei allen strittigen Rechtsfragen neben der F o r m auch nach der aequitas (der Billigkeit) der Entscheidung f r a g t e " . „ O r d n e t Amerbach das positive Recht, ohne seine Bedeutung zu verkennen oder zu unterschätzen (und, wie ich jetzt hinzufügen möchte, zu überschätzen), den Gesetzen der ,wahren Philosophie' und der ,ars boni et aequi' unter, so erkennt er die Grenze f ü r diese wiederum in ,den göttlichen Lehren des Evangeliums, vor denen alles Menschliche zu verstummen h a t ' " 1 7 . Während dem H a u p t der französischen Humanistenschule, Gulielmus Budaeus, Rechtsbereich und christliche Philosophie noch als unvereinbare Gegensätze erschienen, ist es Bonifacius Amerbach — ähnlich wie seinem ebenfalls erasmisch orientierten Freunde Claudius Cantiuncula — unter E i n w i r k u n g der erasmischen Philosophia Christi gelungen, das Recht theoretisch 16 Vgl. z. B . Gutachten Amerbachs nach 1531 (Universitätsbibliothek Basel, Mscr. C V I a 47, 3 4 7 ) : „. . . bedunckt mich der billikeit v n d gesdiribnen rechten gemess . . U m g e k e h r t w i r d audi die Billigkeit nicht außer acht gelassen; z. B. Gutachten v o m 25. J u l i 1532 (Universitäsbibliothek Basel, Mscr. C V i a 47, 3 6 1 ) : „ . . . Ursach diser declaration ligt am tag. E s ist gesdiribnen rechten, j a audi aller billikeitt zewider, das der apellant v o n genanten v n d e r p f e n d t e n gieter, so sy mer wert d a n hundert florin, d o r u m sy der doditer ingesetzt v n d v e r p f e n d t , vsgesdilossen v n d sin schuld in dem, so sy mer wert, nitt vorderen v n d w e r d e n solte; d a n so sy einmal das ir erlangt, w a s m a g sy wyters begeren?" D a z u Kisch, E r a s m u s , S. 376 f., A n m . 47. 17 Kisch, H u m a n i s m u s , S. 71, 161 f. und A n m . 57, 58.
Bonifacius Amerbach als Rechtsgutaditer
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u n d p r a k t i s c h m i t d e r P h i l o s o p h i e u n d d e m G o t t e s g e d a n k e n in h a r monischen E i n k l a n g zu bringen18. D i e s ist bereits v o n worden.
Sein
gelehrter
seinen Z e i t g e n o s s e n Kollege
Nicolaus
erkannt
Varnbueler
und in
p r e i s t A m e r b a c h g e r a d e a u f G r u n d d e r K e n n t n i s seiner achten
als d e n
„magister
έπιεικείας in
iure
nostro"19·
gerühmt Tübingen
Rechtsgut-
His
hat
von
i h m gesagt, d a ß „ e r in d e m Suchen n a c h d e r billigen o d e r g e r e c h t e n E n t s c h e i d u n g ein w a h r h a f t G r o ß e r w a r u n d ans Genialische g r e n z t " , „daß
er
die R e c h t s p r e c h u n g
stischen B i n d u n g e n
u n d ihr
befreite
von
die P r i n z i p i e n
ihren
früheren
formali-
der Billigkeit u n d
der
G e r e c h t i g k e i t z u g r u n d e l e g t e " . D i e s e H a l t u n g sichert A m e r b a c h auch in d e r Geschichte d e r A e q u i t a s ein P l ä t z c h e n , das bei seiner rechtshistorischen W ü r d i g u n g als R e c h t s g u t a c h t e r nicht übersehen darf
20
werden
.
1 8 In diesem Zusammenhang verdienen zwei Gutachten Amerbachs Beachtung. Das eine (Universitätsbibliothek Basel, Mscr. C V i a 45, 927), an den Basler R a t vor dem 3. Januar 1540 gerichtet, ist im Unterschied zu den bisher besprochenen allein auf den Gesichtspunkt der „christlichen Liebe" orientiert. In dem anderen (Universitätsbibliothek Basel, Mscr. C Via 46, 13) vom 15. April 1545 (jetzt gedruckt bei Hartmann-Jenny, VI, Anhang, Nr. 10, S. 593 ff.) tritt aus der gleichen Tendenz das Bestreben hervor, zu zeigen, daß das Evangelium zur Richtschnur des Handelns zu nehmen sei, daß Ernst damit gemacht werden solle, die evangelischen Liebesgebote zu befolgen. Amerbach empfiehlt darin die Übung christlicher Charitas durch Anwendung des „ b e n e f i c i u m aequitatis", um einem armen alten Mann einen Anteil am Erbe eines Testators zu verschaffen. Vgl. einen anderen Rechtsrat Amerbachs vom 6. Februar 1539, Hartmann, V, Nr. 2305, S. 203, Z. 79 ff.: „ . . . s o solle er billich vermög der rechten et beneficio aequitatis canonicae ad locum domicilii. . . gewisen werden". Die erwähnten beiden Gutachten sind ausführlich besprochen bei Kisch, Erasmus, S. 378 f., Anm. 50. 1 9 Brief vom 4. Dezember 1552, Jacob Maehly, Bonifacii Basiliique Amerbadiiorum et Varnbueleri Epistolae mutuae, in: Festschrift der Universität Basel für die Universität Tübingen, Basel 1877, S. 28, vgl. S. 30; Kisdi, Humanismus, S. 71, 160, Anm. 55. Der Brief ist voll von Anspielungen auf Amerbachs »tua pbilosophia, id est έπιεικία". 2 0 Siehe dazu noch Kisch, Erasmus, S. 379.
Anhang Zwei Rechtsgutachten Bonifacius Amerbachs 1 Gutachten betreffend Personenstand und Erbrecht von Eigenleuten 9. August 1540
In dem namen Christi vnsrs herren, Amen. Gn. hern. Es hatt verrückter jaren ein vnvermechlett wybsbild, so einer loblichen statt Basell eigen, by einem vnvermechleten gsellen ein lydige dochter gehept vnd nachmals ein eeman genummen vnd by dem mer kindt vberkummen. Hie ist erstlich die frag, ob solche doditer, vsserthalb der ee geborn, inhalt keiserlicher geschribnen rechten auch eigen sy. Für das ander, vnd so die eigen, dwil die in einer andren oberkeit abgestorben, wer die erben solle, ob der her, in dessen herschafft oder oberkeit sy gstorben, oder ob die geschwysteriget oder ein statt Basell von wegen der eigenschafft. Vff die erst frag kurtzlich zeantwurten, sag ich, das vermog keiserlichen rechten solche dochter auch eigen. Vrsach ist, das vnangesehen, die kindt werden in oder vsserthalb der ee geborn, so volgen sy noch die condition oder stot der muter. Partus ventrem sequitur, et lex naturae est, vt, qui nascitur sine legittimo matrimonio, matrem sequatur. Ist nun die muter eigen gewesen, so ist die dochter auch eigen. Vff die ander frag zeschryten: vor der antwurt ist zu vermercken, das vnder lidigen kinden noch keiserlichen rechten ein grosser vnderscheid. Vnd so vil hieher dienstlich, wil ich in gmein lydige kindt genempt haben, so von vnvermechleten personen, zwischen denen ein Amerbachs Quellenhinweise am Rande des Manuskripts werden hier nur in Auswahl in den Anmerkungen wiedergegeben. 11 1. lex naturae, 1. cum legittime ff. de stat. ho. [D. 1 . 5 . 2 4 . 19], 1. eius qui ff. ad municip. [D. 50. 1. 9], 1. partum C. de rei vend. [C. 3. 32. 7],
Anhang
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ee hette megen sin, vberkummen, ob schon die muter ein gmeine dirn were; demnach so sin dt lydige kindt, so von vnvermechleten personen, vnder denen kein ee sin mechte, geboren sindt, als do geschieht, wan sich die personen vermischen, so sipp oder fruntschaft halb ver25 want. Vnder disen zweierley lidigen kinden ist der vnderscheid, so vil hieher dienstlich, das die ersten, spurii genant, so sy on eelich lybs erben absterben, verlossen sy hinder inen muter, bruder oder schwester von irer muter geborn, dieselben sindt erbmessig vnd nitt fiscus oder der oberher des ort, do sy mitt tod sindt verscheiden. Die 30 andern aber, so incestuos et ex damnato coitu, vss einer verdampten geburt gezilt, ob sy glich wol mietern oder geschwysterten muter halb verliessen, die mediten nitt erben; dan die verdampt geburt ist also in rechten verworfen, das vss deren kein cognation oder sippschafft entspringet. 35 Wyter so ist vor der antwurt anzuzeigen, das eigenlüt, wie die gmeinlich in tütscher nation gefunden, mer libertis Romanis quam servis, das ist mer frygelasnen dan Römschen eigenlüten sindt zu verglichen, welches vss dem lichtlich zu erlernen, das sy eigen gut haben, inen selb handien, werben, gewinnen, empter versehen mitt40 sampt andrem, welches die Romischen servi oder eigenlüt nitt vähig. Et hoc est, quod Cornelius Tacitus testatum reliquit, Germanos veros servos non habere. Hargegen aber, wie von Romschen rechten verordnet, das dem patron, so libertus oder der frygelassen on kindt vnd testament abstirpt, die gantz verlosne hab oder, so kinder vorhanden, 45 der drittheil heimfallen solle, also glicher gstalt wurt in tütscher nation auch gebrucht im faal, wiewol der noch bruch der landen vnd flecken endert; dan ettwan an einem ort nimpt der patron oder herr den drittheil des abgestorbnen eigenmans gut, an einem andren ort mer oder minder, desglich an ettlichen orten das best kleyd oder das 50 best haupt vich vnd desglichen, wie wir dan das däglich vor äugen sechen. Das aber solcher fai, wo man in noch mutmassung keiserlicher recht brucht, nitt vnbillich oder vngeburlich, megen eehafft vrsachen dargethon werden, die ich vm kurtze willen vnderlossen. Nun vff fürgestelte andere frag zeantwurten, dwil die abgestorben 55 person eigen gewesen, so vermein ich, das deren verlosne hab einer 41
in sua Germania [ 2 5 ] ; adde Zäsium in t r a c t a t . . .
Zwei Rechtsgutachten Bonifacius Amerbachs
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loblichen statt Basell, deren sy dan eigen gewesen, zugehörig. Vrsach ist, wie yetz anzeige, das dem patron