Ökonomen auf einen Blick: Ein Personenhandbuch zur Geschichte der Wirtschaftswissenschaft [2. Aufl.] 9783658290689, 9783658290696

Dieses Handbuch bietet sowohl einen Einstieg als auch einen Überblick zu Leben, Werk und Wirkung bedeutender Ökonomen de

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German Pages XXII, 651 [625] Year 2020

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Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XXII
Front Matter ....Pages 1-1
Die Ökonomie in der Wissenschaft (Lars Wächter)....Pages 3-5
Geschichte der Ökonomik (Lars Wächter)....Pages 7-44
Front Matter ....Pages 45-45
Xenophon (Lars Wächter)....Pages 47-51
Platon (auch Plato) (Lars Wächter)....Pages 53-56
Aristoteles (Lars Wächter)....Pages 57-61
Pacioli, Luca (Lars Wächter)....Pages 63-73
Luther, Martin (Lars Wächter)....Pages 75-81
Mun, Thomas (Lars Wächter)....Pages 83-89
Savary, Jacques (Lars Wächter)....Pages 91-94
Petty, William (Lars Wächter)....Pages 95-102
Becher, Johann Joachim (Lars Wächter)....Pages 103-108
Marperger, Paul Jacob (Lars Wächter)....Pages 109-113
Quesnay, François (Lars Wächter)....Pages 115-123
Ludovici, Carl Günther (Lars Wächter)....Pages 125-127
Smith, Adam (Lars Wächter)....Pages 129-134
Leuchs, Johann Michael (Lars Wächter)....Pages 135-139
Sartorius, Georg Friedrich (Frhr. v. Waltershausen) (Lars Wächter)....Pages 141-145
Malthus, Thomas Robert (Lars Wächter)....Pages 147-151
Say, Jean-Baptiste (Lars Wächter)....Pages 153-157
Owen, Robert (Lars Wächter)....Pages 159-168
Ricardo, David (Lars Wächter)....Pages 169-174
Thünen, Johann-Heinrich von (Lars Wächter)....Pages 175-183
List, Friedrich (Lars Wächter)....Pages 185-192
Rau, Karl Heinrich (Lars Wächter)....Pages 193-202
Cournot, Antoine Augustin (Lars Wächter)....Pages 203-208
Mill, John Stuart (Lars Wächter)....Pages 209-216
Roscher, Wilhelm G. F (Lars Wächter)....Pages 217-221
Marx, Karl (Lars Wächter)....Pages 223-231
Juglar, Clément (Lars Wächter)....Pages 233-236
Engels, Friedrich (Lars Wächter)....Pages 237-242
Walras, (Marie Esprit) Léon (Lars Wächter)....Pages 243-248
Wagner, Adolph (Lars Wächter)....Pages 249-257
Schmoller, Gustav von (Lars Wächter)....Pages 259-266
Menger, Carl (Lars Wächter)....Pages 267-276
Marshall, Alfred (Lars Wächter)....Pages 277-286
Schär, Johann Friedrich (Lars Wächter)....Pages 287-292
Bücher, Karl (Lars Wächter)....Pages 293-299
Böhm Bawerk, Eugen von (Lars Wächter)....Pages 301-305
Kautsky, Karl (Lars Wächter)....Pages 307-310
Taylor, Frederick Winslow (Lars Wächter)....Pages 311-315
Gesell, Silvio (Lars Wächter)....Pages 317-322
Sombart, Werner (Lars Wächter)....Pages 323-329
Lenin, Wladimir Iljitsch (eigentl. Uljanow) (Lars Wächter)....Pages 331-337
Luxemburg, Rosa (Lars Wächter)....Pages 339-344
Hellauer, Josef (Lars Wächter)....Pages 345-350
Schmalenbach, (Johann Wilhelm) Eugen (Lars Wächter)....Pages 351-357
Nicklisch, Heinrich (Lars Wächter)....Pages 359-364
Hilferding, Rudolf (Lars Wächter)....Pages 365-369
Rieger, Wilhelm (Lars Wächter)....Pages 371-377
Mises, Ludwig von (Lars Wächter)....Pages 379-382
Schmidt, Fritz (Lars Wächter)....Pages 383-388
Kalveram, Wilhelm (Lars Wächter)....Pages 389-397
Schumpeter, Joseph Alois (Lars Wächter)....Pages 399-404
Keynes, John Maynard (Lars Wächter)....Pages 405-413
Polanyi, Karl (Lars Wächter)....Pages 415-420
Eucken, Walter (Lars Wächter)....Pages 421-427
Mellerowicz, Konrad (Lars Wächter)....Pages 429-434
Salin, Edgar (Lars Wächter)....Pages 435-439
Seyffert, Rudolf (Lars Wächter)....Pages 441-446
Kondratieff (auch: Kondratjew), Nikolai D. (Lars Wächter)....Pages 447-455
Gutenberg, Erich (Lars Wächter)....Pages 457-464
Myrdal, (Karl) Gunnar (Lars Wächter)....Pages 465-471
Kosiol, Erich (Lars Wächter)....Pages 473-477
Hayek, Friedrich August von (Lars Wächter)....Pages 479-485
Müller-Armack, Alfred (Lars Wächter)....Pages 487-492
Robinson, Joan Violet (Lars Wächter)....Pages 493-498
von Stackelberg, Heinrich (Lars Wächter)....Pages 499-504
Georgescu-Roegen, Nicholas (Lars Wächter)....Pages 505-511
Galbraith, John Kenneth (Lars Wächter)....Pages 513-520
Friedman, Milton (Lars Wächter)....Pages 521-527
Samuelson, Paul Anthony (Lars Wächter)....Pages 529-535
Heinen, Edmund (Lars Wächter)....Pages 537-541
Ulrich, Hans Martin (Lars Wächter)....Pages 543-547
Selten, Reinhard (Lars Wächter)....Pages 549-554
Kotler, Philip (Lars Wächter)....Pages 555-563
Sen, Amartya (Lars Wächter)....Pages 565-571
Lucas, Robert E. (Lars Wächter)....Pages 573-577
Akerlof, George A. (Lars Wächter)....Pages 579-584
Stiglitz, Joseph E. (Lars Wächter)....Pages 585-590
Krugman, Paul R. (Lars Wächter)....Pages 591-596
Front Matter ....Pages 597-597
Zeittafel zur Literaturgeschichte der Ökonomie (Lars Wächter)....Pages 599-606
Glossar (Lars Wächter)....Pages 607-634
Kommentierte Literaturhinweise (Lars Wächter)....Pages 635-647
Bildnachweise (Lars Wächter)....Pages 649-651
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Ökonomen auf einen Blick: Ein Personenhandbuch zur Geschichte der Wirtschaftswissenschaft [2. Aufl.]
 9783658290689, 9783658290696

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Lars Wächter

Ökonomen auf einen Blick Ein Personenhandbuch zur Geschichte der Wirtschaftswissenschaft 2. Auflage

Ökonomen auf einen Blick

Lars Wächter

Ökonomen auf einen Blick Ein Personenhandbuch zur Geschichte der Wirtschaftswissenschaft 2., aktualisierte und erweiterte Auflage

Lars Wächter Kassel, Deutschland

ISBN 978-3-658-29068-9    ISBN 978-3-658-29069-6  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-29069-6 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer Gabler © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2017, 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer Gabler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Vorwort zur 2. Auflage

Der Umfang der vorliegenden zweiten Auflage wurde deutlich erhöht. Neun Ökonomen aus den unterschiedlichsten Teilbereichen der Volkswirtschaftslehre und der Betriebswirtschaftslehre wurden neu aufgenommen. Dabei wurde wiederum besonders darauf geachtet, ein möglichst breites Spektrum der ökonomischen Ideen und Theorien abzudecken. Neu aufgenommen wurden die folgenden Ökonomen: • • • • • • • • •

Luca Pacioli (Rechnungswesen) Martin Luther (Wirtschaftsethik) Robert Owen (Sozialismus, Genossenschaftswesen) Adolph Wagner (VWL, Sozialstaat, Finanzwissenschaft) Josef Hellauer (BWL, Handelslehre, Außenhandel) Wilhelm Kalveram (BWL, Wirtschaftsethik) Nikolai Kondratieff (VWL, Konjunkturforschung) Nicholas Georgescu-Roegen (VWL, Bioökonomie, Ökologie) Philip Kotler (Marketing)

Der Anhang wurde überarbeit, aktualisiert und erweitert: Die Zeittafel zur Literaturgeschichte der Ökonomik wurde um wichtige Werke der o.  g. Ökonomen ergänzt, das Glossar um 20 neue Stichwörter erweitert, die Liste der Wirtschaftsnobelpreisträger auf den neuesten Stand gebracht und die Literaturangaben wurden aktualisiert und ergänzt. Schließlich wurden geringfügige sprachliche Korrekturen und Verbesserungen vorgenommen. Ich danke Frau Dr. Isabella Hanser und Frau Merle Kammann vom Springer Gabler Verlag für die professionelle und angenehme Zusammenarbeit. Zu danken habe ich auch Philip Kotler und dem Universitätsarchiv Frankfurt a. M., die mir freundlicherweise Fotos für die vorliegende Auflage zur Verfügung gestellt haben. Kassel, Deutschland Sommer 2020

Lars Wächter

V

Vorwort zur 1. Auflage

Ökonomen auf einen Blick richtet sich vornehmlich an Studenten der wirtschaftswissenschaftlichen Studiengänge an Universitäten und Fachhochschulen. Aber auch für Studenten der angrenzenden Wissenschaften (z. B. der Soziologie, der Politik-, Geschichts- und Sozialwissenschaften), die sich gezielt einen ersten und leicht verständlichen Überblick über bedeutende Ökonomen und deren Theorien verschaffen wollen, soll dieses Handbuch ein nützliches Nachschlagewerk sein. Ziel dieses Handbuches ist es, einen Überblick zu Leben, Werk und Wirkung der bedeutenden Ökonomen zu liefern. Die Artikel sollen erste Fragen zur Person klären, den wissenschaftlichen Werdegang darstellen sowie die Theorien und Ideen des jeweiligen Ökonomen möglichst verständlich erläutern. Dies soll in einer strukturierten und leicht lesbaren Form geschehen. Verzichtet wird auf „schmückendes Beiwerk“ in den Kurzbiografien. Der Leser wird also keine belanglosen Anekdoten über die Reithosen von Joseph Schumpeter, die Homosexualität von John Maynard Keynes, die Mutter-Sohn-Beziehung von Adam Smith oder Ähnliches finden. Vielmehr kommen die Wirtschaftsdenker selbst zu Wort: Zahlreiche Zitate und Auszüge aus deren Werken ergänzen und bereichern die Inhaltsangaben und Erläuterungen der ökonomischen Theorien. Denn – und dies ist ein weiteres Anliegen dieses Nachschlagewerkes – es soll auch das Interesse geweckt werden, sich mit der Primärliteratur, mit den Werken und den Ideen der Ökonomen auseinanderzusetzen. Und dies wird vermutlich am besten erreicht durch aussagekräftige Leseproben aus deren Werken. Es gibt eine Vielzahl von Publikationen,1 die Leben und Werk wichtiger Wirtschaftsdenker darstellen. Zumeist wird in diesen jedoch nur eine relativ kleine Auswahl an „klassischen“ Ökonomen der Volkswirtschaftslehre geboten. Dieses Nachschlagewerk behandelt 69 Ökonomen der Vergangenheit und Gegenwart: Angefangen bei den antiken Vordenkern der Ökonomie (z.  B. Xenophon, Platon, Aristoteles) über die „Klassiker“ (z. B. Adam Smith und David Ricardo) bis hin zu einigen Wirtschaftsnobelpreisträgern (z. B. Paul Samuelson, Milton Friedman, Paul Krugman).

1

 Siehe die kommentierten Literaturhinweise am Schluss des Buches. VII

VIII

Vorwort zur 1. Auflage

Auch inhaltlich ist das vorliegende Buch breiter angelegt: Das Spektrum umfasst neben den wichtigsten Ökonomen der Volkswirtschaftslehre auch wichtige Vertreter der Handelskunde (z. B. Johann M. Leuchs, Carl G. Ludovici, Jaques Savary) und der Betriebswirtschaftslehre (z. B. Johann Friedrich Schär, Heinrich Nicklisch, Konrad Mellerowicz, Erich Gutenberg), die in anderen dogmengeschichtlichen Werken vernachlässigt werden. Weiterhin werden auch die „Außenseiter“ und Kritiker der Ökonomenzunft (z. B. Silvio Gesell, Wilhelm Rieger, Karl Polanyi, Edgar Salin, Joan V. Robinson, John K. Galbraith) sowie sozialistische Theoretiker (z. B. Karl Marx, Friedrich Engels, Karl Kautsky, Rudolf Hilferding, Wladimir I. Lenin) vorgestellt – also Ökonomen, die nicht zum Kanon der sogenannten „Mainstream-Ökonomie“ gehören. Denn auch (oder gerade?) diese Denker haben die Wirtschaftswissenschaft mit ihren Ideen bereichert und wichtige Vorarbeiten geleistet, auf denen andere Theorien aufbauten konnten. Eine von der Hans-Böckler-Stiftung geförderte Untersuchung des Netzwerks Plurale Ökonomik kam im April 2016 zu dem Befund: „Studierende der Wirtschaftswissenschaften lernen die herrschende Theorie vor allem auswendig. Sie lernen weniger, sie zu hinterfragen. … Teilfächer wie ökonomische Dogmengeschichte, die den Rahmen für eine kritisch reflektierende Auseinandersetzung mit verschiedenen Wirtschaftstheorien bilden könnten, spielen in den Curricula fast keine Rolle. … Das VWL-Bachelorstudium besteht demnach lediglich zu 1,3 Prozent aus ‚reflexiven Fächern‘ wie der Geschichte des ökonomischen Denkens oder Wirtschaftsethik.“2 Das vorliegende Buch möchte einen kleinen Beitrag leisten, den Studierenden auch jene Ökonomen und Theorien vorzustellen, mit denen sie im Studium – wie die o. g. Untersuchung zeigt – nur selten oder nie in Berührung kommen. Der Autor ist sich sehr wohl der Problematik bewusst, dass die in diesem Buch behandelten Ökonomen eine subjektive Auswahl darstellen. Diese mag für manchen Leser unbefriedigend sein; vielleicht vermisst er „seinen“ Ökonomen, und den einen oder anderen Ökonomen hält er für überflüssig. Zudem werden wohl nicht selten die folgenden Zeilen von Eugen Roth zutreffen: „Der Leser, traurig, aber wahr, ist häufig unberechenbar: Hat er nicht Lust, hat er nicht Zeit, Dann gähnt er: „Alles viel zu breit.“ Doch wenn er selber etwas sucht, was ich, aus Raumnot nicht verbucht, wirft er voll Stolz sich in die Brust: „Aha, das hat er nicht gewusst!“ Man weiß, die Hoffnung wär zum Lachen, es allen Leuten recht zu machen.“

Der Autor nimmt jedoch gerne konstruktive Kritik und Verbesserungsvorschläge entgegen: [email protected]. 2

 Hans-Böckler-Stiftung (Hrsg.): Böckler Impuls, Heft 6/2016 vom 14.04.2016, S. 3.

Vorwort zur 1. Auflage

IX

Dank schulde ich nicht nur meiner Lektorin Frau Stephanie Brich für die professionelle und angenehme Zusammenarbeit, sondern insbesondere meiner lieben Frau Massiel, die die Arbeit an diesem Buch geduldig ertragen und mich stets unterstützt hat. Danken möchte ich auch den Ökonomen Robert E. Lucas (University of Chicago, USA) und Kari Polanyi Levitt (McGill University, Montreal, Kanada), die mir freundlicherweise Fotos für dieses Buch zur Verfügung gestellt haben. Kassel, Deutschland Dezember 2016

Lars Wächter

„… der überragende Ökonom … muß das Gegenwärtige im Lichte des Vergangenen studieren, um zu für die Zukunft gültigen Schlüssen zu kommen. …“ John M. Keynes (1883–1946) „Wirtschaftswissenschaft läßt sich nicht verstehen, wenn das Bewußtsein ihrer Geschichte fehlt; … das, was wir in der Wirtschaftswissenschaft heute glauben, hat tiefreichende Wurzeln in der ­Geschichte.“ John K. Galbraith (1908–2006) „Ich bin grundsätzlich der Meinung, dass die Ökonomie ohne Geschichte ein steuerloses Schiff ist und Ökonomen ohne Geschichte keine genaue Vorstellung davon haben, wo dieses Schiff hinfährt.“ Eric Hobsbawm (1917–2012)

Einführung

Zum Aufbau des Buches Das Buch besteht aus zwei Teilen: Der erste Teil befasst sich mit der Entwicklung des ökonomischen Denkens. Zunächst wird die Stellung der Wirtschaftswissenschaft innerhalb der Wissenschaftssystematik kurz erläutert. Anschließend wird in groben Zügen skizziert, wie sich die ökonomischen Theorien der Volkswirtschaftslehre (VWL) und der Betriebswirtschaftslehre (BWL) im Laufe der Zeit entwickelt haben. Der kurzen Ideengeschichte der VWL folgt als Exkurs eine tabellarische Übersicht über die Träger des sogenannten „Wirtschaftsnobelpreises“.1 Im zweiten Teil des Buches, dem Hauptteil, werden die Ökonomen dargestellt. Die Stichwortartikel sind chronologisch nach dem Geburtsjahr des Ökonomen angeordnet und folgen einem einheitlichen Aufbau aus fünf Modulen: 1. In einem Übersichtskasten findet man neben dem Bild des Ökonomen die wichtigsten Daten und Fakten in Kurzform. 2. Danach werden Leben und Karriere des Ökonomen skizziert, womit eine (wirtschafts-)geschichtliche Einordnung ermöglicht werden soll. Die biografischen Daten und Karrierestationen sollen zudem einen Zugang zum Werk bzw. zu der Theorie des jeweiligen Ökonomen erleichtern und somit zu einem besseren Verständnis beitragen. Querverweise (→) stellen Beziehungen zwischen den Ökonomen her und verdeutlichen so wirtschaftstheoretische und wirtschaftshistorische Zusammenhänge. 3. Im Abschnitt Werk und Wirkung folgt eine leicht verständliche Darstellung der ökonomischen Hauptwerke bzw. Theorien. Textauszüge aus den Hauptwerken sollen zur Weiterbeschäftigung mit den Primärquellen anregen. Abschließend erfolgt eine kurze Würdigung der wissenschaftlichen Leistung oder es wird die aktuelle Bedeutung ­hervorgehoben.  Eigentlich handelt es sich um keinen echten „Nobelpreis“, sondern um den „Von der schwedischen Reichsbank in Erinnerung an Alfred Nobel gestifteten Preis für Wirtschaftswissenschaften“, der erstmals 1969 verliehen wurde. Eine Zusammenstellung der Preisträger findet sich in Abschn. Exkurs: Der Wirtschaftsnobelpreis: Träger und Kritik.

1

XIII

XIV

Einführung

4. Der Abschnitt Wichtige Publikationen nennt eine Auswahl der bedeutendsten Werke des Ökonomen. Diese werden mit dem Titel und dem Ersterscheinungsjahr der ersten Auflage genannt. Sofern die Person auch auf anderem Gebiet als der Ökonomie publiziert hat, werden überwiegend ökonomische Werke aufgezählt. 5. Die Literaturhinweise in Kurzform (Name, Jahr und ggf. Seitenzahlen) am Ende eines jeden Artikels, die sich in Verbindung mit dem kommentierten Literaturverzeichnis schnell erschließen lassen, sollen eine weiterführende Recherche oder Lektüre ermöglichen. Auf Anmerkungen (Fußnoten) in den Stichwortartikeln wurde zugunsten einer besseren Lesbarkeit verzichtet. Im Anhang befinden sich eine Chronik zur Literaturgeschichte der Ökonomie und ein Glossar mit rund 100 wichtigen Begriffen. Ein kommentiertes Literaturverzeichnis am Ende des Buches soll zur weiterführenden Lektüre anregen bzw. bei der Auswahl weiterführender Literatur helfen.

Sklaven der Ökonomen? Warum sollte man sich mit Ökonomen und deren Theorien beschäftigen? Die folgenden Zitate – sie stammen übrigens von sehr bedeutenden und einflussreichen Ökonomen – sollen zunächst ermöglichen, eine eigene Antwort zu finden, bevor wir uns einer aktuellen Problematik zuwenden, der derzeitigen Krise der Wirtschaftswissenschaft. „Die Gedanken der Ökonomen und Staatsphilosophen [sind], sowohl wenn sie im Recht, als wenn sie im Unrecht sind, einflußreicher, als gemeinhin angenommen wird. Die Welt wird in der Tat durch nicht viel anderes beherrscht. Praktiker, die sich ganz frei von intellektuellen Einflüssen glauben, sind gewöhnlich die Sklaven irgendeines verblichenen Ökonomen.“ (John M.  Keynes: Allgemeine Theorie der Beschäftigung des Zinses und des Geldes, 3. Aufl., Berlin 1966, S. 323) „Der Nationalökonom gleicht einem Wanderer, der zu einer Reise aufbricht und der sich auf ihr eine bedeutende Erweiterung seines Horizontes verspricht, der aber schon nach den ersten Schritten in ein Gestrüpp hineingerät, das unüberwindbar erscheint.“ (Walter Eucken: Die Grundlagen der Nationalökonomie, 6. Aufl., Berlin/Göttingen/Heidelberg 1950, S. 23) „In einer sich ändernden Welt … ist das, was zu einer Zeit stimmt, zu einer anderen Zeit falsch. … Ökonomie lässt sich nicht in eine einzige Theorie zwängen.“ (John K.  Galbraith, zitiert nach N.  Piper (Hrsg.): Die großen Ökonomen, Stuttgart 1996, S. 291) „Die Ökonomie ist die einzige Wissenschaft, in der sich zwei Menschen einen Nobelpreis teilen können, weil ihre Theorien sich gegenseitig widerlegen.“ (Joseph E. Stiglitz, in: Berliner Zeitung vom 06.03.2004)

Das wirtschaftliche Geschehen beeinflusst das Leben der Menschen auf vielfältigste Art und Weise. Eine Schar von Ökonomen versuchte deshalb im Laufe der Menschheits-

Einführung

XV

geschichte das Wesen der Ökonomie zu durchdringen, ihre Gesetzmäßigkeiten zu ­erforschen, neue Phänomene zu erklären, Fragen zu klären und selbstverständlich auch ganz praktische Probleme zu lösen. Im Hinblick darauf haben die Statements von → John Maynard Keynes, → Walter Eucken und →John Kenneth Galbraith (siehe oben) nichts an Aktualität eingebüßt. Von den antiken Philosophen bis hin zu den aktuellen Wirtschaftsnobelpreisträgern wurden von zahlreichen Wirtschaftsdenkern die verschiedensten Theorien zu einzelwirtschaftlichen und gesamtwirtschaftlichen Fragestellungen und Problemen aufgestellt, die auch heute noch das ökonomische Denken und Handeln beeinflussen – und nicht selten führen diese Theorien zu heftigen und kontroversen Auseinandersetzungen. Wenn hier bewusst der Plural verwendet wird, so soll damit zum Ausdruck gebracht werden, dass es die (eine) Theorie nicht gibt. Es handelt sich vielmehr um geistige bzw. wissenschaftliche Strömungen, deren Vertreter sich dem aktuellen „Mainstream“ zuordnen oder sie als Außenseiter erscheinen lassen. In der Geschichte der Ökonomie wimmelt es nur so von gegensätzlichen Ansichten, Auseinandersetzungen und zuweilen sogar persönlichen Streitigkeiten zwischen den Ökonomen: Sei es nun die Lehre von den „drei Produktionsfaktoren“ (Arbeit, Boden und Kapital), die → K. Marx als „trinitarische Formel“ verspottete, sei es das Say ’sche Theorem, das → J. M. Keynes infolge der Großen Weltwirtschaftskrise als irrig widerlegte, sei es das Menschenbild vom „homo oeconomicus“, das der deutsche Nobelpreisträger → R. Selten und der Betriebswirt → E. Heinen endgültig in das Reich der Fabeln verbannten, oder sei es die von → D. Ricardo aufgestellte Doktrin vom Freihandel, wonach durch komparative Kostenvorteile alle Beteiligten profitierten, und die → P.  A. Samuelson in einer seiner letzten Forschungsarbeiten als „grundfalsch“ und eine „populär-polemische Unwahrheit“ entlarvte. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Es sind nicht nur die Theorien, die im Zentrum der aktuellen Kritik stehen, sondern auch die Wahl der „richtigen“ Forschungsmethoden ist umstritten. So kritisierten beispielsweise neun BWL-Professoren der Universität Saarbrücken die statistisch-­empirische Methode, welche die Betriebswirtschaftslehre international dominiert. Da sie diese einseitige Ausrichtung aus mehreren Gründen für falsch halten, veröffentlichten sie in der Zeitschrift Der Betrieb ihr Saarbrücker Plädoyer. Darin machen sie sich stark für eine normative theorie- und praxisbezogene Betriebswirtschaftslehre (vgl. FAZ vom 21.09.2013). Auch dieser Methodenstreit ist nur ein (jüngstes) Beispiel für eine ganze Reihe von Auseinandersetzungen um die „richtige“ Forschungsmethode, die sich sowohl durch die Volkswirtschaftslehre (z. B. → G. Schmoller vs. C. Menger) als auch durch die Betriebswirtschaftslehre (z. B. → K. Mellerowicz vs. E. Gutenberg) ziehen. Die großen Theorien, welche die Entwicklung der Wirtschaftswissenschaft vorangebracht haben, sind immer auch ein Spiegelbild der (wirtschafts-)historischen Situation sowie der vorherrschenden Wirtschaftsordnung, aus der heraus sie entstanden sind. Und vor diesem Hintergrund sind sie auch zu verstehen. Insofern trifft → Galbraiths Aussage, dass das, was zu einer Zeit stimmt, zu einer anderen Zeit falsch sei, nicht selten auch zu – aber eben nicht immer. Praktiker können durchaus einen Nutzen aus den Theorien „eines längst verstorbenen Ökonomen“ ziehen, wie → Keynes feststellt, zumindest wenn die

XVI

Einführung

­ heorie sich nicht losgelöst hat von den realen Problemen. Doch wie es die Kritik naheT legt, die in den letzten Jahren  – insbesondere seit dem Ausbruch der Finanzkrise seit 2008  – von Seiten der Wissenschaftler und der Studierenden vorgetragen wird, scheint genau dies eingetreten zu sein: Es herrscht eine Kluft zwischen Ökonomie und Ökonomik. Die Krise der realen Wirtschaft hat nun auch die Wirtschaftswissenschaft erfasst. Dies haben Studenten und Professoren erkannt und fordern daher eine Öffnung ihres Faches hin zu Ideenvielfalt und Methodenpluralismus. „Mehr Pluralismus im Hinblick auf Methoden und Theorien, ein stärkerer interdisziplinärer Ansatz und die Vermittlung fundierter historischer Kenntnisse des eigenen Fachs stehen ganz oben auf dem Wunschzettel“ der Studenten (vgl. FAS vom 07.09.2014). Dass diese Forderungen längst überfällig sind, belegen die Ergebnisse der von A. Heise verfassten Expertise für die Hans-Böckler-Stiftung vom Juni 2016: „Heise hat untersucht, inwieweit der ökonomische Mainstream auf den verschiedenen Ebenen der Erkenntnisproduktion alternative Ansätze ausgrenzt. Er konstatiert, die Anhänger der herrschenden Neoklassik gingen von einem ‚ontologischen und Paradigmenmonismus‘ aus; will sagen: Sie sind der festen Überzeugung, es gebe eine Welt und eine Wahrheit und nur ein bestimmtes Spektrum an Musterlösungen für ökonomische Fragen. Innerhalb dieses Rahmens sei neben der gänzlich orthodoxen Forschung zwar noch Platz für Abweichler, die andere Theorien und Methoden anwenden, also beispielsweise das Grundmodell vom Marktgleichgewicht durch spieltheoretische Überlegungen ergänzen. Aber bereits wer die ‚axiomatische Konstruktion der sozialen Realität als ein System symmetrischer Tauschbeziehungen‘ in Zweifel zieht und die Gesellschaft eher durch Machtverhältnisse als durch die unsichtbare Hand des Marktes bestimmt sieht, werde nicht mehr akzeptiert. Schon die Eine-Welt-eine-Wahrheit-Hypothese ist Heise zufolge ‚allerdings so rigide und unbegründbar, dass ein ontologischer Pluralismus als wissenschaftliche Norm unabweisbar wird‘. Daraus ergebe sich logisch die Forderung nach einem Pluralismus der Forschungsprogramme, Methoden und Theorien.“2 Heise zieht aus den Ausführungen seiner Untersuchung die Quintessenz: „Allein ein umfassender Wissenschaftspluralismus … ist als Erkenntnismodell den Wirtschaftswissenschaften angemessen – dies darf aber nicht als ethisch motivierte Fairness- oder Toleranznorm missverstanden werden, sondern ist ein wissenschaftstheoretischer Imperativ. … Es gibt kein gesichertes, allgemein akzeptiertes (und zu akzeptierendes) Wissen (‚Wahrheit‘), sondern lediglich ein ‚Vermutungs-Wissen‘, dass jederzeit falsifiziert werden kann.“3

 Böckler Impuls, Heft 12 vom 07.07.2016, S. 7. Auch online verfügbar: www.boecklerimpuls.de.  Arne Heise, Pluralismus in den Wirtschaftswissenschaften, Expertise für die Hans-Böckler-Stiftung, März 2016. Online: http://www.boeckler.de/pdf/p_imk_study_47_2016.pdf, S. 30 u. 32.

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Inhaltsverzeichnis

Teil I  Eine kurze Geschichte der Ökonomik 1 Die Ökonomie in der Wissenschaft��������������������������������������������������������������������   3 2 Geschichte der Ökonomik����������������������������������������������������������������������������������   7 Teil II  Bedeutende Ökonomen 3 Xenophon��������������������������������������������������������������������������������������������������������������  47 4 Platon (auch Plato)����������������������������������������������������������������������������������������������  53 5 Aristoteles ������������������������������������������������������������������������������������������������������������  57 6 Pacioli, Luca ��������������������������������������������������������������������������������������������������������  63 7 Luther, Martin������������������������������������������������������������������������������������������������������  75 8 Mun, Thomas��������������������������������������������������������������������������������������������������������  83 9 Savary, Jacques����������������������������������������������������������������������������������������������������  91 10 Petty, William ������������������������������������������������������������������������������������������������������  95 11 Becher, Johann Joachim�������������������������������������������������������������������������������������� 103 12 Marperger, Paul Jacob���������������������������������������������������������������������������������������� 109 13 Quesnay, François������������������������������������������������������������������������������������������������ 115 14 Ludovici, Carl Günther �������������������������������������������������������������������������������������� 125 15 Smith, Adam �������������������������������������������������������������������������������������������������������� 129 16 Leuchs, Johann Michael�������������������������������������������������������������������������������������� 135 17 Sartorius, Georg Friedrich (Frhr. v. Waltershausen) �������������������������������������� 141 18 Malthus, Thomas Robert������������������������������������������������������������������������������������ 147 19 Say, Jean-Baptiste������������������������������������������������������������������������������������������������ 153 XVII

XVIII

Inhaltsverzeichnis

20 Owen, Robert�������������������������������������������������������������������������������������������������������� 159 21 Ricardo, David������������������������������������������������������������������������������������������������������ 169 22 Thünen, Johann-Heinrich von���������������������������������������������������������������������������� 175 23 List, Friedrich������������������������������������������������������������������������������������������������������ 185 24 Rau, Karl Heinrich���������������������������������������������������������������������������������������������� 193 25 Cournot, Antoine Augustin���������������������������������������������������������������������������������� 203 26 Mill, John Stuart�������������������������������������������������������������������������������������������������� 209 27 Roscher, Wilhelm G. F���������������������������������������������������������������������������������������� 217 28 Marx, Karl������������������������������������������������������������������������������������������������������������ 223 29 Juglar, Clément���������������������������������������������������������������������������������������������������� 233 30 Engels, Friedrich�������������������������������������������������������������������������������������������������� 237 31 Walras, (Marie Esprit) Léon������������������������������������������������������������������������������ 243 32 Wagner, Adolph���������������������������������������������������������������������������������������������������� 249 33 Schmoller, Gustav von ���������������������������������������������������������������������������������������� 259 34 Menger, Carl�������������������������������������������������������������������������������������������������������� 267 35 Marshall, Alfred �������������������������������������������������������������������������������������������������� 277 36 Schär, Johann Friedrich�������������������������������������������������������������������������������������� 287 37 Bücher, Karl �������������������������������������������������������������������������������������������������������� 293 38 Böhm Bawerk, Eugen von���������������������������������������������������������������������������������� 301 39 Kautsky, Karl ������������������������������������������������������������������������������������������������������ 307 40 Taylor, Frederick Winslow���������������������������������������������������������������������������������� 311 41 Gesell, Silvio��������������������������������������������������������������������������������������������������������� 317 42 Sombart, Werner�������������������������������������������������������������������������������������������������� 323 43 Lenin, Wladimir Iljitsch (eigentl. Uljanow)������������������������������������������������������ 331 44 Luxemburg, Rosa ������������������������������������������������������������������������������������������������ 339 45 Hellauer, Josef������������������������������������������������������������������������������������������������������ 345 46 Schmalenbach, (Johann Wilhelm) Eugen���������������������������������������������������������� 351 47 Nicklisch, Heinrich���������������������������������������������������������������������������������������������� 359 48 Hilferding, Rudolf������������������������������������������������������������������������������������������������ 365

Inhaltsverzeichnis

XIX

49 Rieger, Wilhelm���������������������������������������������������������������������������������������������������� 371 50 Mises, Ludwig von����������������������������������������������������������������������������������������������� 379 51 Schmidt, Fritz������������������������������������������������������������������������������������������������������ 383 52 Kalveram, Wilhelm���������������������������������������������������������������������������������������������� 389 53 Schumpeter, Joseph Alois������������������������������������������������������������������������������������ 399 54 Keynes, John Maynard���������������������������������������������������������������������������������������� 405 55 Polanyi, Karl�������������������������������������������������������������������������������������������������������� 415 56 Eucken, Walter ���������������������������������������������������������������������������������������������������� 421 57 Mellerowicz, Konrad������������������������������������������������������������������������������������������� 429 58 Salin, Edgar���������������������������������������������������������������������������������������������������������� 435 59 Seyffert, Rudolf���������������������������������������������������������������������������������������������������� 441 60 Kondratieff (auch: Kondratjew), Nikolai D. ���������������������������������������������������� 447 61 Gutenberg, Erich�������������������������������������������������������������������������������������������������� 457 62 Myrdal, (Karl) Gunnar �������������������������������������������������������������������������������������� 465 63 Kosiol, Erich �������������������������������������������������������������������������������������������������������� 473 64 Hayek, Friedrich August von������������������������������������������������������������������������������ 479 65 Müller-Armack, Alfred���������������������������������������������������������������������������������������� 487 66 Robinson, Joan Violet������������������������������������������������������������������������������������������ 493 67 von Stackelberg, Heinrich ���������������������������������������������������������������������������������� 499 68 Georgescu-Roegen, Nicholas������������������������������������������������������������������������������ 505 69 Galbraith, John Kenneth������������������������������������������������������������������������������������ 513 70 Friedman, Milton ������������������������������������������������������������������������������������������������ 521 71 Samuelson, Paul Anthony������������������������������������������������������������������������������������ 529 72 Heinen, Edmund�������������������������������������������������������������������������������������������������� 537 73 Ulrich, Hans Martin�������������������������������������������������������������������������������������������� 543 74 Selten, Reinhard�������������������������������������������������������������������������������������������������� 549 75 Kotler, Philip�������������������������������������������������������������������������������������������������������� 555 76 Sen, Amartya�������������������������������������������������������������������������������������������������������� 565 77 Lucas, Robert E.�������������������������������������������������������������������������������������������������� 573

XX

Inhaltsverzeichnis

78 Akerlof, George A. ���������������������������������������������������������������������������������������������� 579 79 Stiglitz, Joseph E. ������������������������������������������������������������������������������������������������ 585 80 Krugman, Paul R.������������������������������������������������������������������������������������������������ 591 Teil III  Serviceteil 81 Zeittafel zur Literaturgeschichte der Ökonomie���������������������������������������������� 599 82 Glossar������������������������������������������������������������������������������������������������������������������ 607 83 Kommentierte Literaturhinweise ���������������������������������������������������������������������� 635 84 Bildnachweise ������������������������������������������������������������������������������������������������������ 649

Abkürzungsverzeichnis

Abb. Abbildung Abk. Abkürzung ADB Allgemeine Deutsche Biographie altgr. altgriechisch Anm. Anmerkung (Fußnote) Bd./Bde. Band/Bände BIP Bruttoinlandsprodukt BRD Bundesrepublik Deutschland BWL Betriebswirtschaftslehre DBE Deutsche Biographische Enzyklopädie DDR Deutsche Demokratische Republik DGB Deutscher Gewerkschaftsbund DIW Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung, Berlin dt. deutsch engl. englisch EWG Europäische Wirtschaftsgemeinschaft FAS Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung FAZ Frankfurter Allgemeine Zeitung Fl Abk. für Gulden (von florenus, Florin) FR Frankfurter Rundschau GIGA German Institute of Global and Area Studies gr. griechisch HdSW Handwörterbuch der Sozialwissenschaften HdStW Handwörterbuch der Staatswissenschaften HdWW Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaft HGB Handelsgesetzbuch HNA Hessische/Niedersächsische Allgemeine Zeitung HWB Handwörterbuch der Betriebswirtschaft (1926/1938/1956) IWF Internationaler Währungsfond Jb. Jahrbuch XXI

XXII

Abkürzungsverzeichnis

Jh. Jahrhundert Kap. Kapitel KpdSU Kommunistische Partei der Sowjetunion lat. lateinisch LAW Lenin: Ausgewählte Werke, 6 Bde., Ost-Berlin: Dietz Verlag LW Lenin Werke, Ost-Berlin: Dietz Verlag MEW Marx/Engels: Werke, Ost-Berlin: Dietz Verlag MEAW Marx/Engels: Ausgewählte Werke, 6 Bde., Ost-Berlin: Dietz Verlag mhd. mittelhochdeutsch MIT Massachusetts Institute of Technology ND Neues Deutschland NDB Neue Deutsche Biographie NKM Neue Klassische Makroökonomik NSDAP Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei NZZ Neue Zürcher Zeitung S. Seite sog. sogenannte/r/s Sp. Spalte(n) SPD Sozialdemokratische Partei Deutschlands StabG Stabilitätsgesetz Stamokap Staatsmonopolistischer Kapitalismus SZ Süddeutsche Zeitung TH Technische Hochschule TU Technische Universität USPD Unabhängige SPD vgl. vergleiche VHB Verband der Hochschullehrer für Betriebswirtschaft VWL Volkswirtschaftslehre WdV Wörterbuch der Volkswirtschaft, 3 Bde., Jena: Fischer 1931–1933 WiSt Wirtschaftswissenschaftliches Studium WISU Das Wirtschaftsstudium WSI Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut WTO Worl Trade Organization z. B. zum Beispiel ZfB Zeitschrift für Betriebswirtschaft Zfbf Schmalenbachs Zeitschrift für betriebswirtschaftliche Forschung

Teil I Eine kurze Geschichte der Ökonomik

1

Die Ökonomie in der Wissenschaft

Der Untersuchungsgegenstand, dem wirtschaftliche Fragestellungen zugrunde liegen, also das reale Wirtschaftsleben, wird als „Ökonomie“ bezeichnet. Der Begriff setzt sich zusammen aus den griechischen Wörtern oikos (= Haus) und nomos (= Gesetz, Regel) und bedeutete ursprünglich so viel wie „Haushaltungskunst“ oder „Haushaltsführung“. „Ökonomie“ bedeutet also nichts anderes als „Wirtschaft“ oder „Wirtschaften“; darunter versteht man ein „geordnetes Entscheiden über die Verwendung von Mitteln, es ist Widmen von knappen Mitteln für menschliche Zwecke nach dem Rationalprinzip, d. h. nach dem Grundsatz, mit den eingesetzten Mitteln das höchste Maß von Nutzen zu erreichen.“1 Der Begriff „Ökonomik“ bezeichnet die Lehre von der Wirtschaft, also die Wirtschaftslehre bzw. die Wirtschaftswissenschaft. Die „Wirtschaftswissenschaft“, die auch dem Studiengang an zahlreichen Hochschulen seinen Namen gibt, ist eine moderne Bezeichnung und ein Synonym für „Ökonomik“. Die Wirtschaftswissenschaft, die wie die Politikwissenschaft und die Rechtswissenschaft zu den Sozialwissenschaften gehört, besteht im Wesentlichen aus zwei großen Disziplinen: der Volkswirtschaftslehre und der Betriebswirtschaftslehre. 1. Die Volkswirtschaftslehre (VWL) ist die Lehre von der Volkswirtschaft. Unter einer Volkswirtschaft versteht man die Gesamtheit der unterschiedlichen Einzelwirtschaften eines Staates, die in einem System von Beziehungen miteinander verbunden und dadurch voneinander abhängig sind. Die VWL, die früher auch „Politische Ökonomie“2 oder „Nationalökonomie“ (etwa seit 1800) genannt wurde, definiert der Nobelpreisträger →Paul A. Samuelson als „die Wissenschaft vom Einsatz knapper Ressourcen zur  O. v. Zwiedineck-Südenhorst (1948), S. 2.  Der Begriff „Politische Ökonomie“ lässt sich bis zu Aristoteles zurückverfolgen. Seit dem 17. Jahrhundert wird er von zahlreichen Schriftstellern verwendet. Eine weite Verbreitung setzte durch Marx und Engels ein.

1 2

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3

4

1  Die Ökonomie in der Wissenschaft

Produktion wertvoller Wirtschaftsgüter durch die Gesellschaft und von der Verteilung dieser Güter in der Gesellschaft.“3 Die VWL untersucht Fragestellungen und Zusammenhänge auf mikroökonomischer (einzelwirtschaftlicher) und auf makroökonomischer (gesamtwirtschaftlicher) Ebene. In einem weiteren Sinne werden auch die Wirtschaftspolitik, die Finanzwissenschaft, die Wirtschaftsgeschichte, die Statistik und die Ökonometrie zur VWL gezählt. Die zwei wichtigen Hauptgebiete, in die sich die VWL scheidet, sind die Mi­ kroökonomie und die Makroökonomie. „Zumeist wird Adam Smith als Begründer der Mikroökonomie bezeichnet, jenes Zweiges der Volkswirtschaft, der sich mit dem Verhalten einzelner Wirtschaftseinheiten wie der Märkte, der Unternehmen und der Haushalte beschäftigt. … Der andere große Zweig der Volkswirtschaftslehre ist die Ma­kroökonomie, die sich mit der wirtschaftlichen Gesamtleistung befasst. Die Ma­ kroökonomie in ihrer modernen Form entstand erst im Jahr 1936, als →John Maynard Keynes sein revolutionäres Werk General Theory of Employment, Interest and Money veröffentlichte.“4 . Die Betriebswirtschaftslehre (BWL) löste sich zum Ende des 19. Jahrhunderts als 2 „Privatwirtschaftslehre“ aus der Nationalökonomik heraus. Als eigenständige wirtschaftswissenschaftliche Disziplin stellt die BWL international gesehen eine ­ Besonderheit dar, die es so nur in Deutschland gibt. Im angelsächsischen Raum ­ ­beispielsweise gibt es die Trennung in VWL und BWL gar nicht. Der Name „Betriebswirtschaftslehre“, den die junge Wissenschaftsdisziplin →Eugen Schmalenbach zu ­verdanken hat, setzte sich nach dem Ersten Weltkrieg gegen die von →Wilhelm Rieger verwendete Bezeichnung „Privatwirtschaftslehre“ durch. In dieser Zeit wurde übrigens auch noch darüber gestritten, ob es sich dabei überhaupt um eine Wissenschaft handelt. Die BWL beschäftigt sich als selbständige wissenschaftliche Disziplin mit den wirtschaftlichen Tatbeständen des betrieblichen Geschehens in Betrieben der privaten und der öffentlichen Wirtschaft.5 Die BWL kann differenziert werden nach speziellen Branchen (z. B. Industriebetriebslehre, Handelsbetriebslehre, Bankbetriebslehre) und/ oder nach ihren Funktions- bzw. Aufgabenbereichen innerhalb eines Unternehmens (z. B. Produktionswirtschaft, Logistik, Marketing, Personalwirtschaft, Rechnungswesen). Verständlicherweise gibt es hier auch Überschneidungen zu der mikroökonomischen Ebene der VWL, da sich sowohl die Mikroökonomie als auch die BWL mit einzelnen Wirtschaftseinheiten  – den Betrieben  – befassen. So griff beispielsweise →Erich Gutenberg, einer der bedeutendsten deutschen Betriebswirtschaftler der Nachkriegszeit, auf mikroökonomische bzw. neoklassische Theorien zurück und integrierte diese in seinen Untersuchungen.

 P. A. Samuelson/W. D. Nordhaus (2010), S. 24.  Ebd. 5  Vgl. E. Gutenberg (1958), S. 13. 3 4

1  Die Ökonomie in der Wissenschaft

5

Sozialwissenschaften Politikwissenschaft

Wirtschaftswissenschaft

Betriebswirtschaftslehre (BWL)

Volkswirtschaftslehre (VWL)

Wirtschaftspolitik

Wirtschaftstheorie

Mikroökonomie

Finanzwissenschaft

Makroökonomie

Rechtswissenschaft

Nach Branchen:

Nach Funktionen:

Industrie-BWL

Produktion

Handels-BWL

Marketing

Bank-BWL

Personalwesen





Abb. 1.1  Die Systematik der Wirtschaftswissenschaft. (Quelle: Eigene Darstellung) „Dabei lässt sich nicht verkennen, daß es gewisse Tatbestände gibt, auf die sich das Interesse beider Disziplinen unmittelbar und vollständig erstreckt. Vor allem handelt es sich hierbei um Fragen der Produktions-, Kosten-, Preis-, Investitions- und Kredittheorie. Dagegen gibt es betriebswirtschaftliche Gebiete, die nur in begrenztem Maße unmittelbar volkswirtschaftliches Interesse finden. Diese Tatsache schließt nicht aus, daß grundsätzlich alle Fragen der Betriebs- und Volkswirtschaftslehre zum Problembestand der Wirtschaftswissenschaften gehören.“6

Die Systematik der Wirtschaftswissenschaft fasst die Abb. 1.1 zusammen. Übrigens ist diese Systematik der Wirtschaftslehre, wie wir sie in Deutschland kennen und wie sie in nahezu jedem Lehrbuch zu finden ist, fast 200 Jahre alt. Es war der deutsche Ökonom →Karl Heinrich Rau, der sie in seinem Werk Ueber die Kameralwissenschaft (1825) erarbeitete. Die historischen Entwicklungen der Volkswirtschaftslehre sowie der Betriebswirtschaftslehre werden im folgenden Kapitel in groben Zügen skizziert.

6

 Ebd.

2

Geschichte der Ökonomik

Auch wenn die Wirtschaftswissenschaft innerhalb der Wissenschaftstheorie eine recht junge Disziplin ist, so reicht die Geschichte des ökonomischen Denkens doch weit zurück. Erste Ansätze lassen sich sogar schon bei den Philosophen im antiken Griechenland finden. Im Folgenden wird eine knappe Darstellung der Entwicklung der Volkswirtschaftslehre und der Betriebswirtschaftslehre gegeben. Da hier für eine vollständige Übersicht nicht der Raum ist, werden vielmehr in groben Zügen die wichtigsten Epochen und Strömungen skizziert und „Schlaglichter“ hervorgehoben.

Volkswirtschaftslehre Die ökonomische Ideengeschichte lässt sich in folgende Phasen (siehe Abb. 2.1) einteilen, die im Folgenden skizziert werden: • • • • • • • • • •

Vorläufer (Antike und Mittelalter) Merkantilismus (Beginn des 17. Jh. bis zur Mitte des 18. Jh.) Physiokratismus (zweite Hälfte des 18. Jh.) Klassische Ökonomie (1776 bis Mitte des 19. Jh.) Marxismus/Wissenschaftlicher Sozialismus (ab zweite Hälfte des 19. Jh.) Historismus/Historische Schule (1843 bis ca. 1930) Neoklassik (1871 bis ca. 1930) Keynesianismus (seit 1936) Monetarismus (seit Ende der 1960er-Jahre) Neue Klassische Makroökonomie (seit Anfang der 1970er-Jahre)

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7

8

2  Geschichte der Ökonomik

Klassik Merkantilismus / Kameralismus

„Vorläufer“

Historische Schule

Physiokratismus

1600

1700

1621

1676

T. Mun: „Gedanken zum Handel Englands“

W. Petty: „Politische Arithmetik“

1758

Neo-Klassik

Marxismus

1800 1776

F. Quesnay: A. Smith: „Tableau „Wohlstand économique“ der Nationen“

Monetarismus / Neue Klassische Makroökonomik

Keynesianismus / Post-Keynesianismus

1900 1817

1867–1894

D. Ricardo: „Grundsätze der Politischen Ökonomie“

K. Marx: „Das Kapital“

2000 1936

1962 u.1969

J. M. Keynes: M. Friedman: „Allgemeine „Kapitalismus Theorie“ und Freiheit“u. „Die optimale Geldmenge“

Abb. 2.1  Die Entwicklung der Volkswirtschaftslehre. (Quelle: Eigene Darstellung)

„Vorläufer“ Die Anfänge ökonomischen Denkens – wenn auch in sehr primitiver Form – lassen sich bis zu der Zeit zurückverfolgen, in der Menschen innerhalb einer Urgesellschaft damit begannen, arbeitsteilig ihre Geräte, Waffen und Werkzeuge zu produzieren, ihre Jagdbeute oder ihre Ernte zu verteilen oder zu tauschen. Als Namensgeber der Ökonomie wird häufig → Aristoteles genannt, was jedoch nicht ganz richtig ist, da der etwa 60 Jahre ältere griechische Philosoph → Xenophon bereits zwei ökonomische Werke verfasst hat, von denen eines den Titel Oeconomicus trägt. So können beide Philosophen als die ersten Ökonomen in der Wissenschaftsgeschichte gelten. Sie beschäftigten sich im Rahmen ihrer praktischen Philosophie mit wirtschaftlichen Fragestellungen und versuchten, ökonomische Gesetzmäßigkeiten zu ergründen. Aristoteles untersuchte beispielsweise den Tauschprozess und fand die zwei Seiten der Ware: den Tauschwert und den Gebrauchswert. Ferner lehnt er Zinsen ab, da Geld keinen eignen Wert habe. → Platon lehnte das Gewinnstreben ab, weil es sich gegen das Gemeinwohl richte. Die antiken Philosophen zählen wir hier – wie auch die Autoren aus dem Mittelalter – zu den „Vorläufern“ der ökonomischen Wissenschaft. Gemessen an den „glanzvollen Leistungen“ der griechischen Philosophen auf anderen Gebieten stuft → J. Schumpeter deren Leistung auf dem Gebiet der Ökonomie als „gering“ ein. Denn sie „verknüpften ihre wirtschaftlichen Überlegungen mit ihrer allgemeinen Staats- und Gesellschaftsphilosophie; nur selten befassten sie sich mit einem ökonomischen Problem um seiner selbst willen.“1 Im Mittelalter beschäftigten sich die Autoren (z.  B. Albertus Magnus, Thomas von Aquin, Johannes Buridan oder → Martin Luther) mit Themen wie beispielsweise dem 1

 Schumpeter (1965/2007), Bd. 1, S. 92.

Volkswirtschaftslehre

9

­ erechten Preis und dem Zinsverbot. Diese Themen stehen auch im engen Zusammenhang g mit der grundlegenden Frage der Vereinbarkeit von Christentum und Ökonomie. Diese Vorläufer entwickelten ihre Ideen zumeist im Zusammenhang mit Fragestellungen oder Problemen aus anderen Bereichen als der Ökonomie (z. B. der Ethik und Moral). Zu den ersten wissenschaftlichen Beschreibungen der Ökonomie kam es erst im Zeitalter des Merkantilismus.

Merkantilismus Als Merkantilismus2 wird die Wirtschaftstheorie und Wirtschaftspolitik in der Phase des Frühkapitalismus bezeichnet, die etwa vom Beginn des 17. Jahrhunderts bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts reicht. In dieser Zeit entstanden in Europa absolutistische Nationalstaaten, deren Herrscher danach strebten, ihre Staatskassen zu füllen. Dies sollte erreicht werden durch eine Handelspolitik, die den Export massiv fördert und so zu einer aktiven Handelsbilanz führt. Ein weiteres Instrument waren beispielsweise Schutzzölle, die im Rahmen einer protektionistischen Wirtschaftspolitik auf Importe erhoben wurden und so Erträge für die Staatskasse generierten. Ein möglichst großer Geldvorrat bzw. ein großer Vorrat an Gold und Silber wurde als maßgeblich für den Reichtum eines Staates angesehen. In Europa trat der Merkantilismus, der seinen Ursprung in England hatte, in unterschiedlichen Variationen in Erscheinung und trägt daher spezifische Namen: Kommerzialismus3 in England und den Niederlanden, Colbertismus in Frankreich und Kameralismus4 in Deutschland. Wichtige englische Vertreter sind beispielsweise → T.  Mun, C.  Child, J. D. North und → W. Petty. In Frankreich ist diese Epoche untrennbar mit dem Namensgeber J. B. Colbert verbunden. Einer der bedeutendsten Vertreter des Kameralismus war → Johann Joachim Becher. Im Merkantilismus wurden wichtige wissenschaftliche Erkenntnisse erarbeitet (z.  B. eine simple Form der Quantitätstheorie) und die Einsicht gewonnen, dass in der Wirtschaft objektive Gesetzmäßigkeiten (z. B. Wert, Preis) herrschen. William Petty gehörte zu den ersten Ökonomen, „die auf den Gedanken kamen, daß in der Wirtschaft objektive und erkennbare Gesetzmäßigkeiten herrschen, die er mit den Gesetzen der Natur verglich und deshalb als natürliche Gesetze bezeichnete. Damit war ein bedeutender Fortschritt in der Entwicklung der politischen Ökonomie getan: Sie hatte eine wissenschaftliche Basis erhalten.“5 Daher sehen einige Ökonomen im Merkantilismus auch die Geburtsstunde der Volkswirtschaftslehre. In wirtschaftstheoretischer Hinsicht wurde der Merkantilismus vom Physiokratismus (Frankreich) bzw. von der klassischen Ökonomie (England) abgelöst, und in wirtschaftspolitischer Hinsicht vom Liberalismus.  Von lat. mercari = handeln, mercantile = kaufmännisch.  Von lat. commercium bzw. franz. commerce = Handel. 4  Von mhd. kamere = Kammer, fürstliche Schatzkammer. 5  A. W. Anikin (1974), S. 86. 2 3

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2  Geschichte der Ökonomik

Physiokratismus Die Phase des Physiokratismus6 umfasst etwa die drei Jahrzehnte vor der französischen Revolution. Als „Gründervater“ der Physiokraten gilt → F. Quesnay, dessen Werk Tableau économique im Jahre 1758 erschien. Weitere Vertreter dieser Gruppe französischer Ökonomen waren A. R. J. Turgot und V. R. Marquis de Mirabeau. Die Physiokraten stellen eine Gegenbewegung zu den Merkantilisten dar, da sie nun die Produktionssphäre in den Mittelpunkt der ökonomischen Analyse rücken. „Die Analyse des Kapitals“, so schreibt → Karl Marx in seinen Theorien über den Mehrwert, „gehört wesentlich den Physiokraten. Dies Verdienst ist es, das sie zu den eigentlichen Vätern der modernen Ökonomie macht.“7 Die Physiokraten betrachten nur die menschliche Arbeit als produktiv und vertreten die Ansicht, dass nur in der Landwirtschaft Werte geschaffen werden. Die Natur sei nach Auffassung der Physiokraten die alleinige Quelle des Reichtums. Nach Quesnay bestehe die (damalige) Gesellschaft aus drei Klassen: ( 1) Klasse der Grundeigentümer (Fürsten, Gutsbesitzer, Kirche) (2) produktive Klasse (Landwirte) (3) sterile Klasse (Handwerker, Kaufleute, Arbeiter). Natürlich arbeiten auch Handwerker und Kaufleute, aber da ihre Arbeit nicht an den Boden gebunden sei, schaffen sie genauso viel, wie sie verbrauchen; sie wandeln lediglich das Produkt der Landwirtschaft um. Daher werden sie als „sterile Klasse“ bezeichnet. Generell teilt Quesnay die Bevölkerung jeweils auf die Klasse auf, von der sie ökonomisch abhängig sind. So werden beispielsweise die Bediensteten von Grundeigentümern auch der Klasse der Grundeigentümer zugeordnet. Die wirtschaftlichen Beziehungen dieser Klassen stellt Quesnay in einem Wirtschaftskreislauf (Tableau économique) dar. Das Tableau „soll nun veranschaulichen, wie das jährliche Gesamtprodukt eines Landes … zwischen diesen drei Klassen zirkuliert und der jährlichen Reproduktion dient“,8 schreibt Karl Marx, der bei seiner Analyse des Reproduktionsprozesses auch auf dieses Modell zurückgreift. Quesnays Tableau kann als erstes Modell einer volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung gesehen werden. Die Lehre der Physiokraten wurde gegen Ende des 18. Jahrhunderts von der klassischen Ökonomie verdrängt.

Klassische Ökonomie Die Geburtsstunde der „klassischen Nationalökonomie“ wird datiert auf das Jahr 1776, als → A. Smith sein Werk Wealth of Nations veröffentlichte, welches der wissenschaftlichen Ökonomie endgültig zum Durchbruch verhalf. Diese Epoche der Klassik umfasst beinahe  „Herrschaft der Natur“ von gr. physis = Natur und kratos = Macht, Herrschaft.  MEW, Bd. 26.1, Berlin (Ost) 1964, S. 14. 8  F. Engels: „Anti-Dühring“, in: MEAW, Bd. 5, Berlin (Ost) 1979, S. 270. 6 7

Volkswirtschaftslehre

11

100 Jahre (ihr Ende wird auf 1870 datiert). Geprägt vom aufklärerischen Geist der Zeit und beeinflusst von den Physiokraten richtet sich Smith mit seiner Auffassung von einer „natürlichen“ Wirtschaft gegen den Merkantilismus, der eine künstliche Ökonomie sei, weil sie von Staatsmännern und Verwaltungsbeamten dirigiert wird.9 Weitere (englische) Vertreter der klassischen Ökonomie, die sie stützten und weiterentwickelten, sind beispielsweise: → T. Malthus, → J. B. Say, → D. Ricardo und → J. St. Mill. Einen „Sonderweg“ schlugen die deutschen Vertreter der Klassik ein; zu ihnen zählen beispielsweise → J. H. v. Thünen, → G. F. Sartorius und → K. H. Rau. Da die Vertreter der klassischen Nationalökonomie unterschiedlichen geistigen Milieus entstammen, existiert kein einheitliches Lehrgebäude. Dennoch lassen sich vier Prinzipien einer liberal-individualistischen Wirtschaftsgesellschaft ausmachen: 1. Träger wirtschaftlicher Handlungen sind die Individuen (nicht der Staat!), die in freier Selbstbestimmung ihre wirtschaftlichen Entscheidungen treffen. Voraussetzung hierfür ist das Recht auf Eigentum, das Recht über die eigene Arbeitskraft zu verfügen sowie die Vertragsfreiheit. 2. Der einzelne Mensch handelt in wirtschaftlicher Selbstverantwortung, d. h. er hat für sein Tun und Lassen selbst einzustehen. 3. In ihrem Handeln werden die Individuen vom Selbstinteresse geleitet. 4. Freie Konkurrenz ist nicht nur Folge, sondern auch Voraussetzung für das Funktionieren dieses Systems. Hierzu zählt auch die Freiheit des Außenhandels, also die Aufhebung der Handelsbeschränkungen und protektionistischen Maßnahmen des Staates. Diese Forderung richtete sich direkt gegen das Merkantilsystem der absolutistischen Staaten. Zu den bedeutsamen Erkenntnissen der klassischen Ökonomen zählt beispielsweise die Arbeitswerttheorie von → David Ricardo, wonach der natürliche Preis, also der Wert eines Gutes, bestimmt wird durch die Arbeitsmenge, die für dessen Produktion aufgewendet werden muss. Ricardo betrachtet „die Arbeit als Grundlage des Wertes der Waren“. Um diesen Wert bewegt sich der Marktpreis, der von Angebot und Nachfrage abhängt. Und diesen Gedanken überträgt er auf Arbeit und Lohn: „Wie alle anderen Dinge, die gekauft und verkauft werden und deren Menge sich vergrößern und verringern kann, hat auch die Arbeit ihren natürlichen und ihren Marktpreis“.10 → Karl Marx wird später auf diese ­Erkenntnisse zurückgreifen und sie im Rahmen seiner Analyse des Kapitalismus weiterentwickeln. Die Erkenntnisse der Klassiker bilden eine wichtige Quelle der marxistischen Ökonomie. Als Gegenströmung zur (englischen) Klassik entstand in der Mitte des 19. Jahrhunderts – parallel zum Marxismus – in Deutschland die Historische Schule.

 Vgl. G.  Briefs: Klassische Nationalökonomie. In: HdSW, Bd.  6, Stuttgart u.  a. 1959, S.  4–19 (hier S. 5). 10  D. Ricardo: Grundsätze der politischen Ökonomie, hrsg. von G. Bondi, Berlin (Ost) 1959, S. 77 ff. 9

12

2  Geschichte der Ökonomik

Marxismus (wissenschaftlicher Sozialismus) Wenn man von „Marxismus“ spricht, sollte zunächst geklärt werden, was darunter verstanden werden soll. Paul Tillich weist im Jahr 1953 auf folgende Problematik hin: „Seit seiner Entstehung vor mehr als hundert Jahren sind mindestens drei Formen des Marxis­ mus in Erscheinung getreten. Die erste Form ist die, die im ursprünglichen und vor allen Dingen im jüngeren Marx bis zum ‚Kommunistischen Manifest‘ vorliegt. Die zweite Erschei­ nungsform des Marxismus ist der von Marx selbst in seinen späteren Schriften vorbereitete wissenschaftliche Sozialismus. Die dritte Erscheinungsform ist die von Lenin vorbereitete und von Stalin durchgeführte Zerstörung der ursprünglichen Impulse von Marx und die Benutzung seiner Gedanken zur Fundierung eines Systems totalitärer Herrschaft. Wenn man daher heute von Marxismus spricht, muß man angeben, welche der drei Erscheinungsformen man meint.“11

Die von Tillich angeführte „dritte Erscheinungsform“ ist hier nicht von Interesse, denn dabei handelt es sich um einen „Weltanschauungs-Marxismus“, um politische Ideologie. Wir lenken unser Interesse auf den „wissenschaftlichen Sozialismus“, der von → Karl Marx und → Friedrich Engels mit ihren ersten gemeinsamen Schriften in den 1840er-­ Jahren begründet wurde und der schließlich seine Vollendung und seinen Höhepunkt fand in Marx’ dreibändigem Hauptwerk Das Kapital – Kritik der politischen Ökonomie. Der erste Band erschien 1867, die beiden anderen wurden von Engels posthum in den Jahren 1885 und 1894 herausgegeben. Bedeutende Theoretiker und Weiterentwickler des Marxismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren beispielsweise → Karl Kautsky, → Rosa Luxemburg, → Wladimir I. Lenin und in ganz besonderem Maße → Rudolf Hilferding mit seiner Studie Das Finanzkapital (1910), das – neben dem Marx’schen Kapital – als das bedeutendste ökonomische Werk des deutschen Marxismus gesehen wird. Marx und Engels waren davon überzeugt, dass die Arbeiter aus ihrer Not und Unterdrückung nur befreit werden können, wenn die Produktionsverhältnisse revolutioniert werden. Im Kapital analysiert Marx die Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen Produktionsweise. Dabei greift er auf die Erkenntnisse der Physiokraten und vor allem der Klassiker zurück. Er gelangt zu der Erkenntnis, dass nicht das freie Spiel der Marktkräfte – die „unsichtbare Hand“ – zur Überwindung der Klassengegensätze führt, sondern einzig und allein der Klassenkampf. Seine ökonomische Theorie lässt sich sehr stark vereinfacht wie folgt skizzieren: Nach einer Phase der handwerklichen Produktionsweise und der Manufaktur bilden sich durch die Industrialisierung, die gegen Ende des 18. Jahrhunderts in England ihren Anfang nahm und im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts in Deutschland einsetzte, zwei Klassen heraus: Auf der einen Seite die Kapitalisten, die über die Produktionsmittel (z. B. Maschinen) verfügen; auf der anderen Seite die Arbeiter, die nur über ihre Arbeitskraft verfügen und diese wie jede andere Ware auf dem (Arbeits-) Markt verkaufen müs P. Tillich: Der Mensch in Christentum und in Marxismus (1953). In: Hauptwerke, Bd. 2, Kulturphilosophische Schriften. Berlin 1990, S. 250. 11

Volkswirtschaftslehre

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Der Wertbildungsprozess nach Marx W = Warenwert c = Wert der verbrauchten Produktionsmittel (= konstantes Kapital) v = Wert der Ware Arbeitskraft (= variables Kapital) m = Mehrwert

Abb. 2.2  Der Wertbildungsprozess nach Marx. (Quelle: Eigene Darstellung)

Abb. 2.3  Das neue Verhältnis zwischen Arbeiter und Unternehmer. Karikatur aus dem Neuen Postillon, Zürich 1896. (Quelle: Wikimedia)

sen. Die Arbeiter erzeugen die Produkte durch ihre Arbeitskraft, jedoch erhalten sie vom Kapitalisten nur so viel als Anteil am Produkt, wie sie zum Leben und zum Erhalt ihrer Arbeitskraft benötigen – ihr Lohn ist ein Existenzminimum. Die Differenz zwischen dem durch die Arbeit neugeschaffenen Wert und dem Wert der Arbeitskraft bezeichnet Marx als „Mehrwert“, der dem Kapitalisten zufließt (siehe Abb. 2.2). Marx kommt zu dem Schluss: „Nur die Form, worin diese Mehrarbeit dem unmittelbaren Produzenten, dem Arbeiter, abgepreßt wird, unterscheidet die ökonomischen Gesellschaftsformationen, z. B. die Gesellschaft der Sklaverei von der Lohnarbeit (Abb. 2.3).“12

 K. Marx/F. Engels: Das Kapital, Bd. 1, Berlin (Ost) 1989, S. 231.

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2  Geschichte der Ökonomik

Der Kapitalist befindet sich in einem ständigen Konkurrenzkampf mit anderen Unternehmen und ist gezwungen, immer mehr Maschinen im Produktionsprozess einzusetzen. Diese Rationalisierung führt zur Entlassung der Arbeiter und es entsteht eine – wie Marx es nennt – „industrielle Reservearmee“. Da aber nur die menschliche Arbeitskraft Werte schaffen und also der Kapitalist seinen Profit nur aus dem von ihnen erzeugten Mehrwert erzielen kann, führt dies zu einer tendenziell sinkenden Profitrate. Es kommt zur Konzentration der Unternehmen und zu Überproduktion. Dem steht die verelendete Arbeiterklasse, das Proletariat, gegenüber, das über keinerlei Kaufkraft verfügt. Dies führt zu wirtschaftlichen Krisen, denen politische Krisen folgen. Das Proletariat wird durch Revolution die Macht an sich reißen, das Privateigentum an den Produktionsmitteln beseitigen und diese in gesellschaftliches Eigentum umwandeln. Schließlich entsteht eine klassenlose, eine kommunistische Gesellschaftsform.

Historismus (Historische Schule) Als Reaktion gegen die klassische Nationalökonomie entwickelte sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts in Deutschland die sogenannte „Historische Schule“. Marxistische Wissenschaftler sehen in der (älteren) Historischen Schule „unter anderem ein Reflex auf den vormarxschen Sozialismus, auf die proletarische Bewegung und seit Ende der vierziger Jahre auch auf den wissenschaftlichen Sozialismus“.13 Die Historische Schule erreichte kurz vor dem Ersten Weltkrieg ihren Höhepunkt und verlor spätestens mit der Weltwirtschaftskrise 1929 an Bedeutung, da sie keine Erklärungen für die aktuellen Probleme liefern konnte. „Die Hauptursache, warum die theoretische Nationalökonomie in Deutschland so sehr an Ansehen verloren“ habe, sieht Hirsch im „Versagen dieser Disziplin, die unter Schmollers Einfluss hauptsächlich Wirtschaftsgeschichte geworden war, im Kriege und erst recht nachher in der Inflationszeit.“14 Dieser Imageschaden der deutschen VWL forcierte zugleich den Aufstieg der Betriebswirtschaftslehre, der es gelang, jene wissenschaftlichen Nischen zu besetzen, welche die deutsche Nationalökonomie, d. h. die Historische Schule offen ließ. Die junge BWL konnte so von der Schwäche der VWL profitieren und ihr Ansehen weiter ausbauen. Vereinzelt wirkten die Ideen der Historischen Schule noch bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts nach. So integrierte beispielsweise → Edgar Salin Elemente des Historismus in seine „anschauliche Theorie“. Salin sah in dem ­Historismus „jenes Gebiet, auf dem die stärkste deutsche Leistung der Vergangenheit und die wichtigste Aufgabe der Zukunft liegt: die Arbeit an Geschichte und Theorie der deutschen und aller nationalen Volkswirtschaft, an Entdeckung und Darstellung einer echten Volkswirtschaftslehre.“15 Und → Walter Eucken befasste sich in seinem Werk Grundlagen

 H. Meißner (Hrsg.): Geschichte der politischen Ökonomie. Berlin (Ost) 1978, S. 230.  Zit. n. P. Mantel (2009), S. 20. 15  E. Salin (1929), S. 76. 13 14

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der Nationalökonomie (1940) mit der „großen Antinomie“, womit er eine Kluft bezeichnet zwischen einer historischen und einer theoretischen Methode in der Ökonomie. Die Historische Schule geht davon aus, dass gesellschaftliche und ökonomische Verhältnisse historisch entstanden sind, wirtschaftliche Phänomene zeitabhängig sind und es daher keine allgemein gültigen Theorien geben könne. Mit dieser Auffassung wendet sie sich gegen die „klassische Lehre“, deren ahistorisch generalisierende Methode sie kritisiert. Diese Kritik äußerte schon → Friedrich List, der als „Vorläufer“ des Historismus angesehen werden kann. Als Forschungsmethode preist die Historische Schule die Induktion und verweist da­ rauf, dass man erst nach gründlichen und sorgfältigen Untersuchungen zu Verallgemeinerungen kommen könne. Dieses empirisch-beschreibende Vorgehen führte zu immensen Stoffsammlungen und umfassenden Detailstudien, aus denen sodann versucht wurde, die Besonderheiten herauszukristallisieren und auf das Allgemeine, Gesetzmäßige zu schließen. Auch sollten außerökonomische Faktoren (wie z. B. Recht, Sitte, Moral, Politik, Religion), die auf die Wirtschaft einwirken, berücksichtigt werden. Ihr Ziel war „eine historisch fundierte Sozialwissenschaft, die eine Analyse wirtschaftlicher Institutionen einschloß und wirtschaftliche Verhaltensweisen als gesellschaftlich bedingt begriff.“16 Die konträren Positionen der Klassik und der Historischen Schule werden in folgender Übersicht gegenübergestellt: Positionen der Klassik und der Historischen Schule Klassische Ökonomie Historische Schule •  theoretische Modelle und Gesetze •  empirisch-beschreibende Entwicklung (anschaulich) (abstrakt) •  deduktive Vorgehensweise •  induktive Vorgehensweise • Wirtschaftliche Erscheinungen sind historisch • In der Wirtschaft existieren allgemeingültige, zeitlose Gesetze bedingt und ändern sich im Verlauf der Geschichte („Naturgesetze“) („Stufenlehre“) • Im Vordergrund steht der Einzelne mit • Im Vordergrund steht die Gemeinschaft, deren seinen individuellen Bedürfnissen und historische Erfahrungen sich in gesellschaftlichen seinem Willen Institutionen niederschlagen •  Leitmotiv: ethisches Handeln/„Gemeinschaftsleben“ • Leitmotiv: individueller Nutzen/ • Annahme: Handeln wird bestimmt durch Recht, „Homo oeconomicus“ Moral, gelebte Gewohnheiten, Angst, Strafe etc., die • Annahme: Handeln wird bestimmt ihren Niederschlag finden in Institutionen durch Eigennutz •  Der Staat hat eine Verantwortung („soziale Frage“) • Der Staat greift nicht in das •  → Interventionismus Wirtschaftsgeschehen ein („Nachtwächterstaat“). •  → Liberalismus • Arbeitsteilung und internationaler • Entfaltung der „produktiven Kräfte“ (List) der Freihandel fördern die Wirtschaft Nation kann Protektionismus erfordern

 F. Geigant et al. (Hrsg.): Lexikon der Volkswirtschaft, 7. Aufl., München 2000, S. 412.

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Als Begründer der Historischen Schule gilt → Wilhelm Roscher, der in seinem Werk Grundriß zu Vorlesungen über die Staatswirthschaft  – Nach geschichtlicher Methode (1843) deren Grundsätze formulierte. Es lassen sich drei Historische Schulen unterscheiden: 1. die ältere Historische Schule (Vertreter: → Wilhelm Roscher, Bruno Hildebrand, Karl Knies und Albert Schaeffle) 2. die jüngere Historische Schule (Vertreter: → Gustav Schmoller, Georg Friedrich Knapp, → Adolph Wagner, Lujo Brentano und → Karl Bücher) 3. die dritte oder auch jüngste Historische Schule (Vertreter: → Werner Sombart, Max Weber, Arthur Spiethoff). Die Vertreter der Historischen Schule lehnten die wirtschaftspolitischen Forderungen der Klassik ab, wonach sich der Staat aus der Wirtschaft heraushalten solle und bejahten vielmehr staatliche Interventionen und sozialpolitische Maßnahmen. Sie schlossen sich zusammen in dem 1872 gegründeten Verein für Socialpolitik. Die Historische Schule grenzte sich nicht nur ganz klar von der klassischen Lehre ab, sondern setzte sich auch mit einem neuen Rivalen auseinander: der Neoklassik.

Neoklassik Der Begriff „Neoklassik“ geht auf T. B. Veblen (1900) zurück, „der damit die Ökonomie von Marshall und seiner Schule bezeichnete“.17 Die Epoche der Neoklassik, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts begann, stellt einen entscheidenden Paradigmenwechsel18 in der Wirtschaftstheorie dar. Wichtige Vertreter sind: W. S. Jevons, J. B. Clark, → C. Menger, I. Fisher, K. Wicksell, → L. Walras und A. Pigou. Das Kernstück dieser Lehre ist die sogenannte „marginalistische19 Revolution“. Die Vertreter dieser „Grenznutzenschule“ rücken das Individuum mit seinem subjektiv ­bestimmten Grenznutzen in den Mittelpunkt. Das heißt, der Wert eines Gutes ist abhängig von seinem subjektiv gestifteten Nutzen, wobei als „Grenznutzen“ jener Nutzen bezeichnet wird, den die letzte Einheit eines Gutes dem Einzelnen stiftet. H. H. Gossen hat die Veränderung des Nutzens bei verändertem Konsum untersucht und folgende Grundsätze formuliert: 1. Gesetz vom abnehmenden Grenznutzen (1. Gossen’sches Gesetz): Mit zunehmendem Konsum eines Gutes nimmt der Nutzen jeder weiteren konsumierten Einheit ab.

 F. Söllner (2015), S. 41.  Wechsel von einer wissenschaftlichen Grundauffassung zu einer anderen. 19  Von lat. marginal = am Rande, auf der Grenze liegend. 17 18

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2. Gesetz vom Grenznutzenausgleich (2. Gossen’sches Gesetz): Die Konsumsumme ist so auf verschiedene Verwendungszwecke aufzuteilen, dass der Grenznutzen (also der Nutzen der jeweils letzten Einheit) in allen Verwendungen gleich hoch ist. Wenn beispielsweise eine Person an einem heißen Sommertag starken Durst verspürt und diesen durch kühles Bier stillen möchte, so wird das erste Glas Bier einen höheren Nutzen stiften als das zweite Glas, und das zweite Glas einen höheren Nutzen als das dritte usw. (siehe Abb. 2.4). Mit zunehmendem Konsum nimmt der Nutzen jedes weiteren Bieres ab. So mag das zweite Bier noch angenehm berauschen, während das zehnte Bier Übelkeit hervorruft. Diese subjektive Wertlehre wendet sich gegen die von den klassischen und marxistischen Ökonomen vertretene objektive Wertlehre, wonach sich der Wert eines Gutes aus den Arbeits- bzw. Produktionskosten ableitet. Denn hiernach hätte in unserem Beispiel jedes Glas Bier objektiv gesehen einen gleich hohen Wert, der durch die Arbeitskraft des Brauers im Produktionsprozess erzeugt wird. Kritik an den Gossen’schen Gesetzen übte Vilfredo Pareto: Der Nutzen sei nicht zahlenmäßig (kardinal) messbar; man könnte allenfalls einen „besser-schlechter“-Vergleich (ordinal) anstellen. Die marginalistische Revolution der Neoklassik bedeutet insofern auch eine Abkehr von einem eher makroökonomischen bzw. klassentheoretischen Ansatz, wie wir ihn noch in der Klassik vorfinden, und eine gleichzeitige Hinwendung zu einem mikroökonomischen Ansatz, der nun das Individuum in den Mittelpunkt der Betrachtungen rückt. → A. Marshall versuchte eine „Brücke zu bauen“, er wollte die objektive Wertlehre mit der subjektiven Wertlehre zusammenführen. „Diese Synthese sah eine objektive kostenbestimmte Angebotsfunktion und eine subjektive nutzenbestimmte Nachfragefunktion vor, die in einer kurzfristigen Betrachtung den Marktpreis und in einer langfristigen Betrachtung den natürlichen Preis einer Ware bestimmen.“20

Gesamtnutzen 10

Grenznutzen

5

10

5

1

1 1

2

3

4

5

Menge

1

2

3

Abb. 2.4  Der Grenznutzen. (Quelle: Eigene Darstellung)

 H.-J. Bontrup: Volkswirtschaftslehre. 2. Aufl., München/Wien, 2004, S. 8.

20

4

5

Menge

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Die Neoklassik mündet schließlich in der von → L.  Walras entwickelten Gleichgewichtstheorie, wonach sich Angebot und Nachfrage in einem marktwirtschaftlichen System immer in einem Marktgleichgewicht einpendeln. Die Weltwirtschaftskrise zu Beginn der 1930er-Jahre ließ jedoch Zweifel am Funktionieren dieses Systems aufkommen und veranlasste → J. M. Keynes, eine neue Theorie aufzustellen.

Keynesianismus Der Begriff „Keynesianismus“ bezeichnet sowohl die wirtschaftswissenschaftliche Theorie von → J.  M. Keynes als auch die daraus abgeleitete nachfrageorientierte Wirtschaftspolitik (=„Nachfragetheorie“). Seine „revolutionäre“ Theorie, die als Wiege der modernen Makroökonomie gilt, legte der britische Nationalökonom in seinem 1936 veröffentlichten Hauptwerk The General Theory of Employment, Interest and Money dar, welches er unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise verfasste. Sie nahm ihren Anfang mit dem Börsenkrach in New York am 25.10.1929 und führte zu einer weltweiten Rezession, die 1932 ihren Tiefpunkt erreichte. Die Krise führte zu einem starken Rückgang der Produktion in den Industrieländern, die Preise und Volkseinkommen schrumpften und es kam zu einer extrem hohen und lang anhaltenden Arbeitslosigkeit (siehe Abb. 2.5). Keynes wollte den Ursachen hierfür auf den Grund gehen und Lösungswege zur Vollbeschäftigung aufzeigen. „Vor Keynes akzeptierten die meisten Ökonomen und

Abb. 2.5  Die Not unserer Zeit! Arbeitslose Hafenarbeiter in Hamburg, Januar 1931. (Quelle: Wikimedia/Bundesarchiv, Bild 183-R96268)

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Politiker das Auf und Ab von Konjunkturzyklen als ebenso naturgegeben wie Ebbe und Flut. Aufgrund dieser traditionellen Auffassung standen sie der Weltwirtschaftskrise in den 1930er-Jahren hilflos gegenüber.“21 So liest man beispielsweise im Handwörterbuch der Betriebswirtschaft von 1927: „Neuerdings ist wieder der Gedanke aufgetaucht, den Konjunkturverlauf an den Gestirnen abzulesen. Für Amerika verknüpft H.  More die periodische Bewegung der Venus ursächlich mit den wirtschaftlichen ­Gezeiten.“22 Die herausragende Bedeutung der keynesianischen Theorie liegt darin begründet, dass Keynes die bis dahin angenommenen Lehren der Klassiker bzw. Neoklassiker (z. B. das „Say’sche Theorem“) in Frage stellte und zeigen konnte, „daß marktwirtschaftliche ­Ordnungen immanent instabile Ordnungen sind, in denen ein gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht bei Unterbeschäftigung als Dauerzustand auftreten kann, wenn nicht der Staat … die am Markt vorhandene Nachfragelücke durch ein entsprechendes staatliches demand-­management schließt.“23 Damit hatte sich auch ein Wandel von einer mikroökonomischen Methode hin zu einer neuen, gesamtwirtschaftlichen Methode vollzogen und die VWL entwickelte sich „zumindest teilweise zu einer politischen Ökonomie zurück.“24 Nach dem Tode Keynes’ (1946) wurde seine Theorie lebhaft diskutiert, interpretiert und weiterentwickelt und es bildeten sich im Wesentlichen zwei Strömungen heraus: Die neoklassische Synthese25 (wichtige Vertreter sind beispielsweise → P. A. Samuelson, J. Tobin und R. Solow) versucht die keynesianische Lehre mit der neoklassischen Mikroökonomie zu vereinen, was von Keynes’ langjähriger Assistentin → J.  V. Robinson abwertend als „Bastard-Keynesianismus“ bezeichnet wurde. Sie war es dann schließlich auch, die die Lehre von Keynes weiterentwickelte und eine zweite Strömung initiierte, die als Post-­ Keynesianismus bekannt geworden ist. In den 1980er-Jahren differenzierte sich der Keynesianismus einerseits in einen sog. Rechts-Keynesianismus, dessen Anhänger sich in Wirtschaftskrisen eher für Steuersenkungen als für Investitionsprogramme aussprechen, da hierdurch der Staat keinen Einfluss auf den Output der Volkswirtschaft nimmt; andererseits in einen Links-Keynesianismus, dessen Vertreter die Bedeutung der Nachfrage ­hervorheben und in Rezessionen staatliche Nachfrageprogramme und eine expansive Lohnpolitik (inkl. Mindestlöhne) fordern, um so die Binnennachfrage anzukurbeln.26 Die folgenden Ökonomen lassen sich in einer keynesianischen Denkrichtung verorten: Alvin Hansen (1887–1975), Piero Sraffa (1898–1983), → Gunnar Myrdal (1898–1987), Michael Kalecki (1899–1970), → Joan V.  Robinson (1903–1983), Richard F.  Kahn

 P. A. Samuelson/W. D. Nordhaus: Volkswirtschaftslehre. 4. Aufl., München 2010, S. 559.  Stichwort „Konjunktur und Krisen“, in: Nicklisch (Hrsg.): HWB, Bd. 3, Stuttgart 1927, Sp. 702. 23  H.-J. Bontrup (2004), … a. a. O., S. 9. 24  Ebenda. 25  Der Begriff „neoklassische Synthese“ geht auf P. A. Samuelson zurück. 26  Vgl. H. Rogall: Volkswirtschaftslehre für Sozialwissenschaftler, 2. Aufl. Wiesbaden 2013, S. 94. 21 22

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(1905–1989), Nicholas Kaldor (1908–1986), Hyman Minsky (1919–1996), → Joseph Stiglitz (geb. 1943), → Paul Krugman (geb. 1957), N. Gregory Mankiw (geb. 1958). In den 1960er- und 1970er-Jahren wurde in vielen westeuropäischen Industrienationen eine keynesianisch geprägte Wirtschaftspolitik betrieben, deren Schwerpunkt die sogenannte „Globalsteuerung“ ist. Darunter versteht man staatliche Maßnahmen zur Beeinflussung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage sowie eine Investitionssteuerung. Durch eine antizyklische Fiskalpolitik soll der Staat den Konjunkturverlauf dergestalt beeinflussen, dass er in Krisen die Nachfrage ankurbelt (z. B. durch öffentliche Investitionen) und sich hierfür auch verschulden kann. In einer Aufschwung- bzw. Boomphase soll der Staat dann wieder für einen Ausgleich sogen. Dieses „deficit-spending“ empfahl Keynes beispielsweise Franklin D. Roosevelt, der von 1933 bis 1945 Präsident der USA war: Er solle die Staatsausgaben erhöhen, um die Konjunktur anzukurbeln. In einem offenen Brief an Roosevelt, der am 31.12.1933  in der New York Times abgedruckt wurde, schrieb Keynes: „… Ziel einer wirtschaftlichen Erholung ist es, die nationale Produktion zu erhöhen und mehr Menschen in Arbeit zu bringen. Im Wirtschaftssystem der modernen Welt wird die Produktion in erster Linie für den Verkauf hergestellt; und die produzierte Menge hängt vom Umfang der Kaufkraft im Vergleich zum Herstellungspreis der Produkte ab, deren Absatz man am Markt erwartet. Grob gesagt kann es daher zu keiner Ausweitung der Produktion kommen, ohne dass der eine oder andere von drei Faktoren zum Einsatz kommt. Die einzelnen Menschen müssen veranlasst werden, mehr von ihrem bestehenden Einkommen auszugeben, oder die Unternehmen müssen, entweder durch erhöhtes Vertrauen in die Geschäftsaussichten oder durch einen niedrigeren Zins, dazu gebracht werden, zusätzliche laufende Einkommen in den Händen ihrer Beschäftigten zu schaffen, was geschieht, wenn entweder das Umlauf- oder das Anlagevermögen des Landes erhöht wird; oder die Staatsgewalt muss zur Hilfe gerufen werden, um zusätzliche laufende Einkommen zu schaffen, indem sie geliehenes oder gedrucktes Geld ausgibt. In schlechten Zeiten ist nicht zu erwarten, dass der erste Faktor in ausreichendem Umfang zum Tragen kommt. Der zweite Faktor wird erst als zweite Welle des Angriffs auf die Wirtschaftskrise hinzukommen, nachdem durch die Ausgaben der öffentlichen Hand eine Trendwende eingetreten ist. Wir können daher nur vom dritten Faktor den anfänglichen starken Impuls erwarten. …“27

Der Nobelpreisträger → J. Stiglitz bringt die damaligen Reaktionen so auf den Punkt: „Einige nannten es Sozialismus, für andere führte dieser Weg geradewegs in den Sozialismus.

 J. M. Keynes: Offener Brief an Präsident Roosevelt, in: New York Times vom 31.12.1933. Übersetzt von K. Rietzler im Auftrag der Keynes Gesellschaft. Der vollständige Brief in deutscher Übersetzung: http://www.keynes-gesellschaft.de/Hauptkategorien/GeneralTheory/BriefKeynes31.12.33.php.

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Tatsächlich wollte Keynes den Kapitalismus vor sich selbst retten; er wusste, dass eine Marktwirtschaft nur dann überleben kann, wenn sie Arbeitsplätze schafft.“28 In Deutschland fand die keynesianische Lehre Eingang in die Wirtschaftspolitik in Form des „Stabilitätsgesetzes“. Das „Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft“ (StabG) vom 08. Juni 1967, wie es amtlich heißt, bildet die rechtliche Grundlage für eine Fiskalpolitik und Globalsteuerung, die sich an der keynesianischen Lehre orientierten. In Paragraf 1 StabG heißt es: „Bund und Länder haben bei ihren wirtschafts- und finanzpolitischen Maßnahmen die Erfordernisse des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts zu beachten. Die Maßnahmen sind so zu treffen, daß sie im Rahmen der marktwirtschaftlichen Ordnung gleichzeitig zur Stabilität des Preisniveaus, zu einem hohen Beschäftigungsstand und außenwirtschaftlichem Gleichgewicht bei stetigem und angemessenem Wirtschaftswachstum beitragen.“

Das in dem Gesetz formulierte wirtschaftspolitische Zielsystem (Preisniveaustabilität, hoher Beschäftigungsstand, außenwirtschaftliches Gleichgewicht sowie angemessenes und stetiges Wirtschaftswachstum) wird auch als „magische Viereck“ bezeichnet (siehe Abb. 2.6).

Das „Magische Viereck“ angemessenes und stetiges Wirtschaftswachstum

Preisniveaustabilität

„Magische Viereck“

hoher Beschäftigungsstand

außenwirtschaftliches Gleichgewicht

Das Erreichen eines Zieles wirkt sich positiv oder negativ auf das Erreichen eines anderen Zieles aus. Man spricht dann von Zielharmonie bzw. Zielkonflikt. Um alle Ziele gleichzeitig erreichen zu können, müsste man magische Kräfte besitzen. Daher wird das Zielpaket, wie es im Stabilitätsgesetz formuliert ist, auch als „Magisches Viereck“ bezeichnet.

Abb. 2.6  Das Magische Viereck. Das Erreichen eines Zieles wirkt sich positiv oder negativ auf das Erreichen eines anderen Zieles aus. Man spricht dann von Zielharmonie bzw. Zielkonflikt. Um alle Ziele gleichzeitig erreichen zu können, müsste man magische Kräfte besitzen. Daher wird das Zielpaket, wie es im Stabilitätsgesetz formuliert ist, auch als „Magisches Viereck“ bezeichnet

 J. Stiglitz: Im freien Fall. Vom Versagen der Märkte zur Neuordnung der Weltwirtschaft. München 2010, S. 304. 28

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2  Geschichte der Ökonomik

Etwa ab Mitte der 1970er-Jahre verlor der Keynesinaismus an Bedeutung – u. a. weil er für das gleichzeitige Auftreten von Inflation und Beschäftigungsrückgang keine Erklärung liefern konnte  – und es kam zu einem Paradigmenwechsel: Der Monetarismus und die Neue Klassische Makroökonomik (NKM) setzten sich durch.

Monetarismus Seit den späten 1960er-Jahren kam es zu einer „monetaristischen Konterrevolution“ der „Chicagoer-Schule“, deren bekanntester Vertreter → M.  Friedman ist. Der Monetarismus29 ist eine wirtschaftstheoretische und wirtschaftspolitische Konzeption (=„Angebotstheorie“), die an klassischen bzw. neoklassischen Vorstellungen anknüpft, im Gegensatz zum Keynesianismus aber den Wirtschaftsverlauf längerfristig betrachtet und von dessen Stabilität ausgeht. Die Grundpositionen des Monetarismus lassen sich wie folgt umreißen: Die Marktwirtschaft ist grundsätzlich stabil – und nicht instabil, wie der Keynesianismus behauptet. Schwankungen im Wirtschaftsverlauf sind auf exogene Störungen zurückzuführen, mit denen die Wirtschaft alleine fertig wird. Daher soll sich der Staat nicht in das Wirtschaftsgeschehen einmischen und sich lediglich auf den Schutz der Bürger und des Eigentums konzentrieren („Nachtwächter-Staat“). Ferner sollen Sozialleistungen des Staates – Friedman bezeichnet diese als „Sozialklimbim“ – abgeschafft werden. Eine bedeutende Rolle im Monetarismus nimmt der Geldbereich einer Volkswirtschaft ein. Denn von der Ausweitung der Geldmenge hänge die Entwicklung des Preisniveaus ganz entscheidend ab. Friedman entwickelte im Rahmen seiner Inflationstheorie die ­klassische Quantitätstheorie weiter zu der sogenannten Neoquantitätstheorie. Die zentrale Aufgabe der Geldpolitik sei es, die Inflation zu bekämpfen. Sie entstehe immer dann, wenn die Geldmenge schneller anwächst als die gesamtwirtschaftliche Güterproduktion. Daher falle der Geldpolitik die Aufgabe zu, für eine Ausbalancierung der Geldseite und der Güterseite zu sorgen. Eine weitere Grundposition des Monetarismus ist die Ablehnung der sogenannten „Phillipskurve“ (siehe Abb. 2.7) und der daraus von vielen keynesianisch geprägten Ökonomen abgeleiteten Ansicht, dass man abwägen könne zwischen Arbeitslosigkeit und Inflation. Populäres Beispiel hierfür ist die Aussage des damaligen Bundeswirtschaftsministers und späteren Bundeskanzlers Helmut Schmidt: „Mir scheint, daß das deutsche Volk – zugespitzt − 5 % Preisanstieg eher vertragen kann, als 5 % Arbeitslosigkeit.“30 Während Keynes davon ausging, dass sich Vollbeschäftigung ohne staatliche Eingriffe nicht erreichen lasse, vertreten hingegen die Monetaristen die Ansicht, dass es in jeder Wirtschaft einen „natürlichen Grad der Arbeitslosigkeit“ gebe. Damit ist eine strukturelle bzw. freiwillige Arbeitslosigkeit gemeint, die sich auch durch wirtschaftspolitische Maßnahmen nicht nachhaltig überwinden lässt.  Von lat. moneta = Münze.  In SZ vom 28.07.1972.

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Inflationsrate (in %) 10 Phillips-Kurve

5

1 1

5

10

Arbeitslosenrate (in %)

Abb. 2.7  Die Phillips-Kurve. (Quelle: Eigene Darstellung)

Neue Klassische Makroökonomik (NKM) In den 1980er-Jahren verlor der Monetarismus an Bedeutung, da die Volkswirtschaften kein inflationsfreies Wachstum bei Vollbeschäftigung erreichen konnten. Auch wurde er durch andere Modelle in den Schatten gestellt. So entstand etwa seit Mitte der 1970er-­ Jahre die Neue Klassische Makroökonomik (NKM), zu deren Hauptvertretern → R. E. Lucas, Th. Sargent und N. Wallace gehören. Dabei handelt es sich um „eine konservative Spielart des Monetarismus, die von einem marktradikalen wirtschaftspolitischen Ansatz ausgeht“ und seit den 1980er-Jahren „durch die in den USA (‚Reagonomics’) und in Großbritannien (‚Thatcherismus’) praktizierte staatliche Angebotspolitik“ politischen Auftrieb erhielt.31 In diesem Ansatz werden staatliche Eingriffe in das private Wirtschaftsgeschehen nicht nur radikal abgelehnt; es wird eine Deregulierung bzw. eine „Verschlankung“ des Staates gefordert. „Reaganomics bedeutete zuerst eine deutliche Senkung der Einkommenssteuern. Ziel der Reform war es, ein zuvor gestaffeltes System mit einem hohen Spitzensteuersatz zu einem Flat-Tax-System mit einem einheitlichen Steuersatz von ca. 25 % umzubauen. Entsprechend dem Konzept der Laffer-Kurve rechnete die Regierung mittelfristig damit, dass die Wachstumsdynamik zumindest zu keinen Steuerausfällen führen würde. Die Steuerreform (siehe Abb. 2.8) war eingebettet in ein allgemeines Wirtschaftsförderungsprogramm.“32 Die NKM geht von verschiedenen Annahmen aus und zielt darauf ab, eine gleichgewichtstheoretische Erklärung von Konjunkturschwankungen zu liefern. Hervorzuheben  Vgl. H.-J. Bontrup (2004), a. a. O., S. 11. „Thatcherismus“ ist eine schlagwortartige Bezeichnung für eine am Monetarismus angelehnte angebotsorientierte Wirtschaftspolitik, die in den 1980er-Jahren von der britischen Premierministerin Margaret Thatcher umgesetzt wurde. Als „Reagonomics“ wird die US-amerikanische Variante dieser Wirtschaftspolitik bezeichnet, die auf den US-Präsidenten Ronald Reagan zurückgeht. 32  R. Clement/W. Terlau/M. Kiy: Angewandte Makroökonomie, 5. Aufl., München 2013, S. 133. 31

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2  Geschichte der Ökonomik

Abb. 2.8  US-Präsident Reagan erläutert seine Steuerreform in einer TV-Ansprache (1981). (Quelle: Wikimedia)

sind dabei insbesondere die Prämissen, wonach sich Märkte aufgrund vollständiger Preisflexibilität immer im Gleichgewicht befinden (Markträumungsansatz). Ferner gebe es eine „natürliche Arbeitslosigkeit“, die nicht durch Marktversagen entstehe, sondern eben freiwilliger Natur sei. Auch spielt in der NKM die „Theorie der rationalen Erwartungen“ eine große Rolle, die auf → R. E. Lucas zurückgeht. Danach beziehen die Menschen rationale Erwartungen, die z.  B. daraus resultieren, dass sie ökonomische Funktionsweisen oder Aktivitäten des Staates (z.  B. eine geplante Steuererhöhung) kennen, in ihre Entscheidungsfindung ein.

Exkurs: Der Wirtschaftsnobelpreis: Träger und Kritik Die Entwicklungen auf dem Gebiet der Wirtschaftswissenschaft der nahen Vergangenheit sowie der Gegenwart sollen zumindest in Form einer tabellarischen Darstellung der Träger des sogenannten Wirtschaftsnobelpreises kurz angerissen werden. Diese höchste Auszeichnung auf dem Gebiet der Wirtschaftswissenschaften wurde das erste Mal im Jahre 1969 verliehen. Es handelt sich bei dem Preis um keinen „echten“ Nobelpreis, sondern um eine Auszeichnung, die von der Schwedischen Reichsbank gestiftet wurde; jedoch erfolgt die Verleihung nach ähnlichen Kriterien wie beim Nobelpreis (siehe Abb. 2.9 und 2.10). Die Statuten sehen vor, dass der Preis jährlich an eine Person gehen soll,

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Abb. 2.9  Alfred Nobel, schwedischer Erfinder und Industrieller, schuf den bekanntesten Wissenschaftspreis der Welt. In seinem Testament von 1895 legte er die Gründung einer Stiftung fest, die Menschen in den Bereichen Physik, Chemie, Medizin, Literatur und Friedensbemühungen würdigen soll. Fünf Jahre nach seinem Tod, im Jahr 1901, wurden die Nobelpreise das erste Mal überreicht. In Gedenken an Nobel stiftete die schwedische Zentralbank 1968 einen weiteren Preis in der Kategorie Wirtschaftswissenschaften. Die Nobelpreise werden jedes Jahr an Nobels Todestag, dem 10. Dezember, feierlich in Stockholm übergeben. (Quelle: Globus Infografik, 16.10.2014 (© dpa-­infografik/ picture-alliance))

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Abb. 2.10  Preisverleihung des Nobelpreises 2010 im Stockholmer Konzerthaus. (Quelle: Wikimedia)

die ein wirtschaftswissenschaftliches Werk verfasst hat, das von so großer Bedeutung ist, wie es Alfred Nobel in seinem Testament vom 27. November 1895 dargelegt hat: „The Prize shall be awarded annually to a person who has written a work on economic sciences of the eminent significance expressed in the will of Alfred Nobel drawn up on November 27, 1895.“ Die Träger des Wirtschaftsnobelpreises Jahr Preisträger Preisbegründung Für die Entwicklung und Anwendung dynamischer Modelle zur 1969 Ragnar Frisch, Jan Tinbergen Analyse wirtschaftlicher Prozesse 1970 Paul A. Samuelson Für die Weiterentwicklung der statischen und dynamischen Wirtschaftstheorie 1971 Simon Kuznets Für empirisch fundierte Erkenntnisse über wirtschaftliches Wachstum 1972 John R. Hicks, Für die Pionierarbeiten zur Gleichgewichtstheorie und zur Kenneth J. Arrow Wohlfahrtsökonomik 1973 Wassily Leontief Für die Entwicklung und Anwendung der Input-Output-Analyse 1974 Gunnar Myrdal, Für die Arbeiten zur Geld- und Konjunkturtheorie sowie die Friedrich A. von Analyse der Interdependenz ökonomischer, gesellschaftlicher und Hayek institutioneller Erscheinungen

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Die Träger des Wirtschaftsnobelpreises Jahr Preisträger Preisbegründung 1975 Leonid Kantorovich, Für die Beiträge zur Theorie der optimalen Ressourcenallokation Tjalling C. Koopmans 1976 Milton Friedman Für die Erkenntnisse in der Konsumtheorie, der Geldgeschichte und der Geldtheorie sowie für seine Darstellung der Schwierigkeiten im Bereich der Stabilisierungspolitik 1977 Bertil Ohlin, Für den bahnbrechenden Beitrag zur Theorie des internationalen James Meade Handels und Kapitalverkehrs 1978 Herbert A. Simon Für die Erforschung der Entscheidungsprozesse in Organisationen 1979 Theodore W. Schultz, Für die Forschung zur Entwicklungstheorie Arthur Lewis 1980 Lawrence R. Klein Für die Entwicklung von ökonometrischen Prognosemodellen und deren Anwendung 1981 James Tobin Für die Analyse der Finanzmärkte 1982 George J. Stigler Für die Arbeiten zur Industriestruktur, über Märkte und öffentliche Regulierung 1983 Gérard Debreu Für neue analytische Verfahren in der ökonomische Theorie und für die Neuformulierung der Theorie des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts 1984 Richard Stone Für den Beitrag zur volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung 1985 Franco Modigliani Für die Ausarbeitung der Lebenszyklen des Haushaltssparens und die Formulierung der Theoreme der Bewertung von Unternehmen und Kapitalkosten 1986 James M. Buchanan Für die Entwicklung der kontrakttheoretischen und konstitutionellen Grundlagen der ökonomischen Entscheidung 1987 Robert M. Solow Für die Beiträge zur Wachstumstheorie 1988 Maurice Allais Für die Arbeiten zur Theorie des Marktes und der effizienten Ressourcenverwendung 1989 Trygve M. Haavelmo Für die Arbeiten in Ökonometrie und Finanzwissenschaft 1990 Harry M. Markowitz, Für die Arbeiten zur Finanzierungs- und Kapitalmarkttheorie William F. Sharpe, Merion H. Miller 1991 Ronald H. Coase Für die Klärung der Rolle der Transaktionskosten und der wirtschaftlichen Rechte für die Institutionen und die Funktionsweise des wirtschaftlichen Systems 1992 Gary S. Becker Für die Arbeiten in der Humankapitaltheorie, der Familienökonomie, der Ökonomie der Kriminalität und der Diskriminierung 1993 Robert Fogel, Für die Erneuerung der wirtschaftsgeschichtlichen Forschung Douglas C. North 1994 John C. Harsanyi, Für die Analyse des Gleichgewichts in nicht-kooperativen Spielen John F. Nash, Reinhard Selten 1995 Robert E. Lucas Für die Entwicklung und Anwendung der Hypothese rationaler Erwartungen

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2  Geschichte der Ökonomik

Die Träger des Wirtschaftsnobelpreises Jahr Preisträger Preisbegründung 1996 William Vickrey, Für die theoretische Analyse der Anreize bei asymmetrischer James A. Mirrlees Informationsverteilung 1997 Robert C. Merton, Für die Arbeiten über die Bewertung von Finanzderivaten Myron Scholes 1998 Amartya Sen Für die Beiträge zur Social Choice Theory und zur Entwicklungsökonomie 1999 Robert A. Mundell Für seine Analyse optimaler Währungsgebiete 2000 James J. Heckman, Für die Arbeiten zur Mikroökonometrie Daniel L. McFadden 2001 George A. Akerlof, Für die Analysen von Märkten mit asymmetrischen A. Michael Spence, Informationen Joseph A. Stiglitz 2002 Daniel Kahneman, Für die Untersuchungen über das Verhalten von Menschen in Vernon L. Smith wirtschaftlichen Entscheidungssituationen 2003 Robert F. Engle, Für die Verfahren, mit denen sich die Entwicklung von Clive W. J. Granger Aktienkursen und Preisen besser abschätzen lassen 2004 Finn Kydland, Für die Erkenntnisse über die Stetigkeit von Wirtschaftspolitik Edward Prescott und die treibenden Kräfte hinter den weltweiten Konjunkturzyklen 2005 Thomas Schelling, Für die Arbeiten zur Spieltheorie Robert Aumann 2006 Edmund S. Phelps Für die Analyse intertemporaler Zielkonflikte in der makroökonomischen Politik 2007 Leonid Hurwicz, Für die Entwicklung der „Mechanism Design“-Theorie Eric S. Maskin, Roger B. Myerson 2008 Paul Krugman Für die Beiträge zur Außenhandelstheorie und ökonomischen Geografie 2009 Elinor Ostrom, Für die Arbeiten zur „Economic Governance“, zur Allmende Oliver E. Williamson (Ostrom) und zu den Grenzen der Firma (Williamson) Für die Arbeiten zur Suchtheorie des Arbeitsmarkts 2010 Peter Diamond, Dale Mortensen, Christopher Pissarides 2011 Christopher A. Sims, Für die empirische Forschung zu Ursache und Wirkung in der Thomas Sargent Makroökonomie 2012 Alvin Roth, Für die Theorie stabiler Allokationen und praktisches Lloyd Shapley Marktdesign 2013 Eugene Fama, Für die empirischen Analysen von Kapitalmarktpreisen Lars Peter Hansen, Robert Shiller 2014 Jean Tirole Für seine Theorien, die zeigen, wie Märkte mit wenigen machtvollen Unternehmen verstanden und reguliert werden könnten 2015 Angus Deaton Für seine Analyse des Konsums, der Armut und der Wohlfahrt

Volkswirtschaftslehre

29

Die Träger des Wirtschaftsnobelpreises Jahr Preisträger Preisbegründung 2016 Oliver Hart, Bengt Für ihre Beiträge zur Vertragstheorie Holmström 2017 Richard H. Thaler Für seinen Beitrag zur Verhaltensökonomie. Er hat gezeigt, dass begrenzte Rationalität, Wahrnehmungen von Fairness und ein Mangel an Selbstbeherrschung systematisch Entscheidungen und Marktergebnisse beeinflussen. 2018 Paul Romer, William Für ihre Beiträge zum nachhaltigen Wirtschaftswachstum im D. Nordhaus Zusammenhang mit Klimawandel und technischem Fortschritt: Nordhaus hat die Forschung zum Klimawandel, Romer die zum technologischen Wandel in die makroökonomische Lehre integriert. Für ihre Beiträge zur Bekämpfung der globalen Armut. Der 2019 Abhijit Banerjee, Esther Duflo, experimentelle Ansatz der drei Forscher hat dazu beigetragen, die Michael Kremer Wirtschaftspolitik in der Entwicklungszusammenarbeit mit empirischen Erkenntnissen zu untermauern. Kremer hat vor allem zu Bildung und Gesundheit in Entwicklungsländern geforscht, z. B. an Wegen, die Lernergebnisse von Schülern zu verbessern. Duflo und ihr Ehemann Banerjee haben die Wirkung von Entwicklungsgeldern erforscht. Auf der offiziellen Internetseite Nobelprize.org finden sich Informationen rund um die Nobelpreisträger, wie z. B. Autobiographien, Reden, Interviews, Videos zur Preisverleihung etc.: www.nobelprize.org/nobel_prizes/economic-sciences/

*

Starke Kritik an der Verleihungspraxis des Wirtschaftsnobelpreises übte die indische Ökonomin Jayati Gosh, die mit dieser eine „unrühmliche Geschichte“ verbunden sieht: „In den ersten Jahren der Verleihung wurden Ökonomen geehrt, deren Arbeit schon in weiten Kreisen anerkannt war. Aber selbst im ersten Jahrzehnt war die Liste derer, die nicht ausgezeichnet wurden, wahrscheinlich beeindruckender als die der Empfänger – Größen wie Michal Kalecki, Joan Robinson, Richard Kahn, Nicholas Kaldor und Piero Sraffa wurden zugunsten weniger bekannter Kollegen übergangen und gingen leer aus. In der darauf folgenden Periode ging die Auszeichnung gelegentlich an Ökonomen mit relativ geringen, manchmal auch mit absolut zweifelhaften Verdiensten, die selbst Kollegen erst einmal nachschlagen mussten, nachdem die Ehrung bekannt gegeben worden war. Die politische Wirkung des Preises auf die Wirtschaftswissenschaften selbst ist unbestreitbar. Die Vorherrschaft der ­neoklassischen Schule war erdrückend. Sie führte so weit, dass alternative Denkrichtungen, die auch nur einen etwas breiteren gesellschaftlichen Ansatz verfolgten, ausgeschlossen wurden. Dies wiederum führte zwangsläufig dazu, dass konservativere Forschungs- und Lehransätze stärker gefördert wurden. Wissenschaftler, die monetaristische und marktwirtschaftliche Ansätze vertraten, wurden überdurchschnittlich oft und oft zu einem wirtschaftlich schwierigen und daher entscheidenden Zeitpunkt a­ usgezeichnet.“33 33  Jayati Gosh: Stockholm-Chicago-Express. Zuerst in: The Guardian, in dt. Übersetzung von Holger Hutt in Der Freitag, 11.10.2009.

30

2  Geschichte der Ökonomik

Betriebswirtschaftslehre Die Entstehung der „eigentlichen“ Betriebswirtschaftslehre in Deutschland lässt sich auf das Jahr 1898, das Gründungsjahr der ersten Handelshochschule, datieren, der dann zu Beginn des 20. Jahrhunderts rasch weitere folgen. Zuvor hat sich ab dem 17. Jahrhundert eine Handelskunde herausgebildet. Die in dieser Zeit erschienenen Werke haben jedoch, wie Wöhe feststellt, „mit der heutigen Betriebswirtschaftslehre nicht viel Gemeinsames“.34 Daher wird hier auch nicht der Begrifflichkeit von Seyffert gefolgt, der in eine „alte“ und eine „neue“ Betriebswirtschaftslehre einteilt. Wir verwenden hier die Begriffe„Handelskunde“ bzw. „Handelswissenschaft“ für die Zeit vor 1898 und „Betriebswirtschaftslehre“ für die darauf folgende Zeit (siehe Abb. 2.11).

Handelskunde (1675 bis zum Ende des 19. Jh.) Abgesehen von einigen handelskundlichen Aufzeichnungen aus dem Mittelalter beginnt die Phase einer systematischen Handlungswissenschaft zur Zeit des Merkantilismus. Man pflegt das Jahr 1675 anzusetzen, in dem → Jaques Savary (1622–1690) sein bedeutsames Werk Le Parfait Nécociant (dt. Der vollkommene Kauff- und Handelsmann, 1676) veröffentlichte. Es markiert einen Wendepunkt in der handelskundlichen Literatur, denn es unterscheidet sich von allen vorherigen Werken durch eine „straffere Systematik und dem

Handelskunde / Handelswissenschaft

Systematisierungsphase

Betriebswirtschaftslehre

Niedergangsphase

Aufbauphase

Konsolidierungsphase

Expansionsphase

„NS-Ideologische“ BWL

DDR: Sozialist. BWL

Richtungs- u. Methodenstreit 1700

1800

1945

1933

1900

Pluralismus

1970

1675/76

1752-56

ab 1898

1912

1924

1926-28

1951

1969

1970

J. Savary: „Der vollkommene Kauffund Handelsmann“

C. G. Ludovici: „Vollständiges Kaufmannslexicon“

Errichtung von Handelshochschulen

Erste Allgemeine BWL von H. Nicklisch

F. Schmidt: „Zeitschrift für Betriebswirtschaft“

H. Nicklisch: „Handwörterbuch der BWL“

Produktivitätsorientierter Ansatz von E. Gutenberg

Entscheidungsorientierter Ansatz von E. Heinen

Systemorientierter Ansatz von H. Ulrich

Seit den 1980er Pluralität von Ansätzen: - verhaltensorientierter - umweltorientierter - institutionenökonomischer

Abb. 2.11  Die Entwicklung der Betriebswirtschaftslehre. (Quelle: Eigene Darstellung)

 G. Wöhe (1978), S. 48.

34

2000

Betriebswirtschaftslehre

31

Versuch, zu allgemeinen Regeln und Richtlinien für den Kaufmann zu gelangen.“35 Dieses Buch übte einen großen Einfluss auf die nachfolgende Literatur aus und beeinflusste auch deutsche Autoren, wie beispielsweise → Paul Jakob Marperger (1656–1730) oder auch Gottfried Christian Bohn (siehe Abb. 2.12). Dennoch tragen alle diese Werke „nicht den Charakter einer Einzelwissenschaft, sondern einer ‚Kunde‘“, in der das kaufmännische Wissen aus verschiedenen Disziplinen zusammengestellt ist.36 Die handelskundlichen Werke des 18. Jahrhunderts waren praxisorientierte Handbücher, die so ziemlich alles enthielten, was ein guter Kaufmann wissen musste. Die Veröffentlichung von → Carl Günther Ludovicis „Vollständigem KaufmannsAbb. 2.12  Titelstich in J. C. Bohns: Wohlerfahrner Kaufmann (1789). In seinem „Wohlerfahrnen Kaufmann“ stellt Bohns zunächst in dem Kapitel „Die Handlung“ die wichtigsten Handelsstädte vor (z. B. Hamburg, Frankfurt a. M., Berlin). Es folgt ein Kapitel „Vom kaufmännischen Briefwechsel“ und ein Kapitel „Vom Buchhaltern“. (Quelle: J. C. Bohns, 1789)

 Ebenda, S. 49.  Vgl. ebenda.

35 36

32

2  Geschichte der Ökonomik

lexicon“ (1752–1756) trug dazu bei, dass die Handlungswissenschaft, die bis dahin eng mit den Kameralwissenschaften verbunden war, weiter zu einer selbständigen Disziplin ausgebaut wurde. Als weitere wichtige Wegbereiter einer praxisorientierten Handlungswissenschaft können J. K. May, J. H. Jung und → J. M. Leuchs genannt werden. Noch im 18. Jahrhundert begann die Industrialisierung ihren rasanten Aufstieg in England. Als diese industrielle Revolution im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts auch auf Deutschland übergriff, setzte der Niedergang der bis dahin relativ weit entwickelten Handelswissenschaft ein, da nun technische Probleme bzw. Fragen, die die industriebetriebliche Fertigung betrafen, in den Vordergrund rückten. Die Handelswissenschaft hatte auf diese neuen (ökonomisch-produktionstechnischen) Probleme, die eng verflochten waren mit der Industrialisierung, jedoch keine Antworten zu bieten. Und da „die Ausbildung des Ingenieurs zunächst wichtiger erschien als die des Kaufmanns“,37 verpasste die Handelswissenschaft schlichtweg den Anschluss an die neue Entwicklung. Ein weiterer Grund für den Verfall der Handelswissenschaft liegt nach Seyffert „ohne Zweifel im ablehnenden Verhalten der Kaufmannschaft der Handlungswissenschaft gegenüber. Der Kreis praktischer Kaufleute, die Interesse und Verständnis für den Wert wissenschaftlicher Arbeit auf ihrem eigenen Gebiete hatten, war ein außerordentlich kleiner. So blieben die Werke der Handlungswissenschaftler, soweit sie nicht sofort ausnutzbare Rezepte gaben, ohne größeren Einfluß.“38

Betriebswirtschaftslehre (1898 bis heute) Als die Gründungs- und Aufbauphase der BWL kann die Zeitspanne von 21 Jahren zwischen 1898 und 1919 angesehen werden. In dieser Zeit wurden die ersten Handelshochschulen im deutschsprachigen Raum gegründet (siehe Tabelle sowie Abb.  2.13 und  2.14). Und im Jahr 1912 veröffentlichte → Heinrich Nicklisch nicht nur die erste, sondern auch eine in sich geschlossene „Allgemeine Betriebswirtschaftslehre“. Die ersten Handelshochschulen Gründungsjahr 1898 1901 1903 1906 1907 1908 1910 1915 1919 *

Handelshochschule Leipzig, Wien Köln, Frankfurt a. M. Aachen Berlin Mannheim St. Gallen*) München Königsberg Nürnberg

bereits 1899 Höhere Schule für Handel, Verkehr und Verwaltung

 Ebenda, S. 51.  R.  Seyffert: Betriebswirtschaftslehre, Geschichte. In: Handwörterbuch der Betriebswirtschaftslehre, hrsg. von H. Nicklisch, Bd. 1, Stuttgart 1938, Sp. 932–956 (hier: 946). 37 38

Betriebswirtschaftslehre

33

Abb. 2.13  Handelshochschule Köln (Postkarte um 1905). (Quelle: Wikimedia)

Nach außen hin schaffte es die junge Betriebswirtschaftslehre bzw. Privatwirtschaftslehre, sich von der Volkswirtschaftslehre loszulösen und sich als selbständige Wissenschaftsdisziplin zu etablieren. Diese Phase der Konsolidierung darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass nach innen hin widerstreitende Meinungen und Ansichten herrschten. So kam es zu einem Richtungs- und Methodenstreit, in dessen Verlauf die unterschiedlichsten Auffassungen aufeinanderprallten. Die junge Wissenschaftsdisziplin wollte, ja musste sogar zu sich selbst finden. In diesem Prozess wurden Fragen zur eigenen Existenz und Identität aufgeworfen: Ist die BWL als „Kunstlehre“ (E. Schmalenbach), als „reine Wissenschaft“ (M.  Weyermann, H.  Schönitz) oder als eine „angewandte Wissenschaft“ (W. Rieger) zu konzipieren? Soll sie empirisch-realistisch, normativ-ethisch oder rein theoretisch ausgerichtet sein? Und schließlich erhob sich die Frage: Soll das Fach den Namen „Privatwirtschaftslehre“ tragen, wie es → W.  Rieger forderte, oder die von → E. Schmalenbach favorisierte Bezeichnung „Betriebswirtschaftslehre“? Schmalenbach gewann diesen Streit und gilt daher auch als der Namensgeber der BWL. Dass sich die BWL zur Zeit der Weimarer Republik als Wissenschaftsdisziplin etabliert hat, wird auch deutlich an dem Erscheinen bedeutender Fachliteratur in den 1920er-­ Jahren: Im Jahre 1924 begann → F. Schmidt die Zeitschrift für Betriebswirtschaft (ZfB) herauszugeben und kurz darauf erschien die erste Auflage des Handwörterbuch der Betriebswirtschaftslehre (HWB) von → H. Nicklisch (siehe Abb. 2.15). Als weiteres wichtiges Nachschlagewerk ist das – ebenfalls fünfbändige – Handwörterbuch des Kaufmanns.

34

2  Geschichte der Ökonomik

Abb. 2.14  Handelshochschule Leipzig (Postkarte um 1910). (Quelle: Wikimedia)

Lexikon für Handel und Industrie zu nennen, das zwischen 1925 und 1927 von Karl Bott herausgegeben wurde. Die Entwicklung der BWL wurde durch die Machtübernahme der Nationalsozialisten im Jahr 1933 abrupt unterbrochen. Die nationalsozialistische Ideologie (1933–1945) wirkte sich auf die deutsche Wissenschaft in personeller sowie inhaltlicher Hinsicht verheerend aus: Professoren wurden entlassen oder emigrierten; und diejenigen, die blieben, wurden in ihrer ­wissenschaftlichen Arbeit eingeschränkt bzw. politisch instrumentalisiert. Andere wiederum wendeten sich Forschungsgebieten der BWL zu, die unter ideologischen bzw. politischen Gesichtspunkten „unproblematisch“ waren, wie z. B. dem Rechnungswesen. Mit Ausbruch des Zweiten Weltkrieges verschärfte sich die Situation nochmals, da viele Hochschullehrer und Studenten der BWL zum Wehrdienst eingezogen wurden. Der noch verbliebene Rest konnte „den Lehrbetrieb gerade noch auf dem niedrigsten Stand“ aufrechterhalten. Auch waren die deutschen Universitäten praktisch von der Entwicklung der BWL im Ausland, insbesondere der angelsächsischen, abgeschnitten, sodass die deutsche BWL sich schließlich im Jahre 1944 „auf einem geringen Niveau“ befand (vgl. Bellinger 1988, S. 24 f.)

Betriebswirtschaftslehre

35

Abb. 2.15  Titelseite des ersten Bandes des Handwörterbuch der Betriebswirtschaftslehre (1926)

36

2  Geschichte der Ökonomik

Da die Unternehmen nach dem „Führerprinzip“ organisiert (siehe Abb. 2.16) und die Unternehmensziele an der NS-Ideologie bzw. an der nationalsozialistischen Wirtschaftspolitik (Planwirtschaft) ausgerichtet wurden, hatte dies auch inhaltliche Auswirkungen auf die BWL: Sie entwickelte sich nun stark zu einer normativ-wertenden „Wissenschaft“ im Sinne des Nationalsozialismus. Sehr deutlich wird dies in dem von W. Auler – Professor für BWL in Gießen und Marburg und seit 1937 Mitglied der NSDAP  – verfassten Kapitel „Allgemeine kaufmännische Betriebswirtschaft“ im Handbuch des Deutschen Kaufmanns. Dort führt er Folgendes aus: „Ein völliger Umbruch in unserer geistigen Auffassung und Haltung hat sich vollzogen. Es erfolgt eine scharfe Abkehr von der individualistisch-kapitalistischen Lehre und ein uneingeschränktes Bekenntnis zur organisch-ganzheitlichen Idee. An die Stelle der liberalistischen tritt die organische Wirtschaftsauffassung. Im Gegensatz zur individualistisch-liberalistischen Auffassung wird die Wirtschaft nicht mehr als selbständiger Organismus gewertet … sondern sie wird in den Dienst der Nation gestellt. Der Primat des Staates vor der Wirtschaft wird zur grundsätzlichen Forderung. … Die Initiative der Persönlichkeit wird gefördert, die Verantwortung bis auf die untersten Stellen verteilt und auf diese Weise das Führerprinzip auf die Wirtschaft übertragen. Das Leistungsprinzip wird zur Grundforderung erhoben. Das Eigentum bleibt bestehen, wird jedoch der Volksgesamtheit verpflichtet. Die ständische Ordnung wird gefordert. Die interessenpolitischen Gegensätze zwischen Unternehmer, Angestellten und Arbeitern werden behoben. Die so geschaffene Gemeinschaft ist eine Leistungsgemeinschaft, ein

ReichswirtschaftsArbeitsgem. Kammer

Reichsarbeits-u. Wirtschaftsrat

Deutsche Arbeitsfront

d.I.u.Hkn.

Reich Reichsgr. Handwerk

VerkehrsGewerbe Industrie

Deutscher Handw,-u. Gewerbek.Tag

7Hauptgruppen

Handel

Banken

Versicherungen

Energie

Reichsgruppen

[Bezirks-] WirtschaftsKammer

Bezirk der Wirtschaftskammer

Bezirksgruppen derReichsgruppen oder Wirtschaftsgruppen

Bezirksstelle der Reichsinnungsverbände

Bezirk der Industrie-und Handelskammern

Hdw. Kammer

Bezirksuntergruppen bezw. Zweigstellen

Ind.u. Handelsk.

KreisHandwerkerschaft

Die Organisation der deutschen gewerblichen Wirtschaft

Innung

Handwerksbetrieb

Industriebetrieb

Handelsbetrieb Bankbetrieb Versicherungsbetrieb Energiebetrieb Verkehrsbetrieb

Abb. 2.16  Die Organisation der Wirtschaft im Nationalsozialismus. (Quelle: Die rechte Hand des Kaufmanns – Teismanns Kontorhandbuch, 18. Aufl., Osnabrück 1937, S. 533)

Betriebswirtschaftslehre

37

organisches Gefüge, in dem die Arbeitsgruppen zu einem bewußten und gewollten Ganzen vereinigt sind. Das Materielle darf nicht wie beim Liberalismus das alles beherrschende Ziel sein. Das Gewinnstreben muß dem Gemeinwohl untergeordnet werden. In dieser Weise wird die liberalistisch-kapitalistische durch die organische Wirtschaftsauffassung abgelöst. Gegenüber dem reinen Rentabilitätsstreben des Liberalismus ist das Endziel der organischen Wirtschaft die bestmögliche, unter den vorteilhaftesten Bedingungen erfolgende Bedarfsdeckung der Volksgenossen. Der Gedanke der Gemeinwirtschaftlichkeit soll und muß das Denken des Unternehmers erfüllen und sein Handeln bestimmen. Als gemeinwirtschaftlich gilt aber nur das, was auf die Volksgemeinschaft bezogen wertvoll ist. … Im Mittelpunkte der Betrachtungen steht nun für die kaufmännische Betriebswirtschaftslehre die Unternehmung als Glied der organischen Wirtschaft. Die einzelne Unternehmung und der Austausch der Leistungen dieser Wirtschaftsglieder untereinander und mit Dritten bilden das ­Forschungsfeld.“39

Das Ende des Zweiten Weltkrieges und der Zusammenbruch des Nazi-Regimes im Jahre 1945 stellten auch für die Betriebswirtschaftslehre in gewisser Hinsicht eine „Stunde Null“ dar, denn die BWL hatte sich nun völlig neu zu orientieren und an den neuen Rahmenbedingungen auszurichten. So war beispielsweise der Betriebswirtschaftler → Wilhelm Kalveram, ein Vertreter der normativ-ethischen Betriebswirtschaftslehre, nach dem Zweiten Weltkrieg darum bemüht, die Betriebswirtschaftslehre in der Ethik zu fundieren. Die von → Alfred Müller-Armack wissenschaftlich konzipierte und von Ludwig Erhard politisch propagierte „Soziale Marktwirtschaft“ setzte sich als ein „dritter Weg“ gegen Planwirtschaft und freie Marktwirtschaft durch. Wichtige Vorarbeiten hierzu gehen auf die Ordoliberalen um → Walter Eucken zurück. Am 20. Juni 1948 wurde die so genannte „Währungsreform“ in den westlichen Besatzungszonen vollzogen und die alte Reichsmark (RM) wurde ersetzt durch die Deutsche Mark (DM). Der Austausch der Währung erfolgte im Verhältnis 10 RM zu 1 DM bzw. 100  RM zu 6,5  DM; bei Löhnen, Gehältern und Mieten jedoch im Verhältnis 1  RM zu 1 DM. Am 23. Mai 1949 wurde das Grundgesetz für die Bundesrepublik verabschiedet. Während die Einführung der D-Mark faktisch die Marktwirtschaft einleitete, wurde mit dem Grundgesetz ein neuer rechtlicher Ordnungsrahmen geschaffen, der auch die Etablierung der „Sozialen Marktwirtschaft“ ermöglichte. Zahlreiche Wirtschaftsgesetze traten in der Nachkriegszeit in Kraft, wie z. B. das Kündigungsschutzgesetz (1951), das Betriebsverfassungsgesetz (1952) oder das Kartellgesetz (1958). Der Neustart der BWL in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg setzte ein, als die Besatzungsmächte die Aufnahme des Lehrbetriebs genehmigen. Hierzu wurde zunächst auch geprüft, ob und inwiefern Professoren nationalsozialistisch vorbelastet sind. In einem weiteren Schritt erfolgte die Wiedererrichtung der für die Wissenschaft essentiellen Institutionen. So wurden beispielsweise im Jahr 1948 der Verband der Hochschullehrer für Betriebswirtschaft wiederbegründet und führende Zeitschriften

39  W.  Auler: Allgemeine kaufmännische Betriebswirtschaft. In: Handbuch des Deutschen Kaufmanns, hrsg. von J. Greifzu. Hamburg 1935, Seite 335-360 (hier: S. 335–337).

38

2  Geschichte der Ökonomik

wieder herausgegeben.40 In dieser Zeit des Aufbruchs und des Neuanfangs kam es in der (westdeutschen) Betriebswirtschaftslehre zu kontroversen Auseinandersetzungen um die einzuschlagende Richtung: „Hier die Anhänger einer erwerbswirtschaftlich ausgerichteten, an Effizienz und Rentabilität orientierten Betriebswirtschaftslehre, dort die sozialwissenschaftlich geprägten Fachvertreter, die den Betrieb als spannungsreiches soziales Konstrukt begreifen, das vornehmlich unter verhaltenswissenschaftlichen Aspekten zu untersuchen ist.“41 Auf ganz andere Probleme stieß die Betriebswirtschaftslehre in der DDR. Zwischen 1945 und 1949 wurden zunächst in einer „antifaschistisch-demokratischen“ Periode die Volkswirtschaftslehre und die Betriebswirtschaftslehre an den Hochschulen praktisch ­zerstört. In der darauf folgenden Periode (1949 bis 1955) wurde dann eine marxistisch-­ leninistische Wirtschaftswissenschaft eingeführt und institutionalisiert. So wurde z. B. auf Beschluss der DDR-Regierung im Jahre 1950 die Hochschule für Ökonomie (HfÖ) in Berlin gegründet (siehe Abb.  2.17 und  2.18), die bis 1954 den Namen Hochschule für Planökonomie trug.

Abb. 2.17  Blick in einen Hörsaal. Zu den 400 Studenten, die im September 1970 an der Hochschule immatrikuliert wurden, gehören auch diese beiden: Clement Kindombi aus der Volksrepublik Kongo (Mitte) und Kone Mahamoud aus Mali. (Quelle: Wikimedia/Bundesarchiv, Bild 183-­J1103-­0301-003/CC-BY-SA, Fotograf: Peter Heinz Junge, 19.09.1970)  Vgl. K. Brockhoff (2014), S. 188 f.  G. Wöhe (2010), S. 16.

40 41

Betriebswirtschaftslehre

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Abb. 2.18  Rechenzen­ trum in der Hochschule für Ökonomie. (Quelle: Wikimedia Commons)

Walter Kupferschmidt, Professor an der Hochschule für Ökonomie und von 1972 bis 1979 deren Rektor, erinnert sich so an die HfÖ: „Sie war die größte wirtschaftswissenschaftliche Lehr- und Forschungseinrichtung der DDR.  Mehr als 1000 Hochschullehrer, wissenschaftliche Mitarbeiter, Arbeiter und Angestellte haben hier gelehrt, geforscht und gearbeitet. Einige Zehntausend haben hier studiert oder die umfangreichen Weiterbildungsangebote genutzt. Mehr als 2000 wurden promoviert oder habilitiert. Tausenden von Fachleuten der Wirtschaftspraxis wurde die Möglichkeit geboten, über ein Fernstudium den Hochschulabschluss zu erlangen. Eine große Anzahl von Büchern und Lehrbüchern, Monografien und anderen wissenschaftlichen Arbeiten, die fast das gesamte Spektrum der Wirtschaftswissenschaften, der Wirtschaftsgeschichte sowie Teile der Rechtswissenschaften und der Wirtschaftsinformatik umfassten, wurden – auch international – publiziert. Die HfÖ verfügte über ein beträchtliches Forschungspotenzial und über gute Voraussetzungen für die individuelle Betreuung der Studenten und deren Einbeziehung in die Forschung. Die Einheit von Lehre und Forschung war ein grundlegendes Prinzip ihrer Arbeit. Ein Hemmnis war jedoch der hohe Geheimhaltungsgrad vieler grundlegender Daten der Volkswirtschaft, vor allem aber der Monopolanspruch der Parteiorgane auf die Deutungshoheit in Fragen der sozialökonomischen Theorie und ihr restriktiver Einfluss auf die ökonomische Forschung in der DDR.“42

 W. Kupferschmidt: Abwicklung einer „Kaderschmiede“, in: Neues Deutschland vom 24.09.2011.

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40

2  Geschichte der Ökonomik

In einer staatlich gelenkten Planwirtschaft, in der die Unternehmen in Form von „Volkseigenen Betrieben“ (VEB) eingebunden waren, erschien eine Betriebswirtschaftslehre nicht nur als überflüssig, sondern schlichtweg als ideologisch unvereinbar mit dem Wirtschaftssystem. So war das Fach anfangs verpönt und „Ende der vierziger Jahre aus politischen Gründen von den Hochschulen verbannt, nachdem es zuvor durch die jeweiligen Fakultäten noch wiederholte Versuche gegeben hatte, es zu erhalten.“43 Erst relativ spät, etwa seit Ende der 1960er-/Anfang der 1970er-Jahre, entwickelte sich eine sogenannte „sozialistische Betriebswirtschaftslehre“ heraus, in deren Folge auch betriebswirtschaftliche Lehrstühle entstanden. Allerdings war diese Betriebswirtschaftslehre dominiert vom Marxismus-Leninismus. So kann man im Ökonomischen Lexikon aus dem Jahr 1978 nachlesen: „Die sozialistische Betriebswirtschaft beruht auf dem gesellschaftlichen Eigentum an den ­Produktionsmitteln und wird durch Beziehungen kameradschaftlicher Zusammenarbeit und gegenseitiger Hilfe zwischen den Werktätigen und zwischen den Arbeitskollektiven charakterisiert. Die sozialistische Betriebswirtschaft ist bewußte, planmäßige Tätigkeit der Werktätigen zur Verwirklichung der ökonomischen Gesetze des Sozialismus.“44

Aufgrund einer Untersuchung der Lehrinhalte und der Unterteilung der sozialistischen BWL, wie sie den einschlägigen Lehrbüchern zu entnehmen sind, gelangt Bellinger zu dem Befund, „daß die Sozialistische Betriebswirtschaftslehre einen ingenieurwissenschaftlichen Charakter besitzt und praxisorientiert ist. Ihre theoretische Grundlage entspricht jener der systemorientierten Betriebswirtschaftslehre mit sozialwissenschaftlichem Ansatz. Das Denkgebäude ist jedoch kein offenes, sondern ein geschlossenes System. Ihrem Grundcharakter nach ist die Sozialistische Betriebswirtschaftslehre eine Funktionenlehre. Die Produktionsfaktoren sind der Mensch, die Arbeitsmittel, die Arbeitsgegenstände, die Technologie und die Organisation der Arbeit. Im Prinzip entspricht diese Einteilung jener der Produktionstheorie nach Gutenberg, … Nur wird in der Sozialistischen Betriebswirtschaftslehre der Mensch als Ganzes als Produktionsfaktor betrachtet, während in der westlichen Welt die menschliche Arbeitsleistung, abstrahiert von dem Menschen als Ganzes, als Produktionsfaktor betrachtet wird.“45

Der Betriebswirtschaftler → Konrad Mellerowicz, der nach dem Krieg in Ost-Berlin lehrte, wehrte sich von Beginn an gegen eine politisch-ideologische Vereinnahmung der BWL. Legendär ist sein Ausspruch, den er vor Studenten etwa so geäußert haben soll: „Es gibt keine sozialistische oder liberalistische Betriebswirtschaftslehre; es gibt nur eine gute oder eine schlechte!“ Als der politische Druck zu stark wurde, musste er schließlich in den Westen flüchten.

 P. Mantel (2009), S. 555.  Ökonomisches Lexikon, Band A-G, 3. Aufl., Berlin (Ost) 1978, S. 343. 45  Bellinger (1988), S. 162. 43 44

Betriebswirtschaftslehre

41

In der jungen Bundesrepublik entfaltete sich die BWL sehr rasch und es setzte „eine starke institutionelle, stoffliche und forschungsmäßige Ausweitung“46 ein. Neben einer Pluralität an verschiedenen konkurrierenden Ansätzen, die wir heute in der BWL finden, lässt sich diese Entwicklung auch an der Anzahl der Studierenden und der Professoren-­ Stellen47 ablesen: Gab es 1949 erst 24 Professoren für BWL, so stieg deren Anzahl rasch an auf 105 im Jahr 1966, 811 im Jahr 1998 und 911 im Jahr 2008. Noch stärker entwickelte sich die Anzahl der Studenten (1910 = 1700, 1996 = 84.000, 2008 = 103.000), sodass es in den 1970er-Jahren zu einer Überauslastung der Universitäten kam. Besonders bedeutsam für die Expansion der BWL war das Erscheinen von → Erich Gutenbergs dreibändigen Werk Grundlagen der Betriebswirtschaftslehre.48 Der im Jahre 1951 veröffentlichte erste Band übte nicht nur einen nachhaltigen Einfluss auf die Entwicklung der BWL in der jungen Bundesrepublik aus, sondern löste auch den sogenannten „dritten Methodenstreit“49 aus. Bei diesem Streit zwischen E.  Gutenberg, der eine mathematisch-­ deduktive Methode vertrat, und K.  Mellerowicz, der einen empirisch-­ induktiven Ansatz forderte, ging es um die Frage, welches die zweckmäßigste Methode sei, die in der BWL Anwendung finden sollte. Insbesondere ging es dabei um die Frage, „ob eine exakte betriebswirtschaftliche Theorie, die deduktiv vorgeht und oft die Mathematik bei ihren Ableitungen zu Hilfe nimmt … einen Erkenntnisgewinn hat oder eine wirklichkeitsfremde Spekulation darstellt, weil ihre Ergebnisse nicht unmittelbar für die Praxis brauchbar sind.“50 Die methodologischen Diskussionen in der BWL dauerten noch viele Jahre an. Ende der 1960er-Jahre trat neben den bis dahin dominierenden „produktivitätsorientierten Ansatz“ von → E.  Gutenberg der „entscheidungsorientierte Ansatz“ von → Edmund Heinen. Bei diesem geht es um die logische Analyse des menschlichen Verhaltens und das Treffen von Entscheidungen. Heinen führt hierzu in einem Fachaufsatz aus: „Das Bemühen der Betriebswirtschaftslehre ist letztlich darauf gerichtet, Mittel und Wege aufzuzeigen, die zur Verbesserung der Entscheidungen in der Betriebswirtschaft führen. Sie  W. Wittmann (1988), S. 588.  Vgl. hierzu K. Brockhoff (2014), S. 223 sowie W. Burr (2012), S. 125. 48  Bd. 1: Die Produktion (1951); Bd. 2: Der Absatz (1955); Bd. 3: Die Finanzen (1969). 49  Der 1. Methodenstreit wurde 1912 von Moritz Weyermann und Hans Schönitz ausgelöst, da sie die BWL als Bereich der VWL betrachteten. Eugen Schmalenbach vertrat hingegen die Ansicht, dass die BWL eine technologisch orientierte Kunstlehre sei, in deren Mittelpunkt der Wirtschaftlichkeitsaspekt stehe. Der 2. Methodenstreit entzündete sich an der Wirtschaftlichkeitslehre von Eugen Schmalenbach. Wilhelm Rieger löste diesen Streit aus, als er Schmalenbachs Auffassung seine Privatwirtschaftslehre gegenüberstellte, die sich am Rentabilitätsaspekt orientiert. Beim 3. Methodenstreit zwischen Erich Gutenberg und Konrad Mellerowicz ging es insbesondere um die Frage, ob die Verwendung von mathematischen Modellen in der betriebswirtschaftlichen Theorie sinnvoll ist, d. h. einen Erkenntnisgewinn hat oder ob sie nur wirklichkeitsfremde Spekulation ist, weil die Ergebnisse nicht praxistauglich sind. Mellerowicz vertrat die traditionelle unmathematische Methode, Gutenberg setzte sich für mathematische Verfahren ein. 50  G. Wöhe (1978), S. 56. 46 47

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2  Geschichte der Ökonomik

will durch die Formulierung entsprechender Verhaltensnormen den verantwortlichen Disponenten Hilfestellung leisten. Dieses Bestreben gipfelt in der Entwicklung von ­Entscheidungsmodellen zur Ableitung ‚optimaler‘ oder ‚befriedigender‘ Lösungen.“51 Eine ­bedeutende Weiterentwicklung erfuhr die BWL durch den systemtheoretischen bzw. systemtheoretisch-­kybernetischen Ansatz von → Hans Ulrich, der Unternehmen sowohl als „produktive“ als auch „soziale“ Regelsysteme begreift. Somit trug dieser sozialkybernetische Ansatz zu einer weiteren Öffnung des Faches bei und schuf das Fundament für eine moderne Managementlehre. Seit den 1970er-Jahren entstand in der BWL ein Pluralismus von verschiedenen Ansätzen, wie beispielsweise des verhaltensorientierten, des koalitionstheoretischen, des umweltorientierten oder des institutionenökonomischen.52 Im Jahre 1974 wurde vom WSI des DGB sogar eine Arbeitsorientierte Einzelwirtschaftslehre entwickelt. Dabei handelt es sich um ein Alternativprogramm zur klassischen (kapitalorientierten) BWL.  Im Zentrum stehen die Interessen der abhängig ­Beschäftigten, wie z. B. die Sicherung des Arbeitsplatzes, Sicherung des Einkommens, optimale Gestaltung der Arbeit (Humanisierung der Arbeit). Zur Verwirklichung dieser Interessen sei eine Änderung gesamtwirtschaftlicher Strukturen notwendig, z.  B. durch eine Steuerung der Produktion, Versorgung mit privat und öffentlich nutzbaren Gütern sowie eine Erhöhung der Nominallöhne zulasten von Gewinnanteilen.53 Insgesamt lässt sich feststellen, dass sich die BWL in den vergangenen rund 40 Jahren anderen Wissenschaftsdisziplinen (z.  B.  Psychologie, Informatik, Arbeitswissenschaft) immer weiter geöffnet oder auch (wieder) angenähert hat (z.  B. der Mikroökonomie). Andererseits bildeten sich durch eine Binnendifferenzierung der allgemeinen BWL verstärkt spezielle betriebswirtschaftliche Lehren (z. B. Marketing, Controlling, Managementlehre) heraus, was sicherlich auch an einer Intensivierung der angloamerikanischen Einflüsse liegen mag. In der jüngsten Entwicklung des Fachs sieht W. Burr seit etwa 2010 „einen nochmals weiter gefassten Umweltfokus, der nicht nur auf Märkte und marktliche Austauschpartner, sondern auch auf die Gesellschaft abstellt. Corporate Social Responsibility wird zu einem aktuellen Thema der Betriebswirtschaftslehre. Hier wird die Frage aufgeworfen, ob und inwieweit Unternehmen Verantwortung übernehmen können bzw. müssen für die Kommune, die Region, das Land, in dem sie tätig sind.“54

 E.  Heinen (1969): Zum Wissenschaftsprogramm der entscheidungsorientierten Betriebswirtschaftslehre. In: ZfB, 39 Jg., S. 209. 52  Siehe hierzu G. Wöhe (2010), S. 15–24. 53  Vgl. G. Schanz (2014), S. 75 ff. 54  W. Burr: Zur Geschichte der deutschsprachigen Betriebswirtschaftslehre, in: VHB: Geschichte des VHB, S. 127. 51

Literatur

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Literatur J. Altmann: Wirtschaftspolitik, 8. Aufl. Stuttgart 2007 J. Altmann: Volkswirtschaftslehre, 7. Aufl. Stuttgart 2009 A. W. Anikin: Ökonomen aus drei Jahrhunderten, Frankfurt a. M. 1974 F. Behrens: Grundriss der Geschichte der Politischen Ökonomie, 1962 ff. M. Blaug: Systematische Theoriegeschichte der Ökonomie, 4 Bde., München 1971 ff. H. J. Bontrup: Volkswirtschaftslehre, 2. Aufl. München/Wien 2004 Brockhaus Nobelpreise – Chronik herausragender Leistungen, 2. Aufl. Mannheim/Leipzig 2004. R. Clement/W. Terlau/M. Kiy: Angewandte Makroökonomie, 5. Aufl. München 2013 J. K. Galbraith: Die Entmythologisierung der Wirtschaft, Wien/Darmstadt 1988 O. Issing (Hg.): Geschichte der Nationalökonomie, 4. Aufl. München 2002 P.-H.  Koesters: Ökonomen verändern die Welt. Wirtschaftstheorien, die unser Leben bestimmen. Hamburg 1985 G. Kolb: Geschichte der Volkswirtschaftslehre, 2. Aufl. München 2004 G. Kolb: Wirtschaftsideen von der Antike bis zum Neoliberalismus, München 2008 H. Meißner (Hg.): Geschichte der politischen Ökonomie, Berlin (Ost) 1978 K. Muhs: Kurzgefaßte Geschichte der Volkswirtschaftslehre, Wiesbaden 1963 D. Piekenbrock/A. Henning: Einführung in die Volkswirtschaftslehre und Mikroökonomie, 2. Aufl. Heidelberg 2013 H. C. Recktenwald/K.-D. Grüske: Die Nobelpreisträger der ökonomischen Wissenschaft, Düsseldorf, Band I: 1969–1977; Band II: 1977–1988; Band III: 1989–1993; Band IV: 1994–1998 H. Rogall: Volkswirtschaftslehre für Sozialwissenschaftler, 2. Aufl. Wiesbaden 2013 I. Rose: Die Wirtschaft und ihr Preis. Die Erkenntnisse der Nobelpreisträger – und wie sie unsere Welt verändern, Regensburg 2013 P. A. Samuelson / W. D. Nordhaus: Volkswirtschaftslehre, 4. Aufl. München 2010 G. Schmölders: Geschichte der Volkswirtschaftslehre, Reinbek bei Hamburg 1966 G.  Schmölders: Theorienbildung in der Volkswirtschaftslehre, Geschichte. In: W.  Albers u.  a. (Hrsg.): HdWW, Bd. 9, Stuttgart u. a. 1988, S. 425–446 J. A. Schumpeter: Geschichte der ökonomischen Analyse, 2 Bde., Göttingen 1965/2007 F. Söllner: Die Geschichte des ökonomischen Denkens, 4. Aufl. Berlin/Heidelberg 2015 G. Stavenhagen: Geschichte der Wirtschaftstheorie, 3. Aufl. Göttingen 1964 O. v. Zwiedineck-Südenhorst: Allgemeine Volkswirtschaftslehre, 2. Aufl. Berlin/Göttingen/Heidelberg 1948 B. Bellinger: Geschichte der Betriebswirtschaftslehre, Stuttgart 1967 B. Bellinger: Die Betriebswirtschaftslehre der neueren Zeit, Darmstadt 1988 K. Brockhoff: Geschichte der Betriebswirtschaftslehre. Kommentierte Meilensteine und Originaltexte, 2. Aufl. Wiesbaden 2002 K. Brockhoff: Betriebswirtschaftslehre in Wissenschaft und Geschichte, 4. Aufl. Wiesbaden 2014 E. Gaugler; R. Köhler: Entwicklungen der Betriebswirtschaftslehre, Stuttgart 2002. E.  Gutenberg: Einführung in die Betriebswirtschaftslehre, Wiesbaden 1959 (Nachdruck 1990), S. 13–23 F. Klein-Blenkers/M. Reiß: Geschichte der Betriebswirtschaftslehre. In: W. Wittmann u. a. (Hrsg.): HWB, Bd. 1, 5. Aufl., Stuttgart 1993, Sp. 1417–1433 M. Lingenfelder: 100 Jahre Betriebswirtschaftslehre in Deutschland (1898–1998), München 1999 J. Löffelholz: Repetitorium der Betriebswirtschaftslehre, 6. Aufl., Wiesbaden 1980, S. 898–946 J. Löffelholz: Geschichte der Betriebswirtschaft und der Betriebswirtschaftslehre, Stuttgart 1935. P. Mantel: Betriebswirtschaftslehre und Nationalsozialismus: Eine institutionen- und personengeschichtliche Studie. Wiesbaden 2009

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2  Geschichte der Ökonomik

G. Schanz: Wissenschaftsprogramme der Betriebswirtschaftslehre. In: Bea/Dichtl/Schweitzer: Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, Bd. 1, Stuttgart 2000, S. 80–161 G. Schanz: Eine kurze Geschichte der Betriebswirtschaftslehre, Konstanz und München 2014 K.  Schwantag: Betriebswirtschaftslehre (I), Geschichte. In: HdSW, Bd.  2, Stuttgart u.  a. 1959, S. 114–120 R. Seyffert: Über Begriff, Aufgaben und Entwicklung der Betriebswirtschaftslehre, 6. Aufl., Stuttgart 1971 Verband der Hochschullehrer für Betriebswirtschaft e.V. (Hrsg.): Der Verband der Hochschullehrer für Betriebswirtschaft. Geschichte des VHB und Geschichten zum VHB. Wiesbaden 2012 Verlagsbuchhandlung Leopold Weiß (Hrsg.): Zur Entwicklung der Betriebswirtschaftslehre. Festgabe zum 70. Geburtstag von Robert Stein, dargebracht von Freunden und Schülern. Berlin 1925 E. Weber: Literaturgeschichte der Handelsbetriebslehre, Leipzig 1914 W. Wittmann: Betriebswirtschaftslehre. In: W. Albers u. a. (Hrsg.): HdWW, Bd. 1, Stuttgart u. a. 1988, S. 585–609 G. Wöhe: Einführung in die Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, 13. Aufl. München 1978, S. 46–60 G. Wöhe: Einführung in die Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, 24. Aufl. München 2010, S. 13–24

Teil II Bedeutende Ökonomen

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Xenophon

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Leben & Karriere • Xenophon stammte aus einer wohlhabenden Familie, vermutlich aus der griechischen Ritterschaft und wirkte in der Praxis als Söldnerführer und Landgutbesitzer. • 401 v. Chr. zog X. mit dem persischen Prätendenten Kyros gegen den Perserkönig Artaxerxes II. in die Schlacht, wurde zum Anführer gewählt und rettete durch einen geordneten Rückzug über 6000 Soldaten das Leben. • 396 begleitete X. den Spartanerkönig Agesilaos nach Kleinasien, später kämpfte er als Söldnerführer gegen die Thebaner. • Nach der Schlacht bei Koroneia (394) wurde X. aus politischen Gründen aus Athen verbannt und ließ sich in Skillus bei Olympia nieder. Dort lebte er von 390 bis 365 v. Chr. auf seinem Landgut, das er von Sparta erhielt. Wahrscheinlich führte diese ­erzwungene Tätigkeit in der Haus- und Landwirtschaft dann zur Entstehung seines Werkes Oikonomikos (vgl. Richarz, S. 19). • Wie auch sein Generationsgenosse →Platon wurde X. stark von Sokrates beeinflusst (siehe Abb. 3.1). Allerdings widmete sich X. in seinen Schriften dem täglichen Leben in der Praxis. So befasste er sich auch mit ökonomischen Fragestellungen, die im 18. Jh. „wiederentdeckt“ wurden.

Abb. 3.1  Sokrates im Gespräch mit dem jungen Xenophon. Ausschnitt aus Raffaels Die Schule von Athen (1510–1511), Fresko in der Stanza della Segnatura (Vatikan). (Quelle: Wikimedia)

Werk & Wirkung

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Werk & Wirkung • Xenophon, der in reinem Attisch schrieb und für die Klarheit seines Stils bekannt ist, verfasste zwei Bücher, in denen er sich mit ökonomischen Fragestellungen beschäftigt. Diese beiden Werke können im Prinzip als die ersten Fachbücher für Mikro- und Ma­ kroökonomie betrachtet werden. • In dem Werk Oeconomicus (dt.: Von der Hauswirtschaft/Über die Haushaltungskunst), das X. vermutlich zwischen 385 und 370 v. Chr. verfasste, werden in Form eines kunstvollen Dialogs zwischen Sokrates und Kritobulus die Prinzipien einer guten Haushaltungskunst und Landwirtschaft diskutiert. Der erste Teil (Kap. I bis VI) handelt von der Haushaltungskunst im Allgemeinen. Es werden zunächst die Grundbegriffe der Unterredung definiert und gezeigt, dass die Haushaltung eine Kunst sei, welche sich mit der Verwaltung des Hauswesens befasst – und zwar sowohl eines eigenen oder auch eines fremden. „Einst habe ich den Sokrates auch folgende Unterredung über die Haushaltung führen hören. Sage mir, o Kritobulus, begann er, ist wohl die Haushaltung der Name irgend einer Kunst, etwa wie die Heilkunst, die Schmiedekunst und die Baukunst? – Mir wenigstens scheint es so, erwiderte Kritobulus. – Möchten wir nun wohl, wie wir zu sagen wissen, womit sich jede dieser Künste beschäftigt, auch angeben können, worin die Beschäftigung der Haushaltungskunst besteht?  – Ich sollte denken, sagte Kritobulus, die Aufgabe eines guten Haushalters wäre die, in seinem Hause wohl zu hausen. – Müßte er wohl nicht auch in dem Hauswesen eines Andern, falls ihm Jemand ein solches anvertrauen sollte, gerade so wie in seinem eigenen, wohl hausen können, wenn er wollte? Kann doch der in der Baukunst Bewanderte dasjenige, was er sich selbst herstellen kann, ganz ebenso auch einem andern zurichten; und der Haushaltungskundige sollte wohl dessen nicht minder fähig sein. – Nach meinem Dafürhalten allerdings, Sokrates! – Kann also, fragte Sokrates weiter, Jemand, der sich auf diese Kunst versteht, in Ermanglung eigner Güter, auch das Haus eines Andern verwalten und so, wie ein Baumeister, um Lohn arbeiten? – Ja, beim Zeus, versetzte Kritobulus, und sogar einen reichlichen Lohn würde er erhalten, wenn er, nachdem er ein Hauswesen übernommen, nicht nur das Nothwendige zu leisten, sondern auch einen Ueberschuß zu erzielen und das Hauswesen zu heben vermöchte. … (Xenophon’s Oekonomikus oder über die Haushaltungskunst, übers. von A. Zeising, Stuttgart 1866, S. 13–14).“

• „Ökonomie“ definiert X. als die Wissenschaft, durch welche die Menschen „ihr Hauswesen emporzubringen imstande sind“. Das erste Thema befasst sich mit den Pflichten einer Hausfrau (z. B. Aufsicht im Haus, Verantwortung für Ordnung und Arbeitseinteilung, Einrichtung des Hauses, Auswahl einer guten Haushälterin) sowie den Pflichten des Ehemanns (z. B. Aufsicht und Rechtsprechung über die Sklaven, Auswahl und Einweisung der richtigen Mitarbeiter). Im zweiten Teil (ab Kap. VII) geht es um die Landwirtschaft. Darin werden Themen von der Bodenkunde bis hin zu den ökonomischen und menschlichen Qualitäten eines Landmanns behandelt. Dieser Teil kann im Prinzip als eine erste (agrarökonomische) Betriebswirtschaftslehre betrachtet werden: Ein Experte namens Ischomachos unterrichtet über Inventur, Organisation und Planung. Sodann wird die Notwendigkeit erörtert, Überschüsse anzustreben und auf eine

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3 Xenophon

Vermehrung des Reichtums bedacht zu sein. In diesem Zusammenhang werden Anforderungen genannt, die an den Eigentümer und Verwalter gestellt werden, wie beispielsweise eine geschickte Verhandlungstechnik, Fachkenntnisse und Prinzipien guter Menschenführung. Schließlich wird eine Theorie der Landwirtschaft entworfen und es werden Techniken der Bodenbearbeitung, der Aussaat und der Ernte besprochen. • In dem zweiten ökonomischen Werk Póroi (dt. Über die Staatseinkünfte), das X. vermutlich 354/355 v. Chr. verfasste, wird beschrieben, wie ein Staat (bzw. Athen) seine Staatseinnahmen erhöhen könne. In der knappen finanzpolitischen Schrift, mit der X. auf die prekäre Finanzlage Athens reagiert, werden theoretische und praktische Ratschläge gegeben bzw. Vorschläge unterbreitet, wie die Staatseinnahmen erhöht werden könnten. Seine Vorschläge zur Gesundung der Staatsfinanzen beruhen auf drei Säulen: der Bevölkerungspolitik, der Wirtschaftsgesetzgebung und der Finanzpolitik. X. geht zunächst auf die natürlichen Reichtümer (Landwirtschaft und Bodenschätze) und den günstigen geografischen Standort Athens ein. Die zentrale Lage Athens biete unter verkehrs- und handelstechnischen Gesichtspunkten viele Vorteile und stelle für reiche Ausländer einen Anreiz zur Ansiedlung dar. Dies ist von Vorteil, denn „je mehr Menschen sich ansiedeln und herbeikommen, um so mehr wird offenbar ein- und ausgeführt, eingekauft und verkauft, Lohn verdient und Zoll bezahlt“. X. hebt hier also die positiven Effekte des Handels hervor. Als weitere Maßnahmen zur Steigerung der Staatseinnahmen schlägt X. vor, dass der Staat Sklaven erwerben sollte, die er dann an Privatleute weitervermietet. Des Weiteren sollten der attische Silberbergbau reaktiviert, Steuern erhöht und die Rechte der politisch und wirtschaftlich benachteiligten Metöken (= ortsansässige Fremde) erweitert werden, sodass sie stärker in das Wirtschaftsleben integriert werden. Als eine wesentliche Voraussetzung für die Steigerung der Staatseinkünfte sieht X. den Frieden mit den Nachbarstaaten, denn dieser würde sich in jeder Hinsicht positiv auswirken und das Ansehen Athens steigern. • Die ökonomischen Schriften X.s erlebten ab dem 16. Jahrhundert eine Renaissance. Im 17. Jahrhundert ließ sich der französische Minister de Béthune de Sully bei seinen Reformen von X. inspirieren. →Karl Marx weist darauf hin, dass X. die Bedeutung der Arbeitsteilung hervorhob und zitiert ihn im ersten Band des Kapitals (MEW, Bd. 23, S. 388, Anm. 81): „… denn wie die übrigen Künste in den großen Städten besonders vervollkommnet sind, ebenso werden die königlichen Speisen ganz eigens zubereitet. Denn in den kleinen Städten macht derselbe Bettstelle, Türe, Pflug, Tisch; oft baut er obendrein noch Häuser und ist zufrieden, wenn er selbst so eine für seinen Unterhalt ausreichende Kundschaft findet. Es ist rein unmöglich, daß ein Mensch, der so vielerlei treibt, alles gut mache. In den großen Städten aber, wo jeder einzelne viele Käufer findet, genügt auch ein Handwerk, um seinen Mann zu nähren. Ja oft gehört dazu nicht einmal ein ganzes Handwerk, sondern der eine macht Mannsschuhe, der andre Weiberschuhe. Hier und da lebt einer bloß vom Nähen, der andre vom Zuschneiden der Schuhe; der eine schneidet bloß Kleider zu, der andre setzt die Stücke nur zusammen. Notwendig ist es nun, daß der Verrichter der einfachsten Arbeit sie unbedingt auch am besten macht. Ebenso steht’s mit der Kochkunst. (Xen., ‚Cyrop.‘, l. VIII, c. 2.)“

Literatur

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• X. befasste sich mit zahlreichen wirtschaftlichen Fragestellungen, die auch heute noch von Bedeutung sind: Er erkannte die Bedeutung der Arbeitsteilung als Mittel zur Qualitätssteigerung der Produktion und beschäftigte sich beispielsweise mit Fragen zum Nutzen, zu Investitionen, zur Gewinnmaximierung, zum Zusammenhang zwischen Beschäftigung und Preis. Sedláček vertritt die Ansicht, dass „Xenophons ökonomische Analysen keineswegs oberflächlicher als die von Adam Smith“ sind. Stavenhagen hingegen vertritt die Auffassung, X. habe „nur technische Kunstlehren unter hauswirtschaftlichen Gesichtspunkten entwickelt, ohne einen fördernden Beitrag für die Entwicklung der volkswirtschaftlichen Theorie zu leisten“.

Wichtige Publikationen • Oikonomikós (dt. Von der Hauswirtschaft), vermutlich zwischen 385 und 370 v. Chr. • Póroi (dt. Über die Staatseinkünfte), etwa 354 v. Chr.

Literatur G.  Audring/K.  Brodersen (Hrsg.): Oikonomika. Quellen zur Wirtschaftstheorie der griechischen Antike, Darmstadt 2008 Bellinger (1967), S. 13–14 Hesse (2009), S. 618 Kolb (2004), S. 2 Kolb (2008), S. 3 I. Richarz: Oikos, Haus und Haushalt. Göttingen 1991 Schmölders (1966) T. Sedláček: Die Ökonomie von Gut und Böse (2012), S. 131–137 Stavenhagen (1964), S. 16

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Platon (auch Plato)

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4  Platon (auch Plato)

Leben & Karriere • Platon, der aus einer wohlhabenden Familie stammt, deren Vorfahren wahrscheinlich der athenischen Aristokratie entstammen, genoss eine hervorragende Bildung: Er erhielt Unterricht in Grammatik, Philosophie, Dichtung, Sport, Malerei und Musik. • Etwa um 413 v. Chr. machte der 14-Jährige Platon Bekanntschaft mit Sokrates, mit dem ihn etwa sechs Jahre später ein festes Lehrer-Schüler-Verhältnis verband. • Unter dem Einfluss von Sokrates gab P. seine frühen Versuche als Tragödiendichter auf und wandte sich ausschließlich der Philosophie zu. Auch wurde P. durch politische Wirren in Athen von seiner ursprünglichen Absicht, eine politische Laufbahn einzuschlagen, abgehalten. • Nachdem Athen den Peloponnesischen Krieg (431–404 v. Chr.) verloren hatte, herrschte ein Schreckensregime der Siegermacht Sparta und Sokrates wurde 399 v. Chr. hingerichtet. Nach diesen Erlebnissen wandte sich P. in tiefer Erschütterung einer praktisch-­ philosophischen Philosophie zu und unternahm mehrere Studienreisen. Sicher überliefert ist eine „Reise nach Unteritalien und an den Hof Dionysios’ I. in Syrakus; dort machte er die Bekanntschaft mit der pythagoreischen (wohl auch parmenideischen) Philosophie“ (J. Jantzen). • Etwa 387–385 erwarb P. ein Grundstück im Hain des Heros Akademos in der Nähe Athens. Dort gründete er seine berühmte Akademie, die fast 1000 Jahre fortbestand, bis sie durch Kaiser Justinian im Jahre 529 n. Chr. geschlossen wurde. Die Akademie gilt als Vorbild der europäischen Universitäten. • Im Jahre 367 trat → Aristoteles in die Akademie ein; er gilt als bedeutendster Schüler Platons. • P. widmete sich in seinen letzten Lebensjahren intensiv seiner Forschung und Lehre, insbesondere seinem umfangreichsten Werk, den Nomoi. Er starb 347 in Athen.

Werk & Wirkung • Platons Werk – überliefert sind unter seinem Namen 30 Dialoge und 13 Briefe – behandelt eine Vielzahl von Wissensgebieten (z. B. Erkenntnistheorie, Dialektik, Metaphysik, Ethik, Psychologie, Pädagogik, Literaturtheorie, Staatsphilosophie, Naturwissenschaften) und ist von herausragender Bedeutung für die abendländische Philosophie. • P. Wirtschaftsauffassung, die er insbesondere in seinem Hauptwerk Politeia (gr. Das Staatswesen) entwirft, ist vielmehr eine „Staats- und Menschenlehre“ (Salin) als eine Wirtschaftslehre. P. richtet darin sein Hauptaugenmerk auf die Analyse der natürlichen Anlagen des Menschen und leitet von denen ein Modell der staatlichen Ordnung, einen Idealstaat, ab.

Werk & Wirkung

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• Die Politeia, die um 375 v. Chr. vollendet wurde, ist ein philosophischer Dialog über die Gerechtigkeit. Im zweiten Buch lässt P. die Protagonisten (Glaukon, Adeimantos und Sokrates) auftreten. Sie diskutieren mit dem Ziel, die Überlegenheit der Gerechtigkeit über die Ungerechtigkeit nachzuweisen. Zugleich wollen sie auch deren Bedeutung für das menschliche Streben nach Glück darlegen. Dies untersuchen sie am Modell des Staates, da sich daran das Werden und Wesen der Gerechtigkeit in einem größeren Maßstab zeige und leichter ablesen lasse als im psychologischen Bereich des einzelnen Menschen. Sokrates entwirft in dem Gespräch ein Gemeinwesen bzw. einen Idealstaat, der aus drei Bevölkerungsschichten besteht: 1. den Herrschern/Regenten (archontes) 2. den Wächtern (phylakes) 3. den Bauern, Handwerkern und Kaufleuten (demiurgoi). Diese drei Stände ergeben sich aus der gesellschaftlichen Arbeitsteilung – „weil jeder einzelne von uns sich selbst nicht genügt, sondern vieler bedarf“ – sowie aus den natürlichen Anlagen der Menschen zu verschiedenen Tätigkeiten. Diese Dreiteilung wird auch zurückgeführt auf die individuelle Schichtengliederung der Seele und entspricht den drei Kardinaltugenden Weisheit, Tapferkeit und Besonnenheit. Die vierte Kardinaltugend – die Gerechtigkeit – ergibt sich daraus, dass jeder der drei Stände „das Seine tut“, also seine Tugenden erfüllt. Besondere Bedeutung kommt dem Stand der Wächter zu, bei denen es sich um Elitebürger, um „Idealmenschen“ handelt, die sich durch Tapferkeit und Wachsamkeit auszeichnen und die für den Schutz des Staates verantwortlich sind. Sie erhalten eine umfassende Ausbildung und Erziehung; auch deshalb, weil durch eine Bestenauslese aus diesem Stand später die (Philosophen-)Herrscher rekrutiert werden. Daher sind die Wächter vom Erwerbsleben und jeder Tätigkeit, die sie von ihrer Pflichterfüllung abhält, ausgeschlossen. Auch persönlicher Besitz und Familienleben ist ihnen untersagt. Die Abschaffung des Privateigentums bezieht sich allerdings nur auf den Stand der Wächter. Das Erwerbsstreben wird nicht generell verachtet; jedoch sollen nur die unteren Bevölkerungsschichten Handel und Gewerbe treiben. Sie stellen die Mittel bereit, die für den Bestand des Gemeinwesens notwendig sind. Von besonderer Bedeutung für die Verwirklichung eines idealen Staates ist die Ausrichtung der Herrschenden an der Idee des Guten; sie sollen Philosophenkönige sein, d. h. die Philosophen müssen Herrscher werden – oder die Herrscher Philosophen. Ein idealer Staat zeichne sich des Weiteren durch soziale Gerechtigkeit aus. Daher sollen, wenn das Gemeinwesen nicht Schaden nehmen solle, krasse soziale Gegensätze verhindert werden. Ganz konkret führt P. hierzu in seinen Gesetzen aus:

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4  Platon (auch Plato) „So empfiehlt es sich aus verschiedenen Gründen … vier verschiedene Vermögensklassen zu bilden als Grundlage für abgestufte staatliche Pflichten und Rechte. Die Grenze des Reichtums für die oberste Klasse, welche nicht überschritten werden darf, soll der vierfache Wert des Landanteils eines Bürgers sein; die Grenze der Armut nach unten bildet eben diesen Wert selbst, der ja nicht verringert werden darf. Wer auf irgend welche Weise mehr erwirbt, als innerhalb der bezeichnet Grenzen liegt, hat das Übermaß dem Staat zu geben (Platon: Die Gesetze, 744 b).“

• P. habe, schreibt → Salin in seiner Geschichte der Volkswirtschaftslehre, „Kenntnisse und Einsichten … in einem Maß besessen und vermittelt, das das bescheidene Teilwissen der Wirtschaftswissenschafter späterer Jahrhunderte weit überragt“ (S. 4). Zu einer völlig anderen Einschätzung gelangt Stavenhagen: „Platon behandelte wirtschaftliche Fragen nur insoweit, als sie die Gestaltung seines Idealstaates vom ethischen Gesichtspunkte aus betrafen. Er gelangte dabei nicht zu Erkenntnissen, die für die Entwicklung der volkswirtschaftlichen Theorie wichtig geworden sind“ (S. 16). Und Hesse vertritt gar die Ansicht, dass die „autoritäre Staatsauffassung“ P.s „den geistigen Nährboden späterer totalitärer Herrschaftsformen“ (S. 424) bildete.

Wichtige Publikationen • • • •

Gorgias (Über die Redekunst/Rhetorik) Politeia (Das Staatswesen) Politikos (Der Staatsmann) Nomoi (Die Gesetze)

Literatur HdStW, Bd. 6 (1901), S. 91–97 Hesse (2009), S. 424–425 J. Jantzen: Stichwort „Platon“ in: Staatslexikon (1995), Bd. 4, Sp. 419–423 Lange/Alexander (1983), S. 749–755 W. Ries (2005): Die Philosophie der Antike Salin (1929) Starbatty, Bd. 1 (2012), S. 19–33 Stavenhagen (1964)

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Aristoteles

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Leben & Karriere • Nach dem frühen Tode Aristoteles’ Vaters, der als Leibarzt des makedonischen Königs Amyntas III. tätig war, übernahm dessen Schwager Proxenos von Atarneus die Vormundschaft. • Im Jahre 367 v. Chr. kam der 17-jährige A. nach Athen und wählte zwischen den zahlreichen Einrichtungen die Akademie → Platons, wo er zunächst dessen Schüler und später dessen Mitarbeiter war. „In der Atmosphäre der Akademie formte sich auch das geistige Profil des Aristoteles, der seine Philosophie in der unablässigen Auseinandersetzung mit dem platonischen Denken entwickelte. Insofern heißt von Aristoteles reden auch immer über Platon sprechen“ (Jürß/Ehlers, S.  14). An der Akademie, in der ­insbesondere die Mathematik einen hohen Stellenwert einnahm, hat A. etwa 20 Jahre lang gelernt, gelehrt, geforscht und Bücher geschrieben. • 347 verließ A. die Akademie und ging zu Hermias, dem Beherrscher von Atarneus und Assos, der ihm sowie anderen aus Athen emigrierten Gelehrten Aufenthalts- und Arbeitsmöglichkeiten in Assos besorgte. Hier traf A. mit Theophrastos aus Eresos zusammen, der sein Schüler und Freund wurde. Die Zusammenarbeit der beiden sollte für die Entwicklung der Wissenschaften sehr förderlich werden. • 343 wurde A. als Erzieher Alexanders, den Sohn Philipp II., an den Hof gerufen. Nach der Thronbesteigung Alexanders und dem Beginn seiner Feldzüge kehrte A. nach Athen zurück. • Im Jahre 335 ging A. zurück nach Athen und gründete dort seine eigene Schule, das Lykeion. Rund zwölf Jahre lang lehrte er dort und veranstaltete Streitgespräche. Als einer der ersten besaß er eine große Bibliothek und umfassende Sammlungen. Diese Zeit bildet einen Höhepunkt seiner Lehr- und Forschungstätigkeit. • Nach dem Tod Alexanders (323 v. Chr.) wurde A. als Anhänger der makedonischen Partei wegen Gottlosigkeit angeklagt. Er verließ Athen und floh auf die Insel Euboia, wo er einige Monate später im Alter von 63 Jahren an einer Krankheit verstarb.

Werk & Wirkung • Aristoteles war der größte Schüler → Platons; dessen Ideenlehre lehnte er jedoch ab, insbesondere das Geschiedensein der Ideen von den Dingen. Im Vergleich zu Platon ist A., der oft ein hervorragender Beobachter war, mehr der Erfahrung und Wirklichkeit zugewandt und auch entschieden sachlicher und systematischer. Das Schrifttum des A. umfasst 146 Titel. Er beschäftigte sich mit einer Vielzahl von Wissensgebieten (z. B. Ethik, Politik, Naturwissenschaften, Logik und Rhetorik) und gelangte auch auf ökonomischem Gebiet zu tiefen Einsichten. Er analysierte ökonomische Erscheinun-

Werk & Wirkung

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gen der antiken Gesellschaft und kann neben → Xenophon als einer der ersten Ökonomen überhaupt angesehen werden. • Seine ökonomischen Abhandlungen in Form von Dialogen und Monologen finden sich in seiner Politik und der Nikomachischen Ethik, mit denen er die „praktische Philosophie“ begründete. Im Zusammenhang mit den dort behandelten Fragestellungen, wie der Staat aufgebaut sein sollte bzw. wie man ein guter Mensch werde und ein glückliches Leben führe, beschäftigt er sich mit der Oekonomik (Haushaltungskunst; oikonomia von altgr. oikos = das Haus, die Wirtschaft und nomos = das Gesetz, die Vorschrift). • A. untersuchte den Tauschprozess und kommt zu der Erkenntnis, dass eine Ware einen Gebrauchswert und einen Tauschwert hat: „Es gibt bei allem, was man besitzt, eine doppelte Art, es zu gebrauchen. Beide Gebrauchsarten sind unbedingt, aber nicht in gleicher Weise unbedingt, sondern die eine ist der dem betreffenden Ding eigentümliche Gebrauch, die andere ist ihm nicht eigentümlich: z. B. beim Schuh besteht die erste darin, daß man ihn anzieht, die zweite darin, daß man ihn als Tauschgegenstand verwendet. Beides ist ein Gebrauch des Schuhs; denn auch der, der dagegen Geld oder Nahrung eintauscht von einem, der einen Schuh braucht, benützt den Schuh, insofern er Schuh ist, aber nicht in der ihm eigentümlichen Gebrauchsweise, denn er ist nicht zum Zweck des Tauschs gemacht worden (Hauptwerke, ausgew., übers. u. eingel. v. W. Nestle, Stuttgart 1958, S. 294).“

A. versuchte zu ergründen, wodurch die Tauschverhältnisse (Preise) bestimmt werden und entwickelt eine primitive Variante der Arbeitswerttheorie, die auch spätere Ökonomen – so z. B. → D. Ricardo und → K. Marx – in ihrem Denken befruchteten. In seiner Nikomachischen Ethik schreibt A.: „Denn es können nicht etwa zwei Ärzte eine Austausch-Gemeinschaft bilden, wohl aber ein Arzt und ein Bauer, oder allgemein ausgedrückt: Partner, die verschiedenartig, nicht gleich sind. Zwischen den Partnern muß dann jedoch ein Ausgleich geschaffen werden. Deshalb muß alles, was ausgetauscht wird, irgendwie vergleichbar sein … Dem Unterschied von Baumeister und Schuhmacher muß also der Unterschied zwischen einer bestimmten Anzahl von Schuhen und einem Haus entsprechen. Es müssen sich also alle Dinge durch eine bestimmte Einheit messen lassen … (Nik. Ethik, 1133a).“

Marx schreibt hierzu: „Das Genie des Aristoteles glänzt grade darin, daß er im Wertausdruck der Waren ein Gleichheitsverhältnis entdeckt. Nur die historische Schranke der Gesellschaft, worin er lebte, verhindert ihn herauszufinden, worin denn in Wahrheit dies Gleichheitsverhältnis besteht“ (MEW, Bd. 23, S. 74). Marx meint hier die menschliche Arbeit. Zu einer Arbeitswerttheorie habe A. nicht gelangen können, da die Arbeit in der griechischen Gesellschaft durch Sklaven geleistet wurde. • A. teilte Güter einerseits in Verbrauchsgüter und Werkzeuge (Produktionsmittel), die beide dem unmittelbaren Gebrauch dienen, und andererseits in Tauschmittel, die nur zum Erwerb unmittelbarer Gebrauchsgüter dienen. Aufgabe der „Oekonomik“ sei die

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Lehre, wie diese unmittelbaren Gebrauchsgüter beschafft werden können. Die Bezeichnung geht zurück auf die wirtschaftliche Einheit des Hauses bzw. der Familie und deren Erhaltung. Es ist Sache des Hausvaters, sich um die Versorgung zu kümmern. Erwerbsarten, die diesem Zweck dienen, sind natürlich; der bloße Erwerb von Tauschmitteln ist künstlich. Tauschmittel entstehen durch Überproduktion in dem einen Haushalt und Unterproduktion in dem anderen. Solange diese Überproduktion zufällig ist, bleibt die Verwendung von Gütern als Tauschmittel noch natürlich. Geschieht Überproduktion jedoch ganz gezielt, um das Produkt marktfähig zu machen, so entwickelt sich eine künstliche Erwerbsart. Deren Regeln sind dann nicht mehr Gegenstand der Ökonomik, sondern der Chrematistik. • A. unterscheidet zwischen Ökonomik und Chrematistik (chrema = Vermögen, Besitz). Während er die Ökonomik als eine naturgegebene wirtschaftliche Tätigkeit begreift, die auf die persönliche Bedürfnisbefriedigung abzielt, ist Chrematistik die (naturwidrige) „Kunst, Vermögen zu machen“, eine schrankenlose Anhäufung von Reichtum in Geldform. Diese Gegenüberstellung ist eine bedeutsame Leistung; sie ist der erste Versuch in der Wissenschaftsgeschichte, das Kapital einer Analyse zu unterziehen. • Wie die Chrematistik, so lehnt A. auch den Zins als eine unnatürliche Form des Gelderwerbs ab: „Denn das Geld ist um des Tausches willen erfunden worden, durch den Zins vermehrt es sich aber durch sich selbst. Daher hat es auch seinen Namen: Das Geborene ist gleicher Art wie das Gebärende und durch den Zins entsteht Geld aus Geld. Diese Art des Gelderwerbs ist also am meisten gegen die Natur (Politik, Buch I, 1258 b 5).“

• Aristoteles gilt immer noch als einer der herausragendsten Philosophen. Was die Systematisierung der Erkenntnisse anbelangt, steht er – zumindest im Altertum – unerreicht da. Er hat eine Weltanschauung entworfen, die viele Jahrhunderte hindurch nicht nur die Philosophie, sondern die Wissenschaften im Allgemeinen sehr stark beeinflusst hat. Eine Reihe von Disziplinen, wie z. B. Psychologie, Logik, Ethik, hat er eigentlich erst begründet. Die Leistung von A. auf dem Gebiete der Ökonomie fasst T. Sedláček in Ökonomie von Gut und Böse so zusammen: „Er war derjenige, der beispielsweise das Privateigentum verteidigte, den Wucher kritisierte, zwischen produktiver und unproduktiver wirtschaftlicher Aktivität unterschied, die Rolle des Geldes kategorisierte, auf die Pro­bleme des Gemeinschaftseigentums hinwies und sich mit der Monopolfrage befasste“ (S. 156). → E. Salin schreibt in seiner Geschichte der Volkswirtschaftslehre, dass bei A. „eine Art von wirtschaftstheoretischem Denken“ zu finden sei, auch wenn dieser keine „moderne, ‚autonome‘ Theorie“ entwickelt habe. „Er vermittelt zunächst einen gewissen Überblick über das uns verlorene, anscheinend sehr reichhaltige Schrifttum der Zeit, indem er, meist ohne Namensnennung, andere Ansichten anführt und sich mit

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ihnen auseinandersetzt; er bringt sodann eine große Zahl eigener Beobachtungen, teils indem er einzeln von ihnen berichtet, teils indem er allgemeine Erfahrungssätze aus ihnen ableitet; und er gibt schließlich auf der Grundlage dieses Wissens- und Erfahrungsstoffes seine eigne Lehre von der Wirtschaft, nicht als Lehre von der Wirtschaft „an sich“, sondern als Lehre von der richtigen Wirtschaft im wahren Staat“ (Salin 1929, S. 5 f.). Die aktuelle Bedeutung der aristotelischen Wirtschaftslehre sieht W. Dettling darin, dass A. „der modernen Ökonomie wieder den Horizont für gesellschaftliche und auch moralische Fragen öffnen könnte. Damit würde sie an ihre besten Traditionen anknüpfen“ (in: Piper, S. 7).

Wichtige Publikationen • Nikomachische Ethik • Politik (Die Schriften zählen zum Spätwerk; eine genaue Datierung ist nicht möglich.)

Literatur Hesse (2009), S. 14 Jürß/Ehlers (1989): Aristoteles Koslowski: Politik und Ökonomie bei Aristoteles (1993) Krause/Graupner/Sieber (1989), S. 14–17 Lange/Alexander (1983), S. 42–49 Linß (2014), S. 11–13 Piper (1996), S. 3–7 W. Ries (2005): Die Philosophie der Antike Starbatty, Bd. 1 (2012), S. 19–55

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Pacioli, Luca

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Wächter, Ökonomen auf einen Blick, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29069-6_6

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Leben & Karriere • Pacioli, der einem neubürgerlichen Patriziergeschlecht entstammt, wuchs auf in Borgo San Sepolcro, einer Kleinstadt im Tal des Flusses Tiber. Er erhielt Unterricht von dem dreißig Jahre älteren Maler und Mathematiker Piero della Francesca, einem Pionier der Lehre von der Perspektive. Er hinterließ bei P. einen tiefen Eindruck. P. drückte ihm später an mehreren Stellen seine Verehrung und Zuneigung aus. • 1465 siedelte P. nach Venedig um und besuchte dort die Rialto-Schule. Er lebte bei dem reichen und geistvollen Kaufmann Antonio Rompiansi, dessen drei Söhne er als Hauslehrer unterrichtete. Für sie verfasste er auch ein Lehrbuch der Mathematik, sein erstes Werk, das heute als verloren gilt. Im Auftrag der Rompiansis hat P. an mehreren Schiffshandelsreisen teilgenommen, worüber er in seiner Schrift „De viribus quantitatis“ berichtet. Für die von einigen Historikern behaupteten Orient-Reisen lassen sich in P.s Schriften keine Hinweise finden. Als Assistent Rompiansis lernte P. schnell alles über die Handelspraxis, insbesondere über die auf diesem Gebiet angewendete Mathematik. Über die den Kaufmannsberuf sagt er: „Es ist schwerer, ein guter Kaufmann zu sein als ein Doktor oder Lizentiat“ (zit. n. Löffelholz 1935, S. 144). • 1472 trat P. dem Franziskaner-Orden bei, wo er eine theologische Ausbildung erhielt. Außerdem bot ihm der Orden die Möglichkeit, unabhängig zu forschen. Während seiner Ausbildung studierte er Latein und die Artes Liberales mit Schwerpunkt auf dem Quadrivium. Seine theologischen Studien schloss er mit dem Grad eines „Sacrae theologiae professor“ ab. • Ab 1476 führte P. ein unstetes und abenteuerliches Leben als Wanderlehrer: Als Professor der Theologie, Philosophie und Mathematik lehrte er zuerst von 1476–1480 an der Universität in Perugia. In den folgenden 11 Jahren lehrt er in Zara, Florenz, Aquilla, Venedig, Neapel, Pisa, Mailand, Rom und Bologna. In Zara soll P. eine Schrift über Arithmetik verfasst haben, die heute aber verloren ist. • 1490 unterrichtete P. Arithmetik und Geometrie in Neapel und Rom. Anschließend kehrte er in seine Heimatstadt zurück, wo er bis 1493 blieb und die Veröffentlichung seines ersten gedruckten Buches, der Summa de Arithmetica, vorbereitete. Das Werk erschien am 10.11.1494. Aus betriebswirtschaftlicher Sicht sind insbesondere zwei Abhandlungen daraus von besonderer Bedeutung, nämlich der „Tractatus quartus, De cambiis seu cambitionibus“ (Abhandlung über den Wechsel) und der „Tractatus particularis de computis et scripturis“ (Abhandlung über die Buchführung), worin auf 20 Seiten und 36 Kapiteln das System der doppelten Buchhaltung „in vorbildlicher Form und Fassung dargestellt ist“ (Löffelholz, S. 114). • 1496 tritt P. in den Dienst des Herzogs von Mailand, Ludovico il Moros, der ihn an seinen Hof berufen hat, um Mathematik zu lehren. Hier traf P. den bereits dort lebenden Leonardo da Vinci (1452–1519). Der ihnen eigene Forscherdrang verband die beiden freundschaftlich. Da Vinci erhielt von P. Ratschläge zur Mathematik, der Künstler und Universalgelehrte seinerseits schuf Zeichnungen für P.s Abhandlung über den goldenen

Leben & Karriere

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Schnitt, De Divina Proportione. Mit der Invasion der französischen Truppen von König Ludwig XII. wurden die beiden aus Mailand vertrieben und gingen für einige Zeit nach Florenz. Im Jahre 1500 wurde P. an die Universität von Pisa berufen, um Mathematik zu lehren (siehe Abb. 6.1, P. als Lehrer). Von 1501 bis 1502 lehrte P. Mathematik in Bologna. Dort lehrte Scipione del Ferro, der sich möglicherweise auf Anregung von P. mit der Auflösung der Gleichung dritten Grades befasste. Im Jahre 1509 übersiedelte P. von Venedig nach Perugia, wo er den später sehr renommierten Mathematiker Girolamo Bigazzini unterrichtete. Danach zog P. sich für die Dauer eines Jahres nach Borgo San Sepolcro zurück. Im Februar 1510 wurde P. zum Commissario des franziskanischen Klosters Borgo San Sepolcro ernannt. 1514 wurde P. von Papst Leo X. (Giovanni de’ Medici) an die vatikanische Universität berufen. In Rom trifft P. auch seinen alten Freund Leonardo da Vinci wieder. Man nimmt an, dass P. 1517 gestorben ist.

Abb. 6.1  Luca Pacioli mit seinem Schüler Guidobaldo, Herzog von Urbino. Porträt von Jacopo de Barbari, 1495. (Quelle: Wikimedia)

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Werk & Wirkung • Pacioli lebte in der Renaissance, einer Übergangsphase zwischen Mittelalter und Neuzeit (etwa 1400 bis 1600). In dieser Zeit des Umbruchs befreiten Wissenschaftler und Künstler sich aus der gedanklichen Enge der mittelalterlichen Scholastik. Wissenschaftler und Forscher sahen ihren Sinn nicht mehr darin, durch die christliche Lehre ohnehin schon vorgegebene Antworten neu zu begründen. Vielmehr besann man sich zurück auf das Geistesleben der Antike und sucht nach neuen Antworten auf alte ­Fragen. „‚Rückgriff als Innovation‘ hat man dieses Verhältnis zu den Alten treffend ­bezeichnet, ein Verhältnis also nicht der Wiederholung, sondern der produktiven Einholung der Antike ins Bewusstsein der Gegenwart“ (Helferich 2012, S. 114). • Wirtschaftlich ist die Epoche der Renaissance gekennzeichnet durch eine starke Ausdehnung des Mittelmeerhandels infolge der Kreuzzüge sowie einem grundlegenden Wandel im Handel, der in Europa im 14. Jahrhundert einsetzt. Die folgenden Umstände sind für den Handel von so ausschlaggebender Bedeutung, dass von einer „kommerziellen Revolution“ gesprochen werden kann: –– Rechnungswesen: Fortschrittliche Formen der Buchhaltung und der Kalkulation setzen sich durch. –– Schriftlichkeit: Die Kaufleute bedienen sich verstärkt des Schriftverkehrs (kaufmännischer Briefwechsel, Bücher mit Umrechnungstabellen für die unterschiedlichsten Maße, Münzen und Gewichte sowie Handelsbräuchen). Es werden Schreibschulen für Kaufleute gegründet. –– Kreditwesen/Zahlungsverkehr: Der Warenkredit spielt eine bedeutende Rolle. „Spätestens im ausgehenden 13. Jh. hatte sich eine Kreditkette aufgebaut, die vom Produzenten bis hin zum Konsumenten reichte. Der Kaufmann, der seinen Lieferanten bar bezahlte, dem Kunden jedoch Kredit einräumte, wäre rasch insolvent geworden“ (North 2000, S. 69). Der Wechsel dient als Zahlungs- und Kreditinstrument (siehe Abb. 6.2). –– Lagerhaltung: Lager erhalten eine größere Dauerhaftigkeit (z. B. Gewölbe, Kammern). Die Lagerhaltung dient entweder der kurzfristigen Aufbewahrung bis zum Verkauf oder der langfristigen Aufbewahrung zum Ausgleich saisonaler Schwankungen. Sie ermöglicht eine Verknappung oder Erweiterung des Angebots und somit eine Beeinflussung der Preise. –– Verkehr: Es entsteht ein leistungsfähigeres und zuverlässigeres Verkehrs- und Transportwesen. –– Versicherungswesen: Entwicklung der Versicherung für Waren auf den Transportwegen (älteste Police einer Seeversicherung aus dem Jahr 1350) –– Messewesen: Messen gewinnen an Bedeutung. Diese bieten den Händlern bessere Markttransparenz, große Rechtssicherheit, keine Steuern und Abgaben und eine kaufmännische Gerichtsbarkeit.

Werk & Wirkung

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Abb. 6.2  Mit diesem am 22.10.1392 ausgestellten Wechsel konnte Jacobo Sardo in Genua 300 Florin ins Ausland zu Matteo Trento nach Pisa schicken, ohne dass Münzgeld transportiert werden musste. (Quelle: P. Spufford 2004, S. 29)

–– Arbeitsteilung: Aufbau von Handelsstützpunkten mit Vertretern, Kommissionären, halbselbstständigen „Faktoren“ und unselbstständigen „Dienern“ –– Unternehmungsformen und -organisation: Gründung von Handelsgesellschaften In der Renaissance sind frühkapitalistische Entwicklungen im Handel erkennbar, die durch die kommerzielle Revolution sowie durch weitere, sich wechselseitig beeinflussende Umstände ermöglicht werden: Zum einen kommt es zu einem Bevölkerungswachstum und einem Wachstum der Städte. Der Lebensstandard erhöht sich und die Bedürfnisse der Menschen vermehren sich. Zum anderen setzt das Erwerbsprinzip sich immer weiter durch und verdrängt die althergebrachte Wirtschaftsweise der mittelalterlichen Stadt, die auf dem sog. „Prinzip der Nahrung“ beruht. Infolge fortschreitender Arbeits- und Berufsteilung sowie zahlreicher technischer Innovationen (z. B. Hochofen, Optimierung des Spinnrades, Buchdruck) werden die Betriebe gezwungen, rationeller zu arbeiten. Die stetige Vergrößerung der Produktion und die damit verbundene Ausweitung des Geschäfts- und Kundenkreises führen zu einer Intensivierung des Handelsverkehrs. Frühestens ab dem 14. Jh., insbesondere aber im 15. Jh., macht sich im Handel eine Arbeitsteilung bemerkbar: Es kommt zu Spezialisierungen im Handel und auch zu Differenzierungen der Handelsbetriebe. In dieser frühkapitalistischen Phase des Handels kommt Pacioli bei dem reichen Kaufmann Rompiansi mit dem Kaufmannsleben in Berührung, vielleicht erhielt er sogar eine kaufmännische Ausbildung. Für Löffelholz „scheint es fast undenkbar, daß Pacioli nicht mit dem System der neuen Buchhaltung bekannt geworden ist, das gerade damals ein so außerordentlich aktuelles Problem in den venetianischen Kaufmannskreisen darstellte“ (S. 144). • Das Hauptwerk von Pacioli ist die am 10.11.1494 in Venedig erschienene Summa de Arithmetica, Geometria, Proportioni e Proportionalita (siehe Abb.  6.3). Die Auflagenhöhe wird auf 1000 bis 2000 gedruckte Exemplare geschätzt (vgl. Hermann 2018, S. 120). Ursprünglich wollte P. sein Werk in fünf Hauptteile gliedern: 1. Arithmetik und Algebra 2. Verschiedene handelsspezifische Themen 3. Buchführung 4. Maße, Gewichte und Münzen 5. Geometrie

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Abb. 6.3  Titelblatt der 2. Auflage von 1523. (Quelle: Penndorf 1933, S. 58 f.)

Von diesem Plan wich er jedoch ab; tatsächlich besteht die „Summa“ aus zwei Hauptteilen, nämlich der Arithmetik und der Geometrie. Diese sind ihrerseits in „distinzioni“ unterteilt, welche wiederum in „trattati“ und schließlich in „articoli“ unterteilt sind. Der erste Hauptteil umfasst die vier ersten in der ursprünglichen Reihenfolge vorgesehenen Kapitel. Arithmetik und Algebra nehmen mit acht von insgesamt neun Teilen den meisten Raum in Anspruch. Die ersten sieben distinzioni sind der Arithmetik gewidmet, die achte behandelt die Algebra. Die neunte distinctio deckt die ursprünglichen Teile 2 bis 4 ab, befasst sich also mit handelskundlichen Themen (z. B. Gesellschaften, Waren, Wechselgeschäfte, Löhne, Münzen, Maße, Gewichte, Buchhaltung). • Der elfte Traktat der „Summa“ ist der Tractatus particularis de computis et scripturis, worin auf etwa 20 Folioseiten (in dt. Übersetzung von Penndorf 72 Seiten) in 36 kurzen Kapiteln das System der doppelten Buchführung dargestellt ist. Dieser Abschnitt ist „die älteste Druckschrift über die Doppelbuchhaltung“ (Weber, S. 7) und „wurde in fast alle Kultursprachen übersetzt“ (Löffelholz, S. 144). P. behandelt in dem Werk nur die Buchhaltung des Warenhandels. Die Form legt die Vermutung nahe, dass die Schrift für Unterrichtszwecke bestimmt ist. P. ist darum bemüht, „den spröden Stoff lebendig und anschaulich darzustellen“ und schreibt nicht – wie damals üblich – in der lateinischen

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Sprache, wie sie die Gelehrten zu verwenden pflegten, sondern in der Sprache des Volkes, d. h. in der italienischen Sprache, genauer gesagt in einem venezianischen Dialekt. Die Abhandlung ist insbesondere für den Selbstunterricht gedacht, wobei P. „einen Schüler von gesundem Menschenverstande“ voraussetzt (Penndorf 1933, S. 62). P. gibt in der „Summa“ eine Inhaltsangabe des Werkes. Über den Buchhaltungsteil sagt er folgendes: „Der dritte Hauptteil enthält Regeln, Formen, Mittel und Wege über die Führung aller Konten und Buchungen eines Geschäfts sowie eines Ladens, Lagers oder einer besonderen Niederlassung, ausreichend und genügend für die ganze Welt, besonders aber in der Form, die in Venedig angewendet wird und irgendwo anders, wenn man will. Nämlich mit aller Sorgfalt ein Hauptbuch zu führen mit seinem Journal und Memorial, das immer der Ursprung und die Wurzel aller Bücher und Buchhaltung ist, die die Kaufleute in allen Orten der Welt führen, wie Du an jener Stelle verstehen wirst gemäß der Ordnung, die sich vorn im Anfang der genannten Abhandlung befindet und die nach Kapiteln eingeteilt ist. Dieser Teil wird, wie gesagt, durch seine Kapitel, die Bilanz eines Hauptbuchs zu machen, ausgezeichnet und wie im Soll und Haben die Vorfälle gebucht werden, sowie durch die zwei im Journal gebräuchlichen Ausdrücke Per und A und durch das Übertragen des Journals in das Hauptbuch. Ferner durch die Form, die Einträge im Journal mit zwei Linien durchzustreichen, eine den Debitor und die andere den Kreditor, und die Bezeichnung der Blätter des Hauptbuchs am Rande des Journals, die die Nummern der Blätter angeben, wo im Hauptbuch Debitoren und Kreditoren gesetzt worden sind, mit deren Hilfe man das Hauptbuch erneuern könnte, wenn es verloren wäre, mit genau so viel Blättern wie das erste, wie Du begreifen wirst usw. Und am Ende der ganzen Abhandlung wird man eine Zusammenstellung aller Buchungen finden (S. 61).“

• Eine Inhaltsübersicht über die „Abhandlung über die Buchhaltung“ liefert Tab. 6.1. • Zu Beginn der Abhandlung weist P. auf die Bedeutung dreier Eigenschaften hin, die ein Kaufmann haben müsse, „der mit gebührendem Fleiß Handel treiben will“ (Abhandlung über die Buchhaltung, hrsg. v. Penndorf 1933, S. 88). Dies sind erstens die Eigenschaften eines ehrenwerten Kaufmanns, die z. B. erst ein auf Vertrauen fußendes Kreditgeschäft ermöglichen. Dies begründet er religiös-wirtschaftsethisch: „Nichts galt höher als das Wort des guten Kaufmanns, und so bekräftigten sie ihre Eide, indem sie sagten: ‚Bei der Ehre eines wahren Kaufmanns‘. Dies soll niemand verwundern, weil jedermann nach katholischer Weise nur durch den Glauben selig wird, ohne den es unmöglich ist, Gott zu gefallen.“ Zweitens sei es zum Handeltreiben notwendig, „daß man ein guter Rechner und geschickter Buchhalter sei.“ Und drittens sei es nötig, „daß man mit schöner Ordnung alle seine Geschäfte in gebührender Weise einträgt, damit man in aller Kürze von jedem Kenntnis haben kann, sowohl von den Schulden als auch von den Guthaben, denn auf anderes erstreckt sich der Handel nicht.“ Anschließend erläutert P. den Inhalt seiner Abhandlung. P. fordert zunächst ein Eröffnungsinventar, sodann drei Bücher, nämlich Memorial, Journal und Hauptbuch. Das 9. Kapitel gibt einen Überblick über neun Zahlungsarten, die dem Kaufmann zur Verfügung stehen: „nämlich gegen Kasse, oder gegen Ziel, oder gegen Waren, was man gewöhnlich

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Tab. 6.1  Inhaltsübersicht: Abhandlung über die Buchhaltung Kap. 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18.

Thema Erfordernisse, Voraussetzungen Inventar Inventar Nützliche Lehren Disposition Memorial Beglaubigung Buchungen im Memorial Arten des Kaufes Journal Per und An Soll und Haben Hauptbuch Hauptbuch Kasse und Kapital Waren Behörden Umsatzsteuer

Kap. 19. 20. 21. 22. 23. 24. 25. 26. 27. 28. 29. 30. 31. 32. 33. 34. 35. 36.

Thema Bank Tausch Gesellschaften Unkosten Laden Wechsel Einnahmen und Ausgaben Reisen Gewinn und Verlust Überträge Wechsel der Jahreszahl in Konten Kontoauszug Stornieren Bilanz des Buches Abschluss Probebilanz Anfertigung u. Aufbewahrung v. Schriftstücken Zusammenfassung

Tausch nennt, oder teils gegen Kasse und teils gegen Ziel, oder teils gegen Kasse und teils gegen Waren, oder teils gegen Waren und teils gegen Ziel, oder gegen Anweisung einer Bürgschaft, oder teils gegen Bürgschaft und teils gegen Ziel, oder teils gegen Bürgschaft und teils gegen Waren.“ Kap. 10, 11 und 12 behandeln das Journal. Im 11. Kapitel werden die Bezeichnungen „Per“ und „A“ definiert: „Mit Per bezeichnet man immer den Schuldner, sei es einer oder seien es mehrere, und mit A den Gläubiger, sei es einer oder seien es mehrere.“ Im 12. Kapitel werden neben der Technik der Journalbuchung die Begriffe Kasse und Kapital erläutert: „Unter der Kasse versteht man Deinen Anteil oder Deine (Geld-)Börse, unter Kapital versteht man die Gesamtheit und Gesamtsumme Deines gegenwärtigen Vermögens.“ Das 14. Kapitel behandelt den doppelten Buchungssatz, die Buchungen im Soll und im Haben. In den Kap. 32, 33 und 34 behandelt P. die Bilanz. Er beschreibt, wie man die Bilanz des Hauptbuches zu erstellen habe, wie das alte Hauptbuch in das neue übertragen werden muss, wie die Konten des alten Hauptbuches abzuschließen seien. Bevor das Werk mit einer Zusammenfassung abschließt, gibt P. Hinweise zum Umgang mit Schriftstücken (Briefen, Urkunden etc.). • Exkurs: Zur Entstehungsgeschichte von „Soll“ und „Haben“ und zur Verbreitung der Buchhaltungstechnik (siehe Abb.  6.4): Penndorf hat in seiner Übersetzung die heute üblichen Bezeichnungen „Soll“ und „Haben“ verwendet, während Löffelholz die entsprechende Textstelle bei Pacioli in die ursprüngliche Formulierung „Geben“ und „Haben“ übersetzt: „Du musst wissen, daß von allen Posten, welche du im Journal gebildet hast, immer je zwei in dem großen Heft gemacht werden sollen, nämlich einer im Geben und einer im Haben“ (S. 145). Ursprünglich hießen die beiden Seiten des Haupt-

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Die Verbreitung der doppelten Buchhaltung in Europa

16. Jahrhundert Die doppelte Buchhaltung wird in Deutschland verwendet.

15. Jahrhundert Die französischen Buchhalter „übernehmen mit Verspätung die italienische Praxis, ohne sie richtig zu verstehen“ (J. Favier 1992, S. 285).

Von Venedig ausgehend wird die doppelte Buchhaltung weiterverbreitet.

Genua

Venedig 14./15. Jahrhundert Weiterentwicklung und Vervollkommnung der doppelten Buchhaltung

1340 Älteste nachweisbare doppelte Buchführung in der städtischen Finanzbehörde Genuas

Abb. 6.4  (Quelle: Eigene Darstellung)

buches „deve dare“ (soll geben) und deve avere (soll haben). „Später fiel auf beiden Seiten das deve (Soll) weg, so daß in Italien nur dare und avere (Geben und Haben) übrig blieben; während in Deutschland links das Geben und rechts das Soll wegfiel, so daß wir heute in Deutschland Soll und Haben anwenden“ (Penndorf 1933, S. 47). Die Wörter „soll haben“ und „soll geben“ hätten im Italien des 13. Jahrhunderts noch ihren Sinn gehabt, erläutert der französische Historiker Jean Favier: „Die Redewendung ist logisch. Die Dinge ändern sich und die Sache wird komplizierter, als die Franzosen zu Beginn der Neuzeit mitmischen.“ Denn sie seien weniger vertraut gewesen mit den kapitalistischen Strukturen der großen Gesellschaften. „Und anstatt soll geben und soll haben einander entgegenzustellen, stellen sie soll und haben einander gegenüber. Natürlich besagen soll und soll geben das gleiche, und der Widerspruch versteht sich von selbst. Aber er macht soll haben zu haben, was eigentlich ein Widersinn ist.“ Die französischen Buchhalter des 15. Jahrhunderts hätten nach Favier die italienische Buchhaltungspraxis übernommen, ohne sie richtig zu verstehen (vgl. Favier 1992, S. 285). • Penndorf sah das Innovative der Schrift weniger in ihrem wissenschaftlichen Inhalt, sondern vielmehr darin, wie dieser gestaltet und dargeboten wird. „Das Neue an der ,Summa‘ ist also nicht der Inhalt, sondern die Form. Immer hat Pacioli bei Abfassung seines Werkes die praktischen Bedürfnisse, insbesondere die des Kaufmanns, im Auge, und so wählte er eine Form der Darstellung, die verständlich war. Deshalb schrieb er sein Werk nicht in der Gelehrtensprache, sondern in der Volkssprache und suchte die

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trockene Auseinandersetzung des Gegenstandes mit Beispielen, Anekdoten, Sprichwörtern, Zitaten und Sprüchen zu beleben, denn der Lehrer muss nach ihm stets tausenderlei Arten herausfinden, um von dem Lernenden verstanden zu werden“ (Penndorf 1933, S. 59). Fragen nach der Didaktik des Werkes, der Zielgruppe sowie der Verbreitung haben in der modernen Forschung eine Kontroverse ausgelöst (vgl. Hermann, S. 118 ff.). Bellinger gelangt zu folgender Würdigung: „Pacioli erkannte das Prinzip der Doppik und formulierte die doppelte Buchhaltung dem Sinne nach als Kalkül. Es gelang ihm, den gesamten quantifizierbaren Bereich kaufmännischer Tätigkeiten in ein abstimmbares, lückenloses und sogar praktikables System zu fassen. Sein Modell erlaubte es, nicht nur den wissenschaftlichen Stand und die Struktur einer Betriebswirtschaft zu jedem Zeitpunkt darzustellen, sondern auch deren Entwicklung in der Zeit wiederzugeben. Für den weiteren Aufstieg der Betriebswirtschaftslehre war diese wissenschaftliche Leistung von unschätzbarem Wert“ (Bellinger 1967, S. 23). Als eine bedeutsame Errungenschaft führen einige Autoren an, dass in P.s Schrift sich erstmals die Trennung von privatem Haushalt und Betrieb nachweisen ließe, welche die Voraussetzung für die Entwicklung der am Gewinn orientierten kapitalistischen Unternehmung war (vgl. z. B. Wöhe, S. 47; Bellinger, S. 22). Nach Brockhoff könne dieser Auffassung jedoch kaum gefolgt werden, da „im Inventar aber auch Kleidung, Betten, Wäsche oder Tischgeschirr aufgeführt werden sollen“ (S. 111). Außerdem kritisiert Dieter Schneider, dass Paciolis Darstellung „in vielem hinter dem zurück [bleibt], was schon mehr als hundert Jahre zuvor oberitalienische Kaufleute praktizierten.“ So seien beispielsweise schon die Rechnungsbücher der Stadt Genua, die ab 1340 erhalten sind, in doppelter Buchhaltung geführt (vgl. Schneider 2001, S. 78). In dem Zusammenhang wird zuweilen der Vorwurf erhoben, dass es sich bei der Schrift von P. um ein Plagiat handele. Diesen Vorwurf lässt Löffelholz (1935) nicht gelten. Er sieht darin vielmehr eine jener „Sensationstheorien“, denen auch Shakespeare und Homer ausgesetzt gewesen seien und lässt „darum den Ruhm, die Buchhaltung zum ersten Male dargestellt zu haben, ungeschmälert dem Franziskanermönch Luca Pacioli.“ Er sei „einer der stärksten Geister der Renaissance“ gewesen (S. 142 f.) und habe weit über seine Zeit hinaus gewirkt: „Der Buchhaltungstraktat des gelehrten Mönches hat einen außerordentlichen Einfluß auf die gesamte Buchhaltungsliteratur der Renaissance gehabt. Er wird sogar noch im 17. und 18. Jahrhundert von italienischen Schriftstellern als Lehrbuch empfohlen“ (S. 146).

Wichtige Publikationen • Summa de arithmetica, geometria, proportioni et proportionalita, 1494 • (daraus: Abhandlung über die Buchhaltung, übers. v. Balduin Penndorf, Stuttgart 1933)

Literatur

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Literatur Bellinger (1967), S. 22 f. M. Bitz: Schöpfungswille und Harmoniestreben des Renaissancemenschen: Luca Pacioli und die Folgen, in: Winkeljohann, N. et al. (Hrsg.): Rechnungslegung, Eigenkapital und Besteuerung – Entwicklungstendenzen. Festschrift für D. Schneeloch, München 2007, S. 147–166 Brockhoff (2014), S. 109 ff. K. F. Bussmann: Luca Pacioli, in: HWB (1960), Bd. 3, Sp. 4271 f. Hesse (2009), S. 404 f. C. Helferich: Geschichte der Philosophie, 4. Aufl., Stuttgart/Weimar 2012 T. Hermann: Luca Pacioli im Lichte von Betriebswirtschaftslehre und Economia Aziendale, in: Matiaske/Weber (2018), S. 85–129 W. Hoffmann: Algebra des Kapitals, in: Die Zeit, Nr. 22/1993 V. Linß (2014), S. 16–19 Löffelholz (1935), S. 140–148 M. North (Hrsg.): Deutsche Wirtschaftsgeschichte – Ein Jahrtausend im Überblick, C.H. Beck, München 2000 B. Penndorf: Geschichte der Buchhaltung in Deutschland, Leipzig 1913 B. Penndorf: Luca Pacioli, in: Zeitschrift für Handelswissenschaft und Handelspraxis, Jg. 14, 1921 B. Penndorf (Hrsg.): L. Pacioli: Abhandlung über die Buchhaltung. Mit einer Einleitung über die italienische Buchhaltung im 15. Jahrhundert und Paciolis Leben und Werk, Stuttgart 1933 D. Schneider: Betriebswirtschaftslehre, Bd. 4: Geschichte und Methoden der Wirtschaftswissenschaft. Oldenbourg, München/Wien 2001 P. Spufford: Handel, Macht und Reichtum – Kaufleute im Mittelalter. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2004 E. Weber: Literaturgeschichte der Handelsbetriebslehre, Tübingen 1914 Wöhe (1978), S. 47 H. Wußing: 6000 Jahre Mathematik, Berlin/Heidelberg 2008, S. 318–321 J. H. Zedler (Hrsg.): Grosses vollständiges Universal-Lexicon Aller Wissenschafften und Künste, Bd. 26, Stichwort „Paciolus, Lucas“, Leipzig/Halle 1740, Sp. 104

Bild von Pacioli B. Penndorf: Geschichte der Buchhaltung in Deutschland, Leipzig 1913, S. 41.

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Luther, Martin

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Wächter, Ökonomen auf einen Blick, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29069-6_7

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Leben & Karriere • Luther wurde als Sohn eines Bergmanns geboren. Er besuchte zunächst die Stadtschule (1488) und die Lateinschule (1491) in Mansfeld, später die Lateinschule in Magdeburg (1497) und die Pfarrschule in Eisenach (1498). Als der Vater als Teilhaber an einem Hüttenwerk allmählich zu einem gewissen Wohlstand gelangt war, konnte er seinem Sohn ein Studium ermöglichen. • Von 1501 bis Anfang 1505 studierte L. an der Universität in Erfurt. Hier erwarb er Kenntnisse in den „Septem artes liberales“ (Grammatik, Rhetorik, Dialektik, Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie) und zudem in aristotelischer Logik und Ethik. Sein philosophisches Studium schloss er im Januar 1505 mit dem Magister ab. • Im Frühjahr 1505 nahm L. auf Wunsch des Vaters das Studium der Jurisprudenz auf, welches er jedoch schon nach zwei Monaten abbrach. • Am 17. Juli 1505 trat L. in das Augustinerkloster in Erfurt ein und führte fortan ein strenges Mönchsleben. • 1507 wurde L. in Erfurt zum Diakon geweiht und empfing die Priesterweihe. Anschließend nahm er das Studium der Theologie auf, in dessen Verlauf er sich mit der Lehre des englischen Philosophen und Theologen Wilhelm von Ockham, dem Hauptvertreter des Nominalismus, auseinandersetze und so wesentliche Anregungen empfing und in  seinem Denken beeinflusst wurde (z.  B. die scharfe Trennung von Vernunft und Glaube). • 1508 wurde L. nach Wittenberg versetzt und übernahm den Lehrstuhl für Moralphilosophie. • Im März 1509 erwarb L. den ersten theologischen Grad (Baccalaureus biblicus) an der Universität Wittenberg. Bereits ein Semester später wurde er Baccalaureus senten­tiarius. • Im November 1510 wurde L. zusammen mit einem Nürnberger Bruder in Ordensangelegenheiten nach Rom geschickt. Im März 1511 kehrte er – entsetzt von der geistlichen Verwahrlosung der römischen Kirche unter Papst Julius II. – zurück. • Im Oktober 1512 promovierte L. an der Universität Wittenberg zum Doktor der Theologie und trat kurz darauf die Professur für Bibelauslegung an. • Am 31. März 1515 erließ Papst Leo X. die sogenannte Ablassbulle, wonach die Christen sich gegen Zahlung eines Ablasses von ihren Sünden freikaufen konnten. Das Geld, das die Kirche durch den Verkauf der Ablassbriefe einnahm, wurde zur Finanzierung des Neubaus der Peterskirche benötigt bzw. zur Tilgung der Schulden, die die Kirche bei der reichen Kaufmannsfamilie Fugger hatte. L. übte heftige Kritik an diesem Ablasshandel. Auch in der Bevölkerung machte sich zunehmend Unmut breit über den ausschweifenden und pompösen Lebensstil der Kirchenvertreter. „Der Reichtum der Klöster und das luxuriöse Leben der Bischöfe, die Ländereien und Einkünfte anhäuften, verärgerten Adel, Bürger und Bauern“ (Delouche 2012, S. 251). L. vertrat die Ansicht, dass man sich nicht von den Sünden freikaufen könne; vielmehr gelte die Gnade

Leben & Karriere



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Gottes jedem, der sie gläubig aufnimmt. Dadurch sah die katholische Kirche ihre Macht gefährdet. Am 31. Oktober 1517 stellte L. seine 95 Thesen zum Ablasshandel auf, die er – der Überlieferung nach – auch an die Tür der Wittenberger Schlosskirche geschlagen haben soll. Bereits einige Wochen später waren die Thesen in gedruckter Form in Umlauf. 1518 wurde gegen L. ein Ketzerprozess eröffnet. Auf dem Reichstag zu Worms wurde 1521 über den bereits von der Kirche als Ketzer gebannten L. auch noch die Reichsacht verhängt, weil er sich weigerte, seine Ansichten zu widerrufen. Der sächsische Kurfürst ließ L. auf die Wartburg in Sicherheit bringen und gewährte ihm Asyl. Dort begann L. im Mai 1521 das Neue Testament ins Deutsche zu übertragen. 1522 kehrte L. nach Wittenberg zurück und baute seine Lehre weiter aus. Zudem war er auf dem Gebiet des Kirchen-, Schul- und Armenwesens aktiv. Seit 1524 kam es an vielen Orten im Reich vermehrt zu Unruhen und Aufständen der Bauern, die sich zum Teil auf L. beriefen. Deren Widerstand gegen feudale Ausbeutung und Unterdrückung (siehe Abb. 7.1) mündete schließlich im Deutschen Bauernkrieg von 1525/1526. Sie forderten, ihren Pfarrer selbst wählen und den Zehnt selbst einziehen zu dürfen. Aus dieser Abgabe sollten auch weitere Ausgaben für die Gemeinde bestritten werden. Ferner forderten sie freie Jagd, freien Fischfang und die Rückerstattung des Gemeindelandes.

Abb. 7.1  Bauern bei der Fronarbeit. Briefmarke der DDR zum 450. Jahrestag des Bauernkrieges, Ausgabetag 11.02.1975. (Quelle: Wikimedia Commons)

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7  Luther, Martin

Die sozialen Forderungen der Bauern sah L. zwar als berechtigt an; jedoch verurteilte er scharf deren Vorgehen als eine Gefahr für das Evangelium und wehrte sich dagegen, dass sich die Bauern auf ihn beriefen. In seiner Schrift Wider die Mordischen und Reubischen Rotten der Bawren ermutigte L. die Fürsten dazu, die Bauernaufstände mit Gewalt niederzuschlagen: „Man soll sie zerschmeißen, würgen, stechen, heimlich und öffentlich, wer da kann, wie man einen tollen Hund erschlagen muss.“ Der Kampf gegen die Obrigkeit kostete rund 70.000 Bauern das Leben. • Bis kurz vor seinem Tode hielt L. Vorlesungen in Wittenberg. Völlig erschöpft durch seine Tätigkeiten beendete er seine letzte Vorlesung am 17. November 1545 mit den Worten: „Ich kann nit mehr, ich bin schwach, orate Deum pro me, bittet Gott für mich, daß er mir ein gutes, seliges Stündlin verleihe.“ • Am 23. Januar 1546 reiste L. nach Eisleben, wo er am 18. Februar verstarb.

Werk & Wirkung • Luther wirkte in der Epoche des niedergehenden Feudalismus und der Herausbildung des aufkommenden Frühkapitalismus. In seinen Schriften, die auch einen bedeutenden Einfluss auf die Entwicklung der deutschen Sprache hatten, hat er sich mehrfach mit ökonomischen Fragestellungen auseinandergesetzt. Allerdings sind seine diesbezüglichen Ausführungen nicht das Ergebnis systematischer Reflexion; vielmehr reagierte er auf Begebenheiten, die er in seiner Umwelt wahrnahm oder auf Probleme, die vom Volk an ihn (in seiner Funktion als Seelsorger) herangetragen wurden. Seine ökonomischen Ansichten sind ethisch-religiös geprägt und drücken eine kritische Haltung aus gegenüber den aufkommenden frühkapitalistischen Produktionsverhältnissen; die Naturalwirtschaft und die einfache Warenproduktion hingegen verteidigte er. • In seinen Schriften richtete L. sich gegen den Wucher, den Zins, den Luxus, gegen „Monopolia“ und das Handelskapital (siehe Abb. 7.2). In dem Zusammenhang entwickelte er seine Vorstellungen vom „gerechten Preis“, die in der Tradition von → Aristoteles und Thomas von Aquin stehen. Er hob die Gleichheit aller menschlichen Arbeit vor Gott hervor und verurteilte feudalen Müßiggang und klerikalen Parasitismus. Den Missbrauch menschlicher Arbeit zu Profitzwecken lehnte er ab. Er prangerte die Finanz- und Ausbeutungspraktiken der katholischen Kirche an und suchte nach Möglichkeiten, soziale und ökonomische Missstände in Übereinstimmung mit der Bibel zu lösen. • Das ökonomische Hauptwerk von L. ist die Schrift Von Kaufshandlung und Wucher aus dem Jahr 1524, die im 16. Jh. siebenmal gedruckt worden ist. Darin formuliert er im Predigtstil zentrale Ansichten für ein christliches Handeln im Wirtschaftsleben. Den (evangelisch gesinnten) Kaufleuten, die einerseits Gewinne erwirtschaften müssen, andererseits aber ihre Mitmenschen nicht übervorteilen sollen, werden Ratschläge erteilt,

Werk & Wirkung

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wie sie ihre Handelsgeschäfte im Einklang mit der christlichen Lehre betreiben können. Deutlich wird insbesondere, dass Luthers Idee vom „gerechten Preis“ auf eine optimale Güter- und Einkommensverteilung abzielt, die sowohl das Allgemeinwohl als auch eine für Käufer- und Verkäuferseite akzeptable Preisgestaltung berücksichtigt. „… Denn es muß ja so sein, daß man unter den Kaufleuten sowohl wie unter andern Menschen noch etliche finde, die Christus zugehören und lieber mit Gott arm als mit dem Teufel reich sein wollten, wie Ps. 37, 16 sagt: »Das Wenige, das ein Gerechter hat, ist besser als der Überfluß vieler Gottloser.« Wohlan, um derselben willen müssen wir reden. Das kann man aber nicht leugnen, daß Kaufen und Verkaufen ein notwendig Ding ist, das man nicht entbehren und gut christlich brauchen kann, besonders in den Dingen, die zum täglichen Bedarf und in Ehren dienen. Denn so haben auch die Patriarchen Vieh, Wolle, Getreide, Butter, Milch und andere Güter verkauft und gekauft. Es sind Gottes Gaben, die er aus der Erde gibt und unter die Menschen austeilt. Aber der ausländische Kaufhandel, der aus Indien und dergleichen Ware herbringt (wie solch kostbares Seiden- und Goldwerk und Ge-

Abb. 7.2  Der Goldwäger und seine Frau. Die Frau blättert in der auf dem Tisch liegenden Bibel, aber ihren Blick richtet sie auf das Geld. Öl auf Holz von Quentin Massys, 1514. (Quelle: Wikimedia Commons)

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7  Luther, Martin würz), die nur zur Pracht und keinem Nutzen dient und Land und Leuten das Geld aussaugt, sollte nicht zugelassen werden, wenn wir ein Regiment und Fürsten hätten. Doch hiervon will ich jetzt nicht schreiben, … Wir wollen hier von Mißbrauch und Sünden des Kaufhandels reden, soweit es das Gewissen betrifft. Wie es des Beutels Schaden betrifft, dafür lassen wir Fürsten und Herren sorgen, daß sie ihre Pflicht daran ausrichten. Erstens haben die Kaufleute unter sich eine allgemeine Regel, das ist ihr Hauptspruch und Grund aller Wucherkniffe, daß sie sagen: Ich darf meine Ware so teuer geben, wie ich kann. Das halten sie für ein Recht, da ist dem Geiz der Raum gemacht und der Hölle alle Tür und Fenster aufgetan. Was ist das denn anders gesagt als soviel: Ich frage nichts nach meinem Nächsten? Hätte ich nur meinen Gewinn und Geiz voll, was geht michs an, daß es meinem Nächsten zehn Schaden auf einmal täte? Da siehst du, wie dieser Spruch so stracks unverschämt nicht allein gegen die christliche Liebe, sondern auch gegen das natürliche Gesetz geht. … Es sollte nicht so heißen: Ich darf meine Ware so teuer geben, wie ich kann oder will, sondern so: Ich darf meine Ware so teuer geben, wie ich soll, oder wie es recht und billig ist. Denn dein Verkaufen soll nicht ein Werk sein, das frei in deiner Macht und Willen ohne alles Gesetz und Maß steht, als wärest du ein Gott, der niemand verbunden wäre. Sondern weil solches dein Verkaufen ein Werk ist, das du gegen deinen Nächsten übst, soll es durch solch Gesetz und Gewissen begrenzt sein, daß du es ohne Schaden und Nachteil deines Nächsten übst. Und du sollst viel mehr acht darauf haben, wie du ihm nicht Schaden tust, als wie du Gewinn davon trügest. … Da fragst du dann: Ja, wie teuer soll ichs denn geben? Wo treffe ich das Recht und die Billigkeit, daß ich meinen Nächsten nicht übervorteile oder überteure? Antwort: Das wird freilich mit keiner Schrift noch Rede jemals festgesetzt werden können, es hats auch noch niemand vorgenommen, eine jegliche Ware festzusetzen, (im Preis) zu steigern oder zu erniedrigen. … Nun ists aber billig und recht, daß ein Kaufmann an seiner Ware so viel gewinne, daß seine Kosten bezahlt, seine Mühe, Arbeit und Gefahr belohnt werde. … Doch, daß wir nicht ganz dazu schweigen, wäre das die beste und sicherste Weise, daß die weltliche Obrigkeit hier vernünftige, redliche Leute einsetzte und verordnete, die alle Ware mit ihren Kosten überschlügen und danach das Maß und Ziel festsetzten, was sie gelten sollte, daß der Kaufmann zurechtkommen und seine ausreichende Nahrung davon haben könnte, wie man an etlichen Orten (die Preise für) Wein, Fisch, Brot und dergleichen festsetzt. … Weil denn diese Ordnung nicht zu erhoffen ist, ist das der nächste und beste Rat, daß man die Ware gelten lasse, wie sie der allgemeine Markt gibt und nimmt … Wo aber die Ware nicht festgesetzt noch gang und gäbe ist und du sie zum ersten festsetzen sollst und mußt, hier kann man wahrlich nicht anders lehren, man muß es deinem Gewissen anheimstellen, daß du zusehest und deinen Nächsten nicht übervorteilest und nicht den Geiz, sondern deine ausreichende Nahrung suchest. … Darum mußt du dir vornehmen, nichts als deine ausreichende Nahrung in solchem Handel zu suchen, danach Kosten, Mühe, Arbeit und Gefahr rechnen und überschlagen und alsdann die Ware selbst festsetzen, (im Preis) steigern oder erniedrigen, auf daß du solcher Arbeit und Mühe Lohn davon habest. … Wie hoch aber dein Lohn zu schätzen sei, den du an solchem Handel und Mühe gewinnen sollst, kannst du nicht besser errechnen und erschließen, als wenn du die Zeit und Größe der Arbeit überschlägst und einen gewöhnlichen Tagelöhner als Vergleich nimmst, der sonst irgendwo arbeitet und siehst, was derselbe an einem Tag verdient. Dementsprechend berechne, wieviel Tage du an der Ware, sie zu holen und zu erwerben dich gemüht und wie große Mühe und Gefahr du darin ausgestanden habest. Denn große Mühe und viel Zeit(verlust) soll auch desto größern und mehr Lohn haben. Näher und besser und bestimmter kann man in dieser Sache nicht reden noch lehren. …

Literatur

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(Quelle: Luther Werke, Bd.  7, hrsg. von K.  Aland, Göttingen 1991, S.  263–282, hier: 264–269, stark gekürzt)“

• Der Theologe B. Lohse sieht in Luthers Hauptwerk Von Kaufshandlung und Wucher zwar ein Zeichen für L.s sozialpolitisches Interesse, lehnt es aber ab, ihn auf Grund dieser Schrift sowie anderer Äußerungen als Nationalökonomen zu würdigen. „Luthers Vorschläge“, so Lohse, „basieren nicht auf einer näheren Kenntnis der wirtschaftlichen Zusammenhänge, wie sie damals in manchen Kreisen durchaus bekannt waren“ (vgl. Lohse, S.  151). Zu anderer Auffassung gelangt der Betriebswirt E.  Leitherer (1961, S. 32): „Dieses kleine Buch ist aber noch das bedeutendste und überlegteste Schriftwerk unter der ganzen Literatur der Reformationszeit über den Handel, in welchem eine gewisse theoretische Analyse (auf dem Gedankengut der Scholastik fußend) enthalten ist.“ Lehmann fasst die die Bedeutung Luthers (aus marxistischer Sichtweise) so zusammen: „Er trat für einen wirtschaftlichen Aufschwung des Bürgertums ein, überprüfte dabei die überkommenen, feudalen ökonomischen Vorstellungen, sonderte einige aus, formte andere um und paßte sie den damaligen ökonomischen Interessen der aufstrebenden bürgerlichen Schichten an. Dabei ging es ihm vor allem um eine allmähliche wirtschaftliche und soziale Entwicklung ohne revolutionäre Erschütterungen“ (in Meißner 1978, S. 45).

Wichtige Publikationen • • • •

Ein Sermon von dem Wucher (kleiner Sermon), 1519 Ein Sermon von dem Wucher (großer Sermon), 1520 Von Kauffshandlung und Wucher, 1524 Vermahnung an die Pfarrherrn wider den Wucher zu predigen, 1540

Literatur F. Delouche: Das europäische Geschichtsbuch, Stuttgart 2012 HDSW, Bd. 7 (1961), S. 64–67 Issing (2002), S. 32–33 Krause/Graupner/Sieber (1989), S. 316–319 E. Leitherer: Geschichte der Handels- und Absatzwirtschaftlichen Literatur, Köln/Opladen 1961 B. Lohse: Martin Luther. Eine Einführung in sein Leben und sein Werk, 3. Aufl., München 1997 H. Meißner (Hrsg.): Geschichte der politischen Ökonomie. Grundriß. Dietz, Berlin (Ost) 1978 Roscher (1874), S. 54–69

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Mun, Thomas

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Wächter, Ökonomen auf einen Blick, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29069-6_8

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8  Mun, Thomas

Leben & Karriere • Mun, der aus einer Kaufmannsfamilie stammt, verlor früh seinen Vater und wurde in der Familie seines Stiefvaters – ein reicher Kaufmann und Mitbegründer der Ostindischen Kompanie – erzogen. Im Geschäft seines Stiefvaters absolvierte M. eine kaufmännische Lehre. • M. stand zunächst im Dienste der Levantischen Handelskompanie, später der Ostindischen Kompanie. Deren Gründung im Jahr 1599/1600 in London geht zurück auf einen Freibrief, den Königin Elisabeth I. Londoner Kaufleuten ausstellte. „Zu Beginn ihrer Tätigkeit unter der Herrschaft Elisabeths“, schreibt Karl Marx, „erhielt die Ostindische Kompanie, um ihren Handel mit Indien gewinnbringend fortführen zu können, die Erlaubnis, alljährlich Silber, Gold und ausländische Münzen im Werte von 30000 Pfd. St. auszuführen. Das bedeutete den Bruch mit allen Vorurteilen des Zeitalters und Thomas Mun mußte in ‚A Discourse on Trade from England into the East Indies‘ die Grundlagen des Merkantilismus entwickeln“ (MEW, Bd. 9, S. 152 f.). Diese (staatlich privilegierte) Handelsgesellschaft war insbesondere in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts sehr erfolgreich. Sie zählte zu den bedeutendsten Handelsgesellschaften, trat in Indien als politische Macht auf und legte den Grundstein für die britisch-indische Kolonie (siehe Abb. 8.1 und 8.2). • 1615 wurde M. in den Vorstand der Ostindischen Kompanie gewählt. Er vertrat die Interessen der Gesellschaft in Parlament und Presse und wurde zu einem einflussreichen Londoner Geschäftsmann. Ein Zeitgenosse schrieb über M.: „Seine Kenntnisse im Ost­ indienhandel, seine Urteile über den Handel überhaupt, sein eifriges Schaffen in der Heimat und seine Auslandserfahrung haben ihn mit Eigenschaften geschmückt, die man jedem Menschen nur wünschen kann, die man aber in diesen Zeiten schwerlich unter den Kaufleuten findet“ (zit. n. Anikin, S. 53). • 1622 wurde M., der, wie sein Sohn schrieb, „a famous among merchants“ („ein ausgezeichneter Kaufmann“) war, in einen Expertenrat berufen. Diese Sonderkommission, die sich mit Fragen des Handels befasste, wurde auf Initiative Jakob I. ins Leben gerufen. Aus den zahlreichen Streitschriften, Petitionen und den Diskussionen, die in dieser Kommission geführt wurden, entstanden schließlich die Grundsätze der Wirtschaftspolitik des englischen Merkantilismus: Der Export von Rohstoffen (insbesondere von Wolle) wurde verboten; die Ausfuhr von Fertigerzeugnissen wurde gefördert. Der Import ausländischer Produkte wurde durch hohe Zölle eingeschränkt, mit dem Ziel, die Konkurrenz zu schwächen und die einheimischen Manufakturen zu fördern. Die Flotte wurde ausgebaut, um den englischen Handel zu schützen.

Leben & Karriere

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PERSIEN TIBET MOGULREICH INDIEN

Hoara Kalkutta

Arabisches Meer

BURMA

Surat Bombay Masulipatam Madras Golf von Bengalen

Ceylon Die Flagge der englischen Indischer Ozean

Ostindien-Kompanie von 1600 bis 1707

Abb. 8.1  Wichtige Stützpunkte der englischen Ostindien-Kompanie im 17. Jahrhundert. (Quelle: Eigene Darstellung) Abb. 8.2  Titelkupfer zu Johann Salomon Semler: Allgemeine Geschichte der ost- und westindischen Handelsgesellschaften in Europa, Halle 1764. (Quelle: J. S. Semler, 1764)

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8  Mun, Thomas

Werk & Wirkung • Mun betrachtete – ebenso wie andere Vertreter des späteren (englischen) Merkantilismus – nicht nur die einfache Geldzirkulation, sondern erweitert seinen Blick auch auf die Waren- und Geldbewegung im Außenhandel. Macht und Reichtum eines Landes, so die merkantilistische Auffassung, wird bestimmt durch die Menge an Gold und Silber. Um diese Menge zu erhöhen, war England auf einen Zufluss aus anderen Ländern angewiesen. Während z. B. die Spanier die Möglichkeit hatten, ihre Kolonien in Lateinamerika auszuplündern, erkannten die englischen Merkantilisten, dass durch Exporte Edelmetalle in das Land fließen. So rückte M. die Forderung nach einer aktiven Handelsbilanz (der Wert der Exporte ist höher als der Wert der Importe) und einer Maximierung des Handelsbilanzüberschusses in den Vordergrund. Seine Ansichten schrieb er in zwei kleineren Abhandlungen nieder, die „in den goldenen Fonds der ökonomischen Literatur eingegangen sind“ (Anikin, S. 54). • Das erste Werk soll schon 1609 erschienen sein; erhalten ist jedoch nur die (Wieder-) Auflage von 1621. Es trägt den Titel A discourse of trade from England unto the East-indies, answering to diverse objections, which are usually made against the same (dt.: Gedanken zum Handel Englands mit Ost-Indien mit einer Antwort auf verschiedene Erwägungen, die man gewöhnlich gegen ihn richtet). Diese Streitschrift war gegen die Kritiker der Ostindischen Handelsgesellschaft gerichtet. M. widerlegte deren Behauptung, dass die Handelsaktivitäten der Kompanie – die Einfuhr indischer Waren und deren Bezahlung mit englischem Silber (d. h. dessen Ausfuhr) – England schaden würden. Er wies nach, dass das Edelmetall durchaus nicht verloren gehe, sondern sogar mit größerem Zuwachs nach England zurückfließe. Denn würde man die Waren nicht mit den eigenen Schiffen der Handelsgesellschaft importieren, müssten die Waren zu einem höheren Preis von den Türken und Levantinern gekauft werden. Außerdem würden die Waren an andere Länder weiterverkauft, wodurch ebenfalls wieder Gold und Silber nach England flößen. Die große Bedeutung dieser Streitschrift sieht Anikin insbesondere darin, dass in ihr „die Argumente des reifen Merkantilismus zum ersten Mal systematisch dargelegt“ (S. 55) sind. • Im Jahre 1628 arbeitete M. eine Bittschrift der Ostindischen Kompanie an das Parlament aus: The petition and remonstrance to Parliament of the governor and company of merchants of London trading to the East Indies. • Noch größere Berühmtheit hat M. mit seinem zweiten Werk erlangt, welches er um 1630 verfasste, das aber erst posthum von dessen Sohn im Jahr 1664 herausgegeben wurde: Englands treasure by forraign trade. Or, the balance of our forraign trade is the rule of our treasure (dt.: Englands Schatz durch den Außenhandel). Denn in dieser Schrift legt er seine Ansichten „bei weitem vollständiger und systematischer“ dar (vgl. Roscher, S. 45). In der Einleitung gibt M. eine Beschreibung der Eigenschaften, die ein guter Kaufmann – diesen nennt er den „steward of the kingdom store“ – haben sollte. Der Hauptteil des Buches teilt sich im Wesentlichen in zwei Rubriken: einen theoretischen Teil, der sich mit dem Wesen der Handelsbilanz befasst, sowie einen praktischen Teil, in

Werk & Wirkung

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dem Vorschläge unterbreitet werden, wie diese für England günstig gestaltet werden kann. M. befürwortet den Handel mit fernen Ländern und bezweifelt nicht, dass Wareneinfuhr und Geldausfuhr unter Umständen nützlich sein können. Eine zu große Geldmenge im Land zu haben, sei nicht wünschenswert, weil dadurch sich die Waren nur verteuern und so die Ausfuhr erschweren würden. Er kritisiert die alten englischen Gesetze, die den Handel hemmen, so wie er überhaupt sämtliche Handelshemmnisse missbilligt. Beispielsweise zählt er hierzu eine Verschlechterung der Münzen sowie deren nominelle Erhöhung, hohe Zinsen und hohe Steuern. Steuererhöhungen billigt er nur bei Kriegsgefahr. Als Vorbilder im Bereich des Handels nennt er Holland, Venedig, Genua, Toscana (vgl. Roscher, S. 45–47). • Mun wandte sich gegen die zu seiner Zeit vorherrschende Auffassung, dass die Ausfuhr von Geld dem Staat schaden würde: „Es wäre äußerst gewinnbringend, Geld wir jede andere Ware auszuführen. Wenn es nur durch den Handel geschieht, kann der Besitz an Geld im Lande nur vermehrt werden (Mun, zit. n. Behrens, S. 90).“

Nicht das Verbot der Geldausfuhr, sondern gerade die Förderung des Außenhandels trage zur Vermehrung des Reichtums bei, „doch soll man sich stets das erste und oberste Gesetz als Richtschnur vor Augen halten: man muß in jedem Jahre mehr an Wert an das Ausland verkaufen, als man selbst verzehrt“ (Mun, zit. n. Behrens, S. 92). Eine besondere Rolle spielt dabei der Zwischenhandel, denn durch diesen lasse sich Profit erzielen und eine aktive Handelsbilanz erreichen: „… schickte man z. B. 100.000 Pfund Sterling nach Ostindien, kaufte dort dafür Pfeffer, führte diesen zurück und brächte ihn von England nach Italien oder der Türkei, so wird der Nutzen sicherlich 700.000 Pfund Sterling betragen, besonders, wenn man in Betracht zieht, daß die hohen Kosten solcher Unternehmungen, als da sind Fracht, Löhne, Lebensmittel, Versicherung, Zinsen, Zölle und Abgaben und dergl., insgesamt sowohl dem König als auch dem Reiche zufließen. (Mun, zit. n. Behrens, S. 90).“

• M. hält eine Geldausfuhr für nützlich, weil sie den Außenhandel belebe. Welche Zusammenhänge zwischen dem Außenhandel (Exporte und Importe) und der Geldmenge bzw. Goldmenge bestehen, erläutert M. so: „Die Ausfuhr von Edelmetallen ist unweigerlich darauf zurückzuführen, daß mehr Waren eingeführt als ausgeführt werden. Das ist so notwendig wahr, daß kein Gesetz, kein Handelsvertrag, kein Verlust für die Kaufleute … oder Gefahr für die Exporteure es verhindern kann; und wenn es in einem Punkte verhindert wird, so muß es gleichwohl an einem anderen zum Durchbruch kommen (zit. n. Meißner, S. 75).“

• Und zum umgekehrten Fall schreibt er: „Wenn aber diese Überschwemmung mit fremden Waren im richtigen Verhältnis zu unserer Warenausfuhr unserer Produkte in fremde Länder gehalten wird, dann muß …, auch wenn der Wechselkurs frei beweglich ist, je nach Belieben der Kaufleute, die ihn festsetzen, auch

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8  Mun, Thomas wenn … allen Menschen die Ausfuhr von Edelmetallen gestattet wird, dennoch sich infolge des bilanzmäßigen Überschusses eine Vorratserhöhung an Edelmetallen ergeben, durch eine Naturnotwendigkeit, die allen Widerstand bricht (zit. n. Meißner, S. 75).“

• Welche Wirkungen die Gedanken Muns entfalteten, beschreibt bereits → Adam Smith in seinem Wealth of Nations: „Der Titel von Muns Buch Englands Schatz durch den Außenhandel wurde zu einer Maxime politischer Ökonomie nicht nur in England, sondern auch in allen anderen handeltreibenden Ländern.“ → Friedrich Engels schreibt in seinem Anti-Dühring über den Discurse of Trade: „Diese Schrift hat gleich in ihrer ersten Ausgabe die spezifische Bedeutung, daß sie gegen das ursprüngliche, damals noch als Staatspraxis in England verteidigte Monetarsystem gerichtet ist, also die bewußte Selbstscheidung des Merkantilsystems von seinem Muttersystem darstellt. Bereits in ihrer ersten Form erlebte die Schrift mehrere Auflagen und übte direkten Einfluß auf die Gesetzgebung aus. In der vom Verfasser gänzlich umgearbeiteten und nach seinem Tod erschienenen Auflage von 1664: ‚Englands Treasure etc.‘ blieb sie für weitere hundert Jahre merkantilistisches Evangelium. Hat der Merkantilismus also ein epochemachendes Werk ‚als eine Art Inschrift am Eingang‘ so ist es dieses … “ (MEW, Bd. 20, S. 215 f.). Stavenhagen kommt zu der Auffassung: „Muns Anschauungen sind für die Entwicklung des späteren Merkantilismus von erheblicher Bedeutung gewesen und haben auch die Vertreter des deutschen Kameralismus beeinflußt. Manche seiner Forderungen sind nach seinem Tode verwirklicht worden, unter anderem die Aufhebung des Geldausfuhrverbotes in England“ (HdSW, Bd. 7, S. 479). Söllner bezeichnet das Werk von M. als „charakteristischste Darstellung der wirtschaftlichen Grundposition des Merkantilismus“ (S. 9). Anikin gelangt zu dem Befund, dass – ebenso wie die anderen Verfasser merkantilistischer Schriften – „auch Mun weit davon entfernt [war], irgendein ‚System‘ ökonomischer Auffassungen zu schaffen. Doch hat das ökonomische Denken seine eigene Logik und Mun hat notwendigerweise mit theoretischen Begriffen operieren müssen, die die Realität widerspiegelten: mit Ware, Geld, Profit, Kapital … Und er bemühte sich recht und schlecht, einen ursächlichenZusammenhang zwischen ihnen zu finden“ (S. 56).

Wichtige Publikationen • A discourse of trade from England unto the East Indies, 1609/1621 • The petition and remonstrance to Parliament of the governor and company of merchants of London trading to the East Indies, 1628 • England’s treasure by forraign trade, 1664 (dt.: Englands Schatz durch den Außenhandel, 1911)

Literatur

Literatur Anikin (1974), S. 51–56 Behrens (1962), S. 90–95 Galbraith (1988), S. 58–59 HdStW (1900), Bd. V, S. 934 HdSW, Bd. 7 (1961), S. 478–480 Hesse (2009), S. 372 Krause/Graupner/Sieber (1989), S. 378–379 Meißner (1978), S. 62–76 Roscher: Zur Geschichte der englischen Volkswirthschaftslehre, Leipzig 1851, S. 44–47 Söllner (2015), S. 9–11

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Savary, Jacques

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Wächter, Ökonomen auf einen Blick, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29069-6_9

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9  Savary, Jacques

Leben & Karriere • Nach dem Tode des Vaters wurde Savary zu seinem Onkel – einem angesehenen Kaufmann – nach Paris geschickt, um ihn dort getreu der Familientradition zum Kaufmann ausbilden zu lassen. Seine Ausbildung war breit angelegt und umfasste neben der Lehre in einer sehr vornehmen Gilde auch Tätigkeiten bei einem Anwalt und einem Notar. • Nachdem S. als Kaufmann im Tuchgroßhandel zu Wohlstand gekommen war, zog er sich von den Handelsgeschäften zurück, um ein öffentliches Amt zu bekleiden. Bereits kurze Zeit später hatte er eine hohe Position inne in der Gesellschaft zur Verwaltung der königlichen Domänen. Zwar verlor er dieses Amt später, doch es dauerte nicht lange, bis er wieder in den Dienst des Königs trat. • Seit 1667 arbeitete S. in der Staatskanzlei, wo Colbert – Merkantilist und Wirtschaftsminister Ludwigs des XIV. – auf ihn aufmerksam wurde. S. anschließende Gutachterund Beratertätigkeit war so erfolgreich, dass er schließlich in das Conseil de Réforme berufen wurde, welches die Aufgabe hatte, ein einheitliches französisches (Handels-) Recht zu erarbeiten. • Bis zu seinem Tode war S. schriftstellerisch tätig, bekleidete zahlreiche Ämter und diente drei Finanzministern als Berater.

Werk & Wirkung • Im Jahre 1673 erschien die Ordonnance de Commerce, eine Verordnung zum französischen Handelsrecht, an deren Ausarbeitung Savary einen sehr großen Anteil hatte. Seine Leistung war so bedeutend, dass sie auch als Code Savary bezeichnet wurde. Die Ordonnance besteht aus zwölf Kapiteln, in denen folgende Bereiche geregelt werden: Der Code Savary „war ein wichtiger Baustein im Gebäude des französischen Einheitsstaates, indem nunmehr erstmalig eine für das ganze Staatsgebiet geltende Kodifikation des Handelsrechts vorlag“ (Sundhoff, S. 33). Auf ihm baute dann 1807 der Code de Commerce auf. Durch die napoleonische Herrschaft breitete sich dieser in Europa aus und beeinflusste auch die Entstehung des deutschen Handelsrechts. Auch die Regelungen des deutschen HGB von 1897 weisen noch Ähnlichkeiten mit dem Code Savary auf. • Savarys Hauptwerk Le Parfait Negociant (Der vollkommene Kauff- und Handels-­ Mann), in dem das gesamte kaufmännische Wissen der damaligen Zeit wiedergegeben wird, erschien im Jahre 1675 und erlebte über 20 Auflagen in französischer Sprache. S. verarbeitete für dieses Werk umfangreiches Material und bediente sich einer Vielzahl von Quellen. Neben der französischen und italienischen Fachliteratur griff er auch auf seine eigenen Erfahrungen zurück und nutzte Berichte und Unterlagen von Kaufleuten

Werk & Wirkung

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sowie amtliche Dokumente. Die „Genauigkeit und Zuverlässigkeit“, mit der S. dieses Material zusammentrug, machte den Parfait Négociant „zu einer Fundgrube für alle Wissenschaftler, die sich später des Werkes bedienten“ (Sundhoff, S. 38). Der Parfait Négociant sollte ein praktisches Handbuch für den Kaufmann und zugleich ein Lehrbuch für kaufmännische Lehrlinge sein. In dem Vorwort beschreibt S. den Aufbau des Buches gemäß seiner didaktischen Zielsetzung so: „Zu diesem Ende nehme ich ein Kind gleichsam wann es aus der Wiegen kömt/und damit dasselbe von seinen Lehrjahren an desto besser unterwiesen werde/führe ich es zu dem Handkauff/zu grosser Handlung/in die Wechsel-Bänke/Manufacturen und Mess oder Märckte. Ich nehme es mit in frembde Länder/und vermittelst langer Reise in die weit entlegenen Örter/ indem ich es aber also herumb führ/zeige ich ihm alle Gebräuche/welche es in acht nehmen/ und die Dinge so es hingegen meiden muß. Ich weise ihm zugleich aus dem Grund/was entweder rechtmässig oder unrechtmäßig zu der Kauffmannschaft/wie sie auch Nahmen haben mögen/erfordert/und wie die Königlichen Verordnungen/vornemlich die vom Mon. Martio 1673 angewendet wird/auff daß es also in einem so nützlichen und löblichen Beruff sich leiten möge (1676, S. 3).“

Der Inhalt des Parfait Négociant erstreckt sich über nahezu sämtliche Gebiete der Handelswissenschaft. Es werden beispielsweise folgende Themen behandelt: –– die Bedeutung des Handels und der Ausbildung des Kaufmanns –– die rechtliche Stellung des Lehrlings und Verhaltensregeln für diesen –– das Recht des Handlungsgehilfen –– die Warenkunde (insbesondere der Tuchbranche) –– das Handelsrecht –– das Wechselrecht und Fragen des Kredit- und Zahlungsverkehrs –– die Voraussetzungen für die Aufnahme in eine Kaufmannsgilde –– die Führung des Handelsgeschäfts (Betriebsgründung, Ein- und Verkaufspolitik, Buchführung und Inventur) –– der Großhandelsbetrieb –– das Gesellschaftsrecht –– der Außenhandel (Export und Import) –– der Handelsvermittler –– das Konkursrecht. • Wie Sundhoff feststellt, hatte Der vollkommene Kauff- und Handels-Mann „einen überragenden Einfluß auf das Handelsschrifttum, da es die Eigenschaften eines gründlichen Lehrbuches für den Jungkaufmann, eines Nachschlagewerkes für den Handelstreibenden und eines anschaulichen Kommentars zu der ‚Ordonnance de Commerce‘ in sich vereinigte“ (S. 32). Und die Person S. würdigt Sundhoff mit folgenden Worten: „Es sind die Tugenden des Kaufmanns und des Wissenschaftlers, die Savary in sich vereint. Da

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er zudem als handelsrechtlicher Kommentator Autorität erlangte und infolge seiner öffentlichen Funktionen ebenso wie durch seine Beziehungen zu Colbert in volkswirtschaftlichen Zusammenhängen zu denken gewohnt war, besaß er im Rahmen des damals Möglichen alle Fähigkeiten und Kenntnisse, derer ein Ökonom bedurfte, um als merkantilwissenschaftlicher Autor nicht nur seiner Zeit, sondern auch den kommenden Jahrhunderten wertvolle Einsichten zu vermitteln“ (S. 46). Die „Ordonnance de Commerce“ Kapitel I: II: III: IV: V: VI: VII: VIII: IX: X: XI: XII:

Inhalt Lehrlingswesen, Zugang zum Handelsgewerbe, Handelstreibende Agenten und Makler Führung der Bücher, Aufstellung der Inventare Handelsgesellschaften Wechselrecht Darlehen und Zinsen Schuldhaft Gütertrennung Schutzurkunden Abtretungsurkunden Bankrott Handelsgerichtsbarkeit

Wichtige Publikationen • Ordonnance de Commerce, 1673 • „Le Parfait Negociant“, 1675 (dt. Der vollkommene Kauff- und Handels-Mann, 1676)

Literatur Brockhoff (2014), S. 118–120 Sundhoff (1991), S. 27–46 Hesse (2009), S. 481 Weber (1914/1990), S. 12–23

Petty, William

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Wächter, Ökonomen auf einen Blick, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29069-6_10

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Leben & Karriere • William Petty wurde – als drittes von sechs Kindern – als Sohn des Tuchwebers Anthony Petty geboren und wuchs in bescheidenen Verhältnissen auf. In der Stadtschule von Romsey lernte er u. a. Latein und Griechisch. • Im Alter von 14 Jahren heuerte P. als Steward auf einem englischen Handelsschiff an. Nachdem er sich auf dem Schiff ein Bein gebrochen hatte, wurde er an der nächsten Küste ausgesetzt. So landete er in der Normandie im Norden Frankreichs, wo er in eine Jesuitenschule aufgenommen wurde. Er verbrachte dort etwa zwei Jahre. In dieser Zeit erwarb er sich, nach seinen eigenen Worten, „Kenntnisse in Latein, Griechisch und Französisch, in der gesamten herkömmlichen Arithmetik und Astronomie, wie sie für die Navigationskunst wichtig sind“ (zit. n. Anikin, S. 70). • 1640 kehrte P. nach England zurück, schlug sich zunächst als Kartenzeichner durch und stand anschließend für drei Jahre (bis 1643) in den Diensten der britischen Kriegsmarine, der Royal Navy. • Nach dem Ausbruch des englischen Bürgerkrieges zog es P. 1643 auf das europäische Festland. In Holland nahm er das Studium der Medizin auf und studierte in Utrecht, Leiden und Amsterdam. Anschließend ging er nach Paris, wo er den in der Emigration lebenden Philosophen Thomas Hobbes kennenlernte und für ihn als Assistent tätig war. • Nach dem Tode des Vaters 1646 kehrte P. in seine Heimat zurück, um das elterliche Geschäft fortzuführen, verließ Romsey jedoch bereits nach einem Jahr wieder und ging nach London, um sein Medizinstudium abzuschließen. • In London, wo er 1650 zum Doktor der Physik promovierte, machte P. Bekanntschaft mit wichtigen Vertretern aus Wissenschaft, Kultur und Politik und schloss sich dem Kreis um den deutsch-englischen Wissenschaftler Samuel Hartlib (1600–1662) an, der um die Förderung von Wissenschaft und Erziehung bemüht war und mit seinem „unsichtbaren Kollegium“ das Fundament für die Royal Society legte. Hartlib’s Gesellschaft war mit dem Gresham College in London verbunden, wo P. eine Professur für Musiktheorie erhielt. • Schon 1651 gab P. seinen Lehrstuhl auf und wurde als Arzt beim Oberbefehlshaber der englischen Armee in Irland eingestellt. Ein Jahr später ging er nach Irland, wo gerade von Oliver Cromwell der Aufstand der enteigneten katholischen Landbesitzer gegen die englische Siedlungspolitik niedergeschlagen wurde. Es kam zur völligen Umstrukturierung der Besitz- und Herrschaftsverhältnisse in Irland. Mit dem konfiszierten Land „wollte Cromwell die Londoner Geldherren, die den Krieg finanziert hatten, sowie die Offiziere und Soldaten der siegreichen Armee auszahlen. Um das Land verteilen zu können, mußte es vermessen werden, mußte man Karten für eine Landfläche von Millionen acres herstellen“. Dieser schwierigen und nicht ungefährlichen Aufgabe nahm sich P. an. Er vermaß in nur 13 Monaten mit der Hilfe von rund tausend Landvermessern die Ländereien und erstellte die als Down Survey bekanntgewordenen Karten

Leben & Karriere

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Abb. 10.1  Ausschnitt aus dem Down Survey von W. Petty. (Quelle: Trinity College Dublin)

(siehe Abb.  10.1), „die bis Mitte des 19. Jahrhundert zur gerichtlichen Klärung von Landstreitigkeiten verwendet wurden“ (Anikin, S.  72  f.). Die Down Survey  – sie ist derart exakt, dass sie um höchstens 10–15  % von modernen Karten abweicht  – war „ihrem Wesen nach sowohl eine topographical survey als auch eine cadastral survey und bildete darüber hinaus die Grundlage der Landverteilung, weshalb nicht nur die natürliche Fruchtbarkeit des Bodens, sondern auch seine allseitige Rentabilität einschließlich seiner Lage rationell bewertet werden musste. Nach der Terminologie seiner Zeit hieß das, ob ein Grundstück profitable ist oder unprofitable“ (Matsukawa, S. 144). Für seine Arbeit wurde P. in Form von Geld und Ländereien reich entlohnt. So war er schon nach wenigen Jahren zum Eigentümer mehrerer zehntausend acres (1 acre ≈ 0,4 Hektar) Land geworden und zählte „zu den wohlhabendsten und einflußreichsten Männern im Lande“ (Anikin, S. 73). • Am 28. November 1660 wurde von P. und elf weiteren Gründungsmitgliedern The Royal Society – die erste moderne Akademie der Wissenschaften – ins Leben gerufen. In ihr sei P. „der interessanteste und geistreichste Mann“ gewesen (Anikin, S. 81). • Im Jahre 1661 wurde P. von Karl II. in den Ritterstand erhoben, was ihn berechtigte, den Titel „Sir“ zu führen. • 1663 wird P. in den Vorstand der Royal Society berufen. In diese Zeit fällt auch der Beginn seiner intensiven literarischen Tätigkeit auf dem Gebiet der Ökonomie.

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• 1667 heiratet P. Elizabeth Waller, die ihm fünf Kinder schenkt. • 1676 zieht P. wieder nach Irland, wo er für zwei Jahre dem Parlament angehört. • Nachdem Jakob II. im Jahre 1685 die Thronfolge antrat, kehrte P. zurück nach London und diente ihm als Berater. • P. starb am 16. Dezember 1687 in London.

Werk & Wirkung • Pettys wirtschaftswissenschaftliche Leistung geht weit hinaus über die merkantilistischen Ansichten seiner Zeit, denn er „untersucht zum ersten Mal die kapitalistische Produktion selbst und beurteilt die ökonomischen Erscheinungen vom Standpunkt der Produktion. Darin besteht auch das entscheidende Merkmal, das ihn über die Merkantilisten erhebt“ (Anikin, S. 80). Mit seinen Erkenntnissen lieferte er wichtige Grundlagen für die nachfolgenden Generationen der Ökonomen: die Physiokraten (→ Quesnay), die Klassiker (→ Smith und → Ricardo) und auch für die Kapitalismus-Analyse durch → Marx und Engels. Seine Ideen, die er klar und direkt formuliert, finden sich nicht in einem geschlossenen System, sondern sind verstreut über mehrere seiner Werke, in denen er „überaus geniale Gedanken“ entwickelt (vgl. Krause/Graupner/ Sieber, S. 426). Die wichtigsten Werke von P. sind A Treatise of Taxes and Contributions aus dem Jahr 1662 und die Political Arithmetic von 1690. • P.s Forschungsmethode basierte auf einem strengen Objektivismus. Er war bestrebt, auf induktivem Weg den Gesetzen der politischen Ökonomie nachzuspüren. Schon in seiner Treatise finden wir den charakteristischen Satz: „Rechnen ist das erste, was man tun muß …“. Und im Vorwort der Politischen Arithmetik beschreibt er sein methodisches Vorgehen so: „Die Methode, die ich hierbei anwende, ist noch nicht sehr üblich. Anstatt nur vergleichende und superlative Wörter und intellektuelle Argumente zu verwenden, habe ich mich dazu entschieden, mich nur mittels von Größen wie Anzahl, Gewicht oder Maß auszudrücken (als Objekte der Politischen Arithmetik, die mir seit langem vorschwebt); nur Argumente der Wahrnehmung zu verwenden und nur solche Bestimmungsgründe zu betrachten, die sichtbare Grundlagen in der Natur haben; und dagegen solche, die von den schnell wechselnden Gemütslagen, Meinungen, Vorlieben und Leidenschaften der Menschen abhängen, der Betrachtung durch andere zu überlassen (zit. n. Kurz, S. 34).“

• Mit seinem wohl wichtigsten Werk A Treatise of Taxes and Contributions (dt.: Eine Abhandlung über Steuern und Abgaben) wollte P. der neuen Regierung aufzeigen, auf welche Weise die Steuereinnahmen erhöht werden könnten. Eine wichtige zu besteuernde Einkommensquelle stellte damals die Pacht dar, die P. allgemein als Grundrente betrachtet. Im vierten Kapitel seiner Treatise behandelt er „eines der dringlichsten Probleme der damaligen englischen Gesellschaft: die Schaffung einer nationalen, einheit-

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lichen und in Geld zu entrichtenden Grundsteuer“ (Matsukawa, S. 136). Dabei geht er das Problem von zwei Seiten an: von einer verwaltungstechnischen und von einer ökonomischen; wobei er seine ökonomischen Ansichten am ausführlichsten darlegte. Dabei ließ er sich von der Frage nach dem Wesen des Reichtums leiten. Er gelangte zu wichtigen Einsichten zur Arbeitswerttheorie, zum Arbeitslohn und zum Surplus bzw. zum Mehrwert. Anikin erkennt in „Pettys Traktat die bedeutendste ökonomische Leistung des 17. Jahrhunderts“ (S. 76). • Mit seiner Political Arithmetick (dt.: Politische Arithmetik), die schon einige Jahre vor dem offiziellen Erscheinen in Form von Flugschriften kursierte, schuf P. die Grundlage der modernen Sozial- und Wirtschaftsstatistik. Die Schrift verfolgt das praktisch-­ politische Ziel zu zeigen, dass „the Interest and Affairs of England are in no deplorable condition“. Dazu entwickelte P. statistische Messziffern auf Basis mathematischer Beziehungen; er entwickelte Ansätze einer volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung und er benutzte die Stichproben-Methode, um mit Hilfe einer repräsentativen Stadt (Norwich) auf ganz England zu schließen; er entwickelte eine Theorie des Nutzens von Steuern, wenn diese in die Infrastruktur investiert werden, und er belegte diese Theorie anhand eines Vergleichs europäischer Staaten am Beispiel von Holland (vgl. Wagner, S. 3). Die Politische Arithmetik ist das erste Werk in der Geschichte der Ökonomie, das auf ­wirtschaftsstatistischen Untersuchungsmethoden beruht. Konsequenterweise forderte P. auch als erster die Errichtung eines statistischen Amtes und leistete hierzu wichtige Vorarbeiten. • Die drei wichtigsten wissenschaftlichen Leistungen Pettys sind seine Arbeitswerttheorie, seine Lohntheorie und seine Mehrwerttheorie. Mit diesen in einem engen logischen Zusammenhang stehenden – wenn auch über sein gesamtes Werk verstreuten – Theorien weist er sich als früher Vertreter und Wegbereiter der klassischen bürgerlichen Ökonomie aus: –– Arbeitswerttheorie: Die Frage, wodurch das Austauschverhältnis von Ware gegen Ware und von Ware gegen Geld bestimmt ist, führte P. zunächst zu der Feststellung, dass die Ware drei Austausch- bzw. Preisformen hat: den „natural price“ (natürlichen Preis), den durch staatliche Interventionen beeinflussten „political price“ (politischen Preis) sowie den durch Angebot und Nachfrage bestimmten „true price currant“ (wahren Marktpreis). P.s besonderes Interesse galt dem natürlichen Preis, den er als naturgegebenen Wert der Ware (value) auffasste und der die Grundlage für die beiden anderen Preisformen bildet. Daher war es sein Ziel, dessen „natürliche Bestimmtheit“ herauszufinden. Diese Bestimmung des Wertes findet P. schließlich in der für die Produktion notwendigen Arbeitszeit und veranschaulicht dies mit seinem berühmten „Kornbeispiel“: „Wenn jemand eine Unze Silber aus dem Innern der Erde Perus in derselben Zeit nach London bringen kann, die er zur Produktion eines Bushel Korn brauchen würde, dann ist das eine der natürliche Preis des anderen; wenn er nun durch Abbau neuer und ergiebiger Bergwerke

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statt der einen zwei Unzen Silber mit dem gleichen Aufwand gewinnen kann, wird das Korn bei einem Preis von 10 Shilling pro Bushel ebenso billig sein wie vorher bei einem Preis von 5 Shilling, caeteris paribus (W. Petty: A Treatise of Taxes and Contributions, London 1667, S. 31, zit. n. MEW, Bd. 26.1, S. 332).“

Der Wert der Waren wird also von der zu ihrer Produktion erforderlichen Arbeitsmenge bestimmt. Dies führt P. dazu, den Wert der Arbeit zu untersuchen. Seine Werttheorie und seine Lohntheorie sind untrennbar miteinander verbunden. –– Lohntheorie: Bei der Frage, wodurch der Wert der Arbeit bestimmt ist, stoßen wir bei P. auf „eine frühe Bestimmung des ‚natürlichen Lohns‘ der Klassik“ (Kurz, S. 39), wenn er schreibt: „Die tägliche Nahrung eines erwachsenen Mannes, im Durchschnitt genommen, und nicht die Tagesarbeit, ist das allgemeine Maß des Wertes und scheint ebenso regelmäßig und konstant zu sein wie der Wert von reinem Silber … Daher bestimmte ich den Wert einer irischen Hütte nach der Zahl der täglichen Lebensmittelrationen, die der Hersteller bei ihrem Bau ausgab (W. Petty, zit. n. MEW, Bd. 26.1, S. 332).“

Die Wertbestimmung und die darauf aufbauende Lohnbestimmung bilden die Voraussetzungen zur Aufdeckung des Surplus bzw. des Mehrwerts. –– Surplus/Mehrwerttheorie: „Pettys Sicht der Dinge“, schreibt H. D. Kurz, „führt direkt zu einem der wichtigsten Konzepte der Politischen Ökonomie, demjenigen des … gesellschaftlichen Überschußprodukts oder Surplus“ (vgl. S. 36); oder wie es H.  Meißner ausdrückt: Er entwickelte „eine Grundrententheorie, die als die erste klassische bürgerliche Mehrwerttheorie in die Geschichte der politischen Ökonomie eingegangen ist“ (S. 86). P. formuliert seine Erkenntnis, die auf seiner klassischen Werttheorie und Lohntheorie aufbaut, so: „Nehmen wir an, ein Mann bebaute mit eigener Hand eine bestimmte Fläche Land mit Korn, das heißt, er gräbt oder pflügt es um, eggt, rodet, erntet, fährt das Korn ein, drischt es, worfelt es, wie es der Ackerbau dieses Landes erfordert, und er hat überdies Saatgut, um es zu besäen. Ich behaupte – wenn dieser Mann von seiner Ernte sein Saatgut abgezogen hat … sowie alles das, was er selbst verzehrt und im Austausch für Kleidung und für sonstige natürliche Bedürfnisse an andere gegeben hat –, daß das, was an Korn übrigbleibt, die natürliche und wirkliche Bodenrente für dieses Jahr ist; und der Durchschnitt von sieben Jahren oder vielmehr die Zahl von Jahren, in denen Missernten und gute Ernten ihren Kreislauf durchmachen, gibt die gewöhnliche Bodenrente in Korn (W. Petty, zit. n. MEW, Bd. 26.1, S. 333).“

–– Petty ist nach den Worten von K. Marx und F. Engels der „Vater der modernen politischen Ökonomie“, „einer der genialsten und originellsten ökonomischen Forscher“ und „der Erfinder der Statistik“. Für Schumpeter ist P. „einer der Großen in der Geschichte der Wirtschaftslehre“ (S. 275). Nach Stavenhagen erlangte Petty „Einsichten in die Zusammenhänge des wirtschaftlichen Geschehens, die im übrigen zeitgenössischen merkantilistischen Schrifttum nicht vorliegen“ und hebt hervor, dass P. „als einer der ersten Vertreter der Produktionskostentheorie anzusehen ist“ (in:

Literatur

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HdSW, Bd. 8, S. 284). Diese Ansicht halten marxistische Ökonomen so für falsch, denn „in Wahrheit“, so Behrens, „vertrat Petty nicht als erster die sogenannte Produktionskostentheorie, … sondern die Arbeitswerttheorie!“ Die Produktionskostentheorie „taucht erst nach Smith und Ricardo als vulgärökonomische Verflachung der Arbeitswerttheorie der klassischen bürgerlichen Ökonomie auf“ (S.  133). Ebenso sieht Fabiunke das Verdienst P.s in der Entdeckung der „Bestimmung des Wertes der Waren und des Geldes durch die zu ihrer Produktion notwendige Arbeitszeit“, wodurch er „das Fundament für die theoretische Analyse der inneren Zusammenhänge der bürgerlichen Produktionsverhältnisse“ schuf (S. 43). Anikin sieht in P. den „Kolumbus der politischen Ökonomie“, denn „mit seinen gewissermaßen nebenher geäußerten Gedanken über Wert, Grundrente, Arbeitslohn, Arbeitsteilung und Geld hat er Grundlagen der wissenschaftlichen politischen Ökonomie geschaffen. Sie sind auch das eigentliche ‚ökonomische Amerika‘, das der neue Kolumbus entdeckt hat“ (Anikin, S. 75). Kurz weist darauf hin, dass P.s Schriften einen großen Einfluss auf die Entwicklung der Wirtschaftswissenschaft gehabt haben, „obgleich sein Name in der modernen Literatur nur noch selten erwähnt wird“. Mit P. beginne „die moderne Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung“; auch komme es „zu einer Neueinschätzung der Rolle des Geldes im Wirtschaftsprozeß“ (vgl. Kurz, S. 43).

Wichtige Publikationen • • • • • •

A Treatise of Taxes and Contributions, 1662 Political Arithmetick, 1690 Verbum Sapienti, 1691 The Political Anatomy of Ireland, 1691 Quantulumcunque or a Tract concerning Money, 1682 W. Petty: Schriften zur politischen Ökonomie und Statistik, hrsg. v. W. Görlich, Berlin (Ost): Akademie 1986

Literatur Anikin (1974), S. 65–92 Behrens, Bd. 1 (1962), S. 133–139 Fabiunke (1975), S. 43–55 HdStW, Bd. VI (1901), S. 66–67 HdSW, Bd. 8 (1964), S. 283–285 Hesse (2009), S. 418–419 Krause/Graupner/Sieber (1989), S. 425–428 Kurz, Bd. 1 (2008), S. 31–45 K. Marx: Theorien über den Mehrwert, MEW 26.1, Berlin 1973

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S.  Matsukawa: William Petty. Eine Studie zur Genesis seiner Arbeitswerttheorie, in: Jb. f. Wirtschaftsgeschichte 1969/III, S. 135–149 Meißner (1978), S. 77–89 Roscher (1851), S. 67–85 Schumpeter (1965/2007), S. 274–281 G.  G. Wagner: Anfänge der amtlichen Statistik und der Sozialberichterstattung: die „politische Arithmetik“, RatSWD Working Paper, 02/2015

Becher, Johann Joachim

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Wächter, Ökonomen auf einen Blick, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29069-6_11

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Leben & Karriere • Nach dem Besuch des Retscher-Gymnasiums in Speyer (1650) unternahm Becher ausgedehnte Reisen durch die deutschen Staaten und in europäische Länder, namentlich nach Schweden, Holland und Italien. • Nach seiner Rückkehr nahm B. 1652 das Studium der Chemie, Medizin, Theologie und Staatswirtschaftslehre in Mainz auf. • 1657 erhielt B. eine Stelle als kurfürstlicher Mathematiker und Lehrer der Medizin. • 1660 wurde B. Hofrat und Mitglied des Kommerzienkollegiums in Wien, wo er Pläne für Manufakturen entwarf und sich für die Errichtung einer östereichisch-indischen Handelsgesellschaft einsetzte. Nachdem er in Ungnade gefallen war, musste er Wien verlassen. • 1661 promovierte B. in Mainz zum Doktor der Medizin. • Seit 1662 lebte B. in München, Würzburg, Haarlem und London, wo er sich mit großen Bergwerksunternehmungen beschäftigte. In München gründete er eine Seidenmanufaktur. • Von 1664 bis 1666 war B. als Leibarzt des Kurfürsten in Mainz tätig, wo er auch eine Professur für Medizin erhielt. Auch widmete sich B. von etwa 1664 an ausschließlich der praktischen Kameralistik. So bemühte er sich etwa darum, neue Manufakturen in Mannheim anzusiedeln, wie beispielsweise eine Glashütte und eine Seidenmanufaktur. • Ab 1666 war B. wirtschaftlicher und alchemistischer Ratgeber Kaiser Leopolds I. in Wien und übte starken Einfluss auf dessen Wirtschafts- und Handelspolitik aus. Auch hier wurde auf sein Betreiben hin eine Seidenmanufaktur gegründet, die jedoch – wie viele seiner Projekte – hohe Kosten verursachte und nicht rentabel war. • Schon kurze Zeit später kehrte B. zurück nach München, wo er seine Hauptwerke, den Politischen Discurs und den Moral Discurs, verfasste. • 1676 siedelte B. nach Holland über. Seine letzten Lebensjahre (ab 1679) verbrachte er in England, wo er sich intensiv mit Fragen des Bergbaus beschäftigte und ihm vom König mehrere Patente erteilt wurden (z. B. für die Entdeckung der Kohlevergasung und die Erfindung des Leuchtgases). • B. starb im Oktober 1682 in London.

Werk & Wirkung • Bechers wissenschaftliche Forschungen waren sehr vielfältig: Als Universalgelehrter betrieb er zahlreiche naturwissenschaftliche Studien und Praktiken in mehreren deutschen und europäischen Städten. Wie er über sich selbst sagt, habe er viel „probirt, laborirt und speculirt“. So war er beispielsweise der erste, dem es gelang, Leuchtgas aus Steinkohle zu gewinnen; er war nahe daran, die Natur des Verbrennungsprozesses zu entdecken; er bemühte sich um die Herstellung von Koks und Teer aus Steinkohle; er nahm an, dass es eine Grundsäure gebe, von der alle anderen nur Modifikationen wä-

Werk & Wirkung

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ren. Auch führte er den Kartoffelanbau in Deutschland und die Seiden- und Baumwollweberei in Österreich ein. Von seinen zahlreichen Schriften zählen die naturwissenschaftlichen und kameralistischen zu den bedeutsamsten. • Als Ökonom beriet B. Kaiser und Fürsten im Sinne des Merkantilismus bzw. Kameralismus (lat. „camera“ = Schatzkammer/Schatztruhe des Fürsten) und nahm so Einfluss auf deren Wirtschafts-, Handels- und Bevölkerungspolitik. Die deutschen Kameralisten hatten seit dem 17. Jahrhundert Regeln und Methoden entwickelt, die darauf zielten, den staatlichen Verwaltungsapparat im Interesse des feudalen Landesherren zu optimieren und die Wirtschaft zu regulieren. Insbesondere sollte die Bevölkerungszahl, die durch die Folgen des dreißigjährigen Krieges stark dezimiert wurde, erhöht werden (siehe Abb. 11.1). Des Weiteren sollten die Staatskassen gefüllt werden. Hierfür dienten als wichtige Instrumente das Steuerwesen und die Handelspolitik. B.s ökonomische Hauptwerke sind sein Politischer Discurs (1668) und Moral Discurs (1669).

Ostsee

Nordsee Lübeck Hamburg

Szczecin

Bremen Weser

Posen

Berlin

Magdeburg

Elbe

Leipzig

Oder Dresden

Wroclaw

Rhein Frankfurt a.M.

Prag

Donau Wien München >66% >33%

Abb. 11.1  Bevölkerungsrückgang nach dem Dreißigjährigen Krieg. Die kriegsbedingten Bevölkerungsverluste waren erheblich. In einigen Gebieten wurde die Bevölkerung um über ein Drittel oder sogar um über zwei Drittel reduziert. (Quelle: Wikimedia)

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• 20 Jahre nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges (1618–1648) erschien Bechers ökonomisches Hauptwerk unter dem Titel Politischer Discurs von den eigentlichen Ursachen deß Auf- und Abnehmens/der Staedt/Laender und Republicken (1668). Der vollständige Titel – im ausschweifenden, barocken Stil – lautet: „Politischer Discurs Von den eigentlichen Ursachen/deß Auf- und Abnehmens/der Städt/Länder und Republicken/in specie, wie ein Land Volckreich und Nahrhaft zu machen/und in eine rechte Societatem civilem zu bringen. Auch wird von dem Bauren-Handwercks und Kaufmannsstand/derer Handel und Wandel/ item von dem Monopolio, Polypolio und Propolio, von algemeinen Land-Magazinen/Niederlagen/Kaufhäusern/Montibus pietatis, Zucht- und Werckhäusern/Wechselbäncken und dergleichen/außfürlich gehandelt.“

Das Werk soll, wie B. in der Widmung an den österreichischen kaiserlichen Minister Graf Sinzendorf schreibt, eine Handreichung für die praktische Wirtschaftspolitik des Landes sein. Dabei geht es B. nicht nur um eine Optimierung des Steuerwesens, sondern auch um eine Belebung des Binnenmarktes. „Dann das Cameral-Wesen bestehet nicht allein in Einnahm und Außgab/und dieser richtiger Verrechnung/sondern es beruhet auch/daß man deß gantzen Lands intereſſe befördere/und dem gemeinen Mann zu Mitteln verhelffe/das ist/daß man ihme sage/wo er es hernemmen solle/wann man ihme befihlt/daß er was geben sol … (J. J. Becher: Politischer Discurs, Frankfurt 1668, Vorrede).“

B. liefert in seinem Werk eine Analyse der soziologischen Struktur der Wirtschaft. Er identifiziert die drei Stände Bauern, Handwerker und Kaufleute und bestimmt diese näher. Wirtschaft und Staat stellen für B. eine Einheit dar, eine „volkreiche, nahrhafte Gemein“, die zum Ziel hat, die Bevölkerungszahl zu erhöhen. Denn auch B. geht, wie überhaupt die Merkantilisten, von dem Grundsatz aus, dass die Macht des Staates mit steigender Bevölkerungszahl zunimmt. Infolge der großen Bevölkerungsverluste durch den Dreißigjährigen Krieg hatte diese Maxime hohe Priorität für die wirtschaftliche Entwicklung. Dem Staat komme daher die wichtige Aufgabe zu, sowohl für die Ernährung als auch für die Beschäftigung der Bevölkerung Sorge zu tragen. B. identifiziert und untersucht jene Faktoren, die der Erreichung dieses Zieles im Wege stehen: Eine diesbezügliche Gefahr sieht er insbesondere in der Bildung von sogenannten „Monopolien“, „Polypolien“ und „Propolien“. „Ein Monopolium besteht darin, wann ein Glied in der Gemeinschaft das allein hat in Nahrung, woran sonsten in der Gemeinde viele andere leben können.“ Unter einem Polypolium versteht B. ein Überangebot bzw. einen ruinösen Wettbewerb, denn es teilten sich zu viele, „wovon nur etliche leben können“. Mit dem Begriff „Propolium“ bezeichnet er verschiedene Formen des unerwünschten Wettbewerbs, wie Preisabsprachen oder auch – wie wir heute sagen – Dumpingpreise, die zum Ziel haben, die Konkurrenz auszuschalten.

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„Mit einem Wort/das Monopolium ist der Populirung eines Lands zu wider/in dem es nur einem gibt/worvon viel leben könnten: und das Polypolium ist der Nahrung eines Orts zu wider/in deme es allen dieses zulässet/worvon nur etliche sich ehrlich zur Nohtturft ernehren können/beydes ist/wie erwiesen/einer Gemeind sehr schädlich/dann es werden dardurch alle drey Stände verdorben/und ruinirt: wann nur ein Bauer im Land/ein Handwercksmann und Kauffmann in der Stadt wäre/so wärs ein Monopolium, und desertes Land und Stadt. Wann hingegen mehr Bauren/als Land verhanden/mehr Handwercksleut als Arbeit/mehr Kaufleut/ als Consumptio in der Gemeinde seynd/so wärs ein Polypolium, und durch beede die Gemeinde bald ruinirt werden … (J. J. Becher: Politischer Discurs, Frankfurt 1668, S. 29–30).“

Mit dieser einfachen Marktformenlehre möchte B. herausfinden, wie man Störungen des Marktes verhindern bzw. das Funktionieren des Marktes als ein soziales Gefüge gewährleisten kann. Als Abwehrmaßnahmen gegen diese Störungen regte B. eine staatliche Reglementierung des Handels (z. B. staatliche Preisregulierung, Zusammenschluss von Unternehmen in Kompagnien) und eine Beaufsichtigung des Zunftwesens an und setzte sich für die Einrichtung von Ankaufstellen ein. Durch die Gründung von Manufakturen sollte der Import ausländischer Waren begrenzt werden. Wie alle Merkantilisten sträubte er sich gegen die Einfuhr ausländischer Waren, da dies mit einer Ausfuhr von Geld einherging. Die Koordination der von ihm vorgeschlagenen wirtschaftspolitischen Maßnahmen solle durch ein Kommerzienkolleg erfolgen. • Ein Jahr nach dem Erscheinen des Politischen Discurs veröffentlichte B. seinen Moral Discurs (1669). Darin unterstreicht er nochmals seine ökonomischen Ansichten und hebt insbesondere deren ethischen Motive hervor. Sein Ziel ist es, Gleichheit und Glück aller Menschen zu erreichen. • Unter den Kameralisten nimmt Becher eine herausragende Stellung ein. Zwar war das wissenschaftliche Niveau der Kameralisten im Allgemeinen eher gering, „aber die rege praktische und theoretische Tätigkeit von B. führt ihn über das Mittelmaß der kameralistischen Schriftsteller weit hinaus. Er bemühte sich darum, die Kameralwissenschaft in ein geschlossenes System zu bringen, wobei er die Wirtschaftspolitik als ein System staatlicher Lenkungen auffaßt“ (Krause et al. 1989, S. 31). B.s Politischer Discurs „hat sowohl bei seinen Zeitgenossen wie bei der Nachwelt erhebliche Beachtung gefunden, da seine Betrachtungsweise sich auf der Ebene grundsätzlicher Gesichtspunkte bewegt und sich freihält von der Enge des landesfürstlichen Interessenstandpunktes“ (Stavenhagen, S. 26). Im Handwörterbuch der Staatswissenschaften (HdStW) wird B. gewürdigt als „einer der bedeutendsten deutschen Merkantilisten und sein ‚Politischer Diskurs‘ bietet eine Fundgrube von Ansichten und Vorschlägen, die einen seiner Zeit weit vorausgeeilten Scharfblick für wirtschaftliche Verkehrshebel verraten“ (S. 533). B. leistete als erster Deutscher Vorarbeiten zu theoretischen Gebieten, wie z. B. den Marktformen, zu Konzentration und Wettbewerb und zur Beschäftigungspolitik. Kolb zählt B. „zu den wirklich originellen Köpfen des Kameralismus“. Beispielsweise habe er „als erster den Terminus des Polypols in die Wirtschaftslehre eingebracht und außerdem auf

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Entartungserscheinungen des Wettbewerbs aufmerksam gemacht, die später bei der Entstehung der Marktformenlehre wieder aufgegriffen wurden“ (Kolb 2004, S. 30).

Wichtige Publikationen • Politischer Discurs von den eigentlichen Ursachen deß Auf- und Abnehmens/der Staedt/Laender und Republicken, 1668 • Moral Discurs von den eigentlichen Ursachen des Glücks und Unglücks, 1669

Literatur ADB, Bd. 2 (1875), S. 201–203 S.  Baur: Neues Historisch-Biographisch-Literarisches Handwörterbuch, Bd. 1, Ulm 1807, S. 303–304 Erdberg-Krczenciewski (1896): Johann Joachim Becher. Ein Beitrag zur Geschichte der Nationalökonomik HdStW, Bd. 2 (1899), S. 533–534 HdSW, Bd. 1 (1956), S. 705–707 Hesse (2009), S. 39–40 Kolb (2004), S. 28–31 Krause/Graupner/Sieber (1989), S. 31–32 Roscher (1874), S. 270–289 Schneider (2001), S. 124–126 Schumpeter (1965/2007), S. 362–363 Stavenhagen (1964), S. 24–26 Weitz (2008), S. 19–25

Internet Johann Joachim Becher-Gesellschaft: http://www.johann-joachim-becher.de

Marperger, Paul Jacob

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Wächter, Ökonomen auf einen Blick, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29069-6_12

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Leben & Karriere • Marperger, Sohn eines Offiziers, zeigte bereits von Jugend an ein großes Interesse an den Wissenschaften. Nach dem Besuch des Gymnasiums in Nürnberg begann er mit dem Studium der Rechtswissenschaften und widersetzte sich somit dem Willen seines Vaters, der ihn zum Studium der Theologie drängen wollte. • Schließlich nahm der Vater M. von der Universität und schickte ihn nach Lyon, wo er den Beruf des Kaufmanns erlernte. In Frankreich beschäftigte sich M. intensiv mit politischer Ökonomie und Staatswissenschaften. • Auf zahlreichen Reisen quer durch Europa vertiefte und erweiterte M. seine Kenntnisse auf diesem Gebiet, die später Eingang in seine zahlreichen Werke finden. Zu M.’s Aufenthaltsorten gibt es widersprüchliche Angaben. Längere Zeit lebte er in Hamburg, wo er auch 1681 heiratete. 1714 übersiedelte er nach Dresden. Weitere Aufenthaltsorte, an denen M. als Angestellter und Berater von Fürsten tätig war, waren Wien, Lübeck, Kiel, Breslau, Moskau, Petersburg, Stockholm, Kopenhagen und Berlin. • 1708 wurde M. in die einige Jahre zuvor von Leibniz gegründete Königlich Preußische Sozietät der Wissenschaften zu Berlin aufgenommen. • Später bekam er Anstellungen am königlichen Hof in Dänemark, Preußen und zuletzt Polen, wo er die Stelle eines Hof- und Kommerzienrates erhielt. In dieser Eigenschaft schlug er im Jahre 1715 die Errichtung einer „Kauffmannsacademie“ vor.

Werk & Wirkung • Marperger hat über 90 Schriften veröffentlicht, 71 blieben unveröffentlicht. In seinem Œuvre behandeltet er neben der Ökonomie und Handelswissenschaft die verschiedensten Themen, wie z. B. Architektur, Geschichte und Medizin. Von seinen Werken kann die Hälfte als ökonomische Werke im weiteren Sinn angesehen werden, wobei rund 20 Veröffentlichungen der Handelswissenschaft zuzuordnen sind. M. gilt somit als der erste deutsche Schriftsteller, der sich breitgefächert mit handlungswissenschaftlichen Themen beschäftigte. Der aufklärerisch-fortschrittlich orientierte M. schrieb seine Werke in deutscher – nicht wie damals üblich in lateinischer – Sprache und richtete sich an das Bürgertum bzw. an die Kaufleute. • Der Durchbruch zum ökonomischen Schriftsteller gelang Marperger mit dem 1699 erschienenen ersten Band des Allezeit fertigen Handels-Correspondenten (der zweite bis vierte Band erscheinen zwischen 1705 und 1714), in dem der kaufmännische Schriftverkehr behandelt wird. Hervorzuheben sind weiterhin sein Neu-Eröffnetes Manufacturen-Hauß (1704), das als Vorläufer einer Industriebetriebslehre angesehen werden kann, seine wirtschaftsgeographischen Werke, zu denen beispielsweise der

Werk & Wirkung

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Schlesische Kauffmann (1714) gehört und die Beschreibung der Banquen (1716), eine „Erstlingsschrift der deutschen Bankbetriebslehre“. Nach Sundhoff gehört dieses Buch „zweifellos zu den besten, die Marperger verfaßt hat und ist wohl die erste in sich abgerundete Wirtschaftszweiglehre wissenschaftlichen Charakters in deutscher Sprache“ (S.  68). Unter wissenschaftlichem Aspekt bedeutsam ist das 1708 erschienene Neu-Eröffnete Kauffmanns-Magazin. Es ist das erste Handelslexikon in deutscher Sprache. Aus berufspädagogischer Sicht ist das Werk Trifolium Mercantile Aureum oder Dreyfaches Güldenes Klee-Blat der werthen Kauffmannschafft (1723) bedeutsam. Hierin unterbreitet M. Vorschläge zur Ausbildung von Kaufleuten und thematisiert die Errichtung von Fachschulen sowie deren möglichen Lehrinhalten. • Marpergers handlungswissenschaftliches Hauptwerk ist das vier Bände umfassende Werk zum Erlernen des Berufs eines ehrbaren Kaufmanns. Es gliedert sich entsprechend der Lernstufen vom Lehrling (Kauffmanns-Jung) über den Kaufmannsgehilfen (Handels-Diener) bis hin zum Unternehmer (Kauffmannschafft, 2 Bde.). In dem ersten Teil der Kauffmannschaft, der 1714 erschienenen Schrift Nothwendig und nützliche Fragen über die Kauffmannschafft werden in einem Frage-Antwort-Stil handelskundliche Aspekte behandelt  – so zum Beispiel die Warenkunde, die Eigenschaften der Kaufleute hinsichtlich ihrer Tätigkeiten und Branchen, Einkauf und Verkauf, Kostenkalkulation sowie Überlegungen zum Gewinn aus theologischer und kaufmännischer Sicht. Zu der Frage: „Was ein Kaufmann sey?“ lautet die Antwort: „Ein Kauffmann ist eine in einer Republic sehr nützliche/höchstnothwendige und unentbehrliche Persohn/welcher eines ehrlichen und untadelhafften Wandels/freundlicher und höfflicher Sitten und Gebehrden/wohl beredt und scharff von Judicio, geschwinder Resolution, guten Vermögens/unverdrossenen Fleiß/gesunder Leibes-Disposition, sonderlich aber von grosser Erfahrenheit in Commercien-Sachen seyn muß/welche Erfahrenheit er sich dadurch zu Wege bringen kann/wenn er in der Jugend/(so er nicht zum wenigsten einen guten Grund in der Lateinischen Sprache und denen studiis humanioribus geleget/) jedoch zur Rechnen-, Schreib- und Buchhalter-Schul gehalten worden/darneben den Zeiten das Leben eines guten Teutschen Autoris, der etwan von Commerciis, Welt- und Zeit-Geschichten/oder von der Geographie geschrieben/wie auch das Lesen der wöchentlichen Avisen oder Zeitungen sich angewehnet; ferner auf einen berühmten Contoir oder Schreib-Stuben/oder auch sonst in einer vornehmen Waaren-Handlung gedienet/und in solcher gesehen und gelernet/was in Kauffmännischen Scripturen und Brieffschafften/in Führung der Rechnung und Handels-Bücher/in Ausfertigung unterschiedliche Wechsel und Obligationen/in Ein- und Verkauff der Waaren/Untersuchung ihres Preißes und Qualitaeten/und was vergleichen mehr seyn möchte/ vorkomme. Hierauff auch vornehmer Kauff-Leut Compagnien frequentiret/aus ihren Handels-Discursen profitiret/frembde Länder durchreiset/deroselben Sprachen und Handlungen sich bekannt gemacht/und endlich den seiner Zuhauß-Kunfft selbst Mittel/Vermögen und Capacitaet habe/eine eigene Handlung/sich/denen Seinigen/und dem Vaterland zu Nutz anzufangen … (S. 49 f.).“

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12  Marperger, Paul Jacob

• M.s wissenschaftliches und schriftstellerisches Wirken war darauf gerichtet, sich eine umfassende Bildung auf dem Gebiet der Ökonomie anzueignen und seine Kenntnisse – neben wirtschaftspolitischer Einflussnahme auch zum Zwecke der Belehrung – zu systematisieren und zu publizieren. Seine Wirtschaftskompetenz wurde von hochrangigen Beamten in Brandenburg-Preußen geachtet und geschätzt. Allerdings gehen die Ansichten über den äußerst produktiven Schriftsteller weit auseinander. So schreibt z. B. der Kamarelist G. H. Zincke im Jahre 1744 über M.: „Herr Paul Jacob Marperger war zu seiner Zeit ein Mann, welcher durch unermüdlichen Fleiß, vielen Nachdencken, Lesen, Zusammentragen und Schreiben … fast am meisten die ökonomische, Policeyund Cameral-Wissenschaft in die Höhe zu bringen … gesuchet hat.“ In seiner Geschichte der Nationalökonomik (1874) stempelt → W. Roscher M. kurzerhand als einen „entsetzlichen Vielschreiber“ ab. Positiv würdigt wiederum H. Graßhoff die Bedeutung M. s. Für ihn ist er „ein wichtiger und markanter Ideologe des aufsteigenden Bürgertums und Handelskapitals am Anfang des 18. Jahrhunderts, der mit seinen kühnen Plänen eines bürgerlichen, mit der ganzen Welt Handel treibenden und ständig an Wohlstand zunehmenden Staates seiner Zeit weit voraus war.“ Auch Sundhoff gelangt zu einem positiven Urteil: „Marperger war nicht nur der erste deutsche Autor, der in wissenschaftlich relativ ernst zu nehmender Weise ein bisher nur sehr unzureichend behandeltes Gebiet systematisch durchforschte; er hat dies auch mit einer erstaunlichen Gründlichkeit getan …“ (S. 54). • Im Bereich der kaufmännischen Berufsausbildung kommt M. das Verdienst zu, als erster ein wohldurchdachtes Konzept für die Errichtung kaufmännischer Schulen in Deutschland ausgearbeitet zu haben. Sein Vorschlag kann als Ausgangspunkt der kaufmännischen (Berufs-)Schulbewegung in Deutschland gesehen werden.

Wichtige Publikationen (Titel in Kurzform) • • • • • • • • • • •

Allezeit fertiger Handels-Correspondent (4 Bände), 1699–1714 Probier-Stein der Buch-Halter, 1701 Die Neu-Eröffnete Kauffmanns-Börse, 1704 Das Neu-Eröffnete Manufacturen-Hauß, 1704 Neu-Eröffnetes Kauffmanns-Magazin, 1708 Historischer Kaufmann, 1708 Nothwendig und nützliche Fragen über die Kauffmannschafft, 1714 Schlesischer Kauffmann, 1714 Wohl unterwiesener Kauffmanns-Jung, 1715 Beschreibung der Banquen, 1716 Trifolium Mercantile Aureum oder Dreyfaches Güldenes Klee-Blat der werthen Kauffmannschafft, 1723

Literatur

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Literatur ADB, Bd. 20 (1884), S. 405–407 Brockhoff (2014), S. 124–126 Handwörterbuch der Betriebswirtschaft (1960), Bd. 3, Sp. 3929 f. H. Graßhoff: P. J. Marperger, in: Zeitschrift für Slawistik, Bd. 6 1961, S. 174–199 H.  Lehmann: P.  J. Marperger (1656–1730), in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1971/IV, S. 125–157 NDB, Bd. 16 (1990), S. 234 f. Sundhoff (1991), S. 47–78 Weber (1914/1990), S. 37–45

Quesnay, François

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Wächter, Ökonomen auf einen Blick, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29069-6_13

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Leben & Karriere • Quesnay wurde als Sohn eines Landwirts und Krämers auf einem kleinen Bauernhof geboren. Er erhielt als Kind wenig Erziehung und Bildung; das Lesen soll ihn ein Tagelöhner gelehrt haben. • Um 1711 fasste Q. den Entschluss, Chirurg zu werden und ging zunächst bei einem Arzt, der in der Nachbarschaft praktizierte, in die Lehre. • Später ging Q. nach Paris und erlernte während einer 5-jährigen Lehrzeit den Beruf des Kupferstechers bei Pierre de Rochefort, einem königlichen Kupferstecher, der auch für die Akademie der Wissenschaften arbeitete. Nebenbei studierte Q. Pharmazie, Anatomie, Mathematik, Chemie und auch Philosophie. • Nach Beendigung seiner Ausbildung zum Kupferstecher (1716) war er einige Zeit als Chirurg tätig und erwarb den Titel maître chirurgien. • 1723 erhielt er den Titel eines chirurgien royal und stieg in aristokratische Kreise auf. • 1744 wurde Q. die medizinische Doktorwürde verliehen. • 1749 wurde Q. Arzt der Marquise de Pompadur und erwarb sich hohes Ansehen am Hofe. Der König erhob Q. in den Adelsstand. • 1751 wurde Q. Mitglied der Akademie der Wissenschaften und ein Jahr später der Royal Society in London. In dieser Zeit wandte er sich philosophischen und ökonomischen Themen zu und verfasste einige Artikel (z. B. Landwirte, Getreide, Steuern und Zinsen) für die Encyklopédie von D. Diderot, der den physiokratischen Ansichten von der Ökonomie sehr aufgeschlossen gegenüberstand. • 1757 weckte Q. das Interesse des Marquis de Mirabeau für ökonomische Ideen, der auch sein erster Anhänger wurde. Später gewann Q. weitere Gefolgsleute und so entstand schließlich die Schule der Physiokraten, für die er im Jahre 1758 die wissenschaftlichen Grundsätze ausarbeitete. • 1765 gelang es Q. seine ökonomischen Theorien einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen: In der Gazette du commerce erschien eine Beilage mit dem Titel Journal de l’agriculture, du commerce et de finances, in der die ökonomischen Ideen diskutiert wurden. Q. zählte zu den engagiertesten Mitarbeitern und verfasste zahlreiche Beiträge. • Gegen Ende seines Lebens wendete sich Q. von seinen ökonomischen Studien ab. Er starb im Alter von 80 Jahren in der Nähe von Versailles.

Werk & Wirkung • Quesnay ist der Begründer und zugleich wichtigster Vertreter der Physiokratie („Herrschaft der Natur“). Die Anhänger dieser ökonomischen Schule, die Physiokraten, verstanden sich als eine Reformbewegung gegen den Merkantilismus und dessen wirtschaftspolitische Konzeption. Die Physiokraten gehen in ihrer politökonomischen

Werk & Wirkung

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Abb. 13.1  Bauer beim Schärfen einer Sense. Stich um 1700 von Caspar Luyken. (Quelle: Wikimedia)

Auffassung von der philosophischen Position des Naturrechts aus und treten ein für eine Verwirklichung der natürlichen Ordnung. Die Natur ist ihrer Auffassung nach die alleinige Quelle des Reichtums und nur die menschliche Arbeit gilt als produktiv (vgl. Abb. 13.1). Daher sind sie davon überzeugt, dass nur in der Landwirtschaft Werte geschaffen werden. Alle übrigen Wirtschaftsbereiche seien nach Q. nur abgeleitete Zweige. • Die grundlegenden Ideen seiner Wirtschaftstheorie entwickelte Q. in ökonomischen Aufsätzen, die in Form von Enzyklopädieartikeln oder Zeitschriftenbeiträgen verstreut erschienen. Von besonderer Bedeutung ist sein im Jahre 1758 entwickeltes Tableau Économique, die ökonomische Tafel. • Q. schreibt in einem Brief an seinen Mitstreiter Mirabeau: „Ich habe versucht, ein Tableau von den Grundzügen der ökonomischen Ordnung zu machen, um darin Ausgaben und Erträge in einer leicht faßlichen Übersicht darzustellen und um zu einem klaren Urteil darüber zu kommen, welcher Art die Orientierung und Desorientierung sind, die die Regierung verursachen kann (Ökonomische Schriften, Bd.  I., Berlin 1976, S. 471 f.).“

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13  Quesnay, François

• Q. hat sein Tableau mehrfach überarbeitet und dabei immer mit aktuellem Zahlenmaterial versehen; daher existieren auch mehrere Fassungen. Die bekannteste Variante ist das Tableau Économique, das auch unter der Bezeichnung Zickzack-Schema bekannt ist. Dieses hat Q. später in einer knapper gehaltenen und übersichtlicheren Darstellung, der Formule du Tableau Économique, zusammengefasst. Mit dieser „arithmetischen Formel der Verteilung“ erstellte Q. ein nicht weiter zu vereinfachendes Schema, in dem die zahlreichen Käufe und Verkäufe zu jährlichen Geld- und Warenströmen zwischen den drei Klassen zusammengefasst sind. • Der Ausgangspunkt von Q.s Untersuchung ist eine Einteilung der Gesellschaft in drei Klassen, die sich definieren durch ihre ökonomische Funktion: die produktive Klasse (Landwirte bzw. Pächter), die Klasse der Grundeigentümer und die sterile Klasse (Händler, Handwerker, Gewerbetreibende). „Die produktive Klasse ist diejenige, welche durch Bebauung des Bodens alljährlich den Reichtum der Nation wieder neu erzeugt, welche das Betriebskapital für die landwirtschaftliche Arbeit vorschießt und jedes Jahr die Einkünfte der Grundbesitzer bezahlt. Man bezieht in diese Klasse alle Arbeiten und alle Ausgaben ein, welche dabei bis zum ersten Verkauf der Erträgnisse zu leisten sind: durch diesen Verkauf kennt man den Wert der jährlichen Reproduktion des nationale Reichtums. Die Klasse der Grundeigentümer umfaßt den Herrscher, die Grundbesitzer und den Zehntherren. Diese Klasse lebt von den Einkünften oder dem ‚produit net‘ des Ackerbaues, welche ihr jährlich von der produktiven Klasse gezahlt werden, nachdem diese im voraus auf die jährlich von ihr neu hervorgebrachte Reproduktion die Mittel erhoben hat, deren sie zur Rückerstattung ihres jährlichen Betriebskapitals zwecks Erhaltung ihres Anlagekapitals bedarf. Die sterile Klasse besteht aus allen Bürgern, welche sich anderen Dienstleistungen und anderen Arbeiten als denjenigen der Landwirtschaft widmen und deren Ausgaben von der produktiven Klasse und von der Klasse der Grundeigentümer bezahlt werden, welche letztere wiederum ihre Einkünfte von der produktiven Klasse beziehen (Quesnay in: Diehl/Mombert: Ausgew. Lesestücke zum Studium der politischen Ökonomie, Karlsruhe 1911, S. 21).“

Die Funktionsweise des Zick-Zack-Tableaus (siehe Abb. 13.2) lässt sich so erklären: Q. stellt in dem Tableau die Austauschbeziehungen der drei Klassen untereinander dar. Dabei werden nur die Austauschbeziehungen betrachtet, die innerhalb dieses „Geschäftsjahres“ vor sich gehen und zwar nur zwischen, nicht innerhalb der Klassen. Ausgangspunkt des dargestellten Wirtschaftsjahres sind 600 Livres Revenuen für die Klasse der Grundeigentümer, „dazu die jährlichen Kosten für die 600 Livres und die Zinsen für die ursprünglichen Vorschüsse des Landwirts, die der Boden in Höhe von 300 Livres zurückerstattet. Somit beläuft sich die Reproduktion mit 1500 Livres einschl. der Revenuen in Höhe von 600 Livres, welche, ohne Berücksichtigung der Steuer und der für ihre Reproduktion erforderlichen Vorschüsse usw., die Basis der Rechnung darstellen“ (Quesnay: Ökonomische Schriften, Bd. I, S. 394).

Werk & Wirkung

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Zu betrachten sind: 1. Drei Arten von Ausgaben; 2. deren Quelle; 3. deren Voeschüsse; 4. deren Verteilung; 5. deren Wirkung; 6. deren Reproduktion; 7. deren Verhältnis untereinander; 8. deren Verhaltnis zur Bevölkerung; 9. zur Landwirtschaft; 10. zum Gewerbe; 11. zum Handel; 12. zur Masse der Reichtümer einer Nation

Jährliche Vorschüsse 600, um 600 Revenuen zu produzieren produzieren netto

nach hier

reproduzieren netto

Hälfte Hälfte fließt

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Hälfte fließt

reproduzieren netto

Hälfte

Hälfte fließt

h hier

nach hier usw.

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Bodenprodukte 300

Jährliche Revenuen in Höhe von

Hälfte

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Sterile Ausgaben f. d. Gewerbe usw. Jährliche Vorschüsse für mittels steriler Ausgaben gefertigte Dinge

Verausgabung der Revenuen Die Steuer vorweg entnommen, verteilen sie sich auf produktive Ausgaben & sterile Ausgaben

Produktive Ausgaben f. d. Landwirtschaft usw.

300 fließt nach hier

Gefertigte Dinge usw. 300

fließt nach hier

150 nach hier usw.

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usw.

Insgesamt reproduziert..............................600 Revenuen ; dazu die jährlichen Kosten für die 600 und die Zinsen für die ursprünglichen Vorschüsse des Landwirts, die Boden in Hohe von 300 zurückerstattet. Somit beläuft sich die Reproduktion auf 1500 einschl. der Revenuen in Höhe von 600, welche , ohne Berücksichtigung der Steuer und für ihre Reproduction erforderlichen Vorchüsse usw., die Basis der Rechnung darstellen.

Abb. 13.2  Ökonomisches Tableau (Tableau Économique). (Quelle: François Quesnay: Ökonomische Schriften, Bd. I, Berlin 1971, S. 394. Abgedruckt in Herbert Meißner (Hg.): Geschichte der politischen Ökonomie, Berlin, 1978, S. 109)

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Q. geht davon aus, dass die Klasse der Grundeigentümer das im Vorjahr von der produktiven Klasse erhaltene Nettoprodukt in Höhe von 600 Livres Revenuen in den Wirtschaftskreislauf einbringt: Die eine Hälfte (300 Livres) fließt für den Kauf von Lebensmitteln (z. B. Brot, Wein, Fleisch usw.) an die produktive Klasse zurück, die andere Hälfte (300 Livres) wird bei der sterilen Klasse für deren Erzeugnisse (z. B. Kleidung, Möbel usw.) ausgegeben. Die 300 Livres, die „durch den Verkauf von Bodenprodukten, die der Grundeigentümer von der produktiv ausgebenden Klasse kauft, zunächst einmal an diese Klasse zurückkehren, werden sodann vom Pächter ausgegeben und zwar zur Hälfte, indem er Bodenprodukte, welche die eigene Klasse liefert, verzehrt, während die andere Hälfte, die er bei der steril ausgebenden Klasse umsetzt, der Instandhaltung von Kleidung, Utensilien, Werkzeugen usw. dient. Und von neuem hervorgebracht werden [diese 300 Livres] wieder durch das Nettoprodukt.“ Am Ende dieser ersten Zirkulation hat die Klasse der Grundeigentümer ihren Bedarf an landwirtschaftlichen Gütern gedeckt. Die produktive Klasse hat die benötigten landwirtschaftlichen und gewerblichen Produkte gekauft, um die eigene Arbeitskraft und die Werkzeuge zu erhalten. Das heißt, die produktive Klasse hat ihr Kapital reproduziert. Und dieses Kapital erzeugt ein Nettoprodukt, das genauso groß ist wie das zirkulierende Kapital. Dieser Zirkulationsfluss mit seiner Verteilungsweise setzt sich bis zum letzten Rest des Geldbetrages weiter fort. Marx schreibt, „daß das Tableau, diese ebenso einfache wie für ihre Zeit geniale Darstellung des jährlichen Reproduktionsprozesses, wie er durch die Zirkulation vermittelt wird, sehr genau darauf antwortet, was aus diesem Nettoprodukt im volkswirtschaftlichen Kreislauf wird“ (MEW, Bd. 20, S. 236). Es „zeigt in wenigen großen Zügen, wie ein dem Werte nach bestimmtes Jahresergebnis der nationalen Produktion sich so durch die ­Zirkulation verteilt, daß, unter sonst gleich bleibenden Umständen, dessen einfache Reproduktion vorgehen kann“ (MEW, Bd. 24, S. 359). Die Formel des ökonomischen Tableaus (siehe Abb. 13.3), eine komprimierte Darstellung des Tableau, erläutert Q. so: „Rechts oben steht die Summe des Betriebskapitals der produktiven Klasse, welches im vorangegangenen Jahre verbraucht worden war, um im laufenden Jahre eine Ernte erzielen zu können. Unterhalb dieser Summe ist ein Strich, der sie von der Aufstellung der Summen trennt, welche diese Klasse einnimmt. Links stehen die Summen, welche von der sterilen Klasse in Empfang genommen werden. In der Mitte oben steht die Summe der Einkünfte, die sich nach links an die beiden Klassen verteilen, von denen sie verausgabt wird. Die Verteilung der Ausgabe wird durch die punktierten Linien bezeichnet, welche von der Summe der Einkäufe ausgehen und schräg abwärts laufend, zur einen und anderen Klasse führen. Unter diesen Linien steht nach beiden Seiten die Summe, welche die Grundeigentümer in Ankäufen von jeder dieser Klasse verausgaben. Der wechselseitige Handel unter den beiden Klassen wird ebenfalls durch punktierte Linien bezeichnet, welche in schräger Richtung abwärts von der einen zur anderen Klasse, bei der die Käufe gemacht werden, führen; und unter jeder Li-

Werk & Wirkung

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Formel des ökonomischen Tableaus Gesamtreproduktion: 5 milliarden Jährliche Vorschüsse der produktiven Klasse

Revenuen für die Grundeigentümer, den Herrscher und die Zehntherren

Vorschusse der sterilen Klasse

2 Milliarden

2 Milliarden

1 Milliarde

1 Milliarde Summen, die zur Zahlung der Revenuen und der Verzinsung der ursprünglichen Vorschüsse dienen

1 Milliarde

1 Milliarde

1 Milliarde

1 Milliarde

Insgesamt Auslage der jährlichen Vorschüsse

Insgesamt

2 Milliarden

5 Milliarden

2 Milliarden, von denen die Hälfte von dieser Klasse für die Vorschüsse für das nächstfolgende Jahr einbehalten wird.

Abb. 13.3  Formel des ökonomisches Tableaus (Formule du Tableau Économique). (Quelle: François Quesnay: Ökonomische Schriften, Bd. II, Berlin 1976, S. 90. Abgedruckt in Herbert Meißner (Hg.): Geschichte der politischen Ökonomie, Berlin 1978, S. 113)

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13  Quesnay, François

nie steht die Summe, welche jede der beiden Klassen auf diese Weise wechselseitig von der anderen durch den Handel, den sie unter sich durch ihre Ausgaben treiben, empfängt. Am Ende jeder Abteilung steht die Gesamtsumme der Einnahmen jeder der beiden bezeichneten Klassen. Man erkennt, daß in dem angegebenen Falle, wenn die Verteilung der Ausgaben der eben beschriebenen und eingehend dargelegten entspricht, die Einkünfte der produktiven Klasse mit Einschluß ihrer Vorschüsse der Gesamtsumme der jährlichen Reproduktion gleichkommt und daß der Ackerbau, das Vermö gen und die Bevölkerung ohne Vermehrung oder Verminderung die Gleichen bleiben. … (Quesnay in: Diehl/Mombert, a. a. O).“

• Quesnays Tableau ist die erste schematische Darstellung, mit der makroökonomische Beziehungen abgebildet und erklärt werden. Es kann nicht nur als erstes Modell in der Wirtschaftswissenschaft überhaupt angesehen werden; zum ersten Mal wird auch ein Einblick gegeben in den Zusammenhang von Einkommensbildung und Einkommensverteilung. Auch wenn die Theorien der Physiokraten das ökonomische Denken nur rund ein Vierteljahrhundert lang in Frankreich beherrschten, so wirkten sie dennoch nach und beeinflussten nachfolgende Ökonomen: So sieht Marx, der sich von Q.s Ideen – insbesondere der Reproduktion – inspirieren ließ, in der Darstellung des gesamtwirtschaftlichen Kreislaufs in Form des Tableau einen „höchst geniale[n] Einfall, unstreitig der genialste, dessen sich die politische Ökonomie bisher schuldig gemacht hat“ (MEW, Bd. 26.1, S. 319). Auch Adam Smith, der Keynesianismus und die Wachstumstheoretiker griffen die Grundgedanken Q.s auf. So bezeichnete W. W. Leontief im Jahre 1941 das Tableau als einen Vorgänger seiner Input-Output-Tabelle. Nach Anikin entstanden mit Q.s Werken „tatsächlich die Grundzüge einer neuen Wissenschaft – der politischen Ökonomie in ihrer klassischen französischen Variante“ (S. 163).

Wichtige Publikationen • Tableau économique, 1758 • Maximes générrales du gouvernement économique d’un royaume agricole, 1766 (dt. Allgemeine Grundsätze der wirtschaftlichen Regierung eines ackerbautreibenden Reiches, 1921) • Analyse du tableau économique, 1766 (dt. Analyse der Wirtschaftstabelle, 1921) • La physiocratie, 2 Bde., 1767/68

Literatur Anikin (1974), S. 151–168 Blaug (1971), Bd. 1, S. 67–74 Krause/Graupner/Sieber (1989), S. 443–445 Kurz (2008), Bd. 1, S. 57–67

Literatur Linß (2014), S. 19–22 Piper (1996), S. 20–25 Recktenwald (1971), S. 27–54 Starbatty, Bd. 1 (2012), S. 114–133

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Ludovici, Carl Günther

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Wächter, Ökonomen auf einen Blick, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29069-6_14

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Leben & Karriere • Ludovici nahm am 25.10.1724 im Alter von 17 Jahren das Studium der Philosophie und Theologie an der Universität Leipzig auf, wo sein Vater zu der Zeit als Rektor amtierte. • Im Juni 1725 wurde er Baccalaureus (= Bachelor) der Weltweisheit und drei Jahre später Magister der philosophischen Fakultät. • Sein Studium der Rechtswissenschaften, das er 1732 begann, brach er schon nach kurzer Zeit wieder ab, als er am 06.05.1733 zum ordentlichen Professor der Weltweisheit (= Lehrstuhl für praktische Philosophie) ernannt wurde. • Ab 1738 war L., der sich mittlerweile vom Philosophieprofessor zum Lexikographen gewandelt hatte, Redakteur des Zedler Universal-Lexicon. • 1761 wurde er zum Professor für Aristotelische Logik ernannt. • Von 1765 bis 1766 war L. Dekan der Philosophischen Fakultät und zugleich Rektor der Universität Leipzig. • L. war Mitglied der Ökonomischen Societät zu Leipzig und der Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin.

Werk & Wirkung • Neben seiner Beschäftigung mit philosophischen Werken trat Ludovici besonders hervor als Lexikograf, als der er eine gewaltige Arbeitsleistung bewältigte. „Er ist weniger der Forscher, der Eigenes schafft und verarbeitet, als der Sammler, der den Stoff zusammenträgt und systematisiert“ (Seyffert). • Parallel zu seiner Arbeit als Hauptredakteur am Zedler Unviersallexikon arbeitete L. an dem Werk, „das ihm dauernd einen hervorragenden Platz in der Geschichte der Betriebswirtschaftslehre sichert, die Eröffnete Akademie der Kaufleute oder vollständiges Kaufmanns-Lexicon“ (Seyffert). In diesem zwischen 1752–1756 erschienenen fünfbändigen Handelslexikon, welches das erste und beste seiner Zeit in Deutschland war, werden handelswissenschaftliche, warenkundliche und wirtschaftsgeografische Inhalte systematisch aufbereitet und dargestellt. Von besonderer Bedeutung ist der Anhang zu diesem Lexikon, in dem L., wie er schreibt, „alle kaufmännischen Wissenschaften nach ihrer natürlichen Verbindung untereinander“ darstellen will. Dieser Anhang ist später gesondert herausgegeben worden unter dem Titel Grundriß eines vollständigen Kaufmanns-Systems. In diesem stellt er ein System der Handelswissenschaften auf, das aus drei kaufmännischen Hauptwissenschaften und mehreren Hilfswissenschaften besteht. Zu den Hauptwissenschaften gehören: Handlungswissenschaft, Buchhalten, Warenkunde. Zu den notwendigen Hilfswissenschaften zählt er: Kaufmännisches Rechnen, Korrespondenz, Wirtschaftsgeografie und Handelsrecht. Die Handlungspolitik und die „Schönen Wissenschaften“ zählen zu den wünschenswerten Hilfswissenschaften.

Literatur

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• → Leuchs würdigt in seinem System des Handels (1805) die Leistung L.s wie folgt: „Ludovici hat sich unter den Deutschen ein größeres Verdienst um die Handelswissenschaft erworben als jeder andere vor und nach ihm. Richtige Erklärungen, genaue Zerlegung der Begriffe, geordneter, deutlicher Vortrag, nebst Vollständigkeit, heben dieses Werk über andere.“ → Hellauer hebt die klare Disposition und methodische Behandlung positiv hervor, bemängelt jedoch die Weitschweifigkeit. Dennoch blieb der Grundriß „bis zu Büschs Zeiten das in Deutschland am meisten verwendete Lehrbuch der Handelslehre“ (Hellauer 1920, S. 17). → Seyffert sieht L.s Verdienst in dessen „Herausgabe des ersten und besten deutschen Handelslexikons und die klare Systematik sowohl der Kaufmannswissenschaften im allgemeinen, als der Handlungswissenschaft im besonderen“.

Wichtige Publikationen • Allgemeine Schatz-Kammer der Kauffmannschafft oder vollständiges Lexicon aller Handlungen und Gewerbe, 5 Bände, 1741–43 • Eröffnete Akademie der Kaufleute oder vollständiges Kaufmanns-Lexicon alles Wissenswerthen und Gemeinnützigen in den weiten Gebieten der Handlungswissenschaft und Handelskunde überhaupt, 5 Bände, 1752–56 • Grundriß eines vollständigen Kaufmanns-Systems, 1756

Literatur Brockhoff (2014), S. 121–123 J. Hellauer: System der Welthandelslehre, 8. Aufl., Berlin 1920, S. 17. Hesse (2009), S. 316 HWB (1926), Bd. 1, Sp. 1205–1208. HWB (1956), Bd. 2, S. 939 f Sundhoff (1991), S. 95–119 Weber (1914/1990), S. 52–67 J. H. Zedler: Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschafften und Künste, Bd. 18, Sp. 1005–1008

Smith, Adam

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Leben & Karriere • Von etwa 1730 bis 1737 besuchte Smith die Burgh-Schule von Kirkcaldy, eine der besten Höheren Schulen Schottlands, wo er eine humanistische Ausbildung genoss. „In der Schule fielen seine Vorliebe für Wissenschaft und Bücher und sein sehr gutes Gedächtnis auf“ (Recktenwald 2013, S. XIX). • Im Jahre 1737 immatrikulierte sich der damals 14-jährige Beamtensohn an der Universität Glasgow und studierte Philosophie, Mathematik, Sprachen und auch Ökonomie, die damals jedoch als ein wissenschaftliches Teilgebiet der Moralphilosophie angesehen wurde. Nach drei Jahren schloss er sein Studium mit dem Master of Arts ab (1740). • Von 1740 bis 1746 studierte Smith Philosophie an der Universität Oxford. Für dieses Studium erhielt er aus dem Nachlass eines reichen Wohltäters ein Stipendium. • 1746 kehrte S. in seinen Geburtsort Kircaldy zurück. Da er keine Beschäftigung fand, begann er ab 1748 in Edinburgh öffentliche Vorträge über Literatur und Rechtswissenschaft zu halten, die ihn einem breiten Publikum bekannt machten. • 1751 wurde S. als Professor zunächst für Logik und anschließend für Moralphilosophie (= Sozialwissenschaften) an die Universität Glasgow berufen. „Und damit begannen jene dreizehn Jahre aktiver akademischer Arbeit, die er rückschauend ‚als den weitaus nützlichsten und ehrenvollsten‘ Abschnitt seines Lebens bezeichnete“ (Recktenwald, S. XXI). Bereits 1752/1753 soll S. hier in seinen Vorlesungen über Moralphilosophie die wesentlichen Gedanken seines Wealth of Nations vorgetragen haben. • Von 1764 bis 1766 hielt sich S. als Lehrer, Mentor und Reisebegleiter des Herzogs von Buccleugh in Frankreich auf, wo er mit berühmten Aufklärern (z. B. Voltaire) und Physiokraten (→ Quesnay und Turgot) Bekanntschaft machte und sich von deren Ideen inspirieren und in seiner freiheitlich-liberalen Auffassung bestärken ließ. • Aus Frankreich zurückgekehrt, gab er – finanziell abgesichert durch eine lebenslange Rente des Herzogs – seinen Professorenposten auf und forschte fortan als Privatgelehrter. In dieser Zeit begann er auch mit der Ausarbeitung des Reichtums der Nationen. • Im Frühjahr 1773 reiste S. nach London, um dort seinen fast vollendeten Wohlstand der Nationen fertigzustellen und das Werk dann einem Verleger zu übergeben. Bis zur Veröffentlichung des Buches am 9. März 1776 blieb S. in der Hauptstadt des Königreichs. • In seinen letzten Lebensjahren (1798–1790) übernahm S., der eigentlich als glühender Verfechter des Freihandels bekannt war, das Amt des Zollkommissars von Schottland. Finanziell gut ausgestattet, erwarb S. ein Haus in Edinburgh. Bemerkenswert ist seine private Bibliothek, die etwa dreitausend Bände umfasste. • Am 12. Dezember 1787 wurde S. zum Lord Rektor seiner ehemaligen Universität ernannt. „Die gesamte Universität, Professoren und auch Studenten, hatten ihn für dieses Amt vorgeschlagen“ (Recktenwald 2013, S. XXX).

Werk & Wirkung

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Werk & Wirkung • Smith’ literarisches Gesamtwerk umfasst drei Werke: die Theorie der ethischen Gefühle, den Reichtum der Völker und die Essays über philosophische Gegenstände. Seinen Plan, eine Geschichte der Kultur und Wissenschaft zu verfassen, konnte S. nicht mehr verwirklichen. • Von herausragender Bedeutung ist sein 1776 erschienenes Lebenswerk An inquiry into the nature and causes of the wealth of nations (dt. Untersuchung über Wesen und Ursachen des Reichtums der Völker), welches als literarisches Fundament der Nationalökonomie und als Wegbereiter des Liberalismus gilt. Im Reichtum der Völker greift S. auf die Erkenntnisse der Physiokraten und Aufklärer zurück, entwickelt deren Ideen weiter und fasst sie zu einer in sich geschlossenen, liberalen Wirtschaftstheorie zusammen, die sich insbesondere gegen das vorherrschende Merkantilsystem wendet. Seine Darstellung beruht auf zwei Betrachtungsweisen: einer positiven, analytischen und einer normativen, praxisbezogenen. Das heißt, er lässt sich von den Fragestellungen leiten: Welches sind die Ursachen des Reichtums? Wie kann das Wachstum des Reichtums vermehrt werden? • Die knapp 1000 Seiten umfassende Abhandlung ist in fünf Bücher unterteilt: –– Buch I: Die Ursachen der Produktivitätssteigerung der Arbeit und die Ordnung der natürlichen Verteilung des Arbeitsertrages auf die einzelnen Bevölkerungsschichten –– Buch II: Wesen, Anhäufung und Verwendung von Vermögen –– Buch III: Die Unterschiedliche Entwicklung verschiedener Völker zum Wohlstand –– Buch IV: Systeme der politischen Ökonomie –– Buch V: Die Finanzen des Herrschers oder des Gemeinwesens • Im Folgenden werden einige Schlaglichter des Werkes betrachtet: –– Gleich im I. Buch, Kap. 1 macht S. die Arbeitsteilung als wesentliche Ursache für Produktivitätssteigerung und Wohlstandswachstum aus. Dies veranschaulicht er mit dem berühmten „Stecknadelbeispiel“: Bei der Produktion von Strecknadeln könnte „ein Arbeiter … auch bei größtem Fleiß im Tag vielleicht kaum eine einzige Nadel und sicherlich keine zwanzig machen“. Doch durch Arbeitsteilung können zehn Männer, „zusammen an einem Tag etwa zwölf Pfund Stecknadeln herstellen. Ein Pfund enthält über viertausend Stecknadeln mittlerer Größe. Diese zehn Personen konnten also zusammen an einem Tag über achtundvierzigtausend Stecknadeln herstellen“. Daher kann man jeden einzelnen „als Hersteller von täglich viertausendachthundert Stecknadeln ansehen. Hätten sie aber alle einzeln und unabhängig voneinander gearbeitet … so hätte sicherlich keiner von ihnen an einem Tag zwanzig, vielleicht auch nur eine Nadel machen können …“ –– In Kap.  4, das vom Ursprung und Gebrauch des Geldes handelt, unterscheidet S. zwischen Tauschwert und Gebrauchswert: „Das Wort WERT hat … zwei verschiedene Bedeutungen und drückt einmal den Nutzen einer bestimmten Sache aus, ein andermal die dem Besitz dieser Sache verbundene Fähigkeit, andere Güter zu

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kaufen. Der eine mag ‚Nutzwert‘ heißen, der andere ‚Tauschwert‘.“ Zur Illustration wird das Diamanten-Wasser-Paradox angeführt: „Nichts ist nützlicher als Wasser: Doch lässt sich dafür kaum etwas kaufen; kaum etwas ist im Tausch dafür zu haben. Umgekehrt hat ein Diamant kaum einen Nutzwert; aber oft ist eine sehr große Menge anderer Güter im Tausch dafür zu haben.“ Die folgenden Erklärungsversuche sind verwirrend, da S. zwei Fragestellungen miteinander vermengt. Die Frage nach dem besten Wertmaß wird in Kap. 5 behandelt; der Frage, was den Wert bestimmt, wird in Kap. 6 und 7 nachgegangen. Kap. 7 ist einer der Höhepunkte des Werkes. Hier untersucht S. die Bewegungen von Angebot und Nachfrage, die sich langfristig anpassen und bei freier Konkurrenz zu einem „natürlichen Preis“ (= Herstellungskosten) führen. Vom natürlichen Preis unterscheidet S. den „tatsächlichen Preis, zu dem eine Ware gewöhnlich verkauft wird“ (= Marktpreis). „Der Marktpreis jeder einzelnen Ware wird durch das Verhältnis zwischen der tatsächlich auf den Markt gebrachten Menge und der Nachfrage derjenigen bestimmt, die bereit sind, den natürlichen Preis der Ware zu bezahlen … Solche Leute kann man als effektive Nachfrager bezeichnen und ihre Nachfrage als effektive Nachfrage.“ Im weiteren Verlauf untersucht er die Bestandteile des natürlichen Preises: den Arbeitslohn, den Gewinn aus Vermögen und die Bodenrente. Im II. Buch erläutert S. „das Wesen des Vorrats oder Vermögens, die Wirkungen seiner Anhäufung zu Kapitalien verschiedener Art und die Wirkungen der verschiedenen Verwendungen solcher Kapitalien“. Kap. 1 enthält eine Unterscheidung von „Umlaufkapital“ und „Fixkapital“. Kap. 2 enthält die Smith’sche Geldtheorie. In Kap. 3 unterscheidet S. zwischen produktiver und unproduktiver Arbeit und lobt die Sparsamkeit. Im III.  Buch wird mit einer Vielzahl an historischen Details die wirtschaftliche Entwicklung Europas seit dem Untergang des Römischen Reiches dargestellt. Im IV. Buch wendet sich S. gegen Handelsbeschränkungen. In diesem Zusammenhang taucht in Kap. 2 auch die berühmte Metapher der „unsichtbaren Hand“ auf, wenn S. darauf hinweist, dass jeder einzelne ständig bemüht ist, „die vorteilhafteste Beschäftigung für das ihm verfügbare Kapital zu finden“ und dabei „freilich seinen eigenen Vorteil und nicht den der Gesellschaft im Auge“ hat. Bei der Verfolgung der eigenen Interessen und dem Streben nach dem eigenen Vorteil wird der einzelne „wie in vielen anderen Fällen auch, von einer unsichtbaren Hand geleitet, einem Zweck dienen, der nicht in seiner Absicht lag“. S. weist nicht nur darauf hin, dass, wenn der einzelne seinen eigenen Vorteil sucht, er letztlich der Gesellschaft dient. Er wendet sich auch gegen staatliche Einmischung in ökonomische Aktivitäten, denn „in welchem Zweig der heimischen Erwerbstätigkeit er sein Kapital anlegen kann und voraussichtlich die größte Wirtschöpfung erzielt, kann offensichtlich jeder einzelne an seinem Platz viel besser beurteilen, als ein Staatsmann oder Gesetzgeber das für ihn tun könnte“. Die Vorteile der Arbeitsteilung können sich erst in einem freiheitlichen System ohne Handelsbeschränkungen voll entfalten. S. beschreibt anhand eines Vergleichs sehr anschaulich die Vorteile des Freihandels:

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„Es ist der Grundsatz jedes klugen Familienvaters, niemals zu versuchen, das zu Hause zu machen, was ihn mehr kostet, wenn er es selbst macht, als wenn er es kauft. Der Schneider versucht nicht, seine Schuhe selbst zu machen, sondern kauft sie vom Schuhmacher. Der Schuhmacher versucht nicht, seine eigenen Kleider zu nähen, sondern beschäftigt einen Schneider … Jeder von ihnen findet es vorteilhaft, seine ganze Tätigkeit dort einzusetzen, wo er gegenüber seinen Nachbarn einen Vorteil hat, und mit einem Teil seines Ertrages oder, was dasselbe ist, mit dem Preis eines Teiles davon alles das zu kaufen, was er sonst noch benötigt. Was im privaten Verhalten jeder Familie klug ist, kann in dem eines großen Königreiches schwerlich töricht sein. Wenn ein fremdes Land uns mit einer Ware billiger versorgen kann, als wir selbst sie erzeugen können, so sollten wir sie besser mit einem Teil des Ertrages unserer eigenen Tätigkeit – und zwar einer solchen, bei der wir einen Vorteil haben – von ihm kaufen.“

–– Diese Überlegungen wird später → David Ricardo aufgreifen und zu seiner Theorie der komparativen Kostenvorteile ausbauen. Fast beiläufig stellt S. in Kap.  9 sein gesellschaftliches Idealmodell – das „System der natürlichen Freiheit“ – vor und weist darin dem Staat eine eng umgrenzte Rolle zu: „Hebt man alle Systeme einer Förderung oder Beschränkung vollständig auf, so wird sich daher das naheliegende und einfache System natürlicher Freiheit von selbst einstellen. … Im System der natürlichen Freiheit hat der Landesherr nur drei Pflichten zu erfüllen …: Erstens die Pflicht, die Gesellschaft vor Gewalttaten und Angriffen anderer unabhängiger Gesellschaften zu schützen; zweitens die Pflicht, jedes Mitglied der Gesellschaft soweit wie möglich gegen Ungerechtigkeit oder Unterdrückung seitens jedes anderen Mitgliedes zu schützen, also die Pflicht, eine verläßliche Rechtspflege einzurichten; und drittens die Pflicht, bestimmte öffentliche Bauwerke und bestimmte öffentliche Einrichtungen zu schaffen und instand zu halten, deren Schaffung und Erhaltung nie im Interesse eines einzelnen oder einer kleinen Gruppe von Einzelpersonen liegen kann. Die angemessene Erfüllung dieser verschiedenen Herrscherpflichten erfordert gewisse Ausgaben; und diese Ausgaben setzen wiederum bestimmte Einnahmen voraus, aus denen sie bestritten werden.“

–– Im V. Buch, das rund ein Drittel des gesamten Werkes ausmacht, wendet sich S. im Kap. 1 der Finanztheorie zu. Er gibt einen historischen Abriss der Kriegsführung seit dem Altertum, behandelt die Staatstheorie und öffentliche Investitionen. Zu den notwendigen Ausgaben des Staates zählt er neben „den zur Landesverteidigung und zur Rechtspflege erforderlichen öffentlichen Einrichtungen und Bauwerken … solche zur Verbesserung von Handel und Verkehr der Gesellschaft und solche zur Förderung der Volksbildung.“ Es folgt in Kap. 2 eine Untersuchung über „Die Quellen der öffentlichen oder Staatseinnahmen“. Hier werden die verschiedenen Steuerarten behandelt. Kap. 3 befasst sich mit der Staatsverschuldung. • Bei der Frage, wie die Leistung von S. – insbesondere der Reichtum der Nationen – zu bewerten sei, gehen die Meinungen weit auseinander: → J. Schumpeter sieht in dem Werk das „erfolgreichste Buch über die ökonomische Wissenschaft“. Ähnlich äußert sich auch G. Schmölders, wenn er sagt, dass „die Entwicklung der Nationalökonomie in den letzten zweihundert Jahren … mehr durch Adam Smith bestimmt worden [sei] als durch irgendeinen anderen einzelnen Gelehrten.“ Allerdings gibt es auch kritische

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Stimmen. So stellt E.  W. Streissler kurzerhand klar, dass S. „nicht der Schöpfer der wissenschaftlichen Volkswirtschaftslehre“ ist. Vielmehr bringe sein Werk nur einen „Zuwachs im Prozeß bereits vorgeformter wissenschaftlicher Vorstellungen“. Sein Reichtum sei zwar „in den großen Linien sehr konsequent“, allerdings finde man in dem Werk auch „nicht wenige Widersprüche“ und S. biete „fast alles, häufig aber auch obendrein noch dessen Gegenteil“. Zu einem differenzierten Urteil gelangt M. Blaug: „An seinem analytischen Vermögen gemessen ist Smith nicht der bedeutendste Ökonom des 18. Jahrhunderts. Beurteilen wir ihn jedoch nach seiner Einsicht in die Natur des Wirtschaftsgeschehens, mehr nach seiner ökonomischen Weisheit als nach seiner theoretischen Eleganz, so gab es im 18. und auch im 19. Jahrhundert nicht seinesgleichen“ (S. 129).

Wichtige Publikationen • The Theory of Moral Sentiments, 1759 (Theorie der ethischen Gefühle) • An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, 1776 (Untersuchung über Wesen und Ursachen des Reichtums der Völker) • Essays on Philosophical Subjects, 1795 (Essays über philosophische Gegenstände)

Literatur Anikin (1974), S. 185–231 Blaug (1971), Bd. 1, S. 87–133 Hesse (2009), S. 514–516 Koesters (1985), S. 9–41 Krause/Graupner/Sieber (1989), S. 523–528 Kurz (2008), Bd. 1, S. 68–88 Linß (2014), S. 23–27 Piper (1996), S. 29–36 C. Recktenwald (Hrsg.): Adam Smith, Der Wohlstand der Nationen, 13. Aufl., München 2013 Söllner (2015), S. 24–29 Stavenhagen (1964), S. 52–58

Leuchs, Johann Michael

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Leben & Karriere • Nach einer kaufmännischen Lehre, die Leuchs bereits im Alter von elf Jahren bei Verwandten in Nürnberg aufnahm und die acht Jahre dauerte (von 1774 bis 1882), unternahm er eine zweijährige Studienreise, die ihn zunächst nach Wien (1783) führte. Hier hielt er sich längere Zeit auf und hörte Vorlesungen in Medizin und Staatswissenschaft, u. a. bei dem Kameralisten v. Sonnenfels. Weitere Stationen seiner Reise waren: Köln, Amsterdam, Brüssel, Paris und Straßburg. • Im Jahre 1784 kehrte L. nach Nürnberg zurück und fand in einem Handlungshaus eine Anstellung. Während seiner sieben Jahre dauernden Tätigkeit als Handlungsgehilfe (bis 1791) reifte auch sein Entschluss, sich eingehend mit den theoretischen Grundlagen des Kaufmannsberufs zu beschäftigen. Als Ergebnis dieses handelswissenschaftlichen Studiums erschien 1791 sein Werk Allgemeine Darstellung der Handlungswissenschaft. • 1791 machte er sich – mit einem während seiner Gehilfenjahre ersparten Kapital von 600 Gulden – als Großhändler mit einer Manufaktur-, Material- und Farbenhandlung selbständig. • Als das Geschäft wegen des Revolutionskrieges nicht mehr lukrativ war, wurde er Herausgeber und Verleger der Allgemeinen Handlungs-Zeitung, die seit 1794 erschien und so großen Anklang in Deutschland fand, dass es mehr als 20 (erfolglose) Versuche gab, diese Zeitschrift nachzuahmen.

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• 1795 gründete L. in Nürnberg seine Akademie-, Lehr- und Pensions-Anstalt der Handlung. In diesem Vorläufer der modernen Berufsschule wurden Lehrlinge, deren „Alter, wo möglich, nicht unter 15 Jahre seyn“ soll, in einer drei- bis fünfjährigen Lehre sowohl theoretisch als auch praktisch ausgebildet. Der Unterricht, der täglich fünf bis acht Stunden dauerte, wurde von Lehrern und Kaufleuten gehalten. Das Schulgeld betrug 300 Gulden jährlich. • 1812 zog sich L. aus dem Erwerbsleben zurück und überließ die Geschäfte seinen Söhnen. • 1818 wurde L. zum Gemeindebevollmächtigten und stellvertretenden Magistratsrat gewählt. In dieser Funktion setzte er sich, als das Volksschulwesen neu geordnet wurde, für eine bessere Lehrerbesoldung ein. • 1824 erschien L.’ Ausführliches Handels-Lexicon oder Handbuch der höhern Kenntnisse des Handels. • Die letzten rund zehn Jahre seines Lebens verbrachte L. viel Zeit in seiner Bibliothek, denn, wie er in seiner Autobiographie schreibt, war „die Unterhaltung mit den Büchern seine letzte und liebste Beschäftigung“ (in: J. M. Leuchs: Die Kunst reich zu werden, Nürnberg 1837, S. 26).

Werk & Wirkung • Leuchs Hauptwerk ist das 1804 erschienene System des Handels, das bis 1839 in vier Auflagen erschien. Mit diesem Werk erreichte die Handlungswissenschaft ihren Höhepunkt und „den Rang einer Wissenschaft“ (Schwantag). Das Werk besteht aus drei Teilen: Der bürgerlichen Handelswissenschaft (Privathandelswissenschaft), der Staatshandelswissenschaft und der Handelskunde. Kernstück dieses Werkes ist der erste Teil („Bürgerliche Handelswissenschaft“), der, wie → Seyffert feststellt, auch „am besten entwickelt worden“ ist. Dieser Teil gliedert sich wie folgt: 1. Die Tauschmittellehre, eine Lehre von der Ware und vom Gelde. 2. Die Wertbestimmungslehre, eine Kalkulationslehre, die außerordentlich exakt ausgebildet worden ist. 3. Die Handelslehre. Sie hat zum Gegenstand den Handel als solchen, die Einkaufslehre, die Verkaufslehre, die Zahlungslehre und die Versendung. 4. Die Kontorwissenschaft. In ihr werden behandelt das Buchhalten, der Briefwechsel, die kaufmännischen Aufsätze und schriftlichen Ausfertigungen. 5. Die Wahrscheinlichkeitslehre (Spekulationslehre, Mutmaßungslehre). Sie unter sucht die Grundlagen und Voraussetzungen des dauernden und sicheren Absatzes, um nach Bestimmung des Allgemein-Grundsätzlichen der Wahrscheinlichkeit des Erfolges im Handel diese Erkenntnisse anzuwenden auf den praktischen Fall des

Werk & Wirkung

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Wahrscheinlichen im Warenhandel, bei Fabrikunternehmungen, im Handel mit Staatspapieren, bei Assekuranzen, bei den Wechselpreisen und beim Steigen und Fallen von Aktien. • Bedeutsam sind die Bemühungen L. auf dem Gebiete der kaufmännischen Lehrlingsausbildung. Der Lehrplan seiner 1795 gegründeten Handlungsakademie umfasste neben dem Stoff der Handelswissenschaft auch Warenkunde, Chemie und Fremdsprachen. Neben einer guten Fachausbildung wurden den Lehrlingen auch die für das menschliche Zusammenleben nötigen Kenntnisse vermittelt. Leuchs Lehrplan von 1797 sah die folgenden Inhalte vor: 1. „Handlungswissenschaft, im engeren Verstande, wöchentlich zwei Stunden, nach meinem Lehrbuche. 2. Kontorwissenschaft (Buchhalten, Korrespondenz usw.), nach eigenen Hilfsmitteln, wöchentlich zwei Stunden. 3. Wechselrecht, nach Püttmann, und Wechselgeschäft; beides ein halbes Jahr lang, wöchentlich eine Stunde. Handelsrecht besonders. 4. Rechnen und Handelsrechnungen, nach verschiedenen Lehrbüchern, wöchentlich zwei Stunden. 5. Politische und Handelsgeographie, nach Fabris größerm Lehrbuche u. a. 6. Sprachkenntnisse und Stil: a) deutsche Sprache nach Adelung und Moritz, wöchentlich eine Stunde; b) französische Sprache, wöchentlich drei Stunden; c) italienische, wöchentlich eine Stunde; d) englische, wöchentlich eine Stunde. Bei den fremden Sprachen wird nur auf vollkommene Erlernung der französischen gesehen, um den eigentlichen Handelskenntnissen nicht zuviel Zeit zu entziehen und Englisch und Italienisch nur soweit gelehrt, daß Briefe und Bücher in diesen Sprachen verstanden werden können; es müßten denn mehrere Kenntnisse darin besonders veranlagt werden. 7. Schönschreiben. 8. Zur technischen Chemie, Fabrikwissenschaft, Warenkunde und Handelsgeschichte erhalten sie Hilfsmittel zur eigenen Belehrung, und auch die nötigen Erläuterungen. (Quelle: Sundhoff, S. 144 f.)“

• In berufspädagogischer Hinsicht war Leuchs  – auch aus heutiger Sicht  – sehr fortschrittlich. So führte er in seiner Akademie z. B. ein „Musterkontor“ ein. Diese Juniorfirma, wie sie heute genannt wird, zählt zu den handlungsorientierten Ausbildungsmethoden und ist eine Variante des situativen Lernens. L. erläutert die Bedeutung des Musterkontors für den kontortechnischen Unterricht: „Zur Erlernung des Buchhaltens oder der Kontorwissenschaft habe ich eine eigene Lehrart eingeführt, bei welcher zugleich alle Handelskenntnisse Anwendung finden. Die Zöglinge übernehmen in verschiedenen Handelsstädten, z. B. London, Bordeaux, Amsterdam, Cadix, Hamburg, Nürnberg usw. teils schon als bestehend betrachtete Handlungen, teils fangen sie welche an und verrichten von ihrem angenommenen Wohnsitze aus alle Handelsgeschäfte unter sich und mit andern, insoferne sie schriftlich geschehen können. Es führt also jeder eine eigene Handlung. Bei dieser Lesart hat nicht nur der Lernende äußerst viel Anschauung und Interesse, sondern auch der Lehrer die beste Gelegenheit, die mannigfaltigsten Kenntnisse

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beizubringen und ihre Wichtigkeit und Anwendung zu zeigen, sie in kritische Lagen zu versetzen und ihre Denkkraft auf alle Art zu üben. (nach: Sundhoff, S. 145)“

• Leuchs war in vielen Wissenschaftsdisziplinen bewandert und sehr belesen. Er besaß eine eigene Bibliothek mit über 20.000 Bänden. Der Bildung des Kaufmanns maß er einen großen Wert bei. So findet sich beispielsweise auch in seinem System des Handels der Ratschlag an den Kaufmann, sich umfassend zu bilden: „Werdet und bleibet nicht bloßer Gewerbsmann, schreitet nicht allein mit dem Handel, schreitet auch mit der Menschheit fort. Der bloße Geschäftsmann wird leicht sich und anderen ein unerträglicher Mann. Wer immer in demselben Kreise sich bewegt, außer diesem für garnichts Sinn hat, noch Anteil nimmt, wird zu leicht einseitig, verdrießlich und unzugänglich, weiß nur mit seinesgleichen bei voller Kasse über die schlechten Zeiten zu klagen; erkennt nur den Wert der Vergangenheit und vermag sich in die Gegenwart nicht zu finden (Bd. III, S. 33).“

• Wöhe gelangt zu der Feststellung, dass das Hauptwerk von L. „noch heute relativ modern anmutet“ und führt weiter aus: „Das Leuchs’sche System des Handels geht also weit über eine Handelsbetriebslehre im heutigen Sinne hinaus, da es im zweiten Teil auch eine volkswirtschaftliche Analyse des Handels und im dritten Teil eine Beschreibung der Warenkunde, der Wirtschaftsgeographie und anderer Gebiete enthält“. Ähnlich positiv äußert sich auch Schwantag: „Das Werk überrascht durch die Fülle echter betriebswirtschaftlicher Probleme, die aufgeworfen und richtig gelöst werden.“ Aufgrund seiner publizistischen Tätigkeit kann L., zusammen mit → Carl G. Ludovici, als Wegbereiter der deutschen Handelswissenschaft gesehen werden. Darüber hinaus hat er Herausragendes im Bereich der kaufmännischen Lehrlingsausbildung geleistet, da er auf diesem Gebiet – insbesondere der berufspädagogischen Methodik und Didaktik – seiner Zeit weit voraus war.

Wichtige Publikationen • Allgemeine Darstellung der Handlungswissenschaft nebst einer Anzeige der damit verbundenen Kenntnisse und einige Gedanken über kaufmännische Erziehung, 1791 • System des Handels, 1804 • Ausführliches Handelslexikon oder Handbuch der höheren Kenntnisse des Handels, 1824–1826

Literatur

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Literatur HdSW (1959), Bd. 2, S. 114 f. HWB (1938), Bd. 2, S. 943 f. Pierer’s Universal-Lexikon, Bd. 10 (1860), S. 312 Sundhoff (1991), S. 119–146 Wöhe (1978), S. 50. Eine Autobiographie sowie ein Verzeichnis der Schriften sind enthalten in J. M. Leuchs: Die Kunst reich zu werden, Nürnberg 1837.

Sartorius, Georg Friedrich (Frhr. v. Waltershausen)

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Leben & Karriere • Sartorius besuchte das Collegium Carolinum in Kassel. Danach studierte er vom 11.10.1783 bis Ostern 1788 an der Universität Göttingen. Vom anfänglichen Studium der Theologie wandte er sich schon bald ab, um sich der Geschichte zu widmen. • Noch während seines Studiums erhielt er eine Anstellung an der Bibliothek, zunächst 1786 als Accessist, 1788 als Sekretär und 1794 als Bibliotheksrat. • 1791 hielt sich S., der als junger Mann mit der französischen Revolution sympathisierte, längere Zeit in Paris auf. • Seit 1792 las S. als Privatdozent der philosophischen Fakultät über Geschichte des 18. Jahrhunderts und über Politik. • Das Erscheinen seines Handbuchs der Staatswirthschaft trug maßgeblich dazu bei, dass S.  1797 außerordentlicher Professor in der philosophischen Facultät wurde. Es erfolgten Rufe nach Würzburg, Berlin und Leipzig, die er jedoch ablehnte. • Am 02.06.1802, kurz nach Erscheinen seiner Geschichte des Hanseatisches Bundes, wurde er ordentlicher Professor der Philosophie. • Seit 1810 war S. Mitglied der königlichen Gesellschaft der Wissenschaften. • Bemerkenswerter Weise erhielt S. erst am 22.02.1811 den Doktortitel: Die philosophische Fakultät verlieh ihm die Ehrendoktorwürde, nachdem er kurz zuvor Rufe als ­Professor für Statistik und Kameralwissenschaften nach Berlin sowie für Geschichte nach Leipzig abgelehnt hatte. • 1814 nahm er im Auftrag des Herzogs von Weimar am Wiener Kongress teil und war dann Abgeordneter der Stadt Einbeck bei der hannoverschen Ständeversammlung (von 1815 bis 1817). Hier interessierte er sich besonders für Steuerfragen; er machte sich stark für gleiche steuerliche Behandlung und für indirekte Steuern. Im gleichen Jahr wurde er Professor der Politik. • 1817 trat S. aus dem Landtag aus, um sich ungestört seiner akademischen Tätigkeit widmen zu können. • 1827 erhob der König von Bayern S. zum Freiherrn von Waltershausen, benannt nach dem gleichnamigen Rittergut, das S. in Unterfranken erworben hatte.

Werk & Wirkung • Sartorius verfasste Schriften auf dem Gebiet der Geschichte und der Nationalökonomie bzw. Staatswirtschaft. → Roscher schreibt in seiner Geschichte der National-­Oekonomik in Deutschland, S. „scheint in seiner akademischen Thätigkeit … mehr, denn als Schriftsteller gewirkt zu haben“ (S. 615). Zeitzeugen berichteten, dass seine Vorlesungen in der Tat sehr interessant gewesen seien und „moderne Themata“ behandelt wur-

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den. S. zählte zu den glühenden Verehrern von → Adam Smith. Dessen Wealth of Nations übersetzte er ins Deutsche und lehrte auch in seinen Vorlesungen auf der Grundlage dieses Werkes. • Als ökonomisches Hauptwerk gilt sein 1796 erschienenes Kompendium mit dem Titel: Handbuch der Staatswirthschaft zum Gebrauche bey academischen Vorlesungen, nach Adam Smith’s Grundsätzen. Es handelt sich bei dieser Schrift um eine Einführung in das Werk Adam Smith’s. In der Vorrede schreibt S.: „Der Verfasser hält sich überzeugt, daß Smith die Wahrheit gefunden habe, und er achtete es seine Pflicht, zur Verbreitung derselben das seinige beyzutragen. … Allein sein Werk schien zu weitläuftig, um als Handbuch bey akademischen Vorlesungen gebraucht werden zu können; … Gerade in dieser Schwierigkeit ihn zu verstehen und in der Unbrauchbarkeit eines voluminösen Werks zu akademischen Vorlesungen, glaubte man den Grund zu finden, daß Smith’s Untersuchungen so wenig unter uns bekannt wurden, und von so geringem Einflusse auf die Doktrin der Staatswirthschaft unter uns geblieben sind (S. IV–X).“

Im Wesentlichen ist das Werk eine knappe Zusammenfassung von Smith’ Wealth of Nations, ergänzt um ein paar eigene Ideen in Form von praktischen Hinweisen und Anmerkungen. Roscher kritisiert, dass von S. „die stärksten Irrthümer Smith’s ruhig mitaufgenommen werden“ und stellt auch eine „Mangelhaftigkeit der Systematik“ (S. 615) fest. • Die zweite Auflage des Handbuchs der Staatswirthschaft erschien 1806 unter dem Titel Von den Elementen des Nationalreichthums und von der Staatswirthschaft. Enthielt die erste Auflage noch eigene Ideen, lässt S. diese in der zweiten Auflage vollständig aus und lehnt sich noch enger an Smith an. Dessen Ansichten werden, wie S. in der Vorrede schreibt, „auch wenn sie an sich irrig sein sollten, deutlich, kurz und treu dargestellt“. • Im Jahr 1806 veröffentlichte S. sein aus vier Aufsätzen bestehendes Werk Abhandlungen, die Elemente des Nationalreichthums und die Staatswirtschaft betreffend. Darin setzt er sich kritisch mit Smith auseinander, widerspricht ihm in einigen Teilen und stellt denen seine eigenen Ansichten ausführlich gegenüber. In der Vorrede der Abhandlungen heißt es: „Da der Verfasser, bey aller Verehrung der großen Verdienste des Britten, die Freyheit seines eigenen Urtheils nicht eingebüßt hatte, und in manchen Puncten nicht einstimmig dachte; so erschien es ihm in mehrerer Hinsicht rathsam, diese seine abweichenden Ueberzeugungen lieber besonders vorzutragen, als sie unbescheiden mit denen des gemeinschaftlichen Lehrers und Meisters, in jenem Auszuge, zu vermengen. (S. IV)“

Die Aufsätze tragen die Titel: 1. Vom Werth und Preis der Dinge, so wie von dem unwandelbaren Maßstabe des ersten, nähmlich der Arbeit 2. Von der Sparsamkeit und der Vermehrung des National-Reichthums durch sie

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17  Sartorius, Georg Friedrich (Frhr. v. Waltershausen)

3. Von dem Unterschiede zwischen dem National-Reichthume und dem Reichthume der Einzelnen im Staate; von der Vermehrung des einen wie des andern, den Quellen beyder und ihren Verhältnissen zueinander 4. Von der Mitwirkung der obersten Gewalt im Staate zu Beförderung des National-­ Reichthums 5. Während S. in seiner Smith-Einführung von 1796 sich noch als gläubiger Smithianer erweist, distanziert er sich in diesem Werk in gewissem Maße vom strengen ökonomischen Liberalismus. Sehr deutlich wird dies in dem Aufsatz Von der Mitwirkung der obersten Gewalt, in welchem S. das Laissez-faire-Prinzip, den Eigennutz und die freie Marktwirtschaft kritisiert. Er erkennt, dass Eigennutz durchaus nicht immer dem Gesamtnutzen dient, gibt Beispiele für Marktversagen und beschreibt die Nachteile des Freihandels. Auch weist er auf die vielen Widersprüche und Ausnahmen von Smith hin. So gestehe dieser im Bezug auf den Staatsinterventionismus „selbst eine directe oder indirecte Einmischung der Art der Regierung zu“ (S. 209), wozu S. bemerkt: „In der That ist dieß auch der richtigere Gesichtspunct. Das Recht, die Befugniß kann der obersten Staatsgewalt nicht abgesprochen werden, durch Statute die freye Erwerbung und die freye Anwendung des Erworbenen und des Fleißes zu eigenem Vortheile zu beschränken, wenn die gerechten Ansprüche anderer, durch jene unbedingt freye Anwendung zu eigenem Vortheile, gekränkt würden, und wenn den Nachtheilen, die aus dem einseitigen Verfolgen des Vortheils der Einen entstehn, nicht durch das Widerstreben der Andern von selbst abgeholfen werden kann. … Allein es treten auch Fälle ein, wo es der obersten Gewalt Pflicht wird, jene unbedingte Freyheit in der Erwerbung zu begrenzen, und wo sie dieß auch mit Glück zu leisten vermag. (S. 209–212)“

• Sartorius war einer der ersten deutschen Professoren, die die Lehre von Smith in Deutschland verbreiteten. Sein Handbuch der Staatswirthschaft trug dazu bei, die Lehren Smith’s einem breiten Publikum zugänglich zu machen. Roscher weist auf die Mängel dieses Werkes hin, hebt aber auch dessen „großes formales Verdienst“ hervor: Die Trennung von Volkswirtschaft und Staatswirtschaft, also die Einteilung in Wirtschaftstheorie und Wirtschaftspolitik, wie sie auch heute noch in den Lehrbüchern zu finden ist, geht auf S. zurück und wurde später von → Rau verfeinert und ausgebaut. Bemerkenswert erscheint, dass S. schon vor der Industrialisierung Deutschlands die Rolle des Staates bei Marktversagen und bei sozial unerwünschten Fehlentwicklungen hervorhob und die liberalen Ansichten A. Smiths um den Sozialstaatsgedanken ergänzte. Insofern nahm S. die Grundidee der deutschen Sozialen Marktwirtschaft – eines Mittelweges zwischen freier Marktwirtschaft und Sozialismus – lange Zeit vorweg.

Literatur

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Wichtige Publikationen • Versuch einer Geschichte des Deutschen Bauernkrieges zu Anfang des 16. Jahrhunderts, 1795 • Handbuch der Staatswirthschaft zum Gebrauche bey academischen Vorlesungen, nach Adam Smith’s Grundsätzen, 1796 • Grundriß der Politik, 1801 • Geschichte des Hanseatisches Bundes und Handels, 3 Bde., 1802–1808 • Von den Elementen des Nationalreichthums und der Staaatswirthschaft, nach Adam Smith, zum Gebrauche bey akademischen Vorlesungen und beym Privat-Studio, 1806 • Abhandlungen, die Elemente des Nationalreichthums und die Staatswirtschaft betreffend, 1806 • Urkundliche Geschichte des Ursprunges der deutschen Hanse, 2 Bde., 1830 (posthum hrsg. von J. M. Lappenberg)

Literatur Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 30 (1890), S. 390–394 HdStW, Bd. 6 (1901), S. 498–500 Krause/Graupner/Sieber (1989), S. 482–483 Roscher (1874), S. 615–619

Malthus, Thomas Robert

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Wächter, Ökonomen auf einen Blick, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29069-6_18

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18  Malthus, Thomas Robert

Leben & Karriere • Malthus besuchte nie eine reguläre Schule. Bis zum zehnten Lebensjahr wurde er von seinem Vater unterrichtet; anschließend wurde er Schüler des anglikanischen Geistlichen Richard Graves und ab 1782 des Rousseau-Anhängers Gilbert Wakefield. • Von 1784 bis 1788 studierte M. Theologie, Geschichte, Literatur und Mathematik am Jesus-College der Universität Cambridge. • Nach dem Erwerb des Masters of Arts (1791) war M. als Hilfspastor tätig, wurde 1793 Lehrer am Jesus-College und 1798 Pfarrer. • Nach dem (anonymen) Erscheinen seiner Abhandlung über das Bevölkerungsgesetz (1798) unternahm M. Studienreisen nach Skandinavien und Russland (1799) sowie durch die Schweiz und Frankreich (1802), um statistisches Material für die zweite Auflage seines Werkes zusammenzutragen. • 1805 erhielt M. den Lehrstuhl für Zeitgeschichte und politische Ökonomie am neu gegründeten East India College in Haileybury. Dieses College wurde ins Leben gerufen von der Ostindischen Handelsgesellschaft mit dem Ziel, die zukünftigen Angestellten und Kolonialbeamten auf ihren überseeischen Dienst vorzubereiten und für diesen auszubilden. Da es bis zu diesem Zeitpunkt keinen Lehrstuhl für Ökonomie gab, wird M. als erster Professor für politische Ökonomie angesehen. • 1810 reiste M. nach Schottland und besuchte die Baumwollspinnerei von Robert Owens’ Schwiegervater. • 1819 wurde M. Mitglied der Royal Society. Ab 1833 gehörte er der französischen Académie des Sciences Morales et Politiques an, und ein Jahr später war er Gründungsmitglied der Statistical Society of London. Ferner war er Gründungsmitglied des Political Economy Club und Mitglied der Königlichen Akademie der Wissenschaften in Berlin. • M. starb in Folge einer Herzkrankheit am 29.12.1834.

Werk & Wirkung • Das im Jahre 1798 anonym erschienene Essay on the principle of population (dt. Eine Abhandlung über das Bevölkerungsgesetz) von Malthus war gedacht als Streitschrift gegen die von W. Pitt unterstützten Armengesetze sowie die sozialen Utopien W. Godwins. Viele Ökonomen sahen in dem Bevölkerungswachstum eine Quelle des Wohlstandes. M. stellte dem seine äußerst pessimistische Sichtweise entgegen: Ausgangspunkt ist sein Postulat, „daß die Bevölkerung bei ungehindertem Wachstum in einer geometrischen Reihe zugenommen hat, der Unterhalt für den Menschen aber in einer arithmetischen Reihe“ (siehe Abb.  18.1). Weiter führt M. in der ersten Auflage des Essay aus:

Werk & Wirkung

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Bevölkerung Lebensmittel

32 Geometrisches Wachstum der Bevölkerung

30 25 20

Ernährungslücke, Wohlstandslücke

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15 10

8 4

5

0

2 1

2

15

30

3

45

4

60

5

Arithmetisches Wachstum der Lebensmittelproduktion

75

Jahre

Abb. 18.1  Bevölkerungslehre nach R. Malthus. (Quelle: K.-D. Grüske/F. Schneider: Wörterbuch der Wirtschaft, 13. Aufl., Stuttgart 2003, S. 336) „Nehmen wir für die Bevölkerung der Welt eine bestimmte Zahl an, zum Beispiel 1000 Millionen, so würde die Vermehrung der Menschheit in der Reihe 1, 2, 4, 8, 16, 32, 64, 128, 256, 512 etc. vor sich gehen, die der Unterhaltsmittel in der Reihe 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10 etc. Nach 225 Jahren würde die Bevölkerung zu den Nahrungsmitteln in einem Verhältnis von 512 zu 10 stehen, nach 300 Jahren wie 4096 zu 13, und nach 2000 Jahren wäre es beinahe unmöglich, den Unterschied zu berechnen, obschon der Ernteertrag zu jenem Zeitpunkt zu einer ungeheuren Größe angewachsen wäre (Das Bevölkerungsgesetz, hrsg. u. übers. v. Ch. M. Barth, München: dtv 1977, S. 22 f.).“

• Die Folgen dieser Entwicklung seien Hungersnöte, Epidemien, Elend und Leid. Das Bevölkerungsgesetz „hält die Einwohner der Erde stets genau auf der Höhe der Unterhaltsmittel“. In den oberen Klassen wirke „die Voraussicht der Schwierigkeiten, eine Familie zu ernähren, als vorbeugendes Hemmnis“ („preventive check“). In den unteren Klassen, „wo die Kinder nicht die nötige Nahrung und Pflege erhalten“, verhindere „vorhandenes Elend als nachwirkendes Hemmnis“ („positive check“) ein natürliches Anwachsen der Bevölkerung. Daher lehnte M. auch Armengesetze radikal ab. Nach seiner Ansicht verschärften Armengesetze genau das Elend, das sie eigentlich bekämpfen möchten.

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18  Malthus, Thomas Robert

„Soweit ich zu erkennen vermag, trägt die Regelung nichts dazu bei, den Ertrag des Landes zu vermehren; wenn sie jedoch die Bevölkerung zu vermehren hilft, ohne daß gleichzeitig der Ertrag ansteigt, wird sich als die notwendige und unvermeidliche Folge ergeben, daß der gleiche Ertrag unter eine größere Zahl verteilt werden muß, demnach eine Tagesarbeit eine kleinere Nahrungsmenge einbringen wird und die Armen also durchwegs in ärgere Not geraten (S. 66).“

• M.s Bevölkerungstheorie, die bis zum Jahr 1826 sechs Auflagen erlebte, löste seit ihrer Erscheinung heftige Diskussionen aus und führte sogar zu einer drastischen Reform der Armengesetzgebung in deren Sinne. In wissenschaftlichen Debatten kamen extrem gegensätzliche Auffassungen zum Vorschein. So maß beispielsweise C.  Darwin den Überlegungen von M. eine große wissenschaftliche Bedeutung bei und wandte sie auf das gesamte Tier- und Pflanzenreich an. → J. M. Keynes bezeichnete das Werk als eine Pionierarbeit „in der soziologischen Geschichtsschreibung“. → K.  Marx betrachtete den Essay als ein „sensational Pamphlet“ und zugleich eine „Sünde gegen die Wissenschaft“. → F. Engels nennt M.s Bevölkerungstheorie die „Leibtheorie aller echten englischen Bourgeois“ und „die offenste Kriegserklärung der Bourgeoisie gegen das Proletariat“. Und → W.  Sombart bezeichnete das Werk gar als „das dümmste Buch der Weltliteratur“. Je nach aktueller Bedeutung und konkreter demographischer Fragestellungen (z. B. „Dritte Welt“) hält die Auseinandersetzung mit dem Malthusianismus seit über 200 Jahren an. Obwohl sich das Bevölkerungsgesetz von M. als Irrtum herausgestellt hat, hat es die Wissenschaft auch befruchtet. So fand beispielsweise der Gedanke von der abnehmenden Produktivität Eingang in die volkswirtschaftliche Theorie, worauf Ricardo seine Grundrententheorie aufbaute. • Das zweite wichtige Werk von Malthus sind die 1820 veröffentlichten Principles of political economy (dt. Grundsätze der politischen Ökonomie). M. war der Auffassung, dass in den grundlegenden ökonomischen Fragestellungen große Meinungsunterschiede bestehen. Dies führt er darauf zurück, dass die Ökonomen ihre Erkenntnisse verallgemeinern, vereinfachen und „vorschnelle Forderungen“ zögen. M. sieht die politische Ökonomie als „eine ausgesprochen praktische Wissenschaft“, die großen Schaden, aber auch erheblichen Nutzen stiften könne. Er setzte sich mit den Theorien von → A.  Smith und → D.  Ricardo auseinander um diese zu überprüfen, weil er deren grundlegenden Erkenntnisse für falsch hielt. Letztlich kritisierte er zwar die bestehenden Theorien, lieferte aber selber nichts Neues. Die Wert- und Preislehre sowie auch die Produktionskostentheorie von Ricardo lehnt M. ab. Eine Veränderung des Tauschwertes könne nach M. nur aus dem Prinzip von Angebot und Nachfrage erklärt werden, die sowohl den natürlichen als auch den Marktpreis bestimmen.

Literatur

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Besonders krasse Unterschiede zeigen sich in der Lohntheorie. Zwar baut Ricardo auf M.’ Bevölkerungstheorie auf, jedoch spielt sie hier für M. keine wichtige Rolle. Für die Lohnhöhe sei vielmehr das Verhältnis von Angebot und Nachfrage ausschlaggebend. • Es ist ein großes Verdienst von M., die Bedeutung der Nachfrageseite erkannt zu haben. In einem Nachfragemangel sah er eine große Gefahr. Das „Say’sche Gesetz“ lehnte er entschieden ab, weil er zu der Einsicht gelangte, dass das Kreislaufgeschehen keineswegs zu einem vollständigen Gleichgewicht tendiere. Zur Stärkung der Nachfrage schlug M. sogar öffentliche Investitionen vor. Dies veranlasste → John M. Keynes in einem Essay über M. – den er als seinen Vorgänger sieht – zu der Aussage: „Wäre doch nur Malthus, statt Ricardo, die Stammwurzel der Nationalökonomie des neunzehnten Jahrhunderts geworden, ein wie viel weiserer und wohlhabenderer Platz wäre die Welt dann heute!“

Wichtige Publikationen • An essay on the principle of population as it effects the future improvement of society, 1798 • An essay on the principle of population or a view of its past and present effects on human happiness, 2 Bde., 1803 (dt. Eine Abhandlung über das Bevölkerungsgesetz oder eine Untersuchung über seine Bedeutung für die menschliche Wohlfahrt in Vergangenheit und Zukunft, 2 Bde., 1905) • An inquiry into the nature and progress of rent, 1815 (dt. Eine Untersuchung des Wesens und der Entwicklung der Bodenrente, 1896) • Principles of political economy, 1820 (dt. Grundsätze der politischen Ökonomie mit Rücksicht auf ihre praktische Anwendung, 1910)

Literatur Anikin (1974), S. 277–284 HdSW, Bd. 7 (1961), S. 101–104 Krause/Graupner/Sieber (1989), S. 326–329 Linß (2014), S. 27–31 Piper (1996), S. 44–49 Recktenwald (1971), S. 117–135 Söllner (2015), S. 30–32 Starbatty, Bd. 1 (2012), S. 156–171 Stavenhagen (1964), S. 76–84

Say, Jean-Baptiste

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Wächter, Ökonomen auf einen Blick, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29069-6_19

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19  Say, Jean-Baptiste

Leben & Karriere • Say begann im Alter von 15 Jahren eine kaufmännische Ausbildung im elterlichen Geschäft in Paris. • 1785 ging S. nach London, wo er als kaufmännischer Angestellter tätig war. Dort erlebte er die industrielle Revolution, die ihn nachhaltig prägte. Auch las er hier The Wealth of Nations von → Adam Smith. • 1787 kehrte er nach Frankreich zurück und war dort bei einer Versicherung tätig. • Zwei Jahre später wurde er Anhänger der französischen Revolution, trat in die Nationalgarde ein und meldete sich 1792 freiwillig für die Revolutionsarmee. Da S. die Diktatur der Jakobiner ablehnte, verließ er die Armee. • Von 1794 bis 1799 war S. Chefredakteur eines Journals für Philosophie, Literatur und Politik. • 1799 wurde S. von Napoleon in das Tribunat berufen und dem Finanzkomitee zugewiesen. Nach Erscheinen seines Hauptwerkes Traité d’économie politique fällt S. bei Napoleon in Ungnade, da er in seinem Werk Ideen vertritt, die im Widerspruch stehen zu Napoleons Auffassungen. Nachdem S. sich weigerte das Kapitel über die Finanzen umzuarbeiten, wurde ihm die Veröffentlichung der zweiten Auflage verboten. • Nachdem S. aus dem Staatsdienst entlassen wurde, gründete er 1805 eine Baumwollspinnerei in Nordfrankreich. Sieben Jahre später verkaufte er diese und lebte als Spekulant in Paris. • Ab 1813 hielt S. in Paris Vorlesungen über Nationalökonomie. • 1815 unternahm S. eine Studienreise nach England, wo er auch Bekanntschaft mit → D. Ricardo machte. Im selben Jahr wurde S. Mitglied der Akademie der Wissenschaften, 1819 Professor „d`èconomie industrielle“ am Conservatoire des arts et metiers und 1830 Professor der politischen Ökonomie am Collège de France.

Werk & Wirkung • Says Hauptwerk Traité d`économie politique (dt.: Abhandlung über die Nationalökonomie), das 1803 erschien, erreichte zu dessen Lebzeiten fünf Auflagen und wurde in viele europäische Sprachen übersetzt. Mit diesem Werk systematisierte, popularisierte und verteidigte S. die Lehre von → Adam Smith. Allerdings weicht S. auch in vielen Punkten von dieser ab und ergänzt sie, was „für die weitere Entwicklung der Nationalökonomie von großer Bedeutung geworden“ (A. Amonn) ist. • S. hat der Nationalökonomie einen streng theoretischen Charakter gegeben und sieht als ihre Aufgabe eine „einfache Darlegung, wie der Reichtum gebildet, verteilt und verbraucht wird“. Das Grundproblem sieht er daher in den Teilbereichen Produktion,

Werk & Wirkung

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Verteilung und Konsumtion. Die Nationalökonomie solle nach S. eine empirische Wissenschaft sein, die es ermöglicht „von den Wirkungen auf die Ursachen oder von den Ursachen auf Wirkungen zu schließen“. Sie soll also auf Tatsachen beruhen und frei sein von Werturteilen. • S. hat sich zu vielen ökonomischen Grundproblemen geäußert. Von Bedeutung sind insbesondere seine Werttheorie, die Produktionsfaktorentheorie sowie die Theorie der Absatzwege, aus der das „Say’sche Theorem“ bzw. „Say’sche Gesetz“, wie es später genannt wurde, Berühmtheit erlangte: –– Werttheorie: Nach S. bestimmt sich der (Tausch-)Wert eines Produkts nicht durch die Arbeit, die es erzeugt hat, sondern durch dessen Brauchbarkeit, also den Nutzen, den es stiftet. Der Wert ist also etwas rein Subjektives. –– Produktionsfaktorentheorie: Eng verbunden mit S.s Werttheorie ist seine Auffassung, dass neben der Arbeit auch Kapital und Boden Wert erzeugen. S. betrachtet sie als gleichwertige Produktionsfaktoren. Die Arbeit schaffe Wert durch den Lohn, das Kapital durch den Profit und der Boden durch die Rente. Diese Auffassung von den drei „angeblichen Quellen“ des Reichtums wurde von → Marx im dritten Band seines Kapitals als „trinitarische Formel“ kritisiert und verspottet: „Sie verhalten sich gegenseitig etwa wie Notariatsgebühren, rote Rüben und Musik“ (S. 822). Nach Marx erzeuge weder Kapital noch Boden irgendeinen Wert. Also können daraus auch keine Einkommen entstehen. Indem die menschliche Arbeit als einziger wertschaffender Produktionsfaktor negiert werde, werden die sozialen Beziehungen im Reproduktionsprozess und die Ausbeutung verschleiert. –– Des Weiteren führte S. auch den Begriff des „Unternehmers“ in die Ökonomie ein; diesen unterscheidet er vom Kapitalisten: Während sich der Kapitalist als Kapitaleigentümer den Zins aneignet, erhält der Unternehmer einen Unternehmergewinn als Entgelt für eine besondere Leistung, die darin besteht, dass der Unternehmer die drei Produktionsfaktoren auf rationelle Weise im Produktionsprozess miteinander kombiniert. Zur Erfüllung dieser Aufgabe muss der Unternehmer über Fähigkeiten und Talente verfügen: Er muss beispielsweise organisieren, kombinieren und disponieren. → Marshall und → Schumpeter haben später in ihren Arbeiten diese Idee aufgegriffen. –– Theorie der Absatzwege: In einer rund vier Seiten langen Ausführung über die Absatzwege legt S. in seiner Abhandlung den Gedanken dar, der später unter der Bezeichnung „Saysches Gesetz“ Eingang in die Theoriegeschichte der Ökonomie gefunden hat. Die beiden Hauptsätze lauten: „Jedes Produkt eröffnet vom Augenblick seiner Erzeugung an für den ganzen Betrag seines Wertes anderen Produkten einen Absatzweg“ und „die bloße Tatsache der Bildung eines Produkts führt sogleich, wie sie erfolgt ist, für andere Produkte einen Absatz herbei“. Kurz gefasst, besagt das „Saysche Gesetz“ also, dass sich jedes Angebot seine Nachfrage schafft.

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Jede Produktion bringt Einkommen hervor, mit denen wiederum Waren mit dem entsprechenden Wert gekauft werden. Ein Angebot an Produkten bedeutet eine Nachfrage nach anderen Produkten. Das heißt, Produkte werden mit Produkten gekauft. S. kommt zu dem Ergebnis, dass die Gesamtnachfrage in einer Wirtschaft immer gleich dem Gesamtangebot sei. Zwar könne es kurzfristig zu einem Ungleichgewicht kommen; allerdings pendelt sich der Markt aber wieder in einem Gleichgewicht ein, sofern der Staat nicht in die Wirtschaft eingreife. Daher könne es auch keine Absatzstockung oder Überproduktion geben und letztendlich also auch keine Wirtschaftskrisen. • Says Theorien waren schon zu Lebzeiten umstritten. Größte Aufmerksamkeit brachte ihm seine Theorie der Absatzwege ein. Im 19. Jahrhundert vielbeachtet, ließ sie ihm hohe Anerkennung zuteil werden; ab dem 20. Jahrhundert wurde diese Theorie kritischer gesehen. Nachdem → Keynes vor dem Hintergrund der Weltwirtschaftskrise in den 1930er-Jahren seine General Theory verfasst hat, in der er zu dem Ergebnis kommt, dass das „Saysche Gesetz“ falsch ist, wird es in der Wissenschaft als nicht mehr haltbar angesehen. Daneben haben einige Begriffe dauerhaften Eingang in die ökonomische Theorie gefunden. So fasste S. den Begriff „Produktion“ weiter auf als seine Vorgänger; er beschränkte ihn nicht nur auf materielle Güter sondern auf alles, was der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse dient; somit wurde „auch der wirtschaftliche Charakter der immateriellen Güter oder Dienstleistungen anerkannt“ (Stavenhagen, S. 97). Auch führte S. den Begriff des Unternehmers in die Ökonomie ein, den er unterscheidet vom Kapitalisten und ihm, wie → Schumpeter es später tun wird, als Innovator eine wichtige Rolle in der Wirtschaft zuschreibt. Von größerer Bedeutung (weil unter ideologischen Gesichtspunkten brisant) ist die Say’sche Produktionsfaktorentheorie, d. h. die Dreiteilung in die Produktions „faktoren“ „Arbeit“, „Boden“ und „Kapital“, denn sie berührt sowohl die Wert- als auch die Verteilungstheorie. Als fester Baustein in der bürgerlichen Ökonomie wird sie von marxistischer Seite massiv kritisiert: „Die Produktionsfaktorentheorie verschleiert die Ausbeutung, weil sie negiert, dass Wert und Mehrwert nur durch die lebendige produktive Arbeit der Arbeiter im Produktionsprozess ­geschaffen werden. Sie negiert die sozialen Beziehungen im Reproduktionsprozeß und stellte den Produktionsprozeß fälschlich als bloßes Zusammenwirken stofflicher Faktoren dar“ (Krause/Graupner/Sieber, S. 485).

Wichtige Publikationen • Traité d`économie politique, 1803 (dt.: Abhandlung über die National-­Oekonomie, 1807) • Cours complet d’économie politique practique, 6 Bde., 1828/29 (dt.: Handbuch der practischen National-Oekonomie, 1829–1831 und Vollständiges Handbuch der practischen National-Oekonomie, 1829–1831)

Literatur

Literatur Anikin (1974), S. 316–325 HdStW, Bd. 6 (1901), S. 501–504 HdSW, Bd. 9 (1956), S. 93–95 Hesse (2009), S. 481–482 Krause/Graupner/Sieber (1989), S. 483–486 Linß (2014), S. 31–35 Piper (1996), S. 50–54 Starbatty (2012), Bd. 1, S. 172–187 Stavenhagen (1964), S. 96–98 Weitz (2008), S. 27–34

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Owen, Robert

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Leben & Karriere • Owen, Sohn eines Sattlers, Eisenhändlers und Postmeisters in Newtown (Nordwales), genoss keine ordentliche Schulbildung. Bereits im Alter von neun Jahren brach er die Schule ab. • Von 1781 bis 1790 war O. kaufmännischer Lehrling und Handlungsgehilfe in verschiedenen Manufakturen von Stamford, London und Manchester. Die im Nordwesten Englands gelegene Stadt war das Zentrum der industriellen Revolution. Hier, wo sich die Baumwollindustrie rasant entwickelte, gründete O. eine kleine Spinnerei mit drei Beschäftigten. • 1791, im Alter von nur 20 Jahren, wurde O. zunächst Leiter, später auch Mitinhaber einer der größten Feingarnspinnereien in Manchester. • 1793 trat O. der Manchester Literary and Philosophical Society bei. An den Diskussionsrunden dieser Gesellschaft nahm er regen Anteil. Auch verfasste er einige philosophische Schriften. Sein philosophisches Denken wurde beeinflusst von Locke, Hobbes, Montesquieu, Rousseau und Morelly. • Während einer Geschäftsreise nach Schottland lernte O. in Glasgow die Tochter eines reichen Textilunternehmers kennen, die er 1799 heiratete. Sein Schwiegervater war der reiche Fabrikant David Dale, der 1785 in dem südöstlich von Glasgow gelegenen Dorf New Lanark eine Textilfabrik errichtet hatte. Nach der Heirat siedelte O. dorthin über, trat in die Fabrik seines Schwiegervaters ein und wurde dessen Partner und später auch Teilhaber der Fabrik. Zu dieser Zeit hatte O. bereits den Entschluss gefasst, ein soziales Experiment durchzuführen mit dem Ziel, die dramatische Lage der Arbeiter zu verbessern. → Friedrich Engels hält hierzu fest: „Da trat ein neunundzwanzigjähriger Fabrikant als Reformator auf, ein Mann von bis zur Erhabenheit kindlicher Einfachheit des Charakters und zugleich ein geborener Lenker von Menschen wie wenige“ (MEW, Bd. 19, S. 197). • Ab 1800 leitete O. die Fabrik in New Lanark und wirkte als Sozialreformer. Er war davon überzeugt, dass Lohnsklaverei und Unterdrückung der Arbeiter nicht notwendig sind, um profitabel produzieren und eine hohe Rentabilität erzielen zu können. Außerdem führte er eine Reihe von sozialreformerischen und sozialpädagogischen Maßnahmen ein, um die Lage der Arbeiter zu verbessern. Diese standen seinen Ideen anfangs sehr misstrauisch gegenüber. Als der Geschäftsbetrieb im Jahr 1806 aufgrund einer Krise für vier Monate eingestellt werden musste, O. jedoch weiterhin den vollen Lohn an seine Arbeiter zahlte, schwanden die Vorurteile seiner Arbeiter. Hingegen hatte er sich als entschiedener Gegner von Kirche und Religion zeitlebens mit massiven Anfeindungen der Kirche auseinanderzusetzen. Ab etwa 1812 beschloss O. seine Pläne über New Lanark hinaus auszuweiten, denn „die dort ­angewandten Prinzipien und Methoden hält er für geeignet, die gesamte Gesellschaft zu verbessern“ (F. Kool/W. Krause, S. 372). • Zwischen 1812 und 1813 verfasste O. vier Aufsätze, in denen seine reformerischen Ideen und Pläne ihren literarischen Niederschlag finden. Diese Abhandlungen, die unter dem Titel A New View of Society erschienen, sowie sein Experiment in New Lanark machten O. international berühmt.

Leben & Karriere

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• Als es nach den Napoleonischen Kriegen (1815/1816) in England zu einer Wirtschaftskrise kam, wurde ein Komitee eingesetzt, das die Ursachen der Krise untersuchen und Vorschläge zu deren Behebung unterbreiten sollte. Diesem Komitee gehörte neben O. auch → David Ricardo an. • Am 06.06.1815 legte Sir Robert Peel dem Parlament einen Gesetzesentwurf vor, der O.s Vorschläge zur Arbeitszeitverkürzung enthält. Vier Jahre später wurde dieser Gesetzesentwurf in abgeschwächter Form „als erstes Arbeiterschutzgesetz des industriellen Zeitalters verabschiedet“ (HdSW, Bd. 8, S. 142). • Ab 1816 setzte sich O. mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln für die Gründung von Genossenschaftssiedlungen ein. Er unterbreitete einem Regierungsausschuss einen Plan, wie durch die Gründung solcher Siedlungen die Lebenssituation der Armen gelindert werden könnten. In diesen „villages of co-operation“ sollte das Prinzip der „gemeinsamen Arbeit für gemeinsames Interesse“ gelten, d. h. die Menschen sollten dort gemeinschaftlich, ohne kapitalistische Arbeitgeber arbeiten. • Ab 1820 baute O. seine Ideen von einer kommunistischen Gesellschaftsform weiter aus. In diesem Jahr erschien sein Bericht an die Grafschaft Lanark. Darin lehnt er die Bevölkerungslehre von → Thomas R. Malthus entschieden ab. Die Ursache für soziales Elend und Wirtschaftskrisen sieht O. im niedrigen Lohn und im geringen Verbrauch der Arbeiter. • 1825 erwarb O. ein Grundstück in Indiana (USA) und gründete dort die Kolonie New Harmony, die auf kommunistischen Prinzipien beruhte. O. investierte fast sein ganzes Vermögen (rund 40.000 Pfund Sterling) in das Projekt, das schließlich scheiterte. 1829 kehrte er zurück in die Heimat. • In einer Phase, in der das Genossenschaftswesen starken Auftrieb erhielt, gründete O. im Jahre 1832 in London eine „Arbeiterbörse“. Hier konnten die Arbeiter ihre Erzeugnisse mittels eines sogenannten „Arbeitsgeldes“ direkt, also ohne Zwischenhandel austauschen. Der Preis der Produkte entsprach den Selbstkosten; der Unternehmerprofit wurde abgeschafft. O. sah hierin „eine Vorstufe der von ihm erstrebten neuen Gesellschaftsordnung“ (vgl. Ramm 1968, S. 247). • Von 1833 bis 1834 rief O. eine allgemeine nationale Gewerkschaft ins Leben, in der schließlich rund eine halbe Million Mitglieder organisiert waren. • Nach 1834 zog O. sich aus dem gesellschaftlichen Leben zurück. Gleichwohl verfasste er noch einige Schriften, gab Zeitschriften heraus und beteiligte sich noch an der Gründung einer weiteren Kolonie. • O. starb am 17.11.1858. Einen Tag vor seinem Tode sagte er: „Ich brachte der Welt wichtige Wahrheiten. Und wenn sie ihrer nicht achtete, so weil sie sie nicht verstand. Ich bin meiner Zeit voraus“ (zit. n. H. Simon, S. 332).

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20  Owen, Robert

Werk & Wirkung • Owen war in erster Linie ein Praktiker; seine Theorien entwickelte er auf der Grundlage von Experimenten. Von 1800 bis 1812 leitete O. die Fabrik in New Lanark, in der er seine sozialreformerischen Ideen praktisch durchführte und erprobte. Daran anschließend verfasste er die Schrift A New View of Society, in der er seine Erfahrungen und Beobachtungen auswertete. 1825 erwarb O. in den USA von der Sekte der Rappisten die Siedlung New Harmony und begann ein großangelegtes Experiment, mit dem er die Richtigkeit seiner Theorien überprüfen und auch die Öffentlichkeit überzeugen wollte. Nachdem dieses Projekt gescheitert war, wandte er sich der Agitation seiner Ideen zu und veröffentlichte sein Hauptwerk The Book of the New Moral World. • Als O. die Leitung der Fabrik in New Lanark übernahm, boten ihm sich (wegen des schlechten Standortes) zwei Möglichkeiten, die benötigten Arbeitskräfte zu beschaffen: Kinder aus den Arbeitshäusern des Landes zu bekommen oder Familien in der Nähe der Fabrik anzusiedeln. Über die Situation der Bevölkerung schreibt O.: „Die Bevölkerung lebte in Müßiggang, in Armut, in fast jeder Art von Verbrechen, und damit auch in Schulden, Krankheit und Elend. … Man kann wirklich sagen, daß diese Leute damals zwar alle Laster, aber nur sehr wenige Tugenden eines gesellschaftlichen Gemeinwesens besaßen. Diebstahl und Hehlerei waren ihr Gewerbe, Müßiggang und Trunksucht ihr Gewand, bürgerliche und religiöse Zwistigkeiten ihr tägliches Brot; sie waren nur einig in einem ­eifrigen, systematischen Widerstand gegen ihren Arbeitgeber. (Owen: Eine neue Gesellschaftsauffassung, zweiter Aufsatz, in: T. Ramm, S. 268/271)“

• Daher führte O. sozialreformerische Maßnahmen in New Lanark durch, die folgende Punkte umfassten: –– Verbot der Beschäftigung von Kindern unter zehn Jahren –– Reduzierung der täglichen Arbeitszeit erwachsener Arbeiter auf 10½ Stunden (in anderen Fabriken wurden 14 Stunden täglich gearbeitet) –– Errichtung von neuen und Verbesserung der vorhandenen Wohnungen –– Gewährung von Mietvergünstigungen für Arbeiter –– Gründung von Konsumgenossenschaften –– Einführung eines sog. „Unterstützungsfonds“, d. h. einer Kranken-, Unfall- und Rentenversicherung, zu deren Finanzierung jeder Arbeiter den 60. Teil seines Lohnes abgeben musste –– sozialpädagogische Maßnahmen zur Verhinderung bzw. Minderung gesellschaftlich unerwünschten Verhaltens, wie z. B. Diebstahl, Trunksucht, Betrug, Zank und Streit –– bildungspolitische Maßnahmen, d. h. kostenloser Unterricht, der von qualifiziertem Lehrpersonal nach modernen Methoden durchgeführt wurde –– Errichtung von Kindergärten und Schulen für Kinder ab dem 5. Lebensjahr Nach etwa zwölf Jahren konnte O. sein Erziehungsexperiment in New Lanark erfolgreich zum Ende führen. Seine daraus gewonnenen Erkenntnisse machte er der Öffentlichkeit durch seine Schrift A New View of Society bekannt.

Werk & Wirkung

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• In den Jahren 1812–1813 verfasste Owen vier Aufsätze, die jedoch erst im Juli 1816 zum Verkauf gedruckt wurden. Sie erschienen unter dem Titel A New View of Society; or, Essays on the Principle of the Formation of the Human Character, and the Application of the Principle to Practice (dt. Eine neue Gesellschaftsauffassung. Vier Aufsätze über die Bildung des menschlichen Charakters als Einleitung zu der Entwicklung eines Planes, die Lage der Menschheit allmählich zu verbessern). Die folgende Inhaltsangabe basiert auf: R. Owen, Eine neue Gesellschaftsauffassung, in: Der Frühsozialismus, Quellentexte hrsg. von T. Ramm, Stuttgart: Kröner 1968, S. 249–346. –– Den vier Aufsätzen sind zwei Vorreden vorangestellt, in denen sich O. zuerst „an seine königliche Hoheit, den Prinzregenten des Britischen Reichs“ und danach „an die britische Öffentlichkeit“ wendet, um seine Ideen vorzustellen und Vorschläge zu unterbreiten. O. ist von seinen Schriften, die „das Ergebnis geduldiger Beobachtung und ausgedehnter Kenntnis der menschlichen Natur“ seien, so sehr überzeugt, dass er diese dem britischen Prinzregenten, dem späteren König Georg IV. als „Umrisse eines praktischen Regierungsprogramms“ nahelegt: „Sollten die hier skizzierten Umrisse zu einem System der Gesetzgebung ausgebildet und ohne Abweichung befolgt werden, so lassen sich nicht nur für die Untertanen dieses Königreiches, sondern auch für die ganze Menschheit die wohltätigsten Folgen voraussehen“. Und an die britische Öffentlichkeit gerichtet, schreibt O.: „Aber seid überzeugt, ganz und gar überzeugt, daß die Prinzipien, auf die diese Neue Gesellschaftsauffassung ­gegründet ist, wahr sind, daß kein blendender Irrtum hinter ihnen lauert und daß kein unlauterer Beweggrund ihre öffentliche Meinung veranlaßt“ (S. 249–252). –– Erster Aufsatz: Über die Bildung der Charakter. In diesem Aufsatz legt O. seine Grundthesen dar und entwickelt allgemeine Grundsätze. Diese beziehen sich auf die Charakterbildung und Erziehung der Armen und der arbeitenden Klasse. Die Abhandlung beginnt mit der Feststellung, den Charakter von rund ¾ der britischen Bevölkerung „läßt man jetzt ganz allgemein ohne geeignete Führung oder Anleitung und in vielen Fällen sogar unter Umständen sich herausbilden, die ihn direkt auf die Bahn äußersten Elends und Lasters treiben“ (S. 253). Ein Grundprinzip, für das O. kämpft, „ist das wohlverstandene und für alle gleichmäßig vorhandene Glück. Dieses kann nur durch ein Verhalten erreicht werden, das das Glück der Allgemeinheit fördern muß“ (S. 257). O. fordert daher „eine Nationalerziehung, um den Charakter jener ungeheuren Masse der Bevölkerung vernunftmäßig zu bilden, die bei ihrer bisherigen Entwicklung die Welt mit Verbrechen erfüllt“ (S. 261). Denn: „Auf Grund unserer Erziehung zögern wir nicht, für die Entdeckung und Bestrafung von Verbrechen und für die Erreichung von Zwecken, deren letzte Ergebnisse im Vergleich zu diesem vollkommen unbedeutend sind, Jahre zu verwenden und Millionen auszugeben. Wir sind aber nicht einen Schritt auf dem richtigen Weg gegangen, dem Verbrechen vorzubeugen und die zahllosen Übel zu vermindern, unter denen die Menschheit jetzt leidet“ (S. 262). –– Zweiter Aufsatz: Die Grundthesen des ersten Aufsatzes werden weiter ausgeführt und teilweise auf die Praxis angewandt. In dieser Abhandlung gibt O. zunächst einen sehr ausführlichen und detaillierten Bericht, unter welchen Bedingungen er die Fabrik in New Lanark übernahm, in welcher Lage sich die Menschen befanden und wie er sein Erzie-

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hungsexperiment durchführte. Aus seinen langjährigen praktischen Erfahrungen und Beobachtungen kommt er zu dem Befund: „Bei denen, die heute Verbrechen begehen, liegt der Fehler ganz offenbar nicht beim einzelnen, sondern in dem System, in dem dieser einzelne erzogen worden ist. Beseitigt man die Umstände, die das Verbrechen im menschlichen Charakter aufkeimen lassen, so wird es kein Verbrechen mehr geben. … Das geschilderte Experiment beweist, daß dies nicht bloß Hypothese und Theorie ist. Von diesen Grundsätzen läßt sich mit Sicherheit sagen, daß sie allgemeine Geltung haben und auf alle Zeiten, Personen und Verhältnisse anwendbar sind. … Allerdings geschehen heutzutage keine Wunder mehr. So wird auch nicht behauptet, daß unter diesen Umständen alle ohne Ausnahme vernünftig und gut oder von Irrtum frei geworden seien. Aber es kann wahrheitsgemäß behauptet werden, daß sich die Gesellschaft wesentlich verbessert hat, daß sie ihre schlimmsten Fehler fallen ließ und daß auch die kleineren bald verschwinden werden, wenn diese Grundsätze weiter zur Anwendung kommen. Auch ist während des erwähnten Zeitraumes kaum eine gesetzliche Strafe verhängt worden, und kaum einer aus der Bevölkerung hat ein Gesuch um Unterstützung aus dem Gemeindefonds eingereicht. Man sieht auf den Straßen keine Betrunkenen, und die Kinder werden in dem zu ihrer Bildung errichteten Institut ohne Anwendung von Strafen erzogen und unterrichtet. Das Gemeinwesen macht ganz allgemein den Eindruck von Fleiß, Mäßigkeit, Behagen, Gesundheit und Glück. (S. 277/278)“

Daraus leitet O. seine Forderungen an die Regierung ab: „Es ist zweifellos im eigensten Interesse jeder Regierung, für Erziehung und Arbeit dieser Art zu sorgen, und es ist nicht schwer, das zu tun. Das erste ist, wie schon gesagt, durch ein nationales Erziehungssystem zur Heranbildung des Charakters zu erreichen. Das zweite dadurch, daß die Regierungen für die überzählige Arbeiterbevölkerung Reservearbeiten bereithalten, um dann, wenn der Bedarf an Arbeitskräften im ganzen Lande nicht groß genug ist, der Gesamtheit volle Beschäftigung zu gewähren. Diese Arbeit müßte für öffentliche, der Allgemeinheit nützliche Projekte geleistet werden, und zwar zu etwa denselben Kosten, wie sie bei einer Fabrik entstehen. (S. 281)“

–– Dritter Aufsatz: Die Prinzipien der früheren Aufsätze werden auf besondere Verhältnisse angewandt. In diesem Aufsatz setzt sich O. kritisch mit bildungstheoretischen und bildungspolitischen Fragen auseinander. Er geht davon aus, dass nicht der einzelne Mensch für seine (charakterliche) Bildung verantwortlich ist, sondern vielmehr die Umwelt, die äußeren Verhältnisse. Ein Bildungssystem, das auf der Annahme beruht, der Einzelne sei für sich selbst verantwortlich, ist für O. der „wahre, alleinige Ursprung allen Übels“ (S. 293). O. kritisiert die herrschende Pädagogik, bemängelt die Kluft zwischen Theorie und Praxis, und er unterbreitet Vorschläge, wie das Bildungssystem zum Wohle der gesamten Gesellschaft verbessert werden könne. In seine Überlegungen bezieht er neben den Bildungszielen auch didaktische und methodische Aspekte mit ein. Im Prinzip entfaltet O. Ansätze einer beruflichen Bildung, in der theoretische und praktische Elemente miteinander verbunden werden. Weiterhin äußert sich O. kritisch zur Religion bzw. zur Kirche. Alle religiösen Lehren bzw. Systeme enthalten einen „Grundirrtum“ und sind „mit den Tatsachen rings um uns unvereinbar“ (S. 303). „Aus diesen Grundirrtümern aller bisher der großen Masse gelehrten Systeme ist das Elend der Menschheit zum großen Teil hervorgegangen. Die Menschen sind stets von Kindheit an dazu ange-

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leitet worden, an Unmöglichkeiten zu glauben, noch immer werden sie dazu gebracht, dem gleichen Wahn anzuhängen, und immer ist Elend das Ergebnis. (S. 303)“

–– Vierter Aufsatz: Die Prinzipien der vorhergehenden Aufsätze in ihrer Anwendung auf die Regierung. In dem letzten Aufsatz unterbreitet O. der britischen Regierung konkrete Reformvorschläge zur Schaffung eines „vernünftigen Systems“. Diese beziehen sich insbesondere auf das Bildungssystem und den Arbeitsmarkt. Zuvor müsse jedoch die herrschende „verkehrte Lehre mit der ganzen Reihe der sich aus ihr ergebenden Folgerungen beseitigt werden“ (S. 316). Hierzu zählt die Abschaffung von Gesetzen, die den Alkoholkonsum, das Glücksspiel und den Missbrauch der Armengesetze begünstigen. Da nach der Ansicht O.s „durch vernünftige Erziehung […] die Kinder einer beliebigen Klasse überall leicht zu Männern jeder anderen Klasse umgeformt werden [können]“ (S. 324), wird es demnach „das höchste Interesse und folglich auch die erste und wichtige Pflicht eines jeden Staates sein, die einzelnen Charaktere, aus denen sich der Staat zusammensetzt, zu bilden“ (S. 325). Für O. ist es offensichtlich, „daß der bestregierte Staat derjenige sein wird, der das beste System der Volkserziehung besitzt“ (S. 326). Daher solle ein „nationales System der Erziehung gebildet werden“, welches „im ganzen Königreich einheitlich durchgeführt werden müßte“ (S. 326). Zu diesem Zweck solle „ein Gesetz zur Erziehung sämtlicher armen und arbeitenden Klassen“ geschaffen werden. Dieses Bildungsgesetz soll folgende Punkte regeln: • Errichtung von Seminaren zur Ausbildung der Lehrer • die Errichtung, Größe und flächendeckende Verteilung der Schulen, • die Bereitstellung der erforderlichen Mittel zum Bau und zur Unterhaltung der Schulen • die Anstellung der Lehrer • die Lehrpläne –– Eine weitere von O. empfohlene Reform bezieht sich auf den Arbeitsmarkt. O. schlägt vor, „vierteljährliche Berichte über die Lage auf dem Arbeitsmarkt in jeder Grafschaft“ (S. 337 f.) zu erstellen, die Angaben enthalten zur Beschäftigungsquote, zur Höhe der Löhne sowie zur Art und zum Umfang der Arbeit, die die arbeitsfähigen Unbeschäftigten leisten können. Des Weiteren sollen staatliche Beschäftigungsprogramme aufgelegt werden, denn „die Arbeit eines jeden, der Körperkraft besitzt …, läßt sich für die Allgemeinheit vorteilhaft verwenden“ (S. 341). Um negative Auswirkungen durch Schwankungen auf dem Arbeitsmarkt zu vermeiden, „sollte es jede Regierung, die am Wohle ihrer Untertanen aufrichtig Anteil nimmt, als eine ihrer ersten Pflichten betrachten, für dauernde Beschäftigung von wirklichem allgemeinen Nutzen zu sorgen, zu der dann alle, die darum nachsuchen, sofort herangezogen werden können“ (S. 342). Als Beispiele für sinnvolle volkswirtschaftliche Maßnahmen führt O. „die Herstellung und Ausbesserung von Straßen“ oder auch die „Herstellung von Kanälen, von Häfen, Docks, Schiffsbauten und von Materialien für die Marine“ (S. 342) an. Die Essays fanden unter Politikern, Gelehrten und Geistlichen sowie auch unter den Regierungen einiger europäischer Länder Verbreitung. Obwohl O. großes Ansehen genoss, stand man seinen Vorschlägen ablehnend gegenüber.

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Abb. 20.1  Robert Owens Projekt einer Kommune für 2000 Personen. 1) Turnhalle für Schule und Krankenhaus, 2) Konservatorium, 3) Wannenbäder, 4) Speisesaal, 5) Schule und Kindereinrichtungen, 6) Bibliothek, Lesesaal, Buchbinderei, Druckerei , 7) Tanzsaal und Musikzimmer, 8) Theater für Vorlesungen, Ausstellungen, Versammlungen, Labor, kleine Bibliothek usw., 9) Museum, Katalogräume, Zimmer zur Vorbereitung der Exponate, 10) Brauerei, Bäckerei, Wäscherei, 11) Speisesaal für Schule und Kindereinrichtungen, 12) Scheinwerferanlage, Turmuhr, Observatorium, 13) Gästeräume und Zimmer für Erwachsene, 14) Ledigenwohnheim und Internat, 15) Weg, 16) Esplanade, 17) Arkade und Terrasse, 18) unterirdische Gänge zur Küche. (Quelle: J. Gottschalg/G. Wolter (Hrsg.): Jugendlexikon Wissenschaftlicher Kommunismus, 3. Aufl., Leipzig 1983, S. 170)

• Im April 1825 begann O. mit einem Experiment, das die Richtigkeit seiner Theorie bestätigen und die Öffentlichkeit überzeugen sollte. Er kaufte eine Rappisten-Kolonie in Indiana (USA) und gründete dort New Harmony, eine Gemeinschaftssiedlung, die auf seinen kommunistischen Prinzipien beruhte (siehe Abb. 20.1). In diesem Siedlungsprojekt „entwickelt er einen Erziehungsplan, der sich durch die Verbindung von Erziehung und gesellschaftlicher Entwicklung auszeichnet“ (Elsässer in Euchner 1991, Bd. 1, S. 53). In der Gemeinschaft lebten etwa 600 Menschen. Dies entsprach der Vorgabe von O., wonach „eine Gemeinde nicht weniger als fünfhundert, aber auch nicht mehr als zwei- bis dreitausend Mitglieder zählen“ soll (R. Owen: Das allgemeine Gesetzbuch, § 14, in: T. Ramm 1968, S. 384). In der Anfangsphase war das innovative Projekt sehr erfolgreich: Jungen und Mädchen wurden gleichberechtigt ausgebildet. Es gab öffentliche Einrichtungen, wie z. B. eine Bibliothek, einen Kindergarten, eine ­Berufsschule und ein Arbeiterinstitut. Die Menschen erhielten entsprechend ihres Alters gleiche Nahrung, Kleidung und Bildung. Das Eigentum stand der Gemeinschaft zu. Die Produktion wurde gesteuert durch eine Exekutive, die nach den Richtlinien der Vollversammlung handelte. Da sich das Leben in New Harmony sehr günstig gestaltete, sah O. bereits 1826 den Zeitpunkt gekommen, den nächsten Schritt seines Experimentes einzuleiten. So erfolgte eine Umwandlung der vorläufigen Gesellschaftsordnung hin zur „New Harmony Community of Equality“. Dass dieser Schritt zu früh erfolgte, musste O. schon zwei Jahre später einsehen. 1828 galt das Projekt als fehlgeschlagen. Das Scheitern wird darauf zurückgeführt, dass

Literatur

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–– den Mitgliedern der Gemeinschaft zu wenig Unabhängigkeit in ihren privaten Entscheidungen gelassen wurde, –– der Übergang zum kommunistischen System viel zu früh erfolgte, –– Mitglieder in die Genossenschaft aufgenommen wurden, die dazu nicht geeignet waren, –– Owen während seiner langen Abwesenheit keinen Einfluss auf die Entwicklung nehmen konnte. • Das besondere Verdienst O.s ist in seinem vorbildlichen Wirken als humaner Fabrikant sowie als Vorreiter des Genossenschaftswesens zu sehen. M. Elsässer sieht in O. gar „eine Schlüsselfigur für zahlreiche soziale Bewegungen in Großbritannien (oder gar deren Begründer)“ … Sein Wirken auf sozialpolitischem Gebiet hat die moderne ­Sozialpolitik des 20. Jahrhunderts vorweggenommen. „In der Verbindung von praktischer Realisierung sozialer Reformen und theoretischer Auseinandersetzung mit sozialen Fragestellungen und Lösungen stellt Robert Owen das Vorbild eines zukunftweisenden Reformers dar“ (in Euchner 1991, S. 50). T. Ramm gelangt zu folgender Würdigung: „Der englische Frühsozialismus beginnt erst mit Robert Owen, der zugleich sein Hauptvertreter ist und dessen Ansätze zur Verwirklichung des Sozialismus den Höhepunkt der Geschichte des Frühsozialismus als praktisch-politische Bewegung überhaupt bilden. … Wenn er mit seinen Forderungen auch nur teilweise durchdrang, so wurden doch die schlimmsten Mißstände beseitigt und damit die Arbeitsschutzgesetzgebung eingeleitet, die sich noch im 19. Jahrhundert allenthalben durchsetzen sollte. Weniger erfolgreich war Owen in seinen Bemühungen, die Arbeitslosigkeit durch Errichtung von Armenkolonien zu bannen, die zugleich als Etappe auf dem Wege zu einer völlig neuen Gesellschaftsordnung dienen und diese in ihren Grundsätzen vorwegnehmen sollte“ (S. XXVII). Im Jahr 1878 kam Friedrich Engels zu der Überzeugung: „Alle gesellschaftlichen Bewegungen, alle wirklichen Fortschritte, die in England im Interesse der Arbeiter zustande gekommen, knüpfen sich an den Namen Owen“ (MEW, Bd. 20, S. 245).

Wichtige Publikationen • A New View of Society, 1813/1814 (dt. Eine neue Auffassung von der Gesellschaft, 1900) • Observations on the Effect of the Manufactoring System, 1815 (dt. Beobachtungen über die Wirkung des Fabriksystems, 1926) • The Book of the New Moral World, 1836–1844 (dt. Das Buch der neuen moralischen Welt, 1840)

Literatur Anikin (1974), S. 363–374 Euchner, Bd. 1 (1991), S. 50–57 HdStW, Bd. V (1900), S. 1046–1051 HdSW, Bd. 8 (1964), S. 142–144

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HdWW, Bd. 7 (1988), S. 11–12 Issing (2002), S. 104–106 Kolb (2004), S. 85–87 F. Kool/W. Krause: Die frühen Sozialisten, Olten 1967, S. 371–375 Krause/Graupner/Sieber (1989), S. 405–409 Meißner (1978) T. Ramm: Der Frühsozialismus, 2. Aufl., Stuttgart 1968 H. Simon: Robert Owen. Sein Leben und seine Bedeutung für die Gegenwart, Jena 1905

Ricardo, David

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Wächter, Ökonomen auf einen Blick, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29069-6_21

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Leben & Karriere • Ricardo, Sohn eines wohlhabenden Kaufmanns, wurde nach dem Besuch der Elementarschule für zwei Jahre zu seinem Onkel nach Amsterdam geschickt, damit er dort Einblicke in das Handelsleben gewinnt. Wieder zurück in England, begann er eine Lehre, die er jedoch schon bald darauf abbrach. • Seit dem 14. Lebensjahr war R. in Börsengeschäften tätig, in die er von seinem Vater eingeführt wurde; und schon zwei Jahre später war er dessen engster Mitarbeiter. • Vom 25. Lebensjahr an beschäftigte sich R. mit Mathematik, Chemie und Mineralogie. • Als er 1799 den Reichtum der Nationen von → Adam Smith las, wurde sein Interesse für Nationalökonomie geweckt. • In den Jahren 1809/1810 zählte R. zu den bedeutendsten Persönlichkeiten der Londoner Finanzwelt. Bereits mit 40 Jahren hatte der äußerst erfolgreiche Börsenspekulant ein so großes Vermögen angehäuft – er zählte zu den hundert reichsten Männern Englands –, dass er sich im Jahr 1815 ganz aus dem Erwerbsleben zurückziehen konnte und sich seinen wissenschaftlichen Studien zuwendete. • R. intensivierte sein Studium der Nationalökonomie und bezog in Artikeln und kleinen Broschüren immer häufiger Stellung zu aktuellen wirtschaftspolitischen Zeitfragen, die im Zusammenhang mit den napoleonischen Kriegen aufgeworfen wurden (z. B. Kontinentalsperre, Währungszerrüttung, Bankpolitik, Agrarzölle). • Im Jahre 1819 wurde R. Mitglied des britischen Unterhauses, wo er u. a. die Aufhebung der Getreidegesetze forderte und sich für Freihandel einsetzte. Im selben Jahr wurde R. für einen Direktorenposten der Ostindischen Kompanie vorgeschlagen, was er jedoch ablehnte.

Werk & Wirkung • Während sich Smith vornehmlich mit dem Produktionsproblem beschäftigt, stehen in Ricardos 1817 erschienenen Hauptwerk (3. Aufl., 1821) On the principles of political economy and taxation (dt. Über die Grundsätze der politischen Ökonomie und Besteuerung) Fragen der Güterverteilung, des Wertes, der Grundrente und des Lohnes im Mittelpunkt. Im Vorwort erläutert R. das Anliegen seiner Untersuchung: „Die Produkte der Erde – alles, was von ihrer Oberfläche durch die vereinte Anwendung von Arbeit, Maschinerie und Kapital gewonnen wird – werden unter drei Klassen der Gesellschaft verteilt, nämlich die Eigentümer des Bodens, die Eigentümer des Vermögens oder des Kapitals, das zu seiner Bebauung notwendig ist, und die Arbeiter, durch deren Tätigkeit er bebaut wird. Die Anteile am Gesamtprodukt …, die unter den Namen Rente, Profit und Lohn jeder dieser Klassen zufallen, werden jedoch in den verschiedenen Entwicklungsstufen der Gesell-

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schaft sehr unterschiedlich sein … Das Hauptproblem der Politischen Ökonomie besteht in dem Auffinden jener Gesetze, welche diese Verteilung bestimmen. (Ricardo: Über die Grundsätze der politischen Ökonomie, hrsg. von G. Bondi, Berlin (Ost) 1959, S. 3)“

Damit vollzog sich ein Wandel in der ökonomischen Wissenschaft; nämlich eine Wendung weg vom Wohlstandsproblem hin zu einem Wert- und Verteilungsproblem. R. beginnt die rund 400 Seiten starken Grundsätze, die in 32 Kapitel gegliedert sind, mit der Analyse des Werts. In seiner Wertlehre greift er die Gedanken von Smith auf und beschäftigt sich mit dem Gebrauchswert (Nutzen) und dem Tauschwert (Preis). Entscheidend ist seine Feststellung, dass der Tauschwert einer Ware bestimmt wird durch die zu ihrer Herstellung erforderlichen Menge an Arbeit: „Der Wert einer Ware oder die Quantität einer anderen Ware, gegen die sie ausgetauscht wird, hängt ab von der verhältnismäßigen Menge an Arbeit, die zu ihrer Produktion notwendig ist, nicht aber von dem höheren oder geringeren Entgelt, das für diese Arbeit gezahlt wird.“ R. betrachtet „die Arbeit als Grundlage des Wertes der Waren“. Um diesen Wert bewegt sich der Marktpreis, der von Angebot und Nachfrage abhängt. Und diesen Gedanken überträgt er auf Arbeit und Lohn: „Wie alle anderen Dinge, sdie gekauft und verkauft werden und deren Menge sich vergrößern und verringern kann, hat auch die Arbeit ihren natürlichen und ihren Marktpreis“. → Karl Marx wird später auf diese Erkenntnisse zurückgreifen und sie im Rahmen seiner Analyse des Kapitalismus, insbesondere seiner Mehrwerttheorie, weiterentwickeln. Neben den ersten sechs Kapiteln, in denen die Werttheorie, die Rententheorie, die Lohntheorie und die Profittheorie, behandelt werden, sind R.s Ausführungen „Über den auswärtigen Handel“ im VII. Kapitel von herausragender Bedeutung. In dieser Außenhandelstheorie greift er die bereits von Smith dargelegten Vorteile der Arbeitsteilung und des Handels auf und baut sie weiter zu seiner Theorie der komparativen Kostenvorteile aus. • Die Theorie vom komparativen Kostenvorteil bildet auch heute noch das  – wenn auch nicht unumstrittene  – theoretische Fundament für internationale Arbeitsteilung und ungehinderten Freihandel. Sie besagt, dass sich Länder durch Arbeitsteilung (Spezialisierung auf bestimmte Güter) und anschließenden (Außen-)Handel insgesamt besserstellen, d. h. ihren Wohlstand steigern können. Dies gelte sogar dann, wenn ein Land alle Güter günstiger herstellen kann, als ein anderes. Denn entscheidend sind nicht die absoluten, sondern die komparativen Kosten (das Verhältnis der Kosten in Relation zueinander). R. erläutert: „Bei einem System des vollkommen freien Handels wendet jedes Land sein Kapital und seine Arbeit solchen Zweigen zu, die jedem am vorteilhaftesten sind. … Dieses Prinzip führt dazu, daß Wein in Frankreich und Portugal gewonnen, daß Getreide in Amerika und Polen angebaut wird und daß Metall- und andere Waren in England fabriziert werden. … England kann in einer solchen Lage sein, daß die Erzeugung des Tuches die Arbeit eines Jahres von 100 Leuten erfordert, und wenn es versucht, den Wein herzustellen, so wird vielleicht die Arbeit

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gleicher Zeitdauer von 120 Leuten benötigt werden. England wird daher finden, daß es seinen Interessen entspricht, Wein zu importieren, und ihn mit Hilfe der Ausfuhr von Tuch zu kaufen. Um den Wein in Portugal herzustellen, ist vielleicht nur die Arbeit von 80 Leuten während eines Jahres erforderlich, und um das Tuch in diesem Lande zu produzieren, braucht es vielleicht die Arbeit von 90 Leuten während der gleichen Zeit. Es ist daher für Portugal von Vorteil, Wein im Austausch für Tuch zu exportieren. Dieser Austausch kann sogar stattfinden, obwohl die von Portugal importierte Ware dortselbst mit weniger Arbeit als in England produziert werden kann. Wenngleich es das Tuch vermittels der Arbeit von 90 Leuten erzeugen kann, wird Portugal dieses doch aus einem Lande einführen, wo man zu seiner Herstellung die Arbeit von 100 Leuten benötigt, da es für Portugal von größerem Vorteil ist, sein Kapital in der Produktion von Wein anzulegen, wofür es von England mehr Tuch bekommt, als es durch Übertragung eines Teiles seines Kapitals vom Weinbau zur Tuchfabrikation produzieren könnte. (S. 120–122)“

Schauen wir uns Ricardos Beispiel genauer an: Portugal und England produzieren die Güter Wein und Tuch zu unterschiedlichen Kosten. Diese Produktionskosten lassen sich nach Ricardos Arbeitswerttheorie in Form von Arbeitseinheiten bemessen. Danach bestimmt sich der Wert (Preis) eines Gutes durch die Arbeitsmenge, die zu dessen Herstellung aufgewendet werden muss. Dieses Arbeitswertgesetz bildet die Basis der Theorie der komparativen Kosten. Die Tabelle zeigt die Arbeitseinheiten (AE), die für die Herstellung der Güter aufgewendet werden müssen: Portugal England

1 Fass Wein 80 AE 120 AE

1 Ballen Tuch 90 AE 100 AE

Gesamtkosten 170 AE 220 AE

Betrachtet man die absoluten Kosten, die jedes Land für die Herstellung von Wein und Tuch aufwenden muss, fällt auf, dass Portugal beide Güter günstiger herstellen kann, also bei beiden Gütern einen absoluten Kostenvorteil hat. Wie ist es nun dennoch möglich, dass selbst Portugal von Arbeitsteilung und Außenhandel profitieren kann? Zunächst werden die Kosten von Wein und Tuch in Relation zueinander gesetzt, d. h. die Kosten des einen Gutes werden ausgedrückt in Einheiten des anderen Gutes. Diese bezeichnet man als Opportunitätskosten oder auch als Alternativkosten. Angenommen, die Portugiesen möchten ausschließlich Wein produzieren und verzichten auf die Herstellung von Tuch. Die Kosten eines Fasses Wein betragen dann 0,889 (80:90) Arbeitseinheiten (AE) Tuch. Möchten die Portugiesen ausschließlich Tuch (statt Wein) produzieren, kostet die Herstellung eines Ballens Tuch 1,125 AE Wein (90:80). In England kostet die Produktion eines Fasses Wein 1,2 AE Tuch und die Herstellung eines Ballens Tuch 0,833 AE Wein. Da die Herstellungskosten von Tuch in England 0,833 AE betragen, in Portugal jedoch 1,125 AE, hat England hier also einen komparativen (=relativen) Kostenvorteil. Die Herstellungskosten von Wein betragen in Portugal 0,889 AE, während England dafür 1,2 AE aufwenden muss. Portugal hat also einen komparativen Kostenvorteil bei Wein. Da England einen Kostenvorteil bei Tuch und Portugal bei Wein hat, sollte England seine 220 Arbeitseinheiten ausschließlich für die Produktion

Wichtige Publikationen

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von Tuch und Portugal seine 170 Arbeitseinheiten ausschließlich für die Produktion von Wein verwenden. Ohne Spezialisierung konnten beide Länder zusammen 2 Ballen Tuch und 2 Fässer Wein erzeugen. Durch Spezialisierung ergeben sich nun folgende Produktionsmöglichkeiten: England = 2,2 Ballen Tuch (220:100); Portugal = 2,125 Fässer Wein (170:80). Die Produktion von Wein konnte also insgesamt um 0,125 Fass und die von Tuch um 0,2 Ballen erhöht werden. • R. galt schon zu Lebzeiten als brillanter Analytiker, dessen Denkweise sich, wie Anikin feststellt, durch „strenge, fast mathematische Logik, große Präzision und Ablehnung zu allgemeiner Überlegung“ auszeichnet. Die „reine“ ökonomische Theorie steht bei ihm im Vordergrund. Kritisiert wird, dass seine abstrakt-deduktive Darstellungsweise losgelöst ist von der praktisch-politischen Problematik der kapitalistischen Produktionsweise und den entsprechenden Verhältnissen. Beispielsweise kritisiert → Marx im ersten Band des Kapital, dass R. historische Betrachtungsweisen ausblendet: „Den Urfischer und den Urjäger läßt er sofort als Warenbesitzer Fisch und Wild austauschen, im Verhältnis der in diesen Tauschwerten vergegenständlichten Arbeitszeit. Bei dieser Gelegenheit fällt er in den Anachronismus, daß Urfischer und Urjäger zur Berechnung ihrer Arbeitsinstrumente die 1817 auf der Londoner Börse gangbaren Annuitätentabellen zu Rate ziehn“ (S. 90). Von herausragender Bedeutung ist R.s Theorie der komparativen Kostenvorteile, die das theoretische Fundament der Globalisierung bildet. Im Jahre 2004 wurde dieses Modell von → P. A. Samuelson in Frage gestellt, der in einer Studie am Beispiel der USA und China zu dem Schluss kommt, dass das Postulat von Freihandel und Gewinnern „grundfalsch“ und eine „populär-polemische Unwahrheit“ sei. Die häufig vorgebrachte (methodische) Kritik an R.s Darstellungen darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass eine Vielzahl seiner Ideen Eingang in die volkswirtschaftliche Theorie gefunden und diese immens befruchtet haben: Die Arbeitswerttheorie, auf die Marx zurückgriff, die Lohntheorie, die F.  Lassalle als „ehernes Lohngesetz“ bezeichnete oder die von R. analysierte Veränderung der Struktur relativer Preise bei einer Erhöhung des Reallohnsatzes, die von → A. von Hayek später als „Ricardo-Effekt“ bezeichnet wurde. Auch kann es als R.s Verdienst angesehen werden, dass mathematische Modelle Eingang in die Volkswirtschaftslehre gefunden haben.

Wichtige Publikationen • • • • • •

Three letters on the price of gold, 1809 The high price of bullion, a proof of the depreciation of bank notes, 1810 On the principles of political economy and taxation, 1817 Essays on the funding system, in: Encycloppaedia Britannica, 1820 On protection to agriculture, 1822 Plan for the establishment of a national bank, 1824

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21  Ricardo, David

Literatur Anikin (1974), S. 233–270 HdSW, Bd. 9 (1956), S. 13–20 HdStW, Bd. 6 (1901), S. 426–437 Koesters (1985), S. 43–66 Krause/Graupner/Sieber (1989), S. 452–458 Kurz (2008), Bd. 1, S. 120–139 Linß (2014), S. 35–39 Piper (1996), S. 37–43 K.-H. Schmidt: Stichwort „Ricardo“ in: Staatslexikon (1995), Bd. 4, Sp. 916–918 Starbatty, Bd. 1 (2012), S. 188–207

Thünen, Johann-Heinrich von

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Wächter, Ökonomen auf einen Blick, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29069-6_22

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22  Thünen, Johann-Heinrich von

Leben & Karriere • Thünen besuchte die Ortsschule in Hooksiel und ging anschließend auf die Hohe Schule zu Jever. Da er später einmal das väterliche Gut übernehmen sollte, begann er im Alter von 16 Jahren mit einer landwirtschaftlichen Ausbildung auf dem Gut Gerietshausen. • Nach dieser dreijährigen praktischen Lehre, die er als Zeitverschwendung empfand, besuchte T. ab Februar 1802 die wissenschaftlich ausgerichtete private Landwirtschaftsschule von Lukas A. Staudinger in Groß-Flottbeck in der Nähe von Hamburg, wo er aber nur ein knappes Jahr blieb. • Ostern 1803 ging T. nach Celle, um den berühmten Agrarökonomen Thaer, den Begründer der rationellen Landwirtschaft und der Landbauwissenschaft, zu hören. T.s Erwartungen wurden jedoch nicht erfüllt: Die von Thaer viel gepriesene und von ihm gelehrte Fruchtwechselwirtschaft nach englischem Vorbild lehnte T. ab, da sie seinen eigenen Erfahrungen widersprach; dagegen vermisste er ökonomische Inhalte in seinem Studium. An seinen Bruder schrieb er, Thaer habe „bei weitem nicht die ganze Ökonomie vorgetragen, sondern von der am mehrsten interessanten Hälfte derselben haben wir nur einige Sätze erhalten“. • Vermutlich aus Enttäuschung darüber verließ T. schon nach einem halben Jahr Celle und ging nach Göttingen, um sich dort für zwei Semester dem Studium der Ökonomie zuzuwenden und die Lehren von Adam Smith zu studieren. Rückblickend sagt T.: „Adam Smith war in der Nationalökonomie, Thaer in der wissenschaftlichen Landwirtschaft mein Lehrer.“ • 1806 heiratete T. die Schwester eines Studienfreundes, Helena Berlin, Tochter eines mecklenburgischen Gutsbesitzers und pachtete das Gut Rubkow bei Anklam in Vorpommern. Hier „verfolgte er unablässig die schon 1803 begonnenen Bemühungen, Grundlagen für die Statik, d. h. die Lehre von der Aussaugung der Feldfrüchte und dem dafür dem Acker nothwendigen Ersatz an Dung, zu gewinnen“ (Schumacher, S. 25). • 1807 wurde T. die Stelle als Deichinspektor im Jeverland angeboten, die er jedoch ablehnte. Gleichzeitig reifte bei T. der Entschluss das Gut schnellstmöglich wieder abzugeben, denn „Rubkow hatte neben dem mäßigen Boden nur schlechte Wiesen, unkultivirte Haide und Moor und bot wenig Annehmlichkeiten“ (Schumacher, S. 26). • Am 24. Juni 1810 übernahm T. das Gut Tellow bei Teterow. Neben seiner praktischen Tätigkeit als Landwirt forschte er hier zehn Jahre lang; so gingen Wissenschaft und Praxis Hand in Hand. Die Daten und Zahlen, welche die statistische und mathematische Basis seiner agrarökonomischen Forschungen bilden, entnahm er der Buchhaltung seines Gutes, die er selbständig und in mustergültiger Form führte. Ein Brief, den T. an seinen Bruder schrieb, gibt Einblick in die Methodik seiner Arbeit:

Werk & Wirkung

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„Aber ich bemerkte … daß, wenn ich etwas wahrhaft Nützliches und practisch Brauchbares hervorbringen wollte, ich mir die Grundlage zu meinem Calcul erst aus der Erfahrung entnehmen müsse. Als ich dies klar erkannt hatte, legte ich mir das harte Gesetz auf, … alle Kraft und Zeit auf die Erforschung der Wirklichkeit zu verwenden. … Ich fing die Tellow’schen Rechnungen in einem solchen Umfange an, als ich nur irgend ausführen konnte und als der Zweck meines Calculs erforderte. Arbeitsrechnung, Korn- und Geldrechnung mußten gleich umfassend und gleich genau geführt werden, und dies mußte fast Alles von meiner Hand geschehen, weil sonst dem Ganzen Einheit und innere Glaubwürdigkeit gefehlt hätte. Die Natur beantwortet das, was ich suche, in jeder Wirthschaft, und doch muß jeder, selbst der wissenschaftlich gebildete Landwirth, es erst durch eine lange und kostbare Erfahrung lernen, weil jeder die Mühe des Aufzeichnens scheut, und so jede frühere Erfahrung wieder verloren geht. (zit. n. Schumacher, S. 42)“

• • •



Die Erkenntnisse seiner Forschung und praktischen Tätigkeit veröffentlicht T. in einer Reihe von Aufsätzen und in seinem Hauptwerk Der isolierte Staat von 1826. 1811 wurde T. Mitglied der mecklenburgischen Landwirtschaftsgesellschaft, deren Direktor er mehrere Jahre war. 1830 erhielt T. die Ehrendoktorwürde der Universität Rostock. Der liberal gesinnte T. war auch politisch engagiert. Im Vormärz setzt er sich für die nationale Einigung Deutschlands ein; sein Abgeordnetenmandat zur Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche kann er jedoch aus gesundheitlichen Gründen nicht wahrnehmen. Auch beschäftigte sich Thünen mit der sozialen Lage der Arbeiter, insbesondere mit der Lohnfrage. Wie auch in vielen anderen Angelegenheiten, war er seiner Zeit weit voraus und führte 1848 eine Art Gewinnbeteiligung für die Arbeiter auf seinem Gut ein. T. verstarb am 22. September 1850 auf seinem Gut in Tellow an einem Schlaganfall.

Werk & Wirkung • Thünen war der erste Ökonom, der die Bedeutung des Raumes für die Ökonomie erkannte und sich mit diesem wissenschaftlich beschäftigte. In seinem dreibändigen Werk Der isolierte Staat in Beziehung auf Landwirthschaft und Nationalökonomie (1826–1863) wandte er das von ihm auch so genannte „Marginalprinzip“ und die Methode der „isolierenden Abstraktion“ an. Gleich zu Beginn seines Werkes stellt er sein Modell eines „isolierten Staates“ vor. Dieses Standortmodell ist auch unter dem Namen „Thünensche Kreise“ (siehe Abb. 22.1) berühmt geworden. „Man denke sich eine sehr große Stadt in der Mitte einer fruchtbaren Ebene gelegen, die von keinem schiffbaren Flusse oder Kanal durchströmt wird. Die Ebene selbst bestehe aus einem durchaus gleichförmigen Boden, der überall der Kultur fähig ist. In großer Entfernung von der Stadt endige sich die Ebene in eine unkultivirte Wildnis, wodurch dieser Staat von der

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Abb. 22.1  Die Thünenschen Kreise. Ausgehend von der Stadt (Zentrum): Freie Wirtschaft (mit Garten und Obstbau), Forstwirtschaft, Fruchtwechsel-Wirtschaft, Koppelwirtschaft, Dreifelder-­ Wirtschaft, Viehzucht. „Tafel I stellt den isolierten Staat in der Gestalt, die derselbe nach den im ersten Abschnitt dieser Schrift gemachten Voraussetzungen und daraus gezogenen Folgerungen gewinnen muss. … Tafel II stellt die Gestalt des isolierten Staates dar, wenn derselbe von einem schiffbaren Fluß durchströmt wird“ (Thünen). (Quelle: J. H. v. Thünen: Der isolierte Staat, 1842 (Neudruck: Jena 1910), S. 387 (=Sammlung sozialwissenschaftlicher Meister XIII)) übrigen Welt gänzlich getrennt wird. Die Ebene enthalte weiter keine Städte, als die eine große Stadt, und diese muß also alle Produkte des Kunstfleißes für das Land liefern, so wie die Stadt einzig von der sie umgebenden Landfläche mit Lebensmitteln versorgt werden kann. Die Bergwerke und Salinen, welche das Bedürfnis an Metallen und Salz für den ganzen Staat liefern, denken wir uns in der Nähe dieser Zentralstadt – die wir, weil sie die einzige ist, künftig schlechthin die Stadt nennen werden – gelegen. Es entsteht nun die Frage: wie wird sich unter diesen Verhältnissen der Ackerbau gestalten, und wie wird die größere oder geringere Entfernung von der Stadt auf den Landbau einwirken, wenn dieser mit der höchsten Konsequenz betrieben wird. Es ist im Allgemeinen klar, daß in der Nähe der Stadt solche Produkte gebauet werden müssen, die im Verhältnis zu ihrem Wert ein großes Gewicht haben, oder einen großen Raum einnehmen, und deren Transportkosten nach der Stadt so bedeutend sind, daß sie aus entfernten Gegenden nicht mehr geliefert werden können; so wie auch solche Produkte, die dem Verderben leicht unterworfen sind und frisch verbraucht werden müssen. Mit der größern Entfernung von der Stadt wird aber das

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Land immer mehr und mehr auf die Erzeugung derjenigen Produkte verwiesen, die im Verhältnis zu ihrem Wert mindere Transportkosten erfordern. Aus diesem Grunde allein, werden sich um die Stadt ziemlich scharf geschiedene konzentrische Kreise bilden, in welchen diese oder jene Gewächse das Haupterzeugnis ausmachen. Mit dem Anbau eines andern Gewächses, als Hauptzweck betrachtet, ändert sich aber die ganze Form der Wirtschaft, und wir werden in den verschiedenen Kreisen ganz verschiedene Wirtschaftssysteme erblicken. (J. H. v. Thünen: Der isolierte Staat, 2. Aufl. 1842/Neudruck Jena 1910, S. 11–12 [=Sammlung sozialwissenschaftlicher Meister XIII])“

• T. unterscheidet sechs Distanzen, die er in Form von konzentrischen Kreisen um den Konsumort (die Stadt im Zentrum) darstellt. Auf der Grundlage dieses Modells geht er der Frage nach, wie unterschiedliche Entfernungen zwischen dem Ort der Produktion und des Konsums sich auswirken auf Preise, Einkommen und Wirtschaftsweise in der Landwirtschaft. Er zeigt, dass sich der Getreidepreis so einstellen wird, dass die Produktions- und Transportkosten des Produzenten, der am weitesten vom Konsumort entfernt ist und gerade noch zur Befriedigung der Nachfrage herangezogen wird, gerade gedeckt sein müssen. Die Produzenten, die sich näher an der Stadt befinden und die bei gleichen Produktionskosten und gleichem Verkaufspreis geringere Transportkosten haben, erzielen einen Gewinn, der den Besitzern als Rente zufließt. Weiter zeigt T., dass die Art und Intensität der Bodennutzung abhängig ist von der Entfernung zum Konsumort: Je höher die Transportkosten eines Gutes sind, desto näher muss es am Konsumort produziert werden. Und je geringer die Entfernung und somit auch die Transportkosten sind, desto intensiver findet die Bewirtschaftung  – mit dem entsprechenden Einsatz von Arbeit und Kapital – statt. • T. wollte herausfinden, wie sich der maximale Reinertrag bestimmen lasse. In dem Zusammenhang fragte er sich, wie lange es sich für einen Landwirt lohnt, im Ackerbau mehr Arbeitskraft oder Dünger einzusetzen. Er fand schließlich nicht nur die Lösung, sondern entdeckte gleichzeitig auch das „Gesetz vom abnehmenden Grenzertrag“. „Durch Vermehrung der Arbeitskräfte kann der Boden sorgfältiger geackert, gereinigt und entwässert, der richtige Zeitpunkt zur Saatbestellung besser eingehalten, und dadurch der gleichmäßige Ertrag der Früchte mehr gesichert, und deren Durchschnittsertrag wesentlich erhöht werden. Andererseits kann in den meisten Verhältnissen die Produktionskraft des Bodens durch Auffahren von Moder, Mergel und den Erdarten, die der Acker nicht in genügender Menge besitzt, gar sehr gesteigert werden. Alle solche Verbesserungen haben aber das Gemeinschaftliche, daß mit ihrer quantitativen Steigerung die Wirkung nicht im direkten, sondern in abnehmendem Verhältnis wächst und zuletzt sogar gleich Null werden kann. (S. 573)“

• Das, was T. während seiner praktischen landwirtschaftlichen Tätigkeit herausfand und theoretisch untermauerte, war nichts anderes als die Marginalanalyse. Und dieses Prinzip bezog er auch auf den Arbeitslohn. Dabei fand er heraus, dass dieser dem Produkt des zuletzt angestellten Arbeiters entspricht:

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„Der Arbeitslohn ist gleich dem Mehrerzeugnis, was durch den, in einem großen Betrieb, zuletzt angestellten Arbeiter hervorgebracht wird. … Wählen wir hier das Aufnehmen der Kartoffeln als Beispiel. Werden bloß die nach dem Ausgraben oder Aushacken oben auf liegenden Kartoffeln gesammelt, so kann eine Person täglich mehr als 30 Berliner Scheffel auflesen. Verlangt man aber, daß die Erde mit der Handhacke aufgekratzt wird, um noch mehrere mit Erde bedeckte Kartoffeln zu sammeln, so sinkt das Arbeitsprodukt einer Person sogleich tief herab. … Bis zu welchem Grade der Reinheit muß nun der Landwirt beim konsequenten Verfahren das Aufnehmen der Kartoffeln betreiben lassen? Unstreitig bis zu dem Punkt, wo der Wert des mehr erlangten Ertrags durch die Kosten der darauf verwandten Arbeit kompensiert wird. … Ja, man kann sagen, daß die ganze Aufgabe der rationellen Landwirtschaft darin besteht, für jeden einzelnen Zweig derselben in den beiden aufsteigenden Reihen „vermehrte Arbeit und erhöhtes Erzeugnis“ die korrespondierenden Glieder aufzufinden, um den Punkt zu bestimmen, wo sich Wert und Kosten der Arbeit das Gleichgewicht halten – denn wenn die Arbeit bis zu diesem Punkt ausgedehnt wird, erreicht der Reinertrag das Maximum. … Der Wert der Arbeit des zuletzt angestellten Arbeiters ist auch der Lohn derselben. Dieser aus den vorliegenden Betrachtungen hervorgehende Satz gestattet eine so vielfache Anwendung auf das gesellschaftliche Leben, … so ist auch in der Wirklichkeit das Streben der Unternehmer ganz allgemein, die Zahl ihrer Arbeiter so weit zu vermehren, bis aus der ferneren Vermehrung kein Vorteil für sie erwächst, d. i. bis der Lohn der Arbeit den Wert der Arbeit erreicht – weil dies in der Natur der Sache und im Interesse der Unternehmer begründet ist. Der Lohn aber, den der zuletzt angestellte Arbeiter erhält, muß normierend für alle Arbeiter von gleicher Geschicklichkeit und Tüchtigkeit sein; denn für gleiche Leistungen kann nicht ungleicher Lohn gezahlt werden. (S. 569–577)“

• Ab der zweiten Auflage des Isolierten Staates behandelt T. das Thema Arbeitslohn. Damit hatte er sich bereits in dem 1826 veröffentlichten Aufsatz Über das Los der Arbeiter, ein Traum ernsten Inhalts auseinandergesetzt, da die englischen Klassiker ihm keine zufriedenstellende Antwort liefern konnten bzw. er deren Annahmen ablehnte. T. fand schließlich einen, wie er ihn nennt, „natürlichen oder naturgemäßen Arbeitslohn“. Diesen berechnet er mit einer Formel (siehe Abb. 22.2), die er übrigens für so bedeutsam hielt, dass er sie in seinen Grabstein meißeln ließ und die daher auch „Grabsteinformel“ genannt wird. • Dieser „naturgemäße Lohn“ ist kein objektives Gesetz, das erklärt, wie der Lohn sich bildet, sondern ihm liegt die normative (moralische) Fragestellung T.s zugrunde, wie die Verteilung „naturgemäß geschehen soll“:

L = „naturgemäßer Lohn“

L = a⋅p

a = Existenzminimum p = Durchschnittsprodukt pro Arbeiter

Abb. 22.2  Der natürliche Arbeitslohn. (Quelle: Eigene Darstellung)

Werk & Wirkung

181

„Da der niedrige Arbeitslohn seinen Ursprung darin hat, daß die Kapitalisten und Grundbesitzer von dem Erzeugnis, das die Arbeiter hervorbringen, sich einen so großen Teil zueignen, so führt jene Frage sogleich zu der anderen Frage: Welches ist das Gesetz, wonach die Verteilung des Arbeitserzeugnisses zwischen Arbeiter, Kapitalisten und Grundbesitzer naturgemäß geschehen soll? Die Erforschung dieses Gesetzes bietet nicht bloß ein nationalökonomisches Interesse dar, sondern hat auch eine sehr ernste, moralische Beziehung. Man kann von dem redlichsten Willen, seine Pflicht zu erfüllen, beseelt sein, und doch anderen großes Unrecht tun – wenn man nicht weiß und nicht erkennt, was Pflicht ist. (S. 435–436)“

• Die Formel ist das Resultat eines konstruierten Zustandes, in dem „das Interesse des abhängigen Lohnarbeiters“ zusammenfällt „mit dem des kapitalerzeugenden Arbeiters“ (S. 552). Dazu bediente sich T. eines Kunstgriffs und verlegte die Analyse in die Grenzzone seines isolierten Staates, wo kulturfähiges, aber herrenloses Land liegt. Die Arbeiter stünden vor der Wahl, entweder auf Lohnbasis zu arbeiten oder mittels ihrer Ersparnisse das Land urbar zu machen und zu bebauen. Hierzu bedarf es zusätzlicher Arbeit zur Errichtung eines neuen Betriebes. T. ging nun davon aus, dass zwei Gruppen von Arbeitern beim Aufbau dieses Gutsbetriebes mitwirken: Die erste Gruppe verzichtet auf Lohn, wirkt nur kapitalerzeugend und erhält ihren Lohn in Form der „Gutsrente“. Die zweite Gruppe steht im Dienst der ersten und erhält Lohn. Dieser ergibt sich aus dem die Kosten ihres notwendigen Lebensunterhaltes übersteigenden Überschuss der ersten Gruppe. Dies setzt allerdings voraus, „daß der Überschuß des Arbeiters, auf Zinsen gelegt … gleich der Rente des kapitalerzeugenden Arbeiters wird: denn wäre dies nicht der Fall, so würden – da wir Arbeiter von gleicher Kraft, Kenntnis und Geschicklichkeit voraussetzen  – die Lohnarbeiter augenblicklich zur Kapitalerzeugung übergehen“ (S.  543). Aus der Rente des kapitalerzeugenden Arbeiters berechnet T. durch Differentiation die Formel √ a · p. Der naturgemäße Lohn bildet sich in T.s Modell also nicht – wie es die Klassiker vor ihm annahmen – durch Angebot und Nachfrage, sondern er geht hervor aus der „freien Selbstbestimmung der Arbeiter“. „Diesen, nicht aus dem Verhältnis zwischen Angebot und Nachfrage entspringenden, nicht nach dem Bedürfnis des Arbeiters abgemessenen, sondern aus der freien Selbstbestimmung der Arbeiter hervorgehenden Lohn √ ap nenne ich den naturgemäßen oder auch den natürlichen Arbeitslohn. In Worten ausgedrückt sagt diese Formel: der naturgemäße Arbeitslohn wird gefunden, wenn man die notwendigen Bedürfnisse des Arbeiters (in Korn oder Geld ausgesprochen) mit dem Erzeugnis seiner Arbeit (durch dasselbe Maß gemessen) multipliziert und hieraus die Quadratwurzel zieht. (S. 549)“

• Die bedeutendste Leistung Thünens ist sicherlich in der Raumwirtschaftstheorie, die lange Zeit verkannt wurde, zu sehen. Ein Vierteljahrhundert nach dessen Tode schließt → Roscher seine Würdigung des in der Tradition der Klassik stehenden Ökonomen mit dem Satz: „Sollte unsere Wissenschaft jemals sinken, so gehören die Werke v. Thünen’s zu denjenigen, an welchen sie die Möglichkeit hat, sich wieder aufzurichten“ (S. 902). Salin hält T.s Werk „nicht nur inhaltlich, sondern auch verfahrensmäßig bedeutungsvoll und lehrreich“; es sei „sogar die ausgereifteste theoretische Leistung der Deutschen in

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diesem Jahrhundert“. Dennoch habe Der isolierte Staat „niemals die Anerkennung, geschweige die Nachfolge gefunden, die ihm in jedem andern Lande mit Sicherheit zugefallen wäre … Thünens Lehre wurde weder theoretisch noch geschichtlich fortgesetzt und verwertet – erst Alfred Weber hat das Standortsproblem wieder aufgegriffen und eine kapitalistische Theorie des ‚Standorts der Industrien‘ (1909) entwickelt“ (S.  81/83). In der Tat blieb T. lange Zeit unverstanden. Doch schließlich setzte sich seine Lehre, die schon → Marshall inspirierte, im 20. Jahrhundert durch und beeinflusste zahlreiche Ökonomen, welche die Frage nach der optimalen Allokation wirtschaftlicher Aktivität im Raum auch auf andere Wirtschaftszweige übertrugen. Dass T.s Werk die Anerkennung zuteil wurde, die ihm gebührt, wird an → P. Samuelsons Feststellung in einem 1983 veröffentlichten Aufsatz mehr als deutlich: „Unter Geographen und Raumwirtschaftstheoretikern ist Thünen der Gründungs-Gott.“ Aber die Bedeutung T.s sollte nicht nur auf die Raumwirtschaftslehre beschränkt werden. Die Wirtschaftswissenschaft hat ihm grundlegende Methoden und Erkenntnisse zu verdanken, wie z. B. das Marginalprinzip. Stavenhagen hebt hervor, T. habe „als erster Theoretiker das Prinzip der Grenzproduktivität entwickelt und in eindeutiger Weise formuliert“ (S. 112). Für Kurz ist T. „einer der Mitbegründer der mathematischen Ökonomik und deren enger Verbindung mit empirischer (heute: ökonometrischer) Forschung“ (S. 156). Zum gleichen Schluss kommt auch Anikin: „Wenn Cournots Buch den Ausgangspunkt der abstrakten mathematischen Ökonomie gesetzt hat, dann werden Thünens Berechnungen mitunter als Prototyp der Ökonometrie, einer mathematischen Ökonomie bezeichnet, welche die statistische Information und die Ausarbeitung empirischer, auf tatsächlichen Mengen aufbauender Modelle umfaßt“ (S. 331). Im Jahr 2008 ging der Wirtschaftsnobelpreis an → P. Krugman für seine Leistungen auf dem Gebiet der Wirtschaftsgeographie. Ebenso wie T. verwendet auch Krugman die Transportkosten für die Standortbestimmung; allerdings drehte er „Thünens Fragestellung um, gibt ihr eine industrieorientierte Interpretation und fragt, ob und wann eine Agglomeration und Zentralisierung der Industriestandorte in einer Region stattfindet oder ob eine Peripherisierung eintreten wird“ (Dorn u. a.: Volkswirtschaftslehre, Bd. 2, München 2010, S. 205).

Wichtige Publikationen • Der isolierte Staat in Beziehung auf Landwirthschaft und Nationalökonomie, oder Untersuchungen über den Einfluß, den die Getreidepreise, der Reichthum des Bodens und die Abgaben auf den Ackerbau ausüben. 3 Bände, 1826–1863

Literatur

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Literatur Anikin (1974) Brockhoff (2014), S. 132–135 HdSW, Bd. 10 (1959), S. 386–392 Hesse (2009), S. 557–558 Krause/Graupner/Sieber (1989), S. 569–571 Kurz (2008), Bd. 1, S. 140–158 Piper (1996), S. 121–126 Recktenwald (1971), S. 185–214 Roscher (1874), S. 879–902 Salin (1929), S. 81–83 H. Schumacher (1868): Johann Heinrich von Thünen. Ein Forscherleben Starbatty (1989/2012), Bd. 1, S. 208–224 Stavenhagen (1964), S. 106–112

Internet „Der isolierte Staat“ online: http://www.deutschestextarchiv.de/book/view/thuenen_staat_1826?p=15, https://archive.org/details/derisoliertestaa00thuoft

List, Friedrich

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Wächter, Ökonomen auf einen Blick, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29069-6_23

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23  List, Friedrich

Leben & Karriere • List verließ im Alter von 14 Jahren die Schule, um in das Geschäft seines Vaters einzutreten. Seit 1806 arbeitete er als Verwaltungsbeamter, zunächst in Blaubeuren, später in Ulm, Schelklingen und schließlich in der Oberamtskanzlei in Tübingen. • In seiner Tübinger Zeit bildete L. sich fort, schloss 1814 das Aktuarexamen ab und wurde zwei Jahre später zum Oberrevisor mit dem Titel Rechnungsrat befördert. • Obwohl er weder eine höhere Schule besuchte noch ein Studium abgeschlossen hat, wurde er 1818 zum „Professor der Staatswirtschaft“ an der Universität Tübingen ernannt. • L. war Mitherausgeber der Zeitschrift Württembergisches Archiv und Mitbegründer des 1819 gegründeten Deutschen Handels- und Gewerbevereins in Frankfurt a. M. • 1820 wurde L. württembergischer Landtagsabgeordneter. • Wegen seines Engagements für eine deutsche zollpolitische Vereinigung und einer politischen Kampfschrift verlor er seine Professur, wurde verfolgt und im Dezember 1822 zu zehn Monaten Festungshaft verurteilt, der er sich jedoch durch Flucht entzog. 1824 kehrte er nach Württemberg zurück und stellte ein Gnadengesuch. Dieses wurde ­abgelehnt, L. wurde verhaftet und musste seine Haftstrafe verbüßen. Nur gegen das Versprechen der Auswanderung wurde er im Januar 1825 aus der Haft entlassen. • Im Juni 1825 emigrierte L. in die USA und war in Harrisburg als Farmer und Journalist tätig. Dort verfasste er 1827 seine erste wichtige Abhandlung, in der er seine Idee vom Schutzzoll entwickelt und begründet. • 1830 konnte L. unter dem Schutz der USA nach Deutschland zurückkehren: Der Präsident der USA ernannte L. zum Konsul in Hamburg und zwei Jahre später zum Generalkonsul in Leipzig. • Im Sommer 1833 fasste L. den Plan für das Staatslexikon, das später von K. v. Rottek und C. T. Welcker herausgegeben wurde. Etwa zeitgleich begann L. sich intensiv mit dem Eisenbahnwesen zu beschäftigen und veröffentlichte seine Schrift Ueber ein sächsisches Eisenbahnsystem als Grundlage eines allgemeinen deutschen Eisenbahnsystems und insbesondere über die Anlegung einer Eisenbahn von Leipzig nach Dresden. • 1835 initiierte L. den Bau der Eisenbahnlinie von Mannheim nach Basel und von Berlin nach Hamburg. So wurde er mit seinen theoretischen und praktischen Leistungen zum Wegbereiter des Eisenbahnbaus in Deutschland. • Von 1837 bis 1840 hielt sich L. in Paris auf und widmete sich verstärkt seiner wissenschaftlichen und schriftstellerischen Tätigkeit. Neben zahlreichen kleineren Schriften verfasste er hier auch sein Hauptwerk Das nationale System der politischen Ökonomie, das er im Januar 1838 als Preisschrift der französischen Akademie der politischen und moralischen Wissenschaften vorlegte. • 1840 kehrte er nach Deutschland zurück und erhielt die Ehrendoktorwürde der Universität Jena.

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• 1843 begründete L. das Zollvereinsblatt, eine Wochenzeitschrift, die ihm als Medium zur Verbreitung seiner handels- und wirtschaftspolitischen Ideen diente. • In den beiden letzten Lebensjahren reiste L. durch Europa, um für seine Ideen zu werben. L.s letztes Lebensjahr nennt Eheberg „die schlimmste Zeit seines Lebens“: „Sein Wunsch, eine feste Stellung in einem Staatsdienste zu erlangen, hatte sich nicht erfüllt, seine Arbeiten fanden bei den Industriellen zwar viel Anerkennung, aber wenig materiellen Lohn; seine eigenen Mittel waren nahezu erschöpft, die Ideen, für welche er kämpfte, schienen sich nicht so bald verwirklichen zu wollen. Dazu kamen quälende körperliche Leiden. … seine Lebenskraft war gebrochen; geängstigt durch Nahrungssorgen, aufgeregt durch sein körperliches Leiden und tief erschüttert von dem Rückblick auf ein scheinbar verlorenes Leben, griff er am 30. XI. 1846  in der Nähe von Kufstein zur Pistole und machte seinem Leben ein Ende“ (HdStW, Bd. 5, S. 622).

Werk & Wirkung • L. gilt als der volkstümlichste deutsche Nationalökonom. Er betrieb heftige Polemik gegen die „Schule“, wie er die „klassischen“ Ökonomen → A. Smith und → D. Ricardo nannte. L. bekämpfte deren Freihandelslehre, weil er sie als hinderlich für die Entwicklung der deutschen Industrie ansah, für deren Interessen er sich stark machte. • Wie auch → K. Bücher entwickelte L. in seinem Werk eine Wirtschaftsstufenlehre: „Wilder Zustand“, „Hirtenstand“, „Agrikulturstand“, „Agrikultur-Manufakturstand“, „Agrikultur-Manufaktur-Handelsstand“. Der Übergang von einer niedrigen auf eine höhere Wirtschaftsstufe könne nur dann gelingen, wenn die unterlegende Nation (Volkswirtschaft) ihre „produktiven Kräfte“ (z.  B.  Bildungswesen, Infrastruktur, technisches Know-how) ungehindert entfalten kann. • Breiten Raum in L. ’s Werk nehmen Ausführungen zur Wirtschaftspolitik ein. Er kämpfte für die Industrialisierung und einen einheitlichen Wirtschaftsraum, das heißt einen wirtschaftlichen Zusammenschluss der deutschen Staaten, der seine Verwirklichung schließlich im Deutschen Zollverein finden sollte. In einer Bittschrift vom 14. April 1819 an die Bundesversammlung beschreibt L. die negativen Auswirkungen eines wirtschaftlich zersplitterten Deutschlands (vgl. Abb. 23.1): „Achtunddreißig Zoll- und Mautlinien in Deutschland lähmen den Verkehr im Innern und bringen ungefähr dieselbe Wirkung hervor, wie wenn jedes Glied des menschlichen Körpers unterbunden wird, damit das Blut ja nicht in ein anderes überfließe. Um von Hamburg nach Österreich, von Berlin in die Schweiz zu handeln, hat man zehn Staaten zu durchschneiden, zehn Zoll- und Mautordnungen zu studieren, zehnmal Durchgangszoll zu bezahlen. Wer aber das Unglück hat, auf einer Grenze zu wohnen, wo drei oder vier Staaten zusammenstoßen, der verlebt sein ganzes Leben mitten unter feindlich gesinnten Zöllnern und Mautnern, der hat kein Vaterland.

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Abb. 23.1  Das Lichten eines Hochwaldes. Zeitgenössische Karikatur zur Kleinstaaterei in Deutschland, aus „Fliegende Blätter“, Jg. 1848, Bd. 6, Nr. 140, S. 157. (Quelle: Wikimedia) Trostlos ist dieser Zustand für Männer, welche wirken und handeln möchten; mit neidischen Blicken sehen sie hinüber über den Rhein, wo ein großes Volk vom Kanal bis an das Mittelländische Meer, vom Rhein bis an die Pyrenäen, von der Grenze Hollands bis Italien auf freien Flüssen und offenen Landstraßen Handel treibt, ohne einem Mautner zu begegnen. Zoll und Maut können, wie der Krieg, nur als Verteidigung gerechtfertigt werden. Je kleiner aber der Staat ist, welcher eine Maut errichtet, desto größer das Übel, desto mehr würgt sie die Regsamkeit des Volkes, desto größer die Erhebungskosten; denn kleine Staaten liegen überall an der Grenze. Daher sind diese 38 Mautlinien dem Volke Deutschlands ungleich schädlicher als eine Douanenlinie an Deutschlands Grenzen, wenn auch die Zollsätze dort dreimal höher wären. Und so geht denn die Kraft derselben Deutschen, die zur Zeit der Hansa, unter dem Schutz eigener Kriegsschiffe, den Welthandel trieben, durch 38 Maut- und Zollsysteme zugrunde. (Bittschrift an die Bundesversammlung, In: Schriften, Reden, Briefe, Berlin 1927–1936, Bd. I, 2. Teil, S. 492 f.)“

Wendler (2013) weist darauf hin, „dass es falsch ist, Friedrich List als den ‚Gründer des Deutschen Zollvereins‘ zu bezeichnen … Das historische Verdienst, das Friedrich List dabei zukommt, besteht darin, dass er mit der Gründung des Handels- und Gewerbsvereins eine wichtige Vorstufe dieses mühsamen Einigungsprozesses leistete und die deut-

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sche Kaufmannschaft sowie eine große Anzahl von Politikern in den deutschen Territorialstaaten für diese wirtschaftspolitische Notwendigkeit sensibilisierte“ (S.  56). Dass L. sich „in seinem Lande großer Sympathien und hohen Ansehens“ erfreute, führt Schumpeter auf eben diese Tatsache zurück: „Sein erfogreiches Eintreten für den Deutschen Zollverein …, der das Fundament der deutschen Einheit bildete“ (Schumpeter, S. 619). • Im Zusammenhang mit der Idee eines einheitlichen Staates ist auch der Begriff der „Nationalökonomie“ zu verstehen, der auf List zurückgeführt werden kann. Und in der Tat besteht ein enger Zusammenhang zwischen dem Zollverein, der nationalen Ökonomie und einem weiteren nationalen Projekt von immenser Bedeutung, welches L. vorantrieb: der Ausbau eines Eisenbahnnetzes. Im Jahr 1833 veröffentlichte L. hierfür in Leipzig seinen Entwurf (siehe Abb. 23.2). Golo Mann schreibt hierzu in seiner Deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts: „Den Rahmen, den der Zollverein schafft, füllen die Eisenbahnen. Wieder ist Friedrich List der Rufer im Streit für sie, und die erste große Linie, Leipzig–Dresden, seiner drängenden Initiative zu danken. Es folgen München-Augsburg, Frankfurt-Mainz, Berlin-Anhalt; 1845 gibt es etwa 2000  Kilometer Schienenstränge in Deutschland; zehn Jahre später sind es schon nahezu 8000 und ist der Bau der Linien in vollem Gang. … Die Eisenbahnen produzieren, verschlingen, reproduzieren das Kapital, das in mehr Eisenbahnen angelegt wird, lassen Banken und Börsen entstehen, geben der Montan- und Maschinenindustrie den entscheidenden Auftrieb. Sie schaffen den neuen Typus, der sie schafft und verwaltet: Unternehmer, Arbeiter, Ingenieure, Beamte. Sie wirbeln die Menschen durcheinander, beschleunigen das Nachrichtenwesen, noch bevor der elektrische Telegraph in Funktion tritt, vervielfachen die Dichte des Personenund Güterverkehrs – sie vertausendfachen sie buchstäblich“ (S. 141). • In seinem Nationalen System der Politischen Ökonomie von 1841 stellt L. – wenn auch sehr vage – seine Theorie der „produktiven Kräfte“ vor: „Die Ursachen des Reichtums sind etwas ganz anderes als der Reichtum selbst. Ein Individuum kann Reichtum, d. h. Tauschwerte besitzen, wenn es aber nicht die Kraft besitzt, mehr wertvolle Gegenstände zu schaffen als es konsumiert, so verarmt es. Ein Individuum kann arm sein, wenn es aber die Kraft besitzt, eine größere Summe von wertvollen Gegenständen zu schaffen als es konsumiert, so wird es reich. Die Kraft Reichtümer zu schaffen ist demnach unendlich wichtiger als der Reichtum selbst; sie verbürgt nicht nur den Besitz und die Vermehrung des Erworbenen, sondern auch den Ersatz des Verlorenen. (1959, S. 143)“

• Zur Entfaltung der produktiven Kräfte und zur Förderung einer unterlegenen Volkswirtschaft seien nach L.Schutz- bzw. Erziehungszölle nötig, die auf jene Produkte gelegt werden müssen, die zwar im eigenen Land produziert werden könnten, aber nur deswegen nicht produziert werden, weil die Unternehmen ein zu hohes Risiko darin sehen, sich mit der überlegenen ausländischen Konkurrenz zu messen, deren produktive Kräfte besser entwickelt sind.

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Abb. 23.2  Lists Entwurf eines deutschen Eisenbahnnetzes von 1833. (Quelle: Wikimedia) „Die Theorie der produktiven Kräfte, die dem Schutzsystem als Basis dient und seine Zweckmäßigkeit begründet, muß uns auch die Linie vorzeichnen, die bei seiner Anwendung zu befolgen ist. Einfuhrzölle sollten nicht eingeführt werden, um Geld in die Staatskasse zu bringen; denn dies könnte äußerst schädlich für die produktiven Kräfte der Nation sein: dies Ziel ist nur ein Ziel zweiten Ranges. Sie werden auch nicht eingeführt werden, um Geld ins land zu bringen oder darin zu halten, wie man es dem Merkantilsystem vorgeworfen hat; denn die

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Wirkung könnte ebensowohl eine Schwächung als eine Steigerung der produktiven Kräfte sein. Sie werden eingeführt werden mit dem Zweck des Schutzes und der allmählichen Mehrung der produktiven Kräfte der Nation. (Le système naturel d’économie politique. In: Schriften, Reden, Briefe … Bd. IV, S. 195.)“

Schumpeter weist unmissverständlich daraufhin, dass die von L. propagierten Schutzzölle keineswegs im Widerspruch stehen zum Postulat des Freihandels. Vielmehr „mündet Lists Argument über die Protektion in das Freihandelsargument.“ Und er fügt hinzu: „Sollte dies nicht klar sein, dann können wir uns davon durch den Umstand überzeugen lassen, daß J. S. Mill das Erziehungszollargument übernahm und offensichtlich der Meinung war, daß es mit der Logik des Freihandels vereinbar ist“ (Schumpeter, S. 620). • Nach Schmölders liegt L.’s Bedeutung für die Wirtschaftswissenschaft auf drei verschiedenen Gebieten: „Einmal war List der große Vorkämpfer für einen wirtschaftlichen Zusammenschluß der deutschen Staaten zu einem geeinten Deutschland, zum anderen gehörte er zu den aktivsten Förderern des Eisenbahnbaus in Deutschland, aber auch in den Vereinigten Staaten, und schließlich hat er seinen Platz in der Geschichte der Volkswirtschaftslehre durch die geniale Konzeption des nationalen, durch die Idee der Erziehungszölle und die Lehre von den ‚produktiven Kräften‘ gekennzeichneten Systems der Volkswirtschaft errungen“ (S. 39). Kolb (2008) sieht „Lists Stärke mehr im Praktischen, weniger im Theoretischen, mehr in der  – nicht abwertend gemeinten  – wirtschaftspolitischen Agitation, wohl auch mehr in der didaktischen Umsetzung und nicht so sehr in der Originalität seiner Ausführungen“, hebt jedoch hervor, es „besteht kein Anlass, Lists theoretisches Bemühen … gering zu schätzen“ (S.  56). Nach der Ansicht von → Friedrich Engels sei L. „immer noch das beste, was die deutsche ­bürgerlich ökonomische Literatur produziert hat“ (MEW, Bd. 13, S. 469). Auch → Paul Samuelson sah in L. einen bedeutenden Ökonomen: „Thus to the array of important American economists I would add the name of Friedrich List.“ Schumpeter fasst die Leistungen L.s wie folgt zusammen: „Er war ein Erbe des Denkens des achtzehnten Jahrhunderts. Er ging aus der Romantik hervor. Er war ein Vorläufer der historischen Schule der Wirtschaftswissenschaft. … Er war ein großer Patriot, ein brillanter Journalist und ein fähiger Wirtschaftswissenschaftler, der alles richtig zu koordinieren verstand, was der Verwirklichung seiner Vision diente“ (Schumpeter, S. 620). Und → Edgar Salin würdigt in einem Nachwort zur List-Ausgabe: „Denn List ist aktuell, noch immer oder sogar verstärkt aktuell. Außer Tocqueville und Marx hat kein Staatslehrer und kein Ökonom solch aufregende, hellsichtige ‚Blicke in die Zukunft‘, das heißt: in unsere Gegenwart getan. Und es sollte niemand über die Entwicklung unterentwickelter Länder schreiben, ohne bei dem großen Ahn der Wachstumstheorie und der Entwicklungspolitik in die Lehre zu gehen.“

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23  List, Friedrich

Wichtige Publikationen • Outlines of a new system of political economy, 1827 • Über ein sächsisches Eisenbahn-System als Grundlage eines allgemeinen deutschen Eisenbahn-Systems, 1833 • Das natürliche System der politischen Ökonomie, 1837 • Das nationale System der politischen Ökonomie, 1841 • Das deutsche Eisenbahnsystem als Mittel zu Vervollkommnung der deutschen Indus­ trie, des deutschen Zollvereins und des deutschen Nationalverbandes überhaupt, 1841 • Das Zollvereinsblatt, 1843 ff.

Literatur HdStW (1900), Bd. 5, S. 620–624 HdSW (1959), Bd. 6, S. 633–635 William Henderson (1989): Friedrich List. Der erste Visionär eines vereinten Europas Hesse (2009), S. 310–311 Kolb (2004), S. 105–110 Kolb (2008), S. 55–57 Krause/Graupner/Sieber (1989), S. 309–312 Linß (2014), S. 85–89 Piper (1996), S. 127–132 Schmölders (1962), S. 38–45 und 181–194 Schumpeter (1965/2007), S. 619–620 Starbatty, Bd. 1 (2012), S. 225–244 Tichy (2012), S. 29–37 Eugen Wendler: Friedrich List, Wiesbaden 2013

Rau, Karl Heinrich

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Wächter, Ökonomen auf einen Blick, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29069-6_24

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Leben & Karriere • Rau, Sohn eines Theologieprofessors, erhielt zunächst zusammen mit anderen Professorenkindern Privatunterricht und besuchte später das Erlanger Gymnasium. Nachdem er dort zu Ostern 1808 das Abitur abgelegt hatte, immatrikulierte er sich – er war gerade 16 Jahre alt – an der Universität Erlangen, um das Studium der Kameralwissenschaften aufzunehmen. Zu seinen Lehrern zählten J. P. Harl und M. A. Lips. • 1812 wurde R. in Erlangen zum Dr. phil promoviert und erhielt noch im selben Jahr eine Anstellung als Privatdozent. • Vier Jahre später (1816) wurde R. außerordentlicher Professor und zeitgleich auch zweiter Bibliothekar der Universität Erlangen. • Von 1817 bis 1818 unternahm R. eine größere Studienreise durch Deutschland, für die er von der Regierung beurlaubt wurde und finanzielle Unterstützung erhielt. Nach seiner Rückkehr wurde er zum außerordentlichen Professor ernannt. • 1820 wurde R. von der Haarlemer Gesellschaft für Wissenschaften für seine Arbeit Ueber die Ursachen der Armut ausgezeichnet. • 1822 folgte R. einem Ruf an die Universität Heidelberg, wo er ordentlicher Professor für Staatswissenschaften wurde und bis zu seinem Tode blieb. Rufe nach anderen Universitäten, wie Jena (1821), München (1826), Halle und Göttingen (1828) sowie Bonn und Berlin (1842) lehnte er ab. • Neben seiner akademischen Tätigkeit engagierte R. sich auch politisch: In den 1830er-Jahren gehörte der liberale Demokrat mehrmals der ersten Kammer des Badischen Landtages an – zunächst als Vertreter der Heidelberger Universität und später auf Berufung des Großherzogs. Dort befasste er sich insbesondere mit wirtschaftspolitischen Fragen und setze sich 1835 für den Beitritt Badens zum Deutschen Zollverein ein. Neben der Zollvereinigung, die er „das anstrengendste Geschäft des Landtages“ nannte, engagierte er sich auch für die Zehntablösung und den Plan des Eisenbahnbaus, den er „gar herrlich“ fand. In seinem Tagebuch notierte er über seine Tätigkeiten: „Ich bearbeitete die Berichte über die Staatseinnahmen, über Eisenbahnen, Zollwesen: Teilnahme an der Zehnt-, Forst-, Wildschadens-Commission; Präsident der Budgets-­Commission. In einer der letzten Sitzungen wurde ich in den Ständischen Ausschuß gewählt (zit. n. Haupt 2004, S. 146).“

• 1848 gehörte R. der Frankfurter Nationalversammlung, dem ersten gesamtdeutschen Parlament, an. Diese erste gewählte Vertretung der Deutschen, die in der Paulskirche tagte, hatte die Aufgaben, einen deutschen Nationalstaat zu bilden sowie eine Verfassung auszuarbeiten (siehe Abb. 24.1).

Leben & Karriere

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• Eine seiner zahlreichen Reisen führte R. von Juli bis Oktober 1851 zur ersten Weltausstellung nach London. Als offizieller Abgesandter des Großherzogtums Baden bestand sein Auftrag darin, Kontakte zu knüpfen und einen Bericht über die Ausstellung landwirtschaftlicher Geräte zu verfassen. Typisch für R. war die Angewohnheit, auf allen seinen Reisen Tagebücher zu führen, in denen er Beobachtungen ökonomischer Sachverhalte, seien sie landwirtschaftlicher oder industrieller Art, festhielt. • Während seiner Tätigkeit in Heidelberg, wo er mehrfach Dekan war, erhielt R. zahlreiche staatliche Auszeichnungen und akademische Ehren, wie z.  B.: Hofrat (1822), Geheimer Rat (1832), Geheimer Rat II. Klasse (1845), Dr. iur. h.c. (Erlangen 1843 und Wien 1865), Dr. phil. h.c. (Tübingen 1862). Außerdem war er Mitglied der Akademien der Wissenschaften in Paris, Brüssel und Wien. • Aufgrund eines Herzleidens musste R. seine Vorlesungen Ende der 1860er einschränken. Er erlag seiner Krankheit am 18. März 1870.

Abb. 24.1  Nationalversammlung in der Paulskirche. Zeitgenössische Lithografie. (Quelle: Wikimedia)

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24  Rau, Karl Heinrich

Werk & Wirkung • Neben der Nationalökonomie befasste Rau sich auch mit technologischen und landwirtschaftlichen Forschungen. Die meisten seiner Schriften verfasste er jedoch auf dem Gebiet der Nationalökonomie. War R. anfangs noch ganz von den Auffassungen des Kameralismus beherrscht, wurde er unter dem Einfluss der ökonomischen Theorien von →A. Smith und →J. B. Say zum Prototyp der „‚gelehrten‘ deutschen Professoren“ (Marx) im 19. Jahrhundert. Rau’s Leistungen auf dem Gebiet der Ökonomie sind nicht sonderlich originell; er entwickelte keine neuen Theorien. Vielmehr rezipierte er die zeitgenössischen klassischen Werke der Engländer und Franzosen, systematisierte deren Lehren und trug so zur Verbreitung der klassischen Ökonomie in Deutschland bei. „Er ist einerseits Anhänger des ökonomischen Liberalismus, andererseits steht er noch unter dem Einfluß der Kameralwissenschaft“ (Stavenhagen, S. 105). Von großer Bedeutung ist die von ihm vorgenommene Systematisierung der Nationalökonomie, mittels derer er das Fach in die drei Bereiche (theoretische) Volkswirtschaftslehre, Wirtschaftspolitik und Finanzwissenschaft gliederte. • Die erste ökonomische Schrift von Rau „wurde veranlasst durch eine ökonomische Preisfrage, welche die Göttingische Gesellschaft … für den Julius 1814 aufgegeben hatte. Sie war folgende: Wie können die Nachtheile, welche nach Aufhebung der Zünfte entstehen, verhütet oder vermindert werden?“ (Vorrede, S. III). R. beantwortete diese Frage in seiner Abhandlung Ueber das Zunftwesens und die Folgen seiner Aufhebung. In der preisgekrönten Schrift, die erstmals 1814 in den Göttingischen Gelehrten Anzeigen erschien und zwei Jahre später als selbstständiges Werk veröffentlicht wurde, erweist sich der Verfasser als entschiedener Gegner der Gewerbefreiheit. Als Gründe führt er eine Vielzahl von Nachteilen an, wie z. B. „die Anhäufung ungeschickter Meister“, „Belästigung der Armenkassen“, „ungleiche Besetzung der Gewerbe“, „starke Aenderung der herkömmlichen Preise“, „Wohlfeilheit einiger, Theuerung anderer Güter“ und „häufige Betrügereien“. • Auch die im gleichen Jahr veröffentlichte kleinere Abhandlung Ueber den Luxus trägt starke merkantilistische Züge. Deutlich wird diese Haltung in Aussagen wie: „Der Luxus gefällt sich in gesuchten abentheuerlichen Genüssen, die Mittel werden vom Auslande hergeschafft, der inneren Betriebssamkeit kommt wenig zu Statten“ (S. 39/40). • In den Ansichten der Volkswirthschaft mit besonderer Beziehung auf Deutschland von 1821 stellt Rau fest, es sei „an den mehrsten Bearbeitungen der Volkswirthschaftslehre eine Einseitigkeit zu bemerken“ (S. 37). Daher hält er eine Reform der Volkswirthschaftslehre für notwendig: „Wenn es erlaubt ist, aus der Einsicht in die Unvollkommenheiten einer, in rascher Ausbildung begriffenen Wissenschaft den Weg vorzuzeichnen, auf welchem sie sich bewegen muß und bewegen wird, um der Vollendung etwas näher zu kommen, so lassen sich zwei Richtungen erkennen, nach denen sie noch mehr bearbeitet werden müssen. Es wird erstens nöthig seyn, die Wohlstandssorge mehr an allgemein staatswissenschaftliche Grundsätze anzuknüpfen, indem man den Zusammenhang des Gewerbewesens, seiner verschiedenen Zweige und der

Werk & Wirkung

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verschiedenen möglichen Gestaltungen auf die gesammte Wohlfahrt genauer zu erforschen sucht … Zweitens ist es nöthig, alle gegebenen Verhältnisse sorgfältig zu würdigen, das Allgemeine mit dem Besonderen und Einzelnen in Verbindung zu bringen. Die Volkswirthschaftslehre muß von ihren Hülfslehren noch besser, als es bisher geschehen ist, unterstützt werden; … (S. 39).“

• Die ersten Ansätze für eine Systematik der Wirtschaftslehre finden sich bereits im Grundriß der Kameralwissenschaft oder Wirthschaftslehre für encyklopädische Vorlesungen (1823). Also schon „in der Zeit, als er noch die Cameralwissenschaft als eine einheitliche Disciplin auffasste … hat er doch in selbständiger Weise diesem Wissensgebiet wenigstens eine vernünftige Gliederung zu geben versucht“ (E. Leser in ADB). Vervollständigt hat R. seine Systematik dann in dem Werk Ueber die Kamerlawissenschaft. Entwicklung ihres Wesens und ihrer Theile (1825). Hier definiert er zunächst die Begriffe „Wirtschaft“ und „Wirtschaftslehre“: „Die fortdauernde Beschäftigung, welche den Zweck hat, den Menschen mit Vermögenstheilen zu versorgen, oder kürzer, die fortgesetzte Sorge für das Vermögen, heißt Wirthschaft. … Die Wissenschaft von der besten Führung der Wirthschaft ist die Wirthschaftslehre“ (S. 21). Sodann analysiert und differenziert er die einzelnen Gebiete der Wirtschaft und erarbeitet schließlich eine Gliederung der Wirtschaftslehre (S. 89–90). Darin unterscheidet er zunächst zwischen einer allgemeinen und einer besonderen Wirtschaftslehre. Letztere teilt sich in eine bürgerliche und eine öffentliche Wirtschaftslehre. Die öffentliche Wirtschaftslehre besteht aus einer reinen Volkswirtschaftslehre (Volkswirtschaftstheorie) und einer angewandten Volkswirtschaftslehre; letztere umfasst die Volkswirtschaftspflege (Wirtschaftspolitik) und die Finanzwissenschaft. Den Teil der bürgerlichen Ökonomie (Land- und Forstwirtschaftslehre, Handelslehre usw.), den man heute der Betriebswirtschaftslehre zuordnen würde, wurde von R. herausgenommen; die allgemeine Wirtschaftslehre hat er dann mit dem theoretischen Teil der öffentlichen Wirtschaftslehre zur Volkswirtschaftslehre verbunden. Alle drei Teile zusammen bilden die politische Ökonomie (vgl. hierzu Rau, S. 89/90 und E. Leser in ADB). Die Abb. 24.2 veranschaulicht die Systematik der Wirtschaftslehre. Mit dieser Gliederung legte R. den Grundstein für die auch heute noch gültige Systematik: die Unterteilung in (theoretische) Volkswirtschaftslehre, Wirtschaftspolitik und Finanzwissenschaft. „Durch seine strenge Trennung von ökonomischer Theorie und Wirtschaftspolitik“, hebt Janke hervor, „überwand er die pragmatische Einseitigkeit des bisher dominierenden Kameralismus“ (in: Krause/Graupner/Sieber, S.  448). Nach Muhs (1963) ist die Rau’sche Systematik „von weitreichender grundsätzlicher Tragweite, da sie dem staatlichen Gestaltungsfeld mit der Disziplin der Volkswirtschaftspflege oder Volkswirtschaftspolitik eine breit angelegte Position zugesteht, mit entsprechender Einengung des Herrschaftsraums der Theorie der Eigengesetzlichkeit“ (S. 84). • Von 1826 bis 1837 erschien Rau’s dreibändiges Lehrbuch der politischen Oekonomie, das zum wichtigsten deutschen Standardwerk der Volkswirtschaftslehre im 19. Jahrhundert wurde. Er teilte das Werk entsprechend seiner zuvor entworfenen Systematik

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24  Rau, Karl Heinrich

Allgemeine Wirtschaftslehre

Öffentliche Wirtschaftslehre

Reine Volkswirtschaftslehre (Theorie)

Angewandte Volkswirtschaftslehre (Praxis)

+ = Volkswirtschaftslehre

+

Volkswirtschaftspflege ( = Wirtschaftspolitik)

+

Finanzwissenschaft

= Politische Ökonomie

Abb. 24.2  Systematik der Wirtschaftslehre nach Rau. (Quelle: Eigene Darstellung)

der Wirtschaftslehre dann auch folgerichtig in drei Bände: Grundsätze der Volkswirthschaftslehre (1826), Grundsätze der Volkswirthschaftspolitik (1828) und Grundsätze der Finanzwissenschaft (1832/1837). • In seinen Grundsätzen der Volkswirtschaftslehre von 1826 stellt Rau in den Paragraphen 158 ff. die Preistheorie dar. Er analysiert diesbezüglich sowohl die Nachfrageseite (subjektiver Nutzen) als auch die Angebotsseite (Produktionskosten) sehr ­genau und beschreibt deren Bestimmungsgründe. Als einer der ersten Ökonomen überhaupt zieht R. den subjektiven Wertbegriff in seine Analyse mit ein. „Drei Umstände sind es überhaupt, auf welche alle Bestimmungsgründe des Preises sich zurückführen lassen: 1) der Werth, 2) die Kosten, 3) das Mitwerben oder die Concurrenz (S. 109 f.).“

Rau erläutert diese drei Aspekte und leitet daraus Regeln ab: „… so kann man als erste Regel annehmen, daß der Preis eines Gegenstandes den Werth desselben nicht übersteigen könne“. „Der Werth, den ein Gegenstand für uns hat“, schreibt R., „bestimmt die größte Aufopferung, zu der wir uns entschließen werden, um uns den selben zu verschaffen“ (S. 110). In seiner zweiten Regel nimmt er an, „daß die Güter gewöhnlich nicht unter einem, die Kosten ihrer Anschaffung aufwiegenden Preise hingegeben werden“, also den Produktionskosten. „Die Kosten der Hervorbringung und Herbeischaffung einer Sache können“, so R. „an der Stelle des Werthes auf die Größe des Preises

Werk & Wirkung

199

einwirken“ (S. 111). Nach seiner dritten Regel könne „der Preis nur höchstens so groß seyn, als der Kostenbetrag, für welchen das zu erwerbende Gut auf andere Weise erlangt werden könnte“ (S. 112). • Als erster stellt Rau in der Auflage von 1841 die Preisbildung durch Angebots- und Nachfragekurven in graphischer Form dar – also fast ein halbes Jahrhundert vor →Alfred Marshall! Die Entstehung eines Marktgleichgewichtes beschreibt R. so: „Sind Angebot und Begehr einander der Stärke nach ungefähr gleich, so erhält der Preis einen mittleren, für Käufer und Verkäufer ungefähr gleich vortheilhaften Stand. Ueberwiegendes Angebot zieht eine Erniedrigung, größerer Begehr eine Erhöhung desselben nach sich. Alle diejenigen Umstände, welche auf die Stärke des Angebotes und Begehres Einfluss haben, tragen bei, die Preise zu bestimmen, und nicht bloß jede wirklich eingetretene Aenderung in einem solchen Umstande, sondern schon die bloße Wahrscheinlichkeit einer solchen, kann einen Wechsel in den Preisen nach sich ziehen. … Der durch das Mitwerben festgesetzte, in vielen Tauschfällen gleichförmige Preis wird Marktpreis, wirklicher, Tauschpreis, prix courant, genannt (S. 116 f.).“

Zahlreiche ergänzende Beispiele, mathematische Erläuterungen und statistische Daten versteckt R. – wie Marshall es später ebenfalls in seinen Principles tat – in den Fußnoten. Die Ausführungen zur Preistheorie (§ 154) ergänzte R. ab der 4. Auflage (1841) um einen Anhang, der eine graphische Darstellung enthält, in der die Preisbildung mittels einer „Begehrslinie“ und „Angebotslinie“ (die wir heute Nachfrage- und Angebotskurve nennen) veranschaulicht wird. „Die Versuche, die Wirkungen des Mitwerbens auf den Preis der Waaren mit Hülfe arithmeti­ scher Formeln zu verdeutlichen, sind bisher noch nicht gelungen. Leichter ist dieser Zweck auf einem anderen Wege, durch eine geometrische Darstellung zu erreichen. Man kann hierbei von dem Satze ausgehen, daß, wenn der Begehr von dem Angebote, oder dieses von jenem übertroffen wird, ein Theil der Verkauf- oder Kauflustigen genöthigt ist, zurückzutreten, bis nur noch soviel Waaren angeboten als begehrt werden. Von denen, die ein Gut z. B. um einen Preis von 10 fl. kaufen wollen, ist nur ein Theil geneigt, bis auf 18 fl., und noch ein kleinerer Theil, bis 24 oder 30 fl. hinaufzugehen. Der Preis wird sich, wenn der jetzige Begehr nicht dem Angebote gleich ist, desto mehr oder weniger verändern, je langsamer oder schneller das Gleichgewicht sich durch das Zurückziehen eines Theils der Mitwerber herstellt. Die Linie A B zeigt die verschiedenen Preise eines gewissen Gutes an. Die auf ihr senkrechten Linien a b, a’ l, a” m etc. drücken die bei einem gewissen Stande des Preises oder der Preisforderung stattfindende Größe des Begehrs aus. Verbindet man die Endpuncte dieser Linien durch eine Linie h b m g, so kann diese die Begehrslinie heißen, denn sie stellt das allmälige Abnehmen des Begehrs dar. Der Punct, wo A B von der Begehrslinie geschnitte wird, zeigt denjenigen Preis an, den der allereifrigste und begütertste Käufer noch zu geben entschlossen ist. Die Begehrslinie kann auch gekrümmt sein, wie f b o n p i, und es sind mancherlei Curven hierbei denkbar. Nimmt man an, das Angebot sei unveränderlic, so wird dasselbe durch die Linien a c, a” m, a”’p dargestellt, und e c m p d ist also die Angebotslinie. Wenn bei höherem Preise das Angebot anwächst, so kann seine jedesmalige Größe durch eine rechts abweichende Linie, wie z. B. die Curve e c l n k angedeutet werden. Es sei nun bei einem bisherigen Preise von 10 fl. der Begehr a b, das Angebot a c. Die Verkäufer machen sich dieß zu Nutzen, und verlangen mehr, worauf ein Theil der Käufer in dem Maaße vom Kaufe absteht, wie es die Annäherung von h g an A B zu erkennen giebt. Ist die Forderung bis 24 gekommen, wo die

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24  Rau, Karl Heinrich

Begehrslinie mit der Angebotslinie in m zusammentrifft, so kann gerade der noch übrige Begehr befriedigt werden, und es wird sich also der Preis ungefähr auf diesen Betrag stellen, wobei dann zugleich das Rechteck A a” m e die ganze bezahlte Preismenge bezeichnet. Nähme der Begehr wegen des hohen Werthes der Sache in einer langsameren Fortschreitung ab, etwa nach Linie f b o p i, so würde der Preis bis zur Höhe des Schnittpunctes p, also bis auf 40 fl. in die Höhe gehen. Wenn dagegen die Aussicht auf einen höheren Preis das Angebot vergrößerte, z. B. nach der Curve c l n k, so könnte die Steigerung bei der ersten Begehrslinie nur bis l oder auf 22 fl., bei der zweiten bis n oder auf 32 fl. gehen. Wenn die Begehrslinie eine gerade ist und der Winkel a b g mit w bezeichnet wird, so ist bei dem Begehr a b und dem Angebot a c die Preiserhöhung c m = (a b – a c) tang. w. Dieselbe Zeichnung kann auch den Fall versinnlichen, wenn das Angebot größer ist, als der Begehr, also h g oder f i die Angebotslinie, e d oder e k die Begehrslinie anzeigt, nur daß dann die Zahlen der Scala A B nicht die Steigerung, sondern die Erniedrigung des Preises andeuten, und die Begehrslinie beim Herabgehen der Preisforderung sich stärker von A B entfernt, als hier e c k. Für jede Waare wird die Veränderung der beiden Linien des Mitwerbens nach einem eigenen Gesetze, nach Linien verschiedener Art, mit convexen und concaven, mit wellenförmigen Krümmungen etc. erfolgen; es wird aber hieraus deutlich, daß man nicht von der Größe des Angebots und Begehrs schlechthin, sondern nur unter der Voraussetzung eines gewissen angebotenen oder geforderten Preises, sprechen kann (K.  H. Rau: Grundsätze der Volkswirtschaftslehre, 7. Aufl., Leipzig/Heidelberg 1861, S. 586–588).“

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Den großen Erfolg von R.s Lehrbuch, der ersichtlich wird u. a. in einer großen Anzahl an Auflagen sowie Übersetzungen in acht Sprachen, führt E.  Leser zurück auf „drei Vorzüge, die dem Verfasser eigen sind“: „Vor allem seine gründliche Kenntniß der praktischen Einzelheiten des gewerblichen Lebens, … eine große Mäßigung und Besonnenheit des Urtheils … Was aber endlich dem Werke den größten Theil seiner Bedeutung verschafft hat, ist die im wirtschaftlichen Sinn liberale, moderne Gesinnung,

Wichtige Publikationen

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die dasselbe erfüllt“ (in ADB 1888). Nach R.s Tod führten Adolf Wagner und Erwin Nasse die Bearbeitung des Werkes fort. • Ab 1835 gab Rau das Archiv für politische Oekonomie und Polizeiwissenschaft he­ raus, die wichtigste deutschsprachige wirtschaftswissenschaftliche Zeitschrift. 1853 verschmolz diese mit der Zeitschrif für die gesamte Staatswissenschaft. • Neben seiner literarischen Arbeit machte Rau sich auch als akademischer Lehrer in der Ausbildung der Verwaltungs- und Finanzbeamten einen Ruf; „der größte Theil des badischen Beamtentums empfing durch ihn seine Ausbildung in den staatswirthschaftlichen Disziplinen“ (ADB). Mit Fragen diese Ausbildung betreffend, setzte er sich in seiner Schrift Ueber die wissenschaftliche Vorbildung der Beamten zum Administrativfach (1836) auseinander. • Wie Roscher in seiner Geschichte der National-Oekonomik schreibt, beruhe die Stärke von Rau „vornehmlich auf seiner encyklopädischen und praktischen Zusammenfassung aller bisher in Deutschland vorhandenen volkswirthschaftlichen Einsicht“ (S. 847). Allerdings verdanke die Wissenschaft R. auch „einzelne Bereicherungen und Verbesserungen“ (S. 858). Kritisch äußert er, dass es ihm an „philosophischer Eleganz“ (S.  850) fehle und er „kein eigentlich historischer Kopf“ (S.  853) sei. Roscher ­konstatiert: „Im Allgemeinen läßt sich seine geschichtliche Stellung am kürzesten so bezeichnen, daß er der Volkswirthschaftslehrer der gut regierten deutschen Mittelstaaten von 1815 bis 1848 gewesen“ (S. 855). Nach Schumpeter gebühre R. – obwohl er ihn charakterisiert mit den Eigenschaften „klaren Verstand, Gelehrsamkeit und Mittelmäßigkeit“ – „als Lehrer ein Ehrenplatz in der Geschichte der Wirtschaftswissenschaft“ (S. 617 f.). Ähnlich äußert sich auch Leser: „R. gehört zu einem kleinen Kreis bevorzugter Persönlichkeiten in der Geschichte der deutschen Nationalökonomie. Bei seinen Zeitgenossen hat er gegolten und auf ihre Anschauungen und Handlungen erheblich gewirkt“ (ADB, S. 385).

Wichtige Publikationen • • • • • •

Ueber das Zunftwesen und die Folgen seiner Aufhebung, 1816 Ueber den Luxus, 1816 Ueber die Ursachen der Armuth, 1817 Ansichten der Volkswirthschaft mit besonderer Beziehung auf Deutschland, 1821 Malthus und Say über die Ursachen der jetzigen Handelsstockungen, 1821 Grundriß der Kameralwissenschaft oder Wirthschaftslehre für encyklopädische Vorlesungen, 1823 • Ueber die Kamerlawissenschaft. Entwicklung ihres Wesens und ihrer Theile, 1825 • Lehrbuch der politischen Oekonomie  – I.  Band: Grundsätze der Volkswirthschaftslehre, 1826; II. Band: Grundsätze der Volkswirthschaftspolitik, 1828; III. Band: Grundsätze der Finanzwissenschaft, 2 Teile, 1832 u. 1837 • Über die Krisis des Zollvereins im Sommer 1852, 1852

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Literatur ADB (1888), Bd. 27, S. 380–385 G. Haupt (2004): Karl Heinrich Rau. Ein Beitrag zur Sozialgeschichte der Professorenschaft im 19. Jh., Diss. Heidelberg HdSW (1964), Bd. 8, S. 683–684 Hesse (2009), S. 448 Krause/Graupner/Sieber (1989), S. 447–449 Muhs (1963) Roscher (1874), S. 847–860 Schumpeter (1965/2007)

Internet Die wichtigsten Schriften von Rau sind online verfügbar: http://onlinebooks.library.upenn.edu/webbin/book/lookupname?key=Rau%2c%20Karl%20Heinrich http://catalog.hathitrust.org/Record/011553728

Cournot, Antoine Augustin

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Wächter, Ökonomen auf einen Blick, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29069-6_25

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Leben & Karriere • Mit 15 Jahren verließ Cournot die Schule und studierte im Selbststudium philosophische und naturwissenschaftliche Werke. • 1820 nahm C. das Studium der Mathematik und Philosophie in Besançon auf, das er ein Jahr später in Paris fortsetzte. • Anschließend war er von 1823 bis 1833 als Sekretär des Marschalls Gouvion St. Cyr tätig. Während dieses zehnjährigen Dienstes fand er auch Gelegenheit seine Studien fortzusetzen. • 1829 promovierte C. zum Doktor der Wissenschaften. • 1831 begann C. seine Beamtenkarriere in der französischen Schulverwaltung. • 1834 übernahm C. den Lehrstuhl für Höhere Mathematik an der Universität Lyon, den er jedoch nur ein Jahr innehatte. • Von 1835 bis 1838 war C. Rektor der Akademie in Grenoble und wurde später Generalinspekteur der französischen Universitäten. Außerdem war er von 1848 bis 1851 Mitglied des Ausschusses für Hochschulbildung, später Mitglied des Reichsrates für Volksbildung. • 1854 schlug C. das Angebot des Erziehungsministers aus, das Rektorat in Toulouse zu übernehmen und wurde stattdessen auf eigenen Wunsch Rektor der Akademie von Dijon. • 1862 zog sich C. aus dem Staatsdienst zurück und verbrachte seinen Ruhestand in Paris.

Werk & Wirkung • Cournot verfasste Schriften auf dem Gebiet der Philosophie, der Mathematik und der Ökonomie. Bedeutsam sind jedoch seine ökonomischen Schriften. Seine kleine Abhandlung Exposition de la théorie des changes et des prohabilités aus dem Jahr 1843 hat der modernen (Sozial-)Statistik wichtige Impulse gegeben. • Sein ökonomisches Hauptwerk, die Recherches sur les principes mathématiques de la théorie des richesses, erschien im Jahr 1838. Die deutsche Übersetzung erschien 1924 unter dem Titel Untersuchungen über die mathematischen Grundlagen der Theorie des Reichtums. Mit diesem Werk leistete C. einen Beitrag zur Erklärung des Marktmechanismus unter Zuhilfenahme der mathematischen Analyse. Im Wesentlichen hat er in dieser Arbeit „eine große Frage untersucht, nämlich die Frage nach dem Zusammenhang zwischen dem Preis einer Ware und der Nachfrage nach ihr unter verschiedenen Marktsituationen, das heißt bei unterschiedlichem Kräfteverhältnis der Käufer und Verkäufer“ (Anikin, S. 328).

Werk & Wirkung

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Die Untersuchungen bestehen aus elf Kapiteln: In den ersten drei Kapiteln beschäftigt er sich mit Reichtum, Tauschwert und Wechselkurs. Das vierte Kapitel kann als ‚Grundgesetzt‘ verstanden werden, auf dem C. seine weiteren Untersuchungen aufbaut. Hier, in Artikel 20, arbeitet er heraus, dass zwischen dem Absatz – dieser stellt zugleich die effektive Nachfrage und das effektive Angebot dar – und dem Preis eine funktionelle Abhängigkeit besteht und im Normalfall die Nachfragekurve eine negative Steigung aufweist. Von großer Bedeutung sind die Kap. V bis IX, in denen er die Marktformen Monopol, Duopol, Oligopol und Polypol untersucht. Die weiteren Kapitel handeln von „der Verbindung der Märkte“, „vom Sozialeinkommen“ und „von den Veränderungen des Volkseinkommens infolge der Verbindung der Märkte“. • Im Vorwort weist C. darauf hin, dass er nur jene Bereiche der Ökonomie untersucht, die für eine Anwendung der mathematischen Methode geeignet sind und hebt hervor, welchen Vorteil er darin sieht: „Ich wollte keineswegs eine dogmatische und erschöpfende Abhandlung über die politische Ökonomie schreiben. Die Fragen, bei denen die mathematische Analyse nicht anwendbar ist, und auch jene, die mir vollständig geklärt scheinen, habe ich nicht berührt. … Ich bin weit entfernt davon, mich für ein bestimmtes Wirtschaftssystem einzusetzen oder mich unter irgendein Parteibanner zu stellen; meiner Meinung nach ist es ein großer Schritt von der Wissenschaft zur Nutzanwendung durch den Staat, und ich finde, daß die Theorie von ihrem Wert nichts verliert, wenn sie von der leidenschaftlichen Polemik verschont bleibt; auch glaube ich, wenn diese Abhandlung von einigem praktischen Wert ist, so wird er hauptsächlich darin bestehen, daß wir klar fühlen, wie weit wir davon entfernt sind, in voller Erkenntnis der ursächlichen Zusammenhänge eine Reihe von Fragen lösen zu können, die jeden Tag kühn entschieden werden. (Cournot: Untersuchungen über die mathematischen Grundlagen der Theorie des Reichtums, Jena 1924, S. XXIII.)“

• Als erster Ökonom behandelt C. das Monopolpreisproblem. Seine Theorie leitet er ab aus seinem „Gesetz der Nachfrage“, wonach die Nachfrage jeder Ware  – sie ist ­zugleich auch ihr Absatz – eine partielle Funktion des Preises dieser Ware ist. Somit ist jedem Preis eine bestimmte Absatzmenge zugeordnet. „Die Nachfrage nach einer Ware ist gewöhnlich um so größer, je billiger sie ist. Der Absatz oder die Nachfrage (denn für uns decken sich diese beiden Begriffe …) … wächst im allgemeinen, wenn der Preis sinkt. … Nehmen wir also an, daß der Absatz oder die jährliche Nachfrage D für jede Ware eine partielle Funktion F (p) des Preises p dieser Ware ist. Wäre die Form dieser Funktion bekannt, so hatte man das Gesetz der Nachfrage oder des Absatzes. … Wir nehmen an, daß die Funktion F (p) des Gesetzes der Nachfrage oder des Absatzes eine kontinuierliche Funktion ist, d. h. eine Funktion, die nicht plötzlich von einem zum anderen Wert springt, sondern im Interval stets die zwischenliegenden Werte einnimmt. (Cournot 1924, S. 37–40)“

• C. lieferte auch als erster eine exakte Definition der Elastizität der Nachfrage, auch wenn er diesen Begriff nirgends in seinem Werk verwendet. →A. Marshall wird dies

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ein halbes Jahrhundert später tun. Die Elastizität beschreibt das Verhältnis der prozentualen Veränderung der nachgefragten Menge zur prozentualen Veränderung des Preises. Neben dem Normafall des Nachfragegesetzes, wonach steigende Preise zu einem Rückgang der nachgefragten Menge führen und umgekehrt, gibt er anschauliche Beispiele für eine vom Preis unabhängige Nachfrage und für den speziellen Fall, dass mit steigendem Preis auch die Nachfrage steigt. „Die Nachfrage kann genau umgekehrt proportional dem Preis sein, gewöhnlich steigt oder fällt sie aber viel schneller, was man besonders bei den meisten Manufakturwaren beobachten kann. Ein andermal wieder verändert sich die Nachfrage weniger schnell; dies scheint (merkwürdigerweise) gleicherweise bei den notwendigsten wie überflüssigsten Dingen der Fall zu sein. Der Preis von Geigen und astronomischen Fernrohren könnte um die Hälfte sinken, ohne daß voraussichtlich die Nachfrage sich verdoppeln würde, denn diese Nachfrage ist bestimmt durch die Zahl der Leute, welche die Kunst oder Wissenschaft pflegen, denen diese Instrumente dienen, Leute, welche die erforderlichen Anlagen besitzen und die Zeit, sie zu pflegen, die Mittel, um Lehrkräfte zu bezahlen und andere nötige Ausgaben zu machen, bei denen der Preis für die Instrumente nur eine nebensächliche Rolle spielt. Brennholz, das im Gegensatz dazu eines der nützlichsten Guter ist, konnte wahrscheinlich seinen Preis etwa infolge fortschreitender Entwaldung oder Bevölkerungsvermehrung verdoppeln, ohne daß der jährliche Brennholzverbrauch um die Hälfte zurückginge, da eine große Zahl von Verbrauchern eher andere Ausgaben einschränken, als ohne Holz auskommen kann. (Cournot 1924, S. 37 f.)“

• Das wichtigste Resultat von C.s Monopolpreistheorie (Kap. V) ist die Entdeckung jenes speziellen Punktes, an dem der Monopolist sein Gewinnmaximum erzielt. Dieser Punkt wird auch „Cournot-Punkt“ genannt. Da der Monopolist keine Konkurrenten hat, kann er die Höhe des Preises selbst bestimmen, muss allerdings in diesem Zusammenhang auch die Absatzmenge berücksichtigen, da die Höhe der produzierten Menge seine Produktionskosten bestimmt. Der Monopolist strebt nach dem Umsatzmaximum, also jenem Punkt, in dem das Produkt aus Stückpreis und abgesetzter Menge ein Maximum darstellt. Zieht man von dem Umsatz die Kosten ab, ergibt sich der Gewinn. Da der Preis jedoch nicht – wie bei vollständiger Konkurrenz – gegeben ist, sondern vom Monopolisten beeinflusst werden kann, geht dieser direkt als Funktion der Menge (Preis-Absatz-Funktion) in die Erlösfunktion ein. Der Gewinn ist am größten, wenn Grenzerlös und Grenzkosten gleich sind (Bedingung 1. Ordnung) und zudem die Steigung der Grenzerlöskurve kleiner ist als die Steigung der Grenzkostenkurve (Bedingung 2. Ordnung). Grenzkosten (K′) sind die Kosten, die bei einer zusätzlich produzierten Einheit anfallen. Grenzerlöse (E′) sind die Erlöse, die bei einer zusätzlich abgesetzten Einheit zusätzlich erzielt werden. Für den Monopolist lohnt sich die Ausdehnung der Produktion, solange die Grenzerlöse größer sind als die Grenzkosten, d. h. solange die bei dem Absatz einer zusätzlich produzierten Einheit zusätzlich erzielten Erlöse größer sind als die zusätzlich anfallenden Kosten bei

Wichtige Publikationen

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Preis

gewinnmaximaler Preis

Das Gewinnmaximum wird erreicht, wenn Grenzerlös und Grenzkosten gleich sind (E’ = K’) und die Steigung der Grenzerlöskurve kleiner als die Steigung der Grenzkostenkurve ist.

Cournotscher Punkt

Grenzkosten (K’)

Nachfrage ( = Preis-Absatz-Kurve) Grenzerlös (E’) Menge gewinnmaximale Menge

Abb. 25.1  Die Monopolpreisbildung nach Cournot. (Quelle: Eigene Darstellung)

der Produktion dieser Einheit. Das Gewinnmaximum wird erreicht, wenn Grenzerlös und Grenzkosten gleich sind. In der graphischen Darstellung (siehe Abb.  25.1) lässt sich der Cournotsche Punkt ermitteln, indem man von diesem Schnittpunkt (E′ = K′) eine Parallele zur Preisachse zeichnet, bis sich diese mit der Nachfragekurve (=Preis-Absatzkurve) schneidet. • Cournots Werk hat nachfolgende Ökonomen wie beispielsweise →L.  Walras, →C. Menger und W. S. Jevons entscheidend beeinflusst. Jedoch wurde zu C.s Lebzeiten sein Werk von den Fachkollegen weitgehend ignoriert. Die Ursache hierfür ist nach Toepel darin zu sehen, „daß zwar die Periode des klassischen bürgerlichen ökonomischen Denkens … zu Ende ging, daß aber andererseits die Zeit monopolistischer Preisregulierung noch nicht gekommen war. Um es also ganz einfach zu sagen: Cournot war unzeitgemäß.“ Sein größtes Verdienst ist die Einführung der mathematischen Methode in die Nationalökonomie. Dies führte nicht nur dazu, dass die Nationalökonomie zu einer anerkannten Wissenschaft wurde, sie machte ihn auch zum Gründer der Ökonometrie. Zu den wesentlichen Leistungen C.s zählen seine Untersuchungen zur Nachfragefunktion, zur Nachfrageelastizität und zum Monopolpreisproblem.

Wichtige Publikationen • Recherches sur les principes mathématiques de la théorie des richesses, 1838 • Exposition de la théorie des changes et des prohabilités, 1843

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25  Cournot, Antoine Augustin

Literatur Anikin (1974), S. 325–331 HdSW, Bd. 2 (1959), S. 536–538 Hesse (2009), S. 111–112 Krause/Graupner/Sieber (1989), S. 96–99 Recktenwald (1971), S. 235–253 Starbatty (2012), Bd. 1, S. 245–265 Stavenhagen (1964), S. 332 ff. Toepel: Cournots mathematische Theorie des Preises, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, 1980/I, S. 29

Mill, John Stuart

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Wächter, Ökonomen auf einen Blick, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29069-6_26

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26  Mill, John Stuart

Leben & Karriere • Mills Bildungsweg begann in außerordentlich frühen Jahren. Sein strenger Vater, der berühmte Ökonom James Mill, startete mit einem rigorosen Bildungs- und Erziehungsexperiment, als der junge Mill gerade drei Jahre alt war. Das Ziel: Er sollte zu einem Genie erzogen werden. Im Alter von nur drei Jahren begann er Griechisch zu lernen, später standen Arithmetik, Geschichte, Latein, Geometrie und Algebra auf dem Lehrplan des Vaters. Mit zwölf Jahren hatte Mill die bedeutendsten Klassiker der Philosophie im Original studiert. • Mit dreizehn Jahren begann der Unterricht in Nationalökonomie. Eine typische Lernmethode bestand darin, dass der junge Mill die Gespräche und Diskussionen, die er mit seinem Vater führte, schriftlich zusammenfasste. Über sein Ökonomie-Studium schrieb Mill in seiner Autobiographie: „Obwohl Ricardo sein großes Werk damals bereits veröffentlicht hatte, gab es noch keinen für Studenten geeigneten Auszug. So begann mein Vater, mich in die ökonomische Wissenschaft in einer Art Vorlesung einzuführen, die er mir während unserer Spaziergänge hielt. Im Anschluß daran las ich Ricardo selbst, berichtete täglich vom Inhalt meiner Lektüre und versuchte, nach bestem Können über die sich fortlaufend ergebenden Probleme zu diskutieren. Auf dieselbe Weise mußte ich die bewundernswerten Abhandlungen Ricardos über das Geldproblem, den verwickeltsten Teil der Materie, durcharbeiten. … Anschließend wandte ich mich Adam Smith zu, und während dieser Lektüre drang mein Vater sehr darauf, daß ich die überlegenen Einsichten Ricardos auf die mehr oberflächlichen Anschauungen Smiths über die Politische Ökonomie beziehen und dabei erkennen sollte, was an Smiths Argumenten verfänglich oder was sonst in seinen Folgerungen irrig sei. (zit. n. Recktenwald, S. 259)“

M. litt unter dieser strengen Erziehung so sehr, dass er später über sich selber sagen wird, er sei zu einer „Denkmaschine“ („reasoning machine“) erzogen worden. In der Tat hatten Freizeit, Freundschaften, Liebe, Emotionen keinen Platz in diesem Programm, so dass er als junger Mann im Winter 1826 in eine tiefe Depression stürtze. • Im Mai 1823 erwirkte M.s Vater eine Anstellung seines Sohnes bei der Ostindien-­ Kompanie in der Korrespondenzabteilung (siehe Abb. 26.1), die unter seiner Leitung stand. M. machte rasch Karriere und stand 35 Jahre lang im Dienst der Handelsgesellschaft. Bis zum Tode seines Vaters (1836) ist M. bis zum dritthöchsten Beamten der Gesellschaft aufgestiegen. Trotzdem fand er die Zeit, seine eigenen Studien weiterzubetreiben und schrieb auch für Zeitungen. • Zwischen Herbst 1845 und März 1847 widmet sich Mill dem Studium der Ökonomie und verfasst in dieser Zeit sein zweites Hauptwerk: die Principles of Political Economy. • 1851 heiratete M. Harriet Taylor, die ihn nicht nur intellektuell inspirierte und politisch beeinflusste (z. B. bei Themen wie der Todesstrafe, der Sklaverei und Frauenrechte), sondern auch die Emanzipation von seinem Vater forcierte.

Werk & Wirkung

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Abb. 26.1  Das Hauptgebäude der British-East-India-Company in London, um 1800. (Quelle: Wikimedia)

• 1865 wurde M. als Abgeordneter für Westminster in das Unterhaus und zur gleichen Zeit auch zum Rektor der St. Andrews University gewählt. Sein politisches Engagement galt u. a. dem Frauenwahlrecht – 1867 hielt er hierzu eine Rede im Unterhaus – und der Abschaffung der Sklaverei. Eine weitere Kandidatur im Jahr 1868 scheiterte.

Werk & Wirkung • Mill verfasste zahlreiche Artikel und Rezensionen für Zeitschriften, Aufsätze und Flugschriften. Wissenschaftliche Werke verfasste er auf den Gebieten der Logik, der Philosophie und der Ökonomie. • In seinem System der deductiven und inductiven Logik von 1843 hat M. wichtige Grundlagen der ökonomischen Forschungsmethodik erarbeitet. Er befürwortet darin eine Übertragung der naturwissenschaftlichen Forschungsmethoden (wie z. B. das Ex-

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26  Mill, John Stuart

periment) auf die Gesellschaftswissenschaften; er erkennt aber auch die Schwierigkeiten, die mit einer direkten Übertragung verbunden sind. So plädiert er dafür, dass Handlungsmotive der Menschen in die Untersuchung einbezogen werden, wie z.  B. das individuelle Streben nach Reichtum. Somit kann M. – ohne den Begriff zu verwenden – als geistiger Vater des „homo oeconomicus“-Modells betrachtet werden: ein Menschenbild, das die Wirtschaftswissenschaft für lange Zeit dominieren wird und eine Säule der (neo-)klassischen Theorie darstellt. Erst 150 Jahre später wird →Reinhard Selten für seine Leistungen auf dem Gebiet der experimentellen Wirtschaftsforschung mit dem Nobelpreis ausgezeichnet. • 1844 erschien M.s Aufsatzsammlung zu ungeklärten Fragen der Ökonomie unter dem Titel Essays on some unsettled questions of political economy. Essay I befasst sich mit der Verteilung der Gewinne aus dem Freihandel zwischen den beteiligten Ländern, Essay II mit dem Einfluss des Konsums auf die Produktion, Essay III mit der Unterscheidung zwischen „produktiv“ und „unproduktiv“, Essay IV mit dem Verhältnis von Profit und Zins, und Essay V befasst sich mit der Definition der Politischen Ökonomie und deren angemessene Forschungsmethode. Die englischen Originaltitel der Essays lauten: I. Of the Laws of Interchange between Nations; and the Distribution of the Gains of Commerce among the Countries of the Commercial World II. Of the Influence of Consumption on Production III. On the Words Productive and Unproductive IV. On Profits, and Interest V. On the Definition of Political Economy; and on the Method of Investigation Proper To It Marx nennt das Werk in seinen Theorien über den Mehrwert ein „Schriftlein, das in der Tat alle originellen Ideen des Herrn J. St. Mill über political economy enthält (im Unterschied von seinem starkleibigen Kompendium)“ (MEW, Bd. 26.3, S. 190). • Mills ökonomisches Hauptwerk, die Principles of Political Economy (dt.: Grundsätze der Politischen Ökonomie), erschien im Jahre 1848 und erlebte zu dessen Lebzeiten sieben Aufklagen. Er greift in dem sehr verständlich geschriebenen Buch die Ideen von →Smith und →Ricardo auf, überprüft und ergänzt deren Ansichten und bietet „eine ausführliche, systematische Darstellung der bürgerlichen politischen Ökonomie vom Stand der Mitte des 19. Jh.“ (Krause, S. 360). Sein Ziel ist dabei in erster Linie das ökonomische Wissen seiner Zeit zusammenzufassen, aber auch die junge Disziplin gegen ihre Kritiker zu verteidigen (vgl. Kurz, S. 183 f.). Blaug bemerkt zum Stil, in dem die Grundsätze verfasst sind: „Das Buch liest sich einfach, fast zu einfach“ (S. 71). Ähnlich äußert dies auch Anikin und fügt zugleich eine Erklärung hinzu: „Alles ist in ausgezeichnetem Englisch, präzis, logisch und glatt geschrieben. Nur, allzu glatt! Hier findet sich nicht die Spur von Ricardos genialen Widersprüchen, sondern nur der Versuch, unterschiedliche Ansichten eklektisch miteinander zu verbinden“ (S. 296). Für lange Zeit galten die Grundsätze als die Bibel der Ökonomen. Noch um die Jahrhundertwende, als Marschall längst an Einfluss gewonnen hatte, waren die Grundsätze,

Werk & Wirkung

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wie Blaug feststellt, „das wichtigste Lehrbuch der elementaren Ökonomie“ (S.  71). Anikin erkennt in dem Aufbau angloamerikanischer Lehrbücher eine Tradition, die mit M. ihren Anfang genommen habe: „P. Samuelsons Lehrbuch ist so aufgebaut, dass die beiden ersten Teile die allgemeine ‚Theorie der Produktion‘ enthalten und deren Wachstumsfaktoren behandeln. Erst im dritten Teil folgt (ebenso wie bei Mill) das Wertproblem, das hinter dem Aushängeschild ‚Preisbildung‘ verborgen bleibt“ (S. 296). • Der Inhalt der Grundsätze der Politischen Ökonomie, der im Folgenden in groben Zügen skizziert werden soll, ist in fünf Bücher gegliedert: „Production“, „Vertheilung“, „Tausch“, „Einfluß der Fortschritte der Gesellschaft auf Produktion und Vertheilung“ und „Vom Einflusse der Regierung“. –– Im ersten Buch untersucht M. die Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital, unterscheidet zwischen produktiver und unproduktiver Arbeit und stellt den Lohnfonds dar. Das Buch beinhaltet auch Mills Kapitaltheorie und die berühmten vier „grundsätzlichen Aussagen über das Kapital“. –– Im zweiten Buch setzt sich M. mit der Institution des Eigentums sowie der Eigentumsrechte auseinander und beschreibt die Verteilung der Erträge. So kritisiert er beispielsweise das Institut der Vererbbarkeit von Eigentum und fordert eine progressive Erbschaftssteuer, um so eine zu starke Ungleichheit zu verhindern. Das Kap. 1 „Vom Eigentum“ gilt als das berühmteste Kapitel. Zum ersten Mal wird in einem bedeutenden ökonomischen Werk der Sozialismus thematisiert, d. h. die Ideen von Fourier und Saint-Simon. M. spricht sich für das Privateigentum aus, stellt dieses aber in einen sozialphilosophischen Zusammenhang und betont, dass es seine „wohlthätige Wirkung“ nur bei Chancengleichheit entfalten könne: „Wenn das Princip des Privateigenthums angenommen wird, so müssen wir voraussetzen, daß dasselbe von keiner der anfänglichen Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten … begleitet sei. Wir müssen annehmen, dass jeder erwachsene Mann und jede erwachsene Frau in der ungefesselten Benutzung und Verfügung ihrer leiblichen und geistigen Fähigkeiten gesichert sei und daß die Mittel zur Production, Boden und Werkzeuge in angemessener und billiger Weise unter sie vertheilt werden, so daß alle in Rücksicht auf äußerliche Ausstattung unter gleichen Bedingungen ihre Wirthschaft beginnen. (S. 211)“

Die sozialistische Theorie wird von M. insgesamt sehr wohlwollend behandelt. Jedoch unterscheidet er sich in einem wichtigen Punkt von den Sozialisten: Die Missstände des Kapitalismus sieht er nicht im Privateigentum begründet, sondern in einem zügellosen Individualismus und einem Fehlen von Regeln, die einen Missbrauch von Eigentumsrechten verhindern. Interessant ist M.s Unterscheidung zwischen Kommunismus und Sozialismus, wonach im Kommunismus „alle arbeiten sollen in Gemäßheit ihrer Fähigkeit und empfangen in Gemäßheit ihrer Bedürfnisse. Und zum Sozialismus führt er aus: „… derselbe bedingt nicht notwendig Communismus oder die gänzliche Abschaffung des Eigentums, sondern wird angewendet auf jedes System, welches verlangt, daß der Boden und die Werkzeuge der Produktion, nicht das Eigenthum von Privatpersonen, sondern des Gemeinwesens oder einer Association oder auch der Regierung sein sollen. (S. 213)“

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26  Mill, John Stuart

–– Im dritten Buch befasst sich M. mit dem Wertproblem und definiert zunächst „Tauschwert“, „Gebrauchswert“ und „Preis“. Er stellt eine Werttheorie auf und analysiert Angebot und Nachfrage sowie die Bedeutung der Produktionskosten; Geld, Währung und Kredit werden behandelt. Schließlich wird der internationale Handel dargestellt. In Kap. 2 führt M. sein Konzept von Angebot und Nachfrage ein. Er erkennt, dass die Preise durch die Nachfrage bestimmt sind und zeigt, dass im Gleichgewicht jener Preis herrscht, der Angebot und Nachfrage ausgleicht. Der Preis richtet sich also nicht nach dem Verhältnis von Angebot und Nachfrage: „Wir sehen also, daß der Begriff eines Verhältnisses zwischen Nachfrage und Angebot hier nicht an seiner Stelle ist und mit der Sache eigentlich nichts zu thun hat. Die passende mathematische Analogie ist die einer Gleichung. Nachfrage und Angebot – die nachgefragte und die angebotene Quantität – wollen ausgeglichen sein. Wenn sie zu irgend einer Zeit ungleich sind, so werden sie durch die Concurrenz ausgeglichen, und zwar geschieht dies mittelst einer Regulierung des Werthes. Wenn die Nachfrage zunimmt, steigt der Werth; vermindert sich die Nachfrage, so sinkt der Werth; umgekehrt, wenn das Angebot nachlässt, steigt der Werth, und sinkt, sobald das Angebot sich vergrößert. Das Steigen und Sinken dauert fort, bis Nachfrage und Angebot wieder einander gleich sind. Der Werth, welcher sich für einen Artikel an irgend einem Markte ergeben wird, ist kein anderer als gerade derjenige Werth, welcher an jenem Markte eine hinreichende Nachfrage hervorruft, um das vorhandene oder zu erwartende Angebot in Anspruch zu nehmen. Dies ist also das Gesetz des Werthes in Bezug auf alle Waaren, welche ihrer Natur nach es nicht gestatten, nach Belieben vervielfältigt zu werden. (J.  St. Mill, Gesammelte Werke, Bd. 6, 1869, S. 114)“

–– Im vierten Buch wird die Entwicklung der Einkommens- und Vermögensstrukturen untersucht sowie deren Entwicklungstendenzen unter der Berücksichtigung der Bevölkerungsentwicklung. M. stellt die Entwicklung von Bodenrente, Kapitalgewinn und Arbeitslohn dar und beschreibt das Eintreten eines „stationären Zustandes“, der im tendenziellen Niedergang der Kapitalgewinne und der Arbeitslöhne begründet ist. Das letzte Kapitel befasst sich mit der Zukunft der Arbeiterklasse. –– Das fünfte Buch widmet sich der Wirtschaftspolitik. M. geht auf die Funktionen der Regierung ein, stellt verschiedene Steuerarten dar und erläutert die Funktion und Wirkung der Besteuerung. Er setzt sich mit der Staatsverschuldung auseinander, untersucht die Gründe für Eingriffe des Staates und hebt die Bedeutung des „Laisser Faire“-Prinzips als allgemeine Regel hervor, die jedoch auch gewissen Einschränkungen unterliegt: „‚Laisser Faire‘ sollte die allgemeine Regel sein und jede Abweichung davon ist, sofern nicht ein großer Vortheil sie gebietet, ein sicheres Uebel“ (S. 265). Nach einer Aufzählung einiger Ausnahmen, in denen der Eingriff des Staates sinnvoll erscheint (z. B. Schulpflicht, Arbeitsschutz) kommt M. zu dem Schluss, dass man im Allgemeinen sagen könne: „… alles dasjenige, von dem es wünschenswerth erscheint, daß es für die Gesammt-Interessen der Menschheit oder künftiger Generationen oder für die gegenwärtigen Interessen der frem-

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der Hülfe bedürftigen Mitglieder des Gemeinwesens geschehe, was aber nicht dazu angethan ist, Individuen oder Vereinen, welche es vornehmen, Ersatz zu schaffen, eignet sich an sich zur Vornahme durch die Regierung; doch sollten die Regierungen jedes Mal, ehe sie an eine solche Aufgabe gehen, wohl überlegen, ob irgend eine begründete Wahrscheinlich vorhanden ist, daß die Sache nach dem Prinzip der Freiwilligkeit (wie man zu sagen pflegt) geschehen könne, und in letzterem Falle ob die Sache Aussicht hat durch die Regierung in besserer und wirksamerer Weise zu geschehen als durch die uneigennützige Fürsorge von einzelnen. (J. St. Mill, Gesammelte Werke, Bd. 7, S. 293–294)“

• Schon →Marx hat sich intensiv mit M. auseinandergesetzt. Er bemerkt im Kapital, „daß, wenn Männer wie J.  St. Mill usw. wegen des Widerspruchs ihrer altökonomischen Dogmen und ihrer modernen Tendenzen zu rügen sind, es durchaus unrecht wäre, sie mit dem Troß der vulgärökonomischen Apologeten zusammenzuwefen“ (MEW, Bd. 23, S. 638). Er zählt M., der noch wissenschaftliche Bedeutung beanspruche, wegen des Versuchs, „die politische Ökonomie des Kapitals in Einklang zu setzen mit den jetzt nicht länger zu ignorierenden Ansprüchen des Proletariats“, „Unversöhnbares zu versöhnen“ zu den „philanthropischen englischen Ökonomen“ (ebd., S.  21 und 777). Im Übrigen sei M. „ein treffendes Beispiel dafür, wie die bürgerlichen Ökonomen, selbst wenn sie die besten Ansichten haben, instinktiv einen falschen Weg einschlagen, sogar in dem Augenblick, wo sie die Wahrheit schon zu fassen scheinen“ (MEW, Bd. 34, S. 122). So sei Mill beispielsweise nicht in der Lage gewesen, Ricardos Verwechslung von Mehrwert und Profit zu durchschauen und falle sogar bei dem Versuch, Ricardo zu rechtfertigen, hinter Smith und die Physiokraten zurück. „Trotz seiner ‚Logik‘“, schreibt Marx, „kommt Herr J.  St. Mill nirgendswo auch nur solcher ­fehlerhaften Analyse seiner Vorgänger auf die Sprünge, welche selbst innerhalb des bürgerlichen Horizonts, vom reinen Fachstandpunkt aus, nach Berichtigung schreit. Überall registriert er mit schülermäßigem Dogmatismus die Gedankenwirren seiner Meister“ (MEW, Bd. 23, S. 616). Daher zeige „sein ganzes Werk über politische Ökonomie einen Eklektizismus, der vor keinen Widersprüchen zurückschreckt“ (MEW, Bd. 25, S. 572). Stavenhagen ist der Ansicht, dass eine Beurteilung M.s als eine „Epigonen- und Vermittlernatur“ seiner Leistung nicht gerecht werde; „denn es ist das große Verdienst dieses Denkers, auf der einen Seite die Möglichkeiten, die der politischen Ökonomie als rein theoretischer Disziplin im Rahmen des klassischen Systems gegeben waren, klar und eindeutig bestimmt und auf der anderen Seite die Notwendigkeit erkannt zu haben, diese so gewonnenen Erkenntnisse durch eine auf Erfahrung sich gründende Forschung zu ergänzen und zu vervollständigen. Mills systematischer Erfassung des wirtschaftswissenschaftlichen Gedankengutes hat es die englische Nationalökonomie zu verdanken, daß sie sich nach Vollendung des klassischen Systems kontinuierlich auf neuen Bahnen fortentwickeln konnte, ohne daß es zu einem Bruch mit den bestehenden Anschauungen kam, wie es z. B. in der deutschen Wirtschaftswissenschaft der Fall war“ (S. 91).

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Wichtige Publikationen • A System of Logic, Ratiocinative and Inductive, Being a Connected View of the Principles of Evidence, and the Methods of Scientific Investigation, 1843 (dt.: System der deduktiven und induktiven Logik, 1849) • Essays on some unsettled Questions of Political Economy, 1844 (dt.: Einige ungelöste Probleme der politischen Ökonomie, 1976) • Principles of Political Economy, with some of their Applications to Social Philosophy, 1848 (dt.: Grundsätze der politischen Oekonomie, nebst einigen Anwendungen derselben auf die Gesellschaftswissenschaften, 1852) • On Liberty, 1859 (dt.: Über die Freiheit, 1860)

Literatur Anikin (1974), S. 289–298 Blaug (1972), Bd. 2, S. 69–144 Krause/Graupner/Sieber (1989), S. 359–362 Kurz (2008), S. 176–195 Linß (2014), S. 39–43 Piper (1996), S. 55–60 Recktenwald (1971), S. 255–284 Starbatty, Bd. 1 (2012), S. 266–290 Stavenhagen (1964), S. 87–95

Roscher, Wilhelm G. F

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Leben & Karriere • Nachdem Roscher am Lyceum in Hannover seine Reifeprüfung abgelegt hatte, nahm er 1835  in Göttingen sein Studium der Geschichte, Philosophie und Sprachwissenschaften auf. • 1838 promovierte sich R. mit der Dissertation De historicae doctrininae apud sophistas maiores vestigiis. Anschließend besuchte er noch Vorlesungen in Berlin und arbeitete kurze Zeit am dortigen historischen Seminar. • 1840 habilitierte sich R. in Göttingen für Geschichte und Staatswissenschaften. 1843 wurde er zum außerordentlichen und ein Jahr später zum ordentlichen Professor ernannt. In der Folgezeit wandte er sich immer mehr den Staatswissenschaften zu und hielt ab 1845 Vorlesungen über Nationalökonomie, Geschichte der politischen Theorien, Statistik sowie Finanzen. • Im Frühjahr 1848 folgte R. einem Ruf an die Leipziger Universität und blieb dort – trotz Rufen nach München, Wien und Berlin – sein Leben lang. Hier erweiterte er sein Vorlesungsprogramm um: Volkswirtschaftspolitik (später u. d. Titel: Praktische Nationalökonomie und Wirtschaftspolizei), eine Spezialvorlesung über landwirtschaftliche Politik und Statistik, Vergleichende Staatskunde, Einleitung in das Studium der gesamten Rechts-, Staats- und Kameralwissenschaft, Geschichte der politischen (und sozialen) Theorien sowie Geschichte des Naturrechts, der Politik und Nationalökonomie. Dieser Interessen- und Themenkreis spiegelt sich auch wider in seiner literarischen Tätigkeit. • Ab 1889 hielt R. nur noch öffentliche Vorlesungen. Zuvor hatte er um Entbindung von seinen Vorlesungen gebeten. Kurz vor seinem Tod setzte er seine Vorlesungen ganz aus.

Werk & Wirkung • Roscher war der erste, der die historische Methode zielbewusst auf die Nationalökonomie anwandte. In seinem 1843 erschienenen programmatischen Grundriß zu Vorlesungen über die Staatswirthschaft. Nach geschichtlicher Methode entwickelte er die methodischen Konturen der Historischen Schule. Er geht von dem Grundgedanken aus, dass die Nationalökonomie sich mit den realen wirtschaftlichen Einrichtungen und Zuständen, die sich aus dem Leben der Völker herausentwickelt haben, zu befassen habe. Es soll deren geschichtliche Entwicklung herausgestellt und miteinander verglichen werden, um schließlich die Gemeinsamkeiten erfassen zu können. Es handelt sich also um eine induktive vergleichende Methode. Im Vorwort seines Grundrisses erläutert R. die historische Methode:

Werk & Wirkung

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„Die historische Methode zeigt sich nicht allein äußerlich, in der, wo es irgend angeht, chronologischen Aufeinanderfolge der Gegenstände, sondern vornehmlich in folgenden Grundsätzen. 1) Die Frage, wie der Nationalreichthum am besten gefördert werde, ist zwar auch für uns eine Hauptfrage; aber sie bildet keineswegs unsern eigentlichen Zweck. Die Staatswirthschaft ist nicht bloß eine Chrematistik, eine Kunst, reich zu werden, sondern eine politische Wissenschaft, …. Unser Ziel ist die Darstellung dessen, was die Völker in wirthschaftlicher Hinsicht gedacht, gewollt und empfunden, was sie erstrebt und erreicht haben. Eine solche Darstellung ist nur möglich im engsten Bunde mit den anderen Wissenschaften vom Volksleben, insbesondere der Rechts-, Staats- und Kulturgeschichte. 2) Das Volk aber ist nicht bloß die Masse der heute lebenden Individuen. Wer deßhalb die Volkswirthschaft erforschen will, hat unmöglich genug an der Beobachtung bloß der heutigen Wirthschaftsverhältnisse. Hiernach scheint uns das Studium der früheren Kulturstufen, das ja ohnehin für alle roheren Völker der Gegenwart der beste Lehrer ist, fast dieselbe Wichtigkeit zu haben; … 3) Die Schwierigkeit, aus der großen Masse von Erscheinungen das Wesentliche, Gesetzmäßige herauszufinden, fordert uns dringend auf, alle Völker, deren wir irgend habhaft werden können, in wirthschaftlicher Hinsicht mit einander zu vergleichen. Sind doch die neueren Nationen in jedem Stücke so eng mit einander verflochten, daß keine gründliche Betrachtung einer einzelnen ohne die Betrachtung aller möglich ist. Und die alten Völker, die also schon abgestorben sind, haben das eigenthümlich Belehrende, daß ihre Entwicklungen jedenfalls ganz beendigt vor uns liegen. Wo sich also in der neuern Volkswirthschaft eine Richtung, der alten ähnlich, nachweisen ließe, da hätten wir für die Beurtheilung derselben in dieser Parallele einen unschätzbaren Leitfaden. 4) Die historische Methode wird nicht leicht irgend ein wirthschaftliches Institut schlechthin loben oder schlechthin tadeln: wie es denn auch gewiß nur wenige Institute geben kann, die für alle Völker, alle Kulturstufen heilsam oder verderblich wären. … Vielmehr ist es eine Hauptaufgabe der Wissenschaft, nachzuweisen, wie und warum allmählig aus „Vernunft Unsinn“, aus „­ Wohlthat Plage“ geworden. … In der Regel kann nur derjenige recht beurtheilen, wann, wo und warum z. B. die aliquoten Reallasten, die Frohnden, die Zunftrechte, die Compagniemonopole abgeschafft werden müssen, der vollständig erkannt hat, weßhalb sie zu ihrer Zeit eingeführt werden mussten. …“. (W. Roscher: Grundriß zu Vorlesungen über die Staatswirthschaft. Nach geschichtlicher Methode. Göttingen 1843, S. III–V.)“

• An seinem Haupt- und Lebenswerk arbeitete Roscher 40 Jahre lang: Es ist sein System der Volkswirthschaft. Dieses Hand- und Lesebuch für Geschäftsmänner und Studierende, wie es im Untertitel heißt, erschien zwischen 1854 und 1894 in fünf (in sich abgeschlossenen) Bänden: –– Bd. 1: Grundlagen der Nationalökonomie (1854) –– Bd. 2: Nationalökonomik des Ackerbaus und der verwandten Urproduktionen (1859) –– Bd. 3: Nationalökonomik des Handels und Gewerbfleißes (1881) –– Bd. 4: System der Finanzwissenschaft (1886) –– Bd. 5: System der Armenpflege und Armenpolitik (1894)

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• 20 Jahre nach Erscheinen des ersten Bandes seines Systems der Volkswirtschaftlehre legte R. ein weiteres bedeutendes Werk vor, das in hervorragender Weise die Methodik der Historischen Schule widerspiegelt: Die Geschichte der National-Oekonomik in Deutschland (1874). R. unterscheidet darin drei Perioden in der deutschen Nationalökonomik, die auch dem Aufbau des Werkes zugrunde liegen: I. Das theologisch-humanistische Zeitalter II. Das polizeilich-cameralistische Zeitalter III. Das wissenschaftliche Zeitalter. Mit diesem voluminösen dogmengeschichtlichen Werk – es umfasst rund 1100 Seiten – hat R. „die Geschichte unserer Wirtschaft geschrieben, die bislang unerreicht an Gründlichkeit und Breite des Wissens als monumentaler Ausdruck deutschen Gelehrtenfleißes gelten darf“ (Muhs, S. 130). • →Karl Bücher schrieb einige Jahre nach Rs. Tod: „Sein Verdienst liegt darin, daß er die Historisierung dieser Wissenschaften mit unermüdlicher Ausdauer und mit einer fast naturwissenschaftlichen Unbefangenheit bis ins Kleinste durchgeführt und sie mit einer Fülle der feinsten Einzelbeobachtungen bereichert hat. Es widerstrebte seinem conservativen Sinne, das ältere System der rationalistisch abstracten Volkswirthschaftslehre einzureißen und an seiner Stelle auf rein historisch-empirischer Grundlage einen Neubau zu errichten. Ja man kann kaum von einem Umbau sprechen. Die oft getadelte Zwiespältigkeit seines methodischen Verfahrens ist auch von der durch ihn hervorgerufenen Richtung des Neohistorismus nicht überwunden worden. Keiner der Gleichstrebenden hat auch nur annähernd in demselben Maße anregend auf seine Zeitgenossen gewirkt“ (K. Bücher in: ADB, S. 492). Auch heute noch wird R. zu den herausragenden deutschen Ökonomen im 19. Jahrhundert gezählt. Streißler bezeichnet ihn gar als einen „Wirtschaftstheoretiker von Weltrang“. Erstmals wurden mit R.s Werken die Arbeiten eines deutschen Nationalökonomen auch von der englischsprachigen Fachwelt rezipiert. So kam →Alfred Marshall durch die Lektüre von R.s Geschichte der Nationaloekonomie in Deutschland mit den Ideen der deutschen historischen Schule in Berührung und fand für diese bewundernde Worte, da diese Methode eine internationale Perspektive ermögliche und die unterschiedlichen sozialen und industriellen Phänomene der verschiedenen Länder und Zeitalter beleuchtet werden konnten. Von großer Bedeutung waren R.s Überlegungen auf dem Gebiete der Grenzproduktivitätstheorie, die von Marshall bereitwillig übernommen wurden. Weitere innovative Beiträge R.s betreffen „insbesondere die Makroökonomik, basierend auf einer Zurückweisung des Sayschen Gesetzes, die Theorie der Verfügungsrechte und Anreizeffekte sowie die Standorttheorie“. Kurz kommt zu dem Schluss, dass „sich in Roschers Werken zahlreiche wirtschaftstheoretische Aussagen [finden], die ihrer Zeit weit voraus waren“ (Kurz 2005).

Literatur

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Wichtige Publikationen • Grundriß zu Vorlesungen über die Staatswirthschaft. Nach geschichtlicher Methode, 1843 • Zur Lehre von den Absatzkrisen, 1849 • Zur Geschichte der englischen Volkswirthschaftslehre im 16. und 17. Jahrhundert, 1851 • Über die Stellung der Nationalökonomie im Kreise der verwandten Wissenschaften, 1853 • System der Volkswirtschaft, 5 Bde., 1854–1894 • Ansichten der Volkswirtschaft aus dem geschichtlichen Standpunkte, 1861 • Geschichte der National-Oekonomik in Deutschland, 1874

Literatur K. Bücher: Roscher, in: Allgemeine Deutsche Biographie (ADB), Bd. 53, 1907, S. 486–492 HdSW, Bd. 9, S. 41–43 Hesse (2009), S. 465 Krause/Graupner/Sieber (1989), S. 467–469 H. D. Kurz: Roscher, in: Neue Deutsche Biographie, 2005 Muhs (1963), S. 118–136

Marx, Karl

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28  Marx, Karl

Leben & Karriere • Nach dem Besuch des Trierer Gymnasiums, an dem Marx 1835 sein Reifezeugnis erhielt, begann er zunächst an der Universität Bonn und ein Jahr später in Berlin Rechtswissenschaft zu studieren. 1841 promovierte er zum Dr. phil. und übersiedelte im selben Jahr nach Bonn, um sich dort als Dozent zu habilitieren. Wegen politischer Schwierigkeiten mit der preußischen Regierung musste er diesen Plan jedoch aufgeben. • Seit Januar 1842 schrieb M. für das neugegründete Oppositionsblatt Rheinische Zeitung, deren Leitung er einige Monate später übernahm. →Friedrich Engels, der sich auf der Reise nach England befand, besuchte die Redaktion der Zeitung und traf erstmals mit M. zusammen. Noch im selben Jahr trat M. als Chefredakteur zurück, um ein Verbot des scharf oppositionellen Blattes zu verhindern. • Nachdem das Blatt schließlich doch eingestellt wurde, siedelte M. im Oktober 1843 nach Paris über (siehe Abb. 28.1). Dort gab er die Deutsch-Französischen Jahrbücher heraus, begann seine Mitarbeit am deutschen Vorwärts! und freundete sich mit Engels an, der sich kurze Zeit in Paris aufhielt. Dies war der Beginn einer lebenslangen Freundschaft und äußerst produktiven Zusammenarbeit.

Abb. 28.1  Karl Marx im Gespräch mit französischen Arbeitern, 1844. Gemälde von Hans Mocznay, 1964. (Quelle: Deutsches Historisches Museum, Berlin)

Leben & Karriere

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• 1846 gründeten M. und Engels ein Kommunistisches Korrespondenz-Komitee, traten ein Jahr später in den Bund der Gerechten ein und schließlich konstituierte sich unter der Leitung von M. am 05.08.1847 der Bund der Kommunisten in Brüssel. Nach der Teilnahme am zweiten Kongress des Bundes der Kommunisten in London wurden sie von diesem im Dezember mit der Ausarbeitung des Programms beauftragt, das im Februar 1848 als Manifest der Kommunistischen Partei in London erschien. Zwei Wochen später konstituierte sich unter der Leitung von M. die Zentralbehörde des Bundes der Kommunisten in Paris. • Am 01. Juni 1848 erschien die erste Ausgabe der Neuen Rheinischen Zeitung. M. war Chefredakteur, Engels Redakteur. In den folgenden Monaten drohte den beiden Verhaftung, im Februar 1849 kam es zu Prozessen und am 26. August wurde M. schließlich aus Paris ausgewiesen. M. übersiedelte nach London, wo unter seiner Leitung Anfang September die Zentralbehörde des Bundes der Kommunisten neu gebildet wurde. • Etwa im Juli 1850 begann M. mit dem systematischen Studium der politischen Ökonomie. Er leistete ein immenses Arbeitspensum: Während er tagsüber mit der praktisch-­ politischen Arbeit beschäftigt war und an zahlreichen Kongressen und Konferenzen der internationalen Arbeiterbewegung teilnahm, verfasste er nachts – teilweise bis in die frühen Morgenstunden – seine ökonomischen Arbeiten. • Ab 1851 war M. als Auslandskorrespondent für die amerikanische Zeitung New York Daily Tribune tätig und verfasste bis 1862 hunderte Artikel zu politischen und ökonomischen Themen. • Nachdem im Herbst 1852 führende Mitglieder Bundes der Kommunisten im sogenannten „Kölner Kommunistenprozess“ zu langen Haftstrafen verurteilt wurden (siehe Abb. 28.2), entschloss sich M. im November den Bund aufzulösen.

Abb. 28.2  Der Kölner Kommunistenprozess von 1852. (Quelle: Wikimedia)

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28  Marx, Karl

• 1865 war M. maßgeblich an der Gründung der Internationalen Arbeiterassoziation (Erste Internationale) in London beteiligt, deren Programm und Statuten er verfasste. • 1869 unterstütze M. die Gründung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei in Eisenach, aus der später die SPD hervorging. • In seinen letzen Lebensjahren erkrankte M. sehr häufig. Die zahlreichen Krankheiten und Kuraufenthalte beeinträchtigten ihn stark in seiner wissenschaftlichen Arbeit. Der Tod seines Sohnes, seiner Frau (1881) und seiner Tochter Jenny (1883) brachen schließlich seinen Lebenswillen.

Werk & Wirkung • Das ökonomische Werk von Marx entstand in einem jahrzehntelangen Schaffensprozess und in enger Zusammenarbeit mit →Friedrich Engels: –– In den 1844 verfassten Ökonomisch-philosophischen Manuskripten setzt sich M. mit der bürgerlichen politischen Ökonomie (z. B. →Smith, Ricardo, Say) ausei­ nander. Er hebt die Existenz der drei Klassen (Kapitalisten, Grundeigentümer und Proletarier) hervor, beschreibt den Prozess der Ausbeutung und weist auf die historisch notwendige Ablösung des Privateigentums hin, da erst mit dieser eine Umwälzung der bürgerlichen Gesellschaft und letztendlich eine Emanzipation des Menschen möglich ist. –– In der von M. und Engels zusammen verfassten Deutschen Ideologie, die zwischen 1845 und 1846 entstand, werden die Grundzüge der materialistischen Geschichtsauffassung, insbesondere die Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen dargelegt. –– Im Jahre 1847 wurden M. und Engels vom Bund der Kommunisten beauftragt, ein programmatisches Manifest zu verfassen. Die von Engels zuerst verfassten Grundsätze des Kommunismus hat M. überarbeitet und in die bekannte Form des Manifests der Kommunistischen Partei gebracht. Die „mit genialer Klarheit und Ausdruckskraft“ (Lenin) geschriebene schmale Schrift – sie umfasst nur wenig mehr als 30 Seiten  – rechtfertigt den Klassenkampf, stellt die Forderungen der Kommunisten dar, setzt sich kritisch mit den konkurrierenden sozialistischen Strömungen ausei­ nander und erörtert die Bündnispolitik, die schließlich mit dem Schlachtruf endet: „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“ –– Zehn Jahre später (1857/1858) entstanden die Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. Bei den Grundrissen handelt es sich um eine Vorarbeit bzw. einen Entwurf für sein Hauptwerk Das Kapital, in denen M. erstmalig seine Wert- und Mehrwerttheorie vorstellte. • Am 14.09.1867 erschien im Verlag Otto Meissner in Hamburg der erste Band des Marxschen Lebenswerkes Das Kapital - Kritik der politischen Ökonomie in einer Auflage von 1000 Exemplaren. Darin wird der Produktionsprozess des Kapitals erforscht. „Der letzte Endzweck dieses Werks“ ist es, schrieb M. im Vorwort, „das ökonomische

Werk & Wirkung

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Bewegungsgesetz der modernen Gesellschaft zu enthüllen“ (MEW, Bd. 23, S.  15). Band II untersucht die Bewegung des Kapitals in der Zirkulationssphäre. Band III hat den Gesamtprozess der kapitalistischen Produktionsweise zum Inhalt. Den zweiten und dritten Band konnte M. nicht mehr selbst veröffentlichen; sie wurden auf der Basis seiner Aufzeichnungen von Engels in den Jahren 1885 und 1894 posthum herausgegeben. Auch die oft als „vierter Band des Kapitals“ bezeichneten Theorien über den Mehrwert – sie stellen eine historisch-kritische Ergänzung zum Kapital dar – wurden erst nach M.’ Tod veröffentlicht. Sie wurden 1905–1910 von →K.  Kautsky he­ rausgegeben. • Im ersten Band des Kapitals analysiert M. die kapitalistische Produktionsweise, legt die Verhältnisse zwischen Lohnarbeit und Kapital offen und beweist anhand seiner Theorie des Mehrwerts das System der kapitalistischen Ausbeutung. Engels beschreibt diese wissenschaftliche Entdeckung in einem biografischen Artikel über M. aus dem Jahre 1877 sehr verständlich und präzise: „Seitdem die politische Ökonomie den Satz aufgestellt hatte, daß die Arbeit die Quelle alles Reichtums und alles Werts sei, war die Frage unvermeidlich geworden: Wie es denn damit vereinbar sei, daß der Lohnarbeiter nicht die ganze, durch seine Arbeit erzeugte Wertsumme erhalte, sondern einen Teil davon an den Kapitalisten abgeben müsse? Sowohl die bürgerlichen Ökonomen wie die Sozialisten mühten sich ab, auf die Frage eine wissenschaftlich stichhaltige Antwort zu geben, aber vergebens, bis endlich Marx mit der Lösung hervortrat. Diese Lösung ist die folgende: Die heutige kapitalistische Produktionsweise hat zur Voraussetzung das Dasein zweier Gesellschaftsklassen; einerseits der Kapitalisten, die sich im Besitz der Produktions- und Lebensmittel befinden, und andrerseits der Proletarier, die, von diesem Besitz ausgeschlossen, nur eine einzige Ware zu verkaufen haben: ihre Arbeitskraft; und die diese ihre Arbeitskraft daher verkaufen müssen, um in den Besitz von Lebensmitteln zu gelangen. Der Wert einer Ware wird aber bestimmt durch die in ihrer Erzeugung, also auch in ihrer Wiedererzeugung verkörperte gesellschaftlich notwendige Arbeitsmenge, der Wert der Arbeitskraft eines durchschnittlichen Menschen während eines Tages, Monates, Jahres also durch die Menge von Arbeit, die in der zur Erhaltung dieser Arbeitskraft während eines Tages, Monates, Jahres notwendigen Menge von Lebensmitteln verkörpert ist. Nehmen wir an, die Lebensmittel des Arbeiters für einen Tag erforderten sechs Arbeitsstunden zu ihrer Erzeugung oder, was dasselbe ist, die in ihnen enthaltene Arbeit repräsentiere eine Arbeitsmenge von sechs Stunden; dann wird der Wert der Arbeitskraft für einen Tag sich ausdrücken in einer Geldsumme, die ebenfalls sechs Arbeitsstunden in sich verkörpert. Nehmen wir ferner an, der Kapitalist, der unsern Arbeiter beschäftigt, zahle ihm dafür diese Summe, also den vollen Wert seiner Arbeitskraft. Wenn nun der Arbeiter sechs Stunden des Tages für den Kapitalisten arbeitet, so hat er diesem seine Auslagen vollständig wieder ersetzt – sechs Stunden Arbeit für sechs Stunden Arbeit. Dabei fiele freilich nichts ab für den Kapitalisten, und dieser faßt deshalb auch die Sache ganz anders auf: Ich habe, sagt er, die Arbeitskraft dieses Arbeiters nicht für sechs Stunden, sondern für einen ganzen Tag gekauft, und demgemäß läßt er den Arbeiter je nach Umständen 8, 10, 12, 14 und mehr Stunden arbeiten, so daß das Produkt der siebenten, achten und folgenden Stunden ein Produkt unbezahlter Arbeit ist und zunächst in die Tasche des Kapitalisten wandert. So erzeugt der Arbeiter im Dienste des Kapitalisten nicht nur den Wert seiner Arbeitskraft wieder, den er bezahlt erhält, sondern er erzeugt auch darüber hinaus einen Mehrwert, der, zunächst vom Kapitalisten angeeignet, im weiteren Verlauf nach bestimmten ökonomischen Gesetzen auf die gesamte Kapitalistenklasse sich verteilt

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und den Grundstock bildet, aus dem Bodenrente, Profit, Kapitalanhäufung, kurz, alle von den nichtarbeitenden Klassen verzehrte oder aufgehäufte Reichtümer entspringen. Hiermit war aber nachgewiesen, daß die Reichtumserwerbung der heutigen Kapitalisten ebensogut in der Aneignung von fremder, unbezahlter Arbeit besteht, wie die der Sklavenbesitzer oder der die Fronarbeit ausbeutenden Feudalherren, und daß sich alle diese Formen der Ausbeutung nur unterscheiden durch die verschiedene Art und Weise, in der die unbezahlte Arbeit angeeignet wird. (MEW, Bd. 19, S. 104–106)“

• Im zweiten Band des Kapitals analysiert M. den Zirkulationsprozess des individuellen Kapitals sowie die Reproduktion und Zirkulation des gesellschaftlichen Gesamtkapitals. Das Kapital durchläuft drei Stadien: Geldkapital, produktives Kapital und Warenkapital. M. zeigt, dass die Kapitalisten gezwungen sind, ständig ihr Kapital aufs Neue zirkulieren zu lassen, um einen höheren Mehrwert zu erhalten. • Der dritte Band des Kapitals enthält die Analyse des Gesamtprozesses der kapitalistischen Produktion. Hier wird die Unversöhnlichkeit der Klassengegensätze zwischen Arbeiterklasse und Bourgeoisie nachgewiesen. Bedeutsam ist auch M.s Begründung der Ursachen der Krisen im Kapitalismus. • Die Krisentheorie von M. lässt sich aus seiner Gesamtanalyse des Kapitalismus entnehmen. Obwohl er keine zusammenhängende Krisentheorie geschaffen hat, gilt sie „als die bedeutsamste konjunkturtheoretische Leistung des 19 Jh.“ (W. Jöhr in HdSW, Bd. 7). Nach der Ansicht von M. ist die Krise die entscheidende Phase in der kapitalistischen Produktionsweise: sie ist Endpunkt und Ausgangspunkt des Krisenzyklus (Konjunkturzyklus). In der Krise werden die Widersprüche gewaltsam gelöst und Produktion und Konsumtion in Übereinstimmung gebracht. „Die Krisen sind immer nur momentane gewaltsame Lösungen der vorhandnen Widersprüche, gewaltsame ­Eruptionen, die das gestörte Gleichgewicht für den Augenblick wiederherstellen“ (Das Kapital, Bd. 3, S. 259). Die Ursachen für Wirtschaftskrisen sieht M. im Grundwiderspruch des Kapitalismus, im Widerspruch zwischen Produktion und Konsumtion sowie in der Disproportionalität: –– Die hauptsächliche Ursache von Wirtschaftskrisen sieht M. im Grundwiderspruch der kapitalistischen Produktionsweise. Dieser Widerspruch besteht zwischen gesellschaftlicher Produktion und kapitalistischer Aneignung. Durch Arbeitsteilung und Spezialisierung wächst die gegenseitige Abhängigkeit der einzelnen Unternehmen und Wirtschaftszweige voneinander. Somit verschmelzen die Produktionen der einzelnen Unternehmen verstärkt zu einem „gesellschaftlichen Produktionsprozess“. Jedes Unternehmen wird jedoch von Kapitalisten individuell geführt, die sich die gesellschaftlichen Produkte aneignen. Der Reichtum wird also von der Gesellschaft – speziell der Arbeiterklasse – erwirtschaftet, konzentriert sich jedoch in den Händen weniger Kapitalisten. Da die kapitalistische Produktionsweise auf eine höchstmögliche Verwertung des Kapitals abzielt, wird die Produktion ständig erhöht, verbessert und ausgedehnt. Damit nimmt aber auch die „Ausbeutung“ der Arbeiter zu (Mehrwerttheorie). Dies führt zu einer Beschränkung der Konsumtionskraft (Nachfrage), wodurch Profitproduktion und Profitrealisierung in einen Wider-

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spruch geraten. Dieser Grundwiderspruch des Kapitalismus erzeugt weitere Widersprüche, welche die Bedingungen zum Ausbruch von Krisen bilden. –– Den Widerspruch zwischen Produktion und Konsumtion leitet M. aus dem Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate ab. Im Kern geht es darum, dass die Kapitalisten gezwungen sind, ein Absinken der Profitrate aufzufangen. Um die Produktivität zu steigern, werden immer mehr und effektivere Maschinen eingesetzt, was mit einer Ausweitung der Produktion einhergeht. Es kommt zur Überproduktion. Da aber die Kaufkraft der Arbeiter durch die Ausbeutung immer mehr geschwächt wird, kommt es zu einem Widerspruch zwischen Produktion und Konsumtion: Die Unternehmer können ihre Waren nicht am Markt absetzen, da die Arbeiter keine zahlungsfähige Nachfrage bilden können. –– Die Wirtschaftszweige (Investitionsgüter und Konsumgüter) sind durch Arbeitsteilung und Spezialisierung miteinander verflochten. Dies führt dazu, dass die steigende Nachfrage in einem Zweig Produktionssteigerungen in anderen Zweigen nach sich zieht. Die Produktion der Produktionsmittel (Investitionsgüter) eilt der Produktion der Konsumgüter voraus. Es entsteht eine Art Kettenreaktion, die sich immer weiter fortsetzt und verstärkt. Es kommt zu einem Auseinanderdriften der Wirtschaftszweige. Je weiter ein Wirtschaftszweig von der „individuellen Konsumtion“ entfernt ist, desto mehr kann sich dieser unabhängig von der Kaufkraft der Bevölkerung entwickeln. Es kommt zu Störungen in den Wirtschaftszweigen und sämtlichen ökonomischen Bereichen, die sich immer mehr zuspitzen und zu zyklischen Krisen führen. Diese zyklischen Krisen führen zu Produktionsrückgang, Preisverfall, Wertverfall, Arbeitslosigkeit und zu Insolvenzen der Betriebe. Doch dieser „zerstörerische Vorgang“ hat für das kapitalistische System auch etwas ­Positives: Es kommt zu einem Ausgleich, zu einer Art „Bereinigung“ der Ungleichgewichte, die den Weg frei macht für einen neuerlichen Aufschwung. Der kapitalistische Reproduktionsprozess verläuft also zyklisch. M. stellt fest: „Bis jetzt ist die periodische Dauer solcher Zyklen zehn oder elf Jahre, aber es gibt keinerlei Grund, diese Zahl als konstant zu betrachten. Im Gegenteil, aus den Gesetzen der kapitalistischen Produktion … muß man schließen, daß sie variabel ist und daß die Periode der Zyklen sich stufenweise verkürzen wird. (MEW, Bd. 23, S. 662, Anm. 1)“

• Eine Würdigung der Leistung von Marx fällt besonders schwer, denn als Ökonom polarisiert er wohl wie kein zweiter. Selten wird sein Werk wertfrei beurteilt; schon gar nicht, wenn dies vom Standpunkt einer bestimmten politischen bzw. ideologischen Gesinnung aus geschieht oder wenn seine ökonomischen Lehren mit politischen Aspekten vermischt werden. Einigkeit scheint darin zu herrschen, dass M. zu den größten und bedeutendsten Denkern des 19. Jahrhunderts zählt und seine Theorien die Welt veränderten. So schrieb Sir Isaiah Berlin: „Kein Denker des neunzehnten Jahrhunderts hat so unmittelbar, planmäßig und mächtig auf die Menschheit gewirkt wie Karl Marx.“ Und Thomas Nipperdey: „Gewiss ist Marx anderes und mehr als gelehrter Nationalökonom

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und Soziologe, ist Philosoph und Prophet, Revolutionär und Begründer der sozialistischen Arbeiterbewegung, ist … eine zentrale Figur der deutschen Geschichte.“ M. hat mit seinen ökonomischen Arbeiten – insbesondere dem Kapital – wichtige Vorarbeiten geleistet, die zur Entwicklung der Wirtschaftswissenschaften beigetragen haben. Er kann als der Wegbereiter der Wachstumstheorie sowie der Input-Output-­ Analyse betrachtet werden. Die Entdeckung eines zehnjährigen Konjunkturzyklus, der heute nach →Juglar benannt wird, geht auf M. zurück. Er erwähnte diese Art von Zy­ klus schon in seinen Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie, die er 1857/1858 verfasste – also rund fünf Jahre vor Juglar. Auch die Finanzierung durch Abschreibungen  – heute in der Betriebswirtschaftslehre unter dem Namen „Lohmann-Ruchti-­ Effekt“ bekannt – müsste eigentlich nach ihm benannt werden (vgl. Band 2 des Kapitals, MEW, Bd. 24, Seite 158–172). Seine Ideen befruchteten nicht nur spätere Marxisten, wie beispielsweise →R. Hilferding, sondern auch bürgerliche Ökonomen, wie →Joseph Schumpeter. Im Zentrum der ökonomischen Kritik stand und steht die Preis- und Werttheorie, als deren bedeutendster Kritiker →Eugen v. Böhm-Bawerk mit seiner Streitschrift gilt. Auch Blaug lehnt in seiner Theoriegeschichte die Mehrwerttheorie ab, hält sie gar für „unhaltbar“ und sieht somit das von M. errichtete Lehrgebäude zusammenstürzen. Jedoch hebt er auch die positive Seite des Ökonomen M. hervor: „Kein Ökonom des 19. Jahrhunderts vermochte wie er die Logik eines Arguments bis zu dessen Ende durchzudenken. Zu einem großen Ökonom gehört jedoch mehr als die Fähigkeit, abstrakte Gedankengänge bis zu ihrem Ende zu verfolgen. Marx hatte auch diese Attribute besessen: Ein Gespür für die Zusammenhänge zwischen verschiedenen Seiten des Wirtschaftsgeschehens, einen Sinn für das ständige Zusammenwirken historisch bedingter Charakteristiken der Ökonomie und eine Ahnung von empirischen ­Verallgemeinerungen, die auf der unmittelbaren Beobachtung des Wirtschaftslebens beruhen“ (Blaug 1972, Bd. 2, S. 250 f.). Zur aktuellen Bedeutung des ökonomischen Werkes von M. konstatiert Gehrke: „In jüngerer Zeit scheint das ökonomische Werk von Marx erneut auf großes Interesse zu stoßen. Mit Verweis auf die erstaunliche Korrespondenz zwischen den beobachtbaren realwirtschaftlichen Entwicklungen im Globalisierungsprozeß und den Vorhersagen von Marx zur Konzentration und Zentralisation des Kapitals und zur Monopolbildung wird seiner Analyse der Funktionsweise und Entwicklungsbedingungen des kapitalistischen Wirtschaftssystems wieder zunehmend Beachtung geschenkt“ (in: Kurz 2008, S. 238). Der deutsche Ökonom Hans-Werner Sinn konstatiert: „Marx’ wahre Leistung liegt in der makroökonomischen Theorie, also in seinen Erkenntnissen über die gesamte Volkswirtschaft. Die wichtigsten Beiträge zur volkswirtschaftlichen Erkenntnis liefern seine Krisentheorien. Eine besondere Bedeutung kommt dabei der Theorie vom tendenziellen Fall der Profitrate zu, … Diese Marxsche Krisentheorie ist hochaktuell.“

Literatur

Wichtige Publikationen • • • • • • • •

Ökonomisch-philosophische Manuskripte, 1844 Die deutsche Ideologie, 1845 Manifest der Kommunistischen Partei, 1848 Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, 1858 Das Kapital: Bd. I, 1867 posthum hrsg. von Engels: Das Kapital, Bd. II, 1885 posthum hrsg. von Engels: Das Kapital, Bd. III, 1894 posthum hrsg. von Kautsky: Theorien über den Mehrwert, 1905–1910

Literatur Blaug, Bd. 2 (1972), S. 145–259 H. Gemkow: Karl Marx. Eine Biographie, Berlin (Ost) 1967 HdSW, Bd. 7 (1961), S. 185–206 HdWW, Bd. 5 (1988), S. 166–189 R. Hosfeld: Karl Marx. Reinbek 2011 Koesters (1985), S. 67–103 Krause/Graupner/Sieber (1989), S. 338–349 Kurz, Bd. 1 (2008), 217–241 Lange (1983), S. 628–634 Piper (1996), S. 211–217 Recktenwald (1971), S. 300–341 H.-W. Sinn: Marx’ wahre Leistung, in: Die Zeit, 26. 01. 2017, S. 22. Stavenhagen (1964), S. 142–160 Starbatty, Bd. 2 (2012), S. 7–35

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Juglar, Clément

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Wächter, Ökonomen auf einen Blick, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29069-6_29

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Leben & Karriere • Juglar, Sohn eines Arztes, studierte in Paris Medizin und promovierte sich dort im Jahre 1846 mit seiner Arbeit L’influence des maladies du coeur sur les poumons. • Nach Beendigung seines Studiums war J. als angesehener und erfolgreicher Arzt in Paris tätig. • Er gab jedoch schon zwei Jahre später seine Praxis auf und beschäftigt sich fortan bis zu seinem Tod als unabhängig arbeitender Wissenschaftler mit ökonomischen Problemen. Sein Interesse an ökonomischen Fragestellungen hat vermutlich seinen Ursprung in der Beschäftigung mit demographischen Problemen. • Erste Aufsätze veröffentlichte J. seit 1850 im Journal des Economistes. • 1892 wurde J. zum Mitglied der Académie des Sciences Morales et Politiques ernannt.

Werk & Wirkung • 1851 erschien J.s Schrift De la population de la France, in der er die Entwicklung der Bevölkerung Frankreichs von 1772 bis 1849 untersuchte. Darin stellt er fest, dass zwischen der Häufigkeit von Geburten, Eheschließungen und Todesfällen einerseits und dem öffentlichen Wohlstand andererseits eine Korrelation besteht, was ihn dazu veranlasste, sich mit dem Phänomen der Wirtschaftskrisen zu beschäftigen. • Die theoretische Erklärung des Konjunkturverlaufs lieferte er in seinen Hauptwerken De crises commerciales et leur retour périodique en France, en Angleterre et aux Etats-Unis und Du change et de la liberté d’émission. In den 1862 veröffentlichten Crises commerciales untersucht J. die Wirtschaftsschwankungen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Großbritannien, Frankreich und den USA (siehe Abb. 29.1). Dazu bedient er sich umfangreichen Datenmaterials. Nach seiner Auffassung dürfen Krisen nicht als isolierte Erscheinung betrachtet werden, denn das wirtschaftliche Geschehen vollziehe sich im Zeitverlauf. Er unterscheidet die Konjunkturphasen Aufschwung, Krise und Stockung und weist nach, dass sich diese in regelmäßigen Abständen wiederholen. Mit dieser Entdeckung legte J. den Grundstein für die moderne Konjunkturforschung. Besondere Bedeutung wird seiner Entwicklung einer empirisch-realistischen Methode beigemessen, also eine Krisenlehre, die auf Erfahrungswerten beruht. • Juglar wird die Entdeckung des ‚eigentlichen‘ Konjunkturzyklus (mit einer Länge von 7 bis 11 Jahren) zugeschrieben (1860), weshalb später →J. A. Schumpeter die Bezeichnung „Juglar-Zyklus“ verwendet. Allerdings erwähnte →K. Marx diese Art von Zyklus schon in seinen Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie, die er 1857/1858 verfasst hat: „Es kann durchaus keinem Zweifel unterliegen, daß der Zyklus, den die Industrie durchläuft, seit der Entwicklung des fixen Kapitals in großem Maßstab in ei-

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Abb. 29.1  Konjunturzyklen nach Clement Juglar. (Quelle: C. Juglar: Des crises commerciales et leur retour périodique en France, en Angleterre et aux Etats-Unis, 1880)

nem mehr oder weniger zehnjährigen Zeitraum zusammenhängt mit dieser so bestimmten Gesamtreproduktionsphase des Kapitals“. Und im ersten Band seines Kapitals stellt Marx fest: „Bis jetzt ist die periodische Dauer solcher Zyklen zehn oder elf Jahre, aber es gibt keinerlei Grund, diese Zahl als konstant zu betrachten. Im Gegenteil, aus den Gesetzen der kapitalistischen Produktion … muß man schließen, daß sie variabel ist und daß die Periode der Zyklen sich stufenweise verkürzen wird“ (S. 662). • Schumpeter sieht in J. nicht nur den Begründer der modernen Konjunkturanalyse, er ist auch der Meinung, dass J. „auf Grund seiner Begabung und seiner Beherrschung wissenschaftlicher Methoden zu den größten Wirtschaftswissenschaftlern aller Zeiten gerechnet werden muß“. Dies begründet Schumpeter mit drei Fakten: „Zunächst war er der erste, der Zeitreihen (in erster Linie Preise, Zinsraten und Zentralbankbilanzen) systematisch und bewusst zum Zwecke der Analyse eines bestimmten Phänomens verwandte. […] Nachdem er, zweitens, den Zyklus von etwa zehnjähriger Dauer entdeckt hatte, […] nahm er die Entwicklung einer Morphologie dieses Zyklus in Angriff, wofür

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er einzelne Phasen herausarbeitete (Aufstieg, „Explosion“, Liquidation). […] Drittens versuchte er sich in einer Erklärung. Das großartige an seinen Erklärungen ist die nahezu ideale Art der Verflechtung von ‚Fakten‘ und ‚Theorie‘. […] Von allergrößter Bedeutung aber ist seine Diagnose des Wesens der Depression, die er mit epigrammatischer Prägnanz in dem berühmten Satz formulierte: ‚Die einzige Ursache der Depression ist die Prosperität.‘ Das bedeutet, daß Depressionen nichts anderes sind als Anpassungen des Wirtschaftssystems an die von der vorhergegangenen Hochkonjunktur geschaffenen Bedingungen […]“ (Schumpeter, S. 1364). Obwohl man schon vor J. „einzelne Phasen innerhalb des Konjunkturzyklus beobachtet und beschrieben“ hatte, erkennt Stavenhagen die besondere Leistung des französischen Ökonomen darin, dass „erst Juglar ihn als Sonderproblem zum Gegenstand eingehender Untersuchungen“ (S. 516) gemacht habe. Dennoch musste J. zeitlebens um die Anerkennung seiner Theorie kämpfen. Erst nach seinem Tode setzte sich seine Methode durch und wurde weiterentwickelt.

Wichtige Publikationen • De la population de la France de 1772 → nos jours (1849), 1851/1852 • Des crises commerciales et leur retour périodique en France, en Angleterre et aux Etats-­ Unis, 1862 • Du change et de la liberté d’émission, 1868.

Literatur HdSW (1956), Bd. 5, S. 438–439 Hesse (2009), S. 257 Schumpeter (1965/2007), S. 1363–1365 Stavenhagen (1964), S. 516

Engels, Friedrich

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Wächter, Ökonomen auf einen Blick, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29069-6_30

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Leben & Karriere • Engels, Sohn eines Fabrikanten, musste das Gymnasium in Elberfeld, das er von 1834 bis 1837 besuchte, vorzeitig verlassen, da er in den elterlichen Betrieb eintreten sollte. Auf Drängen des Vaters wurde er seit August 1838 in einem Bremer Handelshaus kaufmännisch ausgebildet. • Während seines Militärdienstes 1841/1842 in Berlin besuchte er philosophische Vorlesungen an der Universität und beteiligte sich an wissenschaftlichen Diskussionen. • Zum Ausbau seiner kaufmännischen Fertigkeiten und Kenntnisse arbeitete E. von 1842 bis 1844 bei Ermen & Engels in Manchester, wo er das Elend der Fabrikarbeiter kennenlernte und Bekanntschaft mit Führern der englischen Arbeiterbewegung schloss. In dieser Zeit beschäftigte er sich auch mit englischer Geschichte und Nationalökonomie. • Als E. im August 1844 aus England zurückkehrte, traf er in Paris mit →Karl Marx zusammen. Es begann eine lebenslange Freundschaft und Zusammenarbeit. • 1846 gründeten Marx und E. ein kommunistisches Korrespondenzkomitee, traten ein Jahr später in den Bund der Gerechten ein und schließlich konstituierte sich unter der Leitung von Marx am 05.08.1847 der Bund der Kommunisten in Brüssel. • Nach der Teilnahme am zweiten Kongress des Bundes in London wurden sie von diesem im Dezember mit der Ausarbeitung des Programms beauftragt, das im Februar 1848 als Manifest der Kommunistischen Partei in London erschien. • Am 01. Juni 1848 erschien die erste Ausgabe der Neuen Rheinischen Zeitung; Marx war Chefredakteur, Engels Redakteur. In den folgenden Monaten drohte den beiden Verhaftung, im Februar 1849 kam es zu Prozessen. • Im November 1849 trafen Engels und Marx in London zusammen. Ein Jahr später nahm E. seinen Kaufmannsberuf bei Ermen & Engels in Manchester wieder auf; zunächst als Angestellter, später (1864) als Teilhaber. • 1869 schied E. als Teilhaber der Firma Ermen & Engels aus und übersiedelte ein Jahr später nach London, um sich fortan nur noch seiner wissenschaftlichen, publizistischen und politischen Arbeit zu widmen. • E. gab nach Marx’ Tod den zweiten und dritten Band des Kapitals heraus, verfasste eine Vielzahl von Artikeln und Aufsätzen, bereiste viele europäische Länder und unterstützte den Aufbau internationaler Arbeiterorganisationen. Noch kurz vor seinem Tode begann E. mit der Vorbereitung einer Gesamtausgabe seiner eigenen und Marx’ Schriften.

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Werk & Wirkung • 1844 begann die intensive, lebenslange Zusammenarbeit und Freundschaft von Engels und Marx. Viele der in den folgenden fast 40 Jahren verfassten Schriften sind Gemeinschaftswerke. Im Folgenden werden die wichtigsten ökonomischen Schriften, die Engels selbständig verfasste, dargestellt. (Aufgrund der sehr engen Zusammenarbeit und Arbeitsteilung zwischen Marx und Engels, sollte das Stichwort „Marx“ ergänzend herangezogen werden.) • In dem Aufsatz Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie, der 1844  in den Deutsch-Französischen Jahrbüchern erschien, analysiert E. die ökonomische Struktur der bürgerlichen Gesellschaft, deren Ökonomik er als „Bereicherungswissenschaft“ bezeichnet. E. kritisiert die bürgerlichen Ökonomen, die die kapitalistische Produktionsweise und deren Widersprüche als Naturnotwendigkeiten hinstellen. • In der 1845 veröffentlichten sozialkritischen Studie Die Lage der arbeitenden Klasse in England, die E. nach einem 21-monatigen Aufenthalt in England verfasste, analysiert er die industrielle Revolution in England, die Konzentration des Privateigentums an den Produktionsmitteln und die Herausbildung und Entwicklung der industriellen Großbourgeoise und des Proletariats. Er weist nach, dass die Interessen dieser beiden Klassen unversöhnlich nebeneinander stehen (vgl. Abb.  30.1) und eine proletarische

Abb. 30.1  „Capital and Labour“. Karikatur aus der englischen Zeitschrift „Punch“ aus dem Jahr 1843. (Quelle: Wikimedia)

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Revolution notwendig ist. Er unterstreicht die Bedeutung der Organisiertheit der Arbeiterklasse und die Bedeutung der Streikkämpfe. Golo Mann kommt in seiner Deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts zu dem Schluss, dieses Werk sei „doch nur allzu wahr in dem, was es schildert. Eine stärkere, warmblütigere Anklage des ungezähmten Kapitalismus hat keiner geschrieben“ (1977, S. 182). • In der 1872/1873 als Artikelserie entstandenen Schrift Zur Wohnungsfrage weist E. nach, dass die Wohnungsnot eine gesetzmäßige Folge des kapitalistischen Systems ist und diese sich mit der fortwährenden Entwicklung des Kapitalismus weiter intensiviert. • Zu den bedeutsamsten Schriften und grundlegenden Werken des Marxismus zählt Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft, kurz „Anti-Dühring“ genannt. Diese sehr polemisch geschriebene Abhandlung aus dem Jahre 1877/1878 zielt darauf ab, die von Dühring vertretenen philosophischen und ökonomischen Ansichten, die auf große Teile der Arbeiterschaft einen nicht zu unterschätzenden Einfluss ausübten, zu widerlegen. E. griff damit in die theoretische Auseinandersetzung, die um weltanschauliche, politische und ökonomische Grundfragen geführt wurde, ein und trug mit dem Anti-Dühring entscheidend zur Durchsetzung des Marxismus bei. E. definiert die politische Ökonomie i. w. S. „als die Wissenschaft von den Gesetzen, welche die Produktion und den Austausch des materiellen Lebensunterhalts in der menschlichen Gesellschaft beherrschen“ (MEW, Bd. 20, S. 136). Er liefert in dem Werk erstmals eine geschlossene Darstellung der marxistischen Weltanschauung (dialektischer und historischer Materialismus, politische Ökonomie und wissenschaftlicher Sozialismus) und entwickelt diese weiter. Der dritte Abschnitt enthält  – verbunden mit der Kritik an ­Dührings Auffassung – eine Darlegung der Theorie des wissenschaftlichen Sozialismus. Der Abschnitt „Sozialismus“ behandelt die folgenden fünf Aspekte: „Geschichtliches“, „Theoretisches“, „Produktion“, „Verteilung“ sowie „Staat, Familie, Erziehung“. • Der Anti-Dühring wurde später zu einer selbständigen, populären Broschüre umgearbeitet und separat veröffentlicht (zuerst 1880 in französischer, 1883 in deutscher Sprache) unter dem Titel Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft. Diese Schrift gilt auch heute noch als eine hervorragende  – wie Marx sie nannte – „Einführung in den wissenschaftlichen Sozialismus“. Am Schluss des Werkes schreibt Engels: „Ist der politische und intellektuelle Bankerott der Bourgeoisie ihr selbst kaum noch ein Geheimnis, so wiederholt sich ihr ökonomischer Bankerott regelmäßig alle zehn Jahre. In jeder Krise erstickt die Gesellschaft unter der Wucht ihrer eignen, für sie unverwendbaren Produktivkräfte und Produkte … Die Expansionskraft der Produktionsmittel sprengt die Bande, die die kapitalistische Produktionsweise ihr angelegt. … Die gesellschaftliche Aneignung der Produktionsmittel beseitigt nicht nur die jetzt bestehende künstliche Hemmung der Produktion, sondern auch die positive Vergeudung und Verheerung von Produktivkräften und Produkten, die gegenwärtig die unvermeidliche Begleiterin der Produktion ist und ihren Höhe-

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punkt in den Krisen erreicht. … Die Möglichkeit, vermittelst der gesellschaftlichen Produktion allen Gesellschaftsgliedern eine Existenz zu sichern, die nicht nur materiell vollkommen ausreichend ist und von Tag zu Tag reicher wird, sondern die ihnen auch die vollständige freie Ausbildung und Betätigung ihrer körperlichen und geistigen Anlagen garantiert, diese Möglichkeit ist jetzt zum ersten Male da, aber sie ist da. Mit der Besitzergreifung der Produktionsmittel durch die Gesellschaft ist die Warenproduktion beseitigt und damit die Herrschaft des Produkts über die Produzenten. Die Anarchie innerhalb der gesellschaftlichen Produktion wird ersetzt durch planmäßige bewußte Organisation. Der Kampf ums Einzeldasein hört auf. Damit erst scheidet der Mensch, in gewissem Sinn, endgültig aus dem Tierreich, tritt aus tierischen Daseinsbedingungen in wirklich menschliche. … Erst von da an werden die Menschen ihre Geschichte mit vollem Bewußtsein selbst machen, erst von da an werden die von ihnen in Bewegung gesetzten gesellschaftlichen Ursachen vorwiegend und in stets steigendem Maß auch die von ihnen gewollten Wirkungen haben. Es ist der Sprung der Menschheit aus dem Reich der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit. (MEW, Bd. 19, S. 225 f.)“

• Nach dem Tode von Marx widmete E. einen Großteil seiner wissenschaftlichen Arbeit der Herausgabe der Bände II und III des Kapitals. Er sichtete, ordnete, überarbeitete und ergänzte die von Marx erarbeiteten Entwürfe. Band II wurde 1885, Band III 1894 herausgegeben. • E.s Schriften erzielten eine nachhaltige Wirkung. Dies liegt insbesondere in der Tatsache begründet, dass er die zusammen mit Marx vertretenen Ansichten klarer, übersichtlicher und verständlicher darstellen konnte. Für Marx war E. eine große Stütze. Er unterstützte ihn finanziell und ermöglichte so die Fertigstellung des Kapitals. Auch konnte E., der über große Lebenserfahrung verfügte und als Fabrikant mit dem praktischen Geschäftsleben bestens vertraut war, wichtige Beiträge zu Marx’ ökonomischen Forschungen leisten. E. war Praktiker, der seine Erfahrungen aus dem Wirtschaftsleben bezog; Marx war reiner Theoretiker. So konnte E. beispielsweise Marx, als dieser den Zirkulationsprozess des Kapitals ausarbeitete, wichtige Hinweise über die Reinvestition von Abschreibungsbeträgen geben. In einem Brief vom 24. August 1867 schreibt Marx an E.: „Du als Fabrikant, mußt nun wissen, was Ihr mit den returns für capital fixe vor der Zeit, wo es in natura zu ersetzen ist, macht. Und Du mußt mir diesen Punkt (ohne Theorie, rein praktisch) beantworten.“ • Gerd Koenen fasst die Person E. in hervorragender Art und Weise so zusammen: „Engels hat Marx entscheidende Anstöße und Kenntnisse geliefert, mit ihm über fast 40 Jahre hinweg einen intellektuellen Austausch von beispielloser Dichte und Intensität gepflegt, hat ihn und seine Familie materiell unterhalten und sein eigenes Leben und seine eigenen theoretischen Ambitionen völlig auf den Freund ausgerichtet, als Anreger, als Kritiker, als Manager. Nach Marx’ Tod war er es, der die Konvolute unlesbarer Manuskripte geordnet, entziffert, teilweise ediert hat. Und er hat in einer Reihe populärer Schriften das, was man seither ‚Marxismus‘ nennt, überhaupt erst in den Strom der entstehenden sozialistischen Massenparteien eingespeist und für ihre Bedürfnisse operationalisiert. Kurzum, ohne Engels hätte es vielleicht gar keinen ‚Marx‘ gegeben, mit allem, was an diesen Namen geknüpft ist“ (FAZ vom 27.05.2013, S. 28).

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Wichtige Publikationen Auswahl der allein verfassten Werke von Engels (weitere Angaben siehe bei Marx): • Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie, in: Deutsch-Französische Jahrbücher, 1844 • Die Lage der arbeitenden Klasse in England, 1845 • Zur Wohnungsfrage, 1872/1873 • Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft, 1876–1878 • Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft, 1880 • Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates, 1884

Literatur Gemkow u. a.: Friedrich Engels. Eine Biographie, Frankfurt a. M. 1970 HdSW (1959), Bd. 3, S. 223–227 Hesse (2009), S. 150 Krause/Graupner/Sieber (1989), S. 125–136 Lange/Alexander (1983), S. 236–250 K.-H. Schmidt: Stichwort „Engels“, in: Staatslexikon (1995), Bd. 2, Sp. 271–272

Walras, (Marie Esprit) Léon

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Wächter, Ökonomen auf einen Blick, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29069-6_31

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31  Walras, (Marie Esprit) Léon

Leben & Karriere • Nach dem Besuch des Gymnasiums bewarb Walras sich als 19-Jähriger an der École Polytechnique, einer der renommiertesten technischen Hochschulen in Frankreich. Aufgrund nicht ausreichender Mathematikkenntnisse wurde ihm die Aufnahme verwehrt. Zur Vorbereitung auf die Wiederholungsprüfung vertiefte er sich in das Studium der Werke von Newton, Descartes, Lagrange und →Cournot. Er scheiterte jedoch ein zweites Mal. • Nachdem die Immatrikulation an der École Polytechnique gescheitert war, bemühte sich W. um die Aufnahme an einer anderen Hochschule, der École Mines, an der er schließlich auch aufgenommen wurde. Für dieses ingenieurwissenschafftliche Studium konnte er sich jedoch nicht begeistern und wandte sich schließlich der Literatur zu. Mit 24 Jahren veröffentlichte er seinen ersten Roman. • Auf Anraten seines Vaters Auguste, ein Ökonom und Autor mehrerer wirtschaftswissenschaftlicher Schriften, entschied sich W. schließlich auch für die Ökonomie und versprach seinem Vater, dessen mathematisch geprägtes Werk fortzusetzen. • Bis 1870, also bis zu seinem 36. Lebensjahr, war W. auf dem Gebiet der Ökonomie kein Erfolg beschieden. Seine Schriften waren nicht gefragt und es gelang ihm auch nicht, eine Anstellung an einer Universität zu erhalten. Um den Unterhalt für sich und seine Familie bestreiten zu können, musste er vielfältigen Beschäftigungen nachgehen. So war er Herausgeber der Genossenschaftszeitung Le Travail, Angestellter bei einer Eisenbahngesellschaft und Direktor bei einer Bank. Nebenbei beschäftigte er sich mit Fragen der mathematischen Ökonomie. • Im Juni 1860 nahm W. an einem internationalen Kongress in Lausanne teil, auf dem die Problematik einer gerechten Besteuerung diskutiert wurde. W. hielt einen Vortrag, der im Rat der Akademie von Lausanne einen solch nachhaltigen Eindruck hinterließ, dass man sich seiner noch zehn Jahre später erinnerte, als der Lehrstuhl für politische Ökonomie neu besetzt werden sollte. • 1870 wurde W. gegen den Widerstand einiger Professoren auf den Lehrstuhl für Politische Ökonomie berufen, den er bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1892 innehatte. Insbesondere in den ersten Jahren erbrachte W. hier herausragende Leistungen auf dem Gebiet der wirtschaftstheoretischen Forschung und verfasste sein Hauptwerk, die Eléments d2019economie politique poure ou Théorie de la richesse sociale, welches er 1874 veröffentlichte. • Nach vielen Erschöpfungszuständen in den 1880er-Jahren ließ sich W. im Jahr 1892 für zwei Semester beurlauben. Er hoffte so neue Kräfte zu sammeln, um sein Lehramt weiter ausüben zu können. Als er feststellte, dass es aussichtslos war, ließ er sich endgültig emeritieren. Seinen Lehrstuhl übernahm Vilfredo Pareto. Im gleichen Jahr wurde W. von der American Economic Association zum Ehrenmitglied ernannt. Seinen Ruhestand verbrachte er mit der Überarbeitung seiner Werke.

Werk & Wirkung

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Werk & Wirkung • Walras hatte schon relativ früh, im Alter von 28 Jahren, eine Vorstellung davon, wie sein ökonomisches Lebenswerk einmal aussehen sollte: Er wollte zunächst eine reine Theorie der Wirtschaftswissenschaft entwerfen, in deren Mittelpunkt der Wettbewerb steht. Danach strebte er an, eine angewandte Wirtschaftswissenschaft zu entwickeln, die sich mit der Theorie der Wahl beschäftigt. Und schließlich beabsichtigte er eine Sozialökonomik zu begründen, die sich mit sozialer Gerechtigkeit (insbesondere mit Verteilungsfragen des Wohlstands und einer gerechten Besteuerung) befasst. • Walras’ Hauptwerke stellen eine Trilogie dar: –– Der erste Band, die Eléments d’economie politique poure ou Théorie de la richesse sociale, erschien in zwei Lieferungen 1874 und 1877. Die deutsche Übersetzung erschien 1881 unter dem Titel Mathematische Theorie der Preisbestimmung der wirthschaftlichen Güter. Hierbei handelt es sich um vier Denkschriften, die eine Zusammenfassung der Eléments darstellen. In den Eléments entwickelt W. sein System eines allgemeinen Gleichgewichts, das sogenannte „Walrasianische Gleichgewicht“. W. geht es um eine exakte Behandlung des Tauschphänomens auf der Grundlage einer Theorie von Angebot und Nachfrage, wobei das Preisproblem unter Anwendung mathematischer Methoden als wirtschaftliches Gleichgewichtsproblem gedeutet wird. ­Jeder Austausch setzt ein Verhältnis zwischen ausgetauschten Mengen ­voraus, das sich im Preis widerspiegelt. Damit kann jedes Mengenverhältnis mathematisch bestimmt werden. Ausgehend vom einfachsten Fall, dem bilateralen Tausch, analysiert W. den multilateralen Tausch, bezieht die Produktion von Konsumgütern in die Analyse der Wertbestimmungen mit ein und berücksichtigt auch die Produktion von Kapitalgütern. Alle diese mengenmäßigen Beziehungen lassen sich in algebraischen Gleichungen ausdrücken. Wenn für keinen Käufer und keinen Verkäufer ein Grund vorliegt, an dem ihm zur Verfügung stehenden Gütermengen eine Änderung vorzunehmen, erreicht ein Markt sein Gleichgewicht. Die Preise im Gleichgewichtszustand entsprechen dem Grenznutzen (W. verwendet hierfür den Begriff „rareté“). Auf diese Weise löst W. die Marktvorgänge in Gleichungen auf und ermittelt die Bedingungen des Gleichgewichtszustandes. Seine Theorie basiert auf dem Modell der vollständigen Konkurrenz, wobei folgende Bedingungen erfüllt sein müssen: Jeder Konsument strebt nach Nutzen- und jeder Produzent nach Gewinnmaximierung, es existiert ein einheitlicher Preis und alle Waren hängen nur ab von den Gegebenheiten und Werten des gleichen Zeitpunktes. Seine Vorgehensweise bei der Entwicklung dieser Theorie schildert W. in seiner Autobiographie so:

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31  Walras, (Marie Esprit) Léon

„Ich beschränkte meine Aufmerksamkeit auf den Fall zweier Güter, leitete aus der Nachfragekurve des einen die Angebotskurve des anderen Gutes logisch ab und demonstrierte damit, daß das jeweilige Gleichgewicht im Schnittpunkt von Angebots- und Nachfragekurve liegt. Dann leitete ich die Nachfragekurve selbst aus den Mengen ab, über die jeder Marktteilnehmer verfügt, und aus den individuellen Nutzenkurven für die beiden Waren. Auf diese Weise erhielt ich die Intensität des letzten noch befriedigten Bedürfnisses oder die rareté (Grenzrate des Nutzens) als eine Funktion der verbrauchten Menge. Dies sind die wichtigsten Daten, aus denen der Preis exakt abgeleitet werden kann, und sie bilden den eigentlichen Schlüssel zur mathematischen Nationalökonomie. (zit. n. Jaffé, in: Recktenwald (1971), S. 349)“

–– Der zweite Band, die Études d’économie sociale (1896), befasst sich mit Problemen der sozialen Ethik, mit Kommunismus, Individualismus, Privateigentum, Verstaatlichung des Bodens und mit Privateigentum. –– Im dritten Band, den Études d’économie politique appliquée (1898), werden praktische Fragen untersucht. Behandelt werden z.  B.  Monopole, freier Wettbewerb, Freihandel, die Rolle des Bank- und Kreditwesens sowie Vor- und Nachteile der Börsenspekulation. Einen besonderen Stellenwert nimmt Walras’ erstes Werk, die Eléments, ein. Mit diesem beschäftigte er sich kontinuierlich bis 1902 und nahm ständig Verbesserungen und Erweiterungen vor. Während die Eléments eine inhaltliche Geschlossenheit aufweisen, erschienen die beiden anderen Werke lediglich in Form einer Aufsatzsammlung. Nach Schwalbe wird „ihre Bedeutung für die Wirtschaftswissenschaft als vergleichsweise gering eingeschätzt“ (in: Kurz 2008, S. 246). • Bereits W.s Vater wandte, wie zuvor →Cournot, die mathematische Methode auf die Ökonomie an. Beide fanden damit zu Lebzeiten keine Beachtung unter Fachkollegen, weil die Nationalökonomie damals überwiegend als eine politische Wissenschaft verstanden wurde. W. unterscheidet in seinen Eléments zwischen „reiner Volkswirtschaftslehre“ und „angewandter Volkswirtschaftslehre“ und sieht die Anwendung der Mathematik auf die „reine“ Volkswirtschaftslehre als statthaft an: „Es ist eine zwischen den Nationalökonomen noch nicht entschiedene Frage, ob die Volkswirthschaftslehre eine eigentliche Wissenschaft oder eine angewandte Wissenschaft ist. Ich meinerseits glaube nicht etwa, dass sie das eine und das andere zu gleicher Zeit wäre …, sondern, dass man zu verstehen hat einerseits unter dem Namen „reine Volkswirthschaftslehre“: das einfache Studium der natürlichen und nothwendigen Wirkungen der freien Konkurrenz auf dem Gebiete der Produktion und des Tausches, und andererseits unter dem Namen ‚angewandte Volkswirthschaftslehre‘: die Darlegung des Einklanes dieser Wirkungen mit dem allgemeinen Besten und folglich die genaue Aufzählung der Anwendungen des Grundsatzes der freien Konkurrenz auf die Landwirthschaft, die Gewerbe, den Handel und den Kredit. …

Werk & Wirkung

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Der Gedanke, die Mathematik auf die physischen Wissenschaften anzuwenden, ist ein Gedanke, aus dem mehrere Gelehrte der alten und neueren Zeiten Nutzen gezogen haben … Wie die Mechanik von der Bewegung, von den Geschwindigkeiten handelt, so handelt die reine Volkswirtschaftslehre, wie wir sie definirt haben, von dem Tausche, von den Preisen: den Preisen der Produkte und den Preisen der produktiven Dienste. Die Preise sind die inversen Verhältnisse der ausgetauschten Waaren-Quanta; dies sind Grössen, die in Zahlen ausdrückbar wie auch durch Figuren darstellbar sind. Die erforderlichen und hinreichenden Elemente dieser Preise, wie wir sie erkannt haben, die Nützlichkeit und der Vorrath der Waaren, sind im selben Falle. Sonach ist es statthaft, die Mathematik auf die reine Volkswirthschaftslehre anzuwenden ebenso wie auf die Mechanik und die Astronomie; d. h. die reine Volkswirthschaftslehre gleich der Mechanik und Astronomie auszuarbeiten in der Sprache der Zahlenlehre oder der Figurenlehre unter Benutzung der bekannten Eigenschaften der Zahlen oder Figuren. Und wenn man dies thun darf, so muss man es auch thun. Dies ist der Charakter, dies ist die Möglichkeit der Anwendung auf die Volkswirthschaftslehre. (L. Walras: Mathematische Theorie der Preisbestimmung der wirthschaftlichen Güter, S. 1 und 23–24)“

• →Schumpeter nannte Walras nicht zu Unrecht den „großen Meister der exakten Theorie“ und dessen Werk die „Magna Charta“ der exakten Nationalökonomie. Denn W. kommt das Verdienst zu, dass er die gegenseitige Abhängigkeit aller Preise erkannt hat und dass alle quantitativ aufgefassten Erscheinungen in einem funktionalen Zusammenhang stehen. Auch den hierfür so notwendigen Grenznutzen entdeckte W. unabhängig von Gossen, Jevons und →Menger – allerdings zu spät, denn sie waren ihm Jahre voraus. W. schuf mit seinem Gleichgewichtsdenken und der Entwicklung einer mathematisch ausgerichteten Nationalökonomik die Grundlagen der nach seiner Wirkungsstätte benannten Denkrichtung, der „Lausanner Schule“. Sie wurde von Vilfredo Pareto, der auf den Lehrstuhl von W. folgte, fortgeführt und weiterentwickelt. „Die Einsicht in die Interdependenz aller ökonomischen Elemente bei der Preisbildung und ihre exakte Darstellung in der Gleichgewichtstheorie der Lausanner Schule bildetet zweifellos eine wichtige Bereicherung der sozialökonomischen Lehre“ (Stavenhagen, S. 263). Zu einer ähnlichen Würdigung gelangt auch U. Schwalbe: „Aus heutiger Sicht ist der zentrale und herausragende Beitrag von Walras zur Wirtschaftstheorie darin zu sehen, daß er als erster ein formales Modell einer Ökonomie mit einer Vielzahl von Gütern und einem komplexen, interdependenten System von Wettbewerbsmärkten entwickelt hat. Er konnte damit nachweisen, daß man mit Hilfe einer mathematischen Formulierung die komplexe Struktur einer Ökonomie erfassen und Aussagen über die Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Bereichen und Märkten treffen kann. … Insgesamt hat sich die auf Walras zurückgehende Theorie des allgemeinen Gleichgewichts als konzeptioneller Rahmen, Rückgrat und gemeinsames Zentrum aller mikroökonomisch fundierten Wirtschaftstheorie erwiesen. Walras als Schöpfer dieses Rahmens … hat damit, trotz aller Kritik an diesem Ansatz, eine andauernde …. Entwicklung in Gang gesetzt, die immer detailliertere Modelle hervorgebracht hat, die es erlauben, zahlreiche Aspekte realer Ökonomien zu berücksichtigen“ (in: Kurz 2008, S. 259 und 262 f.).

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Wichtige Publikationen • Éléments d’économie pure, 1874 (dt.: Mathematische Theorie der Preisbestimmung der wirthschaftlichen Güter, 1881) • Théorie mathématique de la richesse sociale, 1883 • Théorie de la monnaie, 1886 (dt.: Theorie des Geldes, 1922) • Études d’économie sociale, 1896 • Études d’économie politique appliquée, 1898

Literatur Hesse (2009), S. 593–594 Koesters (1985), S. 133–149 Krause/Graupner/Sieber (1989), S. 600–603 Kurz (2008), Bd. 1, S. 242–266 Linß (2014), S. 44–48 Piper (1996), S. 63–68 Recktenwald (1971), S. 342–364 Schumpeter (1965/2007), Bd. 2 Söllner (2012), S. 85–89 Starbatty (1989/2012), Bd. 2, S. 59–75 Stavenhagen (1964), S. 262–265

Internet Mathematische Theorie der Preisbestimmung der wirthschaftlichen Güter online: https://fedora. phaidra.univie.ac.at/fedora/get/o:317874/bdef:Asset/view#

Wagner, Adolph

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Wächter, Ökonomen auf einen Blick, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29069-6_32

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Leben und Karriere • Wagner, der einer angesehenen Gelehrtenfamilie entstammte, besuchte Gymnasien in Göttingen und Bayreuth. Von 1853 bis 1857 studierte er Rechts- und Staatswissenschaften in Göttingen und Heidelberg. Seine Lehrer waren der Nationalökonom → Karl Heinrich Rau, der Agrarhistoriker und Nationalökonom Georg Hanssen (1809–1894) sowie der Staatswissenschaftler Robert von Mohl (1799–1875). Insbesondere Rau hat einen nachhaltigen Einfluss auf W. ausgeübt. In seiner Rektoratsrede vom 15. Oktober 1895 äußert W. sich über ihn: „Durch eminente Systematiker wie Rau, mein eigener verehrter persönlicher Lehrer, erringt die deutsche Nationalökonomie … einen ehrenvollen Platz in der allgemeinen Fachliteratur. … Außerhalb der fast sektenartigen unduldsamen sogenannten deutschen Freihandelsschule wirkte gerade die kameralistische Tradition günstig nach, so daß die geschichtliche Erfahrung, die Leistung des Staates für die Volkswirtschaft beachtet bleibt (zit. n. Heil­ mann, S. 34).“

• Im Juli 1857 promovierte W. in Göttingen mit einer finanzwissenschaftlichen Arbeit, in der er für ein modernisiertes Bankensystem plädierte. Dies brachte ihm eine Professur für Nationalökonomie und Statistik an der Wiener Handelsakademie – eine Berufung an die Universität verwehrte sein älterer Rivale Lorenz von Stein (1815–1890) – ein, wo seine Lehrtätigkeit im Jahre 1858 ihren Anfang nahm. In seinen Vorlesungen stützte er sich auf die Theorie des englischen Nationalökonomen → John Stuart Mill. Neben seiner akademischen Tätigkeit war W. auch als Regierungsberater für die habsburgische Monarchie tätig. • 1863 verließ W. Wien und ging nach Hamburg, wo er bis 1864 an der kaufmännischen Fortbildungsanstalt lehrte. • Von 1864 bis 1868 übernahm W. eine Professur in Dorpat. Seine dort entwickelte Agiotheorie ist später in die katholische Soziallehre eingegangen. Rückblickend nannte er diese Jahre in einem Bericht für die Vossische Zeitung „die glücklichsten seines Lebens“. • Im Jahr 1868 kehrte W. nach Deutschland zurück und übernahm als Nachfolger des jung verstorbenen Hans von Mangoldt (1824–1868) den Lehrstuhl für Staats- und Kameralwissenschaften in Freiburg. • 1870 wurde W.  – gerade 35 Jahre alt  – als Professor für Staatswissenschaften nach Berlin berufen. Anfänglich lehrte er auch noch Nationalökonomie an der Gewerbeakademie, der späteren Technischen Hochschule. • Seit 1871 war W. Mitglied der 1860 gegründeten Preußischen Statistischen Zentralkommission sowie Referent des Preußischen Statistischen Bureaus. Der Auftrag dieser Institutionen war es, für eine einheitliche statistische Datenerhebung aller Zweige der Staatsverwaltung zu sorgen. Außerdem wurden hier Verwaltungsbeamte weitergebildet.

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• Zusammen mit → G. v. Schmoller ergriff W. im Mai 1872 die Initiative zur Gründung des Vereins für Socialpolitik. Nach Beratung mit anderen Fachkollegen fand hierzu am 13. Juli 1872 in Halle eine Vorbesprechung statt. Es folgten weitere Tagungen in Eisenach, aus denen schließlich am 13. Oktober 1873 offiziell der Verein für Socialpolitik hervorgegangen ist. • 1877 zog W. sich aus der Leistung des Vereins für Socialpolitik zurück, als er „einsehen mußte, daß die Politik des Vereins sich mehr und mehr den Positionen des Volkswirtschaftlichen Kongresses, der Propagandaorganisation der Liberalen, annäherte“ (Heilmann 1980, S. 20). Anschließend rief W. zusammen mit dem evangelischen Theologen A. Stoecker die Zeitschrift Der Staats-Socialist – Wochenschrift für Socialreform ins Leben, deren erste Ausgabe am 20. Dezember 1877 erschien. • 1878 beteiligte W. sich an der Gründung der konservativen Christlich-Socialen Partei. Sie wollte einen Gegenpol darstellen zur sozialdemokratischen Arbeiterbewegung. Zunächst war sie gegen die Sozialisten, später auch gegen den Liberalismus. W. vertrat diese Partei, deren zweiter Präsident er war, von 1882 bis 1885 im Preußischen Abgeordnetenhaus. • Seit 1885 zog W. sich aus der Parlamentspolitik zurück, um die von Rau übernommenen Grundsätze der Finanzwissenschaft zu überarbeiten. • Kurz vor Vollendung seines 81. Lebensjahres hielt W. am 26. Januar 1916 seine letzte Vorlesung, die „noch einmal dem Bekenntnis seines Staatssozialismus gewidmet war“ (Heilmann 1980, S. 20). • W., der bis kurz vor seinem Tode an der Berliner Universität tätig war, verstarb am 8. November 1917 infolge einer Arterienverkalkung. • W. wurden zahlreiche Auszeichnungen zuteil: Er war Mitglied der Akademien der Wissenschaften in Mailand, Neapel, Rom, Venedig und Wien; außerdem war er Ehrenmitglied der Royal Statistical Society in London und des Internationalen Statistischen Instituts.

Werk & Wirkung • Wagner gehörte neben → G. v. Schmoller zu den bekanntesten und einflussreichsten Ökonomen der Zeit bis zum Ersten Weltkrieg. Er setzte sich vehement für eine staatliche Sozialpolitik ein und unterstützte die Maßnahmen des Reichskanzlers Otto von Bismarck zur Einführung von Sozialversicherungen. W. war die treibende Kraft unter den Gründern des Vereins für Socialpolitik und geistiger Vater der Lehre vom Sozialstaat, für die er den Begriff „Staatssozialismus“ prägte. Er verfasste eine Vielzahl von Büchern, Aufsätzen und anderen Schriften. Überliefert ist die Anekdote, „daß es einmal vorgekommen ist, daß Wagner in den Übungen des Berliner Seminars sich nicht mehr auf eine seiner Broschüren zu besinnen wusste, bis man sie aus der Bücherei herbeiholte“ (Hamburgischer Correspondent, 25.03.1915).

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• Unter den Forschungsmethoden sah W. induktive (statistische und empirische) und deduktive Verfahren als gleichberechtigt an, wobei er sich hauptsächlich der Deduktion bediente. Das Hauptgewicht legte er auf die systematische Verwertung und den logischen Aufbau der im Einzelnen gewonnenen wissenschaftlichen Ergebnisse. Die in der zweiten Hälfte des 19. Jh. vorherrschende historische Methode „war ihm nicht fremd“, so R. Stucken, „aber sie stand nicht so im Vordergrunde seines Interesses, wie das bei den Anhängern der Jüngeren Historischen Schule unter Schmollers Führung der Fall war; ihn beschäftigte in erster Linie die gegenwärtige Gestaltung – ja man kann sagen, die Umgestaltung der Gegenwart, und zwar im Sinne der von ihm geforderten sozialen Gerechtigkeit“ (in: HdSW, Bd. 11, S. 470). Im Methodenstreit zwischen Schmoller und → C. Menger nahm W. einen vermittelnden Standpunkt ein. • Zu Anfang seiner wissenschaftlichen Karriere – W. stand noch auf liberal-individualistischem Standpunkt – widmete W. sich hauptsächlich der Statistik. Er bekannte sich im Wesentlichen als Anhänger der Bevölkerungstheorie von → Malthus. Später wandte er sich der Volkswirtschaftslehre zu. Auch auf diesem Gebiet bediente W. sich statistischer Methoden, was er im Vorwort seiner Lehre von den Banken (1857) so erklärt: „Ich ope­ rirte dabei beständig auf statistischer Grundlage, weil hierdurch allein ein fester Boden thatsächlicher Erfahrung für die Erörterung wirthschaftlicher Fragen gewonnen werden kann.“ Im Mittelpunkt seiner volkswirtschaftlichen ­Forschungen standen Fragen des Finanz-, Geld-, Kredit- und Steuerwesens. Beispielsweise forderte er die Notenbankfreiheit, schuf eine neue Lehre über die Liquidität der Banken, entwickelte Grundsätze für die Anleihepolitik, erarbeitete Grundsätze der Besteuerung, entwarf eine Lehre vom Zusammenhang der Wirtschafts- und Steuerentwicklung und legte die Grundlagen einer Finanzausgleichslehre. Von besonderer Bedeutung ist das von ihm entdeckte Gesetz der wachsenden Staatstätigkeit. Viele dieser Lehren sind „zum Allgemeingut der deutschen Finanzwissenschaft“ geworden (vgl. R. Stucken in HdSW, Bd. 11, S. 471). Durch seine Beschäftigung mit J. K. Rodbertus (1805–1875), A. Schäffle (1831–1903) und dem wissenschaftlichen Sozialismus kam W. zu grundsätzlichen Studien über das Organisati­ onsproblem des Wirtschaftslebens. Die kritische Auseinandersetzung mit der Freihandelsschule und dem Sozialismus führten ihn schließlich zu seiner Lehre vom „Staatssozialismus“ auf der Basis lutherischer Wertevorstellungen. • Beim sog. „Staatssozialismus“ handelt es sich um eine umfassende und systematische Wirtschafts- und Sozialpolitik der Staatseingriffe. Dieser sollte sich nach W. hauptsächlich in drei Erscheinungsformen äußern (vgl. Krause et al. 1989, S. 599): –– als staatliche Sozialpolitik (z. B. Kranken-, Invaliden und Altersversicherung) –– als wirtschaftspolitischer Interventionismus (z. B. Finanz- und Steuerpolitik) –– durch Schaffung eines staatlichen Eigentumssektors (z. B. Verstaatlichungen bzw. Kommunalisierungen im Verkehrs- und Energiewesen).

Werk & Wirkung

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Der Staatssozialismus Wagnerscher Prägung erkennt sowohl das Privateigentum an als auch das Gemeinschaftseigentum; beides könne nebeneinander existieren. Verstaatlichungen betrachtet W. als ein legitimes Mittel zur Lösung der sozialen Probleme. Allerdings wünschte W. dies „innerhalb des bestehenden Staates und seiner Regierungsform, d. h. in der ausdrücklich bejahten konstitutionellen Monarchie“ (W. Koch in HdWW, Bd. 7, S. 200). Einen revolutionären Sozialismus lehnte W. entschieden ab – wie übrigens auch die Doktrinen des extremen Individualismus. Seinen christlich-konservativen Staatssozialismus hat der „treue und überzeugte Anhänger seiner evangelischen Kirche“ (Kölnische Volkszeitung 09.11.1917) verortet in einer „Mittelstellung zwischen extremen Individualismus und extremem Sozialismus“ (W.  Koch). Schmoller stellte in einer Rede zum 70. Geburtstag W.s fest: „Der deutsche Staatssozialismus ist ein unentbehrliches Glied in der Entwicklung unserer politisch-wirtschaftlichen Ideenwelt, in dem großen heutigen Kampf zwischen Individualismus und Sozialismus.“ Und W. selbst äußerte sich fast prophetisch in einer seiner letzten Reden, die er 1913  in Hamburg hielt, zum Staatssozialismus: „Wenn wir aus dem maßlosen kapitalistischen System herauskommen und in einen gesunden Sozialismus hineinkommen wollen, so darf das nicht geschehen nach sozialdemokratischem Rezept, sondern nach dem Rezept des Staatssozialismus … Ich tröste mich, es wird die Zeit kommen, wo man einsehen wird, wie richtig es war, daß ich diesen gesunden, nationalen, patriotischen Sozialismus zur Sprache gebracht habe (A. Wagner, zit. n. Tägliche Rundschau, 25.03.1915).“

• Wagner äußerte sich seit Ende der 1860er-Jahre vielfach über die Notwendigkeit sozialer Reformen in Deutschland. Diesbezüglich sei hier seine Rede über die soziale Frage erwähnt, die er am 12. Oktober 1871 in der Berliner Garnisonskirche hielt und die 1872 als Schrift veröffentlicht wurde. Darin kritisiert W. das Manchestertum und die Freihandelsschule und stellt fest, dass die Missstände des Wirtschaftssystems teils zu Recht die Kritik der Sozialisten hervorgerufen hätten. Allerdings steht er auch dem Marxismus skeptisch gegenüber. Den radikalen Umsturzplänen der Sozialisten sei dadurch entgegenzutreten, die Vorstellung der Liberalen zu überdenken, wonach staatliche Eingriffe in das Wirtschaftsleben schädlich seien. W. lehnt sowohl das Dogma des „Laissez faire et passer“, d. h. eine völlige Passivität des Staates ab, wie auch extreme, ausgiebige staatliche Eingriffe. Vielmehr sei „von Fall zu Fall nach den concreten Verhältnissen zu prüfen und zu entscheiden, ob und wie der Staat dazwischen treten soll oder nicht“ (S.  12). W. empfiehlt die Herstellung paternalistischer Verhältnisse zwischen Kapitalisten und Arbeitern. Eine Lösung der sozialen Frage könne nach W. erreicht werden durch eine Sozialreform. Dazu solle durch Lohnerhöhungen bzw. Gewinnbeteiligungen, Verringerung der Arbeitszeit und Abschaffung der Sonntagsarbeit, gerechtere Steuerbelastungen, die Schaffung eines Arbeiterversicherungswesens und anderen sozialpolitischen Maßnahmen der Lebensstandard der Arbeiter erhöht werden. Die 38 Seiten umfassende Rede beendet W. mit den Worten:

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32  Wagner, Adolph

„Stets wird Armuth und Elend, Dürftigkeit und Darben, Wohlstand und Reichthum, stets wird Vermögensverschiedenheit, die sich nicht auf wirkliches Verdienst oder persönliche Schuld zurückführen lassen, auf dieser Welt nebeneinander bestehen. An uns aber ist es, die daraus hervorgehenden Uebel und die bestehenden Ungleichheiten nach Möglichkeit zu mindern und dies ist immer in erheblichem Umfange möglich. Haben wir das gethan, dann haben wir unsere Pflicht und Schuldigkeit gethan, und das kann man von uns verlangen, nicht mehr, aber auch nicht weniger (A. Wagner: Rede über die soziale Frage, Berlin 1872, S. 38).“

• Wagners unversöhnlicher Gegner H.  B. Oppenheim nannte die Rede höhnisch eine „volkswirtschaftliche Verirrung“ und prägte in der Folge den Ausdruck „Kathedersozialist“, worauf W. mit einem Offenen Brief (1873) reagierte. • Historische und statistisch nachweisbare Beobachtungen veranlassten Wagner 1863 zu der Annahme, dass mit dem wirtschaftlichen und kulturellen Fortschritt die Aufgaben des Staates zunähmen, und mit dieser Ausdehnung der Staatstätigkeiten eine Steigerung der Staatsausgaben im Verhältnis zum Sozialprodukt einhergehe. Dieses „Gesetz von der zunehmenden Staatstätigkeit“ erläutert W. in dem Artikel Staat (in nationalökonomischer Hinsicht) im Handwörterbuch der Staatswissenschaften: „Beobachtungsmässig, historisch und statistisch nachweisbar zeigt sich im Staate eine deutl­ iche Tendenz zur Ausdehnung der öffentlichen bezw. Staatsthätigkeiten mit dem Fortschritt der Volkswirtschaft und Kultur auf den Gebieten der beiden organischen Staatszwecke. Diese Ausdehnung erscheint als etwas so Regelmässiges und lässt sich so deutlich auf ihre inneren Ursachen und Bedingungen zurückführen, dass es statthaft erscheint, von einem »Gesetz« der wachsenden Ausdehnung der öffentlichen (inkl. kommunalen u.s.w.), besonders der ­Staatsthätigkeiten zu sprechen [...]. Nationalökonomisch aufgefasst bedeutet dieses Gesetz absolut und selbst relativ wachsende Ausdehnung der öffentlichen, besonders der staatlichen gemeinwirtschaftlichen Organisationsform neben und statt der privatwirtschaftlichen innerhalb der Volkswirtschaft. Die Ursachen liegen im Hervortreten neuer, vermehrter, feinerer öffentlicher Bedürfnisse, namentlich Gemeinbedürfnisse im ganzen Volksleben, die Bedingungen liegen in starkem Masse in Aenderungen der Produktions- und Verkehrstechnik, welche die staatliche und eventuell neben oder auch statt ihrer die sonstige öffentliche, kommunale etc. Funktion in höherem Grade ermöglichen und wünschenswert machen. Die Folgen sind, dass die Einzelnen, die Privatwirtschaften, ihre Bedürfnisbefriedigungen in immer stärkerem Masse durch Vermittelung des Staats und anderer öffentlicher Körper erreichen und dafür in Steuern und Gebühren Entgelt leisten oder dass der Staat und diese Körper privatwirtschaftliche Erwerbsquellen mehr an sich ziehen und aus deren Ueberschüssen mit die Mittel für die Deckung der Kosten der öffentlichen Leistungen gewinnen. Voraussetzungen und wieder Folgen der Entwickelung sind daher auch speciell ökonomische und finanzielle: die privatwirtschaftlichen Entgeltlichkeitsnormen werden durch gemeinwirtschaftliche, der freie Verkehrspreis wird durch Gebühr, Taxe, Steuer ersetzt. Die öffentlichen , besonders die Staatsfinanzen dehnen sich in Einnahmen und Ausgaben immer mehr aus, nehmen neue Formen mit an, »die Steuern wachsen«, ohne fest bestimmbare Grenzen, aber die Besteuerten, die ganze Bevölkerung erhalten den Gegenwert und regelmässig einen vollauf genügenden Gegenwert in vermehrten und vervollkommneten öffentlichen Leistungen (A. Wagner: Staat (in nationalökonomischer Hinsicht), in: HdStW, Bd. VI, Jena 1901, S. 946–947).“

Werk & Wirkung

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Abb. 32.1  Deutschlands Staatsschulden seit 1850. (Quelle: FAZ, 20.05.2013)

Mit der auf empirischen Untersuchungen beruhenden Behauptung vom Gesetz der zunehmenden Staatstätigkeit und den daraus resultierenden wachsenden Staatsausgaben nahm W. eine Gegenposition zum Laisser-faire-Kapitalismus ein und begründete „zum ersten Mal wissenschaftlich die Notwendigkeit einer steigenden Staatsquote“ (Bontrup). Eine empirische Überprüfung des Wagnerschen Gesetzes gestaltet sich schwierig. Insbesondere die Abgrenzung von Finanzströmen ist problematisch. Einige Untersuchungen widerlegen das Gesetz teilweise. Dennoch sind „viele Gedanken des Wagnerschen Gesetzes […] plausibel und auch heute noch von praktischem Erklärungswert für den in vielen Staaten beobachtbaren Anstieg der Staatsquote“ (Gabler Wirtschaftslexikon). • Betrachtet man die langfristige Entwicklung der Schuldenquote in Deutschland, lässt sich feststellen, dass diese vor 1871 relativ gering war (siehe Abb.  32.1). Die Reichseinigung und die französischen Reparationszahlungen lösten einen Boom aus („Gründerzeit“). In der Folge kam es zu einer Überhitzung, einer Verdoppelung der Börsenkurse und schließlich 1873 zum Crash („Gründerkrach“). Mit 133 Prozent erreichte die Schuldenquote im Ersten Weltkrieg einen Höhepunkt, der im Zweiten Weltkrieg übertroffen wurde: 1944 überstieg die Schuldenquote 240 Prozent des BIP. Die Währungsreform nach dem Krieg radierte die Schulden aus und beseitigte den Geld­ überhang. Hohe Wachstumsraten in den 1950er- und 60er-Jahren brachten stark steigende Staatseinnahmen, die Schuldenquote betrug nur etwa 20 Prozent des BIP. In den späten 60er-Jahren gab es einen Paradigmenwechsel in der Finanzpolitik hin zu einer keynesianischen Nachfragesteuerung, die bewusst Defizite in Kauf nahm. Einen starken Anstieg der Verschuldung von 40 auf 60 Prozent brachte die Wiedervereinigung. In der Finanzkrise 2008 sprang sie erstmals über 80 Prozent. Viele Forscher vertreten die Ansicht, dass die Staatsfinanzen schon seit längerem nicht mehr nachhaltig seien. Um die Staatsverschuldung Deutschlands zu begrenzen, verankerten Bund und Länder seit

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32  Wagner, Adolph

2011 verfassungsrechtliche Vorgaben zur Reduzierung des Haushaltsdefizits, die sog. „Schuldenbremse“ (vgl. Plickert 2013). • Schumpeter würdigt Wagner als „Führer im Kampf für die Sozialpolitik und als – politisch  – konservativen Reformer“, der wesentliche Leistungen auf den Gebieten des Geld- und Finanzwesens vollbracht habe, und auf denen auch sein Ruf in der Geschichte der Volkswirtschaftslehre beruhe. W.s Originalität und Kompetenz in der analytischen Wirtschaftslehre können nicht allzu hoch eingeschätzt werden. Nach G. Schmölders war W. „der große Theoretiker des Interventionismus, dessen Erkenntnisse heute noch Beachtung verdienen“ (S. 68). Muhs zählt W. zu den Vorläufern der sozialrechtlichen Schule, denn „Adolph Wagner, der ‚Theoretiker der sozialen Reform‘, stellt ebenfalls die Gesellschaftsverfassung und ihre Institutionen des Staats und des Rechts in den Vordergrund und wendet sich von ihnen aus der Untersuchung der ökonomischen Zusammenhänge zu. Es ist das Verdienst dieser Schule, den Charakter der Volkswirtschaftslehre als zugleich sozialer Wissenschaft eindringlich betont zu haben …“ (Muhs 1963, S. 143 f.).

Wichtige Publikationen • Beiträge zur Lehre von den Banken, 1857 • Die Geld- und Credittheorie der Peelschen Bankacte, 1861 • Die Gesetzmässigkeit in den scheinbar willkührlichen menschlichen Handlungen vom Standpunkte der Statistik, 2. Bde., 1864 • Die Abschaffung des privaten Grundeigenthums, 1870 • Rede über die sociale Frage, 1872 • Lehr- und Handbuch der politischen Oeconomie von K.-H. Rau, vollst. neu bearb. v. A. Wagner u. E. Nasse, 1876 • Grundlegung der politischen Oeconomie, 1876 • Finanzwissenschaft, 4 Bde., 1877–1901 • Allgemeine oder theoretische Volkswirtschaftslehre 1876 • Die akademische Nationalökonomie und der Socialismus, 1895 • Artikel „Staat (in nationalökonomischer Hinsicht)“ in HdStW, 2. Aufl., Bd. 6, 1901, S. 940 ff. • Die Strömungen in der Sozialpolitik und der Katheder- und Staatssozialismus, 1912

Literatur Bontrup (2004), S. 142

Literatur

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B. Dluhosch/K. W. Zimmermann: Adolph Wagner und sein Gesetz, Diskussionspapier Nr. 85, Helmut Schmidt Universität Hamburg, 08/2008 D. Hainbuch/F. Tennstedt: Biographisches Lexikon zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1871 bis 1945, Band 1: Sozialpolitiker im Deutschen Kaiserreich 1871 bis 1918, Kassel 2010 HdSW (1961), Bd. 11, S. 470–472 Hesse (2009), S. 588 M.  Heilmann: Adolph Wagner  – Ein deutscher Nationalökonom im Urteil seiner Zeit, Frankfurt a.M. 1980 HdWW (1988), Bd. 1, S. 350–352 u. Bd. 7, S. 200–204 Kölnische Volkszeitung, 09.11.1917 Krause/Graupner/Sieber (1989), S. 598–600 Muhs (1963), S. 143 f. F. Oppenheimer: Adolf Wagner – Gedächtnisrede, in: Europäische Staats- und Wirtschaftszeitung, 02.02.1918 P. Plickert: Der deutsche Schuldenberg ist auf Dauer untragbar, in: FAZ, 20.05.2013 Schmölders (1961), S. 65–71 Schumpeter (1965/2007), Bd. 2, S. 1038 f. Vossische Zeitung, 09.11.1917

Internet Schriften von A.  Wagners online: https://archive.org/search.php?query=creator%3A%22Adolph+Wagner%22 D. Hainbuch/F. Tennstedt: Biographisches Lexikon zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1871 bis 1945. Online verfügbar: http://www.uni-kassel.de/upress/online/frei/978-3-86219-038-6. volltext.frei.pdf

Schmoller, Gustav von

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Wächter, Ökonomen auf einen Blick, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29069-6_33

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Leben & Karriere • Nach dem Besuch des Gymnasiums war Schmoller ein Jahr (von 1856 bis 1857) in der Kanzlei seines Vaters in Heilbronn tätig. • Von 1857 bis 1861 studierte Sch. Staatswissenschaften, Geschichte und Philologie in Tübingen, wo er sich 1861 zum Dr. oec. pol. promovierte. • Anschließend war Sch. als Referendar zunächst im Heilbronner Kameralamt tätig; die zweite Phase seines Referendariats absolvierte er im Württembergischen Statistischen Bureau in Stuttgart. • Von 1864 bis 1872 war Sch. Professor für Staatswissenschaften in Halle (Saale), seit 1872 Ordinarius in Straßburg und von 1882 bis 1917 Professor für Staatswissenschaften in Berlin. • Am 5./6. Oktober 1872 begründete Sch. zusammen mit seinen Mitstreitern Brentano, Arendt, Hildebrand, Wagner, Conrad u. a. in Eisenach den Verein für Socialpolitik. Der Vorsitz wurde zunächst Erwin Nasse übertragen; nach dessen Tod (1890) übernahm ihn Schmoller. Die Gründer des Vereins wollten nach den Worten Sch. „auf der Grundlage der bestehenden Ordnung die unteren Klassen soweit heben, bilden und versöhnen, dass sie in Harmonie und Frieden sich in den Organismus einfügen“. Heinrich B. Oppenheim, der dem liberal-manchasterlichen Kongreß deutscher Volkswirte angehörte, bezeichnete Sch. und seine Gefolgsleute in einem Artikel in der Nationalzeitung polemisch als „Kathedersozialisten“. • Ab 1881 gab Sch. das Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft heraus. Diese wirtschaftspolitische Zeitschrift wurde schon bald als Schmollers Jahrbuch bekannt. • 1884 wurde Sch. preußischer Staatsrat, und fünf Jahre später wurde er als Vertreter der Universität Berlin zum Mitglied des preußischen Herrenhauses ernannt. Des Weiteren wurden ihm zahlreiche – auch internationale – Auszeichnungen zuteil: So war er beispielsweise Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften, der Akademie der Wissenschaften in Wien und St. Petersburg, der bayerischen Akademie der Wissenschaften, der dänischen Gesellschaft der Wissenschaften und Mitglied der italienischen Akademie der Wissenschaften in Rom. Außerdem war er Ritter des Ordens Pour le Mérite.

Werk & Wirkung • Schmoller war der Begründer und führende Kopf der Jüngeren Historischen Schule der Nationalökonomie. Als Basis der volkswirtschaftlichen Theorie sah er die empirisch-­ beschreibende (Geschichts-)Forschung an, die auf induktivem Weg die Entwicklungs-

Werk & Wirkung

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gesetze der Volkswirtschaft herauszuarbeiten habe. Er lehnte die Ansichten der klassischen Ökonomie strikt ab – insbesondere die von →Menger vertretende Variante der Grenznutzenschule –; andererseits grenzte er sich aber auch klar gegenüber (revolutionären) sozialistischen Strömungen ab. Dem (monarchistischen) Staat komme die Aufgabe zu, interventionistisch in das Wirtschaftsgeschehen einzugreifen und soziale Reformen durchzusetzen – nicht zuletzt auch, um revolutionären Entwicklungstendenzen entgegenzuwirken. • Im Vorwort seines Grundriß der allgemeinen Volkswirthschaftslehre, der in zwei Bänden 1900 und 1904 erschienen ist, erläutert und verteidigt Schmoller sein metho­ disches Vorgehen, also das der Historischen Schule, und grenzt sich zugleich ab von einer „konstruierende Methode“, mit der man keine „anschauliche Vorstellung“ bekommen könne. „Die Gesichtspunkte, welche mich bei meinen Vorlesungen beseelen, sind immer die gewesen: 1. so anschaulich zu sein, daß der, welcher die Dinge noch nicht kennt, sie einigermaßen sehen und erfassen kann. Die sogenannte Langeweile der juristischen und staatswissenschaftlichen Vorlesungen beruht meist darauf, daß eine Unsumme von Scharfsinn, Definitionen, Detailwissen auf den Zuhörer eindringt, ohne daß er eine anschauliche Vorstellung von dem hat, wovon geredet wird. 2. Den Studierenden neben den allgemeinen gesicherten Wahrheiten den Gang beizubringen, auf dem sie gefunden sind, die Zweifel darzulegen, welche sie eingeben, die empirischen Grundlagen so im Detail darzulegen, daß er sie sich selbst ableiten kann. Ich weiß wohl, daß es auch eine andere Methode giebt, daß sie teilweise für den Anfänger vorzuziehen ist. Auch in der Nationalökonomie, und gerade auch in der historischen, wird eine konstruierende Methode von mehreren meiner geschätztesten Kollegen mit Virtuosität ­gehandhabt: man geht von wenigen klaren Sätzen und Formeln, von präcisen Definitionen aus und bringt damit Einfachheit und Klarheit in alles, ich möchte sagen, zu viel Einfachheit und oft nur eine scheinbare Klarheit. Ich fand im Leben immer, daß der Hauptfehler in der praktischen Anwendung staatswissenschaftlichen Wissens der sei, daß die der Universität Entwachsenen die gesellschaftlichen Erscheinungen für viel zu einfach halten; sie glauben, dieselben mit wenigen Definitionen und Formeln bemeistern zu können. Meiner Auffassung und Anlage entspricht es, den Anfänger stets auf die Kompliziertheit und Schwierigkeit der Erscheinungen und Probleme aufmerksam zu machen, ihm die verschiedenen Seiten des Gegenstandes zu zeigen … (G. v. Schmoller: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre, Erster Teil, Leipzig 1900, S. VI). Ein letztes einheitliches Gesetz volkswirtschaftlicher Kräftebethätigung giebt es nicht und kann es nicht geben; das Gesamtergebnis volkswirtschaftlicher Ursachen einer Zeit und eines Volkes ist stets ein individuelles Bild, das wir aus Volkscharakter und Geschichte heraus unter Zuhülfenahme allgemeiner volkswirtschaftlicher, socialer und politischer Wahrheiten begreiflich machen, aber entfernt nicht restlos auf seine Ursachen zurückführen können. Über die Gesamtentwickelung der menschlichen Wirtschaftsverhältnisse besitzen wir nicht mehr als tastende Versuche, hypothetische Sätze und teleologische Betrachtungen. Aber wir haben festen Boden unter den Füßen in Bezug auf zahlreiche Elemente, aus denen sich die Volkswirtschaften der einzelnen Länder und Zeiten zusammensetzen. Das Allgemeinste bleibt als das Komplizierteste stets das Unsicherste, vom einzelnen ausgehend dringen wir vor. Die

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einfacheren Verbindungen verstehen wir, die Entwickelung einzelner Seiten können wir kausal ziemlich vollständig erklären, die Geschichte einzelner Wirtschaftsinstitute überblicken wir (G. v. Schmoller: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre, Erster Teil, Leipzig 1900, S. 109).“

• Den Untersuchungsgegenstand, also die Volkswirtschaft, beschreibt Sch. als ein äußerst komplexes, historisch gewachsenes Phänomen, vergleichbar mit einem Organismus. Das Wesen und die Entwicklung der Volkswirtschaft, wie er sie versteht, beschreibt er auf den ersten Seiten seines Grundrisses sehr anschaulich und facettenreich: „Man hat gesagt, der Begriff der Volkswirtschaft sei nur ein Sammelbegriff, eine Abkürzung für eine gewisse Summe von Einzelwirtschaften, es fehle ja die einheitliche, centralistische Leitung, es seien immer die einzelnen Individuen, die wirtschafteten. Als ob im menschlichen Körper nicht auch die einzelnen Zellen die aktiv thätigen Elemente wären und unzählige Vorgänge in ihm sich abspielten, ohne daß ein Bewußtsein hiervon im Centralorgan vorhanden wäre. Uns ist die Volkswirtschaft ein reales Ganzes, d. h. eine verbundene Gesamtheit, in welcher die Teile in lebendiger Wechselwirkung stehen und in welchem das Ganze als solches nachweisbare Wirkungen hat. Niemals werden tausende von Einzelwirtschaften, die verschiedenen Staaten angehören, als „eine Volkswirtschaft“ vorgestellt und zusammengefaßt. Nur wo Menschen derselben Rasse und derselben Sprache, verbunden durch einheitliche Gefühle und Ideen, Sitten und Rechtsregeln, zugleich einheitliche nationale Wirtschaftsinstitutionen haben und durch ein einheitliches Verkehrssystem und einen lebendigen Tauschverkehr verknüpft sind, sprechen wir von einer Volkswirtschaft. Indem die Volkswirtschaft sich als ein relativ selbständiges System von Einrichtungen, Vorgängen und Strebungen entwickelte, indem die wirtschaftlichen Interessen zu selbständiger Vertretung in gewissen besonderen gesellschaftlichen Organen gelangten, wurde das volkswirtschaftliche Leben für die Vorstellungen der Menschen ein begrifflich von Staat und Recht, Kirche und Familienleben, Kunst und Technik getrenntes Gebiet. Die Volkswirtschaft ist so ein Teilinhalt des gesellschaftlichen Lebens; auf natürlich-­ technischem Boden erwachsen, ist ihr eigentliches Princip die gesellschaftliche Gestaltung der wirtschaftlichen Vorgänge. Auch das Technische, die wirtschaftlichen Bedürfnisse, die Gepflogenheiten des Ackerbaues, des Gewerbfleißes, des Handels erscheinen der volkswirtschaftlichen Betrachtung als Züge gewisser Klassen oder des gemeinsamen Volkstums oder bestimmter Völkergruppen. Die gesellschaftlichen Beziehungen und Zusammenhänge des Wirtschaftslebens wollen wir erfassen, wenn wir die Volkswirtschaft studieren. Daher konnten zeitweise die Wert-, Preis-, Geld-, Kredit- und Handelserscheinungen als der Kern der volkswirtschaftlichen Fragen erscheinen. Daher fragen wir, wenn wir die konkreten Züge einer einzelnen Volkswirtschaft erkunden wollen, zwar zuerst nach Größe, Lage und Klima des Landes, nach seinen Naturschätzen und seinen natürlichen Verkehrsmitteln, aber wichtiger ist uns doch, gleich zu erfahren, wie das Volk diese natürlichen Gaben nutze, durch Veranstaltungen einträglich mache; wir wollen wissen, wie groß und dicht die Bevölkerung und die vorhandene Kapitalmenge sei, noch mehr, wie diese Menschen geistig und sittlich beschaffen, technisch geschult, wie ihre Sitten und Bedürfnisse entwickelt, wie sie in Familien, Höfen, Dörfern und Städten organisiert seien, wie Vermögen und Kapital verteilt, Arbeitsteilung und sociale Klassenbildung gestaltet, wie das Marktwesen, der Handel, das Geldwesen geordnet seien, wie Finanzen und staatswirtschaftliche Institutionen die Einzelwirtschaften und den

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wirtschaftlichen Fortschritt beeinflussen. Denn die Volkswirtschaft ist das als ein Ganzes gedachte und wirkende, von dem einheitlichen Volksgeist und von einheitlichen materiellen Ursachen beherrschte System der wirtschaftlich-gesellschaftlichen Vorgänge und Veranstaltungen des Volkes. Zu diesen Veranstaltungen gehört auch der Staat. Ohne eine fest organisierte Staatsgewalt mit großen wirtschaftlichen Funktionen, ohne eine Staatswirtschaft als Centrum aller übrigen Wirtschaften kann eine hochentwickelte Volkswirtschaft nicht gedacht werden. Im Staat wie in der Volkswirtschaft ist eine Einheit psychischer Kräfte vorhanden, die unabhängig von äußerer Organisation wirken; im Staat und in der Volkswirtschaft vollziehen sich zahlreiche Vorgänge auf der Peripherie ohne direkte und bewußte Leitung von einem organisierten Centralpunkt aus. Auch die Volkswirtschaft hat centrale Organe, wie z. B. große Banken, centrale Verkehrsinstitute, Wirtschaftsvertretungen, Handels- und Ackerbauministerien. Nur sind sie nicht so zahlreich und so centralisiert, wie die Organe des Staates. Die politischen Funktionen bedürfen in umfassenderem Maße der einheitlichen Zusammenfassung. „Die Volkswirtschaft ist ein halb natürlich-technisches, halb geistig-sociales System von Kräften, welche zunächst unabhängig vom Staat ihr Dasein haben, verkümmern oder sich entwickeln, die aber bei aller höheren und komplizierteren Gestaltung doch von Recht und Staat feste Schranken gesetzt erhalten, nur in Übereinstimmung mit diesen Mächten ihre vollendete Form empfangen, in steter Wechselwirkung mit ihnen bald die bestimmenden, bald die bestimmten sind“ (G. v. Schmoller: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre, Erster Teil, Leipzig 1900, S. 5–6.)“

• Neben seiner wissenschaftlichen Tätigkeit war Schmoller auch auf dem Gebiete der Sozialpolitik praktisch tätig: Bei der Gründung des Vereins für Socialpolitik im Jahr 1872 war er „eine der stärksten unter den treibenden Kräften“, wie die Berliner Tägliche Rundschau vom 23.06.1913 aus Anlass seines 75. Geburtstages schrieb. „Für den Verein“, heißt es dort weiter, „war es die erste Aufgabe, in der öffentlichen Meinung, bei den Gebildeten und in den Regierungskreisen, einen Umschwung herbeizuführen, zu zeigen, daß das freie Spiel der Kräfte doch schließlich nur auf ein Spiel der freien Kräftigen mit den schwachen Abhängigen hinauslief, wenn man ihm völlig freien Lauf ließ. Mit der Macht der Staatsgewalt waren in der Form neuer Einrichtungen die erforderlichen Dämme zu bauen, hinter denen die Scharen der wirtschaftlich Schwachen Schutz vor den größten Gefahren finden, hinter denen sie vielleicht auch die Kräfte sammeln konnten, um von sich aus den Kampf ums Dasein erfolgreich zu führen. Und die ‚Kathedersozialisten‘, wie die neuen deutschen Nationalökonomen von den alten Freiheitsschwärmern getauft worden waren, hatten Erfolg. Keine Geringeren als der alte Kaiser und Bismarck traten an ihre Seite: der Staat griff ein und die Nichts-als-­ Freihändler gerieten bald ins Hintertreffen, wurden überholte Leute.“ Die Gründung des Vereins für Socialpolitik „richtete sich einerseits gegen die von der deutschen Manchesterschule betriebene Politik des Laissez-faire in der Sozialpolitik und andererseits gegen die sozialrevolutionären Ideen des aufkommenden Sozialismus“ (Verein für Socialpolitik). So trug der Verein wesentlich zur Entstehung der deutschen Sozialversicherung bei (vgl. Abb. 33.1). Unter Reichskanzler Otto von Bismarck wurde hierfür im deutschen Kaiserreich der Grundstein gelegt. Um sozialisti-

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Abb. 33.1  Einnahmen, Ausgaben und Leistungen der Arbeiterversicherung des Deutschen Reiches 1885 bis 1909. (Quelle: Wikimedia/Bundesarchiv, Bild 146-1980-091-21/Unbekannt/CC-­BY-­SA 3.0)

Wichtige Publikationen

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schen Ideen sowie einem Erstarken der Arbeiterbewegung entgegenzuwirken, wurden die folgenden Gesetze verkündet: –– –– –– –– ––

1881: „Kaiserliche Botschaft“: Beginn der Arbeit an den Sozialgesetzen 1883: Krankenversicherung 1884: Unfallversicherung 1889: Alters- und Invalidenversicherung 1911: Rentenversicherung

• Schmoller genoss zu Lebzeiten ein sehr hohes Ansehen und übte mit seiner historischen Methode einen so starken, fast autoritären Einfluss auf die damalige Nationalökonomik aus, dass er als der „Übervater“ des Faches galt. Seine ablehnende Haltung gegenüber der klassischen Ökonomik mit ihren abstrakten Modellen, Theorien und Gesetzen wirkte lange Zeit prägend auf die Entwicklung des Faches in Deutschland ein; nicht immer zum Besten, wie viele Wirtschaftswissenschaftler – auch noch heute – anmerken. Die Auseinandersetzung um die „richtige“ Forschungsstrategie erreichte ihren Höhepunkt im sogenannten „Methodenstreit“ mit →Carl Menger und der von ihm vertretenen Österreichischen Schule. Dieser Antagonismus strahlte noch bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts aus. So griff beispielsweise →Walter Eucken die „große Antinomie“, das Verhältnis zwischen Theorie und Historismus, in seinen Grundlagen der ­Nationalökonomie auf und setzte sich mit ihr kritisch auseinander. Auch heute wird Sch. von vielen Vertretern des Fachs vorgeworfen, er hätte mit seiner historischen Methode nicht nur die Weiterentwicklung der theoretischen Volkswirtschaftslehre in Deutschland verhindert; durch ihn sei die Wirtschaftswissenschaft sogar zu einer reinen Wirtschaftsgeschichtsschreibung verkommen. Positive Auswirkungen der Historischen Schule lassen sich feststellen im Hinblick auf die Wirtschaftssystem- und Wirtschaftsstilforschung, sowie auf den amerikanischen Institutionalismus, der seinen Anfang mit der Gründung der American Economic Association nahm, deren Begründer sich gegen die Alleinherrschaft der Grenznutzenschule wandten und die Notwendigkeit historischer und statistischer Untersuchungen betonten (vgl. Schmölders, S.  71). „Die bleibende Leistung der Schmoller-Schule“, konstatiert Schmölders, „war ihre Zeit- und Wirklichkeitsnähe, die allen vorschnellen Verallgemeinerungen abhold blieb; in dieser Beziehung kann die ökonomische Theorie auch heute noch viel von Schmoller und seinen Mitkämpfern lernen“ (Schmölders, S. 70). Zu einem ähnlichen Schluss gelangt auch Beckerath, wenn er schreibt: „Aber einer Wissenschaft, welche die Grenzen überschreitet, um gemeinsam mit anderen Disziplinen das Wesen der Menschen in seiner Geschichtlichkeit zu erhellen, wird man ihr Recht nicht minder zugestehen müssen. Darin liegt die wahre Aktualität von Schmollers Werk gegenüber einer jeden dem Fach drohenden Horizontverengung“ (in: Recktenwald, S. 379).

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Wichtige Publikationen • Zur Geschichte der nationalökonomischen Ansichten in Deutschland während der Reformationsperiode, 1860 • Zur Geschichte der deutschen Kleingewerbe im 19. Jahrhundert, 1870 • Zur Literaturgeschichte der Staats- und Sozialwissenschaften, 1888 • Zur Social- und Gewerbepolitik der Gegenwart, 1890 • Die Volkswirtschaft, die Volkswirtschaftslehre und ihre Methode, 1893 • Über einige Grundfragen der Socialpolitik und der Volkswirtschaftslehre, 1898 • Einige prinzipielle Erörterungen über Wert und Preis, 1901 • Über das Maschinenzeitalter in seinem Zusammenhang mit dem Volkswohlstand und der sozialen Verfassung der Volkswirtschaft, 1903 • Grundriß der allgemeinen Volkswirtschaftslehre, 2 Bde, 1900 und 1904

Literatur HdSW, Bd. 9, S. 135–137 Hesse (2009), S. 491–492 Krause/Graupner/Sieber (1989), S. 493–496 Linß (2014), S. 89–93 Piper (1996), S. 133–137 Recktenwald (1971), S. 365–380 Schmölders (1962), S. 64–72 und 217–235 Starbatty (1989/2012), Bd. 2, S. 97–118

Internet Internetseite des Vereins für Socialpolitik: https://www.socialpolitik.de G. v. Schmoller: Grundriß der allgemeinen Volkswirtschaftslehre [online]: http://www.deutschestextarchiv.de/book/view/schmoller_grundriss01_1900

Menger, Carl

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Wächter, Ökonomen auf einen Blick, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29069-6_34

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Leben & Karriere • Menger studierte Rechts- und Staatswissenschaften in Prag (ab 1859) und Wien (1860–1863). • 1863 ging M. als Journalist nach Lemberg. Als die Lemberger Zeitung 1864 Bankrott ging, siedelte er nach Wien über. In den folgenden Jahren war er als Herausgeber und Redakteur beim neugegründeten Wiener Tageblatt tätig und schrieb über wirtschaftliche Themen. Zur gleichen Zeit arbeitete er an seiner Doktorarbeit. • Nach seiner Promotion in Krakau zum Dr. iur (1867) ging M. in die Presseabteilung des österreichischen Ministerratspräsidiums, wo er bis 1875 tätig war und die Aufgabe hatte, Marktübersichten zu verfassen. Die starken Preisschwankungen während der Wiener Gründerzeit weckten sein wissenschaftliches Interesse und er begann mit einem intensiven Studium nationalökonomischer Schriften. Im Herbst 1867 notiert er in seinem Tagebuch: „Werfe mich auf Nationalökonomie. Studiere Rau, etc.“ • 1872 habilitierte M. sich mit der ein Jahr zuvor veröffentlichten Arbeit Grundsätze der Volkswirthschaftslehre an der Universität Wien (siehe Abb. 34.1). Ab 1873 wurde er dort außerordentlicher Professor. • 1876 wurde M. zum Lehrer und Reisebegleiter des achtzehnjährigen Kronprinzen Ru­ dolf bestellt. Er unterrichtete ihn in Nationalökonomie und Statistik und begleitete ihn in den folgenden zwei Jahren auf dessen Studienreisen durch die Schweiz, England, Schottland, Irland, Frankreich und Deutschland. M. übte einen großen Einfluss auf den Kronprinzen aus und beeinflusst ihn mit seiner liberal-demokratischen Haltung. So schlug er ihm beispielsweise das Modell einer sozialen Monarchie vor. Nach der Reise

Abb. 34.1  Die Wiener Universität (um 1880). (Quelle: Wikimedia)

Werk & Wirkung













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veröffentlichen die beiden anonym die Schrift Der österreichische Adel und sein con­ stitutioneller Beruf. Mahnruf an die aristokratische Jugend (1878). Obwohl M. in Verdacht stand, an dieser polemischen Schrift mitgewirkt zu haben, wurde er 1879 zum ordentlichen Professor für Politische Ökonomie an der Universität Wien ernannt. Die Mitte der 80er-Jahre standen ganz im Zeichen des sog. Methodenstreits, in dem sich M. mit dem damaligen führenden Vertreter der Historischen Schule, →Gustav Schmoller, stritt. Seit Ende der 80er-Jahre beschäftigte sich M. verstärkt mit Fragen des Geldes. In den 90er-Jahren veröffentlichte M. einige wichtige geldtheoretische und geldpolitische Schriften, u. a. auch den berühmten Aufsatz Geld im Handwörterbuch der Staatswissenschaften. 1892 war M. in der Österreichisch-Ungarischen Währungskommission tätig und maßgeblich beteiligt an der Wiedereinführung der Goldwährung. In dieser Kommission waren auch einige von M.s Schülern vertreten, wie z.  B. →Eugen von Böhm-­ Bawerk und Emil Sax. Die Tätigkeit in der Währungskommission regte M. an, sich intensiv mit der Geldtheorie auseinanderzusetzen. So erschien ebenfalls 1892 im Handwörterbuch der Staatswissenschaften (HdStW) sein Artikel Geld, der nach Weinberger „von bleibendem Werte“ ist (in: HdSW, S. 302). M. betrachtet das Geld als eine Ware, die ihren Verkehrswert „aus den nämlichen Ursachen ableitet wie die übrigen Objekte des Verkehrs“. 1896 wurde M. zum Hofrat und vier Jahre später zum Mitglied des Herrenhauses auf Lebenszeit ernannt. Er war Mitglied zahlreicher Akademien der Wissenschaften und erhielt mehrere Ehrendoktorwürden. Ab dem Wintersemester 1903/1904 musste M. wegen seiner unehelichen Vaterschaft sein Lehramt aufgeben. Danach beschäftigte er sich mit Psychologie und Philosophie.

Werk & Wirkung • Menger verfasste zwei Hauptwerke, die in einem engen Zusammenhang stehen: Die 1871 erschienenen Grundsätze der Volkswirthschaftslehre, mit denen er sich ein Jahr später an der Universität Wien habilitierte und die den Methodenstreit mit →Gustav Schmoller auslösten sowie die Streitschrift Untersuchungen über die Methode der Socialwissenschaften und der politischen Oekonomie insbesondere aus dem Jahr 1883. Daneben seien noch drei weitere methodologische Arbeiten erwähnt, die in den darauffolgenden Jahren folgten: Die Irrthümer des Historizismus in der Deutschen Nationalökonomie (1884), Zur Kritik der Politischen Oekonomie (1887) und die Grundzüge einer Klassifikation der Wirtschaftswissenschaften (1889).

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• Menger empfand die zu seiner Zeit noch vorherrschenden Wert- und Preistheorien der Klassiker mit ihrer Betonung der Angebotsseite (Arbeitswertlehre) als unbefriedigend. Daher setzt er sich in seinem 1871 erschienenen Hauptwerk Grundsätze der Volkswirthschaftslehre kritisch mit den klassischen Lehren auseinander mit dem Ziel, eine eigene „einheitliche Preistheorie“ zu entwickeln. Im Mittelpunkt seiner „theoretischen Volkswirtschaftslehre“ steht eine Wert- und Preistheorie, die auf subjektivistischen bzw. psychologischen Faktoren basiert. Der individuelle Nutzen, den die Güter dem Konsumenten stiften, wird zum Dreh- und Angelpunkt seiner Theorie. Damit stellte M. die Lehre der Klassik, die noch eine politische Ökonomie im wahrsten Sinne des Wortes war, da sie gesellschaftliche Betrachtungsweisen und makroökonomische Größen mit einbezog, auf den Kopf. Die Auffassungen M.s von der Volkswirtschaftslehre sowie sein methodisches Vorgehen beschreibt er im Vorwort seiner Grundsätze: „Die theoretische Volkswirtschaftslehre beschäftigt sich nicht mit praktischen Vorschlägen für das wirthschaftliche Handeln, sondern mit den Bedingungen, unter welchen auf die Menschen die auf die Befriedigung ihrer Bedürfnisse gerichtete vorsorgliche Thätigkeit entfalten. … Eine besondere Aufmerksamkeit haben wir der Erforschung des ursächlichen Zusammenhanges zwischen den wirthschaftlichen Erscheinungen an den Producten und den bezüglichen Productions-Elementen zugewandt und zwar nicht nur wegen der Feststellung einer der Natur der Dinge entsprechenden, alle Preiserscheinungen (somit auch den Kapitalzins, den Arbeitslohn, den Grundzins u. s. f.) unter einem einheitlichen Gesichtspunkte zusammenfassenden Preistheorie, sondern auch wegen der wichtigen Aufschlüsse, welche wir hiedurch über manche andere bisher völlig unbegriffene wirtschaftliche Vorgänge erhalten. Es ist aber eben dieses Gebiet unserer Wissenschaft dasjenige, auf welchem die Gesetzmässigkeit der Erscheinungen des wirthschaftlichen Lebens am deutlichsten zu Tage tritt (Menger: Grundsätze der Volkswirthschaftslehre, Wien 1871, S. IX–X).“

M. weist darauf hin, dass seine Arbeit „auf der Grundlage von Vorarbeiten erfolgt, welche fast ausnahmslos deutscher Forscherfleiss geschaffen hat“ (S. X). So konnte er auf die Erkenntnisse „von vielen ausgezeichneten Gelehrten“ wie z. B. Friedrich Hermann, →Karl Heinrich Rau und →Wilhelm Roscher zurückgreifen, von denen er viele Begrifflichkeiten übernahm. Beispielsweise stammt von Hermann der Begriff „freie Güter“, ebenso wie die – erst durch die österreichische Schule populär gewordene – Definition von „Bedürfnis“, nämlich „das Gefühl eines Mangels, mit dem Streben, ihn zu beseitigen“ (1870, S. 5). Und schließlich konnte M. „an die Preistheorie der gesamten deutschen Nationalökonomie um die Mitte des 19. Jahrhunderts anknüpfen“ (Streiss­ ler, in: Starbatty, S. 124), in der bereits die Nachfrage auf den Gebrauchswert (Nutzen) zurückgeführt wurde. Insbesondere griff er dabei auf die Gebrauchswertlehre von Her­ mann Heinrich Gossen zurück. • Mit seiner subjektiven Wertlehre leitete M. (etwa zeitgleich mit Wiliam St. Jevons und →Léon Walras) die „marginalistische Revolution“ ein. Das Individuum, der einzelne Mensch mit seinen Bedürfnissen rückte nun in den Mittelpunkt der Untersuchungen.

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Insbesondere die subjektiven Bewertungen, also psychologische Aspekte, werden zum Dreh- und Angelpunkt der Wiener Schule. Der Wert von Gütern wird nicht mehr – wie zuvor bei den Klassikern – von der Angebotsseite, also den Produktionskosten abgeleitet, sondern zurückgeführt auf ein individuelles Wertempfinden. Der Wert der Güter ergibt sich für M. durch „die Bedeutung, welche concrete Güter oder Güterquantitäten für uns dadurch erlangen, dass wir in der Befriedigung unserer Bedürfnisse von der Verfügung über dieselben abhängig zu sein uns bewusst sind“ (S. 78). Somit kommt er zu dem Schluss: „Der Güterwerth ist in der Beziehung der Güter zu unseren Bedürfnissen begründet, nicht in den Gütern selbst“ (S. 85). Der Wert spiegelt lediglich die Bedeutung der subjektiven Bedürfnisbefriedigung wider. Und diese kann sich von Situation zu Situation ändern. So stellt sich mit steigender Befriedigung des Bedürfnisses eine Wertminderung ein. Daher spielt bei der Wertbestimmung auch das Sättigungsgesetz eine entscheidende Rolle, die M. mittels einer Skala veranschaulicht. „Verschiedenheit der Grösse der Bedeutung der einzelnen Bedürfnissbefriedigungen. (Subjectives Moment.) Was nun vorerst die Verschiedenheit der Bedeutung anbelangt, welche die einzelnen Bedürfnissbefriedigungen für uns haben, so ist es eine Thatsache der gewöhnlichsten Erfahrung, dass jene Bedürfnissbefriedigungen für die Menschen von der höchsten Bedeutung zu sein pflegen, von welchen die Erhaltung ihres Lebens abhängt, und dass das Mass der Bedeutung der übrigen Bedürfnissbefriedigungen sich für dieselben je nach dem Grade (Dauer und Intensivität) der Wohlfahrt abstuft, welche von denselben abhängig ist. Sind demnach wirthschaftende Menschen in der Lage, eine Wahl treffen zu müssen zwischen der Befriedigung eines Bedürfnisses, von welcher die Erhaltung ihres Lebens, und einer anderen, von welcher lediglich ihr grösseres oder geringeres Wohlbefinden abhängt, so pflegen sie der ersteren den Vorzug einzuräumen, und nicht minder Bedürfnissbefriedigungen, von welchen ein höherer Grad ihres Wohlbefindens, also bei gleicher Intensivität ein länger andauerndes, bei gleicher Dauer ein intensiveres Wohlbefinden abhängig ist, solchen vorziehen, bei welchen das entgegengesetzte Verhältniss obwaltet. … Haben wir solcherart gesehen, dass die Bedeutung, welche die verschiedenen Bedürfnissbefriedigungen für die Menschen haben, eine sehr ungleiche ist, indem es Bedürfnissbefriedigungen gibt, welche für dieselben die volle Bedeutung der Erhaltung ihres Lebens haben, andere, von denen ihre Wohlfahrt im höheren, noch andere, von denen sie in geringerem Trasse bedingt ist und so hinab bis zu jenen Bedürfnissbefriedigungen, von welchen irgend ein geringfügier flüchtiger Genuss abhängt, so zeigt uns eine sorgfältige Betrachtung der Lebenserscheinungen, dass diese Verschiedenheit in der Bedeutung der einzelnen Bedürfnissbefriedigungen nicht nur bei der Befriedigung verschiedener Bedürfnisse im Grossen und Ganzen, sondern auch bei der mehr oder minder vollständigen Befriedigung ein und desselben Bedürfnisses zu beobachten ist. … Wir können demnach mit Rücksicht auf die grössere oder geringere Vollständigkeit der Befriedigung eines und desselben Bedürfnisses eine ähnliche Beobachtung anstellen, wie dies oben mit Rücksicht auf die verschiedenen Bedürfnisse der Menschen geschehen ist. Haben wir nämlich oben gesehen, dass die Befriedigung der verschiedenen Bedürfnisse der Menschen für die selben eine sehr ungleiche Bedeutung hat und diese letztere sich von der Bedeutung, welche unser Leben für uns hat, bis zu jener hinab, welche wir einem flüchtigen geringfügigen Genusse beilegen, abstuft, so sehen wir nunmehr, dass die Befriedigung irgend eines bestimmten Bedürfnisses bis zu einem gewissen Grade der Vollständigkeit für uns die

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relativ höchste, die darüber hinausgehende Befriedigung aber eine immer geringere Bedeutung hat, bis zuletzt ein Stadium eintritt, wo eine noch vollständigere Befriedigung des betreffenden Bedürfnisses den Menschen gleichgiltig ist und schliesslich ein solches, wo jeder Act, welcher die äussere Erscheinung der Befriedigung des betreffenden Bedürfnisses hat, nicht nur keine Bedeutung mehr für die Menschen besitzt, sondern ihnen vielmehr zur Last, zur Pein wird. Um nun zum Zwecke der Erleichterung des Verständnisses der nachfolgenden schwierigen Untersuchungen zu einem ziffermässigen Ausdruck der verschiedenen Grössen zu gelangen, von welchen wir soeben gesprochen haben, wollen wir die Bedeutung jener Bedürfnissbefriedigungen, von welchen unser Leben abhängt, mit 10, und die stufenweise sich herabmindernde Bedeutung der übrigen Bedürfnissbefriedigungen mit 9, 8, 7, 6 u. s. f. bezeichnen, so zwar, dass wir eine Scala der Bedeutung der verschiedenen Bedürfnissbefriedigungen erlangen, welche mit 10 beginnt und mit 1 endet. Bringen wir nun die, in dem Masse, als das einzelne Bedürfniss bereits befriedigt ist, sich herabmindernde Bedeutung der ferneren Acte der Befriedigung desselben bei jeder einzelnen der obigen verschiedenen Bedürfnissbefriedigungen gleichfalls zum ziffermässigen Ausdruck, so ergiebt sich für jene Bedürfnissbefriedigungen, von welchen bis zu einem gewissen Punkte unser Leben, hierauf ein mit dem Grade der Vollständigkeit der erfolgten Bedürfnissbefriedigung sich herabminderndes Wohlbefinden abhängig ist, eine Scala, die mit 10 beginnt und mit 0 endet, für jene Bedürfnissbefriedigungen, deren höchste Bedeutung gleich 9 ist, eine Scala, die mit dieser Ziffer beginnt, und gleichfalls mit 0 endet u. s. f. Die zehn Scalen, die sich solcherart ergeben, sind in dem Folgenden veranschaulicht: (Quelle: C.  Menger: Grundsätze der Volkswirthschaftslehre, Wien 1871, S.  88–93 (gekürzt)“

)

Diese Skala entspricht praktisch den Gossenschen Gesetzen; denn M. kann nicht nur zeigen, dass mit zunehmender Bedürfnisbefriedigung der Wert des Gutes abnimmt; er

Werk & Wirkung

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gelangt auch zu dem Schluss, dass der Wert eines Gutes gleich dem Grenznutzen ist, den dieses Gut erbringt. Den Begriff „Grenznutzen“ verwendete M. allerdings nicht; erst Friedrich v. Wieser wird diesen 1884 erstmals gebrauchen. „Es sind demnach in jedem concreten Falle von der Verfügung über eine bestimmte Theilquantität der einer wirthschaftenden Person verfügbaren Gütermenge nur jene der durch die Gesammtquantität noch gesicherten Bedürfnissbefriedigungen abhängig, welche für diese Person die geringste Bedeutung unter diesen letztern haben und der Werth einer Theilquantität der verfügbaren Gütermenge ist für jene Person demnach gleich der Bedeutung, welche die am wenigsten wichtige der durch die Gesammtquantität noch gesicherten und mit einer gleichen Theilquantität herbeizuführenden Bedürfnisbefriedigungen für sie haben (C.  Menger, a.a.O., S. 98 f.).“

In Verbindung damit steht seine Auffassung vom „subjektiven Tausch“, wonach die Menschen tauschen, um einen größeren Wert zu erhalten als sie hingeben, also um einen Nutzenzuwachs zu erreichen. Die Preisbildung beruht auf dem „Gesetz der Grenzpaare“. Der Preis ergibt sich aus der Wertschätzung des Produkts von Seiten der Nachfrager und Anbieter entsprechend einer Bedürfnisskala. • →Ludwig v. Mises, der zur zweiten Generation der Wiener Schule gehört, sieht in M.s Grundsätzen der Volkswirthschaftslehre „den Anbruch einer neuen Epoche in der Geschichte unserer Wissenschaft“ (Mises 1929). Das Werk, mit dem sich M. habilitieren wollte, erschien zu einer Zeit, als die Historische Schule sich bereits fest etabliert hatte und auf ihrem Höhepunkt befand. Durch M.s Arbeit sah sie sich plötzlich wieder konfrontiert mit einer rein theoretischen, „abstrakten“ Lehre. Dazu kam, dass der junge Ökonom, der sich anschickte, eine Professur an der Wiener Universität zu erhalten, die Dreistigkeit besaß, in seinem Werk die herrschende Lehre der Historischen Schule, die auch die Universitäten inhaltlich und personell dominierte, zu kritisieren und deren Theoriefeindlichkeit zu beklagen. Dem „gegenwärtigen Zustand unserer Wissenschaft“ attestierte er „Unfruchtbarkeit der bisherigen Bemühungen, die empirischen Grundlagen derselben zu gewinnen“ (S. VI). Es kam zur Auseinandersetzung zwischen Schmol­ ler (als führender Vertreter der jüngeren Historischen Schule) und M. (als Begründer der österreichischen Grenznutzenschule), die als erster Methodenstreit bekannt geworden ist (siehe Abb. 34.2). Dieser Streit um die methodologische Deutungshoheit drohte M.s wissenschaftliche Karriere zu gefährden: „Die Männer, die Menger bei seinem Auftreten an der Universität antraf, hatten für seine Gedanken und das ganze Gebiet, das er befruchten konnte, kaum Verständnis“ und so „sah er sich vollständiger Verständnislosigkeit und damit zusammenhängender Feindseligkeit gegenüber“ (Schumpeter, S. 124 f.). Bevor er überhaupt seine Lehre ausbauen konnte, musste er ihr zunächst Anerkennung verschaffen – und ging zum Angriff auf die Historische Schule über. In seiner Schrift Untersuchungen über die Methoden der Socialwissenschaften und der Politischen Ökonomie insbesondere von 1883

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34  Menger, Carl

Der Methodenstreit Grenznutzenschule

Historische Schule

Wortführer: Carl Menger

Wortführer: Gustav Schmoller

Deduktion

Induktion

einseitige Betonung der gedanklichen Abstraktion

einseitige Ablehnung jeglicher theoretischer Abstraktion

formale Anerkennung von „Gesetzen“ in der Ökonomie

prinzipielle Ablehnung objektiver ökonomischer Gesetze

Ignorierung konkreter ökonomischer Tatbest ände

Ü berbewertung empirischer

formale Logik ohne Inhalt

Deskription

Theorie ohne Stoff, inhaltslose Theorien

Stoff ohne Theorie, gedankenlose Stoffsammlung

Detailstudien

Abb. 34.2  Quelle: nach G. Fabiunke: Geschichte der bürgerlichen politischen Ökonomie, Berlin (Ost) 1975, S. 258

polemisierte M. scharf und forderte eine Ergänzung der historischen Methode durch eine „exakte Richtung der theoretischen Forschung“. „Die exacte Richtung der theoretischen Forschung soll uns nun die Gesetze lehren, nach welchen … sich aus … den elementarsten Factoren der menschlichen Wirthschaft, in ihrer Isolirung von anderen auf die realen Menschheitserscheinungen Einfluss nehmenden Factoren, nicht das reale Leben in seiner Totalitat, sondern die complicirteren Phänomene der menschlichen Wirthschaft entwickeln; sie soll uns dies lehren nicht nur rücksichtlich des Wesens, sondern auch rücksichtlich des Masses der obigen Phänomene, und uns solcherart ein Verständnis der letzteren eröffnen, dessen Bedeutung jenem analog ist, welches die exacten Naturwissenschaften uns rücksichtlich der Naturerscheinungen bieten (S. 45).“

In einer darauffolgenden Besprechung kritisierte →Schmoller M. scharf mit Formulierungen wie z. B. „weltflüchtige stubengelehrte Naivität“, „scholastische Denkübungen“, „geistige Schwindsucht“. In seiner Gegenschrift Die Irrtümer des Historismus in der deutschen Nationalökonomie (1884) wirft wiederum M. dem Historismus „Einseitigkeit“ vor und bezeichnet ihn als eine „Hilfswissenschaft“, die sich überschätzt. „Indem unsere historischen, zumal unsere neuhistorischen Volkswirthe sich nahezu ausschliesslich historischen Studien hingeben, verfallen sie demnach nicht nur in die Einseitigkeit, an Stelle jener Wissenschaft, deren Bearbeitung ihnen zunächst obliegt, eine Hilfswissenschaft derselben zu setzen, … Sie beschäftigen sich nur mit Einer von den zahlreichen

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Hilfswissenschaften der politischen Oekonomie und zwar noch überdies mit einer solchen, welche uns nur einen Theil des zur Feststellung der Wahrheiten dieser letzteren nöthigen empirischen Materials darzubieten vermag, während sie doch die politische Oekonomie selbst zu bearbeiten wähnen. Die obige Ansicht ist jener des Kärrners vergleichbar, welcher für den Architekten gelten wollte, weil er einige Karren Steine und Sand zum Bauwerke geführt hatte (S. 46).“

• Auf diese Schrift reagierte Schmoller nur noch mit der Bemerkung, dass er „solche persönlichen Angriffe ungelesen in den Papierkorb“ werfe. Dies war jedoch keine Kapitulation Schmollers; der Methodenstreit ging Jahrzehnte lang unversöhnt weiter und beschäftigte noch →Walter Eucken, der die „große Antinomie“ beklagt, wie auch →Ed­ gar Salin, der die „reine“ Theorie massiv kritisierte und eine „anschauliche“ Methode forderte, die u. a. auch historische Aspekte beinhaltet. • Menger führte als einer der Ersten die subjektive Werttheorie und somit die Psychologie in die Nationalökonomie ein. Er gilt als der Begründer der Österreichischen Grenz­ nutzenschule oder, wie sie auch genannt wird, der Wiener Schule. Deren Lehre wurde vor allem von M.s Schülern Friedrich v. Wieser und →Eugen von Böhm Bawerk „in theoretischer Analyse weiterentwickelt und zu einem einheitlichen, in sich geschlossenen System ausgebaut“ (Stavenhagen, S. 238). Söllner beanstandet, dass M.s Analyse von Tauschvorgängen „relativ primitiv“ sei, seine Preistheorie „nicht befriedigen“ könne und auch seine Aussagen zur wettbewerblichen Preisbildung „sehr vage“ seien, sodass er konstatiert: „Insgesamt bleibt Menger aufgrund seines analytischen und mehr intuitiven Vorgehens deutlich hinter Cournot, Gossen und Thünen zurück; er lehnt die mathematische Analyse und das Denken in Gleichgewichten ab, so dass er nicht zu den Gründervätern der neoklassichen Ökonomie gezählt werden kann“ (Söllner, S. 229). Zu dem von Menger ausgelösten Methodenstreit und insbesondere zur Frage, wer als Sieger aus diesem hervorgegangen sei, gibt es unterschiedliche Ansichten. Dass er ihn für sich entschieden hätte, kann angesichts der Tatsache, dass er noch Jahrzehnte hindurch die deutsche Nationalökonomie beschäftigte und auch die Personalpolitik an deutschen Universitäten beeinflusste, nur schwer behauptet werden. Aus marxistischer Sicht war der Methodenstreit „kein Streit um die Durchsetzung wissenschaftlicher Methoden“. Beide Richtungen seien von „unwissenschaftlichen vulgärökonomischen Positionen“ ausgegangen, nämlich „von einer unzulässigen Trennung der dialektischen Einheit von Logischem und Historischem und deren einseitiger idealistischer Verabsolutierung“. Vielmehr sei es darum gegangen, „wie die bürgerliche politische Ökonomie den neuen Anforderungen zur Aufrechterhaltung der kapitalistischen Ordnung … besser gerecht werden könne“ (Krause/Graupner/Sieber, S.  358). Streissler sieht in der Schule M.s „ein Gefäß des ökonomischen Liberalismus“ und betrachtet es als „Ironie der Geschichte“, dass sich klassisch-liberale Ökonomen „in England und den Vereinigten Staaten auf ‚Austrian Economics‘ als ihre intellektuelle Basis, auf die Österreichische Schule als einen letzten Hort und eine theoretische Fundierung des Liberalismus berufen statt auf ihre eigene, jahrhundertealte Tradition“ (in: Starbatty, S. 134).

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Wichtige Publikationen • Grundsätze der Volkswirthschaftslehre, 1871 • Unterssuchungen über die Methode der Socialwissenschaften und der politischen Ökonomie insbesondere, 1883 • Die Irrthümer des Historismus in der deutschen Nationalökonomie, 1884 • Zur Kritik der politischen Ökonomie, 1887 • Beiträge zur Währungsfrage in Österreich-Ungarn, 1892 • Der Übergang zur Goldwährung, 1892

Literatur HdSW, Bd. 7 (1961), S. 301–303 Krause/Graupner/Sieber (1989), S. 359–362 Kurz (2008), Bd. 1, S. 306–325 K. Leube (2007): Carl Menger: Vordenker der österreichischen Schule der Nationalökonomie. In: Schweizer Monatshefte: Zeitschrift für Politik, Wirtschaft, Kultur, Heft 5, S. 56–57 L. v. Mises: Karl Menger und die Oesterreichische Schule der Nationalökonomie. In: Neue Freie Presse vom 29./30. 01. 1929 NDB (1994), Bd. 17, S. 72–74 Piper (1996), S. 91–96 Schmölders (1966), S. 73–78 Schumpeter (1954): Dogmenhistorische und biographische Aufsätze Söllner (2015), S. 41–42; 228–229 Starbatty (1989/2012), Bd. 2, S. 119–134 Stavenhagen (1964), S. 235–238

Internet Mengers Werke online: http://oll.libertyfund.org/people/4055

Marshall, Alfred

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Wächter, Ökonomen auf einen Blick, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29069-6_35

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Leben & Karriere • Mit neun Jahren (1851) wurde Marshall von seinem Vater, dem dessen Begabung aufgefallen war, in die Merchant Taylors Schule geschickt. Als Kind und Jugendlicher litt M. unter der strengen Erziehung seines Vaters, die der von →J. St. Mill sehr stark ähnelte. Der Vater hatte für den jungen Alfred den Beruf eines Geistlichen vorgesehen. Dieser war jedoch fasziniert von der Mathematik, für die er, wie sein Lehrer feststellte, auch übermäßig talentiert war. So schlug M. ein Stipendium für das St. John’s College in Oxford, wo er eine Ausbildung zum Priester erhalten sollte, aus und ging – mit finanzieller Unterstützung eines Onkels – nach Cambridge, um dort das Studium der Mathematik aufzunehmen. • Nach dem Abschluss erhielt M. ein Fellowship. In dieser Zeit begann er, sich mit den sozialen Problemen seines Landes auseinanderzusetzen. Um mehr über die Ursachen der Armut und die Probleme der Arbeiter zu erfahren, suchte er in den Ferien die Elendsquartiere der englischen Städte auf. Schnell wurde ihm klar, dass er, um die Ursachen verstehen zu können, die Funktionsweise der Wirtschaft lernen müsse. Daher wandte er sich der Poltischen Ökonomie zu und studierte in den Jahren 1866 bis 1868 die Werke von →A. Smith, →D. Ricardo, →J. St. Mill und →A. Cournot. • 1868 begab M. sich auf eine Studienreise nach Deutschland, wo er die Werke deutscher Nationalökonomen kennenlernte, wie z.  B. →K.  H. Rau, →J.  H. v. Thünen und →W. Roscher. • Nach seiner Rückkehr, 1868, erhielt M. eine Anstellung als Dozent für Moralwissenschaften am St. John’s College in Cambridge. Neben Logik und Ethik unterrichtete er nun auch verstärkt Politische Ökonomie. • Wissenschaftliche Forschungen führten M. im Jahr 1875 in die USA. Während seines viermonatigen Aufenthalts suchte er wichtige Industriestandorte auf und machte Bekanntschaft mit führenden Ökonomen. Das Ziel seiner Amerikareise war die „Untersuchung des Problems des Schutzzolles in einem jungen Land“. „Die Amerika-Reise machte einen starken Eindruck auf ihn und beeinflußte alle seine zukünftigen Arbeiten“ (Keynes, in: Recktenwald, S. 386). • 1876 verlobte sich M. mit seiner ehemaligen Schülerin Mary Paley, die er ein Jahr später heiratet. Sie hatte von der Cambridge University den Auftrag erhalten, ein Lehrbuch zu verfassen, das sie schließlich in Zusammenarbeit mit ihrem Mann schrieb und 1879 unter dem Titel Economics of Industry veröffentlichte. • 1877 verließ M. Cambridge und wurde Professor für Politische Ökonomie in Bristol, wo er den Posten des Direktors erhielt. • Von 1881 bis 1882 verbrachte M. zusammen mit seiner Frau in Italien einen „Erholungsurlaub“. Auf Sizilien setzte er schließlich seinen Plan in die Tat um und begann an seinen Principles zu schreiben.

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• 1883 erhielt M. eine Dozentur am Balliol College in Bristol. Seine Karriere dort „war kurz, aber erfolgreich“ und er nahm „eine angesehene Stellung ein“ (Keynes). • Im Januar 1885 kehrte M. als Professor für Politische Ökonomie nach Cambridge zurück. In seiner berühmten Antrittsvorlesung erklärte er: „Es wird mein dringendstes Bemühen sein, die Zahl jener zu erhöhen, die die Universität Cambridge mit kühlem Kopf und warmem Herzen in die Welt entsendet; Leute, die bereit sind, ihr Bestes zu geben, um die sozialen Leiden ihrer Umwelt zu lindern; entschlossen, sich erst zufrieden zu geben, wenn sie allen die wichtigsten Voraussetzungen für ein gebildetes und kultiviertes Leben eröffnet haben. (Memorials of Alfred Marshall, London 1925, S. 174; zit. n. Samuelson/Nordhaus: Volkswirtschaftslehre, München 2010, S. 43)“



• • •

M. gewann hier eine große Anhängerschaft und es entstand die sog. Cambridge-School, deren Gründer M. ist. Zu seinen Schülern gehörten u. a. →J. M. Keynes, der später zu einem der prominentesten Kritikern M.s avancieren und →A. C. Pigou, der M.s Nachfolge in Cambridge antreten wird. Die Jahre von 1885 bis 1900 waren die produktivste Zeit in M.s Karriere. Er befasste sich hauptsächlich mit der Ausarbeitung seiner Principles. Auch lud er regelmäßig Arbeiterführer, Gewerkschafter und Genossenschafter über das Wochenende zu sich nach Hause ein, wo Vorträge und Diskussionen stattfanden. 1890 – im Erscheinungsjahr seiner Principles – war er an der Gründung der Royal Economic Society beteiligt. Von 1891 bis 1894 war M. in der Royal Commission on Labour tätig. 1908 gab er seinen Lehrstuhl auf und widmete sich seiner schriftstellerischen Tätigkeit. Bis zu seinem Tod am 13.07.1922 lebte M. in Cambridge und vollendete, unterstützt durch seine Frau, noch seine zwei letzten Werke Industry and Trade und Money, Credit and Commerce.

Werk & Wirkung • Marshalls Hauptwerk, die Principles of Economis (dt.: Handbuch der Volkswirtschaftslehre, 1905), erschien im Jahre 1890. Schon der Titel war ein Novum! M. wollte die Volkswirtschaftslehre als Wissenschaft und als Studienfach etablieren und die „Economics“ auf eine Stufe heben mit „Physics“ oder „Mathematics“. Die Principles entwickelten sich zu einem Bestseller und verdrängten nicht nur sehr bald das bis dahin führende Standardwerk seines Landsmannes → J.  St. Mill, die Principles of Political Economy von 1848. Auch setzte sich „Economics“ als Fachbezeichnung durch gegen „Political Economy“. Die Principles wurden für fast ein halbes Jahrhundert zum führenden Standardwerk der Volkswirtschaftslehre im angelsächsischen Raum. „Wenn es überhaupt ein einführendes Lehrbuch gibt“, schrieb Keynes, „so war es … wahrschein-

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lich das beste seiner Art, das je verfaßt worden ist“ (Recktenwald, S. 392). 1905 erschien das Werk auch in deutscher Übersetzung unter dem Titel Handbuch der Volkswirtschaftslehre, allerdings nur in einer Auflage von 1500 Exemplaren. M. wollte sein Buch nicht nur für Wissenschaftler schreiben, sondern auch für Praktiker. Daher entschloss er sich dazu, die mathematischen Berechnungen und theoretischen Ausführungen als „Kleingedrucktes“ in den Anmerkungen und in einem Anhang zu verbergen, womit der Lesefluss empfindlich gestört wird. Auch fehlt es dem Werk mit seinem labyrinthischen Aufbau an Übersichtlichkeit. M. hatte sein Werk ursprünglich auf vier oder fünf Bände angelegt; es blieb aber nur bei dem einen, ersten Band, der die Grundlagen enthält. • Der Aufbau der Principles erfolgt in sechs Büchern, die wiederum in Kapitel und Paragraphen unterteilt sind: Das I. Buch gibt einen „allgemeinen Überblick“ über die Wirtschaftsgeschichte, die Entwicklung der Nationalökonomie und die Methodenlehre. Das II. Buch führt in „einige Grundbegriffe“ ein, wie Reichtum, Produktion, Konsumtion, Arbeit und Existenzbedarf sowie Kapital und Einkommen. Das III. Buch mit dem Titel „Über die Bedürfnisse und deren Befriedigung“ behandelt u. a. in Kap. 4 die Elastizität der Nachfrage. Das IV. Buch handelt von den „Faktoren der Produktion“. Neben den bekannten drei Faktoren Arbeit, Boden und Kapital führt M. ­bemerkenswerter Weise einen vierten Produktionsfaktor ein: die Organisation. In dem Zusammenhang schließen sich u. a. Kapitel über Arbeitsteilung, Unternehmenskonzentration, Großbetriebe und Geschäftsleitung an. Aus heutiger Sicht mutet eine andere Auffälligkeit sehr modern an: Das gesamte Kap. 6 wird der „gewerblichen Ausbildung“ gewidmet. In Kap. 13 wird die Lehre von der repräsentativen Firma dargestellt. Berühmtheit erlangte das V. Buch, in welchem die „Theorie des Gleichgewichts von Angebot und Nachfrage“ dargestellt wird. Nach grundsätzlichen Ausführungen über den Markt widmet sich M. den Bedingungen von Nutzen und Nachfrage sowie Kosten und Angebot und untersucht in seiner Partialanalyse die allgemeinen Beziehungen für Angebot und Nachfrage auf einzelnen Märkten. Im VI. Buch mit dem Titel „Wert oder Verteilung und Tausch“ befasst M. sich in mehreren Kapiteln mit dem Arbeitslohn, mit dem Kapitalzins, dem Gewinn vom Kapital, der Grundrente, der Verteilung sowie schließlich mit dem Einfluss des Fortschritts auf den Wert. Den Abschluss bildet ein rund 20 Seiten starker mathematischer Anhang. • Marshalls Angebots- und Nachfrageanalysen sind, wie →Samuelson in seinem Lehrbuch schreibt, „das wichtigste und nützlichste Werkzeug der Mikroökonomie.“ Daher wird das V. Buch der Principles häufig als das Herzstück bezeichnet. Das besondere an M.s Ansatz, der Partialanalyse, ist die Herausstellung der gleichermaßen bedeutsamen Stellung von Angebot und Nachfrage. Sowohl die objektivistische Preistheorie der Klassik (Betonung der Produktionskosten) als auch die subjektivistische Preistheorie der Grenznutzenschule (Betonung des individuellen Nutzens) ist gekennzeichnet durch starke Einseitigkeit. In seiner Partialanalyse wollte M. daraus einen Ausweg finden: Die Nachfrage nach Gütern sieht er bestimmt durch subjektive Faktoren, durch den Nutzen. Das Angebot an Gütern sieht er dagegen bestimmt durch objektive Faktoren, nämlich durch die Funk-

Werk & Wirkung

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Abb. 35.1  Das Marshall-Kreuz. (Quelle: Eigene Darstellung)

tion der Produktionskosten. Die Wertbildung ist für ihn gewissermaßen ein Kompromiss. Dass das Zusammenwirken von Angebot und Nachfrage bei der Preisbildung im Vordergrund steht, veranschaulicht er durch seine berühmt gewordene „Scheren-Metapher“: „Wir können ebensogut darüber diskutieren, ob es die obere oder die untere Klinge einer Schere ist, welche ein Blatt Papier schneidet, wie darüber, ob der Wert durch Nutzen oder durch Produktionskosten bestimmt wird.“

• Wohl am bekanntesten ist das „Marshall-Kreuz“, die graphische Darstellung der Angebots- und Nachfragekurven (siehe Abb.  35.1). Dieses „Totem der Ökonomen“ (P. Weise) wurde so populär, dass später der Gleichgewichtsschnittpunkt auch die Bezeichnung „Marshallscher Punkt“ erhielt (vgl. Kolb 2008, S. 78). Auch Samuelson weist in seinem Lehrbuch (4. Aufl. 2010, S. 107) darauf hin, dass die Angebots- und Nachfrageanalysen „von dem großen britischen Ökonomen Alfred Marshall in seinem Buch The Principles of Economics entwickelt“ wurden. Dies ist so nicht ganz richtig, denn bereits fast ein halbes Jahrhundert zuvor, im Jahre 1844, wurde die graphische Darstellung der Angebots- und Nachfragekurven von dem deutschen Nationalökonomen →Karl Heinrich Rau in seinem Lehrbuch der politischen Oekonomie (4. Aufl.) vorgestellt – ebenso wie M. es später zu tun pflegt: versteckt im Anhang. • Neben dem Marktgleichgewicht sind weitere Ideen und Konzepte aus M.s Werk zum Allgemeingut der Mikroökonomik geworden: Zum Beispiel die Preiselastizität der Nachfrage, die Konsumentenrente, die „Cetris paribus“-Klausel sowie die Lehre von der repräsentativen Firma.

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35  Marshall, Alfred

• Die Elastizität (der Nachfrage oder des Angebotes) ist ein Konzept, das verdeutlicht, welcher Zusammenhang zwischen Preis und Menge besteht. Allgemein wird die Elastizität ausgedrückt als relative (prozentuale) Veränderung zwischen einer Mengen- und einer Preisgröße:  = Elastizitat

 Veranderung der Menge ( in % )  Veranderung des Preises ( in % )

• Von einer elastischen Nachfrage (bzw. einem Angebot) spricht man, wenn die Elastizität größer als 1 ist. Die Reaktion ist sehr stark; die Menge ändert sich stärker als der Preis. Eine unelastische Nachfrage (ein Angebot) liegt vor, wenn die Elastizität größer als 0, aber kleiner als 1 ist. Die Reaktion ist relativ gering; die Menge verändert sich weniger stark als der Preis. Ist die Elastizität = 1, liegt eine proportionale Elastizität vor. Eine Preisveränderung von bspw. 5 % bewirkt eine Mengenveränderung von 5 %. Daneben gibt es noch zwei Sonderfälle: Bei der vollkommenen Elastizität bewirkt schon die kleinste Preisveränderung eine unendlich große Mengenveränderung. Bei einer vollkommenen Unelastizität (starre Nachfrage bzw. starres Angebot) bewirkt eine Preisänderung keinerlei Mengenreaktion. In Buch III, Kap. IV. 2 gibt M. eine Definition der Nachfrageelastizität. Eine Fußnote weist auf die „versteckte“ Erläuterung im Anhang hin: „The elasticity (or responsiveness) of demand in a market is great or small according as the amount demanded increases much or little for a given fall in price, and diminishes much or little for a given rise in price.“69 „69. We may say that the elasticity of demand is one, if a small fall in price will cause an equal proportionate increase in the amount demanded: or as we may say roughly, if a fall of one per cent. in price will increase the sales by one per cent.; that it is two or a half, if a fall of one per cent. in price makes an increase of two or one half per cent. respectively in the amount demanded; and so on. (This statement is rough; because 98 does not bear exactly the same proportion to 100 that 100 does to 102.) The elasticity of demand can be best traced in the demand curve with the aid of the following rule. Let a straight line touching the curve at any point P meet Ox in T and Oy in t, then the measure of the elasticity at the point P is the ratio of PT to Pt. If PT were twice Pt, a fall of 1 per cent. in price would cause an increase of 2 per cent., in the amount demanded; the elasticity of demand would be two. If PT were one-third of Pt, a fall of 1 per cent. in price would cause an increase of 1/3 per cent. in the amount demanded; the elasticity of demand would be one-third; and so on. Another way of looking at the same result is this: – the elasticity at the point P is measured by the ratio of PT to Pt, that is of MT to MO (PM being drawn perpendicular to Om); and therefore the elasticity is equal to one when the angle TPM is equal to the angle OPM; and it always increases when the angle TPM increases relatively to the angle OPM, and vice versa.“

Werk & Wirkung

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• In der Konsumtheorie von M. ergibt sich für die Nachfrager, die bereit gewesen wären, auch einen höheren Preis als den Marktpreis zu zahlen, eine sogenannte Konsumentenrente (consumers’ surplus). Diese setzt sich zusammen aus allen aufaddierten Einheiten der Nachfragekurve, die zwischen der Zahlungsbereitschaft (willingness to pay) der Konsumenten und dem Marktpreis liegen. Analog dazu bezeichnet man die Differenz zwischen dem Marktpreis und den niedrigeren Preisen, zu dem die Anbieter auch noch ihre Ware angeboten hätte, als Produzentenrente. • Die von M. eingeführte „Cetris paribus“-Klausel ist ein fachwissenschaftlicher Ausdruck und ein wichtiges Werkzeug bei der Partialanalyse. „Cetris paribus“ (Abkürzung c. p.) besagt, dass bei einer Analyse außer der betrachteten Variablen alle übrigen (=ceteris) Einflussfaktoren gleich (=paribus) bleiben. Man betrachtet also etwas unter der Annahme sonst gleicher Bedingungen. Beispielsweise wird bei der Preisbildung häufig davon ausgegangen, dass die nachgefragte Menge ceteris paribus vom Preis abhängt. Das heißt, andere Determinanten (z. B. die Höhe des Einkommens) werden als gleich angenommen. In seinen Principles erklärt M. die „Cetris paribus“-Klausel (er verwendet insgesamt 41 Mal „other things being equal“) wie folgt: „The forces to be dealt with are however so numerous, that it is best to take a few at a time; and to work out a number of partial solutions as auxiliaries to our main study. Thus we begin by isolating the primary relations of supply, demand and price in regard to a particular commodity. We reduce to inaction all other forces by the phrase ‚other things being equal‘: we do not suppose that they are inert, but for the time we ignore their activity. This scientific device is a great deal older than science: it is the method by which, consciously or unconsciously, sensible men have dealt from time immemorial with every difficult problem of ordinary life (Marshall, Preface, S. 20).“

Selbstkritisch äußerte M. sich zu seiner „Ceteris paribus“-Klausel in einem Brief an den Ökonometriker Henry Moore von 1912. Diese sei zwar formal stimmig, in der Realität jedoch nicht anwendbar, da sie ungeeignet sei, die vielschichtigen Sachverhalte

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der Wirklichkeit abzubilden. Und in seinen Principles weist er darauf hin, dass mit dieser Isolationsmethode umsichtig umgegangen werden müsse; es dürften nicht die „falschen“ Variablen in den „Ceteris-Paribus-Pferch“ gesperrt werden (1920, S. 304). • Durch die Theorie der repräsentativen Firma versuchte M. zu zeigen, welche Bestimmungsfaktoren die Angebotsseite beeinflussen. Da die Unternehmen eine unterschiedliche Kostenstruktur aufweisen, versuchte er zum Zwecke seiner Analyse dieses Problem mit einer Art „Durchschnittsfirma“ zu umgehen. Die repräsentative Firma ist für ihn ein Betrieb, dessen Kostenstruktur für eine bestimmte Branche als typisch angesehen werden kann; er beschreibt ihn wie folgt: „Unsere typische Firma muß schon ein ziemlich hohes Alter haben, guten Erfolg, eine Leitung von normaler Tüchtigkeit und muß im normalen Genuß sowohl der äußeren als auch der inneren Vorteile sein, welche zu jenem Produktionsumfang gehören (Marshall: Handbuch der Volkswirtschaftslehre, Stuttgart u. Berlin: Cotta, 1905, S. 333).“

Die Theorie wurde von vielen Ökonomen kritisiert (z.  B. Sraffa und Viner) und konnte sich nicht durchsetzen. Dennoch komme ihr, so Stavenhagen, „in heuristischer Hinsicht ein bleibender Wert zu, da erst durch sie die theoretische Forschung auf wesentliche Fragenkomplexe der Produktions- und Kostenproblematik aufmerksam gemacht wurde“ (S. 325). Mit seiner Theorie habe M. „die ersten Fundamente zu einer betriebswirtschaftlich ausgerichteten Theorie der Produktion“ gelegt (vgl. S. 324). • Nach M.s methodolgischen Grundsätzen müsse die Volkswirtschaftslehre die „wirtschaftlichen Tatsachen“ erforschen und sich dabei an den Naturwissenschaften orientieren. Allerdings „seien ökonomische Erkenntnisse weder durch ‚lange Ketten deduktiver Schlüsse‘ zu gewinnen noch in Form ‚allgemeiner Gesetze‘ fixierbar“ (Rieter, in: Starbatty, S. 156). Grundsätzlich stand M. abstrakten Modellen eher distanziert gegenüber; auch die mathematische Methode sah er kritisch und wandte sie lediglich an, um seine Ergebnisse formal untermauern zu können. „Um so mehr war er dafür, die Ökonomik als Moralwissenschaft zu begreifen … und praxisorientiert zu betreiben“ (Rieter, a.a.O., S. 153). • In seinem Spätwerk Industry and Trade (1919), einer „Sammlung von Monographien“ (Guillebaud in HdSW), setzt sich M. auseinander mit der „technical evolution of industry, and ist influences on the conditions of man’s life and work“. Hier erscheint ein Teil des Stoffes, den er eigentlich für den geplanten, jedoch nicht verwirklichten zweiten Band der Principles vorgesehen hatte. Das Buch besteht aus drei Teilen: Zunächst wird auf die industrielle Stellung Großbritanniens, Frankreichs, Deutschlands und der USA eingegangen und deren Stärken und Schwächen beschrieben. Der zweie Teil befasst sich mit der Entwicklung der Organisationsformen von Unternehmen und Märkten (z. B. Aktiengesellschaften, Kaufhäuser). Die zunehmende Bedeutung der Aktiengesellschaften nimmt M. kritisch wahr: Probleme sieht er in der Trennung von Eigentum und Leitung sowie in der verstärkten Nachfrage nach Managern, deren Löhne nicht unbedingt deren Produktivität entsprächen. Im letzen Teil werden wettbewerbspolitische Probleme sowie Entwicklungen und Auswirkungen der Unternehmenskonzentra-

Wichtige Publikationen

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tion behandelt (z.  B.  Kartelle und Trusts). Nach Caspari ist es „sicherlich eines der ersten Bücher, in denen die Felder, die wir heute zum Kern der sogenannten Industrial Economics oder auch Industrial Organisation zählen, breit behandelt werden“ (in Kurz, S. 337). • Im August 1922, kurz nach seinem 80. Geburtstag, vollendete M. seinen Sammelband Money, Credit and Commerce, der 1923 erschien und in dem er seine Ansichten zur Geld-, Kredit-, Außenwirtschafts- und Konjunkturtheorie zusammenfasst. • Nach Rieter „gilt Marshall als der Architekt eines monumentalen Lehrgebäudes, der verschiedene Stilelemente virtuos zu kombinieren verstand. Es ist ein komfortabler Neubau, errichtet auf alten Fundamenten.“ (S. 137). Zu verdanken ist M. die Gründung eines eigenständigen universitären Studienganges Economics (Volkswirtschaftslehre). Die von ihm gegründete Cambridge-Schule brachte hervorragenden wissenschaftlichen Nachwuchs hervor, wie z. B. Pigou, → Keynes, Bowley, Clapham und Flux. Seine Principles zählen zu den bedeutendsten Lehrbüchern aller Zeiten, wenn nicht sogar zur ökonomischen Weltliteratur. Viele der darin enthaltenen Ideen und Konzepte haben die VWL nachhaltig geprägt. Caspari konstatiert, „daß Marshall uns weniger analytische Instrumente als vielmehr konzeptionelle Bausteine hinterlassen und auch bewahrt hat. Seine Periodenanalyse (temporäre, kurze, lange Periode) bleibt eine wichtige konzeptionelle Idee, die sowohl für die mikro- als auch für die makroökonomische Analyse unverzichtbar ist. Auch die Partialanalyse … hat sich in der angewandten Mikroökonomik … durchaus als praktisch, d.  h. anwendbar bei der Analyse wirtschaftspolitisch relevanter Fragestellungen erwiesen. Vor allem die Industrieökonomik verdankt ihre Entstehung auch der Schule Marshalls“ (S. 343–344). Insofern trifft auch Rieters Feststellung zu, M.s Werk „bewahrt klassische Traditionen, bahnte der neoklassischen Orthodoxie den Weg und leistet heterodoxen Ansätzen intellektuellen Beistand“ (S. 137). Kritik von marxistischer Seite widerfährt M. in Form der Vorwürfe, ihm ginge es darum, „die politische Ökonomie zu entpolitisierten“. Den „Grundfehler“ seiner Theorien sieht Hoell „in ihrer oberflächlichen Orientierung auf Marktvorgängen“, einer „apologetischen Kapitalauffassung“ und der „Verdrängung der Untersuchung sozialer Prozesse aus der politischen Ökonomie“ (in: Krause/Graupner/Sieber, S. 338).

Wichtige Publikationen • • • •

The Economics of Industriy, 1879 Principles of Economics, 1890 (dt.: Handbuch der Volkswirtschaftslehre, 1905) Elements of Economics of Industriy, 1892 Fiscal Policy of international Trade, 1903 (dt.: Die zollpolitische Regelung des Außenhandels, 1925) • Industry and Trade, 1919 • Money, Credit and Commerce, 1923

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Literatur HDSW (1961), Bd. 7, S. 182–184 HdWW (1982), Bd. 9, S. 436–437 Hesse (2009), S. 331–332 Kolb (2008), S. 77–84 Krause/Graupner/Sieber (1989), S. 335–338 Kurz (2008), Bd. 1, S. 326–347 Piper (1996), S. 75–81 Recktenwald (1971), S. 381–402 Samuelson/Nordhaus (2007), S. 99 Starbatty (1989/2012), Bd. 2, S. 135–157 Stavenhagen (1964), S. 287–288 u. 321–329

Internet Principles of Economics online: http://www.econlib.org/library/Marshall/marP12.html#n69

Schär, Johann Friedrich

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Wächter, Ökonomen auf einen Blick, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29069-6_36

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Leben & Karriere • Nachdem Schär als 16-jähriger im Jahre 1862 die Sekundarschule in Goldbach verließ, begann er ein dreijähriges Studium zur Lehrerausbildung, das er 1865 erfolgreich absolvierte. Sch. unterrichtete zunächst drei Jahre als Lehrer in Wattenwill und bildete sich parallel dazu an der Universität Bern weiter. • 1867 bestand Sch. sein Examen und wurde Gymnasiallehrer. Er unterrichtete die Fächer Mathematik, Physik und Chemie. • 1870 gab Sch. seine Stellung auf, um in den kaufmännischen Beruf zu wechseln. Als Unternehmer wirkte er als Gastwirt und Hotelier sowie zweimal als Gesellschafter: So war er Teilhaber einer Käseexporthandlung (Schwarz und Schär) und ab 1873 einer Kartonfabrik (Harder und Schär). • Nachdem er über zehn Jahre als selbständiger Exportkaufmann tätig war, kehrt Sch. wieder zurück in den Lehrberuf und lehrte von 1882 bis 1903 an der Höheren Handelsschule in Basel. Wie er in seinen Lebenserinnerungen schreibt, unterrichtete er dort „kaufmännisches Rechnen, Buchhaltung, Korrespondenz, Kontorarbeiten, Handelslehre, Handelsrecht und Volkswirtschaftslehre“. • 1903 übernahm Sch. den Lehrstuhl für Handelswissenschaften an der Universität Zürich. Es war der erste handelswissenschaftliche Lehrstuhl, der an einer deutschsprachigen Universität errichtet wurde. Es war typisch für diese Zeit, dass Sch. den Lehrstuhl ohne akademische Ausbildung bekam. Bereits ein Jahr später (1904) wurde ihm von der Universität der Ehrendoktor verliehen, und zwar „wegen der hervorragenden Verdienste um die Förderung der Handelswissenschaften und um die Entwicklung des Verbandes schweizerischer Konsumvereine“, wie es in der Begründung heißt (vgl. Sundhoff, S. 169). • Im April 1906 folgte Sch. dem Ruf auf einen Lehrstuhl für Handelswissenschaften an die Handelshochschule Berlin, die er maßgeblich weiterentwickelte. Dort lehrte und forschte er auf dem Gebiet der Handelsbetriebslehre bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1919. Hier verfasste er auch seine bedeutendsten Werke: Die Allgemeine Handelsbetriebslehre und Buchhaltung und Bilanz. • 1923 wurde Sch. von der Universität Köln für seine Verdienste um die Handelswissenschaft ein Ehrendoktortitel verliehen. • In seinem Heimatland Schweiz war Sch. wirtschaftspolitisch sehr aktiv. Er war viele Jahre als führendes Mitglied im Verwaltungsrat der Baseler Kantonalbank tätig, deren Errichtung auf seine Initiative hin erfolgte. Auch engagierte er sich für das Genossenschaftswesen in der Schweiz. Zudem war er Präsident des Verbandes Schweizerischer Konsumvereine.

Werk & Wirkung

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Werk & Wirkung • Schär war der erste Vertreter einer normativ-ethischen Richtung der Betriebswirtschaftslehre und entwickelte neben Hellauer (1910) und →Nicklisch (1912) als einer der Ersten ein geschlossenes System der Betriebswirtschaftslehre. Er hat – nimmt man die unterschiedlichen Auflagen zum Maßstab  – fast 150 Werke auf dem Gebiet der Handelswissenschaft verfasst, deren „qualitatives Niveau“ Sundhoff als „durchweg recht hoch“ bezeichnet. Bei den meisten Werken handelt es sich um Lehrbücher für den kaufmännischen Unterricht bzw. für das Selbststudium. Insbesondere auf dem Gebiet des Rechnungswesens bzw. der Buchführung war Sch. sehr produktiv. Erst relativ spät veröffentlichte er einige wenige wissenschaftliche Werke. • Die Erkenntnisse jahrzehntelanger Forschung publizierte er in seiner 1911 erschienenen Allgemeinen Handelsbetriebslehre – eine der ersten systematischen Untersuchungen über betriebliche Sachverhalte und Zusammenhänge, die vor dem 1. Weltkrieg erschien. In seinem Lebenswerk vertritt Sch. die Ansicht, dass die Handelswissenschaft einen bestimmten Ausschnitt der Gesamtwirtschaft untersucht und betrachtet die Handelswissenschaft als einen Bestandteil der Volkswirtschaftslehre. Die Allgemeine Handelsbetriebslehre habe nun die Aufgabe, den Handelsbegriff derart zu entwickeln, dass aus ihm die allgemeinen Betriebsgrundsätze in logischer Folge abgeleitet werden können. Den Begriff „Handel“ definiert Sch. wie folgt: „Der Handel ist der nach den Grundsätzen der Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit organisierte Güteraustausch zwischen den einzelnen Gliedern der Weltwirtschaft. Er vollzieht sich durch Eigentumsübertragung (Kauf und Zahlung), Ortsveränderung (Verkehr) und Vorratsstellung (Lager) der für fremden Bedarf erzeugten Güter. Vorrat und Bedarf begegnen sich auf dem Weltmarkt als Angebot und Nachfrage, aus denen sich der Preis entwickelt. Der Kaufmann als Organ des Welthandels wirkt daher an der Preisbildung mit; indem er im Angebot auch den zukünftigen Vorrat, in der Nachfrage den zukünftigen Bedarf an den Markt bringt, entsteht die Spekulation. Sie diskontiert die zukünftigen Entwicklungsmöglichkeiten des Weltmarktes, d.  h. nützt die Konjunktur aus. (Schär: Allgemeine Handelsbetriebslehre, 5. Aufl., Leipzig 1923, S. 79)“

Das erwerbswirtschaftliche Prinzip – ein Profitstreben – als tragendes Prinzip der Handelswissenschaft lehnt Sch. ab. Der Handelsbetrieb müsse den Leitgedanken verfolgen, „die Verbindung zwischen Produzenten und Konsumenten zwecks Austauschs ihrer Produkte mit dem geringsten Maß von Kosten aufs schnellste, billigste und bequemste zu organisieren.“ Als anzustrebendes Ideal sieht Sch. eine genossenschaftlich orientierte Wirtschaftsordnung, bei der jeder Betrieb das Wohl der Gemeinschaft vor Augen hat.

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• Schär beschäftigte sich mit den Aufgaben und Funktionen des Handels. Der Handel –– verbindet die Endglieder der Weltwirtschaft, –– überwindet die persönliche, örtliche und zeitliche Trennung, –– bestimmt den Preis der Austauschgüter, –– passt (durch Spekulation) den zukünftigen Bedarf und Vorrat am Markt den gegenwärtigen Umständen an, –– erfüllt Sammlungs- und Verteilungsaufgaben, –– reguliert die Produktion und –– bewirkt die Einheitlichkeit der Märkte. Die den Handel bedrohenden Risiken, die aus diesen Funktionen resultieren, sind die des Preises, des Kredits, der Lieferfrist, der Qualität und der Konjunktur (vgl. Seyffert, 1972, S. 6). Schärs Ausführungen zur Einschaltung von Handelsbetrieben in den Warenweg haben als „Schärsches Gesetz“ Eingang in die Handelsbetriebslehre geworden: „Selbständigkeit und Existenzmöglichkeit jedes Gliedes sind bedingt durch die Summe von nützlichen und notwendigen Diensten in der Güterzirkulation, die es leistet bzw. die von einem anderen Gliede nicht ebensogut und wirtschaftlich verrichtet werden können.“ Daraus leitet er die Forderung ab, dass in einem Absatzweg derjenige Marktpartner Aufgaben zu erledigen habe, der dazu am besten in der Lage ist. Diese kann zugleich als eine Entscheidungshilfe zu Ausschaltung von Handelsbetrieben verstanden werden: „Wer ein Glied ausschalten will, muß erstens genau wissen, welche Dienste dieses Glied bisher geleistet hat, zweitens erwägen, ob er diese Dienste nunmehr ebensogut selbst ausführen kann, und drittens kalkulieren, ob der Vorteil aus der Ausschaltung größer oder kleiner ist als der Aufwand, um das ausgeschaltete Glied zu ersetzen“ (vgl. Schär, 1923, S. 214, 194). Schär verzahnt volks- und betriebswirtschaftliche Betrachtungen und trägt so zur Erklärung von Vermehrung oder Verminderung von Handelsunternehmen bei. Die bloße Existenz von Handelsbetrieben beweist, dass sie „nützliche“ Dienste leisten, denn sonst würden sie nicht in Anspruch genommen, sie würden ausgeschaltet. • Sch. nahm eine Unterscheidung vor zwischen proportionalen (variablen) und gleichbleibenden (fixen) Kosten („eiserne Kosten“). Er entwickelte bei der Berechnung des Mindestumsatzes die Lehre vom „Toten Punkt“ – heute bekannt unter der Bezeichnung „Gewinnschwelle“ oder „Break-even-point“. Den „toten Punkt“ definiert Sch. als diejenige Umsatzgröße „bei welcher der Bruttogewinn aus dem Umsatz durch sämtliche Betriebsspesen aufgezehrt wird, so daß Gewinn und Verlust gleich Null ist“ (Allgemeine Handelsbetriebslehre, Bd. I, 1. Aufl., Leipzig 1911, S. 134). Nach Schär lässt sich „die Quintessenz des privatwirtschaftlichen Handelsbetriebs auf die mathematische Formel bringen: (Verkaufspreis - Ankaufspreis) x (Umsatzgröße x Umlaufgeschwindigkeit) - Kosten = Gewinn“. Sch. und →K. Bücher können beide als Entdecker des Break-Even-Points betrachtet werden: Während Sch. von den Gesamtkosten ausging und eine Gleichung entwickelte, in der Erlöse und Kosten übereinstimmen, entwickelte sein deutscher Fachkollege Bü-

Wichtige Publikationen

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cher eine ähnliche Formel für die Stückkosten, indem er noch durch die Absatzmenge x dividierte. • Als bahnbrechend gelten Schärs Leistungen zur Vereinfachung der Kontensystematik. Bedeutsam ist neben seinen Arbeiten für das Rechnungswesen, insbesondere die Buchhaltung, auch sein Einfluss auf die Praxis: Die durch Erlass des Reichswirtschaftsministeriums von 1937 vorgeschriebene Verwendung von Kontenrahmen basiert auf Schärs Kontensystem und →Schmalenbachs Kontenrahmen. • Schärs Allgemeine Handelsbetriebslehre war eine der ersten Gesamtdarstellungen des betriebswirtschaftlichen Wissens der damaligen Zeit und rief – insbesondere im Hinblick auf Schärs normative Methode  – ganz unterschiedliche Reaktionen hervor. „Schärfsten Widerspruch“ erhob E.  Weber „gegen die Verwässerung der Privatwirtschaftslehre mit ethischen Werturteilen und gegen ihre bedingungslose Abhängigmachung von der Volkswirtschaftslehre“ (S. 140). Und →Seyffert bezweifelte, dass dieses „eigenwillige System“ Nachfolger finden werde. Doch es gab auch positive Beurteilungen. So stellte Schönpflug fest: „Schärs Handelsbetriebslehre ist in vieler Hinsicht ein geistvoller und in seiner ethischen Bedeutung nicht zu unterschätzender Versuch, der Einzelwirtschaftslehre eine logisch begründete Gestalt zu geben. … Wenn es ihm auch nicht gelang das hohe Ziel, das er sich setzte, zu erreichen: als einem Weiser neuer Pfade in unserer Wissenschaft wird ihm in der Methodengeschichte immer Anerkennung gezollt werden müssen“ (zit. n. Sundhoff, S.  191  f.). Zu einem differenzierten Urteil über das Werk gelangt H.-O. Schenk (1974, Sp. 498): „Mit der ‚Allgemeinen Handelsbetriebslehre‘ (1910) von Johann Friedrich Schär erreicht der Aufbau einer Handelsbetriebslehre einen Höhepunkt und zugleich eine kritische Phase; denn weder kann eine zwischen Volks- und Betriebswirtschaftslehre stehende Arbeit Anerkennung bei beiden standesmäßig sich polarisierenden Fachvertretern finden noch hält ihre normative Ausrichtung dem inzwischen im sog. Werturteilsstreit geschärften Wissenschaftsverständnis der (dominierenden) empirisch-kognitiven Wirtschaftswissenschaftler stand.“

Wichtige Publikationen • • • • • • • •

Lehrbuch der Buchhaltung, 1888 Kaufmännische Unterrichtsstunden, Kursus I und II, 1893 und 1896 Technik des Bankgeschäfts, 1898 Allgemeinen Handelsbetriebslehre, 1911 Das deutsche Buchführungsrecht, 1911 Buchhaltung und Bilanz, 1911 Methodik der Buchhaltung, 1913 Einführung in die doppelte Buchführung für Laien, 1923

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36  Schär, Johann Friedrich

Literatur Hesse (2009), S. 484–485 HdSW, Bd. 9 (1956), S. 106–107 Handwörterbuch der Betriebswirtschaft (1960), Bd. 3, Sp. 4767 ff. H. Nicklisch: Johann Friedrich Schär, in: Zeitschrift für Handelswissenschaft und Handelspraxis, 17. Jg., 1924, Heft 7, S. 174–176 Schenk, H.-O.: Dogmengeschichte des Handels, in: Handwörterbuch der Absatzwirtschaft, hrsg. von B. Tietz, Stuttgart 1974, Sp. 487–503, hier: 498. Sundhoff (1991), S. 161–195 Weber (1914/1990), S. 140 f.

Bücher, Karl

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Wächter, Ökonomen auf einen Blick, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29069-6_37

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Leben & Karriere • Bücher besuchte von 1863–1866 das Gymnasium in Hadamar und studierte anschließend von 1866 bis 1870 Geschichte, Philologie und Nationalökonomie in Bonn und Göttingen. 1872 promovierte er in Bonn zum Dr. phil. • Von 1871 bis 1878 unterrichtete B. als Lehrer im Schuldienst. Danach trat er in die Wirtschaftsredaktion der Frankfurter Zeitung ein und leitete diese bis 1880. Diese Tätigkeit weckte auch sein Interesse für alle Fragen des Zeitungswesens. • 1881 habilitierte B. sich für Nationalökonomie und Statistik in München und lehrte als Professor in Dorpat (1882), Basel (1883) und Karlsruhe (1890), bevor er 1892 einem Ruf an die Universität Leipzig folgte, der er bis zu seiner Emeritierung treu blieb und deren Rektor er von 1903 bis 1904 war. Dort zählte auch →E. Schmalenbach zu seinen Schülern. • In den 1880er und 1890er-Jahren zählte B., der Mitglied im Verein für Socialpolitik war, zu den prominentesten Wortführern der sozialreformatorischen Richtung in der Sozialpolitik. • Von 1901 bis 1923 gab er die Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft heraus. • 1916 gründete B. das Institut für Zeitungskunde an der Universität Leipzig. • B. war Ehrendoktor der Universitäten Gießen und Bonn, Ehrenmitglied des Vereins für Geschichte und Altertumskunde und des Vereins für Geographie und Statistik in ­Frankfurt a. M., Mitglied der Akademie der Wissenschaften in Dresden und München sowie Präsident der Baseler Volkswirtschaftlichen Gesellschaft.

Werk & Wirkung • Bücher praktiziert in seinen wirtschaftsgeschichtlichen und wirtschaftspolitischen Schriften die Methode der Historischen Schule und gilt als Hauptvertreter der jüngeren Historischen Schule in Deutschland. Sein methodisches Vorgehen ist auch bei anderen Vertretern dieser Denkrichtung sowie bei →F. List anzutreffen. B. hat die wirtschaftshistorische Forschung nicht als Selbstzweck der Nationalökonomie betrachtet, sondern auf Grund des historischen Materials die Aufstellung wirtschaftlicher Gesetzmäßigkeiten angestrebt. • Berühmtheit erlangte B. insbesondere durch seine auf den Formen der Produktionsorganisation beruhende Wirtschaftsstufentheorie, die er in seinem bedeutendsten Werk Die Entstehung der Volkswirtschaft darlegt. Darin unterscheidet er folgende Wirtschaftsstufen: geschlossene Hauswirtschaft (Eigenproduktion, tauschlose Wirtschaft), Stadtwirtschaft (Kundenproduktion, direkter Austausch) und Volkswirtschaft (Waren-

Werk & Wirkung

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produktion, Güterumlauf). Als Kriterium für die Einteilung gilt das Ausmaß der Tauschbeziehungen. Mit seiner Theorie der Wirtschaftsstufen wollte B. älteren Theorien des wirtschaftlichen Wandels etwas entgegensetzen und das unhistorische Vorgehen der „klassischen“ Ökonomen, wie beispielsweise →A. Smith, überwinden. Nach Kolb wurde die Stufenfolge „von Bücher allerdings nur als methodisches Hilfsmittel begriffen, um über die Aufdeckung der Gesetze der Entwicklung jeweils eine ökonomische Theorie zu initiieren“ (Kolb 2004, S. 114). Kritik und beißenden Spott erfährt B. in →R.  Luxemburgs Einführung in die Nationalökonomie (1925), die sich intensiv mit ihm auseinandersetzt, dessen Stufentheorie ein „abgeschmacktes Schema“ nennt und seine Theorie bezeichnend findet „für die Rohheit der geschichtlichen Auffassung eines Gelehrten, dessen Ruhm gerade auf angeblich scharfsinnigen und tiefen wirtschaftshistorischen Einblicken beruht!“ (S. 18) • Von Bedeutung ist B.s Klassifizierung der verschiedenen Arten von Arbeitsteilung, die er in seiner Antrittsvorlesung Arbeitsteilung und soziale Klassenbildung (1892) in kritischer Auseinandersetzung mit A.  Smith herausarbeitet. Arbeitsteilung differenziert B. in: 1. Berufsbildung: Entstehung bzw. Herausbildung von Berufen (= gesellschaftliche Arbeitsteilung). „Sie „kommt bei uns im Mittelalter auf“, erklärt B., und stehe „an der Spitze jeder volkswirtschaftlichen Entwicklung“. Ausgehend von einem „Zustand reiner Eigenwirtschaft, (…) in welchem jedes Haus durch die Arbeit seiner Angehörigen alles erzeugen muss, was es bedarf“ wird „diese Arbeit unter den Hausgenossen nach Alter, Geschlecht und Körperkraft, sowie nach ihrer Stellung zum Hausvater mannigfach verteilt sein. (…) Dieser Zustand verändert sich, sobald einzelne Arbeiten aus dieser vielseitigen Wirtschaft sich aussondern und zum Gegenstand eines Berufes zur Unterlage einer speziellen Erwerbstätigkeit werden.“

2. Spezialisation/Berufsspaltung: Berufsspezialisierung bzw. Teilung einer Berufsarbeit. „Produkte, die zuvor in einem Betrieb erzeugt worden sind“, so B., „werden künftig in zwei verschiedenen hergestellt.“ Um diesen Längsschnitt durch den Produktionsprozess zu veranschaulichen, führt B. das Beispiel des Lederhandwerks an: „Aus dem großen Gewerbe des Lederers spalten sich mit der Zeit die Spezialhandwerke des Schuhmachers, Sattlers, Riemers, Beutlers usw. ab“. Aus einem Gewerbe sind mehrere geworden „und jedes bildet für einen Menschen eine besondere Lebensaufgabe, einen Beruf.“

3. Produktionsteilung: Teilung eines ganzen Produktionsprozesses (= volkswirtschaftliche Arbeitsteilung).

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„Teilung eines ganzen Produktionsprozesses in mehrere wirtschaftlich selbständige Abschnitte.“ Diesen „Querschnitt durch einen längeren Produktionsprozeß“ verdeutlicht B. am Beispiel von Lederartikeln: Sie durchlaufen „bis zur Vollendung drei Betriebe: diejenige des Häuteproduzenten, des Gerbers und des Lederers.“

4. Arbeitszerlegung: Betriebliche Arbeitsteilung. „Bei dieser Form der Arbeitsteilung „innerhalb einer einzelnen Unternehmung“ steht eine technisch-organisatorische Perspektive im Vordergrund, d. h. eine „Auflösung eines Produktionsabschnittes in einfache, für sich nicht selbständige Arbeitselemente.“

5. Arbeitsverschiebung: Durch den Einsatz von Maschinen sowie deren Produktion werden Arbeitsleistungen im Produktionsprozess  – sowohl örtlich als auch zeitlich – verschoben bzw. verlegt. „Beispielsweise wird „die Schneiderarbeit teilweise aus der Schneiderwerkstatt in die Maschinenfabrik verlegt“. Durch Arbeitsverschiebung tritt, so B., „eine Veränderung der seitherigen Arbeitsorganisation ein“. „Es ist, wenn wir den ganzen Produktionsprozess ins Auge fassen, ein Teil der Gesamtarbeit aus einem späteren in ein früheres Stadium zurückgeschoben.“

• Nachdem B. die verschiedenen Arten der Arbeitsteilung analysiert hat, stellt er sich die Frage: „Was veranlasste den ‚Vater der Nationalökonomie‘, drei so verschiedenartige Vorgänge wie die Produktionsteilung, die Arbeitszerlegung und die Spezialisation unter dem e i n e n Namen der Arbeitsteilung zusammenzufassen? Worin sind diese Vorgänge (…) wesensgleich?“ Aus der Beantwortung dieser Frage leitet B. seine Definition von „Arbeitsteilung“ ab: „… alle drei sind volkswirtschaftliche Entwicklungsvorgänge, die durch menschliche Willensakte herbeigeführt werden und bei welchen eine wirtschaftliche Leistung von einer Person, der sie bis dahin oblag, auf mehrere Personen übertragen wird, dergestalt, daß jede der letzteren fürderhin nur einen differenten Teil der seitherigen Gesamtarbeit verrichtet. … ­Arbeitsteilung ist darum auch immer Arbeitsgliederung, Organisation der Arbeit nach dem Prinzip der Wirtschaftlichkeit; ihr Ergebnis ist immer das Zusammenwirken verschiedenartiger Kräfte zu einem gemeinsamen Ziele. (K. Bücher: Arbeitsteilung und Soziale Klassenbildung (Antrittsvorlesung 1892); auch in: Die Entstehung der Volkswirtschaft, Bd. I, Tübingen 1920, Kap. VIII)“

• B. kritisiert sodann Smith’ Auffassung, wonach der Ursprung der Arbeitsteilung im Tausch liege und sie daher eine ökonomische Erscheinung sei. Überdies kommt B. zu dem Schluss, dass der Tausch etwas Zufälliges sei und nicht in der Wirtschaft begründet liege: „Adam Smith führt alle Arbeitsteilung auf einen gemeinsamen Ursprung zurück: die dem Menschen angeborene Neigung zum Tausche … und begnügt sich damit, die Wurzeln der Arbeitsteilung in die dunklen Tiefen des Trieblebens zu versenken. Dadurch gerät er aber mit seinen eigenen Beispielen in Widerspruch. Geht die Arbeitsteilung aus einem dem Menschen von jeher innewohnenden Triebe hervor, so ist sie eine ökono-

Werk & Wirkung

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mische Kategorie. Sie muß sich überall, wo Menschen sind und zu allen Zeiten geltend machen. Nun aber stellen die Beispiele des Adam Smith dem Zustande der geteilten Arbeit regelmäßig einen Zustand der ungeteilten Arbeit gegenüber und lassen den ersteren aus dem letzteren hervorgehen. … Tatsächlich hat … ein Zustand ohne volkswirtschaftliche Arbeitsteilung jahrhundertelang bestanden und die einzelnen Arten der letzteren lassen sich nach ihrer Entstehungszeit ziemlich genau bestimmen. Es ist also die volkswirtschaftliche Arbeitsteilung überhaupt eine historische Kategorie, keine elementare Wirtschaftserscheinung. Und dasselbe gilt vom Tausche. Wie es Perioden ohne volkswirtschaftliche Arbeitsteilung gegeben hat, so gab es auch Perioden ohne Tausch. Die ersten Tauschhandlungen treten nicht gleichzeitig mit der Arbeitsteilung auf, sondern gehen ihr lange voraus. Sie dienen dem Zwecke, Überschüsse und Ausfälle, die sich in sonst autonomen Wirtschaften gelegentlich eingestellt haben, gegeneinander auszugleichen. Der Tausch ist hier etwas Zufälliges, nichts im Wesen der Wirtschaft Begründetes. (K. Bücher: Arbeitsteilung und Soziale Klassenbildung).“

• Auch im Bereich der Kostentheorie ist B. ein großer Wurf gelungen: In einem 1910 erschienenen Aufsatz in der Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft formulierte B. das „Gesetz der Massenproduktion“, das besagt, dass die fixen Kosten – bezogen auf die Ausbringungseinheit – mit zunehmender Ausbringung sinken (= Fixkostendegression). In dem Zusammenhang beschreibt er auch die „Nutzschwelle“, die heute als „Break-even-point“ bekannt ist. „Bezeichnet man die Masse (Stückzahl) der in einem kapitalistischen Produktionsprozeß erzeugten Ware mit m, die durchschnittlichen Stückkosten mit k, ihre konstanten Kosten mit c und die variablen Stückkosten mit v, so ist k = c + v Es liegt auf der Hand, daß k um so

m

kleiner sein muß, je größer m wird und daß beim Gleichbleiben des Wertes v die Wirkung von

c c in der Summe + v sich immer mehr abschwächt. … m m Die Grenze, von der ab es [das Produktionsverfahren, Anm. L.W.] vorteilhaft zu werden beginnt, heiße die Nutzschwelle der Massenproduktion. Sie liegt um so höher, je größer der Anteil der konstanten Kosten an den Gesamtherstellungskosten ist. Von der Nutzschwelle ab vermindern sich die Produktionskosten weiter mit der Zunahme der Produktmasse … (Bücher: Das Gesetz der Massenproduktion, in ZgS, LXVI, S. 429–444; auch in: Die Entstehung der Volkswirtschaft, Bd. II, Tübingen 1922, Kap. IV, hier S. 102 f.).“

B. weist selber darauf hin, dass seine Formulierung des Gesetzes der Massenproduktion „sicher noch der Verbesserung oder doch Vereinfachung fähig“ sei und „seine Tragweite erst nach und nach voll erkannt werden“ (S. 103  f.) würde. Sein Schüler →E. Schmalenbach hat später diese Erkenntnis in seiner Kostenlehre weiterentwickelt. B. und →J. F. Schär können beide als Entdecker des „Break-Even-Points“ betrachtet werden: Während Schär von den Gesamtkosten ausging und eine Gleichung entwickelte, in der Erlöse und Kosten übereinstimmen, entwickelte B. eine ähnliche Formel für die Stückkosten, indem er noch durch die Absatzmenge x dividierte. • In seiner Schrift Die Sozialisierung (1919) äußert sich B. zum Thema Sozialismus. Unter „Sozialismus“ versteht B. Kollektivismus in der Wirtschaft bzw. Vergesellschaf-

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tung der Betriebe und somit eine „Beseitigung des Privatkapitals und Ersetzung desselben durch Kollektivkapital, durch eine Produktionsweise, die aufgrund gesellschaftlichen Eigentums an den Produktionsmitteln eine einheitliche Gütererzeugung durchführt“ (S. 17). Eine Verstaatlichung scheint ihm allerdings nicht in allen Bereichen sinnvoll. Ohne Bedenken sei diese z. B. in der Industrie (insbesondere bei Kartellen und Aktiengesellschaften) und im Bergbau umzusetzen. Eine Sozialisierung der kleinen und mittelständischen Unternehmen sowie der landwirtschaftlichen Betriebe und der Banken hält er für töricht. Als Resultat seiner Wirtschaftsstufentheorie sieht er die Wirtschaftsform des Sozialismus als die Überlegenere an: „Persönlich bin ich von der Unausbleiblichkeit eines schließlichen Sieges des Sozialismus überzeugt … Ich habe viele Jahre meines Lebens der Untersuchung vergangener Stufen der Wirtschaft gewidmet, ich habe sie in eine Ordnung zu bringen und auch im Stillen für mich sie in die Zukunft hinein fortzusetzen gesucht. Und da habe ich mir immer sagen müssen, daß die ökonomische Welt einmal in der Richtung zu suchen sein werde, wie die Besten unter den Sozialisten sie sich vorstellen (S. 16).“

Den Übergang zum Sozialismus bzw. generell zu einer neuen Wirtschaftsordnung sieht er – ganz im Sinne der Historischen Schule – historisch-evolutionistisch: „Noch keine neue Wirtschaftsordnung ist im Laufe der Jahrtausende auf einen Schlag durch obrigkeitliche Anordnung in die Welt gekommen. So verschieden sie untereinander sind, immer ist es ein langer Entwicklungsprozeß, der eine alte zerstört und eine neue heraufführt (S. 16–17)“

• Neben ökonomischen Fragestellungen beschäftigte B. sich auch intensiv mit dem Zeitungswesen. Als erster hielt er 1883 eine Vorlesung über das Zeitungswesen in Basel. Er begründete 1916 das Institut für Zeitungskunde an der Universität Leipzig und gilt daher als „Gründervater“ des Wirtschaftsjournalismus. In der Zeitung sieht B. „in erster Linie eine Verkehrseinrichtung“, die „eines der wichtigsten Stützorgane der heutigen Volkswirtschaft“ sei. Sie bilde „ein Glied in der Kette der modernen Verkehrsmittel, d. h. der Einrichtungen, durch welche der Austausch geistiger und materieller Güter in der Gesellschaft bewirkt wird“ (vgl. Bücher: Die Entwicklung der Volkswirtschaft, Bd. I, Tübingen 1920, S. 232).

Wichtige Publikationen • • • •

Die gewerblichen Betriebsformen in ihrer historischen Entwicklung, 1892 Arbeitsteilung und soziale Klassenbildung, 1892 Die Entstehung der Volkswirtschaft, 2 Bände, 1893/1918 Arbeit und Rhythmus, 1897

Literatur

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• Das Gesetz der Massenproduktion. In: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, 1910, S.  429–444 (auch in: „Die Entstehung der Volkswirtschaft“, Bd.  2, 1922, S. 87–118) • Die Sozialisierung, 1919 • Beiträge zur Wirtschaftsgeschichte, 1922 • Gesammelte Aufsätze zur Zeitungskunde, 1926

Literatur HdSW (1959), Bd. 2, S. 451 f. Hesse (2009), S. 74–75 Kolb (2004), S. 114 Krause/Graupner/Sieber (1989), S. 73–75 Wagner-Hasel: Die Arbeit des Gelehrten: Der Nationalökonom Karl Bücher. Frankfurt a. M. 2011.

Böhm Bawerk, Eugen von

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Leben & Karriere • Böhm-Bawerk besuchte von 1857 bis 1868 das Schottengymnasium in Wien. • Im Oktober 1868 begann er sein Studium der Rechtswissenschaften, legte vier Jahre später sein Examen ab und wurde 1875 an der Wiener Universität zum Doktor der Rechte promoviert. • Von 1875 bis 1879 ließ sich B., der seit 1872 im Finanzministerium tätig war, zu Forschungszwecken beurlauben. Seine wissenschaftlichen Studien führten ihn nach Deutschland, wo er die Universitäten in Heidelberg, Leipzig und Jena besuchte und bei Karl Knies, Wilhelm Roscher und Bruno Hildebrand studierte. • Nachdem sich B. 1880 als Privatdozent für politische Ökonomie bei Carl Menger in Wien habilitierte, wurde er 1881 an der Universität Innsbruck zum außerordentlichen Professor und drei Jahre später zum ordentlichen Professor für politische Ökonomie ernannt. • 1889 wurde B. als Ministerialrat in das österreichische Finanzministerium berufen und 1895 wurde er Finanzminister. Dieses Amt übernahm er in der Folgezeit zwei weitere Male, nämlich 1897/1898 sowie von 1900 bis 1904. • Nach seinem Rücktritt vom Amt des Finanzministers im Oktober 1904 übernahm B. wieder seine Professur in Wien, die er bis 1914 ausübte. Zu seinen Schülern zählten u. a. →Schumpeter, →von Mises, →Lederer und →Hilferding. • B. war seit 1902 Mitglied der Akademie der Wissenschaften, seit 1907 deren Vizepräsident und seit 1911 Präsident. Außerdem war er k. u. k. Geheimer Rat, Mitglied des Herrenhauses und Ehrendoktor der Universität Heidelberg.

Werk & Wirkung • In seiner ersten Publikation aus dem Jahr 1881 Über die Rechte und Verhältnisse vom Standpunkte der nationalökonomischen Güterlehre geht Böhm-Bawerk der Frage nach, ob neben den Sachgütern und den Arbeitsleistungen auch Rechte und Verhältnisse zur Kategorie der ökonomischen Güter zählen. Im Ergebnis verneint er diese Lehrmeinung. • In der Schrift Grundzüge der Theorie des wirtschaftlichen Güterwertes, die 1886 in den Jahrbüchern für Nationalökonomie und Statistik erschien, erarbeitet B. eine Theorie des Gebrauchswertes. In dieser Wirtschaftstheorie stellt er den Gebrauchswert auf eine psychologische Grundlage. • Das Hauptwerk von B. ist Kapital und Kapitalzins. Geschichte und Kritik der Kapitalzinstheorien. Das rund 2000 Seiten starke Werk erschien von 1884 bis 1889 zunächst in zwei, später in drei Bänden. B. widmet sich darin dem Problem, eine Erklärung für das Phänomen des Kapitalzinses zu finden. Im ersten Kapitel schreibt er:

Werk & Wirkung

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„Wer ein Kapital besitzt, ist in der Regel imstande, sich aus demselben ein dauerndes reines Einkommen zu verschaffen, welches in der Wissenschaft den Namen Kapitalrente oder Kapitalzins im weiteren Sinne des Wortes führt. … Es entsteht unabhängig von irgendeiner persönlichen Tätigkeit des Kapitalisten; es fließt ihm zu, auch wenn er keine Hand zu seiner Entstehung gerührt hat … Es kann aus jedem Kapital erlangt werden, gleichviel aus welchen Gütersorten dieses besteht: aus natürlich fruchtbaren Gütern so gut wie aus unfruchtbaren, aus vertretbaren so gut wie aus nicht vertretbaren, aus Geld so gut wie aus Waren. Es fließt endlich, ohne das Kapital, aus dem es hervorgeht, jemals zu erschöpfen, und ohne daher in seiner Dauer an irgendeine Grenze gebunden zu sein … Woher und warum empfängt der Kapitalist jenen end- und mühelosen Güterzufluß? Diese Worte enthalten das theoretische Problem des Kapitalzinses. Es wird gelöst sein, wenn die geschilderte Tatsache des Zinsbezuges mit all ihren wesentlichen Merkmalen vollständig erklärt sein wird. … Vom theoretischen ist das sozialpolitische Zinsproblem genau zu unterscheiden. Während das theoretische Problem fragt, warum der Kapitalzins da ist, fragt das sozialpolitische Zinsproblem, ob der Kapitalzins da sein s o l l; ob er gerecht, billig, nützlich, gut, und ob er darum beizubehalten, umzugestalten oder aufzuheben ist. Während das theoretische Problem sich ausschließlich für die Ursachen des Kapitalzinses interessiert, interessiert sich das sozialpolitische hauptsächlich für seine Wirkungen. Während das theoretische Problem sich nur um die Wahrheit kümmert, achtet das sozialpolitische Problem vor allem auf die Zweckmäßigkeit (Böhm-Bawerk: Kapital und Kapitalzins. Erste Abteilung, 4. Aufl., Wien 1921, S. 1–2).“

• Den wesentlichen Inhalt der Kapitalzinstheorie gibt →C. Menger in einem Nachruf auf Böhm-Bawerk folgendermaßen wieder: „Eine Anzahl teils psychologischer, teils technischer Gründe wirkt zusammen, um in der Wertschätzung der Menschen und weiterhin in den aus den Wertschätzungen resultierenden Preisen, den gegenwärtigen Gütern, jeweils einen gewissen Vorzug vor künftigen Gütern derselben Art und Zahl zu verschaffen. Die psychologischen Gründe wurzeln hauptsächlich in der Unsicherheit der Zukunft und in dem geringeren Bedacht, welchen die meisten Menschen auf die Sicherstellung der künftigen Bedürfnisse nehmen; die technischen Gründe hängen hauptsächlich mit gewissen Verhältnissen der Produktion, namentlich damit zusammen, daß die technisch ergiebigsten Produktionsmethoden diejenigen sind, bei welchen man sich weit ausholende und zeitraubende Produktionsumwege (die vorbereitende Herstellung geeigneter Zwischenprodukte, Werkzeuge, Hilfsmittel u. dgl.) gestatten kann. Insofern nun solche zeitraubende Umwege nur derjenige beschreiten kann, der schon jetzt eine genügende Geld- oder Gütersumme in der Hand hat, um die Produktionserfordernisse einer so langen Zeit zu bestreiten, gewinnt die Verfügung über gegenwärtige Gütersummen in der Produktion eine erhöhte Bedeutung, gegenüber welcher künftige Gütersummen, die jene Dienste natürlich nicht leisten können, zurückstehen müssen. Infolge aller dieser Umstände stellt sich zwischen gegenwärtigen und künftigen Gütern ein Schätzungs- und Austauschverhältnis heraus, das regelmäßig zu Gunsten der ersteren steht, so zwar, daß zum Beispiel 100 gegenwärtige Mark oder Zentner Weizen nicht mit 100, sondern etwa 105 nächstjährigen (im nächsten Jahr zur Verfügung oder Bezahlung gelangenden) Mark oder Zentnern Weizen gleichwertig gehalten werden. (in: H. Recktenwald: Geschichte der politischen Ökonomie, Stuttgart 1971, S. 431 f.)“

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• Der Zins ist nach B. ein Agio, das sich daraus herleitet und begründet, dass Gegenwartsgüter einen höheren Wert haben als zukünftige Güter. Diese Betrachtungsweise wendet er auch an auf die Arbeit, die ebenfalls eine Zukunftsware sei. Somit rechtfertigt er die Aneignung des Mehrwerts durch den Unternehmer: „Hiermit glaube ich einen der wichtigsten Beweisgänge … glücklich zurückgelegt zu haben. Er legt, in vollständiger Bekräftigung jener Schlüsse, die wir oben aus der Natur des Produktivmittels Arbeit als Zukunftsware gezogen hatten, den Schlüssel zur Erklärung des so viel umstrittenen ‚Mehrwerts‘ der Unternehmer in unsere Hand. Es stellt sich heraus, daß auf dem großen kombinierten Subsistenzmittelmarkt der Gesellschaft für Gegenwartsgüter ein Agio gegeben werden muß als organische Frucht der allzeit wirkenden Sachlage, daß gegenwärtige Güter nützlicher und begehrter sind als künftige, und daß gegenwärtige Güter nie in grenzenloser Fülle vorhanden und angeboten sind: dieses organisch notwendige Agio wird auf dem Darlehensmarkte unmittelbar in der Form des Zinses, auf dem Arbeitsmarkt in der Form eines Arbeitspreises gegeben, der hinter dem Betrag des künftigen Arbeitsproduktes zurückbleibt und demnach zum Hineinwachsen in einen Mehrwert Spielraum bietet (Böhm-Bawerk: ­Kapital und Kapitalzins, S. 406–407). Am Wesen des Kapitalzinses klebt kein Makel. Wer daher seine Ausrottung fordert, mag dies allenfalls auf irgend welche Erwägungen der Zweckmäßigkeit gründen, aber nicht, wie dies heute die Sozialisten tun, auf die Behauptung von der inneren Ungerechtigkeit jener Einkommensart (Böhm-Bawerk: Kapital und Kapitalzins, S. 431).“

• Im Jahre 1896 veröffentlichte B. seine kontrovers diskutierte Schrift Zum Abschluß des Marxschen Systems, in der er die Theorie von →Marx kritisiert und die Behauptung aufstellt, dass dessen Werttheorie im ersten und im dritten Band des „Kapitals“ im Widerspruch zueinander stünden. Dieser Vorwurf löste lebhafte Diskussionen aus und veranlasste →Engels dazu, in einem Nachtrag zum dritten Band dazu Stellung zu beziehen und die Kritik zurückzuweisen. Auch →Hilferding setzte sich direkt mit dem Vorwurf auseinander und verfasste 1904 eine Gegenkritik mit dem Titel Böhm-Bawerks Marx-Kritik. • Neben seiner Marx-Kritik, auf die noch heute häufig zurückgegriffen wird, ist die he­ rausragende Bedeutung von B. insbesondere darin zu sehen, dass seine ‚österreichische Variante‘ der Werttheorie der neoklassischen Theorie insgesamt zum Durchbruch verhalf und sein Werk einen großen Einfluss auf nachfolgende Ökonomen ausübte. So erlangte die von B. herausgearbeitete Bedeutung des Zeitfaktors in der volkswirtschaftlichen Theorie der letzten Jahrzehnte zunehmend einen höheren Stellenwert. Hennings hebt hervor, dass „insbesondere die neoklassischen Elemente der Böhm-Bawerkschen Theorie zum festen Bestandteil des ökonomischen Denkens geworden [sind]. Dazu gehören – um nur drei zu nennen – der Begriff der Zeitpräferenz, der Nachweis, daß der Kapitalertrag in einer Wirtschaft ohne Produktion auf unterschiedlichen Zeitpräferenzen beruht, und die Einsicht, daß er nicht der Preis für irgendeine besondere Dienstleistung ist, sondern die Konsequenz intertemporaler Bewertungsunterschiede“ (in Starbatty, S. 190). Zu einer kritischeren Würdigung gelangt Weinberger: „Man kann die ganze Grundlage, auf welcher er seine Zinstheorie aufgebaut hat, ablehnen – auch ich halte die berühmten drei Gründe nicht für überzeugend, wie es überhaupt keine Emp-

Literatur

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fehlung für eine Theorie ist, wenn sie zu ihrer Verteidigung solch umfangreicher Schriften bedurfte, – der Ruhm und die wissenschaftliche Bedeutung Böhms wird dadurch nicht erschüttert.“

Wichtige Publikationen • • • • •

Rechte und Verhältnisse vom Standpunkt der volkswirtschaftlichen Güterlehre, 1881 Kapital und Kapitalzins. Geschichte und Kritik der Kapitalzins-Theorien, 1884 Kapital und Kapitalzins. Positive Theorie des Kapitales, 1889 Zum Abschluß des Marxschen Systems, 1896 Macht oder ökonomisches Gesetz?, 1914

Literatur HdSW, Bd. 2 (1959), S. 357–359 Hesse (2009), S. 60 Kurz (2009), Bd. 2, S. 48–64 Krause/Graupner/Sieber (1989), S. 55–57 Linß (2014), S. 68–71 Recktenwald (1971), S. 425–436 Stavenhagen (1964), S. 256–258 Söllner (2015), S. 229–231 Starbatty (2012), Bd. 2, S. 175–190

Kautsky, Karl

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Leben & Karriere • Nach dem Besuch des Gymnasiums in Melk (Österreich) von 1864 bis 1866 studierte Kautsky von 1874 bis 1878 Geschichte, Nationalökonomie, Philosophie und Rechtswissenschaften in Wien. • Als Student trat er 1875 der Sozialdemokratischen Partei Österreichs bei und publizierte zahlreiche Artikel für sozialdemokratische Zeitungen. • Von 1880 bis 1882 war er Mitarbeiter des Verlegers und Publizisten Karl Höchberg in Zürich, wo er auch Bekanntschaft mit Bernstein, Bebel und W. Liebknecht machte und sich mit den Zielen der Sozialdemokratie vertraut machte. • Als K. 1881 nach London reiste, lernte er →K. Marx und →F. Engels kennen, die für lange Jahre seine Entwicklung beeinflussten. Bis 1885 arbeitete K. eng mit Engels zusammen. • 1882 schlug K. dem sozialistischen Verleger J. H. W. Dietz die Herausgabe einer marxistischen Zeitschrift vor. Ein Jahr später (1883) wurde K. Chefredakteur dieser in Stuttgart gegründeten Zeitschrift mit dem Titel Die Neue Zeit (NZ), die sich unter seiner Leitung zum führenden marxistischen Organ der deutschen und internationalen Arbeiterbewegung entwickelte. • 1885 übersiedelte K. mit der Redaktion der NZ nach London und kehrte fünf Jahre später – nach der Aufhebung der Sozialistengesetze in Deutschland – nach Deutschland zurück. Während dieses Aufenthalts in London entwickelte sich K. zum Marxisten. Im Dezember 1898 schrieb er im Vorwort zur Agrarfrage: „Meine Sympathien gehörten in den Anfängen meiner Beschäftigung mit dem Sozialismus durchaus nicht dem Marxismus. Ich trat ihm ebenso kritisch und zweifelnd entgegen, … Nur widerstrebend wurde ich Marxist.“ • 1891, nach seiner Übersiedlung nach Berlin, verfasste K. den Entwurf des Erfurter Programms der SPD.  Mit diesem Parteiprogramm kehrte die SPD (nach reformistischen Ansätzen des Gothaer Programms) teilweise wieder zu marxistischen Positionen zurück. Für den theoretischen Teil des Programms hat K.  – nach eigener Aussage  – Teile des Marx’schen Kapitals zusammengefasst. In den folgenden Jahren wich K. immer mehr davon ab und vertrat zunehmend zentristische Positionen. So stand er schließlich innerhalb der SPD in Distanz zur Parteirechten wie zur Parteilinken. • Nach der Spaltung der SPD wurde K. 1917 Mitglied der USPD, kehrte aber 1922 in die SPD zurück. Nach der Oktoberrevolution lehnte K. den orthodoxen Marxismus der Bolschewiki ab und wurde zum Gegner Sowjetrusslands. Er vertrat die Auffassung, dass ein Sozialismus ohne Demokratie denaturieren und zur Gewaltherrschaft führen müsse. • Im August 1924 ging K. nach Wien, wo er schriftstellerisch tätig war. Hier verfasste er bedeutende Werke, wie z. B. Sozialisten und Krieg und Die materialistische Geschichtsauffassung. • Nach dem Einmarsch deutscher Truppen emigrierte er 1938 nach Amsterdam.

Werk & Wirkung

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Werk & Wirkung • Kautsky verfasste eine Vielzahl von Büchern, Broschüren und Aufsätzen, die zum Ziel hatten, den Marxismus zu popularisieren. So schrieb er rückblickend in einem Brief an Engels: „Mein Lebenswerk stand 1883 fest“, nämlich „die Propagierung, Popularisierung und, soweit meine Kräfte reichten, Fortführung der wissenschaftlichen Resultate Marxschen Forschen und Denkens“ (zit. n. Koth, S. 46). • Von 1883 bis 1917 war K. Chefredakteur der Neuen Zeit. Er strebte danach, in der N. Z. „ein Bild der gesamten internationalen Arbeiterbewegung zu geben“ (zit. n. Koth, S. 72). Er verfasste zahlreiche Artikel zu einer Vielzahl von Themen, die auf umfangreichen Recherchen beruhen und in einem aufklärerischen und einfachen Stil verfasst sind, ohne jedoch primitiv zu wirken. In dieser Phase galt K. international als angesehener marxistischer Theoretiker und als „Nachfolger“ Engels. • Ab 1887 wurde K. vom Dietz Verlag die Aufgabe anvertraut, die Internationale Bibliothek herauszugeben. Im selben Jahr erschien in dieser Reihe sein populärwissenschaftliches Werk Karl Marx’ ökonomische Lehren, „eine Schrift, welche die ökonomischen Lehren von Marx kurz zusammenfaßt, allgemein verständlich darstellt und erläutert“, wie K. im Vorwort zur ersten Auflage schreibt. Weiter heißt es dort, diese „soll nicht nur eine Darstellung der Marx’schen Lehren, sondern auch ein Leitfaden zu dem Studium der Marx’schen Werke im Original sein.“ Mit der knapp 270 Seiten umfassenden Schrift machte K. das Das Kapital einer breiten Öffentlichkeit bekannt und trug wesentlich zu einer Verbreitung des wissenschaftlichen Sozialismus bei. Bis 1914 wurde das Buch, von dem Engels meinte, es sei „nicht schlecht, wenn auch nicht immer ganz richtig“, in elf Sprachen übersetzt und 1930 erschien die 25. Auflage. • 1899 erschien sein Werk Die Agrarfrage, in der er die Entwicklung der Landwirtschaft unter kapitalistischen Bedingungen analysiert. In der Einleitung schreibt K., man müsse „alle die Veränderungen untersuchen, denen die Landwirthschaft im Laufe der kapitalistischen Produktionsweise unterliegt. Wir müssen untersuchen, ob und wie das Kapital sich der Landwirthschaft bemächtigt, sie umwälzt, alte Produktions- und Eigenthumsformen unhaltbar macht und die Nothwendigkeit neuer hervorbringt“, um zu sehen, „ob die Marxsche Theorie in der Landwirthschaft anwendbar ist, oder nicht, und ob die Aufhebung des Privateigenthums an den Produktionsmitteln gerade vor dem vornehmsten aller Produktionsmittel, dem Grund und Boden, Halt zu machen hat.“ Lenin kam in einer Rezension zu der Einschätzung, dass die Agrarfrage „die hervorragendste Erscheinung der neuesten ökonomischen Literatur“ sei. • Von 1905 bis 1910 gab K. den von Marx geplanten, jedoch nicht verwirklichten „vierten Band“ des Kapitals – die Theorien über den Mehrwert – heraus. Allerdings nahm K. eigenwillige Veränderungen in der ursprünglichen Konzeption vor, sodass diese Ausgabe Mängel aufweist. • K. gilt nach →Marx und Engels als der bedeutendste Theoretiker des Marxismus. Allerdings müssen sein Werk und Wirken in ihren historischen Dimensionen betrachtet

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werden. Nach →Lenin sei zwischen drei Schaffensperioden zu unterscheiden: einer marxistischen, einer zentristischen und einer antikommunistischen. Zwoch sieht in K. den „bedeutendsten sozialistischen Theoretiker“; demgegenüber trete seine Bedeutung als Wirtschaftswissenschaftler zurück. „Das größte und bleibende Verdienst des marxistischen Theoretikers, sozialistischen Gesellschaftsphilosophen und Historikers Kautsky“ liege darin, „mit seinen geschichtlichen Untersuchungen den Boden für die Auffassung bereitet zu haben, daß alle politischen und ökonomischen Begriffe, Vorstellungen und Erkenntnisse im Marxismus nur als historische Kategorien gesehen werden dürfen, die jeweils auf ihre soziologische Bedingtheit zurückgeführt und aus ihr heraus verstanden werden müssen“ (Zwoch, in: HdSW, Bd. 5, S. 603). Schumpeter würdigt K.s Werk, obwohl sich in seinen Schriften „nichts eigentlich Originelles“ findet, als eine „historisch bedeutsame Leistung“ (S. 1074).

Wichtige Publikationen • • • •

Karl Marx’ ökonomische Lehren, 1887 Das Erfurter Programm in seinem grundsätzlichen Teil erläutert, 1892 Die Vorläufer des neueren Sozialismus, 1895 Die Agrarfrage: Eine Uebersicht über die Tendenzen der modernen Landwirthschaft und die Agrarpolitik der Sozialdemokratie, 1899 • Die Soziale Revolution, 1902 • Die Diktatur des Proletariats, 1918 • Die materialistische Geschichtsauffassung, 1927

Literatur HdSW (1956), Bd. 5, S. 603–604 Hesse (2009), S. 266 H. Koth: „Meine Zeit wird kommen …“ Das Leben des Karl Kautsky (1993) Krause/Graupner/Sieber (1989), S. 459–464 Lange/Alexander (1983), S. 459–464 Schumpeter (1965/2007), S. 1074

Taylor, Frederick Winslow

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Leben & Karriere • Als Kind begleitete Taylor seine Eltern auf einer Europareise und besuchte mehrere Schulen, u. a. als 13-Jähriger eine in Berlin. • Sein Jurastudium musste T. abbrechen, da er wegen einer Augenerkrankung unter massiven Kopfschmerzen litt. • Nach seiner Genesung absolvierte er seit 1874 eine gewerbliche Lehre als Werkzeugmacher und Maschinist bei den Wasserwerken in Philadelphia und arbeitete seit 1878 bei der Midvale Steel Company in Philadelphia. Gleichzeitig studierte er in Abendkursen am Stevens Institute of Technology und konnte nach dreijährigem Studium das Examen als „Mechanical Engineer“ ablegen. Daraufhin stieg er 1884 zum leitenden Ingenieur auf. Während seiner praktischen Tätigkeit forschte er an der Verbesserung industrieller Arbeitsmethoden (z. B. durch Zeitstudien und der Entwicklung eines Prämiensystems). • 1890 verließ er die Midvale Steel Company und war anschließend in verschiedenen Unternehmen tätig, u. a. bei der Manufactoring Investment Co., wo er seine Ideen in die Praxis umsetzen wollte. • 1898 wurde T. bei den Bethlehem Steel Works – dem damals größten Stahlerzeuger der Welt – als (festangestellter) beratender Ingenieur eingestellt. Nach dreijähriger Tätigkeit wurde er wegen Differenzen mit dem Management entlassen. • 1900 wurde T. auf der Pariser Weltausstellung eine Goldmedaille verliehen. Diese Auszeichnung erhielt er für seine Erfindung des Taylor-White-Prozesses zur Stahlbehandlung. • Seit 1901 war T. als Privatdozent tätig und lehrte sein Scientific Management an Universitäten und Colleges. • 1906 wurde er zum Präsidenten der American Society of Mechanical Engineers, einem Berufsverband der Maschinenbauingenieure, gewählt. Im selben Jahr verlieh ihm die Universität Philadelphia den Ehrendoktor. 1912 erhielt T. diese Auszeichnung auch vom Hobart College. • Von 1909 bis 1914 lehrte T. sein Scientific Management an der Harvard Universität.

Werk & Wirkung • T. beschäftigte sich mit der Arbeitsteilung aus technischer Sicht und gilt als der Begründer der „wissenschaftlichen Betriebsführung“. Er war der erste, der betriebliche Abläufe in der Praxis systematisch und methodisch gesichert untersuchte, mit dem Ziel, diese zu optimieren und somit einen höheren Grad an Rationalität zu erreichen. Er entwickelte rund 100 Patente und verfasste fünf Bücher sowie einige Beiträge in Fachzeitschriften.

Werk & Wirkung

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Abb. 40.1  Mechaniker bei Tabor Co., einer der Vorzeigefirmen Taylors, um 1905. (Quelle: Wikimedia)

• Die Erkenntnisse seiner Studien und sein daraus entwickeltes neues Organisations- und Managementsystem legte er in der 1911 erschienenen Abhandlung The Principles of Scientific Management (dt. Die Grundsätze wissenschaftlicher Betriebsführung, 1913) dar, die auf einem Vortrag basiert, den T. vor den Mitgliedern der American Society of Mechanical Engineers gehalten hat. Mit seinen Grundsätzen verfolgt T. das Ziel, anhand „einer Reihe von einfachen Beispielen zu zeigen, welch einen gewaltigen Verlust unser ganzes Land bei fast allen unseren alltäglichen Handlungen durch das Missverhältnis zwischen aufgewendeter Arbeit und erzieltem Resultat (dem geringen Nutzeffekt, der ‚inefficiency‘ …) erleidet.“ T. möchte den Leser davon überzeugen, „daß das Heilmittel gegen dies Mißverhältnis in einem systematischen Betrieb zu suchen ist“ und „daß die beste Leistung und Verwaltung (management) eine wirkliche Wissenschaft darstellt“, die „auf klar definierten Gesetzen, Regeln und Grundsätzen“ basiert (S. 4–5). Abb. 40.1 zeigt einen nach Taylors Grundsätzen organisierten Betrieb.

• Als wesentliche Merkmale des „neuen Systems“ führt T. in den Schlussbemerkungen seiner Grundsätze (Kap. IV) die folgenden an: „Zeitstudien mit den notwendigen Instrumenten und Methoden, um sie einwandfrei durchzuführen.

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Abb. 40.2  Rechenschieber für Dreharbeiten, entwickelt von Taylors Mitarbeiter, dem Mathematiker Carl G. Barth um 1904. (Quelle: Wikimedia) Spezial- oder Funktions-Meistertum als Ersatz für die weit unvorteilhafteren, althergebrachten Einzelmeister. Die Normalisierung aller Werkzeuge und Geräte in den verschiedenen Gewerben und ebenso aller Handgriffe oder Bewegungen der Arbeiter für jede Arbeitsgattung. Als wünschenswerte Einrichtung: ein Arbeitsverteilungsbureau oder eine Dispositionsabteilung, man könnte vielleicht deutsch kurz Arbeitsbureau sagen. Das Ausnahmeprinzip in der Leitung. Der Leiter soll nicht auf die Durchsicht der im regelmäßigen Turnus und in ziemlich gleichbleibender Form wiederkehrenden Angelegenheiten und Zahlen seine Zeit verwenden, er soll nur vergleichende Übersichten über die Vorgänge im Betrieb erhalten und auch diese erst nach sorgfältiger Prüfung … So ist er in wenigen Augenblicken orientiert und hat Zeit für neue Gedanken. Der Gebrauch von Rechenschiebern und ähnlichen zeitsparenden Instrumenten. Instruktions- oder Anweisungszettel für die Arbeiter. Die Pensumidee, begleitet von einem reichlichen Bonus für erfolgreiche, zufriedenstellende Erfüllung des Pensums. Das Differentiallohnsystem. Mnemotechnische Systeme für die Klassifizierung fertiger Produkte, wie auch bei der Fabrikation verwendeten Geräte, Werkzeuge und Instrumente. Zerlegung der Aufträge in ihre Bestandteile und Verteilung derselben an die einzelnen Abteilungen (Routingsystem). Moderne Selbstkostenrechnung etc. (S. 139 f.) (Abb. 40.2)“

• Es war die Hoffnung Taylors, die Beziehungen zwischen Arbeit und Kapital durch Objektivierung und Rationalisierung zu harmonisieren. Tatsächlich waren es gerade seine Methoden, die viele Konflikte heraufbeschworen. „Der Taylorismus verkörpert geradezu ein System des Misstrauens, denn der Einzelne verlor jeden Freiraum. [...]

Literatur

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Für die Unternehmer war der Taylorismus ungemein attraktiv, denn er versprach Rationalisierungsgewinne ohne größere Investitionen“ (Berghoff, S. 305). • Bereits in den 1930er-Jahren setze eine Gegenbewegung zum Taylorismus ein. Die Psychologen Mayo und Roethlisberger konnten nachweisen, dass nicht nur die technischen Bedingungen und durchdachte Arbeitsabläufe bestimmend sind, sondern auch die partnerschaftlichen Beziehungen zwischen Vorgesetzten und Mitarbeitern und die sozialen Bindungen innerhalb und zwischen den Arbeitsgruppen (vgl. Bontrup, S. 186). Im ersten Band seiner Grundlagen (Die Produktion) gelangt →Erich Gutenberg zu einer differenzierten Beurteilung des Taylorismus: Obwohl „die meisten seiner Lehrsätze bald wieder verworfen worden“ seien, da Taylor „von unmöglichen Voraussetzungen“ ausging und „seinem System unmögliche soziale und psychologische Folgerungen innewohnten“ und das daher „mit Recht auf viel Ablehnung gestoßen und in seinen wesentlichen Teilen längst überwunden ist“, anerkennt Gutenberg, dass T. „als erster die Bedeutung des Verhältnisses zwischen ‚produktiver Zeit‘ und der ‚Verlustzeit‘ erkannte. Auch erkannte T. „die großen Möglichkeiten …, die sich ergeben, wenn man die einzelnen Arbeitsoperationen von Mängeln befreit, die in der Person des Arbeitenden oder dem Werkzeug oder dem Werkstoff liegen.“ Und schließlich war T. „auch der erste, der eine Aufgabentrennung bei den leitenden Personen in Werkstatt und Büro vorschlug. Das Arbeitsbüro ist im Grunde seine Erfindung“ (S. 146 f.).

Wichtige Publikationen • Shops Management, 1903 (dt.: Die Betriebsleitung, 1909) • The Principles of Scientific Management, 1911 (dt.: Die Grundsätze wissenschaftlicher Betriebsführung, 1913)

Literatur H. Berghoff: Moderne Unternehmensgeschichte, 2. Aufl., Berlin 2016, S. 303–305. H.-J. Bontrup (2011): Arbeit, Kapital und Staat, 4. Aufl., Köln, S. 179 ff. E. Gutenberg (1975): Grundlagen der Betriebswirtschaftslehre, Bd. 1, 21. Aufl., Berlin/Heidelberg/ New York, S. 145–147 HdSW, Bd. 10, S. 293–294 Hesse (2009), S. 552–553

Gesell, Silvio

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Leben & Karriere • Gesell verließ das Gymnasium, als sein Vater schwer erkrankte und begann  – nach kurzer Tätigkeit bei der Reichspost  – eine kaufmännische Ausbildung in der Firma seiner Brüder in Berlin. Den kaufmännischen Beruf übte er noch einige Zeit in Braunschweig und Hamburg aus. • 1882 ging er für zwei Jahre nach Malaga (Spanien), wo er als kaufmännischer Korrespondent in einer Weinhandlung tätig war. • 1887 wanderte G. nach Argentinien aus, machte sich in Buenos Aires selbstständig und betrieb dort die Casa Gesell – einen Importhandel für medizinisches Zubehör. Die argentinische Wirtschaftskrise in den 1890er-Jahren weckte sein Interesse für volkswirtschaftliche Fragen und er begann, erste geldtheoretische Schriften zu publizieren. • 1892 kehrte er nach Europa zurück und ließ sich schließlich in der Schweiz nieder, wo er sich seinen ökonomischen Studien widmete. • Von 1907 bis 1911 lebte G. wieder in Argentinien und nahm seine kaufmännischen Tätigkeiten wieder auf. • Nachdem er seinen Söhnen die Casa Gesell übertragen hatte, kehrte er zurück nach Deutschland und ließ sich in der alternativ ausgerichteten Genossenschaftssiedlung Oranienburg-Eden in der Nähe von Berlin nieder, wo er von 1911 bis 1914 lebte. Anschließend wirkte G. als Landwirt und Schriftsteller in Les Hauts-Geneveys (Schweiz). • Ab 1912 gab G. mit seinem Mitstreiter Georg Blumenthal die Zeitschrift Der Physiokrat heraus, die im ersten Weltkrieg unregelmäßig erschien und schließlich 1916 der Kriegszensur zum Opfer fiel. In ihrer „Prinzipienerklärung“ heißt es: „So treten wir denn auch in die Öffentlichkeit mit einer Idee, die man für tot hielt – obwohl ihre Wirkungen noch heute zu spüren sind  – mit der Idee jener freimütigen und hochsinnigen Franzosen die man Physiokraten nannte, deren Bestrebungen man aber mit ihrem Sturz für „abgetan“ hielt, weil man nicht fähig war, die Gedanken zu Ende zu denken, die sie – ihrer Zeit weit voraus – in die Welt warfen. Und doch riss der Gedankenfaden eigentlich nie ganz ab, – der Gedanke nämlich, daß es möglich sein müsse die „natürliche Ordnung“ in die Beziehungen der Menschen und Völker hineinzubringen auf Grund einer veränderten Volkswirtschaft. Man ging dabei von der richtigen Erkenntnis aus, daß der Grundbesitz und das Geldwesen die Grundpfeiler der bestehenden Wirtschaftsordnung sind, auf denen alles Übrige beruht. Schon die ersten Physiokraten hatten begriffen, dass an der Grundrente, (dem produit net) und dem Zins alles soziale Unrecht, alle Unnatürlichkeit im Staats- und Völkerleben hängt und erstrebten demgemäß die „Herrschaft der natürlichen Ordnung“, um eine gerechte Harmonie der Interessen unter den Menschen anzubahnen.“

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• Im April 1919 wurde G. zum Volksbeauftragten für das Finanzwesen in der ersten bayerischen Räterepublik ernannt. Nach dem Sturz der Räteregierung und nur siebentägiger Amtszeit wurde G. wegen Hochverrats angeklagt, später jedoch freigesprochen. • 1924 zog er ein letztes Mal nach Argentinien und blieb dort eineinhalb Jahre. • Ab 1927 lebte er wieder in der Genossenschaftssiedlung Eden bei Oranienburg.

Werk & Wirkung • Gesells Hauptwerk ist Die natürliche Wirtschaftsordnung durch Freiland und Freigeld, das 1916 veröffentlicht wurde. Es besteht aus den bereits 1906 und 1911 erschienenen zwei Teilen Die Verwirklichung des Rechtes auf den vollen Arbeitsertrag und Die neue Lehre vom Zins. In dieser Schrift entwirft G. eine alternative Wirtschaftsordnung, die unter den Bezeichnungen „natürliche Wirtschaftsordnung“, „physiokratische“ oder „Freiwirtschaftliche Ordnung“ bekannt geworden ist. Der Bezugspunkt seines ökonomischen Lehrgebäudes ist die Natur. So ist G. bestreb, die Wirtschaftsordnung und die Ordnung der Natur in Einklang zu bringen. Das Ziel ist eine Marktwirtschaft ohne Kapitalismus. Das Hauptproblem des Kapitalismus sieht G. in Konzentrationsprozessen bei Boden und Kapital. Dies hänge mit dem Wesen des Geldes zusammen. Das Prinzip des Werdens und Vergehens, wie es die Natur bestimmt, habe keinen Einfluss auf Geld und Boden. Daher können diese gehortet werden. Die Wertaufbewahrungsfunktion des Geldes stehe nach seiner Ansicht im Konflikt mit der Funktion des Geldes als Tauschmittel. Er sieht darin einen Strukturfehler, den er durch die Einführung von Freigeld – sogenanntes „Schwundgeld“ – beseitigen will. Da dieses Geld, so die Idee, wöchentlich an Wert verliert, sind die Menschen bestrebt, es schnell auszugeben, was dessen Zirkulationsgeschwindigkeit erhöht (siehe Abb. 41.1).

Abb. 41.1  Muster des physiokratischen Geldes, 1919. Jeden Monat nimmt der Wert des Freigeldes ab und muss vom Besitzer entwertet werden, indem ein Feld (rechts) abgeschnitten wird. (Quelle: Wikimedia)

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Diese Geldreform soll begleitet werden von einer Bodenreform, womit Bodenspekulationen unterbunden werden sollen. Der Boden soll in öffentliches Eigentum überführt und anschließend verpachtet und privat genutzt werden. Die Bodenrente solle an Mütter – entsprechend der Anzahl ihrer Kinder – ausgezahlt werden. • Im Zentrum von G.s Lehrgebäude steht das „Freigeld“, das er in Abschn. 4.1 seines Hauptwerkes erläutert: 1. „Das Freigeld wird in Zetteln von 1-5-10-50-100-1000 Mark ausgegeben. – Außer diesen festen Zetteln werden Kleingeldzettel … ausgegeben, die ähnlich wie die Briefmarkenbogen eingerichtet sind und dazu dienen, durch Abreißen der nötigen Felder jeden Einzelbetrag bis M.1, – zu zahlen; sie ersetzen also das frühere Kleingeld von 1-2-5-10 und 50 Pf. (Gleichzeitig dienen diese Kleingeldabrisse dazu, die Zahlkraft der festen Geldzettel durch Überkleben der fälligen Wochenfelder auf dem Laufenden zu erhalten. Die bei den öffentlichen Kassen eingehenden Kleingeldabrisse werden nicht mehr in Verkehr gebracht, sondern immer wieder durch neue Zettel ersetzt.) 2. Das Freigeld verliert wöchentlich ein Tausendstel (0,1  %) an Zahlkraft, und zwar auf Kosten der Inhaber. Durch Aufkleben von Abrissen des erwähnten Kleingeldes hat der Inhaber die Zahlkraft der Zettel immer zu vervollständigen. … Der Empfänger dieser Note, der sich natürlich solchem Schaden entziehen will, sucht nun das Geld immer so schnell wie möglich weiterzugeben … So steht der Geldumlauf unter Druck, der es bewirkt, daß jeder immer gleich bar bezahlt, seine Schuld tilgt und etwa dann noch verbleibenden Geldüberschuß mit derselben Eile zur Sparkasse trägt, die ihrerseits auch wieder danach trachten muß, Abnehmer für die Sparanlagen heranzulocken, wenn nötig durch Herabsetzung des Zinsfußes. 3. Am Ende des Jahres werden alle Geldscheine gegen neue umgetauscht. 4. Zweck des Freigeldes. Vor allem soll die Übermacht des Geldes gebrochen werden. Diese Übermacht ist restlos darauf zurückzuführen, daß das herkömmliche Geld den Waren gegenüber den Vorzug der Unverwüstlichkeit hat. Während unsere Arbeitserzeugnisse bedeutende Lager- und Wartekosten verursachen, die ihren allmählichen Zerfall nur verlangsamen, aber nicht verhindern können, ist der Besitzer des Geldes durch die Natur des Geldstoffes (Edelmetall) frei von jedem solchen Verlust. Der Geldbesitzer (Kapitalist) hat darum im Handel immer Zeit; er kann warten, während die Warenbesitzer es immer eilig haben. Zerschlagen sich also die um den Preis geführten Verhandlungen, so trifft der Schaden, der daraus erwächst, immer einseitig den Warenbesitzer, letzten Endes also den Arbeiter. Diesen Umstand benützt der Kapitalist, um einen Druck auf den Warenbesitzer (Arbeiter) auszuüben, also um diesen zu veranlassen, seine Arbeitserzeugnisse (Arbeitskraft) unter Preis zu verkaufen. …“

• Ideologisch lassen sich Gesells wirtschaftspolitische Positionen „zwischen der Sozialen Marktwirtschaft und dem liberalen Sozialismus“ (Popescu in HdSW, Bd. 4, S. 427) verorten. Wie →J.  M. Keynes im 23. Kapitel seiner Allgemeinen Theorie schreibt, könne „der Zweck des Buches als Ganzes als die Aufstellung eines antimarxistischen Sozialismus beschrieben werden, eine Reaktion gegen das ‚laissez-fair‘, auf theoretischen Grundlagen aufgebaut, die von jenen von Marx grundverschieden sind, indem sie sich auf eine Verwerfung, statt auf eine Annahme der klassischen Hypothesen stützen, und auf eine Entfesselung des Wettbewerbs, statt auf seine Abschaffung. Ich

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glaube, daß die Zukunft mehr vom Geiste Gesells als von jenem vom Marx lernen wird“. Nach Irving Fisher könnte Freigeld „der beste Regulator der Umlaufgeschwindigkeit des Geldes sein, die der verwirrendste Faktor in der Stabilisierung des Preisniveaus ist. Bei richtiger Anwendung könnte es uns tatsächlich binnen weniger Wochen aus der Krise heraushelfen. … Ich bin ein bescheidener Schüler des Kaufmanns Gesell.“ Obwohl die Freiwirtschaftslehre und der Marxismus einen gemeinsamen Nenner haben, nämlich die Kapitalismuskritik bzw. die Ablehnung des Kapitalismus, stehen sie sich in anderen Punkten unversöhnlich gegenüber: So lehnen die Freiwirtschaftler zwar den Kapitalismus ab, verteidigen jedoch gleichzeitig das System der Marktwirtschaft, was von marxistischer Seite kritisiert wird, da eine solche Trennung nicht möglich sei und man nicht nur einzelne Teilgebiete (Zinsen) kritisieren könne. Auch werden die sozialdarwinistischen und antisemitischen Äußerungen in Gesells Werk beanstandet. Der Marxist E. Altvater weist in einem Aufsatz darauf hin, das freiwirtschaftliche Konzept sei „anschlussfähig an rassistische und antisemitische Positionen. Viele der Vertreter dieser und ähnlicher Positionen haben mit den Nazis paktiert und ihre Nähe gesucht.“ Ein weiterer Kritikpunkt ist die – schon von Keynes konstatierte – „Unvollständigkeit seiner Theorie“, die dazu führte, dass „sein Werk von der akademischen Welt vernachlässigt worden ist“. Erwähnenswert sind hingegen die Ausstrahlungen auf die Wirtschaftspraxis, wie beispielsweise die Schwundgeldexperimente von Schwanenkirchen (1931) und Wörgl (1932). Auch „darf Gesell das Verdienst in Anspruch nehmen, ein Vorkämpfer des ‚Internationalen Währungsfonds‘ gewesen zu sein“ (Popesco).

Wichtige Publikationen • Die Reformation im Münzwesen als Brücke zum sozialen Staat, 1891 • Die Verstaatlichung des Geldes, 1892 • Das Monopol der schweizerischen Nationalbank und die Grenzen der Geldausgabe im Falle einer Sperrung der freien Goldausprägung, 1901 • Die Verwirklichung des Rechtes auf den vollen Arbeitsertrag, 1906 • Die neue Lehre vom Geld und Zins, 1911 • Die natürliche Wirtschaftsordnung durch Freiland und Freigeld, 1916 • Der Abbau des Staates nach Einführung der Volksherrschaft, 1919

Literatur HdSW (1965), Bd. 4, S. 427 N. Häring: Der Erfinder des rostenden Geldes, in: Handelsblatt vom 15. 03. 2012 Hesse (2009), S. 186–187 Keynes (1936/1994): Allgemeine Theorie, S. 298 ff. Linß (2014), S. 135–139

322 Onken (1999): Silvio Gesell und die natürliche Wirtschaftsordnung Piper (1996), S. 223–228 P. Plickert: Der Mann, der das Geld entwerten wollte. In: FAZ, 07. 03. 2016

Internet http://www.silvio-gesell.de

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Sombart, Werner

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Wächter, Ökonomen auf einen Blick, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29069-6_42

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Leben & Karriere • Nach dem Besuch des Berliner Wilhelm-Gymnasiums und eines Internats in Schleusingen, wo Sombart 1882 die Reifeprüfung ablegte, studierte er Rechtswissenschaft in Pisa, Berlin und Rom. Daneben hörte er Vorlesungen in Nationalökonomie, Staatswissenschaft, Philosophie und Geschichte. Großen Einfluss übten die Ökonomen Adolph Wagner und →Gustav Schmoller, den damals führenden Köpfe der Historischen Schule der Nationalökonomie, auf S. aus. • 1888 promovierte sich S. bei Schmoller mit einer sozialökonomischen Studie über Pacht- und Lohnverhältnisse in der römischen Campagna. • Anschließend war S. für die Dauer von zwei Jahren (1888–1890) als Jurist bei der Bremer Handelskammer beschäftigt. • 1890 wurde S. auf Empfehlung Schmollers Professor für Staatswissenschaft an der Universität Breslau. Berufungen an die Universitäten in Freiburg, Heidelberg und Karlsruhe verhinderte der badische Großherzog Friedrich II., weil S. in dem Ruf stand, ein Marxist zu sein. Tatsächlich verlief S. Verhältnis zum Marxismus ziemlich widerspruchsvoll: Ende der 1880er/Anfang der 1890er-Jahre begann S. sich für den Marxismus zu interessieren, stand diesem positiv gegenüber und galt als hervorragender ­Marxkenner. Ab 1895 hielt er antimarxistische Vorträge und wandelte sich im Laufe der Jahre zu einem antimarxistischen, bürgerlich-konservativen Ideologen. • 1906 ging S. als Professor an die Handelshochschule Berlin. • Von 1917 bis zu seiner Emeritierung 1931 war er Ordentlicher Professor für Staatswissenschaften an der Berliner Universität. Auch nach seiner Emeritierung hielt er weiter Vorlesungen bis 1940. • S. wirkte ab 1892 im Ausschuss des Vereins für Socialpolitik mit, dessen Vorsitzender er 1932 wurde. Ein Jahr später wurde er Mitglied der Preußischen und der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Außerdem war er Ehrenmitglied der Rumänischen Akademie der Wissenschaften und Ehrenmitglied der American Academy of Arts and Sciences.

Werk & Wirkung • Sombart beschäftigte sich in seinem umfangreichen Werk mit volkswirtschaftlichen, historischen und philosophischen Fragestellungen. Sein besonderes Interesse galt der Analyse des Kapitalismus und des Sozialismus. Zu seinen bedeutendsten Werken zählen seine voluminöse Kapitalismusstudie Der moderne Kapitalismus und sein methodologisches Werk Die drei Nationalökonomien, die er beide im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts verfasste.

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• Der moderne Kapitalismus (die ersten beiden Bände erschienen 1902, der dritte Band 1927) ist eine umfangreiche Kapitalismusstudie, die methodologisch der Historischen Schule zuzuordnen ist. Allerdings nahm S., der als letzter Vertreter der Jüngeren Historischen Schule der Nationalökonomie gilt, auch Elemente anderer Lehren mit auf. Er strebte danach, die rein ökonomische Theorie mit dem Historismus zu verbinden und ging dabei soziologisch und historisch fundiert vor. Mit dieser Vereinigung von Wirtschaftsgeschichte und Wirtschaftstheorie zielte S. darauf ab, die Entwicklung des Kapitalismus möglichst wertfrei zu beschreiben. „… Es wird versucht das kapitalistische Wirtschaftssystem von seinen Anfängen bis zur Gegenwart zu verfolgen, seine eigenen Bewegungsgesetze aufzudecken und die Gesetzmäßigkeit seines Übergangs in eine zukünftige Wirtschaftsepoche darzustellen … (W. Sombart: Der moderne Kapitalismus, Bd. 1, 1902, S. XXXI f.).“

Hierzu führte er den Begriff „Wirtschaftssystem“ ein, worunter er die Wirtschaftsordnung einer empirisch feststellbaren Epoche versteht, in der „bestimmte Wirtschaftsprinzipien“ zur Verwirklichung gelangen (z. B. das „Bedarfsdeckungsprinzip“ und das „Erwerbs­ prinzip“). Bis zum Zeitpunkt der Veröffentlichung seines Werkes identifiziert er drei Epochen: eine bäuerlich-feudale Ordnung der Frühzeit, eine handwerksmäßige bzw. gewerbliche Organisation des Hoch- und Spätmittelalters sowie eine kapitalistische Organisation. Als vierte Epoche prognostiziert S. eine sozialistisch-genossenschaftliche: „In dem wirtschaftlichen Leben der europäischen Völker folgen seit dem Niedergang der antiken Kultur drei große Epochen aufeinander: was die frischen Völker an Stelle der alten Wirtschaftsverfassung setzen, ist, wie bekannt, zunächst eine vorwiegend agrarische Kultur. Das Wirtschaftsleben wird beherrscht von zwei sich ergänzenden Grundgedanken: auf seiner Scholle den Unterhalt für sich und die Seinen durch der eigenen oder fremde Hände Arbeit zu gewinnen und durch Häufung abhängiger Landarbeiter Macht im Staate zu erringen. Die bäuerlich-feudale Organisation ist der Ausdruck dieses Strebens; sie beherrscht das gesamte Wirtschaftsleben. Die zweite große Epoche wird durch die Befreiung der wirtschaftlichen Arbeit von der Schollenhaftigkeit eingeleitet. In den mittelalterlichen Städten und in der durch sie beherrschten Tauschwirtschaft wird wieder die Existenzmöglichkeit selbständiger Wirtschaftssubjekte ohne Grundbesitz geschaffen. Das Mittel dazu ist die Verselbständigung der gewerblichen Arbeit, wie sie in der handwerksmäßigen Organisation zur Wirklichkeit wird. Der Grundgedanke dieser Wirtschaftsordnung ist der: durch eigene, zunächst nur gewerbliche Arbeit für andere sich die standesgemäße, traditionelle ‚Nahrung‘ zu sichern. Diese Idee, von der die handwerksmäßige Organisation durchdrungen ist, wird dann wiederum für das gesamt Wirtschaftsleben die Leitidee. Das Hoch- und Spätmittelalter ist die Wirtschaftsepoche gewerblicher Kultur. Auf sie folgt diejenige Epoche, in der wir heute noch leben: deren innerste Eigenart gekennzeichnet wird durch das Vorwiegen kaufmännischen Wesens; d. h. also kalkulatorisch-­ spekulativ-­organisierende Thätigkeit; die erfüllt ist von dem Grundgedanken, daß der Zweck des Wirtschaftens der Geldgewinn sei. Dieses Streben hat sich diejenige Organisation geschaffen, die wir am beste als kapitalistische bezeichnen.

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Auf die kapitalistische Kulturepoche folgt, wie wir aus den ersten Anzeichen zu erkennen vermögen, als vierte eine socialistisch-genossenschaftliche.“

• Es war S., der als Erster den Begriff „Kapitalismus“ einführte und entscheidend zu seiner wissenschaftlichen Prägung beitrug. In der ersten Auflage erklärte er diesen so: „Kapitalismus heißen wir eine Wirtschaftsweise, in der die specifische Wirtschaftsform die kapitalistische Unternehmung ist. … Kapitalistische Unternehmung aber nenne ich diejenige Wirtschaftsform, deren Zweck es ist, durch eine Summe von Vertragsabschlüssen über geldwerte Leistungen und Gegenleistungen ein Sachvermögen zu verwerten, d. h. mit einem Aufschlag (Profit) dem Eigentümer zu reproduzieren. Ein Sachvermögen, das solcher Art genutzt wird, heißt Kapital (W. Sombart: Der moderne Kapitalismus, Band I, 1902, S. 195).“

In der zweiten Auflage definierte er „Kapitalismus“ als „eine verkehrswirtschaftliche Organisation, bei der regelmäßig zwei verschiedene Bevölkerungsgruppen, die Inhaber der Produktionsmittel als Wirtschaftssubjekte und besitzlose Nurarbeiter als Wirtschaftsobjekte, durch eine Marktverbindung zusammenwirken und die vom Erwerbsprinzip und dem ökonomischen Rationalismus beherrscht wird (1916, S. 319).“

S. unterscheidet drei Entwicklungsphasen des Kapitalismus: –– Früh- oder Handelskapitalismus (15. Jh. bis Mitte des 18. Jh.), mit der Verlagerung der Ökonomie auf die Privatwirtschaft, der Herausbildung von Berufen und der Entwicklung einer marktmäßigen Ordnung, in der die Preise durch Angebot und Nachfrage bestimmt werden. –– Hoch- oder Industriekapitalismus (ab 1760), gekennzeichnet durch aufkommende Massenproduktion, neue Produktionsverfahren, hohem Kapital- und Arbeitskräfteeinsatz, verstärktem Zuzug der Landbevölkerung in die Städte, Verelendung der Arbeiterklasse, Aufkommen der ‚Sozialen Frage‘ und der Entstehung von Gewerkschaften. –– Spätkapitalismus (etwa ab 1880), der erwachsen ist aus der Ausbreitung des Kapitalismus in noch nicht industrialisierte Länder, Konzentration des Kapitals, Monopolisierung und einer „Entseelung und Vergeistigung“ der Betriebe. (Für letzteres Phänomen wird →J. K. Galbraith später den Begriff Technostruktur prägen.) „Geist hat ein selbständiges Dasein, ohne lebendig zu sein. Seele ist immer lebensgebunden, als Menschenseele immer personengebunden, Vergeistung ist die Hinbewegung vom Seelischen zum Geistigen, ist Herausstellung, Objektivierung seelische Vorgänge, ‚Versachlichung‘. … Das Problem, um das es sich in Wirklichkeit handelt, ist der große sehr allgemeine unserer Zeit, den wir auch bei der Gestaltung der Betriebe beobachten: der Entseelung und Vergeistigung. Das und wie der Betrieb sich wandelt aus einer Gemeinschaft lebendiger, durch persönliche Beziehungen aneinander gebundener Menschen in ein System kunstvoll ineinandergreifender Arbeitsleistungen, deren Vollbringer auswechselbare Funktionäre in Menschengestalt sind, gilt es zu verstehen (1927, S. 895).“

Werk & Wirkung

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• In seinem Spätwerk Die drei Nationalökonomien (1930) entwickelt S. eine Methodenlehre. Mit dieser wollte er einen versöhnenden Beitrag leisten zum Methodenstreit in der Nationalökonomie, der zwischen der Historischen Schule (Gustav von Schmoller) und der Wiener Schule (Carl Mengers) entbrannt war. Dabei ging es um die Frage, ob die Wissenschaft Werturteile fällen darf. S. differenzierte die Nationalökonomie in drei Richtungen und unterschied zwischen der richtenden, der ordnenden sowie der verstehenden Nationalökonomie, der er auch sich selbst zurechnete. –– Die richtende Nationalökonomie ist eine normative Denkrichtung. Sie untersucht nicht, was ist, sondern was sein soll. Sie fälle Werturteile, die einem Zweck dienen, der außerhalb der Wissenschaft liege. Die Erkenntnisse seien nicht wissenschaftlich begründbar und objektivierbar. S. sieht sie daher nicht als Wissenschaft an. Die richtende Ökonomie sei eher eine Glaubenshaltung. „Es handelt sich bei ihr nicht um Wissenschaft, sondern um Metaphysik“ (S. 84). Beispiele: die Scholastiker des Mittelalters, die Physiokraten und die Frühsozialisten. –– Bei der ordnenden Nationalökonomie liege Wissenschaftlichkeit vor. Diese Richtung entlehne ihr Selbstverständnis und ihre Methode den Naturwissenschaften. Sie liefert Einsichten in die Regelmäßigkeit identisch wiederkehrender Fälle durch Berechenbarkeit, Quantifizierbarkeit und Prognostizierbarkeit. Sie habe ein Anspruch auf Allgemeingültigkeit. Allerdings – das ist ihre Schwäche – ermögliche diese ordnende Richtung lediglich ein äußeres Begreifen durch ordnen und beschreiben, und keine Wesenserkenntnis. „Die Erkenntnis, wie sie die moderne Naturwissenschaft betreibt, ist ein äußerliches ‚Begreifen‘ der Dinge, ist Erkenntnis von ‚außen‘, ist ‚Teilerkenntnis‘“ (S.  112). Beispiele: die klassische und neoklassische Ökonomie, Marx. –– Die verstehende Nationalökonomie erfasst das Wesen des Erkenntnisobjektes in seiner Ganzheit, in seinem übergeordneten Zusammenhang. Den Vorteil seines verstehenden Ansatzes erläutert S. so: „Bei allen Naturerscheinungen stehe ich einem ,Rätsel‘ gegenüber, das mit Bestimmtheit zu lösen mir versagt ist; alle Naturerscheinungen bleiben für mich ein ,Wunder‘ in dessen Tiefe mein Verstand nicht einzudringen vermag. (…) Auf die wichtigste Frage: Warum geschieht das alles in der Natur?, vermag uns kein Weiser zu antworten (…) Demgegenüber befinde ich mich in allen Fragen der Kulturerkenntnis in einer grundsätzlich anderen Lage: hier weiß ich in allen Fällen, warum es geschieht, warum es gerade jetzt geschieht, warum es so geschieht, wie es geschieht … Diese Art von Erkenntnis nennen wir ,Verstehen‘ (…) Wenn wir den Erkenntnisweg in Betracht ziehen, den wir beim Verstehen durchmessen …, so können wir Verstehen Sinnerfassen nennen. Wir machen uns eine Erscheinung dadurch verständlich, daß wir ihren ,Sinn‘ zu ergründen suchen, das aber bedeutet wieder: daß wir sie in einen uns bekannten Zusammenhang einbeziehen (S. 194 f.)“

Die verstehende Nationalökonomie, die nach S. in seinem Werk Der moderne Kapitalismus ihre Anwendung gefunden haben soll, enthält Elemente der Kultur-, Geistesund Sozialwissenschaften. Nur so sei die Erfassung des Wesens der Nationalökonomie

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möglich. Da der Mensch die Kultur selbst geschaffen habe, könne er auch ihr Wesen, ihr „So-Sein“ verstehen; dies sei jedoch bei der Natur nicht möglich. „Die Nationalökonomie soll eine Wissenschaft und keine Heilslehre, eine Wissenschaft und keine Kunstlehre, eine Wissenschaft und doch keine Naturwissenschaft sein“ (S. 342). S. Ansatz wurde heftig diskutiert und kritisiert. Einen ähnlichen Ansatz wie S. vertrat →E. Salin mit seiner „anschaulichen Theorie“. • Als einer der Ersten beschäftigte sich Sombart wissenschaftlich mit Marx. Er führte die Begriffe „Kapitalismus“ und „Wirtschaftssystem“ in den wissenschaftlichen Sprachgebrauch ein. Die Bedeutung des Wirtschaftssystems wurde später von →W. Eucken aufgegriffen. Obwohl S. bei der Herausbildung der deutschen Soziologie eine he­ rausragende Rolle zugeschrieben wird und sein Moderner Kapitalismus zu den herausragenden Klassikern der deutschen Ökonomie zählt, wurde er von Ökonomen auch kritisiert. So warf →J. Schumpeter ihm beispielsweise Theorieschwäche vor. Leider machte S. auch eine bedauerliche Entwicklung durch: Er wandelte sich vom Marxisten zum Sozialreformer, dann zum National-Konservativen und schließlich endete er als Mitläufer der Nationalsozialisten. →L. von Mises, der S. gegenüber sehr kritisch eingestellt war, erkannte in dessen Meinungsänderungen „zugleich die Etappen der Meinungsänderung von Deutschlands geistiger Oberschicht“ (vgl. Weltwirtschaftliches Archiv 21, 1925, S. 291). →J. K. Galbraith schreibt in seiner Entmythologisierung der Wirtschaft über S., dieser sei „ein fleißiger, aber nicht ganz zuverlässiger Gelehrter“ gewesen, der „in seinen letzten Jahren darum bemüht war, in gewissem Ausmaß den Nationalsozialismus theoretisch zu rechtfertigen“ (S.  363). Heinz Rieter konstatiert: „Am Ende seines Lebens ist Sombart eine tragische Figur. Sein wissenschaftlicher Ruhm verblaßt ebenso schnell wie sein öffentliches Ansehen. Nach seinem Tod ist dann jahrzehntelang kaum noch von ihm die Rede. Erst neuerdings beschäftigt man sich wieder mit seiner Person und seinem Werk“ (in: Issing 2002, S. 156).

Wichtige Publikationen • • • • • • • •

Socialismus und sociale Bewegung im 19. Jahrhundert, 1896 Die römische Campagna. Eine socialökonomische Studie, 1888 Der moderne Kapitalismus, 1902/1916/1927 Die deutsche Volkswirtschaft im 19. Jahrhundert, 1903 Warum gibt es in den Vereinigten Staaten keinen Sozialismus? 1906 Die Juden und das Wirtschaftsleben, 1911 Die drei Nationalökonomien, 1930 Deutscher Sozialismus,1934

Literatur

Literatur HdSW, Bd. 9, S. 298–305 Hesse (2009), S. 518–519 Issing (2002), S. 156 ff. Krause/Graupner/Sieber (1989), S. 528–531 Linß (2014), S. 93–98 Piper (1996), S. 138–143

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Lenin, Wladimir Iljitsch (eigentl. Uljanow)

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Wächter, Ökonomen auf einen Blick, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29069-6_43

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Leben & Karriere • Nach dem Abitur, das Lenin mit Auszeichnung ablegte, begann er 1887 sein Studium der Rechtswissenschaften in Kasan. Wegen der Beteiligung an Studentenprotesten wurde er verbannt und musste das Studium unterbrechen. 1891 schloss er das Studium als Externer an der Universität St. Petersburg ab und erhielt 1892 sein Universitätsdi­ plom ersten Grades (entspricht dem deutschen Doktortitel). • Anschließend arbeitete L. als Rechtsanwaltsgehilfe in St. Petersburg, engagierte sich politisch in der Arbeiterbewegung, verfasste seine ersten Schriften und gründete 1895 den Petersburger Kampfbunde zur Befreiung der Arbeiterklasse, der sofort verboten wurde. Noch im selben Jahr wurde er wegen seiner politischen Aktivitäten verhaftet. An zwei Jahre Gefängnishaft schlossen sich drei Jahre in sibirischer Verbannung (von März 1897 bis Februar 1900) an. • Ab 1900 befand sich L. im Exil in Westeuropa (Zürich, München, London und Genf) und gab sich den Decknamen Lenin. In dieser ersten Emigrationszeit begründete er die russischsprachige Zeitung Iskra (= Der Funke), die in München erschien. • Im August 1903 setzte L. auf dem II. Parteitag der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands (SDAPR) in London seine Parteikonzeption durch, was zur Spaltung der Partei führte. Unter seiner Führung bildeten sich die Bolschewiken heraus. • Im Jahr 1905 kehrte L. ins revolutionäre Russland zurück und befürwortete einen bedingungslosen Kampf gegen den Zaren. Nach der Niederschlagung ging er erneut ins Exil nach Westeuropa (u.  a. Schweiz, Frankreich und Polen), nahm an Kongressen, Parteitagen und Konferenzen teil und konzipierte in zahlreichen Aufsätzen, Manifesten und anderen Schriften die theoretischen Grundlagen des „Leninismus“. • Von 1907 bis 1917 befand L. sich abermals im Exil; seine Hauptstationen waren Genf, Paris, Krakau, Bern und Zürich. • Nach seiner Rückkehr nach Petrograd veröffentlichte L. am 20. April 1917 in der Parteizeitung Prawda sein revolutionäres Programm mit dem Titel Über die Aufgaben des Proletariats in der gegenwärtigen Revolution. Es enthält 10 Thesen, die auch als April­ thesen bekannt geworden sind. • Im November 1917 wurde L. auf dem II. Sowjetkongress zum Vorsitzenden des Rats der Volkskommissare, d. h. zum Regierungschef gewählt. • Im Frühjahr 1921 begründete L. ein neues wirtschaftspolitisches Konzept, das den „Kriegskommunismus“, der das Land in den Ruin getrieben hatte, ablöste und für sieben Jahre das sowjetische Wirtschaftssystem beherrschte: die Neue Ökonomische Po­ litik (russ.: Nowaja ekonomitscheskaja politika, abgekürzt: NEP). Die NEP sah Reformen des bestehenden Wirtschaftssystems durch marktwirtschaftliche Elemente vor. So gab es beispielsweise Zugeständnisse an die Bauern (freie genossenschaftliche Zusammenschlüsse), an die Unternehmen (Reprivatisierung und freier Handel) und das Pri-

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vatkapital. L. erhob auch die Forderung, dass die Betriebe gewinnorientiert wirtschaften und ökonomische Methoden Vorrang vor administrativen (Markt statt Plan) haben sollten. 1922 führte er für die (sozialistischen) Betriebe die Methode der wirtschaftlichen Rechnungsführung ein. In einem Brief an das Volkskommissariat für Finanzen begründet er diese Maßnahme so: „Ich bin der Meinung, daß die Trusts und Betriebe gerade deshalb auf der wirtschaftlichen Rechnungsführung aufgebaut sind, damit sie selbst verantwortlich sind, und zwar voll verantwortlich sind für die verlustlose Arbeit ihrer Betriebe … Wenn wir, nachdem wir die Trusts und Betriebe auf der Grundlage der wirtschaftlichen Rechnungsführung geschaffen haben, es nicht verstehen, unsere Interessen durch geschäftliche, kaufmännische Methoden vollkommen zu wahren, sind wir komplette Idioten. (Lenin Werke, Bd. 35, S. 524)“

Die Wirtschaftslage verbesserte sich rasch, jedoch büßte die KPdSU viele ihrer ideologischen Ziele ein. Stalin beendete 1928 die NEP. • Die letzten beiden Lebensjahre L.s waren durch schwere Krankheit und Schlaganfälle gekennzeichnet.

Werk & Wirkung • Lenin war ein außerordentlich produktiver Theoretiker. Er schuf ein gewaltiges Werk aus etwa 9000 Schriften, Artikeln, Briefen, Aufsätzen und anderen Dokumenten. In ihnen setzt er sich auseinander mit der Theorie und Praxis der antikapitalistischen und antiimperialistischen Revolution. Ausgehend von der marxistischen Philosophie und Ökonomie entwickelte er den Marxismus weiter. • In dem gerade einmal sieben Seiten umfassenden Aufsatz Drei Quellen und drei Be­ standteile des Marxismus aus dem Jahr 1913 stellt L. sein Verständnis des Marxismus dar und definiert ihn als „das System der Anschauungen und der Lehre von Marx“. Die Schrift bietet eine knappe Einführung in die Grundlagen des Marxismus. In der Einleitung schreibt er: „Die ganze Genialität Marx’ besteht gerade darin, daß er auf die Fragen Antwort gegeben hat, die das fortgeschrittene Denken der Menschheit bereits gestellt hatte. Seine Lehre entstand als direkte und unmittelbare Fortsetzung der Lehren der größten Vertreter der Philosophie, der politischen Ökonomie und des Sozialismus. Die Lehre von Marx ist allmächtig, weil sie wahr ist. Sie ist in sich geschlossen und harmonisch, sie gibt den Menschen eine einheitliche Weltanschauung, die sich mit keinerlei Aberglauben, keinerlei Reaktion, keinerlei Verteidigung bürgerlicher Knechtung vereinbaren läßt. Sie ist die rechtmäßige Erbin des Besten, was die Menschheit im 19. Jahrhundert in Gestalt der deutschen Philosophie, der englischen politischen Ökonomie und des französischen Sozialismus hervorgebracht hat. (LAW, Bd. II, S. 328 f.)“

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• In seiner ersten Schaffensphase untersuchte L. die Entwicklung des Kapitalismus in Russland. Zu Beginn des 20. Jh. nahm die Rolle der Bauern und die Agrarfrage in seinen Schriften breiten Raum ein. Er brachte beispielsweise den Nachweis, „daß das von der bürgerlichen Ökonomie aufgestellte ‚Gesetz vom abnehmenden Bodenertrag‘ wissenschaftlich unhaltbar ist und die Theorie der steigenden organischen Zusammensetzung des Kapitals auch auf die Landwirtschaft zutrifft“ (Krause/Graupner/Sieber, S. 297). Vor dem Ersten Weltkrieg schrieb er theoretische Abhandlungen, die der wissenschaftlichen Fundierung und der Organisierung einer revolutionären Arbeiterpartei in Russland dienten. Auch setzte er sich „mit dem sich verbreitenden Revisionismus auseinander, der sich bemühte, die neuen Entwicklungen im kapitalistischen Wirtschaftsleben zur Revision der Lehren von Marx und Engels auszunutzen“ (Krause/ Graupner/Sieber, S. 297). Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges veranlasste ihn, der Frage nachzugehen, wie die Entwicklung des Kapitalismus mit dem Krieg zusammenhängt. Die ökonomischen Zusammenhänge stellt er in seinem Hauptwerk Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus dar. In weiteren Schriften beschäftigte sich L. mit theoretischen und praktischen Fragen der Ökonomie im Hinblick auf den Aufbau des Sozialismus. • Eines seiner bedeutendsten ökonomischen Werke ist das 1917 unter dem Pseudonym Wl. Iljin veröffentlichte Werk Der Imperialismus als höchstes Stadium des Ka­ pitalismus, das L. zwischen Januar und Juni 1916 ausarbeitete. Seit 1915 beschäftigte er sich intensiv mit dem Studium des Imperialismus, da er der Ansicht war, dass er den Ersten Weltkrieg nur dann richtig beurteilen könne, wenn er das Wesen des Imperialismus genau analysiert (vgl. Weber, S.  98). In dem Hauptwerk entwickelt L. die von →Karl Marx vorgenommene Untersuchung des Kapitalismus weiter und legt eine wissenschaftliche Analyse des Imperialismus vor. Dabei stützte er sich insbesondere auf die Arbeit Imperialismus des englischen Ökonomen John A. Hobson und auf das Werk Das Finanzkapital des österreichischen Marxisten →Rudolf Hilferding. Weiterhin verarbeitet L. eine große Menge statistischen Materials und eine Vielzahl weiterer ökonomischer Werke. Nach einer Darstellung und Analyse der Verwandlung der Konkurrenz in Kartelle und Monopole untersucht er den Zusammenhang zwischen Banken und Industrie. Hier liefert er anschauliche Beispiele für die Macht der Banken und deren Einfluss auf die Industrie. Im 20. Jahrhundert sieht L. den „Wendepunkt vom alten zum neuen Kapitalismus, von der Herrschaft des Kapitals schlechthin zu der Herrschaft des Finanzkapitals“ (LAW, Bd. II, S. 686). Folgerichtig schildert er „wie das ‚Wirtschaften‘ der ka­ pitalistischen Monopole … zur Herrschaft der Finanzoligarchie wird“ (S.  687). Anschließend widmet er sich dem Kapitalexport und zeigt auf, dass „für den neuesten Kapitalismus, mit der Herrschaft der Monopole … der Export von Kapital kennzeichnend geworden“ (S. 702) ist. Sodann folgt eine Darstellung, wie die Monopolverbände der Kapitalisten (Kartelle, Syndikate und Trusts) sich die Märkte aufteilen und „eine neue Stufe der Weltkonzentration des Kapitals und der Produktion“ (S. 708) erreicht wird. Es komme daher beim „Übergang des Kapitalismus zum Stadium des Monokapi-

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talismus, zum Finanzkapital“ zu einer „Verschärfung des Kampfes um die Aufteilung der Welt“ (S. 718). Im Finanzkapital sieht L. eine „entscheidende Macht in allen ökonomischen und in allen internationalen Beziehungen, daß es sich sogar Staaten unterwerfen kann und tatsächlich auch unterwirft, die volle politische Unabhängigkeit genießen. … Der außerökonomische Überbau, der sich auf der Grundlage des Finanzkapitals erhebt, seine Politik, seine Ideologie steigern den Drang nach kolonialen Eroberungen“ (S.  722/725). Der Kapitalismus erreicht somit den Imperialismus als höchstes Stadium. • Nach einer kurzen Zusammenfassung seiner Ausführungen stellt L. eine Definition des Imperialismus auf und benennt fünf ökonomische Hauptmerkmale, die den Imperialismus bestimmen: „Der Imperialismus erwuchs als Weiterentwicklung und direkte Fortsetzung der Grundeigenschaften des Kapitalismus überhaupt. Zum kapitalistischen Imperialismus aber wurde der Kapitalismus erst auf einer bestimmten, sehr hohen Entwicklungsstufe, als einige seiner Grundeigenschaften in ihr Gegenteil umzuschlagen begannen, als sich auf der ganzen Linie die Züge einer Übergangsperiode vom Kapitalismus zu einer höheren ökonomischen Gesellschaftsformation herausbildeten und sichtbar wurden. Ökonomisch ist das Grundlegende in diesem Prozeß die Ablösung der kapitalistischen freien Konkurrenz durch die kapitalistischen Monopole. Die freie Konkurrenz ist die Grundeigenschaft des Kapitalismus und der Warenproduktion überhaupt; das Monopol ist der direkte Gegensatz zur freien Konkurrenz, aber diese begann sich vor unseren Augen zum Monopol zu wandeln, indem sie die Großproduktion schuf, den Kleinbetrieb verdrängte, die großen Betriebe durch noch größere ersetzte, die Konzentration der Produktion und des Kapitals so weit trieb, daß daraus das Monopol entstand und entsteht, nämlich: Kartelle, Syndikate, Trusts und das mit ihnen verschmelzende Kapital eines Dutzends von Banken, die mit Milliarden schalten und walten. Zugleich aber beseitigen die Monopole nicht die freie Konkurrenz, aus der sie erwachsen, sondern bestehen über und neben ihr und erzeugen dadurch eine Reihe besonders krasser und schroffer Widersprüche, Reibungen und Konflikte. Das Monopol ist der Übergang vom Kapitalismus zu einer höheren Ordnung. Würde eine möglichst kurze Definition des Imperialismus verlangt, so müßte man sagen, daß der Imperialismus das monopolistische Stadium des Kapitalismus ist. Eine solche Definition enthielte die Hauptsache, denn auf der einen Seite ist das Finanzkapital das Bankkapital einiger weniger monopolistischer Großbanken, das mit dem Kapital monopolistischer Industriellenverbände verschmolzen ist, und auf der anderen Seite ist die Aufteilung der Welt der Übergang von einer Kolonialpolitik, die sich ungehindert auf noch von keiner kapitalistischen Macht eroberte Gebiete ausdehnt, zu einer Kolonialpolitik der monopolistischen Beherrschung des Territoriums der restlos aufgeteilten Erde. Doch sind allzu kurze Definitionen zwar bequem, denn sie fassen das Wichtigste zusammen, aber dennoch unzulänglich, sobald aus ihnen speziell die wesentlichen Züge der zu definierenden Erscheinung abgeleitet werden sollen. Deshalb muß man … eine solche Definition des Imperialismus geben, die folgende fünf seiner grundlegenden Merkmale enthalten würde: 1. Konzentration der Produktion und des Kapitals, die eine so hohe Entwicklungsstufe erreicht hat, daß sie Monopole schafft, die im Wirtschaftsleben die entscheidende Rolle spielen;

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2. Verschmelzung des Bankkapitals mit dem Industriekapital und Entstehung einer Finanz­ oligarchie auf der Basis dieses ‚Finanzkapitals‘; 3. der Kapitalexport, zum Unterschied vom Warenexport, gewinnt besonders wichtige Bedeutung; 4. es bilden sich internationale monopolistische Kapitalistenverbände, die die Welt unter sich teilen, und 5. die territoriale Aufteilung der Erde unter die kapitalistischen Großmächte ist beendet. Der Imperialismus ist der Kapitalismus auf jener Entwicklungsstufe, wo die Herrschaft der Monopole und des Finanzkapitals sich herausgebildet, der Kapitalexport hervorragende Bedeutung gewonnen, die Aufteilung der Welt durch die internationalen Trusts begonnen hat und die Aufteilung des gesamten Territoriums der Erde durch die größten kapitalistischen Länder abgeschlossen ist. (LAW, Bd. II, S. 728–730).“

• Auf der Grundlage des Imperialismus entfalte sich – als die letzte, absterbende Phase des Kapitalismus – der „staatsmonopolistische Kapitalismus“. Dieser entsteht durch eine „totale Verschmelzung der Monopolmacht der Wirtschaft mit der Regierungsmacht zu einem sich wechselseitig bedingenden einheitlichen Machtkomplex“ (Vahlens großes Wirtschaftslexikon, Bd. 2, S. 1971). Die Grundlagen dieser „Stamokap-­ Theorie“, wie sie auch genannt wird, gehen zwar im Wesentlichen auf →Rudolf Hilferding zurück, der Begriff wurde jedoch von L. geprägt. Im Nachwort zum Agrarprogramm der Sozialdemokratie schrieb er, der erste Weltkrieg habe „den kriegfüh­ renden Staaten so unerhörtes Elend gebracht und hat gleichzeitig, indem er den ­monopolistischen Kapitalismus in einen staatsmonopolistischen Kapitalismus verwandelte, die Entwicklung des Kapitalismus so ungeheuer beschleunigt …“ (LW, Bd. 13, S. 436). • Eine Auswahl der wichtigsten Schriften, welche die Weiterentwicklung der Bestandteile des Marxismus durch Lenin widerspiegeln, gibt die folgende Übersicht: Bestandteile des Marxismus Philosophie Politische Ökonomie

Wissenschaftlicher Kommunismus

Schriften von Lenin • 1908: Materialismus und Empiriokritizismus • 1901/1916: Philosophische Hefte • 1916: Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus • 1918: Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht • 1920: Über die Naturalsteuer • 1921: Über die Neue Ökonomische Politik • 1902: Was tun? • 1904: Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück • 1905: Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution • 1918: Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky • 1920: Der ‚linke Radikalismus‘ die Kinderkrankheit im Kommunismus

Literatur

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• →Karl Kautsky, selbst einer der bedeutendsten Theoretiker des Marxismus, nannte Lenin 1924 „eine Kolossalfigur, wie ihrer nur wenige in der Weltgeschichte zu finden sind“. Und Georg Lukács schrieb im gleichen Jahr, dass L. der „einzige Marx ebenbürtige Theoretiker“ sei (weitere Zeugnisse finden sich bei H. Weber). Auch wenn L.s Bild „naturgemäß durch der Parteien Haß und Gunst entstellt worden“ sei und „in der Atmosphäre des ‚kalten Krieges‘ … die dümmsten Verleumdungen … in Kurs gesetzt worden waren“, gelangt R. Schlesinger zu folgender Würdigung L.s: „Obzwar in der Tiefe zumindest der ökonomischen Analyse Marx unterlegen, ist Lenin durch die Tatsache, daß er in einer dreißigjährigen Schaffenszeit nahezu alle Gebiete der Sozialwissenschaften … zu bearbeiten Gelegenheit fand, zum hervorragendsten Systematiker des Marxismus geworden“ (HdSW, Bd. 6, S. 587).

Wichtige Publikationen • • • • • •

Neue wirtschaftliche Vorgänge im bäuerlichen Leben, 1893 Die Entwicklung des Kapitalismus in Russland, 1896–1899 Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus, 1916 Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht, 1918 Über die Naturalsteuer, 1920 Über die Neue Ökonomische Politik, 1921

Literatur A. Fischer: Lenin, in: Staatslexikon, Bd. 3 (1995), Sp. 901–905 HdSW (1959), Bd. 6, S. 582–587 Hesse (2009), S. 302–303 Krause/Graupner/Sieber (1989), S. 294–302 H. Weber: Lenin in Selbstzeugnisses und Selbstdokumenten, Reinbek: Rowohlt 1970.

Luxemburg, Rosa

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Leben & Karriere • Luxemburg schloss sich bereits als Jugendliche der polnischen Arbeiterbewegung an und trat mit 16 Jahren der „Revolutionären Sozialistischen Partei“ bei. Im gleichen Jahr, am 14. Juni 1877, bestand L. ihr Abitur mit Auszeichnung. • 1889 übersiedelte L. nach Zürich, wo sie neben Philosophie auch Naturwissenschaften, Nationalökonomie und Staatswissenschaften studierte. • 1893 war sie eine der führenden Mitbegründer der im Untergrund agierenden Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Polens. • 1897 promovierte sie zum Thema Die industrielle Entwicklung Polens. • Im Jahre 1898 erwarb L. die deutsche Staatsbürgerschaft und ging nach Berlin. Im gleichen Jahr trat sie in die SPD ein und begann für die Leipziger Volkszeitung eine Reihe von Artikeln zu schreiben, in denen sie sich u. a. mit den revisionistischen Theorien E. Bernsteins auseinandersetzte. Nach ihrem ersten öffentlichen Auftritt auf dem Parteitag der SPD 1898 in Stuttgart gewann sie in der Partei zunehmend an Ansehen. • 1905 wird L. Redakteurin beim sozialdemokratischen Vorwärts. Die russische Revolution von 1905 radikalisierte ihre Positionen, was sich auch im Ton ihrer Veröffentlichungen niederschlägt. • Im März 1906 wird L. verhaftet und wegen „Anreizung zum Klassenhass“ zu zwei Monaten Haft verurteilt. • Von 1907–1914 lehrte sie Nationalökonomie und (Wirtschafts-)Geschichte an der Parteischule der SPD in Berlin (siehe Abb. 44.1). In der 1906 gegründeten Parteischule wurden Mitglieder, meist Funktionäre, in den Fächern Wirtschaftsrecht, Nationalökonomie, Politik, Geschichte, Marxismus und Rhetorik geschult. Sie übernahm diese Stelle als Nachfolgerin von →Rudolf Hilfeding, der als österr. Staatsbürger von Abschiebung bedroht war. Seit 1907 gewann L. auch international immer mehr an Gewicht; so war sie seit 1911 Mitglied des internationalen Sozialistischen Büros in Brüssel (vgl. Euchner, Bd. 2, S. 60 f.).

• Als führende Theoretikerin des linken Flügels der SPD und radikale Kriegsgegnerin war sie zusammen mit Karl Liebknecht an der Gründung der Gruppe Internationale (1914) und später des Spartakusbundes (1916) beteiligt. • Die Zeit des Ersten Weltkriegs verbrachte die radikale Kriegsgegnerin wegen versuchten Hoch- und Landesverrats überwiegend als politischer Häftling (1915–1918). • Nach ihrer Freilassung begann L. im November 1918 als Redakteurin bei dem Organ des Spartakusbundes, der Roten Fahne, die sie zusammen mit Karl Liebknecht gegründet hatte. Auch entwarf sie das Programm der von ihr mitbegründeten Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD). • Im Januar 1919 wurde L. zusammen mit Liebknecht von rechtsextremen Freikorpsoffizieren ermordet.

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Abb. 44.1  Besuch des Parteivorstandes der SPD in der Reichsparteischule der SPD, 1907. Vierte von links: Rosa Luxemburg. (Quelle: Wikimedia)

Werk & Wirkung • L. zählt zu den hervorragenden theoretischen Köpfen des Marxismus und der sozialistischen Arbeiterbewegung. Noch Jahre nach ihrem Tode hatten ihre Ideen Einfluss auf die Imperialismus-Diskussion. Mit ihrer These „Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden“ (1918) begründete sie einen demokratischen Kommunismus. • Aus ihrer Lehrtätigkeit an der sozialdemokratischen Parteischule ist ihr (unvollständig überliefertes) Lehrbuch Einführung in die Nationalökonomie hervorgegangen, welches posthum von Paul Levi 1925 herausgegeben wurde. Dieses ist im Wesentlichen eine Zusammenstellung ihrer Vorträge und Vorlesungen, von denen jedoch die theoretischen Teile über Wert, Mehrwert, Profit usw. fehlen. So umfasst das rund 300 Seiten starke Werk lediglich sechs Kapitel. Zunächst setzt L. sich intensiv mit der Frage ­auseinander: Was ist Nationalökonomie? Hier holt sie zu einem rhetorischen Rundumschlag aus und ätzt gegen die herrschende Lehre, insbesondere gegen die Vertreter der Historischen Schule (z. B. Schmoller und Bücher), indem sie deren Definitionen und Ansichten von „Nationalökonomie“ kritisch analysiert. Sie beendet dieses Kapitel mit den Worten:

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„Unfähig, die Lehren ihrer eigenen großen Ahnen zu verstehen … tragen die heutigen bürgerlichen Gelehrten unter dem Namen der Nationalökonomie einen formlosen Brei von Abfällen allerlei wissenschaftlicher Gedanken und interessierter Verirrungen vor, wobei sie nicht mehr den Zweck verfolgen, die wirklichen Tendenzen des Kapitalismus zu erforschen, sondern nur noch dem umgekehrten Zweck nachstreben, jene Tendenzen zu verschleiern, um den Kapitalismus als die beste, einzig mögliche, ewige Wirtschaftsordnung zu verteidigen. (R. Luxemburg: Einführung in die Nationalökonomie, hrsg. von P. Levi, Berlin 1925, S. 78)“

Nach zwei wirtschaftsgeschichtlichen Kapiteln behandelt sie die Warenproduktion und das Lohngesetz. Das Buch schließt mit einem Kapitel über die Tendenzen der kapitalistischen Wirtschaft. Hierzu stellt sie fest: „Es ist, wie wir gesehen, das innerste Bedürfnis und Lebensgesetz der kapitalistischen Produktion, daß sie nicht die Möglichkeit hat, stabil zu bleiben, sondern gezwungen ist, sich immer weiter, und zwar immer rascher auszudehnen, das heißt immer gewaltigere Warenmassen in immer größeren Betrieben mit immer besseren technischen Mitteln immer rascher zu produzieren. An sich kennt diese Ausdehnungsmöglichkeit der kapitalistischen Produktion keine Grenzen, weil der technische Fortschritt und damit auch die Produktivkräfte der Erde keine Grenzen haben. Allein dieses Ausdehnungsbedürfnis stößt auf ganz bestimmte Schranken, nämlich auf das Profitinteresse des Kapitals. Die Produktion und ihre Ausdehnung haben nur so lange Sinn, wie dabei mindestens der „übliche“ Durchschnittsprofit herauskommt. Ob dies aber der Fall ist, hängt vom Markt ab, das heißt vom Verhältnis der zahlungsfähigen Nachfrage seitens der Konsumenten und der Menge der produzierten Waren sowie ihren Preisen. Das Profitinteresse des Kapitals, das auf der einen Seite eine immer raschere und immer größere Produktion erfordert, schafft sich also selbst auf Schritt und Tritt Marktschranken, die dem ungestümen Drang der Produktion zur Ausdehnung im Wege stehen. Daraus ergibt sich, wie wir gesehen haben, die Unvermeidlichkeit der industriellen und Handelskrisen, die periodisch das Verhältnis zwischen dem an sich ungebundenen, schrankenlosen kapitalistischen Produktionsdrang und den kapitalistischen Konsumtionsschranken ausgleichen und die Fortexistenz und Weiterentwicklung des Kapitalismus ermöglichen. (S. 291)“

• Als ökonomisches Hauptwerk gilt Die Akkumulation des Kapitals. Ein Beitrag zur ökonomischen Erklärung des Imperialismus, verfasst im Jahre 1912, erschienen 1913. Im Vorwort schreibt L.: „Den Anstoß zur vorliegenden Arbeit hat mir eine populäre Einführung in die Nationalökonomie gegeben, die ich seit längerer Zeit für denselben Verlag vorbereite, an deren Fertigstellung ich aber immer wieder durch meine Tätigkeit an der Parteischule oder durch Agitation verhindert wurde. Als ich im Januar dieses Jahres, nach der Reichstagswahl, wieder einmal daranging, jene Popularisierung der Marxschen ökonomischen Lehre wenigstens im Grundriß zum Abschluß zu bringen, bin ich auf eine unerwartete Schwierigkeit gestoßen. Es wollte mir nicht gelingen, den Gesamtprozeß der kapitalistischen Produktion in ihren konkreten Beziehungen sowie ihre objektive geschichtliche Schranke mit genügender Klarheit darzustellen. Bei näherem Zusehen kam ich zu der Ansicht, das hier nicht bloß eine Frage der Darstellung, sondern auch ein Problem vorliegt, das theoretisch mit dem Inhalt des II. Bandes des Marxschen ›Kapital‹ im Zusammenhang steht und zugleich in die Praxis der heutigen

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imperialistischen Politik wie deren ökonomische Wurzeln eingreift. Sollte mir der Versuch gelungen sein, dieses Problem wissenschaftlich exakt zu fassen, dann dürfte die Arbeit außer einem rein theoretischen Interesse, wie mir scheint, auch einige Bedeutung für unseren praktischen Kampf mit dem Imperialismus haben.“

L. glaubt, dass „die Realisierung des Mehrwerts zu Zwecken der Akkumulation in einer Gesellschaft, die nur aus Arbeitern und Kapitalisten besteht, eine unlösbare Aufgabe“ sei. Der Kapitalismus werde an seine eigenen Grenzen stoßen, denn er habe die Tendenz „sich immer weiter, und zwar immer rascher auszudehnen, das heißt immer gewaltigere Warenmassen in immer größeren Betrieben mit immer besseren technischen Mitteln immer rascher zu produzieren“. Da sich auch der Absatzmarkt stetig erweitern muss, geht sie davon aus, dass sich „die kapitalistische Produktion auf sämtliche Länder aus[dehnt], indem sie sie alle nicht bloß gleichartig gestaltet, sondern sie zu einer einzigen großen kapitalistischen Weltwirtschaft verbindet.“ „Der Imperialismus“ – schreibt L. in Die Akkumulation des Kapitals – „ist der politische Ausdruck des Prozesses der Kapitalakkumulation in ihrem Konkurrenzkampf um die Reste des noch nicht mit Beschlag belegten nichtkapitalistischen Weltmilieus“ (Gesammelte Werke, Bd. 5, S. 391). „Bei der hohen Entwicklung und der immer heftigeren Konkurrenz der kapitalistischen Länder um die Erwerbung nichtkapitalistischer Gebiete nimmt der Imperialismus an Energie und an Gewalttätigkeit zu, sowohl in seinem aggressiven Vorgehen gegen die nichtkapitalistische Welt wie in der Verschärfung der Gegensätze zwischen den konkurrierenden kapitalistischen Ländern. Je gewalttätiger, energischer und gründlicher der Imperialismus aber den Untergang nichtkapitalistischer Kulturen besorgt, um so rascher entzieht er der Kapitalakkumulation den Boden unter den Füßen. Der Imperialismus ist ebensosehr eine geschichtliche Methode der Existenzverlängerung des Kapitals wie das sicherste Mittel, dessen Existenz auf kürzestem Wege objektiv ein Ziel zu setzen. Damit ist nicht gesagt, daß dieser Endpunkt pedantisch erreicht werden muß. Schon die Tendenz zu diesem Endziel der kapitalistischen Entwicklung äußert sich in Formen, die die Schlußphase des Kapitalismus zu einer Periode der Katastrophen gestalten (R.  Luxemburg: Die Akkumulation des Kapitals. In: Gesammelte Werke, Bd. 5, S. 391 f.).“

Nach L.s Auffassung entsteht Imperialismus zwangsläufig aus dem Kapitalismus. Militarismus und Kolonialismus lehnt sie daher radikal ab. Die einzige Möglichkeit, den Kapitalismus zu überwinden, sieht sie in der Revolution. Einen rücksichtslosen Zentralismus im Sinne →Lenins lehnt sie jedoch ab. • →Karl Kautsky (1921) sieht in Luxemburg eine „Meisterin des Wortes und der Feder, reich belesen, mit starkem theoretischen Sinn, scharfsinnig und schlagfertig, mit einer geradezu fabelhaften Unerschrockenheit und Respektlosigkeit“. Nach H. Maus gehört L. „zu den hervorragendsten theoretischen Köpfen des Marxismus und der sozialistischen Arbeiterbewegung“ (in HdSW, Bd. 7, S. 69). Peter Nettl schreibt in seiner Biographie über L.: „Wer daran glaubt, daß die Disziplin des Wandels und Fortschritts im

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wesentlichen eine selbstauferlegte Disziplin sein muß; daß die moderne Industriewirtschaft des Westens das härteste Gefängnis für den menschlichen Geist darstellt und zugleich den einzigen Schlüssel zu seiner Befreiung bietet; daß der revolutionäre Fortschritt direkt vom hochentwickelten Kapitalismus zum Sozialismus führen muß … – wer diese Überzeugungen teilt, der kann nirgends bessere Führung und Anregung finden als im Leben und Werk Rosa Luxemburgs.“

Wichtige Publikationen • • • •

Die industrielle Entwickelung Polens, 1898 Sozialreform oder Revolution?, 1899 Massenstreik, Partei und Gewerkschaften, 1906 Die Akkumulation des Kapitals. Ein Beitrag zur ökonomischen Erklärung des Imperialismus, 1913 • Militarismus, Krieg und Arbeiterklasse, hrsg. 1923 • Einführung in die Nationalökonomie, 1916 (hrsg. 1925)

Literatur Euchner (1991), Bd. 2, S. 58–71 Helmut Hirsch: Rosa Luxemburg in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten (1976) HdSW (1961), Bd. 7, S. 69–71 Hesse (2009), S. 319 Krause/Graupner/Sieber (1989), S. 320–323 Lange (1983), S. 603–610

Hellauer, Josef

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Wächter, Ökonomen auf einen Blick, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29069-6_45

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Leben & Karriere • Nach dem Besuch des Gymnasiums in Wien ging Hellauer auf die dortige Handelsakademie und war anschließend in einer Bank tätig. • Von 1892 bis 1894 war H. Assistent an der Wiener Handelsakademie, wo er auch die Prüfung für das Lehramt an höheren Schulen ablegte. • Es folgten Lehrtätigkeiten an den Handelsakademien in Linz a. D. (1894 bis 1897) und Brünn (1897 bis 1898). • 1898 promovierte H. sich an der Universität Greifswald bei dem Handelswissenschaftler R. Sonndorfer (1839–1910). Seine Dissertation trägt den Titel: „Der Wucher – ein aktives Kreditverbrechen“. • Nach seiner Promotion wurde H., im Alter von 27 Jahren, an die neugegründete Export­ akademie (der heutigen Wirtschaftsuniversität Wien) und gleichzeitig an die Konsular-­ Akademie in Wien berufen. An beiden Akademien lehrte er bis zum Jahre 1912 Welthandelslehre. „Welthandelslehre“ war im damaligen Österreich „ein programmatischer Begriff. Die Habsburger Monarchie betrachtete neiderfüllt den Aufstieg, den das Deutsche Reich mit Hilfe von Handelsniederlassungen und dem Aufbau einer Flotte ­genommen hatte. Dieses erkannte Defizit begünstigte die Gründung neuer Ausbildungsstätten“ (Strejcek). Zu den wirklichen Ursachen für die Herausbildung einer Welthandelslehre und zu deren Bedeutung für die Betriebswirtschaftslehre führt Löffelholz aus: „Die Organisation des internationalen Wirtschaftsverkehrs, des Zahlungsund Kredit-, Nachrichten- und Güterverkehrs steht im Mittelpunkt des Interesses. Der Export- und Importbetrieb, die überseeische Transportunternehmung, die Überseebank werden zu komplizierten Organismen ausgestaltet und entwickeln neue betriebliche Formen und verkehrswirtschaftliche Institutionen. Der imperialistische Liberalismus beherrscht das Leben der Betriebswirtschaft. Hochschulen und Akademien für Welthandel wurden gegründet, Lehrbücher und Kompendien der ‚Welthandelslehre‘ und ähnliche imperialistische Handelskunden beherrschen unsere Wissenschaft“ (Löffelholz 1935, S. 108). In dieser Zeit (1900 bis 1910) erforschte H. sämtliche Facetten des Handels. Ausgangspunkt seiner Studien waren englische Verträge und Versicherungen im Seehandel; zehn Jahre später hatte er alle relevanten Aspekte des internationalen Warenhandels bearbeitet. Seine Erkenntnisse verarbeitete er in seinem 1910 erstmals erschienenen Hauptwerk System der Welthandelslehre, das rasch große Verbreitung fand und für Jahrzehnte zu einem der bedeutendsten Lehrbücher zum Handel avancierte. • 1912 folgte H. einem Ruf an die sechs Jahre zuvor gegründete Handelshochschule Berlin. Zu seinen Kollegen zählte dort zum Beispiel der Nationalökonom → W. Sombart. Einer seiner Studenten, der sich später als Betriebswirt einen Namen machen sollte, war der junge Konrad Mellerowicz, der dort 1921 sein Handelslehrer-Diplom erwarb. Nach Mantel habe der Lehrkörper der Handelshochschule in der Weimarer Republik ein Niveau erreicht, „das über dem manch kleiner Universität lag“ (S. 580).

Werk & Wirkung

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• 1914 leitete H. das wissenschaftliche Programm des ersten Treffens der Hochschullehrer für Betriebswirtschaft. Aus diesen jährlichen Tagungen ist später der VHB hervorgegangen, zu dessen Gründungsmitgliedern H. gezählt werden darf. • 1921 ging H. an die Universität Frankfurt (ab 1932 Johann-Wolfgang-Goethe-­ Universität), wo er bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1936 eine Stelle als ordentlicher Professor hatte. Er lehrte Wirtschaftslehre mit Berücksichtigung der Einzelwirtschaft des Handels. • Im Oktober 1948 gehörte H. zu einer Gruppe von 35 BWL-Professoren, die in Frankfurt zu einem Treffen zusammenkamen, um den VHB wiederzuerrichten. • H. wurden mehrere Auszeichnen zuteil: Ihm wurde die Ehrendoktorwürde verliehen von der Handelshochschule Berlin (1931), von der Wiener Hochschule für Welthandel (1936) und von der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt (1956). Außerdem wurde er im Jahre 1951 zum Ehrenmitglied des Verbandes der Hochschullehrer ernannt und 1956 mit der Goetheplakette der Stadt Frankfurt ausgezeichnet.

Werk & Wirkung • Hellauer gehörte zur ersten Generation deutscher Betriebswirte und gilt neben → H. Nicklisch, → J. F. Schär und → E. Schmalenbach als einer der Begründer der Betriebswirtschaftslehre als selbständige wissenschaftliche Disziplin. Er widmete sich vornehmlich der Betriebswirtschaftslehre des Handels, des Waren- sowie des Güterverkehrs. Besondere Aufmerksamkeit schenkte er den Fragen des Welthandels. Sein besonderes Verdienst liegt darin, als Erster den Außenhandel konsequent und systematisch vom betriebswirtschaftlichen Standpunkt aus behandelt zu haben, „nachdem fast alle bisherigen Versuche, die Handelskunde wissenschaftlich zu gestalten, daran gescheitert sind, daß die betreffenden Autoren sich auf das Gebiet der Volkswirtschaftslehre verloren haben“ (Weber 1914, S. 139). • Sein Hauptwerk ist das 1910 erstmals erschienene und international bekanntgewordene System der Welthandelslehre, das bis 1956 zehn Auflagen erlebte, über fünf Jahrzehnte lang als Standardlehrbuch galt und in mehrere Sprachen übersetzt wurde. Im Vorwort zur neunten Auflage der Welthandelslehre (1950) schreibt H., „das Buch soll ein Lehrbuch sein für Studierende der Wirtschaftswissenschaft sowie für junge Kaufleute … und es sollte ein Handbuch bilden für Personen, die schon fertig in der Wirtschaftspraxis … stehen, sowie für Lehrer der Betriebswirtschaftslehre“. Die Welthandelslehre ist in drei Abschnitte gegliedert: Die Entwicklungsbedingungen des Handels, die Organisation des Handels (mit besonderer Berücksichtigung des Außenhandels) sowie den Kaufvertrag. Hierfür sammelte er „in lückenloser Kleinarbeit … alle wichtigen Fakten und führte sie zu einem System zusammen, das diesen Gegenstandsbereich ausreichend und vollständig beschrieb und erklärte“ (Bellinger 1988, S. 21). „Hellauers Ziel war es, die Organisation des Handels und den Kaufvertrag als Teile einer umfassenden Welthandelslehre zu analysieren und zu systematisieren“ (Bellinger 1967, S. 52). In der

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ersten Auflage aus dem Jahre 1910 hebt H. den betriebswirtschaftlichen Standpunkt seiner „Welthandelslehre“ hervor und macht deutlich, dass nicht die volkswirtschaftlichen Auswirkungen des Handels von Interesse sind (so wie bei vielen seiner Vorgängern), sondern die privatwirtschaftliche Tätigkeit. „Die Welthandelslehre betrachtet den Warenhandel als Gegenstand für sich, nicht als Bestandteil der Volkswirtschaft. Sie widmet ihr Interesse nicht dem Handel als einer volkswirtschaftlichen Funktion, sondern als einer privatwirtschaftlichen Tätigkeit von Wirtschaftseinheiten. Unter welchen Bedingungen, in welcher Art und Weise, mit welchen Wirkungen für den Handeltreibenden und den Handel selbst diese Tätigkeit vor sich geht, das ist, was die Welthandelslehre zur wissenschaftlichen Darstellung bringen will. (J. Hellauer: Welthandelslehre, Berlin 1910, S. 8 f.)“

• In der Auflage aus dem Jahr 1950 weist H. darauf hin, sein Buch sei eine „Allgemeine Handelsverkehrslehre“. Die Bedeutung und Stellung der Handelsverkehrslehre im System der Betriebswirtschaftslehre erklärt er in der Einleitung wie folgt: „Handelsverkehrslehre ist die Lehre vom Verkehr der Unternehmungen untereinander mit Warenhandel. Sie ist ein Teil der Betriebswirtschaftslehre und betrachtet sonach den Handelsverkehr vom betriebswirtschaftlichen Standpunkt. Ihre Aufgabe ist deshalb nicht, die volkswirtschaftlichen Auswirkungen des Handels, d. h. die Auswirkung auf die Wirtschaft anderer als der am Handel unmittelbar Beteiligten, insbesondere auf die Gesamtwirtschaft eines Volkes zu verfolgen. Sie betrachtet vielmehr den Handel an und für sich als eine Tätigkeit mit besonderer Technik. Sie beobachtet, wie diese Tätigkeit beeinflußt wird von der Eigenart der Handeltreibenden, von ihrer Organisation und von der Umwelt, sie zeigt die Methoden auf, nach denen der Handel getrieben wird, und sie sucht die betriebswirtschaftlichen Wirkungen zu erkennen, die die verschiedenen Handelsmethoden unter verschiedenen Umständen für die Handeltreibenden ausüben. Die Handelsverkehrslehre kann ihre Erkenntnisse nach allgemeinen Gesichtspunkten fassen und ordnen. In diesem Falle bezeichnen wir sie als Allgemeine Handelsverkehrslehre. Im vorliegenden Buch wird eine Allgemeine Handelsverkehrslehre geboten. … Die kaufmännische Betriebswirtschaftslehre zerfällt nach der heute herrschenden Auffassung in zwei Hauptteile: Die Lehre vom Aufbau und den inneren Funktionen der Unternehmungen bzw. Betriebe – man nennt sie zumeist Betriebslehre – und die Lehre von den Betätigungen der Unternehmungen nach außen, die kaufmännische Verkehrslehre im weiteren Sinn. In die Betriebslehre fallen die Lehre von der Organisation und Finanzierung der Unternehmungen sowie das Gesamtgebiet der Verrechnungslehre, insbesondere Buchhaltung und Bilanz und die Selbstkostenrechnung. Jeder der beiden Hauptteile der Betriebswirtschaftslehre kann nach den Hauptzweigen der kaufmännischen Wirtschaftsbetätigung gegliedert werden. So kann man eine Verkehrslehre des Warenhandels, die Handelsverkehrslehre, eine Verkehrslehre des Bankgeschäfts, des Versicherungsgeschäfts, des Transportgewerbes u. s. f. und ebenso Betriebslehren dieser Haupt-Wirtschaftszweige bilden. Faßt man die Betriebslehre und die Verkehrslehre des betreffenden Wirtschaftszweiges zusammen, so entsteht die Betriebswirtschaftslehre dieses Wirtschaftszweiges. (J. Hellauer: Welthandelslehre, 9. Aufl., Wiesbaden: Gabler 1950, S. 9–10.)“

Wichtige Publikationen

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• Henzler kommt zu folgender Würdigung: „Mit diesem Werk, dessen Bedeutung man nur ermessen kann, wenn man sich in die Zeit seines Erscheinens zurückversetzt und sich den damaligen Stand der Fachwissenschaft vergegenwärtigt, ist Hellauer zum Schöpfer der Verkehrslehre geworden“ (zit. n. Löffelholz 1967, S. 783). So äußerte sich bereits Weber vier Jahre nach dem Erscheinen der Welthandelslehre: „Hellauers Werk stellt einen Höhepunkt in der Entwicklung der privatwirtschaftlich gerichteten Handelskunde dar … Arbeiten dieser Art, noch dazu in so fleißiger Durchführung, sind für die wissenschaftliche Entwicklung der Handelsfächer ebenso notwendig wie förderlich. … Die in diesem Buche positiv geleistete Arbeit der Sammlung, Sichtung und Gliederung und systematischen Darstellung des Stoffes … ist sein großes Hauptverdienst“ (Weber 1914, S. 139). Auch Hellauers Lehrtätigkeit in Berlin und Frankfurt hat Spuren hinterlassen: Es dürfe wohl „angenommen werden, dass er mit seinem System der Welthandelslehre auch in Deutschland inhaltlich früh internationale Akzente setzte“ (Macharzina 2012, S. 244).

Wichtige Publikationen • Der Wucher – ein aktives Kreditverbrechen, 1900 • System der Welthandelslehre: Ein Lehr- und Handbuch des internationalen Handels, 1910 (101954 u. d. T. Welthandelslehre: Handelsverkehrslehre mit besonderer Berücksichtigung des Außenhandels) • Das Persönliche im Handel, 1914 • Kaufverträge in Warenhandel und Industrie, 1927 • Einführung in die Betriebswirtschaftslehre, 1928 • Handelsverkehrslehre, in: Die Handels-Hochschule, 1930 • Nachrichten- und Güterverkehr. in: Die Handels-Hochschule, 1930 • Kalkulation in Handel und Industrie, 1931 • Güterverkehr, 1938 • Zollverkehr, 1941 • Transportversicherung, 1953 • Stichwörter für das Handwörterbuch der Betriebswirtschaft: Preisfestsetzung und deren Methoden; betriebswirtschaftliche Verkehrserfordernisse; Warenterminhandel; Zahlungsverkehr im Überseehandel (in der 1. Aufl.,1926 ff.). Codistik; Güterverkehr; Kauf; Nachrichtenverkehr (in der 2. Aufl.,1938/1939) • Zahlreiche Beiträge für die Zeitschrift für Betriebswirtschaftslehre (ZfB) zwischen 1924 und 1955.

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Literatur B. Bellinger: Geschichte der Betriebswirtschaftslehre, Stuttgart 1967 B. Bellinger: Die Betriebswirtschaftslehre der neueren Zeit, Darmstadt 1988 R.  Henzler: Hellauer, Josef, in: Handwörterbuch der Betriebswirtschaft, Bd. II, Stuttgart 1958, Sp. 2676 f. F. Klein-Blenkers: Entwurf einer Gesamtübersicht über die Hochschullehrer der Betriebswirtschaft in der Zeit von 1898-1934, Köln 1988, S. 122 f. E. Leiterer: Geschichte der handels- und absatzwirtschaftlichen Literatur, Köln u. Opladen 1961 J. Löffelholz: Geschichte der Betriebswirtschaft und der Betriebswirtschaftslehre, Stuttgart 1935 J. Löffelholz: Repetitorium der Betriebswirtschaftsleehre, 2. Aufl., Wiesbaden 1967 G. Strejcek: Der Erforscher des Welthandels, in: Wiener Zeitung, 03. 12. 2016 E. Weber: Literaturgeschichte der Handelsbetriebslehre, Tübingen 1914, Kap. IV K.  Macharzina: Die Internationalisierung der deutschen BWL, in: W.  Burr, A.  Wagenhofer: Der Verband der Hochschullehrer für Betriebswirtschaft, Wiesbaden 2012, S. 244.

Bild Hellauer Hellauer: Festschrift zu Hellauers 65. Geburtstag, Frankfurt. a. M. 1936

Schmalenbach, (Johann Wilhelm) Eugen

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Wächter, Ökonomen auf einen Blick, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29069-6_46

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Leben & Karriere • Schmalenbach wurde als Sohn eines kleinen Türschlossfabrikanten geboren. Wegen finanzieller Probleme seines Vaters musste er vorzeitig das Gymnasium verlassen und absolvierte anschließend eine technische und eine kaufmännische Ausbildung. • 1891 trat Sch. in die väterliche Fabrik ein und war dort für die Buchführung verantwortlich. Praktische Probleme veranlassten ihn, sich mit betriebswirtschaftlichen Fragen auseinanderzusetzen. • 1898 immatrikulierte Sch. sich an der gerade neu gegründeten Handelshochschule in Leipzig. Er war überzeugt, er könnte dort seine „Fabrikantenqualität verbessern“. Sein akademischer Lehrer war der Nationalökonom → Karl Bücher, bei dem Sch. – als einer der ersten Absolventen – im Jahre 1900 sein Kaufmannsdiplom erwarb. • Nach seinem kaufmännischen Diplom ging Sch. zurück in die Heimat, um bei der Remscheider Deutsche Metall-Industriellen-Zeitung als Redakteur zu arbeiten. In dieser Zeitschrift hatte er schon 1899, also noch als Student, ohne Wissen seiner Professoren seinen Aufsatz Buchführung und Kalkulation im Fabrikgeschäft publiziert. In diesem Beitrag machte er sich stark für die Ausgliederung der Fixkosten aus Kalkulation und Preispolitik (vgl. Rudolph, S. 155). • 1901 wurde Sch. Assistent von → Bücher in Leipzig. Auf dessen Anregung wechselte Sch. an die Handelshochschule in Köln, wo er sich ohne vorherige Promotion 1903 mit einer Arbeit über Verrechnungspreise in Großbetrieben habilitierte, als Dozent lehrte und drei Jahre später eine Professur erhielt. • Im selben Jahr (1906) rief Sch. die Zeitschrift für handelswissenschaftliche Forschung (ZfhF)1 ins Leben. In den ersten Jahren ihres Bestehens war die Zeitschrift fast eine „Ein-Mann-Zeitschrift“: Mehr als die Hälfte der Beiträge verfasste Sch. selbst. „Darin erschienen wahllos Beschreibungen von fortschrittlichen Betrieben, von Unternehmen der verschiedensten Branchen, von Buchführungsorganisationen, Handelseinrichtungen, bank- und börsentechnischen Neuerungen, des Lohn- und Beschaffungswesens, meist ausgezeichnete empirische Arbeiten, die größtenteils von Schmalenbach selbst stammten“ (Löffelholz, S. 904). • Als die Kölner Handelshochschule in eine Universität umgewandelt wurde, wurde Sch. zum ordentlichen Professor der Betriebswirtschaftslehre ernannt und blieb seiner Universität ein Leben lang treu. Jedoch ließ er sich, als die Nazis die Macht ergriffen haben, emeritieren und nahm seine Lehrtätigkeit erst 1945 wieder auf.

 1963 wurde die ZfhF in Schmalenbachs Zeitschrift für betriebswirtschaftliche Forschung (ZfbF) umbenannt. Seit 2000 erscheint die ZfbF vierteljährlich in englischer Sprache als Schmalenbach Business Review (sbr). 1

Werk & Wirkung

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• In der Zeit der Weimarer Republik hatte Sch. zahlreiche wichtige Funktionen inne. Beispielsweise war er Mitglied des Vorläufigen Reichswirtschaftsrates (1919) und des Verwaltungsrates der Deutschen Reichsbahn (1924), Obmann des Fachausschusses für Rechnungswesen beim Reichskuratorium für Wirtschaftlichkeit sowie Vorsitzender des Verbandes der Hochschullehrer für Betriebswirtschaft (1921–1931). • 1927 veröffentlichte Sch. in seiner Zeitschrift den von ihm entwickelten Kontenrahmen. • 1933 wurde auf Initiative von über 50 ehemaligen Studenten die Schmalenbach-­ Vereinigung gegründet und ihr Lehrer zum Ehrenmitglied berufen. Dort schlossen sie sich in Arbeitskreisen zusammen und erörterten und erforschten betriebswirtschaftliche Fragestellungen. Das Ziel dieser Vereinigung war die Vernetzung von kaufmännischer Praxis mit akademischer Betriebswirtschaftslehre. • Als prominenter Nazi-Gegner, zudem verheiratet mit einer jüdischen Frau, war Sch. „mit weitem Abstand das prominenteste Opfer des Dritten Reichs unter den Betriebswirten“ (P. Mantel). Dies führte dazu, dass er sich 1933 aus der Wissenschaft zurückzog. Während der Nazi-Diktatur musste sich Sch. mit seiner Frau verstecken und fand Unterschlupf bei ehemaligen Schülern. • 1945 wirkte Sch. an der Wiedererrichtung der Kölner Universität mit und hielt dort bis 1947 Vorlesungen. • 1952 wurde die Schmalenbach-Vereinigung umbenannt in die Schmalenbach-Gesellschaft zur Förderung betriebswirtschaftlicher Forschung und Lehre und öffnete sich einem breiten Publikum.

Werk & Wirkung • Schmalenbachs Werk umfasst 30 Bücher sowie rund 300 Aufsätze und Beiträge für Fachzeitschriften. Auf die junge Disziplin der Betriebswirtschaftslehre waren seine Ideen von großer Bedeutung, obwohl er kein in sich geschlossenes Wissenschaftssystem begründet hat. • Sch. betrachtete die Betriebswirtschaftslehre als eine angewandte Wissenschaft, als eine „Kunstlehre“. Praxisbezug und Anwendbarkeit standen bei Sch. im Vordergrund. Im Gegensatz zu → Nicklisch erhob Sch. auch keine ethisch-normative oder wertenden Forderungen. Seine Forschungsmethode war empirisch-realistisch. • Der Name „Betriebswirtschaftslehre“ ist auf Sch. zurückzuführen. Er wollte nicht, dass die junge Fachrichtung auf das private Gewinnstreben reduziert wird und lehnte daher die Bezeichnung „Privatwirtschaftslehre“ ab. Die Unternehmensführung sollte zwar nach dem Prinzip der Wirtschaftlichkeit erfolgen; dies versteht Sch. jedoch im Sinne einer „gemeinwirtschaftlichen Produktivität“.

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• Da er den Betrieb als ein „Organ der Gemeischaft“ begreift, misst er dem „wirtschaftlichen Optimum im Sinne der Gemeinschaft“ eine Höhe Bedeutung bei. Da der Kaufmann auch eine „staatswirtschaftliche Funktion“ habe, gehöre es „zu den Aufgaben der Betriebswirtschaftslehre, dem Studenten ein Störungsgefühl einzupflanzen gegenüber allen Handlungen, die privatwirtschaftlich profitlich sein mögen, gemeinwirtschaftlich aber keine Bedeutung haben“ (Schmalenbach: Pretiale Lenkung des Betriebes, 1948, zit. n. Löffelholz). • Schmalenbachs wissenschaftliche Entwicklung kann in drei Epochen eingeteilt werden (vgl. Löffelholz, S. 904), die des 1. „Sammelns und Beschreibens“: Diese Phase umfasst den Zeitraum von der Jahrhundertwende bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges und „ist gekennzeichnet durch zahllose deskriptive Aufsätze über betriebswirtschaftliche Spezialthemen“. 2. „Systematisierens“: Etwa in der Zeit des Ersten Weltkrieges trugen die Erkenntnisse und gewisse Forschungsschwerpunkte der ersten Epoche ihre Früchte und verdichteten sich allmählich zu einer Theorie. 3. „Theoretisierens“: In der Weimarer Republik veröffentlichte Sch. seine wichtigsten Werke, die „von Auflage zu Auflage mehr und mehr ausgebaut wurden“. So „beginnt der große Einfluss Schmalenbachs auf die Entwicklung der Betriebswirtschaftslehre.“ Von besonderer Bedeutung in der Betriebswirtschaftslehre sind seine Dynamische Bilanz, seine Kostentheorie und sein Kontenrahmen: –– Dynamische Bilanz: Sch. betrachtet die Bilanz nicht mehr ausschließlich unter buchhaltungstechnischen und rechtlichen Gesichtspunkten, sondern untersucht die Vorgänge, die in der Bilanz ihren Niederschlag finden. Dies führt ihn zur Entwicklung einer dynamischen Bilanztheorie, womit der Totalerfolg der Unternehmung über die gesamte Lebensdauer ermittelt werden soll. Die jährliche Bilanz stellt dabei einen Periodenerfolg dar; ihre Posten haben nur transitorischen oder antizipativen Charakter. Sch.s dynamische Bilanzauffassung hat viele der heutigen Bilanzierungsvorschriften mitgeprägt (z. B. Rechnungsabgrenzung, Abschreibungen). –– Kostentheorie: Sch. beschäftigte sich eingehend mit dem Problem der fixen Kosten und deren Einfluss auf das Marktverhalten der Unternehmer. Er untersuchte als erster die Abhängigkeit des Kostenverlaufs vom Beschäftigungsgrad, entwickelte Kostenkurven und erklärt die Bedeutung der fixen Kosten und der Grenzkosten. Ein Ansteigen der Fixkosten mache nach seiner Auffassung nicht nur den Betrieb, sondern die gesamte Wirtschaft krisenanfälliger. Die Aufgabe der Kostenrechnung sieht Sch. in der Ermittlung des wirtschaftlichen Optimums des Betriebes; das ist der Beschäftigungsgrad, der dem Betrieb den maximalen Gesamtnutzen bringt. Der von ihm geprägte Begriff „Betriebsoptimum“ bezeichnet „die Produktionsmenge, bei der Grenzkosten und Stückkosten den gleichen Wert aufweisen. In diesem Punkt sind die Gesamtstückkosten minimal. Das Betriebsoptimum bildet gleichzeitig die langfristige Preisuntergrenze“ (Corsten/Gössinger: Lexikon der BWL, „Betriebsoptimum“).

Werk & Wirkung

Kosten K

progressive Kosten

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proportionale Kosten

degressive Kosten

Sprungkosten

regressive Kosten absolute fixe Kosten

0

Produktionsmenge X

Abb. 46.1  Kostenarten und -verläufe nach E. Schmalenbach. (Quelle: nach Löffelholz (1980), S. 452)

In seiner Kostentheorie unterteilt Sch. die Kosten entsprechend ihrem Verhalten bei Änderungen der Beschäftigung in proportionale, fixe, degressive, progressive und regressive Kosten (siehe Abb. 46.1): „Proportionale Kosten: „Es gibt Betriebe, deren gesamte Kosten sich dem Beschäftigungsgrad einigermaßen anpassen. Geht der Beschäftigungsgrad auf die Hälfte zurück, so fallen die Kosten auf die Hälfte; geht die Menge der Erzeugung auf das Doppelte hinauf, so steigen die Kosten auf das Doppelte.“ Fixe Kosten: „Wenn der Beschäftigeungsgrad eines Betriebes auf seine Gesamtkosten ohne Einfluß ist, dann haben wir einen Betrieb mit absolut fixen Kosten vor uns.“ Und später: „Fixe Kosten sind solche Kosten, die innerhalb bestimmter Beschäftigungsgrenzen vom jeweiligen Beschäftigungsgrad unabhängig sind.“ Sprungkosten: Sie sind dadurch gekennzeichnet „daß sie innerhalb gewisser Grenzen vom Beschäftigungsgrad unabhängig sind, dann aber bei Überschreitung dieser Grenzen plötzlich in die Höhe springen, um dann wieder eine Zeitlang fix zu bleiben.“ Degressive Gesamtkosten: Sie sind dadurch gekennzeichnet „daß die gesamten Kosten mit steigendem Beschäftigungsgrad zwar steigen, daß aber die Steigerung geringer ist als die Steigerung der Produktion.“ Progressive Gesamtkosten: „Kosten, die mit zunehmender Beschäftigung sowohl in ihrer Gesamtheit als auch pro Leistungseinheit steigen.“ Regressive Kosten: „Sie fallen bei Erhöhung des Beschäftigungsgrades in ihrer absoluten Höhe … z. B. bei hochhitzigen Öfen mit sehr hitzebeständigen, aber gegen Schwankungen höchst empfindlichen feuerfesten Steinen. Eine Produktionsreduktion oder Stillsetzung einzelner Öfen oder Batterien bringt sofort erhebliche Verluste an solchen Steinen.“ (Eugen Schmalenbach: Kostenrechnung und Preispolitik, 7. Aufl., Köln/Opladen 1956, Abschnitt C)“

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–– Kontenrahmen: Große praktische Bedeutung für die Entwicklung des Rechnungswesens, insbesondere für die Kontensystematik, hatte der von Sch. entworfene Kontenrahmen, mit dem die Finanzbuchhaltung und die Betriebsabrechnung in einem geschlossenen System vereinigt wurde. Auf der Basis seiner Arbeiten wurde das betriebliche Rechnungswesen einiger Wirtschaftszweige (z. B.  Maschinenindustrie, Braunkohlebergbau, Eisengießereien und Brauereien) vereinheitlicht. Auch bildet sein Werk die Grundlage für den Kontenrahmen-­ Erlass von 1937, in den so die von Sch. favorisierte Prozessgliederung Eingang fand. Bei dieser Form steht der betriebliche Ablauf im Vordergrund. Der Kontenrahmen soll also den Prozess der betrieblichen Leistungserstellung widerspiegeln. Die Kontenklassifikation ist dementsprechend dem innerbetrieblichen Güterkreislauf und der betrieblichen Kostenrechnung angepasst. Es dominiert die Betriebsbuchhaltung (Ermittlung von Selbstkosten, Deckungsbeiträgen und kurzfristiger Erfolgsrechnung). • Schmalenbach hatte auf die Entwicklung der Betriebswirtschaftslehre einen herausragenden Einfluss. So habe er, wie Bellinger in seiner Geschichte der Betriebswirtschaftslehre betont, „mit seiner dynamischen Bilanztheorie, seinen Äußerungen über fixe und variable Kosten, der Schaffung des Kontenrahmens, seinen Arbeiten über die Beteiligungsfinanzierung und mit vielen anderen Leistungen einen maßgeblichen Anteil an dem schnellen Aufstieg der wissenschaftlichen Betriebswirtschaftslehre gehabt“ (S. 60). Bis in die 1960er-Jahre bestimmten Sch.s Forschungen „stark die wissenschaftliche Diskussion zum Rechnungswesen in Deutschland“ (vgl. Schneider). Brockhoff würdigt Sch. so: „Wie kein anderer Betriebswirt dieser Epoche beeinflusste Schmalenbach Wissenschaft und Praxis, sowohl durch Beratung als auch durch seine Publikationen und die große Zahl seiner Schüler“ (S. 149). Dies mögen wohl auch die Gründe dafür sein, dass er zu seiner Zeit „das Gesicht der deutschen Betriebswirtschaftslehre“ war (Mantel).

Wichtige Publikationen • • • • • • • •

Dynamische Bilanz, 1919 Kostenrechnung und Preispolitik, 1919 Der Kontenrahmen, 1927 Die Aufstellung von Finanzplänen, 1931 Kapital, Kredit und Zins in betriebswirtschaftlicher Beleuchtung, 1933 Pretiale Wirtschaftslenkung, 2 Bände, 1947/1948 Das Rechnungswesen der Betriebe, I: Die doppelte Buchführung, 1950 Herausgeber der „Zeitschrift für handelswissenschaftliche Forschung“ und der „Betriebswirtschaftlichen Beiträge“

Literatur

Literatur Bellinger (1967), S. 60–62 Brockhoff (2014) Hesse (2009), S. 488–90 HdSW (1965), Bd. 12, S. 633–636 Löffelholz (1980), S. 904–907 Mantel (2009), S. 392 ff. F. Rudolph: Klassiker des Managements. Wiesbaden: Gabler 1994 Schanz (2014), S. 30–35 D. Schneider: Schmalenebach. In: Neue Deutsche Biographie 23 (2007), S. 118–119

Internet Schmalenbachgesellschaft für Betriebswirtschaft e.V.: http://www.schmalenbach.org

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Nicklisch, Heinrich

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Wächter, Ökonomen auf einen Blick, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29069-6_47

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Leben & Karriere • Nach dem Besuch des Lehrerseminars in Großräschen in der Oberlausitz war Nicklisch zwei Jahre als Lehrer tätig, ließ sich dann jedoch beurlauben, um ein Studium zu beginnen. • Ab 1899 studierte N. Nationalökonomie an der erst ein Jahr zuvor gegründeten Handelshochschule Leipzig. Zwei Jahre später, am 27. Juli 1901, schloss er sein Studium als Diplom-Handelslehrer ab. Bereits 1902 promovierte N. an der Universität Tübingen. • Danach arbeitete er zunächst bei der Magdeburger Privatbank (bis 1906) und war später als Lehrer an der Handelslehranstalt in Leipzig tätig. • 1907 wurde N. Dozent an der Leipziger Universität, wo er auch das Fach Betriebslehre einführte. • Studienreisen führten ihn nach Holland, England und in die USA. • 1910 wurde N. Professor an der Hochschule Mannheim und gründete das Betriebswissenschaftliche Institut für Forschungen auf dem Gebiete des Betriebslebens. Von 1911–1914 war er dort Prorektor, anschließend bis 1918 Rektor. • Von 1921 bis 1945 lehrte er an der Wirtschaftshochschule in Berlin, wo er über viele Jahre hinweg die Leitung des Kreditwirtschaftlichen Seminars innehatte und durch seine Bankwirtschaftliche Vortragsreihe die Berliner Bankpraxis mit der Wissenschaft eng verband. • Im Dritten Reich versuchte N. seine ethisch-normative, gemeinwirtschaftliche Betriebswirtschaftslehre unter nationalsozialistischen Vorzeichen zu etablieren und sich als „nationalsozialistischer Muster-Betriebswirt“ zu profilieren (vgl. Mantel, S. 56 f.). • 1945 wurde N. aus dem Dienst entlassen, wogegen er sich jedoch heftig wehrte.

Werk & Wirkung • Nicklisch war ein sehr emsiger Wissenschaftler, der über 150 Schriften veröffentlicht hat. Als Forscher und Lehrer hat er maßgeblichen Einfluss auf die Entwicklung der jungen Betriebswirtschaftslehre in Deutschland ausgeübt. N. ist der markanteste und neben → J. F. Schär der wichtigste Vertreter der normativen Betriebswirtschaftslehre. N. betrachtet die Betriebswirtschaftslehre als eine Disziplin der Sozialwissenschaften. Sein ganzes Werk ist geprägt von der Idee der (Betriebs-)Gemeinschaft. Seine Lehrmeinung war innerhalb des Fachs heftig umstritten; ihr wurde vorgeworfen, dass sie das Wirtschaftsleben idealisiert.

Werk & Wirkung

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• Seit 1908 war N. Herausgeber der Zeitschrift für Handelswissenschaft und Handelspraxis (ZfHH), die seit 1930 unter dem Titel Die Betriebswirtschaft (DBW) erschien. „Diese beiden Zeitschriften waren bis in die zwanziger Jahre hinein die bedeutendsten Fachzeitschriften und leisteten der Entwicklung der Betriebswirtschaftslehre großen Vorschub“ (Lingenfelder/Loevenich, S. 236). Zudem war N. Begründer und Herausgeber des berühmten Handwörterbuch der Betriebswirtschaft, das in erster Auflage zwischen 1926–1928 in fünf Bänden erschien. Weitere Auflagen folgten in den 1930er- und 1950er-Jahren. Im Vorwort zur ersten Auflage legt N. die Intention und Zielsetzung des Werkes dar: „Dieses Werk verdankt seine Entstehung dem Bewußtsein, daß es für den günstigen Fortgang der betriebswirtschaftlichen Arbeit notwendig ist, das Ganze der Betriebswirtschaftslehre als ergänzte Zusammenfassung der bisherigen Leistungen auf diesem Gebiet sowohl dem wissenschaftlichen wie dem praktischen Betriebswirte vor Augen zu stellen. … Die Absicht des Werkes läßt sich in folgender Weise kennzeichnen: 1. ein Gesamtbild der Betriebswirtschaftslehre soll gegeben werden; 2. den Betriebswirtschaftern soll der Überblick über die einzelnen Leistungen auf ihrem Gebiet erleichtert und der organische Fortgang ihrer Arbeit gefördert werden; 3. die Ergebnisse betriebswirtschaftlicher Forschung sollen dem praktischen Leben zugeführt werden, damit sie nützen. (Nicklisch: Handwörterbuch der Betriebswirtschaft, Bd. 1, Stuttgart 1926, S. III–IV.)“

• Ein wichtiges Werk, in dem N. auch seine philosophischen Anschauungen darlegt, ist Der Weg aufwärts! Organisation. In dieser betrieblichen Organisationslehre, die 1920 erschien, stellt N. seine „Gesetze der Organisation“ auf. Diese seien, wie H.  Albach feststellt, „einem kosmologischen Harmoniedenken eher denn betriebswirtschaftlich-­ wissenschaftlicher Analyse entsprungen“ (in: H. Koch (Hrsg.): Neuere Entwicklungen in der Unternehmenstheorie, Wiesbaden 1982, S. 8). Am Schluss seiner Schrift konstatiert N.: „‚Der Weg aufwärts!‘ Die Gesetze der Organisation weisen ihn uns. Es ist nicht der Weg der Technik, sondern der des Gewissens“ (S. 122). Das Hauptwerk von N. ist die 1912 erstmals veröffentlichte Allgemeine kaufmännische Betriebslehre. Sie ist in sieben Auflagen erschienen, zuletzt 1932 unter dem Titel Die Betriebswirtschaft. • N.s Forschungsansatz ist intuitiv und wertbezogen. Diesen Ansatz verteidigt er gegen empirische und wertfreie Forschungsverfahren: „Für die Betriebswirtschaft wie für die Betriebswirtschaftslehre muß das herrschende Forschungsverfahren das der Intuition sein … vom Reich der Zwecksetzungen kann es keine wertfreie Wissenschaft geben, deshalb auch nicht von der Betriebswirtschaft. (S. 28/29)“

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• „Sinn des Betriebslebens“, schreibt N. in Die Betriebswirtschaft (1932), „ist das Überbrücken des Raums zwischen den Bedürfnissen und ihrer Befriedigung“ (S. 34). Somit sind für N. sämtliche betrieblichen Vorgänge und Prozesse von Bedeutung, die mit der Bedarfsdeckung im Zusammenhang stehen. Allerdings nimmt er eine Einschränkung vor: „Alle Dinge sind hier nur soweit von Interesse, als sie Eignung zur Befriedigung haben. Diese aber gehört zum Begriff vom Wert … Es ist das Problem des wirtschaftlichen Werts, dem alle Fragen der Wirtschaft als Glieder zugehören. Auch in der Betriebswirtschaftslehre sind alle Fragen … Einzelfragen dieses einen großen Problems …. (S. 34)“

So sieht N. im Wertproblem bzw. im Wertumlauf der Betriebe, dessen Gesamtprozess sich zusammensetzt aus Beschaffung, Produktion, Absatz und Ertragsverteilung, das essentielle Thema der betriebswirtschaftlichen Theorie, auf das sich sämtliche betriebswirtschaftliche Fragen zurückführen lassen. „Auf diese Wertschöpfungslehre baut Nicklisch sein umfassendes System der Betriebswirtschaftslehre auf“ (Löffelholz, S. 903). Da das Wertproblem ein ökonomisches Problem ist, verhindert N., wenn er dieses in den Mittelpunkt rückt, ein Abgleiten in eine technische Disziplin; zugleich ergibt sich aus der Analyse des Wertumlaufs (Ertragserzielung und Ertragsverteilung) eine Systematisierung. „Seine Lehre gewinnt dadurch eine in der Betriebswirtschaftslehre vor ihm nicht gekannte Geschlossenheit“ (Schwantag in HdSW, Bd. 7, S. 598). • Kritisch steht N. zum Postulat der Gewinnmaximierung – nach heutiger herrschender Meinung das Hauptziel jedes Unternehmens. Denn habe der Mensch erst dieses „Mittel der Machtentfaltung“ erkannt, werde dieser versuchen, „mit krampfender Energie Geldwert anzuhäufen, gleichgültig ob er seinen Weg mit Leichen besät oder nicht“ (S. 6). An diesem Beispiel wird seine ethisch-normative Denkrichtung deutlich, wonach Wirtschaftlichkeit immer „anständig“ zu sein habe. • N. entwickelte eine Sozialphilosophie, die von der Idee einer Betriebsgemeinschaft geprägt ist: Kapitalisten und Arbeiter sind nach seiner Auffassung Teil eines Ganzen. In der Betriebswirtschaftslehre komme es nicht auf den Unternehmer, sondern auf die Unternehm ung an. „Das Wort Betriebsgemeinschaft bedeutet, daß Menschen, einheitlich verbunden, das Leben des Betriebes leisten und daß der Mensch auf diese Weise aus dem Betriebsmechanismus einen Organismus macht. Die Menschen stehen mit ihren Rechten und Pflichten in ihm, und das Wohlergehen des Betriebes und ihr eigenes hängt davon ab, daß diese erfüllt werden. (Nicklisch: Die Betriebswirtschaft, 1932, S. 296)“

• N. war ein Verfechter der betrieblichen Mitbestimmung und setzte sich z. B. mit Fragen zu „gerechten Löhnen“, zum „optimalen Arbeitstag“ sowie zur Gewinnbeteiligung von Arbeitnehmern auseinander – Themen, die auch heute (wieder) aktuell sind.

Wichtige Publikationen

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• Nicklisch ist der herausragendste Vertreter der normativen BWL und ein wichtiger Wegbereiter der damals jungen Wissenschaftsdisziplin. Auch wenn die Lehre von N. heftig umstritten war und ist, so hat sie zur damaligen Zeit „zur Anerkennung, Vertiefung und Verbreitung betriebswirtschaftlicher Forschung und Kenntnisse viel beigetragen“. Sein Verdienst wurde damals, neben seinen Leistungen in Forschung und Lehre und der Förderung des systematischen Aufbaues der Betriebswirtschaftslehre, „in seinem Eintreten für den Gedanken der selbständigen Handelshochschule“ (Kölnische Zeitung v. 30.07.1936) und dem „erfolgreichen Ringen um das Promotionsrecht der Handelshochschulen“ (Frankfurter Zeitung v. 19.07.1936) gesehen. Löffelholz gelangt zu folgender Würdigung: „Er sah im Betrieb ein geistiges Gebilde, das als Ganzheit nicht von seinen ethischen Bedingungen gelöst betrachtet werden kann. So mündet sein System in einer Ordnung des Betriebslebens, in der der gemeinschaftzerstörende Gegensatz zwischen Arbeit und Kapital aufgehoben ist“ (S. 903). Zur aktuellen Bedeutung N.s und der Frage, ob man sein Werk vor dem Hintergrund nationalsozialistischer Aussagen noch lesen oder zitieren dürfe, kommt R. O. Large zu folgendem Schluss: „Nicklisch ist aus inhaltlicher und institutioneller Sicht einer der Gründungsväter der Betriebswirtschaftslehre. Alleine dafür gebührt ihm Respekt. Seine Lehre stellt einen wesentlichen Meilenstein in der Geschichte des Fachs dar. Insbesondere seine Überlegungen zur Mitbestimmung und zu Ertragsverteilung im Betrieb sind von ungebrochener Bedeutung und Aktualität. Allerdings erfordert das manifeste und latente Vorhandensein von nationalsozialistischem Gedankengut in seiner Lehre Wachsamkeit und kritische Distanz. Vor allem seine Aussagen zur Wesensgleichheit von Nationalsozialismus und Betriebswirtschaftslehre sowie sein Versuch einer Integration des Führerprinzips sind unter keinen Umständen akzeptabel und verlangen deutlichen Widerspruch“ (S. 64). Auch wenn D. Schneider betont, dass N. „wegen seiner idealisierenden und z. T. naiven Organisationssicht („Betriebsgemeinschaft“) … keinen Einfluß mehr auf die heutige betriebswirtschaftliche Organisationslehre“ habe, so tat N. doch etwas, was heute wieder vermehrt von verschiedenen Seiten gefordert wird, nämlich den Menschen in den Mittelpunkt der Wirtschaft zu stellen.

Wichtige Publikationen • Allgemeine kaufmännische Betriebslehre als Privatwirtschaftslehre des Handels (und der Industrie), 1912; später u. d. Titel: Wirtschaftliche Betriebslehre, 1921 und Die Betriebswirtschaft, 1932 • Der Weg aufwärts! Organisation, 1920 • Handwörterbuch der Betriebswirtschaft, 1926 ff.

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Literatur Brockhoff (2014) HdSW (1961), Bd. 7, S. 597–598 Hesse (2009), S. 386–387 R.  O. Large (2012): Heinrich Nicklisch; in: VHB (Hrsg.): Der Verband der Hochschullehrer für Betriebswirtschaft, S. 59–65 M. Lingenfelder (1999) Löffelholz (1980), S. 902–904 Schanz (2014), S. 39–42 D. Schneider (1999): Nicklisch, Heinrich; in: Neue Deutsche Biographie 19, S. 199 f.

Hilferding, Rudolf

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Wächter, Ökonomen auf einen Blick, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29069-6_48

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Leben & Karriere • Nach dem Abitur nahm Hilferding sein Medizinstudium auf. Nebenbei hörte er Vorlesungen über Ökonomie und wandte sich sozialistischem Gedankengut zu. Er organisierte die erste sozialistische Studentenorganisation und wurde 1901 Mitglied der sozialdemokratischen Partei Österreichs. • Nachdem H. im Jahre 1901 sein Medizinstudium an der Universität Wien mit der Promotion abgeschlossen hatte, praktizierte er fünf Jahre als Arzt in den Elendsquartieren in Wien. • Ab 1902 schrieb H. für die sozialdemokratische (wissenschaftliche) Zeitschrift Neue Zeit. • 1904 gab er die Marx-Studien heraus und veröffentlichte eine Streitschrift, in der er den Nationalökonomen und Marxgegner → Eugen Böhm-Bawerk scharf attackierte. Diese „Erstlingsschrift“, schrieb das Magazin der Wirtschaft am 18.08.1927, „erinnert in Stil und Argumentationsweise an den jungen Marx“. • 1906 wurde H. von August Bebel als Dozent an die Parteischule der SPD geholt, wo er Ökonomie und Wirtschaftsgeschichte lehrte. Doch bereits nach einem Jahr musste er die Lehrtätigkeit aufgeben, da ihm von der preußischen Polizei die Ausweisung angedroht wurde. Seine Nachfolgerin wird → Rosa Luxemburg. • Von 1907 an leitete H. als Redakteur die sozialdemokratische Zeitung „Vorwärts“, bis er 1915 von der österreichisch-ungarischen Armee als Feldarzt eingezogen wurde. • 1918 trat H. in die USPD ein und wurde nach der Novemberrevolution Chefredakteur der Tageszeitung Freiheit, dem Zentralorgan der USPD. • Nach der Spaltung der USPD schloss sich H. 1920 wieder der SPD an und wurde in den Vorstand gewählt. Ein Jahr später (1921) war er Mitbegründer der Internationalen Sozialistischen Arbeitsgemeinschaft (ISA). Außerdem war er als Mitglied des Reichswirtschaftsrates und als Sachverständiger tätig. • Von 1924 bis 1933 war H. Mitglied des Reichstages und zweimal Reichsfinanzminister (1923 und 1928). • Nach der Machtergreifung durch die Nazis emigriert H. zunächst nach Zürich und publiziert unter dem Pseudonym Richard Kern für den Neuen Vorwärts. In der Tschecho­ slowakei verfasste er das Prager Manifest der Exil-SPD. Seine Flucht vor den Nazis führte ihn weiter über Paris (1938) und Marseille (1940), wo er schließlich in die Hände der Gestapo geriet.

Werk & Wirkung

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Werk & Wirkung • In seinem Hauptwerk Das Finanzkapital. Eine Studie über die jüngste Entwicklung des Kapitalismus, das im Jahre 1910 veröffentlicht wurde, greift Hilferding die Analyse der kapitalistischen Produktionsweise von → Marx auf, knüpft an dessen Geldanalyse an und führt dessen Gedanken folgerichtig und auf hohem Niveau fort, sodass das Finanzkapital nicht selten auch als „vierter Band“ des Kapitals bezeichnet wurde. • Im Vorwort schreibt H., es solle „der Versuch gemacht werden, die ökonomischen Erscheinungen der jüngsten kapitalistischen Entwicklung zu begreifen“. Dieser wirtschaftshistorische Hintergrund – insbesondere im damaligen Österreich – ist charakterisiert durch die Macht der neu aufkommenden Aktienbanken, die in Österreich seit 1855 und verstärkt am Ende des 19. Jahrhunderts entstanden. Bei der Gründung von Unternehmen in der Form der Aktiengesellschaft bzw. auch bei Umwandlungen in diese Rechtsform übernahmen die Banken zunächst die Aktien, emittierten diese an der Börse und erhielten dafür eine Kommissionsgebühr. Als es in der Phase des Emissionsbooms am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts für die Banken immer schwieriger wurde, die übernommenen oder übernahmegarantierten Aktien an den Mann zu bringen, blieben sie auf vielen Wertpapieren sitzen. Die Banken hielten somit große Anteile an den Unternehmen. Gleichzeitig versorgten sie auch genau diese Unternehmen mit Krediten. Und somit „sahen sich die österreichischen Großbanken, infolge ihres Aktienbesitzes und infolge ihrer schwer einbringbaren Industriekredite, in ihrer Profitabilität auf Gedeih und Verderb an die österreichische Industrie gekettet“ (Streissler, S. 58). • H. beschäftigt sich in seinem Hauptwerk Das Finanzkapital mit Geld und Kredit, der neuen Rolle der Großbanken, dem Aktienwesen, dem Finanzkapital und der Einschränkung der freien Konkurrenz, den Wirtschaftskrisen, der Wirtschaftspolitik und dem Imperialismus. Er zeigt auf, dass die zunehmende Verschmelzung von Wirtschaft und Staat zu einem staatsmonopolistischen Kapitalismus führe. Diese Gedanken wurden später von → Lenin aufgegriffen, weiterentwickelt und sind unter dem Namen „Stamokap-­Theorie“ bekannt geworden. Den inhaltlichen Aufbau des Finanzkapitals beschreibt H. in eigenen Worten so: „Der Analyse des Geldes folgt die Untersuchung des Kredits. Daran schliesst die Theorie der Aktiengesellschaft und die Analyse der Stellung, die das Bankkapital hier gegenüber dem industriellen Kapital einnimmt. Dies führt zur Untersuchung der Effektenbörse als des ‚Kapitalmarktes‘, während die Warenbörse wegen der in ihr sich verkörpernden Beziehungen von Geldkapital und Handelskapital einer besonderen Betrachtung unterworfen werden musste. Mit dem Fortschreiten der industriellen Konzentration verflechten sich die Beziehungen zwischen Bank- und Industriekapital immer mehr und machen das Studium dieser Konzentrationserscheinungen, wie sie in den Kartellen und Trusts gipfeln, und das ihrer Entwicklungstendenzen nötig. Die Erwartungen, die an die Ausbildung der monopolistischen Vereinigungen für die ‚Regelung der Produktion‘ und damit für die Fortdauer des kapitalistischen Systems geknüpft werden und denen namentlich für die periodischen Handelskrisen grosse Bedeutung beigelegt wurde, erheischten eine Analyse der Krisen und ihrer Ursachen, womit der theore-

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tische Teil beschlossen war. Da aber die Entwicklung, die theoretische zu erfassen versucht wurde, zugleich bedeutende Einwirkungen auf die Klassengliederung der Gesellschaft ausübt, so erschien es angezeigt, in einem letzten Abschnitt den hauptsächlichen Einflüssen auf die Politik der grossen Klassen der bürgerlichen Gesellschaft nachzugehen. (Vorwort zu „Das Finanzkapital“, Wien 1910, S. VIII–IX)“

• Als besondere Leistung Hilferdings ist hervorzuheben, dass er der Entdecker des sogenannten „Gründergewinns“ ist und dessen Bedeutung erkannt hat. Der Gründergewinn entsteht bei den Aktienemissionen und fällt den Banken zu – und zwar nicht nur bei einer ‚echten‘ Neugründung, sondern auch bei einer Umwandlung der Rechtsform. Denn für H. ist ein Unternehmen charakterisiert durch die Entscheidungsstruktur und Kontrollrechte. Und da diese sich bei der Umwandlung der Rechtsform ändern, entstünden mit der neuen Rechtspersönlichkeit auch neue Unternehmen. „Es versteht sich von selbst, dass Gründergewinn nicht nur gemacht wird bei Gründungen im eigentlichen Sinne des Wortes, seien es völlige Neugründungen oder Umwandlungen bestehender Privatunternehmungen in Aktiengesellschaften. Gründergewinn im ökonomischen Sinne des Wortes kann ebenso bei jeder Kapitalserhöhung bestehender Aktiengesellschaften erzielt werden, vorausgesetzt, dass ihr Erträgnis mehr abwirft als blossen Zins. (S. 146)“

Die Emissionsgeschäfte brachten den Großbanken Millionen ein, stärkten deren Machtposition in den Aufsichtsräten der Industrieunternehmen, ließen sie zu den eigentlichen Lenkern der Wirtschaft werden und beschleunigten den Konzentrationsprozess im Bankensektor, was schließlich zur Herausbildung des Finanzkapitals führte. „Ein immer wachsender Teil des Kapitals der Industrie gehört nicht den Industriellen, die es anwenden. Sie erhalten die Verfügung über das Kapital nur durch die Bank, die ihnen gegenüber den Eigentümer vertritt. Andererseits muß die Bank einen immer wachsenden Teil ihrer Kapitalien in der Industrie fixieren. Sie wird damit in immer grösserem Umfang industrieller Kapitalist. Ich nenne das Bankkapital, also Kapital in Geldform, das auf diese Weise in Wirklichkeit in industrielles Kapital verwandelt ist, das Finanzkapital. (S. 283)“

• In der Deutschen Allgemeinen Zeitung vom 15.08.1923 rühmte man H.s Finanzkapital als „das einzig lebensfähige rein ökonomische Werk aus der Schule von Marx“. Sein Werk gehörte seinerzeit nicht nur zu den „hervorragendsten marxistischen Analysen des Imperialismus“ (Krause/Graupner/Sieber, S. 214), es ist auch „eines der einflußreichsten Werke der ökonomischen Ideengeschichte“, das „sofort auch das Denken der großen Theoretiker der dritten und vierten Generation der Österreichischen Schule“ prägte. „Wohl dank Hilferding spielen Kreditbeziehungen in der gesamten jüngeren Österreichischen Schule eine ungewöhnlich tragende Rolle“ (Streissler 2000, S. 53). H. beeinflusste neben → Schumpeter auch → Lenin, der seine Ausführungen in dem Werk Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus zu großen Teilen auf H.s Finanzkapital stützte. Nach Schmidt (2000, S.  83  f.) enthalte Das Finanzkapital eine „Fülle stringent hergeleiteter und gerade im Lichte neuester wissenschaftlicher Forschung sehr bemerkenswerte und äußerst anregende Konzepte und Thesen.“ H. habe

Literatur

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„mit erstaunlicher Klarheit und analytischer Schärfe die Funktionsbedingungen von Banken … herausgearbeitet“. Somit könne H. „als ein wichtiger Vorläufer der modernen Bank- und Intermediationstheorie eingestuft werden“.

Wichtige Publikationen • • • • • •

Böhm-Bawerks Marx-Kritik, 1904 Das Finanzkapital, 1910 Die Schicksalsstunde der deutschen Wirtschaftspolitik, 1925 Organisierter Kapitalismus, 1927 Die Eigengesetzlichkeit der kapitalistischen Entwicklung, 1931 Nationalsozialismus und Marxismus, 1932

Literatur Euchner (1991), S. 99–111 HdSW (1956), Bd. 5, S. 119–121 Koesters (1985), S. 105–131 Krause/Graupner/Sieber (1989), S. 213–216 Nell/Schefold/Schmidt/Streissler: Rudolf Hilferdings „Das Finanzkapital“, Düsseldorf 2000.

Rieger, Wilhelm

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Wächter, Ökonomen auf einen Blick, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29069-6_49

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49  Rieger, Wilhelm

Leben & Karriere • Nach dem Besuch der Volksschule in Saarburg besuchte Rieger die Oberrealschule in Straßburg, die er 1896 mit dem Abitur abschloss. Nach dem Abitur machte Rieger eine Banklehre und bildete sich zwischen 1898 und 1905 während seiner beruflichen Tätigkeit im Selbststudium fort. Zugleich war er seit 1901 Gasthörer an der Handelshochschule Köln und der Universität Straßburg, wo er von 1914 bis 1916 Rechts- und Staatswissenschaften studierte. • In Straßburg studierte R. seit 1916 auch Nationalökonomie bei G. F. Knapp, bei dem er am 16. November 1918 mit einer Arbeit über Die Gründe für den Übergang zur Goldwährung in Deutschland zum Dr. rer. pol. promovierte. Bemerkenswert ist nicht nur die kurze Zeit, in der R. sein Studium absolvierte; parallel dazu diente er auch noch von 1916–1918 als Soldat im Ersten Weltkrieg. • Nach Lehrtätigkeit an der Handelshochschule Mannheim wirkte R. zunächst als Professor in Nürnberg (1919), bis er schließlich im Januar 1928 seinen Lehrstuhl für Privatwirtschaftslehre in Tübingen erhielt, wo er bis zu seiner Emeritierung 1947 blieb. R. galt in Tübingen als „Außenseiter“; diese Rolle nahm er jedoch auch gerne ein, wie Mantel in seiner Studie ausführt: „Als überzeugter Liberaler war er nationalsozialistischen Stellen ein Dorn im Auge; in seinem Seminar wurde zudem immer wieder leicht gegen den nationalsozialistischen Stachel gelöckt“ (S. 147). Zu seinen Schülern zählten z. B. Erich Preiser und Ludwig Erhard. • R. lehrte während seiner Tübinger Zeit auch noch mit einem Lehrauftrag ein Jahr an der TH Stuttgart. Seine Berufungen nach Köln (1936) und Straßburg (1941) wurden wegen seiner Kritik am Nazi-Regime von der NSDAP abgelehnt. • R. war während seiner gesamten akademischen Karriere kein Mitglied im Verband der Hochschullehrer für Betriebswirtschaft. Differenzen mit Schmalenbach und die Ablehnung von R.s Aufnahmeantrag in den 1920er-Jahren – er bewarb sich als Privatwirtschaftler und nicht als Betriebswirtschaftler – führten dazu, dass er erst zehn Jahre nach seiner Emeritierung, im Jahr 1957, in den VHB eintrat, als ihm nach dem Tode Schmalenbachs die Ehrenmitgliedschaft angeboten wurde. • 1948 ging R. nach Stuttgart, wo er noch ein Jahr mit einem Lehrauftrag an der Technischen Hochschule lehrte. Anschließend war R. als Gutachter und Sachverständiger tätig. • Seine wissenschaftliche Leistung wurde gewürdigt durch Ehrendoktortitel der Universitäten Nürnberg (1949) und München (1958) sowie durch das Große Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland (1957).

Werk & Wirkung

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Werk & Wirkung • Nach Riegers Theorieverständnis ist die Aufgabe der Privatwirtschaftslehre  – den Namen „Betriebswirtschaftslehre“ lehnte er ab – „das Forschen und Lehren als Ding an sich“ (Privatwirtschaftslehre, S. 81). Sein Untersuchungsobjekt ist „nicht der Betrieb schlechthin, sondern die Unternehmung, also eine historische Erscheinungsform des Betriebes, die in der kapitalistischen (marktwirtschaftlichen) Wirtschaftsordnung dominierend ist“ (Wöhe, S. 54). Er bezieht einen rein theoretischen Standpunkt, losgelöst vom realen Wirtschaften. Eine Betriebswirtschaftslehre, die „Anleitungen und Rezepte zum praktischen Handeln“ (wertende Urteile, Empfehlungen oder gar Vorschriften für die Wirtschaft) gibt, lehnte er kategorisch ab. Insbesondere die praktische Betriebswirtschaftslehre von → Eugen Schmalenbach und die normativ ausgerichtete von → Heinrich Nicklisch missfielen ihm. • R.s Hauptwerk ist die 1928 erschienene Einführung in die Privatwirtschaftslehre. Sinn und Zweck eines privatwirtschaftlichen Unternehmens ist nach R.s Auffassung das Gewinnstreben. „Wenn wir … von einem Zweck der Unternehmung reden, so kann es nur einer sein, Gewinn zu erzielen, und zwar für den Unternehmer“ (Rieger: Einführung, S. 157). Daher nimmt auch die Rentabilität in seiner Theorie einen zen­ tralen Stellenwert ein. Damit steht R.s streng marktwirtschaftliches Verständnis im krassen Gegensatz zum Gemeinwirtschaftlichkeitsdenken von Schmalenbach. R. sieht es als irreführend an, die Versorgung des Marktes als Zweck der Unternehmung zu sehen. „Man ist versucht, zu sagen: Die Unternehmung kann es leider nicht verhindern, daß sie im Verfolg ihres Strebens nach Gewinn den Markt versorgen muß.“ • Die Auseinandersetzung zwischen R. und Schmalenbach ist als „zweiter Methodenstreit“ in die Geschichte der Betriebswirtschaftslehre eingegangen. Ausgelöst wurde dieser Streit durch R., als er Schmalenbachs Auffassung seine Privatwirtschaftslehre gegenüberstellte, die den Rentabilitätsaspekt in den Mittelpunkt rückt. „Privatwirtschaftslehre und Betriebswirtschaftslehre Nach den Ausführungen im vorigen Kapitel sollte es keiner besonderen Rechtfertigung mehr bedürfen, warum für dieses Buch der Titel Privatwirtschaftslehre und nicht Betriebswirtschaftslehre gewählt wurde: Es handelt ja nicht von den Betrieben oder von der Wirtschaft der Betriebe, sondern Gegenstand seiner Untersuchungen sind ausschließlich die privaten Erwerbswirtschaften, insbesondere die Unternehmung, die man allenfalls als eine besondere Art von Betrieb, nämlich als erwerbsorientierten Betrieb, bezeichnen kann. … Es wäre an sich sehr zu begrüßen, wenn man sich über eine einheitliche Fachbenennung einigte, und gerne hatte ich mich angeschlossen, als man der Privatwirtschaftslehre, wie früher das Fach allgemein hieß, – wenigstens eine Zeitlang – den Rücken kehrte und zur Betriebswirtschaftslehre hinüberwechselte. Dies um so mehr, als sonst kaum noch jemand an der Privatwirtschaftslehre festhält. … Und diese meine Überzeugung geht dahin, daß es eine einheitliche Betriebswirtschaftslehre nicht gibt und nicht geben kann. Man hat den Namen auch nur gewählt, weil man einen besseren nicht gefunden hat, und verschiedenen Äußerungen ihrer

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49  Rieger, Wilhelm

Vertreter ist zu entnehmen, daß man seiner nicht so recht froh geworden ist. Warum trotzdem der Wechsel in der Fachbezeichnung? – Das hatte tiefere Grunde: Man wollte vor allem deutlich zu erkennen geben, daß man von der ‚Profitlehre‘ abrückte. Denn als solche galt und gilt heute noch die Privatwirtschaftslehre. Es ist leicht zu beweisen, daß diese Meinung nicht richtig ist; aber darüber wird in späteren Abschnitten gesprochen. Hier soll untersucht werden, ob und inwieweit die Bezeichnung Betriebswirtschaftslehre in methodologischer Hinsicht gerechtfertigt ist oder nicht. – Wenn wir sprechen von der Einzel- oder Privatwirtschaft, von der Volkswirtschaft, der Weltwirtschaft, so haben wir eine geordnete Reihe vor uns; es ist stets deutlich erkennbar, um welche wirtschaftende Einheit es sich handelt. Wenn die Bezeichnung Betriebswirtschaft sprachlich-logisch in diese Reihe hineinpassen soll, so muß es sich bei ihr um die Wirtschaft des Betriebes handeln, und Voraussetzung für ihre Rechtfertigung wäre demnach, daß es eine solche Wirtschaft als einheitlichen, deutlich abgegrenzten Begriff gibt. Die Betriebswirtschafter werden dies bejahen; für sie zerfällt jede Volkswirtschaft in eine Anzahl von Betrieben, dies sind die letzten und kleinsten wirtschaftenden Einheiten. Hier dagegen wird die Behauptung aufgestellt, daß Betriebe an sich überhaupt keine wirtschaftenden Größen sind, daß sie im eigentlichen Sinne gar nicht wirtschaften. Vielmehr wird mit ihnen gewirtschaftet: sie sind Objekt, aber nicht Subjekt irgendeiner Wirtschaft. Sie sind rein technische Institutionen und bedürfen erst einer übergeordneten Instanz, einer wirtschaftlichen Idee, der sie eingegliedert werden müssen, damit man sie als Wirtschaftseinheiten ansprechen kann. Es handelt sich, wie unschwer zu erkennen ist, um die Bedeutung des Wortes ‚wirtschaften‘. – Aus vielen Äußerungen von Betriebswirten muß geschlossen werden, daß sie darunter das technische Tun, das Produzieren, den produktiven Verzehr von Stoffen und Kräften verstehen. Nur so ist es zu erklären, wenn Schmalenbach die Meinung vertritt, daß alle Betriebe vor die gleiche wirtschaftliche Aufgabe gestellt waren. Er beweist damit, daß er die Dinge technisch sieht; er glaubt, Produzieren sei an sich schon Wirtschaften. Aber das ist ein Irrtum. Keineswegs kann das Produzieren von irgend etwas schon als Wirtschaften bezeichnet werden; und auch dadurch wird dieses Tun nicht zum Wirtschaften, daß man dabei wirtschaftlich verfährt. Darin nämlich sieht Schmalenbach die für alle Betriebe gleiche wirtschaftliche Aufgabe. Aber da liegt offenbar eine Verwechslung vor: die wirtschaftliche (gleich technisch-rationelle) Ausführung irgendeiner Produktion ist zunächst ein technisches Problem, aber noch keineswegs eine Aufgabe im Sinne des Wirtschaftens, der Wirtschaft. … (W. Rieger: Einführung in die Privatwirtschaftslehre, 1928, S. 32 ff.)“ „Vom Wesen der Privatwirtschaftslehre Daß die Privatwirtschaftslehre die Unternehmung in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen stellt, daß sie ferner zugibt, daß der Unternehmer nach Gewinn streben muß, und daß sie endlich die Unmöglichkeit bekennt, ihm dabei Grenzen zu setzen, hat ihr den Vorwurf eingetragen, daß sie eine Profitlehre sei: Privatwirtschaftslehre ist die Lehre von der Kunst, wie man Gewinne macht. … Die Privatwirtschaftslehre hat sich die Aufgabe gestellt, die Erwerbswirtschaft als Glied und Bestandteil der Volkswirtschaft zu erforschen und zu beschreiben, insbesondere die Unternehmung als vornehmsten und wichtigsten Typ. Sie hat zu zeigen, was eine Unternehmung ist, was dort vorgeht. Daß sie dabei auf technische Verschiedenheiten der Betriebe, auch wenn sie an sich wichtig sind, nicht oder nur gelegentlich eingehen kann, liegt auf der Hand: es kann sich hier nur um das Allgemeine handeln, um das, was ihnen allen gemeinsam ist, sie eben zu Unternehmungen stempelt. – Keineswegs ist es das Gewinnstreben an sich, was die Unternehmung für uns so interessant macht, sondern die Tatsache, daß wir in ihr ein höchst wichtiges und charakteristisches Glied der arbeitsteiligen Wirtschaft vor

Werk & Wirkung

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uns haben, das eine Untersuchung wohl rechtfertigt. Es wird auch behauptet, daß der ‚erwerbsorientierte Betrieb‘ sich von anderen Betrieben deutlich genug abhebt, daß eine besondere Betrachtung am Platze ist. Wesentlich ist für sie die Art und Weise, wie die Betriebe geldlich in die Gesamtwirtschaft eingegliedert sind. Das ist das Grundproblem. Wenn nun in der Unternehmung nach Gewinn gestrebt wird, so muß die Privatwirtschaftslehre dies sagen, sie ginge ja sonst am Leben vorbei, und zwar in einem grundlegenden Punkte. Denn um des Ertrages willen – so behaupten wir – werden die Unternehmungen gegründet, und nach dem Ertrag müssen sie in ihrer Führung ausgerichtet werden, wenn anders sie bestehen wollen. – Vielleicht ist diese Meinung falsch; aber da die hier vertretene Lehre von ihrer Richtigkeit überzeugt ist, wie konnte sie diese in ihren Augen eminent wichtige Tatsache unterschlagen? Ob die Privatwirtschaftslehre damit ihre Jünger zum Gewinnmachen ertüchtigt, erscheint trotzdem recht zweifelhaft. Was sie will, ist jedenfalls ein anderes: sie versucht, Erkenntnis zu vermitteln über das, was wir Wirtschaft nennen; sie will nicht Anleitung und Rezepte zum praktischen Handeln geben; sie will auch nicht Wirtschaftsführer oder Unternehmer ausbilden, überläßt es vielmehr ganz dem Studierenden, was er mit der gewonnenen Einsicht in das Wirtschaftsleben anfangen will. … Wenn sich aus den dargelegten Gründen die Privatwirtschaftslehre frei weiß von dem Verdacht des Profitförderns, so scheint es doch angebracht, die Frage aufzuwerfen, warum denn das Gewinnstreben vielfach als etwas Entehrendes angesehen wird, und zwar gerade beim Kaufmann. Bei anderen Berufen ist man merkwürdigerweise nicht so empfindlich. Niemand wirft es dem Künstler vor; obwohl es dort fast befremdlicher ist, sieht man es als eine Selbstverständlichkeit an, daß die Prominenten recht ansehnliche Gagen beziehen und auch gelegentlich wacker darum kämpfen. Auch findet man es ganz in der Ordnung, daß ein bedeutender Arzt, ein vielbeschäftigter Anwalt hohe Einkünfte beziehen. Woher diese andere Einstellung gegenüber dem Unternehmer? Ja, wendet man ein, jene verdienen es durch an­ gestrengte Arbeit.  – Schon, und der Kaufmann?  – Da drängen sich unwillkürlich die Vorstellungen von mühelosen Spekulationsgewinnen, von unlauteren Manipulationen und Kniffen aller Art auf: er macht Profit und beutet seine Volksgenossen aus. Zu dieser einseitigen und schiefen Auffassung trägt sicher auch der Umstand bei, daß wir bei der Unternehmung von Gewinn sprechen, wahrend anderwärts von Einnahmen und Verdienst die Rede ist. Das Wort, Gewinn’ hat immer etwas Aufreizendes, mag auch hinter diesem Gewinn noch so viel harte Arbeit stecken. Man ist ordentlich versucht zu ergänzen: Lotteriegewinn, Spekulationsgewinn. – Wer aber die Wirtschaft nur einigermaßen kennt, der weiß, daß so einfach die Dinge denn doch nicht liegen. Nach Gewinn streben heiß noch lange nicht, ihn scheffelweise einheimsen. Damit ist nur die grundsätzliche Ausrichtung für das Handeln des Unternehmers gegeben, der tatsächliche Erfolg ist eine Sache für sich. … Auch die Unternehmer haben in der Regel ihr Packchen Sorge zu tragen, und ganz gewiß ist es abwegig, allgemein von einem verächtlichen Profitmachen zu reden. Man gebe ihnen ein anderes Ziel! Endlich muß auch noch die Vorstellung bekämpft werden, als ob das Streben nach Gewinn keinen Raum ließe für redliches Handeln, als ob von nichts Anderem die Rede wäre, als wie man die Kunden am leichtesten und unmerklichsten betrügen kann. Oder auch davon, wie man die Arbeitnehmer am gründlichsten ausbeutet – was allerdings heute im Zeitalter der sozialen Gesetzgebung und der Gewerkschaften nicht mehr so einfach ist. – Eine derartige Wirtschaft müßte sich notwendigerweise von selbst aufheben; ohne ein gewisses Mindestmaß von gegenseitiger Verständigung, von Ehrlichkeit und Zuverlässigkeit kann keine Gesellschaft bestehen. (W. Rieger: Einführung in die Privatwirtschaftslehre, 1928, S. 72 ff.)“

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49  Rieger, Wilhelm

Einzelwirtschaft

(private) Erwerbswirtschaft

Verbrauchswirtschaft („Haushalt”)

Geldwirtschaft

nicht risikotragend

Naturalwirtschaft

risikotragend

auf Gewinnerzielung ausgerichtet: Unternehmung

nicht auf Gewinnerzielung ausgerichtet

Abb. 49.1  Gegenstand der Privatwirtschaftslehre nach Rieger. (Quelle: Brockhoff 2014, S. 150)

Die von R. konzipierte Unternehmenstheorie innerhalb seiner Privatwirtschaftslehre wird zusammenfassend in Abb. 49.1 dargestellt. • Rieger war ein ausgesprochen liberaler Betriebswirtschaftler, der, wie Mantel in seiner Studie schreibt, „aus seinem Unwillen gegen den Nationalsozialismus kaum einen Hehl machte – zu sehr war er Liberaler, zu sehr verachtete er die Nationalsozialisten.“ Nach Mantel, der R. als „großen, farbenprächtigen Außenseiter unter den Betriebswirten seiner Generation“ beschreibt, wird „die Besonderheit Riegers in der deutschen BWL auch dadurch deutlich, dass er sich beharrlich weigerte, sich als Ordinarius der Betriebswirtschaftslehre zu bezeichnen: Aus fachlichen Gründen bevorzugte er die Bezeichnung Privatwirtschaftslehre, so dass in Tübingen nicht das Fach Betriebswirtschaftslehre angeboten wurde, sondern bis nach dem Krieg stets nur Privatwirtschaftslehre“ (S.  146  ff.). Ludwig Erhard, ein früherer Schüler Rs., sagte über die gegen Schmalenbachs Dynamische Bilanz gerichtete Streitschrift R.s, diese „sei eine Schrift von einer Perfektion, wie sie fachwissenschaftlich nur alle hundert Jahre gelänge.“ D. Schneider hebt hervor, dass R., der zu seiner Zeit als „theoretisches Gewissen“ seines Fachs galt, durch seine scharfsinnige Kritik bis heute in Erinnerung bleibt.

Wichtige Publikationen • Einführung in die Privatwirtschaftslehre, 1927 • Schmalenbachs dynamische Bilanz. Eine kritische Untersuchung, 1936 • Über Geldwertschwankungen, 1938

Literatur

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Literatur Brockhoff (2014), S. 149–156 Hesse (2009), S. 457 V. Lingnau/U. Koffler (2013): Wilhelm Riegers Privatwirtschaftslehre und seine Bedeutung für das Controlling. Eine Würdigung zum 135. Geburtstag, TU Kaiserslautern. Löffelholz (1980), S. 911–914 Mantel (2009), S. 146–153 und 803ff. Schanz (2014), S. 35–39 D. Schneider: Rieger, Wilhelm; in: Neue Deutsche Biographie 21 (2003), S. 580–581 Wöhe (1978), S. 52–55

Mises, Ludwig von

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Wächter, Ökonomen auf einen Blick, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29069-6_50

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Leben & Karriere • Mises besuchte von 1892 bis 1900 das akademische Gymnasium in Wien. • Nach seinem Studium der Wirtschafts-, Rechts- und Sozialgeschichte und Promotion (1906) in Wien habilitierte sich von Mises dort 1912 bei Eugen von Philippovich mit einer Arbeit zur Theorie des Geldes und der Umlaufmittel. Anschließend lehrte M. zunächst als Privatdozent. • Von 1909–1938 war er Referent der Wiener Kammer für Handel, Gewerbe und Industrie und bekleidete wichtige Funktionen in internationalen Gesellschaften und Kommissionen. • Von 1914–1917 diente er in der österreichischen Armee, ab 1918 wurde er wegen einer Erkrankung in die Wirtschaftsabteilung beim Kriegsministerium versetzt. • Ab 1918 hatte M. eine außerordentliche Professur für Nationalökonomie an der Universität Wien inne, wo sich auch eine Freundschaft mit Max Weber entwickelte. • Ab 1920 sammelte er eine kleine Gruppe Ökonomen um sich, der auch → F. A. Hayek angehörte. In diesem „Privatseminar“, das alle 14 Tage in seinem Büro in der Handelskammer stattfand, diskutierten sie volkswirtschaftliche und soziologische Themen. • M. war im Vorstand des Vereins für Socialpolitik, ab 1925 Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Soziologie und begründete 1927 zusammen mit Hayek das Österreichische Institut für Konjunkturforschung. • 1934 übernahm M. (als erster Österreicher) den Lehrstuhl für internationale Wirtschaftsbeziehungen am Genfer Hochschulinstitut für internationale Studien. • 1940 emigrierte M. in die USA. Dort war er bis 1944 Mitglied des National Bureau of Economic Research und lehrte als Professor an der National University of Mexico (1942), New York University (1945–1969) und der University of Plano (1965–1971).

Werk & Wirkung • M. beschäftigte sich in seinem Werk hauptsächlich mit geld- und konjunkturtheoretischen Fragestellungen sowie mit den Problemen sozialistischer Wirtschaftssysteme. Sein Beitrag besteht vor allem darin, eine monetäre Erklärung des Konjunkturverlaufs aus den Veränderungen des Zinses, des relativen Preises und der Produktionsstruktur geliefert zu haben. • M. untersuchte, wie sich Eingriffe der „Obrigkeit“ in das Marktgeschehen auswirken und vertritt die These, dass Kapitalismus und Sozialismus, Plan und Markt unvereinbar seien. Als orthodoxer Liberaler  – er vertritt Positionen, die einem „Anarcho-­ Kapitalismus“ nahe kommen – lehnt er regulierende Eingriffe des Staates in die Gesetzmäßigkeiten des Marktes kategorisch ab. Sein Dogma, dass es beim Privateigentum

Werk & Wirkung

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an den Produktionsmitteln nicht die geringsten Einschränkungen und Vorbehalte geben dürfe, wurde heftig diskutiert und ging als „Wirtschaftsrechnungsdebatte“ in die Geschichte ein. An dieser Debatte beteiligte sich auch → Karl Polanyi mit dem Aufsatz Sozialistische Rechnungslegung. M. reagierte im Anhang der zweiten Auflage seiner Gemeinwirtschaft kritisch auf Polanyis Aufsatz, insbesondere kritisierte er dessen Propagierung des Gildensozialismus. • In seinem 1922 veröffentlichten Werk Die Gemeinwirtschaft stellt M. die These von der logischen und praktischen Undurchführbarkeit des Sozialismus auf, die er damit begründet, dass das Kollektiveigentum verhindere, dass sich für die Produktionsmittel Marktpreise bilden können, die jedoch für eine effiziente Verwendung notwendig seien. Ferner sei es im Sozialismus unmöglich, eine Organisationsform zu finden, die ein individuelles wirtschaftliches Handeln ermögliche. So kommt er zu dem Ergebnis, dass „der Kapitalismus die einzig denkbare und mögliche Gestalt gesellschaftlicher Wirtschaft“ ist. „Im sozialistischen Gemeinwesen fehlt die Möglichkeit, in der Wirtschaft zu rechnen, so daß es unmöglich wird, Aufwand und Erfolg einer wirtschaftlichen Handlung zu ermitteln, und das Ergebnis der Rechnung zum Richtmaß des Handelns zu machen. Das allein würde schon ausreichen, um den Sozialismus als undurchführbar erscheinen zu lassen. Aber auch ganz abgesehen davon, stünde seiner Verwirklichung ein zweites unüberwindbares Hindernis entgegen. Es erweist sich als unmöglich, eine Organisationsform zu finden, die das ­wirtschaftliche Handeln des einzelnen von der Mitwirkung der übrigen Genossen unabhängig macht, ohne es zu einem jeder Verantwortung baren Hasardieren zu machen. Das sind die beiden Probleme, ohne deren Lösung der Sozialismus einer nicht im Zustand voller Beharrung befindlichen Wirtschaft undenkbar und undurchführbar erscheint. Man hat diesen beiden Grundfragen bisher zu wenig Aufmerksamkeit zugewendet. Die erste hat man so ziemlich überhaupt übersehen. Daran trägt der Umstand schuld, daß man sich von dem Gedanken, daß die Arbeitszeit ein brauchbarer Maßstab des Wertes sei, nicht ganz frei zu machen vermochte. Aber selbst viele von denjenigen, die die Unhaltbarkeit der Arbeitswerttheorie erkannt hatten, halten doch noch an der Idee fest, es sei möglich, den Wert zu messen. Zeugnis davon geben die vielen Versuche, die unternommen wurden, einen Maßstab des Wertes zu entdecken. Es war notwendig, sich zur Erkenntnis der Unmöglichkeit der Wertmessung durchzuringen, und den wahren Charakter der in den Preisen des Marktes zum Ausdruck gelangenden Austauschverhältnisse zu erfassen, um Einsicht in das Problem der Wirtschaftsrechnung zu erhalten. Daß hier überhaupt ein Problem – und gar eines der allerwichtigsten – liegt, das zu entdecken konnte nur mit den Mitteln der modernen theoretischen Nationalökonomie gelingen. Im täglichen Leben der zwar auf dem besten Wege zum Sozialismus, aber noch lange nicht ganz auf dem Boden des reinen Sozialismus befindlichen Volkswirtschaft war es noch lange nicht so brennend geworden, als daß man es hätte bemerken müssen. Anders steht es mit dem zweiten Problem. Je mehr der gemeinwirtschaftliche Betrieb sich ausbreitet, desto mehr mußte die allgemeine Aufmerksamkeit auf die schlechten Geschäftsergebnisse der verstaatlichten und verstadtlichten Unternehmungen gelenkt werden. Es konnte nicht ausbleiben, daß man auf den Sitz des Übels kam. Jedes Kind mußte sehen, wo es fehlte. Man kann

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nicht sagen, daß man sich mit diesem Problem nicht beschäftigt hätte. Doch die Art und Weise, in der man sich mit ihm beschäftigte, war durchaus unzulänglich. Man übersah seinen organischen Charakter; man meinte, daß es sich nur um eine Frage der besseren Auslese der Personen und der Eigenschaften dieser Personen handle. Daß auch glänzend begabte und sittlich hochstehende Männer den Aufgaben, die die sozialistische Wirtschaftsführung stellt, nicht entsprechen könnten, hat man nicht bemerken wollen. (L. Mises: Die Gemeinwirtschaft, 2. Aufl. 1932, S. 188 f.)“

• Hayek schrieb in der Einleitung zu Mises Lebenserinnerungen: „Obwohl unzweifelhaft einer der bedeutendsten Nationalökonomen seiner Generation, blieb Ludwig von Mises in einem gewissen Sinn bis an das Ende seiner ungewöhnlich langen wissenschaftlichen Tätigkeit doch ein Außenseiter in der akademischen Welt ….“ Dieses „Außenseitertum“ mag wohl auch begründet sein in der kompromisslosen, zuweilen auch schroffen Art, mit M. seine ökonomischen Theorien, und insbesondere seine Ablehnung des Sozialismus, vertrat. Auch in methodologischer Hinsicht war er nie „zeitgemäß“. So lehnte er eine makroökonomische und mathematische Methode ab und hielt am methodologischen Individualismus und Subjektivismus der Wiener Schule fest. Wie dogmatisch und stur M. in seinen Ansichten war, wird in dem überlieferten Auftritt in der Mont-Pelerin-Gesellschaft deutlich, wo er → Hayek und anderen Liberalen (!) zurief: „Ihr seid nichts als ein Haufen Sozialisten!“ Während M. in Europa nahezu in Vergessenheit geraten ist, wurde er hingegen in den USA zum geistigen Vater einer libertären Schule, den sog. American Austrians. Sein Erfolg in den USA basiert maßgeblich auf seinem 1940 erschienenen Hauptwerk Nationalökonomie.

Wichtige Publikationen • • • • • • •

Theorie des Geldes und der Umlaufsmittel, 1912 Die Gemeinwirtschaft, 1922 Liberalismus, 1927 Geldwertstabilisierung und Konjunkturpolitik, 1928 Grundprobleme der Nationalökonomie, 1933 Nationalökonomie, 1940 Human Action, 1949

Literatur Hesse (2009), S. 354–355 Krause/Graupner/Sieber (1989), S. 364–366 Linß (2007), S. 71–75 Piper (1996), S. 112–117

Schmidt, Fritz

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Wächter, Ökonomen auf einen Blick, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29069-6_51

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51  Schmidt, Fritz

Leben & Karriere • Nach der Realschule absolvierte Schmidt eine kaufmännische Ausbildung. Anschließend war er im Großhandel und in der Industrie tätig, u.  a. in New  York und Buenos Aires. • Von 1906 bis 1909 studierte Sch. an der Handelshochschule Leipzig und Besançon (Frankreich) und ergriff nach dem Abschluss den Beruf des Handelslehrers. • Nachdem er zwei Jahre in Dortmund unterrichtet hat, wurde Sch. 1911 als Dozent an die zehn Jahre zuvor gegründete Akademie für Sozial- und Handelswissenschaften in Frankfurt a. M. (siehe Abb. 51.1) berufen, wo er sich ein Jahr später mit einer Arbeit über Die Liquidation und Prolongation im Effektenhandel habilitierte und 1913 zum ordentlichen Professor ernannt wurde. • 1914 wechselte Sch. an die neu gegründete Johann-Wolfgang-Goethe-Universität, an der er sein Leben lang lehrte und „eine der prägenden Persönlichkeiten des Faches“ (Mantel, S. 90) war. • Sch. war Begründer und Herausgeber der Zeitschrift für Betriebswirtschaft (ZfB), die seit 1924 erscheint. Seit 2013 erscheint die ZfB auf englisch unter dem Titel Journal of Business Economics (JBE). • 1932 wurde Sch. von der Wirtschaftshochschule Mannheim die Ehrendoktorwürde verliehen. • Seit 1937 war Sch. Mitglied der NSDAP. Er hatte sich schon vor der Machtergreifung „entschieden für den Nationalsozialismus ausgesprochen“ (Mantel, S. 90). • 1948 wurde Sch. Vorsitzender und ein Jahr später Ehrenmitglied des Verbands der Hochschullehrer für Betriebswirtschaftslehre.

Werk & Wirkung • Schmidt, der zu den damals bedeutendsten Forschern der Betriebswirtschaftslehre zählte, hat die Entwicklung des Faches maßgeblich mitbestimmt. Sch. zählt zu den Vertretern der empirisch-realistischen Betriebswirtschaftslehre und sieht in ihr eine theoretische Wissenschaft. Im Gegensatz zu anderen Fachkollegen, die den Betrieb als selbständiges Gebilde auffassen, betrachtet Sch. den Betrieb als „Glied der Marktwirtschaft“ und bezieht volkswirtschaftliche Aspekte (z. B. Konjunktur und Inflation) in seine Lehre ein. In seinen ersten (empirischen) Werken widmete sich Sch. dem Bankund Börsenwesen und erforschte den Zahlungsverkehr. Später entwickelte er eine „organische Bilanzlehre“, die er schließlich zu einer organischen Theorie der Betriebswirtschaft ausbaute (vgl. Löffelholz, S. 908). • Als es nach dem Ersten Weltkrieg zu einer massiven Geldentwertung durch Hyperinflation kam (siehe Abb. 51.2 und 51.3), gelangte Sch. „im Frühjahr 1921“ – wie er in Bott’s Handwörterbuch des Kaufmanns schreibt – „zu grundsätzlich neuen Anschauungen über die Bilanzbewertung, weil mir die große Wertverschiebung der Inflation die

Werk & Wirkung

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Abb. 51.1  Die Akademie für Sozial- und Handelswissenschaften, Postkarte von 1907. Zum Lehrangebot gehörten u. a. die Fächer Volkswirtschaftslehre, Handelswissenschaften, Versicherungswissenschaft, Verwaltungslehre und Verwaltungsrecht, Staats-und Völkerrecht, Handels- und Privatrecht sowie Fremdsprachen. (Quelle: Wikimedia)

Möglichkeit zu bieten schien, die Einflüsse jeder Art von Wertverschiebung zwischen Ein- und Ausgang der Kostenwerte klarer herauszuarbeiten.“ Ihm sei deutlich geworden, „daß die alten Bilanzanschauungen, die den Grundsatz Mark gleich Mark vertraten, falsch sein mußten“ (Bd. IV, S. 195). Seine umstrittenen Einsichten – sie wurden „von der bedrängten Praxis lebhaft begrüßt, von der Wissenschaft (Schmalenbach und Rieger) scharf abgelehnt“ (Löffelholz) – verarbeitet Sch. in seinem Hauptwerk Die organische Bilanz im Rahmen der Wirtschaft (1921), das er ab der 3. Auflage nur noch Die organische Tageswertbilanz betitelt. Den Namen „organische Bilanz“ erläutert Sch. im Handwörterbuch der Betriebswirtschaft so: „Die organische Bilanz ist eine rein wirtschaftliche Bilanz, die ihre Maßstäbe ausschließlich unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten zu gewinnen sucht. Die Grundsätze dieser Bilanzauffassung werden aus der Marktwirtschaft abgeleitet, in der die Unternehmung, deren Gesicht die Bilanz verkörpert, als Einzelzelle lebt. Aus diesem Grunde ist auch die Bezeichnung ‚organische Bilanz‘ gewählt, weil die organische Verknüpfung der Unternehmung mit der Marktwirtschaft, ihr unlösbares Verbundensein auf Leben und Sterben, den Zwang schafft, nicht nur die Lebensbedingungen des Organismus Einzelzelle (= Unternehmung), sondern auch die Lebensbedingungen der Gesamtwirtschaft zu erforschen, um aus ihnen die wichtigs-

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Abb. 51.2  Geldentwertung durch Hyperinflation. Nach dem Ersten Weltkrieg kam es zu einer Hyperinflation, die erst im November 1923 gestoppt werden konnte. Wie schnell die Währung an Wert verlor, zeigt diese 1000 Mark-Banknote, die auf den 15. Dezember 1922 datiert ist. 1923 wurde sie mit einem roten Stempel „eine Milliarde Mark“ überstempelt. (Quelle: Wikimedia)

Geldumlauf und Hyperinflation in Deutschland 1922–1924 100.000.000.000

Gedumlauf und Großhandelspreise (Januar 1922 = 1)

10.000.000.000 1.000.000.000

Geldumlauf

100.000.000 10.000.000 1.000.000 100.000 10.000 1.000

Preise

100 10 1 1922

1923

1924

Jahr

Abb. 51.3  Geldumlauf und Hyperinflation in Deutschland 1922–1924. In den frühen zwanziger Jahren konnte die deutsche Regierung nicht genügend Steuern einnehmen, daher betätigte sie die Notenpresse, um ihre Rechnungen zu bezahlen. Daraufhin stieg die Geldmenge von Anfang 1922 bis Dezember 1923 in astronomische Höhen, und die Preise schraubten sich dementsprechend nach oben, da die Menschen verzweifeltversuchten,ihrGeldauszugeben,eheesseinenganzenWertverlor.(Quelle:P. A.Samuelson/W. D.Nordhaus: Volkswirtschaftslehre, 3. Aufl., Landsberg 2007, S. 934)

Werk & Wirkung

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ten Richtlinien für die Bilanzierung zu gewinnen. (F. Schmidt: Bilanz (organisch), in: Handwörterbuch der Betriebswirtschaft, Bd. 1, hrsg. von H. Nicklisch, Stuttgart 1926, Sp. 1346)“

Im Gegensatz zu einer Anschaffungswertbilanz „ist die organische Bilanz“ – wie Sch. ausführt – „aufgebaut auf Tageswerten, und zwar auf Tagesanschaffungswerten. Was man für die Vermögens- und Kostenseite in einem früheren Zeitpunkte einmal gezahlt hat, ist für die Gegenwart nicht von erheblicher Bedeutung. Entscheidend ist, was man in dem Augenblick, für den man Bilanz macht oder in dem man einen Verkauf kalkuliert, bezahlen müsste, um alles wieder zu erhalten, was als Kosten in einem Produkt steckt.“

Die Wertveränderungen werden auf einem besonderen Konto erfasst, „das nicht das Verlust- und Gewinnkonto sein darf, sondern ein Vermögenswertänderungsoder -wertberichtigungskonto ist. Wenn z. B. eine Ware zu 100 eingekauft wurde, aber am Tage des Verkaufes oder wenn noch unverkauft am Tage der Bilanz 120 kosten würde, falls man sie ersetzen wollte, so muß der Eingangswert auf dem Warenkonto von 100 auf 120 Einheiten erhöht werden, indem man 20 Werteinheiten dem Warenkonto belastet und dem Vermögenswertberichtigungskonto erkennt. Als Gewinn auf dem Warenkonto erscheint dann nur der Betrag, den man über den Wiederbeschaffungswert der Ware am Umsatztage hinaus erzielt. Das ist wirklich ausschüttbarer Gewinn.“

Mit der Tageswertrechnung verfolgt Sch. das Ziel, Scheingewinn und Scheinverlust zu vermeiden, da dies seiner Auffassung nach „auch eine stärkere Anpassung der Unternehmung an die Konjunkturbewegung ermögliche“ und „die Tageswertrechnung würde ausgleichend auf die Konjunkturen wirken.“ Ausgehend von den Erfahrungen der Wirtschaftskrise und Hyperinflation verbindet Sch. in seiner Theorie gesamtwirtschaftliche Aspekte mit den bilanziellen Bewertungsverfahren des betrieblichen Rechnungswesens. Er entwickelte eine Kreislauftheorie, die sich an die Theorie der Absatzwege von → Jean-Baptiste Say anlehnte. • Schmidt kann neben → H. Nicklisch, → E. Schmalenbach und → W. Rieger zu den bedeutendsten Betriebswirtschaftlern der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gezählt werden. P. Mantel schreibt in seiner Studie Betriebswirtschaftslehre und Nationalsozialismus über Sch., dass dieser „ohne Zweifel einer der fachlich anerkanntesten Betriebswirte seiner Zeit“, gleichzeitig aber auch wegen seines nationalsozialistischen Engagements eine der „ambivalentesten Persönlichkeiten unter den Betriebswirten der Aufbaugeneration der Disziplin“ (S. 92) gewesen sei. In seiner Festrede Betriebswirtschaftslehre als Wissenschaft (1957) nennt → E. Gutenberg Sch. den „scharfsinnigsten Denker unter den betriebswirtschaftlichen Gelehrten der ersten Generation“ (S. 23). Löffelholz hebt hervor, Sch. „hat eines der in sich geschlossensten Systeme der Betriebswirtschaftslehre entwickelt, das von einer bestechenden Logik ist“ (S. 908) und würdigt: „Schmidt entwickelte die betriebswirtschaftlichen Probleme aus der gesamtwirtschaftlichen Situation. Durch die Einbeziehung der Theorie der Marktwirtschaft in die Betriebswirtschaftslehre hat er viele neue Zusammenhänge zwischen Betrieb und Markt aufgedeckt

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51  Schmidt, Fritz

und die Entwicklung der Betriebswirtschaftslehre stark beeinflußt. Die Lehre von der relativen Erhaltung der Betriebe wird heute wohl überwiegend als grundsätzlich richtig anerkannt. Auch wird im allgemeinen nicht bezweifelt, daß bei stärkerer Geldentwertung die nominale Geldrechnung einen schädigenden Einfluß auf die Konjunkturentwicklung ausüben kann. Die Erkenntnis, daß ‚Scheingewinne‘ und ‚Scheinverluste‘ durch falsche Rechnung entstehen können, ist Allgemeingut der Wissenschaft geworden. Doch wird die These, daß die Ursache der Konjunkturbewegungen durchweg auf einem Fehler der Unternehmensrechnung beruhen, heute im allgemeinen als zu weitgehend verworfen. … Doch hat sich in der Praxis eine nach Schmidts Grundsätzen ausgebildete Betriebsbuchhaltung als Grundlage der Unternehmensentscheidungen vollständig durchgesetzt“ (S. 911).

Wichtige Publikationen • • • •

Liquidation und Prolongation im Effektenverkehr, 1912 Internationaler Zahlungsverkehr und Wechselkurs, 1919 Die Effektenbörse und ihre Geschäfte, 1921 Die organische Bilanz im Rahmen der Wirtschaft, 1921 (ab der 3. Aufl. unter d. Titel: Die organische Tageswertbilanz, 1929) • Der Wiederbeschaffungspreis des Umsatztages in Kalkulation und Volkswirtschaft, 1923 • Die Industriekonjunktur – ein Rechenfehler, 1927 (ab der 4. Aufl. unter d. Titel: Betriebswirtschaftliche Konjunkturlehre, 1933)

Literatur Brockhoff (2014) HDSW (1956), Bd. 9, S. 134 Hesse (2009), S. 490 Löffelholz (1980), S. 908–911 Mantel (2009), S. 90 ff. H. Nicklisch: Handwörterbuch der Betriebswirtschaft (1960), Bd. 3, Sp. 4811 f. D. Schneider: Schmidt, Julius August Fritz; in: Neue Deutsche Biographie 23 (2007), S. 188–189

Kalveram, Wilhelm

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Wächter, Ökonomen auf einen Blick, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29069-6_52

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Leben & Karriere • Nach dem Besuch der Präparandenanstalt (Volksschullehrerausbildung) in Essen und des Lehrerseminars in Kempen am Rhein war Kalveram von 1902 bis 1913 als Lehrer an Volks- und Mittelschulen in Essen tätig. • Daneben studierte K. seit 1908 Handelswissenschaft, lehrte seit 1913 an der städtischen Handelslehranstalt zu Frankfurt a. M. und legte 1914 an der Frankfurter Akademie das Examen für Diplom-Handelslehrer ab. • Nach Teilnahme am 1. Weltkrieg als Verwaltungsinspektor, für die er mit dem Eisernen Kreuz zweiter Klasse ausgezeichnet wurde, setzte er seine Studien an der Universität Frankfurt fort. Hier promovierte er 1920 bei → Fritz Schmidt mit der Arbeit „Die Reichsbank im Krieg aufgrund ihrer Wochenausweise“ zum Doktor der Staatswissenschaften (Dr. rer. pol.). • In den folgenden Jahren war K. als Handelslehrer, Lehrbeauftragter und Hochschulassistent in Frankfurt a. M. tätig, bis er sich 1923 mit einer Arbeit über Bankbilanzen für das Fach Betriebswirtschaftslehre habilitierte. Kurz darauf wurde K. zum außer­ ordentlichen Professor ernannt, 1925 zum ordentlichen Professor. Sein wohl bedeutendster Schüler war → Erich Gutenberg, der sich 1928 bei ihm und Fritz Schmidt habilitierte. • Seit 1926 leitete K. als Direktor das Institut für Betriebswissenschaften, Abteilung Bankwesen und Finanzierung, seit 1936 die Abteilung Industriewissenschaft. Seit 1942 war er zugleich wissenschaftlicher Leiter des Instituts für Industriewissenschaft Frankfurt a. M. • 1934 wird gegen K. eine Disziplinaruntersuchung eingeleitet und schließlich ein Verweis erteilt, weil er mehrere Arbeiten von Mitarbeitern und Studenten ganz oder teilweise unter seinem Namen veröffentlicht hatte. • K., ab 1937 Mitglied der NSDAP (#5224964), war während des Dritten Reiches Leiter der Reichslehrgänge der Reichsgruppe Banken, Mitglied des Ausschusses für Betriebswirtschaft bei der Reichsgruppe Industrie und des Reichsausschusses für Betriebswirtschaft und seit September 1939 bei dem Reichskommissar für den Wirtschaftsbezirk Hessen zur Erledigung von Kosten-, Preis- und Organisationsfragen der gewerblichen Wirtschaft ehrenamtlich tätig (vgl. Mantel, S. 740 f.). Obwohl K. im März 1946 in die Gruppe der Mitläufer eingestuft wurde, sah er sich selbst „in seiner Grundeinstellung als überzeugten Demokraten und Ethiker“. Mantel (2009, S. 208 f.) sieht diese Selbsteinschatzung kritisch: „Kalveram war wie viele seiner Kollegen im Grau des nationalsozialistischen Alltagslebens gefangen: Einerseits stand er gerade in der Anfangszeit des Dritten Reichs unter starkem Druck von nationalsozialistischer Seite, andererseits arrangierte er sich später durchaus kommod mit dem Regime.“ • Bis zur Emeritierung im März 1946 lehrte und forschte K. an der Goethe-Universität Frankfurt a.  M. auf den Gebieten der Bankbetriebslehre, Industriebetriebslehre, des Rechnungswesens und der Wirtschaftsethik. Rufe an andere Universitäten lehnte er mehrmals ab. Im Zuge der Entnazifizierung wurde K. 1946 entlassen. 1948 erhielt er

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einen Lehrauftrag für Bankbetriebslehre an der Universität Köln, wo er ab 1950 als Honorarprofessor lehrte. In diesem Jahr übernahm er auch den Vorsitz des Verbandes der Hochschullehrer für Betriebswirtschaft e. V. Außerdem wurde er mit der kommissarischen Wahrnehmung seines ehemaligen Ordinariats in Frankfurt beauftragt. Zu einer Rückkehr auf sein altes Frankfurter Ordinariat kam es jedoch nicht mehr; K. verstarb im Januar 1951.

Werk & Wirkung • Das wissenschaftliche Arbeitsgebiet Kalverams ist äußerst weitgefächert. Der Beginn seines wissenschaftlichen Wirkens war geprägt durch die zeitgeschichtlichen Verhältnisse der Weimarer Republik. Sein Interesse galt zunächst der Bankbetriebslehre, „die damals – während der Inflation durch die Auswirkungen der Geldentwertung auf das Rechnungswesen und nach der Inflation durch die Rationalisierungsbewegung – eine Fülle betriebswirtschaftlicher Fragen aufwarf“ (Löffelholz 1958, Sp.  2935). Zum Bankwesen verfasste er in den 1920er-Jahren zahlreiche Beiträge für betriebswirtschaftliche Fachzeitschriften und Handwörterbücher, wie beispielsweise die erste Auflage des Handwörterbuchs der Betriebswirtschaft und die vierte Auflage des Handwörterbuchs der Staatswissenschaften. Außerdem veröffentlichte er Werke zu speziellen Themen aus dem Gebiet der Bankwissenschaft, wie z. B. über Bankbuchhaltung oder die Prüfung der Kreditwürdigkeit. „Diese sehr rege publizistische Tätigkeit hat wesentlich zum Ausbau der Bankbetriebslehre beigetragen“ (Löffelholz). Seine bankwissenschaftlichen Studien fasste K. in seiner 1939 erschienenen Bankbetriebslehre (Erstveröffentlichung schon 1929 im Rahmen des Sammelwerks Die Handelshochschule) zusammen, die sich rasch zum Standardwerk auf diesem Gebiet entwickelte. Das Buch wurde „für diesen Zweig der Betriebswirtschaftslehre grundlegend“ (Schwantag 1956, S. 462). Bis 1933 war K. auch Herausgeber der Zeitschrift Bankwissenschaft. Mit der auf K.s Initiative zurückgehenden Gründung des Instituts für das Kreditwesen fand das vielfältige Engagements K.s für die Bankwissenschaft und Bankpraxis gewissermaßen zu einem Abschluss. • Einen weiteren Arbeitsschwerpunkt bildet das betriebliche Rechnungswesen. Hierzu verfasste er grundlegende Lehrbücher, die jahrzehntelang als Standardwerke galten. „Undogmatisch in ihrer Haltung, gegründet auf breiter praktischer Erfahrung, klar und durchsichtig aufgebaut, finden diese Werke ebensoviel Anklang in der Wirtschaftspraxis wie in der Lehre an den Hochschulen“ (Schwantag 1956, S.  462). Insbesondere seine propädeutischen Werke Kaufmännische Buchhaltung und Kaufmännisches Rechnen, die erstmals 1928 in der Handelshochschule erschienen sind, „haben wesentlich dazu beigetragen, daß diese Lehrgebiete auf ein höheres Niveau gehoben wurden“ (Löffelholz 1958, Sp. 2936). • Auf publizistischem Gebiet trat K. schon in den 1920er-Jahren als Mitherausgeber fachwissenschaftlicher Zeitschriften in Erscheinung. Er war (Mit-)Herausgeber der

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1924 von → Fritz Schmidt gegründeten Z.f.B., des Bank-Archiv, der Betriebswirtschaftlichen Abhandlungen, der Betriebs- und finanzwirtschaftlichen Abhandlungen, der Wirtschaftswissenschaftlichen Vierteljahreshefte und der Bankwissenschaft (vgl. HWB, Bd. 3, 1927, Sp. 462). • Zur Zeit der Weimarer Republik verfasste Kalveram eine Reihe von – meist überaus lukrativen – Gutachten. Zum Beispiel erstellte er ein Gutachten über das Rechnungswesen der Frankfurter Allgemeinen Versicherungs-AG in den Jahren 1924/1929, ein Gutachten betr. die handels- und zivilrechtlichen Regressansprüche im Konkurse der Norddeutschen Wollkämmerei und Kammgarnspinnerei 1933, ein Gerichtliches Gutachten im Prozess Alder-Werke AG gegen Dominque, ein Gutachten im Auftrag der Wirtschaftskammer Hessen über die Ertragsfähigkeit von Unternehmungen vor Entscheidung über Umstellung oder Stilllegung sowie ein Gutachten über Bilanzvereinheitlichung (vgl. Mantel 2009, S.  74). Durch die mediale Berichterstattung über die großen Wirtschaftsprozesse, zu denen K. Gutachten verfasste, wurde er der Öffentlichkeit bekannt (siehe Abb. 52.1). • Angeregt durch seine ausgedehnte Gutachtertätigkeit in den großen Wirtschaftsprozessen der 1930er-Jahre, befasste K. sich zunehmend mit den Problemen und Fragen der Industriewirtschaft. Gegenwartsfragen der betriebswirtschaftlichen Praxis rückten immer mehr in den Vordergrund. „Als Gutachter, Berater und Publizist schaltete er sich intensiv in die zahlreichen praktischen Aufgaben ein, wie sie der Betriebswissenschaft im Zuge der Rationalisierungsbestrebungen in wachsendem Umfange gestellt waren“ (Bank-Archiv, 01.04.1942). So hat er beispielsweise an der Reform des Rechnungswesens und der Gestaltung des Kontenrahmens für die Fahrzeugindustrie mitgewirkt. Diese Tätigkeiten ermöglichten ihm nicht nur einen guten Einblick in die Praxis, sondern bildeten auch eine wichtige Ergänzung zu seinen wissenschaftlichen Arbeiten (vgl. Frankfurter Zeitung, 26.03.1942).

Abb. 52.1  Zeitungsnachricht im Berliner Tageblatt, 15.12.1932

Werk & Wirkung

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• K. gilt als ein „eifriger Verfechter“ (Wöhe 1978, S.  55) der normativ-ethischen Betriebswirtschaftslehre. Insbesondere im letzten Jahrzehnt seines Schaffens befasst er sich mit dem Verhältnis von Wirtschaft und Ethik. In dem 1949 veröffentlichten schmalen Bändchen Der christliche Gedanke in der Wirtschaft fasst K. auf rund 130 Seiten die Ergebnisse seiner Bemühungen, die Betriebswirtschaftslehre in der Ethik zu fundieren, zusammen. „Es ist ein Versuch, den Betrieb durch naturrechtlich-ethische, und zwar christliche Normen in den Gesamtzusammenhang des Lebens einzuordnen und die ethischen Wurzeln des Rationalitätsprinzips […] aufzudecken“ (Löffelholz 1958, Sp. 2936). –– Wie K. im Vorwort schreibt, ist die Schrift „als ein Baustein im Gesamtgebäude der christlichen Wirtschafts- und Soziallehre anzusehen. Es handelt sich nicht um ein gelehrtes fachwissenschaftliches Buch, sondern um ein weltanschauliches Bekenntnis zu einer Einordnung alles wirtschaftlichen Denkens und Handelns in einen höheren Seinszusammenhang, zu einer Ganzheitsbetrachtung aller wirtschaftlichen Teilaufgaben aus der Zielordnung des persönlichen und sozialen Lebens“ (S. 7). –– Im I. Kapitel nimmt K. eine Einordnung des wirtschaftlichen Bereichs in die Ganzheit des menschlichen Einzel- und Gemeinschaftslebens vor: „Wirtschaft bedeutet den Inbegriff aller Einrichtungen und Tätigkeiten, die dazu dienen, unsere materiellen Bedürfnisse […] zu befriedigen. Wirtschaft ist jener Teilbereich des gesellschaftlichen Lebens, dem die Schaffung der Voraussetzungen menschenwürdigen Daseins obliegt, die ihrerseits wiederum die Vorbedingungen sind für die Erfüllung unserer Pflichten gegen Familie, Gemeinde, Berufsgemeinschaft und Staat, für die Ausübung künstlerischer, wissenschaftlicher, ja jeder menschlichen Betätigung überhaupt. […] Das vielfältige Gefüge unseres kulturellen, sozialen, wirtschaftlichen, politischen und religiösen Lebens bildet eine organische Ganzheit mit innerer Einheit. Alle Glieder […] sind wechselseitig voneinander abhängig. Jede Betätigung jedes einzelnen Gliedes wirkt auf das  Ganze und wird ihrerseits vom Ganzen her beeinflusst. Die auf wirtschaftliche Ziele ­gerichteten menschlichen Handlungen lassen sich aus dieser Ganzheit der personalen Wirklichkeit und des sozialen Seins nicht herauslösen. […] Die oft ausgesprochene Behauptung, die Wirtschaft als neutraler, selbständiger Bereich stehe mit eigenen Zielen und Zwecken außerhalb der übrigen Kultursachbereiche, also auch außerhalb des religiösen Bereichs, und dürfe darum von christlichem Gedankengut nicht beeinflusst werden, sie habe sich vielmehr ausschließlich nach den ihr eigentümlichen ökonomischen Gesetzen und Ordnungen auszurichten, bedeutet eine Vereinseitigung und Überspitzung, die mit der Welt der Wirklichkeit nicht übereinstimmt. Wie die anderen Wissenschaften, so hat auch die Wirtschaftswissenschaft ihren Blick zu weiten und ihre Einseitigkeit abzubauen. […] Ebenso müssen die Wirtschaftswissenschaft und die Wirtschaftspraxis wieder lernen, die großen Zusammenhänge und sich selbst als Teil des größeren Ganzen zu sehen. Nur aus der Erkenntnis der Ganzheit des personalen und sozialen Lebens kann die wirtschaftliche Teilaufgabe befriedigend gelöst werden. Die Ethik begründet die sittliche Ordnung, die personalen und sozialen Verpflichtungen des Menschen. Wir betrachten diese sittliche Ordnung als natürlich, als Naturgesetz, welches die dem Wesen und Ziel des Menschen entsprechende Entfaltung, Gestaltung und Vollendung seiner Veranlagung und Persönlichkeit vorzeichnet. […] Ist das Menschenleben eine Einheit, dann muß die von der christlichen Offenbarung bestätigte sittliche Ordnung als Gottesordnung alle menschli-

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chen Lebensbereiche umgreifen. Alle diese Lebensbereiche aber sind mit wirtschaftlichen Gegebenheiten allseitig und unlöslich verknüpft. Das besagt, daß auch alles menschliche Bemühen, planend und gestaltend mit diesen wirtschaftlichen Gegebenheiten sich auseinanderzusetzen, gebunden sein muß an die umfassende, allumgreifende sittliche Ordnung, die der Christ als Gottesordnung, als Ausdruck des heiligen Willens des persönlichen Gottes versteht. So führt unsere grundlegende Einsicht der Ganzheitlichkeit und Einheitlichkeit des menschlichen Einzel- und Gesellschaftslebens zwingend zu der Forderung: Die Wirtschaft mit ihrem Sachziel im ganzen und ihren vielfältigen Zielsetzungen im einzelnen hat sich einzuordnen in den Gesamtaufbau, in die sinnvolle Stufenfolge oder Hie­ rarchie der Werte, in die ewig konstanten Prinzipien und inneren Regel- und Gesetzmäßigkeiten menschlichen Einzel- und Gemeinschaftslebens. (W. Kalveram: Der christliche Gedanke in der Wirtschaft, Köln 1949, S. 9–15, stark gekürzt)“

–– Im II. Kapitel befasst K. sich mit Messung und Wertung wirtschaftlicher Leistungen. In diesem Zusammenhang werden Produktivität, Rentabilität und Wirtschaftlichkeit untersucht; diese Größen ermöglichen, „ein Urteil über Sinn, Wert und menschliche Bedeutung wirtschaftlicher Leistung zu gewinnen“ (S. 34). –– Im III. Kapitel wird der Produktionsfaktor Arbeit untersucht. Zunächst kritisiert K. an der marxistischen Arbeitswerttheorie, dass diese ausschließlich materialistisch begründet ist. Vielmehr ist für K. „die Arbeit eine Auswirkung der persönlichen Würde und Freiheit des Werkers, ist sittliche Leistung, Christentum des Werktags, Dienst auf Geheiß Gottes“ (S. 48). Nach K. sei es „naturwidrig den Wert der Arbeitsleistung ausschließlich nach dem Grundsatz einer Gleichwertigkeit der im wirtschaftlichen Wettkampf erbrachten Leistungen des Arbeiters und der Gegenleis­ tungen des Unternehmers zu messen, die Arbeit also nur als Tauschobjekt im  Wirtschaftsprozeß zu werten“ (S.  49). Anschließend werden verschiedene ­Lohnbemessungsverfahren und Lohnformen behandelt (z. B. Zeit-, Stück- und Akkordlohn sowie das Prämiensystem). –– Im IV. Kapitel geht es um das Thema Preisgerechtigkeit. Ausgehend von der Vo­ raussetzung eines geordneten Geldwesen behandelt K. die Faktoren der Preisbildung, hinterfragt die Kalkulation zu Wiederbeschaffungspreisen, geht auf die Gefahr von Verkäufen unter Selbstkosten ein, hebt die Notwendigkeit einer behördlichen Preisregulierung in gewissen Fällen hervor und beschreibt abschließend das Wesen des gerechten Preises: „Gerechte Preise gewährleisten nach der einen Seite hin die sachlich notwendige Kostendeckung; nach der anderen Seite verwirklichen sie das ethische Postulat, daß die einzelnen Glieder des durch die Preisrelationen ineinander greifenden Leistungsgefüges in einem wohlgeordneten Verhältnis zueinander und zum Ganzen, zur gegebenen Sozialstruktur, Einkommensschichtung und Kaufkraftverteilung zu stehen haben, so daß Preisscheren, die das wirtschaftliche und soziale Gefüge stören würden, nach Möglichkeit vermieden werden“ (S. 78 f.). –– Im V. Kapitel untersucht K. die Eigentumsbildung durch Anteil am Wirtschaftsertrag. Nach einer kurzen Ausführung zu Wesen und Aufgaben des Kapitals geht K. der Frage nach, welchen Anspruch Kapital und Arbeit auf den Ertrag haben. Nach K. müssen beide „über den beiderseitigen Erhaltungsaufwand hinaus am Reinertrag

Werk & Wirkung

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beteiligt werden“ (S.  82). Es müsse eine „richtige Verteilung des Ertrages“ unter Kapitalgeber und allen Betriebsangehörigen vorgenommen werden, sodass „eine gesunde Stufung von Einkommen und Eigentum herbeigeführt wird […] Der Wirtschaftertrag muß aber in so breiter Weise aufgeteilt werden, daß soziale Spannungen durch nicht vertretbare Vermögensanhäufungen weniger und durch Besitzlosigkeit breiter Massen vermieden und allmählich zum Ausgleich gebracht werden“ (S. 83 f.). Sodann werden Formen der Gewinnbeteiligung kritisch hinterfrag. Abschließend wird auf die Bedeutung des Sparens im Zusammenhang mit der Eigentumsbildung eingegangen. –– Im VI. Kapitel befasst sich K. mit dem Verhältnis von Berufsarbeit und Persönlichkeitsentfaltung. Ausgehend von seiner Forderung, dass alle Arbeitsbedingungen so zu gestalten seien, dass der Arbeitsplatz jedem Mitarbeiter „eine Quelle innerer Befriedigung, persönlichen und sittlichen Reiferwerdens und einer Aufwärtsentwicklung seiner Persönlichkeit werden kann“ (S. 91), setzt K. sich mit den für den Menschen negativen Folgen der betrieblichen Arbeitsteilung und Organisation auseinander. Dabei beschreibt er im Wesentlichen jenes Phänomen, das schon → Karl Marx erkannte und als „Entfremdung“ bezeichnete. Nach K. bleibe bei zahlreichen Arbeiten „ein weites Feld mechanischer, wenig anregender, geistloser, bürokratischer, repetitiver Betätigung. […] Bei solcher Sinnentleerung der Arbeit, bei solcher Neutralisierung der persönlichen Werte muß die Berufsfreude ersterben“ (S. 95). Im Folgenden werden Vorschläge unterbreitet zur Beseitigung bzw. zur Milderung dieser Gefahren. Zum Beispiel könne das Gefühl der Abhängigkeit und Unfreiheit beim Arbeiter durch angemessene Rechte der Mitbestimmung gemildert werden (vgl. S. 105). „Es entspricht der sozialen Gerechtigkeit, wenn Betriebsräte als Vertreter der Arbeiter und Angestellten zu einer wertvollen Institution zwecks Überbrückung der betrieblichen Gegensätze ausgebaut werden“ (S. 105). –– Das VII. Kapitel geht auf die Wirtschaftssysteme ein. Zu Beginn umreißt K. eine dem christlichen Gedanken entsprechende Gestaltung der wirtschaftlichen und sozialen Gesellschaftsordnung. Anschließend setzt er sich kritisch mit der liberalistischen und der sozialistischen Wirtschaftsauffassung auseinander; sowohl die Gefahren staatlicher Zwangswirtschaft als auch die Auswüchse der freien Marktwirtschaft werden behandelt. Im Hinblick auf den Liberalismus kritisiert er den homo oeconomicus: Dieser „nüchterne, kalt und seelenlos rechnende Mensch einer mechanischen Tauschtechnik ohne sittliche Bindung und Lenkung ist kein Wirklichkeitsbegriff, sondern eine Verfälschung“. Eine Überhöhung der liberalen, materialistischen Wirtschaftsauffassung habe nach K. „zu zunehmenden sozialen Gegensätzen, zu Bruchstellen und Zerreißungen im gesellschaftlichen Gefüge geführt“ (S. 111). Die Nachteile staatlicher Eingriffe in die Wirtschaft sieht K. vor allem in Form von bürokratischen Verordnungen, schematischen Beschränkungen, Kontrollen, Ge- und Verboten, da diese zu Gleichgewichtsstörungen führen. Dadurch trete „allmählich ein unorganisches System sich vielfach widersprechender Anweisungen an die Stelle eines natürlichen Wirtschaftsablaufes, was schließlich „zu einer Verminde-

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rung der Produktivität“, zu einem Erschlaffen der Risikobereitschaft, zu einem Verkümmern des technischen Fortschritts und zu einem Absinken des Sozialprodukts“ (S. 116 f.) führe. K. hebt aber auch Schnittmengen zwischen christlicher Sozialordnung und Sozialismus einerseits sowie zwischen christlicher Sozialordnung und Liberalismus andererseits hervor (vgl. S. 120 f.). –– Im letzten Teil seiner Schrift, dem VIII. Kapitel, entwirft K. ein christliches Ordnungsbild der Gesellschaft, das auf der 1931 von Papst Pius XI. veröffentlichten Enzyklika Quadragesimo anno beruht. Diese Schrift enthält viele Vorstellungen, die zuvor von Sozialethikern und Ökonomen (z. B. Oswald von Nell-Breuning) des Königswinterer Kreis ausgearbeitet wurden. Dreh- und Angelpunkt der von K. dargestellten christlichen Wirtschafts- und Sozialordnung ist eine organische Gliederung der Gesellschaft nach Leistungsgemeinschaften (vgl. S. 126 ff.): „Aus der christlichen Idee wird ein Richtziel abgeleitet, welches lautet: Eine Schichtung der Gesellschaft nach gegensatzbeladenen Klassen ist unnatürlich. Natürlichem Denken entspricht eine Gruppierung nach objektiven Verbundenheiten, nach Leistungsgemeinschaften“ (S. 130). • Karl Schwantag (1912–1991), der sich 1943 bei K. habilitierte, weist darauf hin, dass eine Würdigung Kalverams nicht dessen Leistungen als Hochschullehrer vergessen dürfe. In dieser Funktion sei er ein „wirklicher Meister dieser Kunst“ gewesen. „Neben einer umfangreichen Gutachtertätigkeit und der schöpferischen und beratenden Mitarbeit in staatlichen und privaten Gremien, die der Entwicklung der Betriebswirtschaft dienten, hat er sich in Lehrgängen, die er teils im Zusammenhang mit Wirtschaftsverbänden, teils im Rahmen des von ihm geleiteten Instituts für Industriewirtschaft […] veranstaltete, um die Verbreitung betriebswirtschaftlicher Erkenntnisse mit großem Erfolg bemüht“ (Schwantag 1956, S. 462). „Das größte Verdienst erwarb sich K. um die Entwicklung der Betriebswirtschaftslehre durch die stete Bemühung, Theorie und Praxis durch Herausgabe von Lehrbüchern zusammenzuführen, in denen er die ihm aus weitreichender Gutachter- und Sachverständigen-Tätigkeit geläufigen Probleme der Praxis systematisch und einprägsam darzustellen wusste“ (Sellien und Sellien 1959, Sp.  1588). Die ethisch-normative und christlich geprägte Wirtschaftslehre, wie sie K. insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg anstrebte, konnte sich nicht durchsetzen. Allerdings sind viele seiner diskutierten Aspekte mittlerweile in unserer Sozialen Marktwirtschaft tief verankert. Im Hinblick auf die in den letzten Jahrzehnten zunehmende Bedeutung von Corporate Social Responsibility (CSR), Wirtschafts- und Unternehmensethik (z. B. Managergehälter, „Diesel-Skandal“) und sozialen Spannungen in der Gesellschaft (z. B. Alters- und Kinderarmut) sind einige Ideen K.s wieder relevant geworden.

Wichtige Publikationen • Die kaufmännische Rechnungsführung unter dem Einfluss der Geldentwertung, 1923 • Praxis der Goldmarkbilanzierung, 1924 • Bankbuchhaltung, 1926

Literatur

• • • • • • • • • • • • • •

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Kaufmännisches Rechnen, 1927 Bankbetriebslehre, 1929 (als Beitrag in „Die Handelshochschule“) Finanzierung der Unternehmung, 1929 Der Kapitalbegriff der Betriebswirtschaftslehre, 1932 Organisation und Technik des bankmäßigen Kontokorrentgeschäfts, 1933 Die Börse und ihre Aufgaben, 1937 Die Prüfung der Kreditwürdigkeit, 1937 Bankbetriebslehre, 1939 Rechnungswesen industrieller Klein- u. Mittelbetriebe, 2 Bde., 1939 Grundsätzliches zur Methode des Leistungsvergleichs, 1944 Industriebetriebslehre, 1948 Industrielles Rechnungswesen, 3 Bde., 1948/1949/1951 Der christliche Gedanke in der Wirtschaft, 1949 Die Effektenbörse, 1950

Literatur F. Klein-Blenkers: Entwurf einer Gesamtübersicht über die Hochschullehrer der Betriebswirtschaft in der Zeit von 1898–1934, Köln 1988, S. 146 f. u. 242 R. Kolbeck: Kalveram, Wilhelm, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 11, Berlin, 1977, S. 76–77 G. Krupinski: Führungsethik für die Wirtschaftspraxis, Wiesbaden 1993, S. 209–213 P. Mantel: Betriebswirtschaftslehre und Nationalsozialismus, Wiesbaden 2009, S. 739–741 J. Löffelholz: Kalveram, Wilhelm, in: HWB, Bd. 2, Stuttgart 1958, Sp. 2934–2936 K.  Schwantag: Kalveram, Wilhelm, in: HdSW, Bd.  5, Stuttgart/Tübingen/Göttingen, 1956, S. 462–463 R. Sellien/H. Sellien (Hrsg.): Stichwort „Kalveram“, in: Dr. Gablers Wirtschafts-Lexikon, 3. Aufl., Wiesbaden 1959, Sp. 1587–1588 K. Theisinger: Die Führung des Betriebes, Festschrift zum 60. Geburtstag von Wilhelm Kalveram, Berlin 1942 o. V.: Professor Wilhelm Kalveram 60 Jahre alt, in: Bank-Archiv, Zeitschrift für Bank- und Börsenwesen, 01. 04. 1942 o. V.: Wilhelm Kalveram 60 Jahre, in: Frankfurter Zeitung, 26. 03. 1942 G. Wöhe: Einführung in die Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, 13. Aufl. Vahlen, München 1978

Foto: Universitätsarchiv Frankfurt a. M., UAF, Abt. 854, Nr. 719

Schumpeter, Joseph Alois

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Wächter, Ökonomen auf einen Blick, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29069-6_53

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Leben & Karriere • Nach dem Abschlussexamen am Wiener Theresianum, einer Eliteschule der Aristokratie, nahm Schumpeter 1901 sein juristisches Studium an der Universität Wien auf, bei dem auch Nationalökonomie auf dem Lehrplan stand. In den volkswirtschaftlichen Seminaren bei → Böhm-Bawerk machte er Bekanntschaft mit → Ludwig v. Mises, → Rudolf Hilferding, → Emil Lederer und Otto Bauer. • 1906 promovierte er zum Doktor der Rechtswissenschaft. • 1907/1908 war Sch. für kurze Zeit am Internationalen Gemischten Gerichtshof in Kairo tätig. • Mit seiner Schrift Das Wesen und der Hauptinhalt der theoretischen Nationalökonomie aus dem Jahr 1908 habilitierte sich Sch. ein Jahr später (1909) bei Böhm-Bawerk und Wieser. Im Herbst desselben Jahres wurde Sch. außerordentlicher Professor für Nationalökonomie an der Universität Czernowitz. • 1911 wurde Sch. Professor in Graz. Er war der jüngste ordentliche Professor der Fakultät. • 1913/1914 lehrte er als Austauschprofessor an der Columbia-Universität in New York, wo ihm auch der Grad eines Dr. phil. h.c. verliehen wurde. • Unmittelbar nach dem Ende des Ersten Weltkrieges wurde Sch. auf Empfehlung von Hilferding und Lederer gebeten, in der von → Karl Kautsky geleiteten Sozia­ lisierungskommission in Deutschland mitzuwirken, um über die Sozialisierung der Kohleindustrie zu beraten. • Im Frühjahr 1919 übernahm Sch. das unangenehme Amt des Finanzministers in der aus Sozialisten und Konservativen bestehenden Regierungskoalition, das er bereits nach einem halben Jahr aufgab. • Sch. nahm zunächst seine Lehrtätigkeit an der Universität Graz wieder auf, ließ sich jedoch im Oktober 1921 auf eigenen Antrag suspendieren, um einige Monate später in die Privatwirtschaft zu wechseln und Präsident der Biedermann & Co. Bank AG in Wien zu werden. Die Bank ging in Konkurs, Sch. übernahm persönlich die Haftung und war somit hoch verschuldet. • Im Oktober 1925 übernahm Sch. die Nachfolger von Heinrich Dietzel auf dem Lehrstuhl für Finanzwissenschaft an der Universität Bonn und wurde deutscher Staatsbürger. • In den Jahren 1927/1928 sowie 1930 war Sch. als Gastprofessor in Harvard und Tokio tätig, bevor er 1932 einen Ruf nach Harvard annahm. Im selben Jahr siedelte er in die USA über und nahm 1939 die US-Staatsbürgerschaft an. Zu seinen Schülern zählte u. a. → Paul Samuelson, → John K. Galbraith und → James Tobin.

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• 1948  – zwei Jahre vor seinem Tod  – wurde Sch. Präsident der American Economic Association. Zudem war er Präsident der International Economic Association. • Trotz seines schlechten Zustandes in den 1940er-Jahren arbeitete er an seinem letzten großen Werk: der monumentalen History of Economic Analysis. Es war ihm jedoch nicht mehr vergönnt, sie zu veröffentlichen. Seine Witwe gab die fast 1300 Seiten umfassende History 1954 heraus.

Werk & Wirkung • In seinem Frühwerk Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, das im Herbst 1911 erschien, entwickelt Sch. sein Modell der ökonomischen Dynamik, mit dem er zu erklären versucht, wie sich die Wirtschaft – von einem statischen Zustand ausgehend – aus sich selbst heraus entwickelt. Unter „Entwicklung“ versteht Sch. „nur solche Veränderungen des Kreislaufs des Wirtschaftslebens … die die Wirtschaft aus sich selbst heraus zeugt, nur eventuelle Veränderungen der ‚sich selbst überlassenen‘, nicht von äußerem Anstoße getriebenen Volkswirtschaft“ (S.  95). Im Mittelpunkt dieses Konzepts steht der „dynamische Unternehmer“ als innovative, treibende Kraft, der durch „neue Kombinationen“ (Innovationen) auf den stationären Zustand der Wirtschaft einwirkt und die ökonomische Entwicklung vorantreibt. Sch. meint mit „neuen Kombinationen“ nicht nur technische Erfindungen; er unterscheidet fünf Fälle von Innovationen: 1. Herstellung eines neuen, d. h. dem Konsumentenkreise noch nicht vertrauten Gutes oder einer neuen Qualität eines Gutes. 2. Einführung einer neuen, d. h. dem betreffenden Industriezweig noch nicht praktisch bekannten Produktionsmethode, die keineswegs auf einer wissenschaftlich neuen Entdeckung zu beruhen braucht und auch in einer neuartigen Weise bestehen kann mit einer Ware kommerziell zu verfahren. 3. Erschließung eines neuen Absatzmarktes, d. h. eines Marktes, auf dem der betreffende Industriezweig des betreffenden Landes bisher noch nicht eingeführt war, mag dieser Markt schon vorher existiert haben oder nicht. 4. Eroberung einer neuen Bezugsquelle von Rohstoffen oder Halbfabrikaten, wiederum: gleichgültig, ob diese Bezugsquelle schon vorher existierte … oder ob sie erst geschaffen werden muß. 5. Durchführung einer Neuorganisation, wie Schaffung einer Monopolstellung (z. B. durch Vertrustung) oder Durchbrechen eines Monopols. (J. A. Schumpeter: Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, Berlin 1993, S. 100 f.) • In Sch. Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung ist der Unternehmer die treibende Kraft im Wirtschaftsprozess, mithin der Protagonist des Kapitalismus. Grundsätzlich sei jemand nur dann Unternehmer, wenn er eine „neue Kombination durchsetzt“ (S. 116).

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„Unternehmung nennen wir die Durchsetzung neuer Kombinationen und auch deren Verkörperungen in Betriebsstätten usw., Unternehmer die Wirtschaftssubjekte, deren Funktion die Durchsetzung neuer Kombinationen ist und die dabei das aktive Element sind … wir nennen Unternehmer erstens nicht bloß jene ‚selbständigen‘ Wirtschaftssubjekte der Verkehrswirtschaft, die man so zu nennen pflegt, sondern alle, welche die für den Begriff konstitutive Funktion tatsächlich erfüllen, auch wenn sie, wie gegenwärtig immer häufiger, ‚unselbständige‘ Angestellte einer Aktiengesellschaft …, wie Direktoren, Vorstandsmitglieder usw. Sind …. (S. 111)“

• In seinem konjunkturtheoretischen Werk Business Cycles von 1939 (dt.: Konjunkturzyklen, 1961) knüpft Sch. an seine Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung an und arbeitet seinen konjunkturtheoretischen Ansatz weiter aus, um – wie es im Untertitel der Konjunkturzyklen heißt – „eine theoretische, historische und statistische Analyse des kapitalistischen Prozesses“ vorzunehmen. Auf über 1100 Seiten stellt Sch. in seinem Lebenswerk seine Konjunkturtheorie auf, in der er der ‚klassischen‘ Ansicht widerspricht, wonach exogene Faktoren (wie z. B. Kriege und Missernten) verantwortlich seien für Schwankungen im Wirtschaftsgeschehen. Sch. ist – wie schon vor ihm → Karl Marx, den er verehrte – davon überzeugt, dass die Konjunkturschwankungen dem kapitalistischen Wirtschaftssystem immanent sind. Der Entwicklungsprozess der Wirtschaft lasse sich daher aus seiner inneren Mechanik heraus erklären. Eine herausragende Rolle spielt dabei der „dynamische Unternehmer“, den Sch. als Promotor in seine Konjunkturtheorie mit einbezieht. Die durch den dynamischen Unternehmer eingeleiteten Innovationsprozesse hängen aufs engste mit den Konjunkturzyklen zu­ sammen. Sch. geht davon aus, dass „Innovationen die eigentliche Quelle zyklischer Schwankungen sind“ (S. 176). Berühmtheit erlangte das „Dreizyklenschema“, in dem Sch. zwischen drei Arten von Konjunkturzyklen mit unterschiedlicher Dauer unterscheidet und die er nach ihren Entdeckern benennt: der Kitchin-Zyklus (etwa 40 ­Monate), der Juglar-Zyklus (7–10 Jahre) und der Kondratieff-Zyklus (50–60 Jahre). Die langen Wellen des Letzteren werden ausgelöst durch fundamentale technische Erfindungen, sogenannten „Basisinnovationen“, wie z. B. Dampfmaschine (1787–1842), Eisenbahn (1843–1897), Elektrifizierung (1897 bis etwa 1942). Die drei Zyklenarten verlaufen nicht nacheinander, sondern überlagernd. In dem gleichzeitigen Zusammentreffen der Abschwungphasen dieser unterschiedlichen Zyklen sieht Sch. auch die Ursache schwerer Wirtschaftskrisen: „Aber auch so wird es klar, daß das Zusammentreffen der entsprechenden Phasen aller drei Zyklen zu irgendeinem Zeitpunkt immer Phänomene von ungewöhnlicher Intensität hervorbringen wird, besonders, wenn die zusammentreffenden Phasen Prosperitäts- oder Depressionsphasen sind. Die drei tiefsten und längsten Depressionen in der durch unser Material erfaßten Epoche – 1825–1830, 1873 bis 1878 und 1929–1934 – zeigen alle dieses Merkmal. … Abgesehen von wenigen Fällen, in denen Schwierigkeiten auftreten, kann man, historisch ebenso wie statistisch, sechs Juglarzyklen auf einen Kondratieffzyklus und drei Kitchinzy­ klen auf einen Juglarzyklus rechnen  – nicht im Durchschnitt, sondern in jedem Einzelfall (Konjunkturzyklen, S. 183).“

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• Schumpeters bekanntestes Buch und sein größter Erfolg ist das 1942 erschienene Werk Capitalism, Socialism, and Democracy (dt. Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, 1946). Es basiert auf seinen beiden ersten wichtigen Werken, der Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung und den Business Cycles. Jedoch erweitert er seine Analyse der kapitalistischen Entwicklung um politische und institutionelle Aspekte. In Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie prognostiziert Sch. die zukünftige Entwicklung des kapitalistischen Systems und stellt seine These von der Selbstzerstörung des Kapitalismus auf. Im Gegensatz zu der weitverbreiteten Auffassung, dass die vollständige Konkurrenz mit vielen kleinen Anbietern den Erfolg des marktwirtschaftlichen Systems begründen, geht Sch. davon aus, dass es gerade die großen, von dynamischen Unternehmern geführten Monopole seien, die alte Strukturen des Kapitalismus aufbrechen und in einem Akt der „schöpferischen Zerstörungen“ Innovationen einführen und den Kapitalismus voranbringen. Doch diese Entwicklung stößt in einem fortgeschrittenen Stadium an ihre Grenzen. Für die Zersetzung des Kapitalismus macht er folgende systemimmanente Faktoren verantwortlich: –– Die Größe der Unternehmen führe zu einer Bürokratisierung und Automatisierung, sie werden nicht mehr von innovativen Unternehmertypen geleitet, sondern von Spezialisten, von bezahlten Managern und Aktionären. Dies führt dazu, dass der Unternehmer seine Funktion verliert. → John K.  Galbraith wird dies später als „Technostruktur“ bezeichnen. –– Ferner werde von den entpersönlichten Eigentumsverhältnissen in den Großunternehmen das institutionelle Gerüst des Kapitalismus (z. B. Vertragsfreiheit, Eigentumsrechte) untergraben. –– Die den Kapitalismus schützenden Gesellschaftsschichten lösen sich auf. –– Der Kapitalismus werde eine feindselige Haltung gegen sich in der Arbeiterklasse erzeugen. • Da der Kapitalismus an seinen eigenen Widersprüchen zugrunde gehen werde, wirft Sch. im dritten Teil des Buches die Frage auf: „Kann der Sozialismus funktionieren?“ Er bejaht dies nicht nur; er geht sogar davon aus, dass der Sozialismus das überlegendere System sei. Als Gründe hierfür führt er an, dass –– das Allokationsproblem besser gelöst werden könne, da keine kostspieligen ‚trial and error‘-Operationen durchgeführt werden müssen –– Innovationen besser geplant und in allen Wirtschaftsbereichen gleichzeitig eingeführt werden können –– Begabungen produktiver genutzt werden können, da sie nicht in einem Verteilungskampf von Einzel- oder Gruppeninteressen absorbiert werden –– Konjunkturzyklen verhindert werden, Betriebe eine bessere Planungssicherheit haben und es weniger Arbeitslose gebe. • H. D. Kurz schrieb Zum 100. Geburtstag von Joseph Schumpeters Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung in der FAZ: „Von einigen Lesern begeistert aufgenommen, wird es von anderen, darunter Schumpeters Lehrer Eugen von Böhm-Bawerk, heftig kritisiert. Aber es überdauert alle Anfechtungen und ist gerade auch heute noch höchst

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lesenswert. Den Vertretern der Evolutorischen Ökonomik und der sogenannten Schumpeterianischen Wachstumstheorie ist es eine Hauptquelle der Inspiration. Das innovative Potential des Werks ist noch nicht erschöpft.“ S. Böhm würdigt das Gesamtwirken Sch.s dahingehend, dass dieser zweifellos deutliche Spuren hinterlassen habe in der Unternehmertheorie, der Wettbewerbs- und Monopoltheorie, in der Analyse des technischen Fortschritts und der Wachstumstheorie und in der Theorie der ‚langen Wellen‘ (vgl. Böhm in: Kurz 2009, S. 155). G. Haberler würdigt Sch. gar als „Universalgelehrten, der zudem in allen Zweigen der Nationalökonomie zu Hause war“ und „eine einzigartige Stellung unter den zeitgenössischen Ökonomen“ einnahm (Haberler in: Recktenwald 1971, S. 500).

Wichtige Publikationen • Wesen und Hauptinhalt der theoretischen Nationalökonomie, 1908 • Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung. Eine Untersuchung über Unternehmergewinn, Kapital, Kredit, Zins und den Konjunkturzyklus, 1911 • Business Cycles, 1939 (dt.: Konjunkturzyklen, 1961) • Capitalism, Socialism, and Democracy, 1942. (dt.: Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, 1946) • History of Economic Analysis, 1954. (dt.: Geschichte der ökonomischen Analyse)

Literatur Hesse (2009), S. 496–498 Koesters (1985), S. 199–218 Krause/Graupner/Sieber (1989), S. 505–508 Kurz (2009), S. 137–160 Kurz (2012) in FAZ v. 24.02.2012 Linß (2007), S. 76–80 Piper (1996), S. 97–104 Recktenwald (1971), S. 499–534 Starbatty, Bd. 2 (2012), S. 251–272 E. Streißler: Stichwort „Schumpeter“, in: Staatslexikon (1995), Bd. 4, Sp. 1098–1100

Keynes, John Maynard

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Wächter, Ökonomen auf einen Blick, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29069-6_54

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Leben & Karriere • Von 1897 bis 1902 besuchte Keynes das Eaton College, ein angesehenes Privatinternat. • 1902 nahm K. sein Studium der Philosophie, Geschichte und Mathematik am King’s College in Cambridge auf. • Nachdem K. 1905 sein Mathematik-Studium mit dem Master of Arts abgeschlossen hatte, vertiefte er sich in das Studium der Ökonomie. Dieses Fach fristete damals noch ein Schattendasein; und der einzige Professor für Nationalökonomie war → Alfred Marshall, einer der bedeutendsten Ökonomen seiner Zeit. • Anschließend beschloss K. in den Staatsdienst zu gehen. Hierfür legte er 1906 eine Aufnahmeprüfung ab, aus der er als Zweitbester hervorging. Das Ergebnis reichte jedoch nicht für das von ihm angestrebte Finanzministerium, und so stand ihm lediglich der Weg offen ins Indian Office. • Er ging für zwei Jahre nach Indien und war im höheren Verwaltungsdienst tätig. Während seiner Tätigkeit in dieser Behörde verfasste er seine Dissertation über Wahrscheinlichkeitstheorie, die jedoch zunächst nicht angenommen wurde und die er dann am 12. Dezember 1907 einreichte. • Im Sommer 1908 holte A. Marshall K. als Dozent nach Cambridge zurück. Am King’s College lehrte er als Dozent und befasste sich insbesondere mit der Geldtheorie und Geldpolitik. Daneben übte er das Amt des Schatzmeisters überaus erfolgreich aus. • Seit 1911 hielt sich K. regelmäßig in London auf, um seiner Redaktionstätigkeit beim bedeutenden Economic Journal nachzukommen, für das er bis 1945 als Herausgeber tätig war. Etwa zeitgleich (1913 bis 1945) war er zudem Sekretär der Royal Economic Society. • 1911 hielt K. sechs Vorlesungen an der London School of Economics über „Indische Währung, Finanzen und Preisniveau“, aus denen zwei Jahre später sein erstes Buch mit dem Titel Über indische Währung und Finanzen hervorging. • Von 1913 bis 1914 war K. Mitglied der Royal Commission für Währung und Finanzen Indiens. Zusammen mit dem Ökonomen Sir Ernst Cable wurde er beauftragt, einen Plan für die Errichtung einer indischen Zentralbank auszuarbeiten. • 1915 wurde K. Berater des Schatzministeriums und war während des Ersten Weltkrieges zuständig für die Finanzierung der Kriegsausgaben Großbritanniens und seiner Verbündeten. • Nach Kriegsende war K. Mitglied der britischen Delegation, die von Januar bis Juni 1919 an der Friedenskonferenz von Versailles teilnahm (siehe Abb. 54.1). Hier nahm er eine herausragende Position ein. Er befasste sich mit der Frage der Reparationszahlungen Deutschlands und mit der Klärung der Kriegsfinanzierung zwischen den Alliierten. Insbesondere machte sich K. dafür stark, die von Deutschland zu leistenden Reparationszahlungen nicht zu hoch anzusetzen, da er befürchtete, dass die deutsche

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Abb. 54.1  Die Unterzeichnung des Friedensvertrages im Spiegelsaal, Versailles, 28. Juni 1919. Ein Blick auf das Innere der Spiegelsaal von Versailles, mit den Staatsoberhäuptern sitzend und stehend vor einem langen Tisch. (Quelle: Wikimedia)

Wirtschaft darunter zusammenbräche. K. konnte sich mit seinen Ansichten nicht durchsetzen und schied drei Wochen vor Abschluss des Vertrages aus der Delegation aus. Daraufhin verfasste er sein viel beachtetes Werk The Economic Consequences of the Peace, in dem er die Siegermächte scharf kritisierte. • K. hatte zahlreiche hohe Positionen in Politik, Wirtschaft und Kultur inne. Seit 1941 war der Finanz- und Währungsexperte u. a. Mitglied des Direktoriums der Bank von England. 1942 wurde K. in den Adelsstand zum Lord Keynes erhoben. • Während des Zweiten Weltkrieges war K. verantwortlich für die Finanzierung der Kriegskosten. Später war er maßgeblich am Zustandekommen des Bretton-Woods-­ Abkommens beteiligt und hatte auch großen Anteil an der Gründung des Internationalen Währungsfond (IWF). • K. starb am 21.04.1946 an Herzversagen.

Werk & Wirkung • Sein erstes Werk Indian Currency and Finance verfasste Keynes 1913. Der 30jährige Beamte des Finanzministeriums setzt sich darin mit dem indischen Währungs- und Finanzwesen auseinander und vertritt bereits Auffassungen, die von der „klassischen“

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ökonomischen Lehre abweichen. Insbesondere macht sich K. in diesem Werk für die Fortsetzung des praktisch bereits geltenden Golddevisenstandards stark. • Im Jahre 1919 übte K. in seiner Schrift The Economic Consequences of the Peace (dt.: Die wirtschaftlichen Folgen des Friedensvertrages, 1920) scharfe Kritik an den enormen Reparationsleistungen, die der Friedensvertrag Deutschland auferlegt. Er setzt sich in seiner Schrift dafür ein, dass Deutschland statt der gesamten Kriegskosten nur die direkten Schäden begleichen soll. Seinen Unmut über die Uneinsichtigkeit der Siegermächte formuliert er an einer Stelle so: „Durch krankhafte Täuschung und rücksichtsloses Selbstbewußtsein getrieben, stürzte das deutsche Volk die Fundamente, auf denen wir alle lebten und bauten. Aber die Wortführer des französischen und des britischen Volkes haben das Wagnis unternommen, den Umsturz zu vollenden, den Deutschland begann, durch einen Frieden, dessen Verwirklichung das empfindliche, verwickelte, durch den Krieg bereits erschütterte und zerrissene System, auf Grund dessen allein die europäischen Völker arbeiten und leben können, noch weiter zerstören muß, statt es wiederherzustellen. (J. M. Keynes: Die wirtschaftlichen Folgen des Friedensvertrages, 1920/2006, S. 39)“

In Folge des Vertrages verlor Deutschland 13 Prozent seines Staatsgebiets, 10 Prozent seiner Bevölkerung, die Hälfte der Eisenerzförderung, ein Viertel der Steinkohleförderung und 15 Prozent der landwirtschaftlichen Produktion. Auslandsvermögen und alle Kolonien mussten ersatzlos abgetreten werden. „Der größte Teil der Handelsflotte und viel rollendes Material der Eisenbahn musste ausgeliefert und auf dem sogenannten Reparationskonto verrechnet werden“ (vgl. Spoerer/Streb 2013, S. 74 und Abb. 54.2). • 1930 erschien A Treatise on Money (dt.: Vom Gelde, 1931), ein Standardwerk der Geldtheorie. Darin zeigt K., dass Schwankungen von Sparen und Investieren dazu führen, dass der Marktzins vom langfristigen ‚natürlichen‘ Zins abweicht und dass sie Schwankungen des Preisniveaus verursachen. Wirtschaftliches Gleichgewicht erfordere ein ausgewogenes Verhältnis von Sparen und Investieren, von Marktzins und natürlichem Zins bei stabilen Preisen. K. ist in der Treatise noch der Auffassung, dass es ein solches Gleichgewicht nur bei Vollbeschäftigung geben könne. Hingegen ist die entscheidende Aussage in seiner Generel Theory gerade die, dass es auch ein Gleichgewicht bei Unterbeschäftigung geben kann! Der Erkenntnisprozess, den K. zwischen der Treatise und der General Theory durchlief, lässt ihn nach jahrelanger Arbeit an der Treatise unzufrieden erscheinen, sodass er sich im Vorwort in Teilen selbst von seinem Werk distanziert. Dennoch stellt das Werk eine wichtige Vorstufe dar zu seinem Hauptwerk, das sechs Jahre später erscheinen wird. • Sein „revolutionäres“ Hauptwerk The General Theory of Employment, Interest and Money (dt. Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes) entstand 1936 auf Grundlage seiner Vorlesungen und Diskussionen mit Ökonomen aus Cambridge. Dessen Entstehungsgeschichte ist vor dem Hintergrund der dramatischen Weltwirtschaftskrise (1929–1932) zu sehen. Bereits vor der Krise vertrat K. den Standpunkt, dass der Kapitalismus die Tendenz zur Instabilität in sich trägt. Eine Krise solchen

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Abb. 54.2  Deutsche Reparationsablieferungen nach dem Versailler-Diktat 1920. (Quelle: Wikimedia/Bundesarchiv, Bild 183-R02190/CC-BY-SA 3.0)

Ausmaßes war mit der damals vorherrschenden, auf einzelwirtschaftliche Prozesse orientierten ökonomischen Lehre – → F. A. von Hayek war zu dieser Zeit ein führender Vertreter dieses mikroökonomischen Ansatzes und Ks.’ größter Gegenspieler – nicht zu erklären. Langfristige Ungleichgewichte waren nach dem → Say’schen Theorem, wonach sich jedes Angebot seine Nachfrage schaffe und die Wirtschaft sich immer in einen Gleichgewichtszustand einpendele, nicht möglich. K. lehnt diese klassische Sichtweise ab: „Auf lange Sicht sind wir alle tot. Die Volkswirtschaftslehre macht es sich zu leicht und ihre Aufgabe wertlos, wenn sie uns in stürmischen Zeiten nur sagen kann, daß der Ozean wieder ruhig wird, nachdem der Sturm vorüber ist.“ Auf der Suche nach den Funktionsmechanismen fand K. Erklärungen, mit denen er die Wirtschaftswissenschaft revolutionierte und den Übergang zu einer gesamtwirtschaftlichen Analyse vollzog. Entscheidend für die wirtschaftliche Entwicklung ist nach K. die gesamtwirtschaftliche Nachfrage, die aus Konsum und Investition besteht. Diese werden bestimmt durch psychologische Faktoren, nämlich dem „Hang zum Verbrauch“, dem „Hang zum Sparen“, dem „Hang zur Investition“ und dem „Hang zur Liquidität“. Entstehende Nachfragelücken, die sich daraus ergeben, sollen durch staatliche Aktivität geschlossen werden. So soll beispielsweise der Staat in einer Rezession durch kreditfinanzierte Nachfrage und Investitionen Arbeitsplätze schaffen; in einer Boomphase soll er dann die Kredite zurückzahlen („deficit-spending“).

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• Der Inhalt der Allgemeinen Theorie ist in sechs Bücher und 24 Kapitel gegliedert:Erstes Buch: Einleitung Zweites Buch: Definitionen und Ideen Drittes Buch: Die Konsumneigung Viertes Buch: Die Anreize zu investieren Fünftes Buch: Nominallöhne und Preise Sechstes Buch: Von der Allgemeinen Theorie angeregte kurze Bemerkungen –– Zunächst weist Keynes im Vorwort darauf hin, dass sich das Buch „in erster Linie an meine Fachkollegen“ richtet. Der Hauptzweck „ist die Behandlung schwieriger theoretischer Fragen und nur in zweiter Linie die Anwendung dieser Theorie auf die Wirklichkeit“ (S. IX). In der Hauptsache gehe es um „eine Erforschung der Kräfte …, die Änderungen im Umfang der Produktion und Beschäftigung als Ganzes bestimmen“ (S. X). –– Im ersten Buch begründet K., warum er sein Werk eine „Allgemeine Theorie“ nennt; nämlich weil sie – im Gegensatz zur klassischen Theorie – nicht nur für den Grenzfall der Vollbeschäftigung aller Ressourcen gilt. Nachdem er die Grundauffassungen der klassischen Lehre darlegt, verwirft er das Say’sche Gesetz, wonach sich jedes Angebot seine Nachfrage schaffe. Sodann stellt K. seine eigene Theorie vor, in deren Zentrum die effektive Nachfrage steht. Diese bestimmt das Volumen von Produktion und Beschäftigung. –– Im zweiten Buch stellt K. grundlegende Definitionen auf; insbesondere erklärt er die von ihm verwendeten Wertgrößen. Weiter geht K. auf die Rolle der Erwartungen ein; dabei unterscheidet er zwischen langfristigen und kurzfristigen: die kurzfristigen beziehen sich auf die Preise und Kosten der Produktion, die langfristigen auf die Rendite der Sachinvestitionen. Er erörtert, wie sich die Erwartungen bilden, wie sie sich verändern und welche Wirkungen sie im Hinblick auf die Produktionsentscheidungen haben. In den letzten Kapiteln werden die Begriffe „Einkommen“, „Ersparnis“ und „Investitionen“ definiert. –– Im dritten Buch behandelt K. die gesamtwirtschaftliche Nachfrage und untersucht deren wichtige Bestimmungsgrößen, nämlich den Konsum und die Investitionen. Der Konsum wird bestimmt durch objektive Faktoren und subjektive Faktoren. Der wichtigste objektive Faktor ist das verfügbare Einkommen. Dies wird von K. eingehend untersucht, und er erläutert insbesondere, inwiefern eine Abhängigkeit besteht zwischen Konsum und Einkommen. In dem Zusammenhang formuliert er auch sein berühmtes psychologisches Gesetz: „Das grundlegende psychologische Gesetz, auf das wir uns sowohl a priori aufgrund unserer Kenntnis der menschlichen Natur als auch aufgrund detaillierter Erfahrungstatsachen mit großer Zuversicht stützen dürfen, ist, daß die Menschen in der Regel und im Durchschnitt geneigt sind, ihren Verbrauch mit der Zunahme in ihrem Einkommen zu vermehren, aber nicht im vollen Maße dieser Zunahme. (S. 83)“

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–– Der Konsum wird – neben den objektiven Faktoren – noch von subjektiven Faktoren beeinflusst. K. nennt „acht Beweggründe oder Absichten subjektiven Wesens, die Individuen veranlassen, sich der Ausgabe aus ihrem Einkommen zu enthalten.“ Er führt hierzu konkrete Beispiele an, die er zusammenfassend bezeichnet als „die Beweggründe der Vorsicht, Voraussicht, Berechnung, Verbesserung, Unabhängigkeit, Unternehmungslust, des Stolzes und Geizes.“ Analog dazu ließe sich „auch eine entsprechende Liste von Beweggründen für den Verbrauch aufstellen, wie Genuß, Kurzsichtigkeit, Freigebigkeit, Fehlkalkulation, Prahlerei und Extravaganz“ (S. 93). Am Ende des dritten Buches führt K. die „marginale Konsumneigung“ und den Multiplikator ein. Die marginale Konsumneigung zeigt an, wie hoch der zusätzliche Konsum ist, wenn das zusätzliche Einkommen um eine Einheit steigt. Der Multiplikator zeigt an, wie hoch das zusätzliche Einkommen ist, wenn die gesamtwirtschaftliche Nachfrage exogen erklärt wird. –– Im vierten Buch geht K. der Frage nach, wodurch die Höhe der Investitionen bestimmt wird. Er führt das Konzept der „Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals“ ein, erörtert die Risiken, die mit der Kreditfinanzierung der Investitionen verbunden sind, bezieht die Verhaltensweisen der Finanzmarktakteure in seine Überlegungen ein, stellt seine Zinstheorie auf, in der die Liquiditätspräferenz eine wichtige Rolle spielt und widmet sich schließlich Fragen, welche die Eigenschaften des Geldes betreffen. –– Im fünften Buch stellt K. zunächst die klassische Theorie dar, wonach eine Senkung der Löhne zu mehr Beschäftigung führe und die Kürzung der Nominallöhne keinen Einfluss auf die Nachfrage habe. Anschließend wendet K. seine eigene Methode an und erläutert, welche gesamtwirtschaftliche Wirkung von einer Senkung des Lohnniveaus ausgeht. Er führt sieben Effekte an und setzt sich mit diesen kritisch auseinander. Er kommt zu dem Schluss, „daß Lohnkürzungen als eine Methode zur Erreichung der Vollbeschäftigung ebenfalls den gleichen Begrenzungen unterworfen sind wie die Methode der Vermehrung der Geldmenge.“ Es könne „sich eine mäßige Kürzung der Nominallöhne als ungenügend erweisen, während eine übermäßige Kürzung, selbst wenn sie durchführbar wäre, das Vertrauen zerrütten könnte. Es besteht daher kein Grund für die Annahme, daß eine flexible Lohnpolitik einen Zustand dauernder Vollbeschäftigung aufrecht zu erhalten vermag“ (S. 225). Nachdem K. dargelegt hat, dass eine Lohnsenkungspolitik sich, wenn überhaupt, nur minimal auf die Nachfrage auswirkt, wendet er sich der Frage zu, wie die Beschäftigung beeinflusst wird, wenn sich die gesamtwirtschaftliche Nachfrage ändert. Hierfür entwickelt er eine Beschäftigungsfunktion, welche die Abhängigkeit der Beschäftigung von der Gesamtnachfrage darstellt. Im Mittelpunkt steht hier die Nachfrageelastizität der Beschäftigung, die davon abhängig ist, ob Unternehmen auf eine höhere Nachfrage mit einer Erhöhung der Preise oder mit einer Steigerung ihrer Produktion reagieren. Gegen Ende des fünften Buches kritisiert K. die Quantitätstheorie und zeigt, dass eine Änderung der Geldmenge keine Auswirkungen auf das

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Preisniveau hat, solange es nachfragebedingte Arbeitslosigkeit gibt und Unternehmen auf zusätzliche Nachfrage mit einer Erhöhung der Produktion reagieren. –– Seine Allgemeine Theorie regte K. zu Überlegungen an, die er im sechsten Buch präsentiert. Im Hinblick auf den Konjunkturzyklus geht er auf die Frage ein, ob sich Rezessionen verhindern ließen und befasst sich auch mit der Rolle der Landwirtschaft. Im vorletzten Kapitel legt K. dar, wie sich im Lichte seiner neuen Theorie jene dogmenhistorischen Ideen präsentieren, die im Widerspruch zur klassischen Lehre stehen und somit in der ökonomischen Ideengeschichte als Außenseiter behandelt wurden. In diesem Zusammenhang setzt er sich ausführlich mit dem Merkantilismus auseinander und erinnert auch an → Silvio Gesell, → Malthus und Hobson, die zwar die Bedeutung der Nachfrage erkannten, sich aber nicht gegen die klassische Sichtweise durchsetzen konnten. Im letzten Kapitel weist K. darauf hin, dass seine Theorie eine gemäßigt konservative sei, weil er das kapitalistische Wirtschaftssystem bewahren wolle. Um Vollbeschäftigung zu erreichen, hält er eine „umfassende gesellschaftliche Steuerung der Investitionen“ für notwendig. „Die notwendigen Maßnahmen der gesellschaftlichen Steuerung können über dies allmählich und ohne einen Bruch in den allgemeinen Traditionen der Gesellschaft eingeführt werden“ (S. 319). • Eine einflussreiche Interpretation der Keynes’schen Lehre lieferte John Hicks 1937 in seiner Rezension der General Theory mit dem Titel Mr. Keynes and the Classics: A suggested Interpretation. Er präsentierte darin die keynesianische Theorie in Form der sogenannten IS-LM-Analyse, die zu einer raschen Verbreitung der keynesianischen Lehre führte. Dieses IS-LM-Modell (= Güter-Geldmarkt-Modell; engl.: Investment-­Saving/Liquidity preference-Money supply) fand Eingang in nahezu alle volkswirtschaftlichen Lehrbücher. Es beschreibt das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht, welches entsteht durch die Kombination der Gleichgewichtsmodelle des Gütermarktes (IS) und des Geldmarktes (LM). • 1946 schrieb → Paul Samuelson in einer Rezension über die General Theory: „Sie ist ein schlecht geschriebenes Buch, unzulänglich gegliedert; jeder Laie, der, von dem guten Ruf des Autors verführt, das Werk kaufte, war um seine fünf Schillinge betrogen. Es ist noch nicht einmal für die Ausbildung gut geeignet. Es ist arrogant, schlecht abgestimmt, polemisch und nicht gerade üppig in seinem Quellennachweis. Es wimmelt von trügerischen Entdeckungen und Unklarheiten: Unfreiwillige Arbeitslosigkeit, Lohneinheiten, die Gleichheit von Sparen und Investieren, der Zeitablauf des Multiplikators, Wechselwirkungen zwischen der Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals und dem Zins, Zwangssparen, eigenen Zinssätzen und anderes mehr. Aus all dem entsteht verschwommen das Keynessche System, so, als ob sich der Autor kaum dessen Existenz und noch weniger dessen Eigenheit bewußt sei; und sicherlich ist er es am wenigsten da, wo er die Verbindung zu den Vorläufern erklärt. Geistesblitze und Intuition wechseln mit langweiliger Algebra. Eine unbeholfene Definition öffnet plötzlich den Weg zu einer unvergleichlichen Kadenz. Wenn diese schließlich gemeistert ist, finden wir die Analyse klar und gleichzeitig neu. Kurz, es ist das Werk eines Genies“ (in: Recktenwald, S. 560).

Literatur

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• K. entwickelte zahlreiche neue Analyseinstrumente (z.  B. die Konsumfunktion) und gilt daher als der Begründer der Makroökonomie. Auch verdankt ihm die Ökonomik die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung. Seine Lehre fand nach dem Zweiten Weltkrieg große Beachtung, insbesondere in den europäischen Staaten. In Deutschland wurden keynesinaische Vorstellungen beispielsweise durch das sogenannte „Stabilitätsgesetz“ von 1967 umgesetzt. K.’ enge Mitarbeiterin → Joan V.  Robinson entwickelte dessen Theorie weiter und initiierte den Post-Keynesianismus bzw. den Links-­ Keynesianismus. Nachdem der Keynesianismus für fast ein Vierteljahrhundert aus der Mode gekommen war, trat die US-Regierung unter Bill Clinton wieder für eine keynesianische Wirtschaftspolitik ein. Auch in der Finanzkrise (seit 2008) erlebte der Keynesianismus ein Comeback. Auf die Frage, ob K. nicht tot sei, antwortete Paul Samuelson einst: „Ja, er ist tot. So tot wie Newton und Einstein.“

Wichtige Publikationen • Indian Currency and Finance, 1913 • The Economic Consequences of the Peace, 1919 (dt.: Die wirtschaftlichen Folgen des Friedensvertrages) • A Treatise on Prohability, 1921 (dt.: Über Wahrscheinlichkeit) • The End of Laissez-Faire, 1926 (dt.: Das Ende des Laissez-Faire) • A Treatise on Money, 1930 (dt.: Vom Gelde) • The General Theory of Employment, Interest and Money, 1936 (dt.: Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes)

Literatur R. Blomert (2007): John Maynard Keynes Braunberger: Keynes für jedermann: Die Renaissance des Krisenökonomen (2009) HdSW (1956), Bd. 5, S. 604–614 Krause/Graupner/Sieber (1989), S. 251–256 Kromphardt: Die größten Ökonomen: John Maynard Keynes (2013) Kurz (2009), S. 161–186 Linß (2007), S. 149–154 Piper (1996), S. 157–162 Recktenwald (1971), S. 535–565 Starbatty, Bd. 2 (2012), S. 273–291 Tichy (2012), S. 85–93

Internet http://www.keynes-gesellschaft.de

Polanyi, Karl

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Wächter, Ökonomen auf einen Blick, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29069-6_55

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Leben & Karriere • Polanyi, der aus einem intellektuellen und bürgerlichen familiären Umfeld stammt und schon früh von seiner Mutter sozialistisch geprägt wurde, wuchs in Budapest auf. • P. studierte in Budapest Rechtswissenschaften und Philosophie. An der Universität engagierte er sich in linken Studentengruppen und war aktiv an der sozialistischen Bildung von Arbeitern beteiligt. • Nach seiner Promotion zum Dr. jur. im Jahr 1909 arbeitete P. als Rechtsanwalt und engagierte sich kurz in der Politik. • 1919 emigrierte P. nach Wien, um sich der Verfolgung durch die Horthy-­Konterrevolution nach Niederschlagung der ungarischen Räterepublik zu entziehen. Als Gründungsmitglied des Galilei-Kreises, eines freidenkerischen Intellektuellenzirkels, war er eine gefährdete Person. Im „roten Wien“, wie die stark sozialdemokratisch geprägte Stadt damals genannt wurde, entwickelte er ersten Ideen für sein späteres Werk. • In den 1920er- und 30er-Jahren war P. für die Wochenzeitschrift Der Österreichische Volkswirt zunächst als Redakteur, später als Mitherausgeber tätig. Die wirtschaftlichen Probleme der Nachkriegszeit sowie die in Russland entstehende neue Wirtschaftsordnung veranlassten ihn, sich intensiv mit dem Marxismus auseinander zu setzen. Mit dem 1922 verfassten Artikel Sozialistische Rechnungslegung schaltete P. sich in die sog. Wirtschaftsrechnungsdebatte ein. Der Aufsatz ist eine Reaktion auf das Buch Die Gemeinwirtschaft von → L. von Mises. P. setzt sich kritisch mit dem Thema „Wirtschaftssysteme“ auseinander und sympathisiert mit einer staatlichen Planwirtschaft. • Nach der Machtergreifung der Nazis 1933 emigrierte P. nach England. Dort lehrte er als Dozent für die Workers Educational Association und bot außeruniversitäre Kurse der Universitäten Oxford und London an. In dieser Zeit begann er auch mit der Erforschung der wirtschaftlichen und sozialen Konsequenzen der industriellen Revolution in England. • 1940 ging P.  – ausgestattet mit einem Stipendium der Rockefeller-Stiftung  – in die USA und arbeitete am Bennigton College in Vermont. Hier stellte er sein Hauptwerk The Great Transformation fertig, das 1944 veröffentlicht wurde. • Von 1947 bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1953 hatte P. eine Gastprofessur für Wirtschaftsgeschichte an der Columbia University inne. Anschließend leitete er noch gemeinsam mit Conrad M. Arensberg ein Forschungsprojekt, in dem sie die Entwicklung und Wirkung wirtschaftlicher Institutionen untersuchten. Die Ergebnisse ihrer Studie flossen in das 1957 publizierte Werk Trade and Markets in the Early Empires ein. • Da seine Ehefrau als bekennende Sozialistin kein Visum für die USA erhielt, siedelten sie 1949 nach Kanada über. • In den letzten Lebensjahren forschte P. auf dem Gebiet der Anthropologie.

Werk & Wirkung

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Werk & Wirkung • Als Wirtschaftsjournalist griff Polanyi in seinen Artikeln vielfältige Themen auf: Er schrieb über politische Kämpfe im England der 1920er-Jahre, die große Weltwirtschaftskrise, den Zusammenbruch der Demokratien in Deutschland und Europa, den US-amerikanischen „New Deal“, die Entwicklung in der Sowjetunion und zu Fragen der internationalen Politik zwischen den beiden Weltkriegen. Bemerkenswert ist, dass sich der anbahnende Paradigmenwechsel in der Volkswirtschaftslehre schon kurz vor bzw. zeitgleich mit dem Erscheinen der General Theory von → J. M. Keynes in einigen Artikeln P.s niederschlug. • P.s Werk reicht von wirtschaftspolitischen Fragen, die er in seinen Zeitschriftenartikeln behandelt, bis hin zu den kulturanthropologischen Studien, denen er sich in seinen letzten Lebensjahren zuwandte. Ebenso vielfältig ist seine methodologische Herangehensweise, die als multidisziplinär und auch als interdisziplinär bezeichnet werden kann. Er überschritt die Grenzen etablierter Fachdisziplinen, ohne diese jedoch zu verschieben. • Ein fundamentales Anliegen in P.s Werken ist die kritische Auseinandersetzung mit dem Glauben an den ökonomischen Determinismus. Diesen Titel trägt auch ein Artikel von 1947, in welchem P. die herrschende Wirtschaftstheorie und deren Anspruch kritisiert, dass die rein ökonomische Motivation individuellen Handelns als formales ­Prinzip auf die gesamte Gesellschaft übertragen werden könne. Er kritisiert das Modell des homo oeconomicus und stellt diesem ein substantivistisches Modell gegenüber: Der Mensch sei nicht universal eigennützig, wie es der Markt verlange und die Wirtschaftstheorie unterstelle; vielmehr sei sein Handeln sozial eingebettet, d.  h. sowohl von der Natur als auch von seinen Mitmenschen abhängig. • In seinem Hauptwerk The Great Transformation (1944) analysiert P. die Genese der Ökonomie. Er zeichnet in einem langen geschichtlichen Bogen nach, wie es zu einer Umwandlung von traditionellen, nicht marktwirtschaftlich organisierten Gesellschaften hin zu Marktwirtschaften kam. Von zentraler Bedeutung ist in dem Zusammenhang seine These der „embeddedness“, das soziale und kulturelle Eingebettetsein der Ökonomie in die Gesellschaft. „Die neuere historische und anthropologische Forschung brachte die große Erkenntnis, daß die wirtschaftliche Tätigkeit des Menschen in der Regel in seine Sozialbeziehungen eingebettet ist. Sein Tun gilt nicht der Sicherung seines individuellen Interesses an materiellem Besitz, sondern der Sicherung seines gesellschaftlichen Rangs, seiner gesellschaftlichen Ansprüche und seiner gesellschaftlichen Wertvorstellungen. Er schätzt materielle Güter nur insoweit, als sie diesem Zweck dienen. Es ist weder der Prozeß der Produktion, noch jener der Distribution an bestimmte, mit dem Besitz von Gütern verbundene Interessen geknüpft; aber jede einzelne Schritt in diesem Prozeß hängt mit einer Anzahl von gesellschaftlichen Interessen zusammen,

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die schließlich sicherstellen, daß der erforderliche Schritt erfolgt. Diese Interessen werden in einer kleinen Jäger- und Fischergemeinschaft ganz anders sein als in einer riesigen, despotischen Gesellschaft, doch wird das Wirtschaftssystem in jedem Fall von nichtökonomischen Motiven getragen werden. (K. Polany: The Great Transformation, 11. Aufl., Suhrkamp Verlag 2014, S. 75)“

Die wirtschaftliche Tätigkeit des Menschen war in der Regel in seine Sozialbeziehungen eingebettet. Im Zuge einer großen Transformation, in der sich der selbstregulierende Markt als Steuerungsmechanismus der Ökonomie durchsetzte, wurde die Wirtschaft aus ihrer Einbettung in die Gesellschaft herausgelöst. Diesen historischen Vorgang der Entbettung, den P. als Transformation bezeichnet, sieht er etwa in der Mitte des 19. Jahrhunderts als abgeschlossen an. Während in nichtmarktwirtschaftlichen Gesellschaften die Wirtschaftsordnung bloß eine Funktion der Gesellschaftsordnung, jene also von dieser abhängig ist bzw. die Gesellschaft die Ökonomie dominierte, hatte sich im Zuge der Transformation diese Beziehung umgekehrt. „Die Wirtschaft ist nicht mehr in die sozialen Beziehungen eingebettet, sondern die sozialen Beziehungen sind in das Wirtschaftssystem eingebettet. Die entscheidende Bedeutung des wirtschaftlichen Faktors für die Existenz der Gesellschaft schließt jedes andere Ergebnis aus. Sobald das wirtschaftliche System in separate Institutionen gegliedert ist, die auf spezifischen Zielsetzungen beruhen und einen besonderen Status verleihen, muß auch die Gesellschaft selbst so gestaltet werden, daß das System im Einklang mit seinen eigenen Gesetzen funktionieren kann. (S. 88 f.)“

Die Ökonomie begann nun sogar, sich zu verselbständigen, autonom zu werden gegenüber allen übrigen sozialen Bereichen und Bedürfnissen, und die Gesellschaft nach ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten neu zu strukturieren. In dieser Verselbständigung der Ökonomie sieht P. den Grund dafür, dass die westlichen Industriegesellschaften dabei sind, ihre eigenen sozialen Voraussetzungen, ihre physische Substanz zu zerstören. The Great Transformation wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt und bis zum heutigen Tage immer wieder neu aufgelegt (z. B. im Suhrkamp Verlag, 11. Aufl., 2014). Abraham Rotstein (1929–2015), Professor für Ökonomie an der Universität Toronto, der ab 1950 an der Columbia-Universität bei P. studierte, erinnert sich: „The Great Transformation war für mich ein intellektuelles Erdbeben; die Erde hatte sich aufgetan. Das Buch bot erstaunliche Einsichten in das Aufkommen der Marktwirtschaft im Gleichschritt mit der industriellen Revolution. Und es führte einen neuen Protagonisten ein, der vorher nie genannt worden war. Polanyi wies in seinem Werk darauf hin, dass es in der Wirtschaft noch einen weiteren Mitspieler gäbe; es gab nicht einfach nur Marktmechanismen, sondern auch noch die Gesellschaft. Er war der Ansicht, dass vor den modernen Zeiten und dem Aufkommen der Marktwirtschaft die meisten ökonomischen Transaktionen unter der Aufsicht und nach den Regeln eines bestimmten gesellschaftlichen Akteurs stattfanden. Das konnten die Kirche sein oder die Ratsherren oder

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in Stammesgesellschaften die Normen auf der Grundlage von Verwandtschaft und Sitte. Nach seiner Meinung war die Wirtschaft in der Geschichte so gut wie immer in eine Gesellschaft eingebettet. Soziale Normen hatten Priorität vor wirtschaftlichen Aktivitäten. Im heutigen Irak wurde eine Reihe von Täfelchen aus dem alten Babylon gefunden, die Verträge für den Handel des Palastes mit den abseits gelegenen Gebieten festhielten. Aus diesen Tontafeln wurde sofort geschlossen, Geschäfte machen sei so alt wie die Menschheit. Wenn es Geschäfte waren, dann die Art von Geschäften, wie wir sie kennen: Kaufen und Verkaufen und Profite machen. Die Händler von damals würden wir heute wohl als Beamte bezeichnen. Ihr Einkommen stammte nicht aus den Profiten des Handels, sondern aus den Gehältern, die sie bezogen. Wir haben die Art dieses Handels missverstanden. Es ist Handel, aber nicht Handel, wie wir ihn kennen. Wir hatten uns in der Wirtschaftsgeschichte festgefahren. Wann immer wir in der Menschheitsgeschichte einen Hinweis auf Handel sahen, gingen wir sofort davon aus, er bedeute ein Geschäft. Wir fielen zurück auf die instinktive Auffassung von Adam Smith, der Mensch habe einen angeborenen Hang zu handeln und zu tauschen. Mit anderen Worten: Die Marktwirtschaft sei ein im Menschen verankerter Instinkt. Aus dieser Falle festsitzender Überzeugungen versuchte Polanyi auszubrechen“ (Interview in: Der Kapitalismus, Folge 6, Arte, 28.10.2013, eigene Transkription). • In seinem zweiten bedeutenden Werk Trade and Market in the Early Empires (1957) untersuchte P. marktlose Gesellschaften im vorindustriellen Zeitalter. Sein Hauptaugenmerk liegt dabei auf dem „Stellenwert des wirtschaftlichen Lebens in der Gesellschaft“ sowie auf den Ursprüngen ökonomischer Institutionen. Die dieser Studie zugrunde liegenden methodologischen und konzeptionellen Aspekte übten einen nachhaltigen Einfluss auf die Wirtschaftsarchäologie, -anthropologie und -geschichte aus (vgl. G. Mauch). • Obwohl sich viele soziologische und wirtschaftshistorische Werke auf Polanyi beziehen, scheint ihn die Wirtschaftswissenschaft vergessen oder ignoriert zu haben. Doch zu Unrecht, denn P.s Kernforderung, dass der Markt in die Gesellschaft eingebettet sein müsse und nicht umgekehrt, scheint in Anbetracht des heutigen neoliberalen Paradigma nichts an Aktualität verloren zu haben. Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht eine Forderung nach politischer Zähmung der Marktkräfte vorgebracht wird. „Märkte“, konstatiert P., „sind keine Institutionen, die hauptsächlich innerhalb einer Wirtschaft funktionieren, sondern vielmehr außerhalb“ (S. 90). Sei es nun in der Griechenland-­Krise oder bei den Verhandlungen zum Transatlantischen Freihandelsabkommen (TTIP)  – es ist die berechtigte Sorge der Menschen, dass sie zum Spielball undemokratischer Marktinteressen werden. So hebt auch der Sender ARTE in einer Dokumentation über die Geschichte des Kapitalismus die aktuelle Bedeutung P.s hervor: „Seine Warnung davor, dass die Gesellschaft der Wirtschaft dienen werde, statt umgekehrt, findet im 21. Jahrhundert mehr Gehör als zu seinen Lebzeiten. Polanyis Untersuchungen über die antiken Gesellschaften der Sumerer und Babylonier können aufschlussreiche Erkenntnisse über die

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Welt nach 2008 liefern, in der sich verschuldete Staaten totsparen müssen und demokratisch gewählte Volksvertreter den anonymen Entscheidungen der Finanzmärkte machtlos ausgeliefert sind“ (ARTE 2013).

Wichtige Publikationen • Sozialistische Rechnungslegung, in: Archiv für Sozialwissenschaft, Bd.  49, Heft 2/1922, S. 377–420 • The Great Transformation, 1944 (dt.: The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen, 1978) • Trade and Market in the Early Empires, 1957 • Dahomey and the Slave Trade, 1966

Literatur Rainer Hank: Der entfesselte Kapitalismus, in FAS, 19.12.2014 Hesse (2009), S. 427–428 G. Mauch: Polanyi; in: Neue Deutsche Biographie 20 (2001), S. 596 Kari Polanyi-Levitt: The Life and Work of Karl Polanyi, 1990 Heiko Schrader: Zur Relevanz von Polanyis Konzept der Einbettung der Wirtschaft in die Gesellschaft, Working-Paper Nr. 219, Universität Bielefeld, 1995

Eucken, Walter

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Wächter, Ökonomen auf einen Blick, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29069-6_56

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Leben & Karriere • Nach dem Abitur in Jena (1909) studierte Eucken in Kiel, Bonn und Jena Nationalökonomie, Jura, Geschichte und Philosophie. Seine akademische Ausbildung stand im Zeichen der vorherrschenden Historischen Schule. • 1913 promovierte E. bei H. Schumacher in Bonn mit einer Arbeit über Die Verbandsbildung in der Seeschiffahrt zum Dr. phil. • Im Ersten Weltkrieg diente E. von 1914 bis 1918 als Offizier an der Front. • Nach der Habilitation mit einer Untersuchung über Die Stickstoffversorgung der Welt im März 1921 in Berlin lehrte E. bis 1925 an der Friedrich-Wilhelms-Universität als Privatdozent. • Von 1920 bis 1924 war E. stellvertretender Geschäftsführer der Fachgruppe Textil des Reichsverbands der deutschen Industrie. Dort hatte er erlebt, „wie stark wirtschaftliche Interessengruppen die akademische Ökonomie beeinflussen konnten“ (Linß, S. 107). • Als Professor forschte und lehrte er ab 1925 an der Universität Tübingen und folgte 1927 einem Ruf an die Universität Freiburg, wo er bis zu seinem Tode wirkte. • In seiner Freiburger Zeit begründete er mit Wilhelm Röpke die Freiburger Schule und engagierte sich später während der NS-Diktatur in einer Widerstandsgruppe gegen Hitler. • Nach der Gründung der BRD wurde E. Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundeswirtschaftsminister. • 1948 gründete E. zusammen mit Franz Böhm das Jahrbuch „ORDO“. In dieser neoliberal ausgerichteten Fachpublikation wurde auch das Konzept der sozialen Marktwirtschaft mitentwickelt. • 1950 wurde E. Mitherausgeber der neu gegründeten Schweizer Vierteljahresschrift Kyklos.

Werk & Wirkung • In seinem Hauptwerk Grundlagen der Nationalökonomie, das 1940 erstmals erschien und das große Aufmerksamkeit auf sich zog, entfaltet Eucken seine Systematik der Wirtschaftsordnung. Er beginnt sein Werk ausgehend von der sogenannten „großen Antinomie“, womit er eine Kluft beschreibt zwischen einer historischen und einer theoretischen Methode in der Ökonomie: „Durchstoß zur wirtschaftlichen Wirklichkeit ist die Hauptforderung, die an die Nationalökonomie gestellt werden muß. Nun aber wird es zweifelhaft, ob die Forderung … überhaupt erfüllt werden kann. Mit Recht sieht der Nationalökonom das wirtschaftliche Alltagsgeschehen als Teil der jeweiligen historisch-individuellen Lage an; das muß er, wenn er nicht wirklichkeitsfremd werden will. Mit Recht sieht er in ihm aber auch ein allgemein-theoretisches

Werk & Wirkung

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Problem, – das muß er ebenfalls, wenn ihm nicht die Wirklichkeit in ihren Zusammenhängen entgleiten soll. Wie aber soll er beides vereinigen? Tut er nur das eine oder nur das andere, so wird er wirklichkeitsfremd. … Die nationalökonomische Wissenschaft steht hier vor ihrer großen ‚Antinomie‘, ohne deren Überwindung es keine Erkenntnis des Wirtschaftsablaufes gibt. … Alle Arbeit an der Sache muß sich also darauf richten, sie zu bewältigen. … Der geschichtliche Charakter des Problems verlangt Anschauung, Intuition, Synthese, Verstehen, Einfühlung in individuelles Leben; – der allgemein-theoretische Charakter indessen fordert rationales Denken, Analyse, Arbeiten mit gedanklichen Modellen. Hie Leben  – da Ratio. (6. Aufl. 1950, S. 21 ff.)“

• Ausgehend von dieser Erkenntnis, von der Analyse der historischen und der gegenwärtigen Tatsachen, kommt E. zu der Überzeugung, dass wirtschaftliche Wirklichkeit nur erfassbar wird, wenn die Ordnung einer Wirtschaft bekannt sei. Unter der Wirtschaftsordnung eines Landes versteht E. die „Gesamtheit der jeweils realisierten Formen, in denen der Wirtschaftsprozeß alltäglich abläuft“ (S. 51). „Ob es sich um die Wirtschaft im alten Ägypten oder im augusteischen Rom oder im hochmittelalterlichen Frankreich oder im heutigen Deutschland oder sonstwo handelt – stets entsteht jeder Wirtschaftsplan und jede wirtschaftliche Handlung … im Rahmen irgendeiner ‚Wirtschaftsordnung‘ und hat nur im Rahmen dieser jeweiligen Ordnung einen Sinn. Der Wirtschaftsprozeß läuft stets und überall innerhalb gewisser Formen, also innerhalb einer geschichtlich gegebenen Wirtschaftsordnung ab. … Würden wir von oben die Erde betrachten und das erstaunliche Gewimmel von Menschen, die Verschiedenheit der Beschäftigungen, das Ineinandergreifen der Tätigkeiten und den Strom der Güter sehen, so wäre die erste Frage, die wir stellen würden: im Rahmen welcher Ordnung vollzieht sich alles dieses? Eine solche Frage ist richtig gestellt. Wir können nichts Sinnvolles über alles das, was sich da unten abspielt, aussagen, wenn uns die Ordnung unbekannt bleibt. (S. 50)“

• Das menschliche Wirtschaften vollzieht sich nach E. dadurch, dass Wirtschaftspläne aufgestellt und durchgeführt werden. „Auf Plänen beruht also alles wirtschaftliche Handeln“ (S. 78). Die Tatsache, dass alle wirtschaftlichen Handlungen auf Plänen basieren, bildet für E. die Basis, den „archimedischen Punkt“, für alle weiteren Untersuchungen. Nach einer Analyse zahlreicher historischer Beispiele kommt E. zu dem Schluss, dass es nur zwei idealtypische Wirtschaftssysteme gibt: „Das idealtypische Wirtschaftssystem der verkehrslosen ‚Zentralgeleiteten Wirtschaft‘ und das Wirtschaftssystem der ‚Verkehrswirtschaft‘. Das Wirtschaftssystem ‚Zentralgeleiteter Wirtschaft‘ ist dadurch gekennzeichnet, daß die Lenkung des gesamten wirtschaftlichen Alltags eines Gemeinwesens auf Grund der Pläne einer Zentralstelle erfolgt. Setzt sich jedoch die gesellschaftliche Wirtschaft aus zwei oder vielen Einzelwirtschaften zusammen, von denen jede Wirtschaftspläne aufstellt und durchführt, so ist das Wirtschaftssystem der Verkehrswirtschaft gegeben. (S. 79)“

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• Während in der Zentralverwaltungswirtschaft die Wirtschaft durch den Staat als „Planträger“ koordiniert wird, beruht das Wirtschaftsgeschehen in der Verkehrswirtschaft auf einer Vielzahl von Teilplänen, deren Träger die Haushalte und die Unternehmen sind. Die Koordination dieser vielen Teilpläne erfolgt über ein Preissystem, das je nach Marktform (z. B. Monopol, Oligopol etc.) verschieden ist. E. kommt in seiner Analyse auf 25 verschiedene Marktformen, die er klassifiziert und in einem Marktformenschema (siehe Abb. 56.1) darstellt. • Am Ende der Grundlagen gibt E. gewissermaßen einen Vorausblick auf seine Idee der Ordnung, die er zwölf Jahre später in den Grundsätzen der Wirtschaftspolitik ausbauen wird:

From des Angebots From der Nachfrage

Konkurrenz

Teilogopol

Oligopol

Teilmonopol

Monopol (Einzel- oder Kollektivmonopol)

Marktform Konkurrenz

Vollständige Konkurrenz

AngebotsTeiloligopol

Angebotsoligopol

AngebotsTeilmonopol

Angebotsmonopol

Teiloligopol

NachfrageTeiloligopol

Beiderseitiges Teiloligopol

Teiloligopolistisch beschränktes Angebotsoligopol

Teiloligopolistisch beschränktes Angebotsteilmonopol

Teiloligopolistisch beschränktes Angebotsmonopol

Oligopol

NachfrageOligopol

Teiloligopolistisch beschränktes Nachfrage oligopol

Beiderseitiges Oligopol

Oligopolistisch beschränktes Angebotsteilmonopol

Oligopolistisch beschränktes Angebotsmonopol

Teilmonopol

NachfrageTeilmonopol

Teiloligopolistisch beschränktes Nachfrageteilmonopol

Oligopolistisch beschränktes Nachfrageteilmonopol

Beiderseitiges Teilmonopol

Teilmonopolistisch beschränktes Angebotsmonopol

Monopol (Einzeloder Kollektivmonopol)

Nachfragemonopol

Teiloligopolistisch beschränktes Nachfragemonopol

Oligopolistisch beschränktes Nachfragemonopol

Teilmonopolistisch beschränktes Nachfragemonopol

Beiderseitiges Monopol

Abb. 56.1  Das Marktformenschema nach Eucken. (Quelle: W. Eucken: Die Grundlagen der Nationalökonomie, 6. Aufl., Berlin/Göttingen/Heidelberg 1950, S. 111)

Werk & Wirkung

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„Bei der ‚Ordnung der Wirtschaft‘ handelt es sich im gegenwärtigen Zeitalter um folgendes: Die Industrialisierung ergreift immer mehr Länder, durchläuft … immer neue Stadien und hat überall die alten Wirtschaftsordnungen zerstört. … Die zahlreichen und rasch wechselnden Wirtschaftsordnungen, die im Laufe dieses Zeitalters der Industrialisierung bisher bestanden, … haben zu vielfältigen Störungen im Ablauf der Wirtschaftsprozesse, zu Machtballungen, Machtkämpfen und sozialen Spannungen geführt … Deshalb besteht eine große Aufgabe darin, dieser neuen industrialisierten Wirtschaft mit ihrer weitgreifenden Arbeitsteilung eine funktionsfähige und menschenwürdige Ordnung der Wirtschaft zu geben, die dauerhaft ist. Funktionsfähig und menschenwürdig heißt: In ihr soll die Knappheit an Gütern … so weitgehend wie möglich und andauernd überwunden werden. Und zugleich soll in dieser Ordnung ein selbstverantwortliches Leben möglich sein. Diese Aufgabe … erfordert die Schaffung einer brauchbaren ‚Wirtschaftsverfassung‘, die zureichende Ordnungsgrundsätze verwirklicht. … Denkende Gestaltung der Ordnung ist deshalb nötig. Die wirtschaftspolitischen Einzelfragen – ob es sich nun um Fragen der Agrarpolitik, der Handelspolitik, der Kreditpolitik, Monopolpolitik, der Steuerpolitik, des Gesellschaftsrechts oder des Konkursrechts handelt – sind Teilfragen der großen Frage, wie die wirtschaftliche Gesamtordnung, und zwar die nationale und die internationale Ordnung und ihre Spielregeln zu gestalten sind. … … Inzwischen ist aber erkannt, daß die moderne industrialisierte Welt im Zuge ihrer Entwicklung nicht von selbst brauchbare Wirtschaftsordnungen erzeugt, daß sie also gewisser Ordnungsgrundsätze oder einer Wirtschaftsverfassung bedarf. … Rechtsdenken und Rechts­ praxis werden in steigendem Maße die Aufgabe haben am Aufbau und an der Durchsetzung dieser Wirtschaftsverfassung mitzuarbeiten. Die einzelnen Rechtsgebiete – wie z. B. das Gesellschaftsrecht, das Steuerrecht, das Monopolrecht, das Arbeitsrecht … – werden nach Inhalt und Auslegung von der wirtschaftsverfassungsrechtlichen Gesamtentscheidung wesentlich abhängen und werden sehr verschieden aussehen, je nachdem z. B. die Ordnungsprinzipien der vollständigen Konkurrenz oder anderer Marktformen oder der Zentralverwaltungswirtschaft dominieren. (S. 240 f.)“

• Euckens zweites Hauptwerk Grundsätze der Wirtschaftspolitik wurde posthum von Edith Eucken und K. Paul Hensel 1952 herausgegeben. Anknüpfend an seine Grundlagen werden seine Grundsätze der Wirtschaftspolitik von der Fragestellung geleitet, wie der modernen industrialisierten Wirtschaft eine funktionsfähige und menschenwürdige Ordnung gegeben werden kann. Wirtschaftspolitisch machte sich E. stark für die Verkehrswirtschaft in Form der Konkurrenzwirtschaft. Sie sei die effizienteste und lasse sich am besten mit einer freiheitlichen Lebensordnung vereinbaren. Machtkonzentrationen, z. B. in Form von Monopolen, bekämpfte er aufs Schärfste. Welche schädlichen Wirkungen Monopole entfalten, illustriert E. an einem einfachen Beispiel: „Eine Monopolverwaltung verfügt über einen Vorrat von zwei Millionen Sack Kaffee, die sie bis zur nächsten Ernte verkaufen will. Bei Abtasten des Marktes stellt sich heraus, daß sie etwa mit folgendem Absatz bei den verschiedenen Preisen zu rechnen hat:“ Preis je Sack in Mark 100 90 80 70 60

Absatz in Millionen Sack 1 1,2 1,5 1,9 2

Gesamteinnahmen in Millionen Mark 100 108 120 133 120

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„Der Punkt der höchsten Reineinnahme liegt also beim Preis von 70 Mark und einem Absatz von 1,9 Mio. Sack. Es ist demnach für den Monopolisten vorteilhaft, 100000 Sack Kaffee zu vernichten, wie es denn auch in solchen Fällen mehrfach geschehen ist. Ob die Vernichtung stattfindet, ist – wie das Beispiel zeigt – von der Größe der Ernte abhängig und von der Elastizität der Nachfrage. Man kann erwidern, daß die Monopolverwaltung nicht so handeln muß. Sie könnte z. B. den Preis auf 60 Mark festsetzen, so die Vernichtung von Vorräten vermeiden und den Markt optimal versorgen. Der Einwand ist richtig. Wenn sie nämlich nach dem ‚Prinzip der bestmöglichen Versorgung‘ handelt, so wird sie auf 60 Mark heruntergehen. Aber sie kommt zu dem Entschluß, die Vorräte zu vernichten, wenn sie die ‚höchstmögliche Reineinnahme‘ anstrebt. Sie kann auch einen Preis zwischen 60 und 70 Mark wählen, wobei dann ein kleinerer Teil des Vorrates vernichtet würde. Oder sie kann bei Verschiebung der Nachfrage den Preis festhalten, sich also der veränderten Nachfrage nicht anpassen. Wir sehen also, daß der Preis und die abgesetzte Menge nicht ganz fest bestimmt sind und in gewissen Grenzen von der Willkür des Monopolisten abhängen. Zugleich aber zeigt sich, wie es zu der Vernichtung von Vorräten kommt. (Eucken: Grundsätze der Wirtschaftspolitik, Reinbek: Rowohlt 1964, S. 38 f.)“

• E. Preiser stellt in der Einführung zur 6. Auflage der Grundlagen fest, E.s „entschiedene Ablehnung des Begriffsrealismus wie des Historismus hat die Wissenschaft befreit, die Betonung des Ordnungsgedankens hat sie befruchtet, und die Leistungen der Theorie sowohl für die Erkenntnis der historischen Wirklichkeit wie für die Gestaltung des sozialen Lebens haben nirgends eine bessere Formulierung gefunden als in diesem klassischen Werk“ (S. VIII). Von marxistischer Seite wurde der Vorwurf erhoben, dass E. die „Analyse der Produktionsverhältnisse und ihrer Wechselverhältnisse zu den Produktivkräften als das ausschlaggebende Kriterium für die Unterscheidung der einzelnen Gesellschaftsformationen“ umgangen habe. Dies habe E. die Basis gegeben, „um unter dem Idealtyp ‚Zentralverwaltungswirtschaft‘, nachdem dieser in ökonomischer und moralisch-ethischer Hinsicht verurteilt worden war, als zentralgeleitete Wirtschaftsformen die mittelalterliche Klosterwirtschaft, die faschistische Zwangswirtschaft und den realen Sozialismus politökonomisch als gleichartig zu verketzern“ (Krause/Graupner/Sieber, S. 140). Unbestritten ist E.s großer Einfluss auf die Wirtschaftspolitik des Nachkriegsdeutschlands. Namentlich Ludwig Erhard und Karl Schiller seien hier erwähnt; sie griffen einige Konzepte E.s auf und setzten sie in ihrer Wirtschaftpolitik um. W. Röpke schrieb am 05.04.1950 in der NZZ: „Wenn heute Westdeutschland mit solcher Entschiedenheit und Zielsicherheit und zugleich mit solchem Erfolg den Ausweg aus dem kollektivistischen Chaos gefunden … hat, so ist das Verdienst, das dabei Walter Eucken zuzumessen ist, nicht hoch genug zu veranschlagen“. Und A. Zottmann schrieb am 30.03.1950 in der Wochenzeitung Die Zeit: „Trotz strenger Wissenschaftlichkeit verstand es Eucken meisterhaft, auch die schwierigsten Gedankengänge in einer kristallklaren Sprache auszudrücken und auch den nationalökonomisch nicht vorgebildeten Leser von den Tatsachen des wirtschaftlichen Alltags zu den schwierigsten Problemen und ihren Lösungen zu führen. Freilich konnte es auch ein so universaler Denker, der neben seinem

Literatur

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Fachwissen über historische, philosophische und soziologische Kenntnisse verfügte, nicht durchsetzen, daß seine wirtschaftspolitischen Forderungen von den Politikern rein und unverfälscht verwirklicht wurden. So hat man ihm vielfach, allerdings sehr zu Unrecht, Mängel der sogenannten ‚sozialen Marktwirtschaft‘, um deren Realisierung man sich gegenwärtig in Westdeutschland bemüht, vorgehalten. Eucken hat aber immer wieder mit großer Eindringlichkeit darauf hingewiesen, daß eine echte Wettbewerbswirtschaft nichts mit schrankenlosem ‚Laisser-faire‘ und nichts mit der Verwirklichung einseitiger Gruppeninteressen zu tun habe. Er forderte immer wieder die Herstellung eines echten freien Wettbewerbs und die Einführung einer straffen Monopolkontrolle und seine ‚Freiburger Schule‘ hat den Grundstein zu einer neuen ‚Wirtschaftsverfassung‘ gelegt.“

Wichtige Publikationen • • • • • • •

Kritische Betrachtungen zum deutschen Geldproblem, 1923 Das internationale Währungsproblem, 1925 Kapitaltheoretische Untersuchungen, 1934 Nationalökonomie – wozu?, 1938 Die Grundlagen der Nationalökonomie, 1940 Grundsätze der Wirtschaftspolitik, 1952 Wettbewerb, Monopol und Unternehmer, 1953

Literatur HdSW (1960), Bd. 3, S. 353–356 Hesse (2009), S. 153–155 Koesters (1985), S. 219–246 Krause/Graupner/Sieber (1989), S. 139–142 Kurz (2009), S. 187–204 Linß (2014), S. 106–110 J. H. Müller: Stichwort „Eucken“, in: Staatslexikon (1995), Bd. 2, Sp. 413–414 Piper (1996), S. 195–201 Recktenwald (1971), S. 567–598 Starbatty, Bd. 2 (2012), S. 292–311 Stavenhagen (1964), S. 347–354

Mellerowicz, Konrad

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Wächter, Ökonomen auf einen Blick, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29069-6_57

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Leben & Karriere • Nach der Ausbildung zum Industriekaufmann im väterlichen Betrieb studierte Mellerowicz Philosophie in Breslau. • Von 1915 bis 1918 diente M. als Leutnant im Ersten Weltkrieg. • Nach dem Kriegsdienst nahm er 1919 sein Studium der Volkswirtschaftslehre, Betriebswirtschaftslehre und Pädagogik an der Handelshochschule Berlin auf, das er 1921 als Diplom-Handelslehrer abschloss. Zu seinen Lehrern zählten die Ökonomen → W. Sombart, F. Leitner und W. Prion sowie der Pädagoge E. Spranger. • Nach der Promotion in Hamburg zum Dr. rer. pol. (1923) ging M. nach Berlin, studierte an der Handelshochschule bei Friedrich Leitner  – einer der Pioniere der deutschen BWL –, wurde dessen wissenschaftlicher Assistent und habilitierte sich bei ihm im Herbst 1926 mit der Schrift Grundlagen betriebswirtschaftlicher Wertungslehre. Im selben Jahr erhielt M. einen Lehrstuhl an der Handelshochschule Berlin. • Nach einem Lehrauftrag an der Universität Kiel von 1928–1929, wo er an der rechtsund staatswissenschaftlichen Fakultät das Fach BWL vertrat, kehrte M. zurück nach Berlin. Dort wurde er 1934 Ordinarius und übernahm 1938 die Nachfolge seines Lehrers auf dem Lehrstuhl für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre und Industriebetriebslehre an der Wirtschaftshochschule Berlin, wo er bis 1945 tätig war. Nach dem 2. Weltkrieg wurde sie in die Ostberliner Universität eingegliedert. • 1936 veröffentlichte M. eine Studie über Kriegswirtschaftliche Aufgaben der betriebswirtschaftlichen Forschung. Sie ist der erste Beitrag eines deutschen Betriebswirts zur Militärökonomik. Auch später widmete er sich der militärwirtschaftlichen Forschung. Ein Jahr später ist M. in die NSDAP eingetreten. • Am 17. Juli 1945 wurde M. an der Humboldt-Universität (siehe Abb. 57.1) eingestellt. Weil er sich an der Ostberliner Universität für politische Unabhängigkeit von Forschung und Lehre einsetzte und sich gegen eine ideologische Vereinnahmung der BWL wehrte, „hatte er zunehmende Schwierigkeiten mit dem sowjetischen Regime und sah sich einer scharfen öffentlichen Kritik ausgesetzt“ (K.-H. Berger, S. 811). • In seinem 1949 veröffentlichten Artikel Betriebswirtschaftslehre und politische Ökonomie – eine Antwort auf Wolfgang Bergers Schrift Karl Marx als Kritiker der modernen Betriebswirtschaftslehre – schrieb M., „daß es liberale und sozialistische Betriebswirte geben kann, aber, daß es nicht geben kann: eine Betriebswirtschaftslehre auf der Grundlage der politischen Ökonomie, … sondern nur eine Betriebswirtschaftslehre auf Grund von Tatsachen und Zahlen des Einzelbetriebes und der jeweils neuesten Ergebnisse technischer und betriebswirtschaftlicher Forschung. (In: Deutsche Finanzwissenschaft, 1949, S. 527)“

Werk & Wirkung

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Abb. 57.1  Hauptgebäude der Humboldt-Universität (Ruine), 1949. (Quelle: Wikimedia)

Als der politische Druck schließlich zu groß wurde, musste M. Ostberlin fluchtartig verlassen, um sich der Verhaftung zu entziehen. Mehr als hundert Studenten folgten M., der 1950 den neu eingerichteten Lehrstuhl für Industriebetriebslehre an der TU Berlin erhielt und den er bis zu seiner Emeritierung im April 1960 innehatte. • M. erhielt verschiedene Auszeichnungen, wie z. B. das Große Verdienstkreuz (1961), die Ehrensenatorwürde der TU Berlin (1965) und den Goldenen Ehrenring der Deutschen Gesellschaft für Betriebswirtschaft (1976).

Werk & Wirkung • Mellerowicz verfasste mehr als 30 Bücher und rund 400 Aufsätze. Viele seiner Schriften zählen zur betriebswirtschaftlichen Standardliteratur. Noch bis zu seinem Tode hielt er Doktorandenseminare ab. M. vertrat kein Spezialgebiet der Betriebswirtschaftslehre, vielmehr dachte er gesamtwirtschaftlich. Mit großer Leidenschaft machte er sich stark für eine praxisorientierte, d. h. auf echte betriebliche Problemstellungen bezogene Auffassung der Betriebswirtschaftslehre.

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57  Mellerowicz, Konrad

• In den 1920er-Jahren – der „Blütezeit“ der deutschen Betriebswirtschaftslehre – trug M. durch seinen Versuch, ein geschlossenes System der Betriebswirtschaftslehre zu erstellen, wesentlich zur Anerkennung und Weiterentwicklung der noch jungen Wissenschaftsdisziplin bei. Als wichtiges Werk ist hier seine Allgemeine Betriebswirtschaftslehre zu nennen, deren erste Auflage im Jahr 1929 noch als schmales Bändchen erschien, die aber in den folgenden Jahrzehnten auf fünf Bände angewachsen ist. In der Allgemeinen Betriebswirtschaftslehre fanden „Mellerowiczs Werke über Kosten und Kostenrechnung, Wert und Wertung, Betriebswirtschaftslehre in der Industrie, Planung und Plankostenrechnung und zur Unternehmenspolitik … ihren theoretischen Abschluß“, sodass sie ein „umfassendes theoretisches System der BWL bietet“ (Löffelholz, S. 914). • M. vertritt einen methodologischen Forschungsansatz, der durch ein Zusammenwirken von Induktion und Deduktion gekennzeichnet ist. In seiner Allgemeinen Betriebswirtschaftslehre erläutert er dies so: „Die Induktion muß, selbst bei einer so stark empirisch fundierten Wissenschaft, wie es die Betriebswirtschaftslehre ist, durch die Deduktion ergänzt werden. Durch Induktion allein kommt die Betriebswirtschaftslehre nicht zum System. Nach einem gewissen Zeitraum, bei einem gewissen Stand der Einzelforschung, muß die Deduktion hinzutreten, wenn man aus der Summe zu einem System, aus den Teilen zum Ganzen kommen will. Das aber charakterisiert die Wissenschaft: der systematische Aufbau und die Bildung von Begriffen. Begriffsbildung und Systematisierung ist auch das, was man von der Betriebswirtschaftslehre erwarten muß. Das Seiende wird erst durch den Begriff zum Gewußten. Denn erst wenn man das Wesentliche erfaßt hat, hat man die Wirklichkeit erfaßt. (S. 11)“

• Die Betriebswirtschaftslehre habe nach M. einen dualistischen Charakter. Sie sei nicht nur eine theoretische Wissenschaft, sondern auch eine „Zweckwissenschaft“, eine „angewandte Betriebsökonomik“. „Die Untersuchung der Betriebsvorgänge geschieht nicht nur um der reinen Erkenntnis willen, sondern auch zu dem Zweck der Anwendung in der Betriebsführung. So tritt zur theoretischen Betriebswirtschaftslehre die angewandte. Sie entwickelt aus den erkannten, wirtschaftlichen Zusammenhängen die Grundsätze der Betriebsführung. Die Betriebswirtschaftslehre ist deshalb auch eine Zweckwissenschaft. Aus dem Wesen der Betriebswirtschaftslehre als Erfahrungs- und Zweckwissenschaft, als theoretische und angewandte Wissenschaft, ergeben sich zwei Seiten der Untersuchung der Betriebsvorgänge: Die Wesensseite und die Verfahrensseite. Sie ist darum Strukturlehre und Methodenlehre. Die Betriebswirtschaftslehre ist daher die Lehre von der reinen und angewandten (oder praktischen) Betriebsökonomie. (S. 13)“

• Der Mathematisierung und dem Modelldenken seines Faches stand M. sehr kritisch gegenüber, da sie seiner Meinung nach die betriebswirtschaftliche Praxis mit wirklichkeitsfremden Exaktheitsansprüchen belasteten. Seine im Jahre 1952 erhobene Forderung lautet: „Ursprung und Zweck der Betriebswirtschaftslehre ist die einzelbetriebliche Praxis. Eine Betriebswirtschaftslehre soll dem praktischen Betriebe dienen.“ Und in Anspielung auf Gutenbergs Werk ätzt er: „Was nützt eine logisch bestechende Me-

Wichtige Publikationen

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thode, wenn ihre Ergebnisse nicht zu gebrauchen sind?“ M. führte darüber eine Auseinandersetzung mit dem um Theorie bemühten → Erich Gutenberg, die als 3. Methodenstreit in die Geschichte der BWL einging. Bei der Frage, ob die Verwendung von mathematischen Modellen in der betriebswirtschaftlichen Theorie sinnvoll ist, d. h. einen Erkenntnisgewinn hat oder ob sie nur wirklichkeitsfremde Spekulation ist, weil die Ergebnisse nicht praxistauglich sind, vertrat M. die traditionelle unmathematische Methode, Gutenberg setzte sich für mathematische Verfahren ein. Gutenberg konnte diesen Streit für sich entscheiden und sein Modelldenken „wurde für längere Zeit zu ­einem weitgehend akzeptierten Paradigma innerhalb der Betriebswirtschaftslehre. Gutenberg begründete damit den Mainstream in der deutschsprachigen Betriebswirtschaftslehre, die nunmehr bis etwa 1970 mikroökonomisch fundiert und mathematisiert war“ (W. Burr, S. 131). • Mantel deutet in seiner Studie ein opportunistisches Verhalten von M. an, das dieser bei politischen Veränderungen an den Tag gelegt habe: „Sei es die gelenkte Wirtschaft nach 1933, … sei es der Übergang von einer verteilungsorientierten Wirtschaft zu einer marktorientierten Wirtschaft in den fünfziger Jahren oder der Übergang von einer gewinnorientierten Wirtschaftsform zu einer sozialorientierten; immer habe Mellerowicz die neuen Herausforderungen akzeptiert“ (Mantel, S.  216). Doch vielleicht handelte M. weniger aus opportunistischen Gründen als vielmehr aus rein praktischen Erwägungen. Denn bei seiner Forschung stand immer die Praxis bzw. die praktische Anwendungsmöglichkeit im Vordergrund. Er vertrat eine reale, auf echte betriebliche Pro­ blemstellungen bezogene Auffassung der Betriebswirtschaftslehre, worin er übrigens auch Ähnlichkeiten aufweist mit → E. Schmalenbach. M. pflegte einen regen Kontakt mit Unternehmern, er suchte die Gespräche mit ihnen und besichtigte Betriebe, um so Problemstellungen realistisch erfassen und Wissenschaft und Praxis miteinander verzahnen zu können. Diese Seite hebt auch K.-H. Berger, der sich 1965 bei M. ­habilitierte, in der Würdigung seines Lehrers hervor: „Die große Bedeutung von Konrad Mellerowicz für die Entwicklung der Betriebswirtschaftslehre … liegt in seinem leidenschaftlichen Ringen zugunsten einer auf reale Problemstellungen bezogenen Auffassung der Betriebswirtschaftslehre, ihrer Methodik und der daraus resultierenden Aussagemöglichkeiten“ (S. 812).

Wichtige Publikationen • • • • •

Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, 1929 Kosten und Kostenrechnung, 1933 Betriebswirtschaftslehre der Industrie, 1957 Planung und Plankostenrechnung, 1961 Unternehmenspolitik, 3 Bände, 1963–1964

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Literatur K.-H. Berger: Konrad Mellerowicz – 75 Jahre alt, in: ZfB, H. 12, 1966, S. 810–812 W. Burr (2012): Zur Geschichte der deutschsprachigen Betriebswirtschaftslehre, in: Der Verband der Hochschullehrer für Betriebswirtschaft, S. 121–138 D. Hahn: Stichwort „Mellerowicz, Konrad“, in: Neue Deutsche Biographie 17 (1994), S. 21–22 Hesse (2009), S. 345 Konrad Mellerowicz 75 Jahre, in: Industriekurier, 20.12.1966 Löffelholz (1980), S. 914–917 Mantel (2009)

Salin, Edgar

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Wächter, Ökonomen auf einen Blick, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29069-6_58

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Leben & Karriere • Salin legte sein Abitur 1910 am Goethe-Gymnasium in Frankfurt a. M. ab. Von 1910 bis 1914 studierte er in München, Berlin und Heidelberg Nationalökonomie, Rechtswissenschaften, Philosophie, Kunst- und Literaturgeschichte. Er war Schüler von Brentano, →Sombart, Gothein und Alfred Weber. • 1914 promovierte er bei A. Weber mit einer Arbeit über die wirtschaftliche Entwicklung Alaskas mit „summa cum laude“ zum Dr. Phil. • Kurz darauf zog S. als Freiwilliger in den Ersten Weltkrieg. 1918 – heimgekehrt nach schwerer Verwundung – bekam er eine Anstellung als Referent in der politischen Abteilung der deutschen Gesandtschaft in Bern. Bereits nach einem Jahr verließ er den auswärtigen Dienst, um sich seiner akademischen Laufbahn zu widmen. • 1920 erfolgte die Habilitation in Heidelberg als Privatdozent mit einer Studie über Platon und die griechische Utopie. Vier Jahre später (1924) wurde er zum Professor am Institut für Sozial- und Staatswissenschaften ernannt. Schon während dieser Zeit setzte er sich für eine enge Verbindung von Nationalökonomie und Sozialwissenschaften ein. • 1925 war S. Initiator und treibende Kraft bei der Gründung der Friedrich-List-­ Gesellschaft, die sich aufgrund der politischen Situation 1935 auflösen musste. • Während seines Aufenthalts in Kiel als Gastprofessor 1927 ereilte ihn der Ruf nach Basel. Dort übernahm er den Lehrstuhl von Julius Landmann als Ordinarius für Staatswissenschaften und Direktor des Instituts für Wirtschaftskunde und setzte die dort gepflegte Tradition – eine enge Verbindung von Soziologie und Nationalökonomie – fort. • Von 1928 bis 1937 wirkte er als Präsident des Staatlichen Einigungsamtes der Stadt Basel im Bereich der Arbeitsmarktpolitik: Er vermittelte in Arbeitskonflikten, trieb den Ausbau des Tarifvertragswesens voran und leitete arbeitsmarktpolitische Maßnahmen ein. So übte er auf die Entwicklung des schweizerischen Arbeitsrechts einen nachhaltigen Einfluss aus. Als Reaktion auf die Weltwirtschaftskrise in den 1930er-Jahren entwickelte S. ein staatliches Konjunkturprogramm, den sogenannten „Arbeitsrappen“. Dabei handelte es sich um eine einprozentige Einkommensabgabe, die zur Finanzierung staatlicher Arbeitsbeschaffungsmassnahmen verwendet wurde. • 1954 initiierte S. die (Neu-)Gründung der List-Gesellschaft und war bis zu seinem 80. Lebensjahr deren Geschäftsführer. • 1959 gründete S. gemeinsam mit sechs anderen Wissenschaftlern in Basel das Wirtschaftsforschungs- und Beratungsunternehmen Prognos AG mit dem Ziel, Wissenschaft und Praxis miteinander zu verzahnen. • 1972 wurde S. mit dem großen Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland ausgezeichnet, das er erhielt in Anerkennung der großen Verdienste auf dem Gebiet der Nationalökonomie und für sein Mitwirken an der Gründung und am Wiederaufbau zahlreicher Fachinstitute im deutschsprachigen Raum.

Werk & Wirkung

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Werk & Wirkung • Salin war ein Universalgelehrter, der in der Philosophie und Soziologie ebenso beheimatet war, wie in der Wirtschaftswissenschaft. Entsprechend breit gefächert ist auch sein Schrifttum: Beispielsweise übersetzte er Platon, beschäftigte sich mit Nietzsche und gab die Werke von Friedrich List heraus. • Sein ökonomisches Hauptwerk ist die 1923 erschienene Geschichte der Volkswirtschaftslehre, die er ab der fünften Auflage im Jahre 1967 umbenannte in Politische Ökonomie. Geschichte der wirtschaftspolitischen Ideen von Platon bis zur Gegenwart. In dem Werk interpretiert S. die ökonomische Dogmengeschichte vor einem geistesgeschichtlichen Hintergrund und zeigt so gesellschaftliche und kulturelle Zusammenhänge auf, in welche die Ökonomie eingebettet ist. Dieses Vorgehen entspricht auch seiner „anschaulichen Theorie“: Eine rein rationale Theorie – wie etwa die neoklassische Theorie mit ihren mathematischen Modellen – begnüge sich nach S.s Auffassung lediglich mit Teilerkenntnissen. S. wollte jedoch zu einer Gesamterkenntnis gelangen und die Wirtschaft umfassend verstehen. Daher entwickelte er eine sogenannte „anschauliche Theorie“, die es vermag, zu einer Gesamterkenntnis zu gelangen und das Wesen der Wirtschaft und des Wirtschaftens zu durchdringen. • Die „anschauliche Theorie“ ist ein interdisziplinär ausgerichteter Erkenntnisprozess, der über die rein rationale Theorie hinausreicht, indem auch historische, soziologische und philosophische Aspekte berücksichtigt werden, um ökonomische Phänomene erfassen und verstehen zu können. Diese Ansicht kommt auch in S.s Selbstverständnis als Wirtschaftswissenschaftler zum Tragen. Er wehrte sich gegen eine ‚reine‘ Ökonomie, die sich von anderen Wissenschaften abschottet: „Alle ökonomische Theorie ist Sozialwissenschaft, ist Staatswissenschaft und darum von Anbeginn bis in alle Zukunft politische Ökonomie.“ Besonders prägnant ist seine Definition der anschaulichen Theorie, die er in englischer Sprache verfasste: „The distinction between theorizing of this sort and „positivistic“ or „rational“ theory can be made clearer by comparing the positions of Adam Smith, Friedrich List, Karl Marx, for example, with those of Ricardo, Menger, Jevons, Marshall. Both groups of men did work in theory, propounded theoretical questions, and on the basis of their answers, drew practical political conclusions and framed political programs. It is the first type of theorizing that may be called „synthetic vision“ or „Gestalt theory“, the second „rational theory“. However, the two concepts are not direct opposites. Any good anschauliche Theorie must contain good ‚rational theory‘ in it. The former is the wider concept, the latter a narrower one. (Salin: Sombart and the German Approach, in: F. C. Lane (Hrsg.): Architects and Craftsmen. Festschrift für A. P. Usher, Tübingen 1956, S. 41 ff.)“

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• Ab 1949 war S. Mitherausgeber der seit 1947 vierteljährlich erscheinenden internationalen Zeitschrift für Sozialwissenschaft Kyklos, die es sich zum Ziel gesetzt hat, einen interdisziplinären Diskurs über Grundfragen der Ökonomie zu ermöglichen. • S. stand marktliberalen Ansätzen kritisch gegenüber und betonte die Notwendigkeit weitgehender staatlicher Interventionen in die Wirtschaft. So unterstützte er beispielsweise zur Zeit der Wirtschaftskrise in den 30er-Jahren in der Schweiz den Ausbau der Gesamtarbeitsverträge (= Tarifverträge), engagierte sich für einen Ausbau des Arbeitsrechts und führte den sogenannten ‚Arbeitsrappen‘ ein: Von jedem Franken Lohn wurde ein Rappen abgeführt. Da diese einprozentige Abgabe vorwiegend für Bauvorhaben des Staates verwendet wurde und der Ankurbelung der Wirtschaft diente, kann es durchaus als ein keynesianisches Konjunkturprogramm betrachtet werden. • In ihrem Nachruf schrieb M.  Dönhoff über ihren Doktorvater: „Edgar Salin war ein großer Zauberer: ein Verzauberer – gelegentlich auch ein Entzauberer. Die ‚Geschichte der Volkswirtschaftslehre‘, sein erstes bedeutendes Werk, 1923 erschienen, ein Stoff, durch den der Student der Nationalökonomie sich meist gelangweilt hindurchzuwühlen pflegt, ist durch seine Feder zu einer spannenden, abenteuerlichen Geschichte des menschlichen Geistes geworden. Er war in der Philosophie der Antike ebenso zu Hause wie in der scholastischen Theologie des Mittelalters oder der Kosten-Nutzen-Lehre moderner Nationalökonomen. Gewiß, es gibt heute Wissenschaftler hoher Kompetenz, aber Gelehrte seiner Spannweite wachsen wohl nicht mehr heran. … Salin war in umfassender, in einer ganz und gar nicht mehr existierenden Weise gebildet. Für ihn als Lehrer der Nationalökonomie war Volkswirtschaft nicht nur Dogmengeschichte und Wirtschaftspolitik, sondern stets zugleich Kulturgeschichte und Philosophie. Er kannte die Macht der Ideen. Relativierender Empirismus war ihm ein Greuel, erschien ihm armselig und beklagenswert. Aber dieser Höhenflug hinderte ihn nicht, mit scharfem Auge und kritischem Sinn zu beobachten, was um ihn herum vorging. Er war der erste, der die Gefahr eines dialektischen Umschlags der Marktwirtschaft zur Konzentration wahrnahm und eindringlich vor der Ansicht warnte, Wettbewerb sei ein automatischer Schutz, auf den man sich verlassen könne“ (Die Zeit, 24.05.1974).

Wichtige Publikationen • Die wirtschaftliche Entwicklung von Alaska und Yukon Territory, 1914 • Geschichte der Volkswirtschaftslehre, 1923 • Politische Ökonomie. Geschichte der wirtschaftspolitischen Ideen von Platon bis zur Gegenwart, 1967

Literatur

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Literatur M. Dönhoff: Verzauberer und Entzauberer. In: Die Zeit vom 24.05.1974 A. Föllmi: Der letzte Humanist. In: Die Zeit vom 09.04.1993, auch in: Piper (1996), S. 268–273 Hesse (2009), S. 477 M. Lengwiler: Der lange Schatten der Historischen Schule. Die Entwicklung der Wirtschaftswissenschaften an der Universität Basel (online: http://www.unigeschichte.unibas.ch) Linß (2014), S. 117–121

Seyffert, Rudolf

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Leben & Karriere • Seyffert studierte zunächst an der Handelshochschule, später an der Universität in Leipzig (u. a. bei →Karl Bücher) und schließlich in Mannheim bei →Heinrich Nicklisch. Sein Studium als Diplomkaufmann schloss er 1914 mit einer Arbeit über die Reklame des Kaufmanns ab, die auch veröffentlicht wurde. 1917 legte er sein Examen als Diplom-­Handelslehrer ab. • Nach dem Militärdienst promovierte S. 1919 an der Universität Frankfurt bei →Fritz Schmidt zum Dr. rer. pol. • Unter der Leitung von Nicklisch wurde S. Direktorialassistent und Abteilungsleiter am Betriebswirtschaftlichen Institut in Mannheim. Nicklisch übte als akademischer Lehrer einen nachhaltigen Einfluss auf S. aus. • 1920 erhielt S. einen Lehrauftrag in Köln, habilitierte sich dort zwei Jahre später und wurde 1924 Professor am neu errichteten Lehrstuhl für allgemeine BWL, Handels- und Absatzwirtschaft, wo er fast vier Jahrzehnte wirkte. Noch nach seiner Emeritierung (1961) lehrte er zwei weitere Jahre. • 1922 gründete S. das Werbewirtschaftliche Institut an der Universität Köln. • 1929 wurde S. zum Direktor des Betriebswirtschaftlichen Instituts für Einzelhandelsforschung (kurz Einzelhandelsinstitut) ernannt, an dessen Gründung im Jahre 1928 er maßgeblich beteiligt war. Dieses Forschungsinstitut hatte es sich zur Aufgabe gemacht, „die Probleme des Einzelhandels wissenschaftlich zu untersuchen und die so gewonnenen Erkenntnisse durch geeignete unterrichtliche und literarische Veranstaltungen auszuwerten“ (E. Sundhoff). • 1932 richtete S. eine Beratungsstelle für Betriebsführung im Einzelhandel ein. • 1958 wurde unter Mitwirkung von S. das Institut für Mittelstandsforschung gegründet, an dem er als Mitglied des Vorstandes und als Direktor der betriebswirtschaftlichen Abteilung wirkte. • Von 1957 bis 1963 war S. Vorsitzender der Diplomprüfungsämter der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Köln. • 1963 erhielt er das Große Verdienstkreuz der BRD. • Von 1963 bis 1968 war S. Vorsitzender einer Kommission für Handels- und Absatzforschung beim Bundeswirtschaftsministerium.

Werk & Wirkung • Seyffert vertrat eine ganzheitliche Sichtweise innerhalb der Wirtschaftswissenschaften. BWL und VWL betrachtete er als zwei Seiten ein und der derselben Medaille. „Im Grundsätzlichen besteht“, wie er in seiner Wirtschaftslehre des Handels schreibt, „keinerlei Unterschied zwischen der Betriebswirtschaftslehre und der Volkswirtschafts-

Werk & Wirkung

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lehre“. Sie „bilden vielmehr eine Einheit, die Wirtschaftswissenschaft“ (S. 531). Diesen Dualismus fordert S. auch für die handelswissenschaftliche Forschung ein und hält es für wünschenswert, dass „die besondere Sorge um die Handelsprobleme an zwei Lehrstühle angeschlossen würde, von denen der eine mehr betriebswirtschaftlich, der andere mehr volkswirtschaftlich-wirtschaftspolitisch zu besetzen wäre“ (S. 742 f.). • S. zeigt sich anderen Wissenschaften gegenüber aufgeschlossen, da deren Methoden und Erkenntnisse der betriebswirtschaftlichen Forschung nutzen können. Dennoch können sie nur Hilfsdienste leisten. Der Mathematik steht S. nicht ablehnend gegenüber, warnt jedoch in seinem Werk Über Begriff, Aufgaben und Entwicklung der Betriebswirtschaftslehre davor, die Möglichkeiten der Mathematik zu überschätzen und zeigt deren Grenze auf: „Die Mathematik ist … für die Betriebswirtschaftslehre eine Ausdrucksmöglichkeit, die statt der verbalen da angewandt werden kann, wo Meßbarkeit möglich ist. Der Bereich des Nichtmeßbaren und noch mehr der des nicht mit der erforderlichen Genauigkeit Messbaren ist jedoch sehr groß und damit sind wichtigste Forschungsgebiete der Betriebswirtschaftslehre der mathematischen Forschung unzugänglich. (S. 63)“

• Bereits in seiner Diplomarbeit befasste sich S. mit der Reklame bzw. Werbung, der er besonderes Interesse schenkte. „Große Beachtung fand die 1929 in Stuttgart herausgekommene Allgemeine Werbelehre, die wegen ihres reichen Inhalts, vieler neuer Erkenntnisse und der eigenwilligen Blickrichtung als ein Markstein im werbewissenschaftlichen Schrifttum empfunden wurde“ (Sundhoff). Im Laufe der Jahre baute er seine Erkenntnisse immer weiter zu einem geschlossenen System der Werbelehre aus. In seiner zweibändigen Werbelehre (1966) definiert S. den Begriff „Werbung“ als „eine Form der seelischen Beeinflussung, die durch bewußten Verfahrenseinsatz zum freiwilligen Aufnehmen, Selbsterfüllen und Weiterpflanzen des von ihr dargebotenen Zweckes veranlassen will.“ Werde allerdings „versucht, durch unbewußte Sinneseindrücke den Beeinflussungseffekt zu erzielen, … liegt keine Werbung vor, sondern ein Verfahren, das ähnlich der Hypnose wirkt. Die sogenannte ‚unterschwellige Werbung‘ ist also keine Werbung“ (S. 5 ff.). In seiner Systematik der Werbearten differenziert S. nach –– den Anwendungsgebieten: religiöse, politische und wirtschaftliche Werbung –– der Menge der Umworbenen: Einzelumwerbung und Mengenumwerbung –– der Menge der Werber: Alleinwerbung und Kollektivwerbung (Gemeinschaftswerbung, Sammelwerbung) –– dem Grade der Erkennbarkeit: Offenwerbung, Tarnwerbung, Schleichwerbung

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–– dem Grade des Organisiertseins: Werbehandlung, Werbeveranstaltung, Werbekampagne –– den Zielsetzungen: Einführungs-, Erhaltungs-, Verstärkungs-, Konkurrenz-, Erinnerungs- und Zukunftswerbung. Nach S. bestehen zahlreiche wechselseitige Verbindungen zwischen der Werbelehre und anderen Wissenschaften. Als nützliche Hilfswissenschaften der Werbelehre können neben der Psychologie auch die Pädagogik, die Soziologie, die Statistik, die Rechtswissenschaft und die Kunstwissenschaften herangezogen werden. • S. galt als prominentester Vertreter der Handelsforschung im deutschsprachigen Raum. 1951 erschien seine Wirtschaftslehre des Handels, der die substanzielle Fragestellung zugrunde liegt, wie „das Dienstleistungsprinzip gewahrt bleiben und die Wirtschaft den Bedürfnissen der Konsumenten am besten gerecht werden kann“ (Sundhoff). In diesem Werk entwickelt er u. a. ein Schema der Marktgrundformen, das darauf basiert, dass die Marktform eines jeden Umsatzfalles nicht nur von der Angebotsseite, sondern auch von der Nachfrageseite bestimmt wird. Begriffliche Klarheit schaffte er dadurch, dass er für die den Angebotsformen entsprechenden Nachfrageformen eigene Bezeichnungen benutzte, „bei denen der das ‚verkaufen‘ (polein) ausdrückende Wortteil durch einen ersetzt wird, der das ‚kaufen‘ (oneisthai) ausdrückt“ (S. 372–376): Die Marktgrundformen der Angebots- und Nachfrageseite Anbieter oder Nachfrager Viele als Gleichwertig zu setzende: Wenige (zwei) beherrschende Gleichwertige und beachtete Sonstige: Wenige (zwei) Gleichwertige oder wenige (zwei) beherrschende Gleichwertige und nicht beachtete Sonstige: Ein Beherrschender und beachtete Sonstige: Einer allein oder ein Beherrschender und nichtbeachtete Sonstige:

Angebotsform Poly∙pol Mero∙oligo∙pol (Mero∙dyo∙pol) Oligo∙pol (Dyo∙pol) Mero∙mono∙pol Mono∙pol

Nachfrageform Poly∙on Mero∙oligo∙on (Mero∙dyo∙on) Oligo∙on (Dyo∙on) Mero∙mono∙on Mono∙on

S. entwickelte zur Klassifizierung der Handel treibenden Betriebe eine Gliederung des Handels. In dieses Ordnungssystem, das sich in zehn Handelsbereiche (von der Erzeugung bis zur Verwendung) teilt, lassen sich sämtliche Handelsabläufe der Praxis einordnen. Daraus entwickelte S. seine Lehre von den Handelsketten, die es ermöglicht die Struktur eines Handelsweges zu bestimmen. „Die wirtschaftlichen Güter werden in der Verkehrswirtschaft in der Regel nicht in den Betrieben erzeugt, in denen sie verwendet werden, sondern in anderen und von diesen unmittelbar oder durch Vermittlung weiterer Betriebe den Verwendern zugeführt. Häufig muß ein Wirtschaftsgut mehrere Betriebe durchlaufen, um vom Erzeuger zum Verwender zu gelangen. Die am Umsatz einer in ihrem stofflichen Charakter unverändert bleibenden Ware beteiligten Betriebe bilden in der Reihenfolge vom Erzeuger bis zum Verwender eine Handelskette. Sie weist als Anfangsglied immer einen Betrieb auf, in dem die zum Absatz bestimmte Ware

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(Neuware, Gebrauchtware, Altware, Abfallware usw.) erzeugt wird; Endglied ist immer ein Betrieb, in dem die Ware zur Konsumtion oder zur Produktion anderer Güter verwendet wird. Zwischen Erzeuger- und Verwenderglied schalten sich die Zwischenhandelsglieder ein. Ihre Umsatzaufgabe ist je nach der Arbeitsteilung und je nach ihrer Stellung innerhalb der Handelskette entweder mehr eine sammelnde oder eine verteilende, so daß sich als Hauptformen der Zwischenhandelsglieder der Handelskette die der distribuierenden und die der kollektierenden ergeben. Dazwischen schieben sich beim zwischenstaatlichen Handel noch die Außenhandelsglieder ein. (Seyffert: Wirtschaftslehre des Handels, 5. Aufl., Opladen 1972, S. 623)“

• S. begann schon früh, sich mit der Geschichte der Betriebswirtschaftslehre zu beschäftigen und diese auch zu lehren. Für das 1926 von H. Nicklisch herausgegebene Handwörterbuch der Betriebswirtschaft verfasste er den Stichwortaufsatz „Betriebswirtschaftslehre, ihre Geschichte“ (Bd. I, Sp. 1198–1219). In seinem Werk Über Begriff, Aufgaben und Entwicklung der Betriebswirtschaftslehre führt er Folgendes aus: „Bisher ist das Gebiet der Geschichte der Betriebswirtschaftslehre nur wenig gepflegt worden … Dabei ist der Erkenntniswert der Geschichte der Lehre gerade in der Betriebswirtschaftslehre groß. Die zunächst verwirrende Fülle der Lehrmeinungen, die mangelhafte Umgrenzung des Gebietes … und isoliert gewachsene Erkenntnisse drängen auf eine gründliche Beschäftigung mit ihrer Geschichte. … Der Gegenstand der Geschichte der Betriebswirtschaftslehre ist die Geschichte der Lehre von den Betriebswirtschaften, also nicht die Wirtschaftsgeschichte der Betriebe selbst. Die geschichtliche Erkenntnis über die Lehre erwächst in erster Linie aus der betriebswirtschaftlichen Literatur, sowohl der wissenschaftlichen wie der praktischen. In ihr schlagen sich die Entwicklungstendenzen der Lehre vor allem nieder, außerdem noch in der Arbeit der Unterrichts- und Forschungseinrichtungen und in solchen wissenschaftlichen Leistungen, die feststellbar sind, ohne daß sie literarisch festgehalten oder durch die Unterrichtsgeschichte überliefert wären. (6. Aufl., 1971, S. 31 ff.)“

Seyffert (1971, S. 34) unterscheidet sechs Hauptperioden der Geschichte der Betriebswirtschaftslehre: 1. Die Frühzeit der verkehrs- und rechnungstechnischen Anleitungen (bis 1675). 2. Die Zeit der systematischen Handlungswissenschaft (1675–1804). 3. Die Niedergangszeit der Handelswissenschaften (19. Jahrhundert). 4. Die Aufbauzeit der beschreibenden Handelstechnik (1898–1910). 5. Die Zeit des Ausbaues zur Betriebswirtschaftslehre und deren Instituierung als Hochschuldisziplin (ab 1910/1912–1954). 6. Die Expansion der Betriebswirtschaftslehre in der Nachkriegszeit durch Rezeptionsprozesse, zunehmende Ausrichtung auf die Betriebswirtschaftspolitik und Ausfächerungstendenzen (ab 50er-Jahre). • Neben der betriebswirtschaftlichen Geschichtsforschung, um die sich Seyffert besonders verdient gemacht hat, leistete er herausragende Arbeiten auf dem Gebiet der Handelsforschung und des Marketings. Hervorzuheben sind auch seine Schriften zur Werbelehre. S. war Direktor des Betriebswirtschaftlichen Instituts für Einzelhandelsforschung,

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an dessen Gründung er maßgeblich beteiligt war, er war Vorstandsmitglied des Instituts für Mittelstandsforschung, Mitglied des Direktoriums des Instituts für Außenwirtschaft, Mitglied der Arbeitsgemeinschaft für Forschung und der für Rationalisierung des Landes Nordrhein-Westfalen sowie Vorsitzender und Angehöriger vieler weiterer Beirate und Ausschüsse.

Wichtige Publikationen • Reklame des Kaufmanns, 1914 • Der Mensch als Betriebsfaktor, 1922 • Über Begriff, Aufgaben und Entwicklung der Betriebswirtschaftslehre, 1925 (6. Aufl., 1971) • Die rationellste Nutzung der Betriebskräfte, 1925 • Allgemeine Werbelehre, 1929 • Kaufmännische Werbelehre, 1930 • Handbuch des Einzelhandels, 1932 • Die Organisation der Handelsforschung, 1941 • Wirtschaftslehre des Handels, 1951 (5. Aufl. 1972, hrsg. v. E. Sundhoff) • Werbelehre – Theorie und Praxis der Werbung, 1966 • Wege und Kosten der Distribution der industriell gefertigten Konsumwaren, 1966

Literatur F. Klein-Blenkers: Rudolf Seyffert als Forscher und akademischer Lehrer. Köln: Bachem, 1988 Sundhoff (1991), S. 197–236

Kondratieff (auch: Kondratjew), Nikolai D.

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Leben & Karriere • Kondratieff wurde als Sohn einfacher Bauern im etwa 300 Kilometer nordöstlich von Moskau gelegenen Gouvernement Kostroma (Zentralrussland) geboren. Nach dem Besuch einer Kirchenschule ging er auf eine landwirtschaftliche Schule, die er jedoch „wegen politischer Unzuverlässigkeit“ nicht beenden konnte. So musste K. sich im Selbststudium den Lehrstoff aneignen. 1911 legte er dann als Externer erfolgreich die Abiturprüfung am Kostromaer Gymnasium ab (vgl. Nikonow und Schulze 2004, S. 63). • 1911 schrieb K. sich an der Juristischen Fakultät der St. Petersburger Universität ein und nahm das Studium der Rechtswissenschaften auf. Bestandteil dieses Studienganges war auch das Fach Nationalökonomie, welches bei K. das Interesse für wirtschaftliche Probleme weckte. Seine Lehrer waren der Ökonom und Historiker M. I. Tugan-­ Baranowskij (1865–1919) sowie der Historiker und Soziologe A. S. Lappo-Danilewskij (1863–1919) (vgl. Nikonow und Schulze 2004, S. 63). • Bereits in sehr jungen Jahren zeigte sich bei K. ein starkes politisches Engagement: Nachdem er als Jugendlicher zweimal (1905 und 1906) von der Polizei festgenommen wurde, weil er sich für die Demokratie und für die sozialistische Partei stark machte, wurde er 1913 ein drittes Mal verhaftet, weil er gegen die Monarchie demonstrierte – insbesondere gegen die Zarendynastie der Romanows, die gerade den dreihundertsten Jahrestag ihrer Thronbesteigung feierten. • 1915 beendete K. sein Studium mit einer Diplomarbeit über Die Entwicklung der Wirtschaft des Distrikts Kineschma in der Provinz Kostruma, die sogar noch im selben Jahr veröffentlicht wurde. Nach Beendigung des Studiums bereitete er sich auf die Professorenlaufbahn vor. Er arbeitete in der Semstwo-Union (= Verwaltungsbehörde auf Kreis- und Gouvernementsebene) und leitete dort die Ökonomische Abteilung. • 1917 beteiligte K. sich an der Februarrevolution, die ihren Anfang in Petrograd nahm und sich rasch über ganz Russland ausbreitete. In zahlreichen Streiks und Demonstrationen kämpfte ein breites Bündnis aus Arbeitern, Frauen, Soldaten und demokratisch-­ liberalem Bürgertum gegen die Zarenherrschaft und für die Beendigung des Krieges (siehe Abb.  60.1). Nachdem am 15. März 1917 Zar Nikolaus II. die Abdankungsurkunde unterzeichnet hatte, folgte zunächst eine Phase der „Doppelherrschaft“, da sich die provisorische bürgerliche Regierung und die aus Arbeiterräten (Sowjets) be­ stehende „Gegenregierung“ unversöhnlich gegenüberstanden. Diese spannungsreiche Phase führte zur Oktoberrevolution und Machtübernahme durch die Bolschewiki, wie sie → Lenin zuvor in seinen Aprilthesen („Alle Macht den Sowjets“) gefordert hatte. • Als Vorsitzender des Bauernrates setzte K. sich wissenschaftlich mit der Nahrungsmittelsituation auseinander und erarbeitete Lösungsvorschläge. Nach der Februarrevolution gehörte er einer Gruppe von Wissenschaftlern an, welche die Kommission zur Um-

Leben & Karriere

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Abb. 60.1  Demonstration in Petrograd (St. Petersburg) 1917

• •





verteilung des Bodenfonds beriet und die Aufgabe hatte, eine Bodenreform zu erarbeiten. „Sie schlugen vor, den Boden der Gutsbesitzer an die Bauern zu übertragen. Die ­bisherigen Eigentümer sollten jedoch Boden in Höhe der durchschnittlichen Norm behalten“ (Nikonow und Schulze 2004, S. 55). Später wurde er Mitglied der verfassungsgebenden Versammlung und hatte das Amt des Vize-Ernährungsministers inne. Im Zuge der Oktoberrevolution lösten die Bolschewiki diese Versammlung auf. K. wurde abermals verhaftet und ins Gefängnis gesteckt. 1918 ging K. nach Moskau; kurze Zeit später kam es zum Bruch mit den Revolutionären, deren Anhänger er bis dahin gewesen war. Seit 1919 widmete K. sich vollständig seiner wissenschaftlichen Arbeit. Er lehrte an der Timirjasew-Akademie und am Genossenschaftsinstitut; außerdem leitete er eine Abteilung am Institut von A. W. Tschajanow (1888–1937), dem bedeutendsten Vertreter der russischen Agrarwissenschaft. 1920 gründete K. in Moskau das Konjunkturinstitut und leitete dieses von Beginn an. Zunächst war das Institut eingebunden in das Ministerium für Landwirtschaft, später in das Ministerium für Finanzen. 1921 setzte → Lenin mit der Neuen Politischen Ökonomie (NEP) ein wirtschaftspolitisches Konzept durch, das den bisherigen Kriegskommunismus ablöste und marktwirtschaftliche Elemente einführte. K. stand der Planwirtschaft im Sinne einer direkten

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Steuerung der Wirtschaft ablehnend gegenüber. Er befürwortete vielmehr eine „genetische Planung“ auf der Basis marktwirtschaftlicher Elemente. Planung war für ihn eher gleichbedeutend mit Prognose. So kam er kurz nach der Einführung der NEP zu der Feststellung, „daß die Existenz der NEP nicht nur den Plan nicht verneint, sondern die Voraussetzung für dessen Aufstellung ist. Markt und Preis sind ohne Zweifel die Voraussetzungen für die Aufstellung eines Planes, zumindest schon deshalb, weil wir im anderen Falle jede Möglichkeit für die Messung wirtschaftlicher Erscheinungen verlieren (zit. n. H. Maier).“

• Von 1923 bis 1926 trug K. in seinem Konjunkturinstitut die Verantwortung für die Ausarbeitung eines Fünfjahresplans für die Landwirtschaft, die der Ausgangspunkt seiner „genetischen Planung“ sein sollte. • 1928 schaffte Stalin die NEP ab und ersetzte sie durch eine zentralisierte Planwirtschaft. So wurde auch K. seines Postens als Direktor des Konjunkturinstitutes enthoben und das Institut wurde geschlossen. • Am 19. Juni 1930 wurde K. verhaftet und nach Sibirien deportiert. Man beschuldigte ihn, Mitglied des ZK der Bauernpartei zu sein. Der wahre Grund ist jedoch darin zu sehen, dass die konjunkturtheoretischen Forschungen K.s mit dem Befund von den „langen Wellen“ der Konjunktur im krassen Widerspruch zur marxistisch-­leninistischen Lehre standen, wonach der Kapitalismus auf sein endgültiges Ende hin zusteuere und vom Kommunismus abgelöst werde. So war K. „für die Kommunisten ein Konkurrent um die Interpretation von Wirklichkeit“ (Händeler 2016, S. 30). Noch im Gefängnis verfasste er seine fundamentale Monografie Grundprobleme der ökonomischen Statik und Dynamik – eine vorläufige Studie, die erst 1991 veröffentlicht wurde. • Nach acht Jahren Haft wurde K. am 17. September 1938 im Zuge der stalinistischen Schauprozesse zum Tode verurteilt und noch am selben Tage erschossen.

Werk & Wirkung • Kondratieff beschäftigte sich in seinen wissenschaftlichen Forschungen mit Fragen zur Agrarwirtschaft, mit volkswirtschaftlicher Prognose, mit staatlicher Regulierung, mit der Konjunkturforschung sowie mit methodologischen Fragen der Wirtschaftswissenschaft. Seine bedeutendste wissenschaftliche Leistung ist die Entdeckung der langfristigen Konjunkturzyklen, der sogenannten „langen Wellen“. Bereits 1919 gelangte er erstmals zu der Annahme, dass es lange Wellen der Konjunktur gebe. 1922 formulierte er seine allgemeinen Thesen in knapper Form und ohne besondere Analyse in seiner Arbeit über Die Weltwirtschaft und ihre Konjunkturen in der Kriegs- und Nachkriegszeit. Im Frühjahr 1925 verfasste er eine Spezialstudie über Die langen Wellen der Konjunktur, die in einem Sammelband seines Konjunkturinstituts veröffentlicht wurden. Als er zu Beginn des Jahres 1926 einen Aufsatz von S. de Wolff las, der zu ähnlichen Ergebnissen kam, fühlte K. sich in seiner Annahme bestätigt.

Werk & Wirkung

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• Im Jahr 1926 veröffentlichte Kondratieff die Ergebnisse seiner Konjunkturforschung in einem Aufsatz mit dem Titel Die langen Wellen der Konjunktur (in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 56, Tübingen: Mohr 1926, S. 573–609). K. geht davon aus, dass es neben den mittleren (7–11 Jahre) und kürzeren (ca. 31/2 Jahre) Konjunkturzyklen „in der kapitalistischen Wirtschaft außerdem noch lange Wellen von einer Durchschnittsdauer von etwa 50 Jahren gibt“ (S. 573). In seiner Abhandlung möchte er „Daten zu der Frage darlegen, ob es lange Wellen gibt, und wenn ja, worin sie sich äußern“ (S. 574). Hierzu hat er „den Versuch unternommen, die vorhandenen Daten statistischer und deskriptiver Art für Deutschland, Frankreich, England und die Vereinigten Staaten von Amerika für einen möglichst großen Zeitraum zu sammeln und auszuwerten“ (S. 574). Zu Beginn schildert K. sein methodisches Vorgehen. Untersuchungsgegenstand sind „Elemente der ökonomischen Wirklichkeit“, die K. in zwei Gruppen einteilt: die der ersten Gruppe weisen keine allgemeine Tendenz zum Steigen oder Fallen auf; die der zweiten Gruppe lassen Schwankungsvorgänge und auch eine bestimmte Richtung erkennen (z. B. Kapitalzins, Arbeitslohn, wertmäßiger Umfang des Außenhandel, Angaben über die Produktion, Verbrauch gewisser Waren). „Legt man der Untersuchung die statistischen Angaben über die Dynamik der Elemente dieser zweiten Gruppe in unbearbeiteter Gestalt zugrunde, so treten die Wellen entweder gar nicht oder nicht deutlich genug in die Erscheinung, und zwar bleiben nicht nur die langen, sondern bei den rein naturellen Elementen auch die anderen Wellen unsichtbar. Daher hatten wir hier komplizierte Methoden der Verarbeitung statistischer Reihen anzuwenden, um das Vorhandensein oder das Nichtvorhandensein der langen Wellen aufzuzeigen (S. 575 f.).“

Die von K. herangezogenen statistischen Daten beziehen sich auf Deutschland, Frankreich, England und die USA und umfassen den Zeitraum von etwa 1780 bis 1920, also 140 Jahre. Er untersucht das mittlere Niveau der Warenpreise, den Kurs festverzinslicher Wertpapiere, den Arbeitslohn, die Umsätze im Außenhandel, die Kohlenförderung und andere Indexzahlen, die er in tabellarischer sowie in graphischer Form darstellt. Aus der Gesamtheit dieser Datenreihen identifiziert er eine Aufeinanderfolge von drei langen Konjunkturwellen. Exemplarisch können sie auch veranschaulicht werden anhand der von K. untersuchten Warenpreise (siehe Abb. 60.2): „Der Aufstieg der ersten Welle umfasst den Zeitraum von 1789–1814, d. h. 25 Jahre, ihr Abstieg beginnt 1814 und endet 1849, dauert also 35 Jahre. Der Kreislauf der Preisbewegung schließt sich also in 60 Jahren. Der Anstieg der zweiten Welle beginnt 1849 und endet 1873, dauert also 24 Jahre. … Das Absinken der zweiten Welle beginnt 1873 und endet 1896, dauert also 23 Jahre. Der Kreislauf der Preisbewegung schließt sich in 47 Jahren.

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Abb. 60.2  Indexzahlen der Warenpreise Der Anstieg der dritten Welle beginnt 1896 und endet 1920, dauert also 24 Jahre. Das Absinken der dritten Welle beginnt, nach allen Daten, im Jahre 1920. … … Somit stellen wir fest, daß es in der Bewegung des mittleren Preisstandes seit dem Ende der 80er Jahre des 18. Jahrhunderts drei große Zyklen gibt, von denen der letzte erst halb erfüllt ist. Die Wellen sind nicht von der gleichen Länge; ihre Dauer schwankt vielmehr zwischen 47 und 60 Jahren (S. 42–44).“

Am Ende seiner Abhandlung kommt K. zu dem Befund, dass es lange Wellen der Konjunktur von 48 bis 60 Jahren Länge gibt, deren Ursache systemimmanent ist und die daher einen gesetzmäßig zyklischen Charakter haben. „Indem wir das Vorhandensein langer Wellen behaupten und ihre Entstehung aus zufälligen Ursachen bestreiten, meinen wir zugleich, daß die langen Wellen Ursachen entspringen, die im Wesen der kapitalistischen Wirtschaft liegen. Das führt natürlich zu der Frage, welcher Art denn diese Ursachen sind. Der Schwierigkeit wie auch der großen Bedeutung dieser Frage sind wir uns voll bewusst; jedoch war es nicht beabsichtigt, in der vorliegenden Skizze mit dem Aufbau einer eigentlichen Theorie der langen Wellen zu beginnen (S. 599).“

• Während K. selbst nur drei bzw. zweieinhalb lange Wellen erkennen konnte, hat die nachfolgende Forschung weitere Kondratieff-Zyklen identifiziert. So konnten bis jetzt insgesamt fünf lange Wellen nachgewiesen werden. Die ihnen zugrunde liegenden Basisinnovationen sind die treibende Kraft, „die nicht nur die wirtschaftlichen, sondern auch die gesellschaftlichen Strukturen verändern. […] Der eigentliche Wachstumsimpuls wird jedoch nicht durch Entdeckungen selbst ausgelöst, sondern durch die breite Diffusion neuer Güter. […] Jede dieser Wellen hat die Gesellschaft ihrer Zeit gründlich verändert. Es entstanden neue Arbeitsformen und Berufe, neue Lebensweisen und Kon-

Werk & Wirkung

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Tab. 60.1  Kondratieff-Zyklen. (Quelle: angelehnt an Clement et al. (2013), S. 475) Zyklus 1. 2. 3. 4. 5.

Zeitraum 1793–1847 bis 1893 bis 1939 bis 1984 bis 2010

6.

ab 2010

Basisinnovationen Dampfmaschine, Eisenindustrie Eisenbahn, Schifffahrt, Stahl Elektrizität, Chemie PKW, Erdöl, Elektronik Informations- und Kommunikationstechnik, Wissen Gesundheits- und Umwelttechnologien

summuster“ (Clement et al. 2013, S. 475). Tab. 60.1 zeigt die Zeiträume der Kondratieff-­ Zyklen und die ihnen zugrundeliegenden Basisinnovationen. • Kondratieff leistete mit seinen Schriften, die ein hohes theoretisches Niveau aufweisen, einen bedeutenden Beitrag zur Konjunkturforschung, speziell zur Theorie der langen Konjunkturzyklen. Auch war er in Russland einer der ersten Ökonomen, der mathematische Methoden auf die wirtschaftswissenschaftliche Analyse anwandte. Er gilt als Vorreiter der Theorie der langen Wellen und somit auch als Wegbereiter für die nachfolgenden Theorien, wie beispielsweise von → J. A. Schumpeter. Er war es auch, der 1939 in seinem Werk Business Cycles die Ursachen der langen Wellen nachwies und für diese den Namen „Kondratieff-Zyklen“ in die Wirtschaftswissenschaft einführte. Nach Schumpeter „wirbelte das Werk von Kondratieff viel Staub auf“ und stellt eine „Spitzenleistung“ dar (Schumpeter 1965/2007, S. 1409). Dennoch wurde die Theorie der langen Wellen insgesamt kritisch beurteilt. Ein Problem wird darin gesehen, dass lange Zyklen schwer zu prognostizieren sind und nur ex post identifiziert werden können. „Aber auch diese Identifizierung ist teilweise schwierig, da die Daten in langen Zeitreihen vorliegen und über die Zeit vergleichbar sein müssen“ (Rothengatter und Schaffer 2008, S.  176). So stößt die Theorie vom langen Kondratieff-Zyklus nicht selten auf Ablehnung, „da er bisher mangels ausreichenden Datenmaterials nicht ­hinreichend sicher überprüfbar ist und exogene Störungen wie Kriege oder Naturkatastrophen durch eine normale Entwicklung hypothetisch substituiert“ (Woll 2008, S. 437). Aktuell wird in der Literatur über den sechsten Kondratieff-Zyklus spekuliert. Nach Ansicht des Kondratieffanhängers und Zukunftsforschers L. A. Nefiodow werde die nächste „lange Welle“ von der Biotechnologie und der Gesundheitstechnologie dominiert (siehe Abb. 60.3): „Mit der weltweiten Rezession der Jahre 2001 bis 2003 ist der letzte, der fünfte Kondratieffzyklus, der von der Informationstechnik getragen wurde, zu Ende gegangen. Parallel dazu hat ein neuer Langzyklus, der sechste Kondratieff, begonnen. Er wird vom Bedarf nach ganzheitlicher Gesundheit angetrieben und wird den Ländern, die diesen Langzyklus führend beherrschen, für ein halbes Jahrhundert Prosperität und Vollbeschäftigung bringen“ (Granig und Nefiodow 2011, S. 25).

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Abb. 60.3  Basisinnovationen und ihre wichtigen Anwendungsfelder. (Quelle: Granig und Nefiodow 2011, S. 26.)

Der Kondratieff-Experte E. Händeler, der im Gesundheitsbereich den „neuen ökonomische Flaschenhals“ zu erkennen glaubt, ist überzeugt: „Würde die Politik Kondratieffs Globalsicht entdecken“ und sich „um eine kooperative Arbeitskultur und um Gesunderhaltung kümmern“, dann hätte Kondratieffs Theorie „noch etwas bewiesen: Dass Ideen langfristig doch stärker sind als Bajonette und Repressalien“ (in: SZ, 17.09.2013).

Wichtige Publikationen • Die langen Wellen der Konjunktur, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 56/1926, S. 573–609 • Die Preisdynamik der industriellen und landwirtschaftlichen Waren (Zum Problem der relativen Dynamik und Konjunktur), in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 60/1928, S. 1–85

Literatur Clement/Terlau/Kiy (2013), S. 474–475 Peter Granig/Leo A. Nefiodow (Hrsg.): Gesundheitswirtschaft – Wachstumsmotor im 21. Jahrhundert, Wiesbaden 2011 E. Händeler: Wenn der Zyklus die Krise erklärt, in: SZ, 17. 09. 2013 E. Händeler (Hrsg.): Die langen Wellen der Konjunktur. Nikolai Kondratieffs Aufsätze von 1926 und 1928, 2. Aufl., Moers 2016 HdWW (1988), Bd. 4, S. 485–486 und Bd. 8, S. 427–430 Hesse (2009), S. 275–276.

Literatur

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Linß (2014), S. 140–143 H. Maier: Wellen des Fortschritts, in: Die Zeit, 19. 03. 1993 A. Müller: Das Comeback von Kondratieff, in: Handelsblatt, 18. 04. 2010 L. Nienhaus: Der Herr der Zyklen, in: FAZ, 25. 09. 2013 A.  A. Nikonow/E.  Schulze: Drei Jahrhunderte Agrarwissenschaft in Russland: Von 1700 bis zur Gegenwart, Institut für Agrarentwicklung in Mittel- und Osteuropa (IAMO) 2004 W.  Rothengatter/A.  Schaffer: Makro kompakt. Grundzüge der Makroökonomik, 2. Auflage, Springer 2008 A. Woll (Hrsg.): Wirtschaftslexikon, 10. Aufl., München 2008.

Gutenberg, Erich

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Wächter, Ökonomen auf einen Blick, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29069-6_61

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Leben & Karriere • Nach dem Abitur im Frühjahr 1918 begann Gutenberg, Sohn eines Fabrikanten in Herford, im Januar 1919 zunächst ein naturwissenschaftliches Studium an der Technischen Hochschule in Hannover. „Nach zwei (Zwischen-)Semestern“, schreibt G. rückblickend, „gab ich mein Studium schweren Herzens auf, um dem Wunsche meiner Familie folgend, als Teilhaber in die von meinem Vater und Herrn Heinrich Niebaum im Jahre 1873 in Herford in Westfalen gegründete Fabrik landwirtschaftlicher Maschinen einzutreten“ (in: Albach 1989, S. 5). • Die Familie plante, dass G. 1925 in die Niebaum & Gutenberg OHG eintreten sollte. Zuvor sollte aber ein Studium das hierfür nötige Rüstzeug schaffen. „Meine Bitte, Ingenieurwissenschaften studieren zu dürfen“, erinnert sich G., „wurde mir von Herrn N. abgeschlagen mit der Begründung, daß er beabsichtige, als Ingenieur die technische Leitung des Unternehmens beizubehalten. Schließlich gelang es mir zu erreichen, daß ich ein nationalökonomisches Studium beginnen durfte. (Von der Existenz eines Faches Betriebswirtschaftslehre hatte ich damals noch keine Ahnung.)“ (in: Albach 1989, S. 6). • So nahm G. im Sommer 1919 in Würzburg das Studium der Volkswirtschaftslehre auf, um sich auf die Übernahme der elterlichen Fabrik vorzubereiten. Dazu sollte es jedoch nicht mehr kommen, da die Firma infolge der Währungsumstellung auf Goldmark (November 1923) im Sommer 1924 bankrott ging. • Im Dezember 1921 schloss G. sein Studium mit der Promotion in Halle/Saale ab; der Titel seiner Doktorarbeit lautete: Thünens Isolierter Staat als Fiktion. • Im Januar 1922 bot sich G. die Möglichkeit, praktische Erfahrungen in einem Unternehmen zu sammeln, die ihm für seine spätere Tätigkeit im väterlichen Betrieb nützlich sein sollten. Er fand eine Anstellung in der Maschinenbau AG, vormals Starke und Hoffmann in Hirschberg (Schlesien), in der er planmäßig in allen kaufmännisch wichtigen Abteilungen ausgebildet wurde. Insbesondere befasste er sich mit der Kostenrechnung, der Lagerhaltung, dem Einkauf und der Preiskalkulation. Auch arbeitete er an der Umstellung der Bilanzen auf Goldmark mit. Seine Erkenntnisse fasste er in dem Aufsatz Goldmarkbilanzstrategie (1924) zusammen, der ihm später, wie er in seinen Rückblicken schreibt, „den Weg in die wissenschaftliche Laufbahn geebnet“ habe (vgl. Albach, S. 11). • Seit November 1924 war G. wissenschaftlicher Assistent an der Universität Münster, wo ihm angeboten wurde, sich in BWL zu habilitieren. Da er jedoch über kein kaufmännisches Examen verfügte, ließ er sich ab April 1925 beurlauben, um bei →Fritz Schmidt in Frankfurt a. M. seine Diplomarbeit zu schreiben. • Nachdem G. das BWL-Studium im März 1926 mit dem Diplom abgeschlossen hatte, ging er zurück nach Münster, wo er sich im Mai 1928 bei dem Nationalökonomen und Staatswissenschaftler Werner Friedrich Bruck sowie den Betriebswirtschaftlern Fritz

Werk & Wirkung

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Schmidt und → Wilhelm Kalveram mit seiner Arbeit Die Unternehmung als Ge­ genstand betriebswirtschaftlicher Theorie habilitierte. Im Vorwort seiner Arbeit schreibt G.: „Der Grundgedanke der vorliegenden Arbeit besteht darin, zu untersuchen, was es denn überhaupt mit einer betriebswirtschaftlichen Theorie auf sich haben könne, insbesondere, in welcher Weise die Unternehmung als Einzelwirtschaft Gegenstand einer solchen Theorie zu sein vermag. Im wesentlichen handelt es sich also um das Aufsuchen einer solchen Fragestellung, die auf das für eine betriebswirtschaftliche Theorie Relevante gerichtet ist und die es erlaubt, die Fülle der von der Betriebswirtschaftslehre bisher aufgeworfenen Probleme auf ihren theoretischen Gehalt hin zu überprüfen.“

• Nach seiner Habilitation war G. bei der Deutschen Zentralgenossenschaftsbank in Berlin (ab April 1929) und später bei der Deutschen Wirtschaftsprüfungs-AG als Leiter der Filiale in Dortmund (ab April 1932) tätig. • Am 15. Januar 1933 legte G. sein Examen als Wirtschaftsprüfer ab. • Von Herbst 1938 bis zu seiner Einberufung zum Militärdienst im August 1939 war G. außerordentlicher Professor an der Bergakademie Clausthal-Zellerfeld. Bis zum Sommer 1943 leistete G. seinen Militärdienst. • Als Professor für Betriebswirtschaftslehre lehrte und forschte G. von 1941 bis 1947 in Jena, von 1948 bis 1951 in Frankfurt a. M. und von 1951 bis zu seiner Emeritierung 1966 in Köln, wo er die Nachfolge von →E. Schmalenbach antrat. • Von 1954–1966 war G. Mitglied des wissenschaftlichen Beirats beim Bundeswirtschaftsministerium. In dieser Funktion war er „an der gedanklichen Ausgestaltung der Sozialen Marktwirtschaft in der Bundesrepublik … aktiv beteiligt“ (Albach: Nachwort zu Gutenbergs Einführung in die Betriebswirtschaftslehre, 1990, S. 217). • G. wurden von sechs Universitäten Ehrendoktortitel verliehen: Berlin 1957, Münster 1962, München 1967, Saarbrücken 1968, Göttingen 1977, Frankfurt 1978. Daneben wurden ihm weitere Ehrungen zuteil, u. a. erhielt er am 23.07.1968 das Große Bundesverdienstkreuz 1. Klasse am Bande. G. war Mitglied mehrerer akademischer Gesellschaften (vgl. Albach 1989, S. 289).

Werk & Wirkung • Nach Gutenbergs Vorstellung soll betriebswirtschaftliche Forschung nach hypothetisch deduktiver Methode erfolgen und rein theoretisch, wertfrei und nomothetisch sein (ähnlich den Naturwissenschaften). Die Aufgabe der BWL sieht er darin, „die innere Logik der Dinge aufzuspüren und die betrieblichen Sachverhalte geistig zu durchdringen (…). Der wissenschaftliche Wert hängt nicht von der praktischen Bedeutung des zu untersuchenden Gegenstandes ab“ (Gutenberg: Zum Methodenstreit, in: ZfhF, 1953, S. 340).

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• G. versteht den Betrieb als Einheit, als ein geschlossenes System aus den betrieblichen Teilfunktionen Beschaffung, Produktion und Absatz. Diese werden von den Finanzen zusammengehalten und von der Unternehmensführung – dem sog. „dispositiven Faktor“ – gesteuert. Dementsprechend sind auch seine dreibändigen Grundlagen der Betriebswirtschaftslehre gegliedert: –– Band I: Die Produktion (1951). Im ersten Band entwickelt G. ein System von Produktionsfaktoren, welches aus menschlicher Arbeitsleistung, Betriebsmitteln und Werkstoffen besteht und die durch die Geschäftsleitung im Produktionsprozess kombiniert werden (siehe ausführlich unten). –– Band II: Der Absatz (1955). Im zweiten Band werden zunächst die Aufgaben der Geschäftsführung im Hinblick auf die Absatzpolitik erläutert. Den Absatzkosten wird dabei ein besonderer Stellenwert eingeräumt. Daran anschließend folgt eine Darstellung des absatzpolitischen Instrumentariums: „Absatzmethode, Preispolitik, Werbung und Produktgestaltung sind die vier Hauptinstrumente, die den Unternehmen die Möglichkeit geben, Absatzpolitik zu betreiben. In diesem Sinn sind sie Absatzeinflußgrößen“ (S. 9). –– Band III: Die Finanzen (1969). „Der dritte Band“, schreibt G. im Vorwort, „bringt die Grundlagen der Betriebswirtschaftslehre zum Abschluß.“ Er „steht mit den beiden ersten Bänden in einem inneren Zusammenhang“, denn „die finanziellen Vorgänge bilden die Voraussetzung, gewissermaßen das Medium für den gesamtbetrieblichen Leistungsvollzug. Insofern umfaßt die finanzielle Sphäre das Ganze des betrieblichen Geschehens …“ (S.  1). Zunächst wird der Kapitalbedarf des ­Unternehmens aus den Produktionsbedingungen abgeleitet. Anschließend wird der Kapitalfonds dargestellt und schließlich die optimale Abstimmung von Kapitalbedarf und Kapitaldeckung behandelt. • Insbesondere Band I war sehr einflussreich und hat zu vielen Weiterentwicklungen in der Betriebswirtschaftslehre angeregt. Im Mittelpunkt stehen der Kombinationsprozess der Produktionsfaktoren und das Verhältnis von Input und Output (Faktoreinsatz und Faktorertrag), also die sogenannte „Produktivitätsbeziehung“. Die produktiven Faktoren „menschliche Arbeitsleistung, Betriebsmittel und Werkstoffe“ nennt G. „Elementarfaktoren“, da aus ihnen der betriebliche Leistungsprozess besteht. Den „Elementarfaktor menschliche Arbeitsleistung“ gliedert er  – in der Tradition des Taylorismus (→Taylor) stehend  – in objektbezogene (Tätigkeit der Leistungserstellung) und in dispositive Arbeitsleistungen (Leitung und Lenkung). Die Funktion des Unternehmers besteht nach G. darin, diese Produktionsfaktoren optimal zu kombinieren. „Menschliche Arbeitsleistungen, Betriebsmittel und Werkstoffe sind produktive Faktoren. Da sie die Elemente darstellen, aus denen der Prozeß der betrieblichen Leistungserstellung besteht, so sollen sie als betriebliche Elementarfaktoren bezeichnet werden. Eine Leistungserstellung, die außer Arbeitsleistungen und Betriebsmitteln auch den Faktor Werkstoff enthalt, ist eine Produktion. Das System der Elementarfaktoren läßt sich zunächst so skizzieren: Der Elementarfaktor Menschliche Arbeitsleistungen im Betrieb ist in zwei grundsätzlich vonei­

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nander verschiedene Arbeitsleistungen aufzugliedern, und zwar einmal in die objektbezogenen und zum anderen in die dispositiven Arbeitsleistungen.“ „Unter objektbezogenen Arbeitsleistungen werden alle diejenigen Tätigkeiten verstanden, die unmittelbar mit der Leistungserstellung, der Leistungsverwertung und mit finanziellen Aufgaben in Zusammenhang stehen, ohne dispositiv-anordnender Natur zu sein. So stellt die Arbeit an einer Drehbank oder an einem Webstuhl oder an einem SM-Ofen sowie die Arbeit der Buchhalter, Konstrukteure, Chemiker, auch die Durchführung von Verhandlungen zum Zwecke der Aufnahme einer Anleihe objektbezogene Arbeit dar.“ „Dispositive Arbeitsleistungen liegen dagegen vor, wenn es sich um Arbeiten handelt, die mit der Leitung und Lenkung der betrieblichen Vorgänge in Zusammenhang stehen. Die Befugnis, Betriebsangehörigen Anweisungen zu geben, stammt aus dem Direktionsrecht, das der Geschäftsleitung zusteht. Die betriebliche Bedeutung und der Umfang der Befugnisse nehmen in dem Maße ab, in dem man sich den unteren organisatorischen Einheiten eines Betriebes nähert. Der Stufenbau der betrieblichen Hierarchie gibt diesem Gesetz abnehmender Weisungsbefugnisse deutlich Ausdruck. …“ „Unter dem zweiten Elementarfaktor Arbeits- und Betriebsmittel sollen alle Einrichtungen und Anlagen verstanden werden, welche die technische Voraussetzung betrieblicher Leistungserstellung, insbesondere also der Produktion, bilden. … Zu den Arbeits- und Betriebsmitteln gehören demnach alle bebauten oder unbebauten Betriebs-, Verwaltungs-, Wohn- und Abbaugrundstucke, die Gesamtheit aller maschinellen Apparatur unter und über Tage, also insbesondere alle Arbeits- und Kraftmaschinen, ­Behälter, Ofen, Fordereinrichtungen, Geräte und Apparate, Hand- und Maschinenwerkzeuge, Vorrichtungen, Lehren und Meßgeräte, das gesamte Büro- und Betriebsinventar, Schaufenstereinrichtungen u. dgl., deren der Betrieb zur Erfüllung seiner Aufgaben bedarf. Zu den Betriebsmitteln gehören auch diejenigen Hilfsstoffe und Betriebsstoffe, die notwendig sind, um den Betrieb arbeitsfähig zu machen und zu erhalten.“ „Betriebsmittel sind also produzierte Produktionsmittel, sofern sie nicht zu den Werkstoffen gehören. Da die Werkstoffe in der volkswirtschaftlichen Theorie auch zu den produzierten Produktionsmitteln gerechnet werden, zeigt sich, daß der Begriff Betriebsmittel, wie er hier verwandt wird, enger ist als der volkswirtschaftliche Begriff der produzierten Produktionsmittel. Da aber der Grund und Boden hier nicht wie in der volkswirtschaftlichen Theorie als besonderer Produktionsfaktor angesehen, sondern den Betriebsmitteln zugerechnet wird, so ist der Begriff Betriebsmittel auch wiederum weiter als der Begriff der produzierten Produktionsmittel, wie er in der volkswirtschaftlichen Theorie Verwendung findet. …“ „Unter dem dritten Elementarfaktor Werkstoff werden hier alle Rohstoffe, Halb- und Fertigerzeugnisse verstanden, die als Ausgangs- und Grundstoffe für die Herstellung von Erzeugnissen zu dienen bestimmt sind. Nach der Vornahme von Form- und Substanzänderungen oder nach dem Einbau in das Fertigerzeugnis werden sie Bestandteil des neuen Produktes. … Wenn die Werkstoffe auch produzierte Produktionsmittel im Sinne der volkswirtschaftlichen Theorie darstellen, so ist es für die vorliegenden Zwecke doch vorteilhaft, sie als eigenen produktiven Faktor aufzufassen.“ „Geht man davon aus, daß die betriebliche Leistungserstellung in Fertigungsbetrieben, also die Produktion, in der Kombination von Elementarfaktoren besteht, dann bleibt noch zu

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untersuchen, wie diese Elementarfaktoren zu einer produktiven Einheit verbunden werden. Ganz offenbar vollzieht sich diese Kombination weder mechanisch noch organisch, sie geschieht vielmehr durch bewußtes menschliches Handeln nach Prinzipien. Die Person oder Personengruppe, die die Vereinigung der Elementarfaktoren zu einer produktiven Kombination vollzieht, stellt einen vierten produktiven Faktor dar. Von seiner Leistungsfähigkeit ist der Erfolg der Faktorkombination nicht weniger abhängig als von der Beschaffenheit der Elementarfaktoren selbst. Dieser vierte zusätzliche Faktor sei als Geschäfts- und Betriebsleitung bezeichnet. Ihre Aufgabe besteht darin, die drei Elementarfaktoren zu einer produktiven Kombination zu vereinigen.“ „In marktwirtschaftlichen Systemen ist diese kombinative Funktion den „Unternehmern“ übertragen. … Die Kombination der elementaren Faktoren schlechthin ist die betriebswirtschaftliche und volkswirtschaftliche Aufgabe der Unternehmer in marktwirtschaftlichen Systemen.“ „Allein mit dieser Aufgabe läßt sich der Anspruch der Unternehmer auf Unternehmergewinn begründen. Er stellt eine Vergütung für die erfolgreiche Durchführung produktiver Kombinationen dar. …“ „Die großbetrieblichen Unternehmungsformen haben die ursprüngliche unternehmerische Aufgabe verblassen lassen. Angestellte und abhängige Geschäftsführer haben oft die Leitung der Betriebe übernommen. Sie sind schon nicht mehr diejenigen, die die Unternehmen selbst gegründet, die ursprüngliche Kombination der produktiven Faktoren ins Werk gesetzt haben. Gleichwohl bleibt in marktwirtschaftlichen Systemen die Tatsache bestehen, daß es grundsätzlich Privatpersonen sind, denen die kombinativen Aufgaben zukommen. In Wirtschaftssystemen, in denen das Privateigentum an den Produktionsmitteln ganz aufgehoben ist, übernimmt es der Staat durch seine Beauftragten, die produktiven Faktoren zu betrieblichen Einheiten zusammenzufassen.“ „Irgendeine Instanz muß diese Kombination ja doch wohl vollziehen. Wie immer die Dinge im einzelnen liegen mögen – die Notwendigkeit, die Elementarfaktoren zu produktiven Einheiten, zu „Betrieben“ zu verbinden, besteht für jedes Wirtschaftssystem.“ „Diejenige Instanz also, die die Kombination der produktiven Faktoren in Werkstatt und Büro täglich vollzieht, sei es unter marktwirtschaftlichen oder planwirtschaftlichen Bedingungen, sei es in einem Wirtschaftssystem, welches das Eigentum an den Produktionsmitteln anerkennt oder ablehnt, wird hier als Geschäfts- oder Betriebsleitung bezeichnet. Dieser ganz besonderen kombinativen Funktion wegen sollen daher die Arbeitsleistungen der mit der Geschäfts- und Betriebsführung betrauten Personen aus dem Elementarfaktor Arbeit ausgegliedert und dem vierten Faktor Geschäfts- und Betriebsleitung zugewiesen werden.“ „Mit diesem Faktor wird versucht, jenes Zentrum betrieblicher Aktivität zu treffen, das planend und gestaltend das gesamtbetriebliche Geschehen steuert. …“ „Zusammenfassend läßt sich mithin sagen: Das System der produktiven Faktoren besteht aus dem System der Elementarfaktoren: Arbeitsleistungen, Betriebsmittel, Werkstoff und aus dem vierten dispositiven Faktor, der Geschäfts- und Betriebsleitung.“

Wichtige Publikationen

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„Spaltet man von diesem Faktor Planung und Betriebsorganisation als produktive Faktoren ab, dann erhält man ein System, das nicht aus vier, sondern auch sechs Faktoren besteht, den drei Elementarfaktoren und den drei dispositiven Faktoren, von denen die beiden Faktoren Planung und Betriebsorganisation jedoch nur derivativen Charakter besitzen. …“ „(E. Gutenberg: Grundlagen der Betriebswirtschaftslehre. Band I: Die Produktion, 24. Aufl., Berlin, Heidelberg, New York: Springer, S. 2 ff., stark gekürzt.)“

• Gutenbergs Grundlagen sind interdisziplinär angelegt und berücksichtigen bspw. auch Erkenntnisse der Arbeitswissenschaft, Organisationslehre, Betriebssoziologie und Rechts­ wissenschaften. Des Weiteren ist das Werk durch Modellhaftigkeit gekennzeichnet, denn es fließen mikroökonomische Theorien (Modelle zur Produktions-, Kosten- und Preistheorie) in seine Produktions- und Kostentheorie ein. Von großer Bedeutung ist auch der formale Aspekt in seinen Grundlagen, namentlich die sog. „Gutenberg-Produktionsfunktion“ und die „Gutenberg-Nachfragefunktion“. Bellinger hebt hervor, dass G. „sowohl mit seinen Methoden als auch mit seinen neuen Problemstellungen eine wissenschaftliche Bewegung in der Betriebswirtschaftslehre eingeleitet“ und „sowohl von den Problemstellungen als auch von den angewandten Methoden her“ der Disziplin „eine Basis für neue und fruchtbare Weiterentwicklung“ gegeben habe. Ähnlich äußert sich auch Albach: „Er wollte die Probleme, mit denen er in der Praxis konfrontiert wurde, besser und tiefer verstehen und aus diesem Verständnis heraus ­Lösungen entwickeln. Bemerkenswert ist, daß sich die theoretische Sieht der Probleme, mit denen Gutenberg konfrontiert wurde, so umfassend und so allgemein im Fach und in der Praxis durchgesetzt hat, obwohl Gutenberg das theoretische Instrumentarium, mit dem er die Lösung dieser Probleme anging, selbst stets als vorläufig und unvollkommen empfand“ (Albach, S.  VI). G.s Lehre hat nicht nur Maßstäbe gesetzt; sie hat auch heftige Kontroversen ausgelöst, die bis heute diskutiert werden. Seinem System werden u. a. eine idealtypische Sichtweise sowie die Gefahr der Isolation durch Wirklichkeitsfremde vorgeworfen. Ein weiterer Vorwurf ist eine mangelnde Integrationsfähigkeit neuerer Funktionen und Ansätze (z. B. Marketing) in sein System. G. selbst sieht hingegen die Zukunft seines Fachs optimistischer: „Die Betriebswirtschaftslehre ist eine noch sehr junge Disziplin. Sie hat noch viele Chancen. Ich bin sicher, daß sie sie nutzen wird“ (in: Albach, S. 209).

Wichtige Publikationen • Die Unternehmung als Gegenstand betriebswirtschaftlicher Theorie, 1929 • Grundlagen der Betriebswirtschaftslehre, Bd. 1: Die Produktion, 1951 (24. Aufl. 1983); Bd. 2: Der Absatz, 1955 (17. Aufl. 1984); Bd. 3: Die Finanzen, 1969 (8. Aufl. 1980) • Einführung in die Betriebswirtschaftslehre, 1958 (Nachdruck 1990, mit einem Nachwort von H. Albach)

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61  Gutenberg, Erich

Literatur H. Albach (Hrsg.): Zur Theorie der Unternehmung. Schriften und Reden von Erich Gutenberg, 1989 Bellinger (1967), S. 68 ff. Brockhoff (2014), S. 194 ff. Hesse (2009), S. 205 f. Linß (2014), S. 114–117 Löffelholz (1980), S. 919–925 Schanz (2014), S. 44–53

Myrdal, (Karl) Gunnar

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Wächter, Ökonomen auf einen Blick, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29069-6_62

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Leben & Karriere • Myrdal studierte zunächst Rechtswissenschaften, später Volkswirtschaftslehre, Finanzwissenschaften und Soziologie in Stockholm, Leipzig, Paris und London. • 1927 promovierte er sich als Staatswissenschaftler (Dr. jur.) und wurde im selben Jahr Dozent für Politische Ökonomie an der Universität Stockholm. • 1929 trat M. eine Gastprofessur an der Harvard-University in den USA an, ein Jahr später folgte er einem Ruf nach Genf, wo er eine Gastprofessur am Institut für Internationale Studien innehatte. • 1933 übernahm er als Nachfolger von Gustav Cassel eine Professur für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft an der Universität Stockholm. Daneben war M. als Berater der schwedischen Regierung tätig, insbesondere für finanzielle, wirtschaftliche und soziale Fragen. • Als Mitglied der Sozialdemokratischen Partei Schwedens, der M. seit 1932 angehörte, wurde er 1934 in das schwedische Parlament gewählt. • 1938 wurde M. von der Carnegie Corporation of New York gebeten, eine Studie zur Rassenfrage zu leiten, deren Ergebnisse er 1944 unter dem Titel An American Dilemma: The Negro Problem and Modern Democracy veröffentlichte. • Von 1945 bis 1947 war M. schwedischer Minister für Handel und Gewerbe. Diesen Posten musste er aufgeben, da die von ihm vorgeschlagene Kreditgewährung an die Sowjetunion zur Zeit des Kalten Krieges politisch sehr umstritten war. • Anschließend übernahm er den Posten als Generalsekretär der UN-Wirtschaftskommission für Europa (ECE), den er zehn Jahre lang (bis 1957) ausübte. • 1960 kehrte er nach Schweden zurück und übernahm eine Professur für internationale Wirtschaft an der Universität Stockholm. • 1974 erhielt M., zusammen mit →F. A. von Hayek, den Wirtschaftsnobelpreis für die Arbeiten zur Geld- und Konjunkturtheorie sowie die Analyse der Interdependenz ökonomischer, gesellschaftlicher und institutioneller Erscheinungen.

Werk & Wirkung • Myrdal hat eine Vielzahl von Büchern und Schriften zu Themen der theoretischen Volkswirtschaftslehre, zur Wirtschaftspolitik, zur Bevölkerungs- und Demokratiepro­ blematik sowie zu Fragen der internationalen Politik veröffentlicht und leistete herausragende Beiträge auf dem Gebiet der Entwicklungshilfepolitik. Das zentrale Problem, dem sich M. in seiner Forschung und in seinen Schriften zuwendet, ist das der Armut, Ungleichheit und Ungerechtigkeit im wirtschaftlichen Leben. Auch erweist er sich als

Werk & Wirkung

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ein scharfer Kritiker der klassischen bzw. neoklassischen Theorie, insbesondere der Annahmen, dass das freie Spiel der Kräfte zu einem Marktgleichgewicht führe oder dass Freihandel für alle Beteiligten von Vorteil sei. • In seiner Arbeit Das politische Element in der nationalökonomischen Doktrinbildung aus dem Jahr 1930 hat Myrdal nachgewiesen, dass die klassische Lehre politische Bestandteile beinhaltet, die sich aus ihrer naturrechtlichen Grundkonzeption ergeben und dass diese die theoretischen Anschauungen beeinflusst haben. • Bereits im Jahre 1927 führte M. im Zusammenhang mit der Gleichgewichtsanalyse das Begriffspaar „ex ante“ und „ex post“ in die Volkswirtschaftslehre ein, das seit seiner Arbeit Der Gleichgewichtsbegriff als Instrument der geldtheoretischen Analyse von 1933 zum festen Repertoire der Wirtschaftswissenschaft, insbesondere der Makroökonomik, gehört. Bei der ex-post-Analyse werden realisierte Größen aus der Vergangenheit betrachtet, also Ergebnisse der wirtschaftlichen Aktivität. Die ex-ante-Analyse betrachtet hingegen Plan- oder Zielgrößen als vorherige Einflussfaktoren. • In seinem ersten großen – und wohl auch bekanntesten – Werk An American Dilemma: The Negro Problem and Modern Democracy von 1944 widmet sich M. auf fast 1500 Seiten dem Thema Gerechtigkeit und Rasse in den USA. Er analysiert in der Studie, die einen großen Einfluss auf die Soziologie ausübte, die Ungleichheiten, unter denen die schwarze Bevölkerung leidet und legt deren Ursachen dar. Der amerikanischen Regierung empfahl er als dringendste innenpolitische Aufgabe die Lösung des Rassenpro­ blems. Die Grundidee dieses Werkes beschreibt M. in der Einleitung so: „The American Negro problem is a problem in the heart of the American. It is there that the interracial tension has its focus. It is there that the decisive struggle goes on. This is the cen­tral viewpoint of this treatise. Though our study includes economic, social, and political race relations, at bottom our problem is the moral dilemma of the American – the conflict between his moral valuations on various levels of consciousness and generality. The „American Dilemma“ referred to in the title of this book, is the ever-raging conflict between, on the one hand, the valuations preserved on the general plane which we shall call the „American Creed,“ where the American thinks, talks, and acts under the influence of high national and Christian precepts, and, on the other hand, the valuations on specific planes of individual and group living, where personal and local interests; economic, social, and sexual jealousies; considerations of community prestige and conformity; group prejudice against particular persons or types of people; and all sorts of miscellaneous wants, impulses, and habits dominate his outlook (Myrdal: An American Dilemma, 1962, S. lxxii).“

• In dem Buch Ökonomische Theorie und unterentwickelte Regionen (1957) richtet M., wie er im Vorwort schreibt, seine „Aufmerksamkeit auf einen besonderen Aspekt der internationalen Situation, nämlich auf die große und ständig wachsende wirtschaftliche Ungleichheit zwischen entwickelten und unterentwickelten Ländern.“ Er „möchte untersuchen, wieso diese wirtschaftlichen Ungleichheiten entstanden, warum sie beste-

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hen bleiben und warum sie dazu neigen, sich noch zu vertiefen“ (vgl. S. 14–15). Das Fundament seiner Untersuchung bildet das von ihm in die Wissenschaft eingeführte „Modell der zirkulären Verursachung mit kumulativen Effekten“. Damit bezeichnet M. einen Prozess, in dem ein Faktor zugleich Ursache und Wirkung ist und eine bestimmte Entwicklung – sei sie positiv oder negativ – sich immer weiter in die einmal eingeschlagene Richtung verstärkt. Dieses Prinzip wendet M. nun an, um die Entstehung wirtschaftlicher Ungleichheiten in einem Land oder auch zwischen Ländern zu erklären. Dies verdeutlicht er an folgendem Beispiel: „Eine Fabrik, von der ein großer Teil der Bevölkerung seinen Lebensunterhalt bezieht, brennt ab, und es wird klar, daß es keinen Zweck hat, sie an diesem Ort wieder aufzubauen. Der unmittelbare Effekt dieser primären Veränderung wäre, daß die Firma, die der die Fabrik gehört, ihr Geschäft einstellt und ihre Angestellten arbeitslos werden. Dies wird Einkommen und Nachfrage verringern.“ „Andererseits wird die verminderte Nachfrage bei verschiedenen Geschäftszweigen der Gemeinde, die die Firma und ihre Angestellten belieferten, zu einer Verringerung der Einkommen führen und ebenfalls Arbeitslosigkeit verursachen. Ein Prozeß zirkulärer Verursachung ist somit in Gang gesetzt, dessen kumulative Effekte im Sinne des ‚circulus vitiosus‘ sichtbar werden.“ „Wenn keine anderen exogenen Veränderungen eintreten, wird die Gemeinde für Unternehmen und Arbeiter aus anderen Gegenden, die vielleicht daran dachten, hierherzukommen, weniger interessant. In dem Maße, wie der Prozeß sich beschleunigt, werden Unternehmen und Arbeiter der besprochenen Gemeinde mehr und mehr Gründe finden, sie zu verlassen, um anderswo bessere Märkte aufzusuchen. Wenn sie dies tun, wird das wiederum zu einer Verringerung von Einkommen und Nachfrage beitragen. Meist wird es auch den Altersaufbau der Gemeindebevölkerung im ungünstigen Sinne verändern.“ „Um den Mechanismus dieser kumulativen kausalen Folgen zu beleuchten, wollen wir einen Faktor … aussondern: die örtlichen Steuern. Ich nehme an, daß die örtliche Besteuerung entweder … direkt auf die Einkommen erhoben wird oder … indirekt zu ihnen in Beziehung steht. In dem Maße, wie also das Einkommen zurückgeht, muß der Steuersatz angehoben werden.“ „Der höhere Steuersatz wird seinerseits wiederum zu einem Extraanstoß für Unternehmen und Beschäftigte, die Gemeinde zu verlassen, während er gleichzeitig dazu beiträgt, potentielle Zuzügler abzuschrecken. Dies wird dann sozusagen in einer zweiten Runde wieder die Einkommen und die Nachfrage verringern und somit eine weitere Erhöhung des Steuersatzes erzwingen, was seinerseits wiederum ähnliche Effekte hätte. Inzwischen wird der weniger günstige Altersaufbau nicht nur zu einer Verminderung des Steueraufkommens beitragen, sondern auch die Notwendigkeit zu höheren Wohlfahrtsausgaben mit sich bringen.“ „Wenn die örtlichen Behörden in dieser Situation den Umfang der öffentlichen Dienste  – Schulen, Altersheime, Straßenbau und -instandhaltung usw. – vermindern, so kann der An-

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stieg des Steuersatzes vielleicht verlangsamt werden, aber nur auf Kosten der Anziehungskraft der Gemeinde für auswärtige Unternehmen und Beschäftigte.“ „Wenn der Steuersatz eine stationäre Höhe erreicht hatte, bevor die erste Veränderung eintrat, bewegt er sich jetzt nicht in Richtung auf diese Gleichgewichtshöhe – oder irgendeine andere stabile Höhe –, sondern dauernd von dem anfänglichen Gleichgewicht weg. Und diese Bewegung selbst verursacht immer wieder neue Veränderungen, die den Steuersatz weiter nach oben drücken usw. usw. Dieses einfache Modell zirkulärer Verursachung mit kumulativen Effekten, die durch eine primäre Veränderung ausgelöst wird, ist meiner Meinung nach typischer für tatsächliche soziale Prozesse als der Schnittpunkt der Nachfrage- und Angebotskurve beim Gleichgewichtspreis, der für einen so großen Teil unseres ökonomischen Denkens symbolisch geworden ist (Myrdal: Ökonomische Theorie und unterentwickelte Regionen, 1974, S. 34–36).“

Neben der massiven Kritik an der Auffassung, dass soziale Entwicklungen immer auf einen Gleichgewichtszustand hinstreben, lehnt M. auch die seit der Klassik herrschenden Doktrinen des „Laissez-faire“ sowie des Freihandels entschieden ab. Die Ablehnung der „Freihandelsdoktrin“ begründet er so: „Man hat der Freihandelsdoktrin tatsächlich gestattet, die Richtlinien nicht nur für die Theorie des internationalen Handels und der Handelspolitik zu bilden, sondern, allgemeiner gesehen, für die gesamte Diskussion der staatlichen oder sonstigen organisierten Eingriffe in das Wirtschaftsleben einer Nation. Die Beweislast liegt immer beim Interventionisten.“ „Vom Gesichtspunkt der Logik ist dies in der Tat etwas erstaunlich. Als Theorie ist die Freihandelsdoktrin unhaltbar. Davon abgesehen und um des Argumentes willen angenommen, daß die Doktrin in irgendeinem Sinne richtig sei, ist das praktische Freihandelspostulat, so wie es von den Theoretikern aus ihrer Analyse dargeboten wird, stets mit einer großen Anzahl von Annahmen und Einschränkungen versehen. Es ergibt sich dann die Frage, welchen Wert eigentlich ein praktisches Postulat für eine konkrete Aktion hat, wenn es durch abstrakte Annahmen und Einschränkungen begrenzt ist.“ „Eine Annahme ist besonders mißlich, nämlich die der freien Konkurrenz. Eine solche hat nie bestanden, und die aktuellen Tendenzen bewegen sich weiter von ihr fort. Im allgemeinen ist es nicht einmal möglich zu entscheiden, ob uns eine spezielle politische Maßnahme in einem speziellen Lande näher an einen rein fiktiven Zustand der freien Konkurrenz heranbringt oder ob er uns weiter davon wegführt.“ „Es fragt sich dann logischerweise, wieso einer Politik der Nichteinmischung nicht die Beweislast auferlegt werden soll. Warum sollte die Freihandelsdoktrin gerade die Idee sein, die das Bild bestimmt? (Myrdal: Ökonomische Theorie und unterentwickelte Regionen, 1974, S. 134)“

• M. und seine Ehefrau Alva zählen mit ihrem 1934 geschriebenen Gemeinschaftswerk Krise in der Bevölkerungsfrage zu den geistigen Wegbereitern des schwedischen Modells des Wohlfahrtsstaates, des sog. „folkhem“ (=„Volksheim“), wie es von den

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Schweden genannt wird. M. beschreibt in seinem Werk Beyond the Welfare State (dt. Jenseits des Wohlfahrtsstaates) die Entwicklung und das Wesen des Wohlfahrtsstaates so: „In den letzten fünfzig Jahren wurde in allen Ländern des Westens der Staat zu einem demokratischen Wohlfahrtsstaat und übernahm damit Verpflichtungen auf vielen Gebieten der wirtschaftlichen Entwicklung, sei es betreffs Vollbeschäftigung, gleicher Möglichkeiten für alle, sozialer Sicherheit oder betreffs einer Garantie bestimmter Untergrenzen, was Einkommen, aber auch Ernährung, Wohnung, Gesundheitspflege und Erziehung für die Menschen aller Regionen und Stände betrifft (S. 48).“

• In seinem 1969 veröffentlichten Werk Objektivität in der Sozialforschung vertritt M. die Ansicht, dass es keine wertfreie Beobachtung und Forschung in den Sozialwissenschaften geben könne. Daher erhebt er die Forderung, dass in wissenschaftlichen Arbeiten Wertungen nicht unterschlagen werden dürfen; diese sollen offen gelegt werden. Auch soll klar benannt werden, von welchen Fragen und Prämissen ausgegangen wird. „Tatsachen verwandeln sich nicht unversehens in Begriffe und Theorien; außerhalb des Systems von Begriffen und Theorien gibt es keine wissenschaftlichen Tatsachen, nur das Chaos. Ein unabdingbares apriorisches Element findet sich in aller wissenschaftlichen Arbeit. Man muß Fragen stellen, bevor man sie beantworten kann. Alle Fragen sind Ausdruck unseres Interesses an der Welt; sie sind im Grunde Wertungen. Wertungen sind daher notwendig mit in das Gedankengebäude eingeschlossen, wenn wir die Wirklichkeit beobachten und theoretische Analysen vorantreiben; sie bilden mehr als das Gerüst, wenn wir aus Tatsachen und Wertungen politische Folgerungen ableiten (Myrdal: Objektivität in der Sozialforschung, 1971, S. 14).“

• G.  Adler-Karlsson konstatierte 1973: „Gunnar Myrdal hat einen großen Teil seines Lebens dem Studium der Ungleichheit gewidmet, in der Hoffnung, so zu einer größeren Gerechtigkeit beizutragen.“ Ganz konkret, führt A. Bönisch diesbezüglich aus, sei M. „als entschiedener Gegner der Rassendiskriminierung hervorgetreten und hat zahlreiche Vorschläge zur materiellen und sozialen Besserstellung der Menschen in Asien, Afrika und Lateinamerika gemacht. Er wandte sich gegen die gravierenden Unterschiede zwischen reichen und armen Ländern. M. war ein engagierter Kritiker des Krieges der USA gegen Vietnam und trat für politische Abrüstung und weltweite politische Entspannung ein“ (in: Krause et al. 1989, S. 382).

Wichtige Publikationen • Prisbildningsproblemet och föränderligheten, 1927 • Vetenshap och Politik i Nationalekonomie, 1930 (dt. Das politische Element in der nationalökonomischen Doktrinbildung, 1932) • The Cost of Living in Sweden, 1830–1930, 1933

Literatur

• • • • • • • • • • •

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Der Gleichgewichtsbegriff als Instrument der geldtheoretischen Analyse, 1933 Monetary equilibrium, 1939 An American Dilemma: The Negro Problem and Modern Democracy, 1944 An International Economy, Problems and Prospects, 1956 Economic Theory and Underdeveloped Regions, 1957 (dt. Ökonomische Theorie und unterentwickelte Regionen, 1959) Value in Social Theory, 1958 (dt. Das Wertproblem in der Sozialwissenschaft, 1965) Beyond the Welfare State, 1960 (dt. Jenseits des Wohlfahrtstaates, 1961) Asian Drama: An Inquiry into the Poverty of Nations, 1969 (dt. Asiatisches Drama: Eine Untersuchung über die Armut der Nationen, 1973) Objectivity in Social Research, 1969 (dt. Objektivität in der Sozialforschung, 1971) The Challenge of World Poverty, 1970 (dt. Politisches Manifest über die Armut in der Welt, 1970) Against the Stream. Critical Essays on Economics, 1973 (dt. Anstelle von Memoiren: Kritische Studien zur Ökonomie, 1974)

Literatur B. Blohm: Myrdal, in: Die Zeit, 22.08.1988 Hesse (2009), S. 375–376 Krause/Graupner/Sieber (1989), 380–383 Linß (2014), S. 157–161 E. Matzner: Jenseits des Laisser-faire, in: Die Zeit, 09.07.1993 Piper (1996), S. 229–234

Internet http://www.nobelprize.org/nobel_prizes/economic-sciences/laureates/1974/myrdal-bio.html

Kosiol, Erich

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Wächter, Ökonomen auf einen Blick, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29069-6_63

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Leben & Karriere • Kosiol studierte zunächst von 1919 bis 1922 in Bonn Mathematik und schloss dieses Studium mit der Promotion ab. Seine Dissertation vom 26.05.1922 trägt den Titel Grundlagen der Kinematik im hyperbolischen Raum. • Daran anschließend immatrikulierte er sich an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Köln, wo → E. Schmalenbach und → R. Seyffert zu seinen Lehrern zählten. Dieses Zweitstudium schloss er 1924 mit seiner Diplomarbeit Theorie der Lohnstruktur ab, die 1928 sogar veröffentlicht und zu einem Standardwerk wurde. Ab der zweiten Auflage erschien die Schrift unter dem Titel Leistungsgerechte Entlohnung. • Von 1922 bis 1926 war K. in der Holzindustrie und im Holzhandel tätig. • Von 1928 bis 1933 war er stellvertretender Direktor am Handelsinstitut der Universität Köln. • 1931 habilitierte K. sich in Köln mit einer Arbeit über Kalkulation und Kostengestaltung im Warenhandel, unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Handelsenquête und wurde sechs Jahre später zum Professor ernannt. • Nach Tätigkeit an der Universität Breslau folgte K. im Sommersemester 1939 einem Ruf an die Handelshochschule Nürnberg und wurde im darauffolgenden Wintersemester zum Ordinarius ernannt. • Während des Krieges übernahm K. nebenamtlich von 1942–1945 die Vertretung der Betriebswirtschaftslehre an der Universität Erlangen. • Nach dem Zusammenbruch der NS-Diktatur wurde K. – zusammen mit weiteren Nürnberger Hochschullehrern – am 08. August 1945 wegen seines nationalsozialistischen Engagements suspendiert; er wurde später von einer Spruchkammer als „Mitläufer“ eingestuft. • Im Januar 1946 nahm K. eine Hilfstätigkeit bei einer Baufirma in Nürnberg an und bemühte sich zugleich um seine Rehabilitierung an der dortigen Hochschule, die jedoch zunächst scheiterte. • Von 1948 bis zu seiner Emeritierung 1967 forschte und lehrte K. an der Freien Universität Berlin, an deren Gründung und Aufbau er aktiv beteiligt war. Hier war er auch Direktor des Betriebswirtschaftlichen Instituts. Rufe nach Nürnberg, Darmstadt und Frankfurt lehnte er ab. • K. wurde mit zwei Ehrendoktortiteln (1962 Wiener Hochschule für Welthandel, 1963 Universität Köln) sowie zahlreichen weiteren Ehrungen ausgezeichnet.

Werk & Wirkung

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Werk & Wirkung • Kosiol hat 24 Bücher und zahlreiche Abhandlungen und Aufsätze  – die wichtigsten Schriften wurden in mehrere Sprachen übersetzt – zu den verschiedensten Problemen der Betriebswirtschaftslehre veröffentlicht. Darunter ragen seine Arbeiten zur Bilanztheorie, zur Kostentheorie und zur betrieblichen Organisation hervor, die einen beachtlichen Einfluss auf die betriebswirtschaftliche Forschung und Lehre in der Bundesrepublik ausübten. • Die wissenschaftstheoretischen Standpunkte von Kosiol lassen sich wie folgt skizzieren: In methodischer Hinsicht vertritt K. einen pluralistischen Ansatz; Induktion und Deduktion müssen sich ergänzen. Er erachtet es als notwendig, „vor Beginn der Untersuchung der realen Erfahrungswelt … Arbeitshypothesen als theoretisches Konzept zu entwickeln, mit dem man fragend an die Wirklichkeit herangeht“. Als „das Erfahrungsobjekt der Wirtschaftswissenschaft“ betrachtet er „die gesamte Kulturwelt des Menschen, in der das besondere ökonomische Geschehen eingebettet ist“ (in ZfB, 31, 1961, S. 130). Wirtschaft ist für ihn „… der Inbegriff des Wirtschaftens als Aktionsbereich des Menschen und umfaßt alle Vorgänge, Handlungen, Einrichtungen und Gebilde, durch die und mit denen gewirtschaftet wird. Als zweckgerichtete Willensäußerung läßt sich alles wirtschaftliche Handeln, in welcher seiner vielfältigen Gestaltungsarten es auch auftreten mag, durch eine gemeinsame letzte Zielsetzung kennzeichnen. Dieses materiale oder Sachziel (Materialobjekt) der Wirtschaft läßt sich kurz als Bedarfsdeckung umschreiben (E. Kosiol: Erkenntnisgegenstand und methodologischer Standort der Betriebswirtschaftslehre. In: ZfB, 31, 1961, S. 130).“

Als das Formalziel des Betriebes betrachtet er die Wirtschaftlichkeit, die in zwei verschiedenen Formen auftritt: Rentabilität und Technizität. „Rentabilität bildet neben der … Technizität eine Erscheinungsform der Wirtschaftlichkeit. Im Gegensatz zur Technizität bezieht sich die Rentabilität aber auf Wert- statt auf Mengengrößen …. Hohe Rentabilität und hohe Technizität sind nicht zwangsläufig miteinander gekoppelt. Es gibt hohe Rentabilität bei niedriger Technizität, und umgekehrt. Durch steigende Technizität wird die Rentabilität stets verbessert, während die umgekehrte Beziehung nicht gilt (E. Kosiol: Einführung in die Betriebswirtschaftslehre, S. 262).“

„Charakteristisch für den Erkenntnisprozeß der Realwissenschaften“ ist für K. ein „Abs­ traktionsvorgang, bei dem alle unbedeutenden Merkmale der betrachteten Situation weggelassen und nur die für das Betrachtungsziel relevanten Eigenschaften und Relationen hervorgehoben werden“. Dieser kann zur Darstellung in Form von Modellen führen, die in der VWL und der BWL häufig verwendet werden. Unter einem Modell versteht K. „zusammengesetzte Gebilde, die aus der Totalinterdependenz abgegrenzte und übersehbare Teilzusammenhänge ausgliedern, um die bestehenden Abhängigkeiten zu untersuchen“ (E. Kosiol: Einführung in die Betriebswirtschaftslehre, S. 256)

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• In seinem Werk Organisation der Unternehmung greift K. auf Ansätze von → H. Nicklisch, F. Nordsieck und anderen Betriebswirtschaftlern zurück und baut sie zu einem geschlossenem Organisationsmodell aus. Die Kernidee ist eine Strukturtechnik, die aus den Elementen Aufgabenanalyse, Aufgabensynthese und Aufgabenverteilung besteht. Nachdem zunächst die Sachaufgabe des Unternehmens in Teilaufgaben zerlegt ist, werden in einem zweiten Schritt Teilaufgaben zu Stellen zusammengefasst, die schließlich mit geeigneten Personen („Aufgabenträgern“) besetzt werden. Eine zwingende Vorgabe einer bestimmten Organisationsstruktur lehnt K. ab. Mit seiner Struk­ turtechnik soll ein Unternehmen lediglich in die Lage gesetzt werden, eine eigene, zum Unternehmen passende Organisationsstruktur zu finden. K.s Organisationsverständnis ist technisch orientiert: Das Unternehmen interessiert ihn nicht als ein soziales Gefüge, er sieht in der Unternehmung ein Aufgabenerfüllungssystem, das strukturiert aufgebaut ist. Auch den Mensch im Unternehmen betrachtet er in diesem Sinne und reduziert ihn auf einen reinen „Aufgabenträger“; in dieser Hinsicht weist er Parallelen auf zu → F. W. Taylor. Ansonsten verfolgt K. einen interdisziplinär ausgerichteten Forschungsansatz und fordert: „Die Wirtschaftswissenschaft benötigt die Kooperation mit Nachbardisziplinen, z. B. der Ingenieurtechnologie, Mathematik, Soziologie und Psychologie.“ • In seinem Lebenswerk Pagatorische Bilanz (eine eingehende Darlegung seiner Theorie der pagatorischen Erfolgsrechnung findet sich schon in seiner Schrift Bilanzreform und Einheitsbilanz von 1944) entwickelt K. aufbauend auf der dynamischen Bilanztheorie seines Lehrers → Eugen Schmalenbach eine Bilanztheorie, in der er sämtliche Vorgänge im Unternehmen auf pagatorische Vorgänge – hierzu zählen Barzahlungen sowie buchhalterische Verrechnungen  – zurückführt, deren Werte zu Marktpreisen ­ausgewiesen werden. Beispielsweise sind danach Forderungen wie zukünftige Bareinnahmen und Verbindlichkeiten wie zukünftige Barausgaben zu behandeln. „Die Erfolgsrechnung der Finanzbuchhaltung baut ihrem Wesen nach auf den Zahlungsvorgängen auf. Sie sucht die realen Güterbewegungen (Wertverzehr und Werterzeugung) durch die parallel laufenden Gegenbewegungen der nominalen Finanzwerte zu erfassen. Ich bezeichne daher die finanzbuchhalterische Abschlußrechnung als pagatorische Erfolgsrechnung (pagatorisch von lat. pagare = bezahlen). Die Finanzbuchhaltung ist eine pagatorische Buchhaltung. In ihr treten bestimmungsgemäße und betriebsfremde, ordentliche und außerordentliche Aufwendungen und Erträge nebeneinander auf. Aus all diesen Elementen formt sich der pagatorische Erfolg als Gesamtergebnis (Kosiol: Grundriß der Betriebsbuchhaltung, 3. Aufl., Wiesbaden 1957, S. 10).“

• Kosiol gilt als „scharfsinniger Systematiker, als Förderer der Fachterminologie und als Vorreiter der empirischen Forschung“, der – neben E. Gutenberg – „die Entwicklung der Betriebswirtschaftslehre im deutschsprachigen Raum am nachhaltigsten beeinflußt“ hat. Auch international genoss K. ein „hohes Ansehen als scharfsinniger Bilanztheoretiker“. Weiterhin fasst M. Schweitzer, der sich 1963 bei K. promovierte und 1968 habilitierte, die Leistung seines Lehrers mit folgenden Worten zusammen: „Mittels präziser Begriffe und systematischer Analysen entwickelt er strukturierte Konzepte des

Literatur

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Wissensbestandes, wirft offene Fragen auf und weist Wege zur disziplinären und interdisziplinären Erfassung und Lösung von Problemen des Faches“ (Schweitzer 1991, S. 800 f.).

Wichtige Publikationen • • • • • • • •

Theorie der Lohnstruktur, 1928 Bilanzreform und Einheitsbilanz, 1944 Anlagenrechnung: Theorie und Praxis der Abschreibungen, 1955 Organisation der Unternehmung, 1962 Einführung in die Betriebswirtschaftslehre, 1968 Bausteine der Betriebswirtschaftslehre, 1973 Pagatorische Bilanz, 1976 Kosten- und Leistungsrechnung, 1979

Literatur E. Grochla (1964): Organisation und Rechnungswesen, Festschrift für E. Kosiol zum 65. Geburtstag, S. 1–8. Hesse (2009), S. 280–281 Löffelholz (1980), S. 930–937 Mantel (2009), S. 458–461 u. 748–749 M. Schweitzer: Erich Kosiol zum Gedenken, in ZfB, 61. Jg., H. 7, 1991, S. 793–801

Hayek, Friedrich August von

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Wächter, Ökonomen auf einen Blick, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29069-6_64

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Leben & Karriere • Hayek wuchs in einem großbürgerlichen, akademischen Milieu in Wien auf. Sein Großvater väterlicherseits (ein Biologe) und sein Vater (ein Mediziner) lehrten an der Universität Wien; sein Großvater mütterlicherseits war Professor für Staatsrecht und Statistik und wirkte als Präsident der Österreichischen Statistischen Zentralkommission. • Während des Ersten Weltkrieges diente H. als Artillerieoffizier in der österr.-ungar. Armee und kämpfte an der italienischen Front. • Nach seiner Rückkehr aus dem Krieg und erfolgreicher Ablegung der Kriegsmatura begann H. 1918 sein Studium der Rechtswissenschaften an der Universität Wien; sein großes Interesse galt aber der Volkswirtschaftslehre und Psychologie. In diesen Bereichen belegte er verstärkt Kurse und entschied sich schließlich wegen der schlechten Berufschancen für Psychologen für die Volkswirtschaftslehre. H. war in der Nachkriegszeit – gezeichnet von den Schrecken des Krieges – zunächst sozialistischen Ideen zugeneigt und sympathisierte mit den planwirtschaftlichen Vorstellungen Walther Rathenaus. Rückblickend stellte H. fest: „Wie die meisten Wirtschaftswissenschaftler wandte ich mich der Ökonomik zu, weil ich zur Hälfte Sozialist war. Irgendwie musste die Welt doch verbessert werden“ (zit. n. Rose, S. 64). Die Lektüre von → Ludwig von Mises’ Die Gemeinwirtschaft (1922) sowie die Teilnahme an dessen legendärem ­Privatseminar bewirkten bei H. einen Gesinnungswandel und die Abkehr von sozialistischen Ideen. • An der Universität Wien erwarb H. zwei Doktortitel: Nach seiner Promotion zum den Dr. jur. (1921) entschloss sich H. noch zum Studium der Sozialwissenschaften, das er 1924 mit dem Dr. rer. pol. abschloss. Fünf Jahre später habilitierte er sich in Wien als Privatdozent für Politische Ökonomie. • Ein Rockefeller-Stipendium ermöglichte H. von 1923 bis 1924 ein Studienaufenthalt in den USA, wo er an der New Yorker Universität als Forschungsassistent arbeitete. Dort lernte er den führenden Konjunkturforscher und Institutionalisten Wesley C. Mitchell kennen, von dem er die These übernahm, dass alle gesellschaftlichen Institutionen bewusst geschaffen seien und daher auch wieder geändert werden könnten. • Von 1927 bis 1931 war H. wissenschaftlicher Leiter des Österreichischen Instituts für Konjunkturforschung, das er zusammen mit von Mises nach dem Vorbild des Berliner Instituts für Konjunkturforschung gegründet hatte. In dieser Zeit schrieb er seine wichtigen konjunkturtheoretischen Schriften. • Nachdem H. zu Beginn des Jahres 1931 einige Gastvorlesungen an der London School of Economics gehalten hatte  – diese wurden unter dem Titel Prices and Production veröffentlicht –, wurde ihm dort noch im selben Jahr ein Lehrstuhl angeboten. 1938 nahm H. die englische Staatsbürgerschaft an.

Werk & Wirkung

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• In dem 1944 erschienenen Werk The Road to Serfdom (dt. Der Weg zur Knechtschaft) ging H. davon aus, dass gesellschaftliche Konflikte durch die Macht der Ideen entschieden werden. Daher rief H. drei Jahre nach Erscheinen des Buches die Mont Pelerin Society ins Leben, um über die Zukunft des Liberalismus zu beraten und neoliberale Positionen durch Beeinflussung der öffentlichen Meinung zu stärken. Anfang April 1947 folgten 36 Gleichgesinnte, d. h. liberale Gelehrte, einer Einladung H.s und fanden sich am Mont Pelerin in der Schweiz ein. Zu den Teilnehmern dieses ersten Treffens gehörten u. a. → W. Eucken, → M. Friedman, → L. von Mises und W. Röpke. • 1950 folgte H. einem Ruf an die Universität Chicago, wo er zwölf Jahre eine Professur für Moral and Social Science (Ethik und Sozialwissenschaften) innehatte. In dieser Zeit bildete sich dort die Chicagoer Schule heraus, zu deren bekanntesten Vertretern neben → M. Friedman und H. Simons auch H. zählt. • 1962 kehrte H. zurück nach Europa und übernahm als Ordentlicher Professor für Volkswirtschaftslehre an der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät an der Universität Freiburg i. Br. den Lehrstuhl Walter Euckens. • Nach seiner Emeritierung im Jahr 1969 nahm H. eine Gastprofessur an der Universität Salzburg an, wo er noch fünf Jahre wirkte. • 1974 wurde H. zusammen mit → Gunnar Myrdal mit dem Nobelpreis für Wirtschaft ausgezeichnet. Er erhielt ihn für seine Arbeiten zur Geld- und Konjunkturtheorie. • 1977 kehrte von H. wieder zurück nach Freiburg und war in den folgenden Jahren politisch beratend tätig. • H. war Mitglied der British Academy, der Akademie der Wissenschaften Österreichs und anderer wissenschaftlichen Gremien. Ehrendoktortitel wurden ihm von den ­Universitäten in Tokio, Wien und Salzburg verliehen. Außerdem war er Träger des Verdienstkreuzes für Wissenschaft und Forschung der Republik Österreich. Ein Jahr vor seinem Tod wurde ihm die Presidencial Medal of Freedom, die höchste zivile Auszeichnung der USA, verliehen.

Werk & Wirkung • Hayek verfasste 16 Bücher, die in mehrere Sprachen übersetzt wurden und veröffentlichte rund 150 Aufsätze und Artikel in Fachzeitschriften. Die Arbeiten umfassen ein breites Spektrum: von der Wirtschaftstheorie über die politische Philosophie, die Rechtsphilosophie, die Geistesgeschichte bis hin zur Psychologie. Zu den herausragenden Büchern zählen der Bestseller The Road to Serfdom (1944) und The Constitution of Liberty (1960).

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• H.s internationales Ansehen ist auf seine frühen theoretischen Arbeiten aus den 1920erund 1930er-Jahren auf dem Gebiet der Geld- und Konjunkturtheorie zurückzuführen. Er verband die Geldtheorie von Wicksel und Mises mit der Kapitaltheorie von Böhm-Bawerk und entwarf eine monetäre Theorie des Investitionszyklus. H. untersuchte, inwiefern sich eine zusätzliche Geldmenge, die durch Geldschöpfung der Banken erzeugt wurde, auf die relativen Preise der Konsum- und Investitionsgüter auswirkt und deren Struktur im Zeitablauf verändert. Er arbeitet heraus, dass es für die Konjunkturschwankungen entscheidend ist, an welcher Stelle im Wirtschaftskreislauf die zusätzliche Geldmenge einströmt. Dauerhaft niedrige Zinssätze führen nach H.s Auffassung zu einer Fehlallokation von Kapital, da Ressourcen verstärkt in konsumferne Produktionsstufen gelenkt werden und weniger in konsumnahe. Er kommt zu dem Schluss, dass ein Anstieg der Geldmenge konjunkturbelebend wirken könne. Da es sich bei H.s Konjunkturtheorie um eine Überinvestitionstheorie handelt, war sie „unter den historischen Bedingungen der Weltwirtschaftskrise Anfang der 1930er-Jahre weder zur Diagnose noch zur Therapie der damals herrschenden massiven makroökonomischen Ungleichgewichte geeignet“ (Böhm, in: Kurz 2009, S. 235). Seine Konjunkturtheorie war einfach nicht zeitgemäß und verblasste schnell hinter der Unterinvestitionstheorie seines geistigen Gegenspielers → J.  M. Keynes, die besser geeignet war, die Wirtschaftskrise der 1930er-Jahre zu erklären. • Vermutlich herausgefordert von Keynes’ Hinweis im Vorwort zur Allgemeinen Theorie, wonach er sich eine positive Rezeption des Werkes gerade in einem autoritär geführten Staat erwarte, konterte H. 1944 mit seiner neoliberalen Streitschrift The Road to Serfdom, die ein Jahr später in deutscher Übersetzung unter dem Titel Der Weg zur Knechtschaft erschien. In dem Buch, das H. zum Ende des Zweiten Weltkrieges fertig stellte – einer Zeit, in der man sich Gedanken um die politische und wirtschaftliche Neuordnung machen musste –, thematisiert er die Ursachen und Wirkungen der Planwirtschaft und vertritt die These, dass jegliche Form von Planwirtschaft notwendigerweise zum Totalitarismus führe. Zwar begründet er in seiner Argumentation auch die Unterlegenheit der Planwirtschaft gegenüber der Marktwirtschaft, wie dies schon zuvor sein Mentor → Ludwig von Mises in seinem Werk Die Gemeinwirtschaft tat; im Zentrum von H.s Argumentation steht jedoch die völlige Unvereinbarkeit der Planwirtschaft mit den grundlegenden Prinzipien der Freiheit. H. stellt zwei Systeme gegenüber: Einerseits die freie Konkurrenzwirtschaft, in der Konsum und Produktion durch den Preismechanismus von Angebot und Nachfrage in Einklang gebracht werden und andererseits die Planwirtschaft, die das Gemeinwohl im Auge hat und daher die Produktion und die Verteilung organisieren muss. Der Plan, der hierzu aufgestellt werden muss, lasse sich jedoch nicht demokratisch entwerfen und schon gar nicht demokratisch steuern. Planwirtschaft einerseits sowie Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und individuelle Freiheit schlössen sich also wechselseitig aus. Jegliche Form der Planung führe nach H. zum Totalitarismus, sei es nun in der Spielart des Faschismus oder in der des Sozialismus. Denn beiden ist gemeinsam, „daß sie im Gegensatz zum Liberalismus und Individualismus die Gesellschaft als Ganzes und alle ihre Produktivkräfte für jenes einzige Ziel

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organisieren und keine autonomen Sphären anerkennen wollen, in denen die Wünsche der Individuen ausschlaggebend sind“ (Hayek: Der Weg zur Knechtschaft, München: Olzog 2009, S. 82 f.). Gesellschaftliche Planung erfordere so immer die Abschaffung der Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Dem siebten Kapitel „Planwirtschaft und Totalitarismus“ stellt H. ein Zitat von Hilaire Belloc voran: „Das Kommando über die Güterproduktion ist das Kommando über das menschliche Leben schlechthin.“ H. erläutert in dem Kapitel die Funktionsweise und die Folgen der Planwirtschaft: „Die meisten Planwirtschaftler, die sich ernsthaft mit der praktischen Seite ihrer Aufgabe beschäftigt haben, geben sich keinen Illusionen darüber hin, daß eine Planwirtschaft mehr oder weniger nach den Prinzipien der Diktatur betrieben werden muß. Das komplexe System der ineinander greifenden Wirtschaftsakte muß, wenn überhaupt von einer bewußten Lenkung die Rede sein soll, von einem einzigen Stab von Fachleuten gesteuert werden, und die letzte Verantwortung und die ganze Macht müssen in der Hand eines Oberbefehlshabers liegen, dessen Handlungsfreiheit nicht durch das demokratische Verfahren eingeengt werden darf,  – dies ergibt sich so klar aus dem Prinzip zentraler Planwirtschaft, daß kaum jemand widersprechen wird. Die Planwirtschaftler suchen uns damit zu trösten, daß diese autoritäre Lenkung „nur“ auf wirtschaftliche Fragen Anwendung finden wird. Einer der führenden amerikanischen Planwirtschaftler, Stuart Chase, versichert uns z. B., daß in einer kollektivistischen Gesellschaft ‚die politische Demokratie bestehen bleiben kann, wenn sie sich auf nichtökonomische Dinge beschränkt.‘ Im gleichen Atemzug möchte man uns gewöhnlich den Gedanken suggerieren, dass wir durch den Verzicht auf die Freiheit in Fragen, die für unser Leben von untergeordneter Bedeutung sind oder sein sollten, mehr Freiheit für die Verfolgung höherer Ziele erlangen werden Daher rufen die Leute, denen der Gedanke einer politischen Diktatur verhaßt ist, oft nach einem Diktator auf wirtschaftlichem Gebiet. …“ „Die oberste Planwirtschaftsbehörde würde uns nicht nur in der niedrigeren Sphäre unseres Lebens gängeln, nein, sie würde auch die Zuteilung der begrenzten Mittel für alle unsere Zwecke in die Hand nehmen. Wer also die gesamte Wirtschaftstätigkeit lenkt, verfügt über die Mittel zur Erfüllung aller Wünsche und muß daher entscheiden, welche befriedigt werden sollen und welche nicht. Dies ist in der Tat der wunde Punkt. Wirtschaftliches Kommando ist nicht nur das Kommando über einen Sektor des menschlichen Lebens, der von den übrigen getrennt werden kann; es ist die Herrschaft über die Mittel für alle unsere Ziele. Wer die alleinige Verfügung über die Mittel hat, muß auch bestimmen, welchen Zielen sie dienen sollen, welche Werte höher und welche niedriger veranschlagt werden müssen, kurz, was die Menschen glauben und wonach sie streben sollen. Zentrale Planwirtschaft bedeutet die Lösung des Wirtschaftsproblems durch die Gesellschaft statt durch den einzelnen; das führt aber dazu, daß auch die Gesellschaft – oder vielmehr ihre Vertreter – über die relative Wichtigkeit der verschiedenen Bedürfnisse entscheiden muß.“ „Die sogenannte wirtschaftliche Befreiung, die die Planwirtschaftler uns versprechen, läuft also genau darauf hinaus, daß wir von der Notwendigkeit, unsere eigenen wirtschaftlichen Probleme zu lösen, befreit werden und daß die bittere Wahl, die oft damit verbunden ist, für uns getroffen wird. Da wir unter den heutigen Lebensbedingungen für fast alles auf Mittel angewiesen sind, die unsere Mitmenschen liefern, würde die Planwirtschaft zur Lenkung fast unseres gesamten Lebens führen. Von unseren elementarsten Bedürfnissen bis zu unseren Familien- und Freundschaftsbeziehungen, von der Art unserer Arbeit bis zur Verwendung

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unserer Muße gibt es kaum eine Seite unseres Lebens, die nicht vom Wirtschaftsdiktator zum Gegenstand seiner bewußten Lenkung gemacht werden würde (Hayek: Der Weg zur Knechtschaft, München: Olzog 2009, S. 119 u. 123 f.).“

H. vertritt auch die sehr provokante These, dass der „Weg in die Knechtschaft“ auf schiefer Ebene verläuft: Selbst kleine, gutgemeinte Eingriffe des Staates zur Korrektur des Marktes bzw. zum Ausbau des Sozialstaates würden schließlich im Totalitarismus enden. H.s Angriff richtet sich mithin auf die ‚gemischte Wirtschaftsordnung‘, d. h. auf die soziale Marktwirtschaft. Für die Aufblähung des staatlichen Aufgabenportfolios macht H. die Demokratie verantwortlich, in der er eine indirekte Geburtshelferin des Totalitarismus sieht. H. empfahl zur Eindämmung demokratisch legitimierter Eingriffe des Staates in die Wirtschaftsprozesse eine Stärkung des Rechtsstaates und eine massive Änderung des Wahlrechts. Welch autoritäre Tendenz seinem Ansatz innewohnt, wurde rund 30 Jahre nach Erscheinen des Werkes in der Praxis deutlich: H. rechtfertigte den Militärputsch des faschistischen Diktators Pinochet und das sich daran anschließende neoliberale ökonomische Experiment in Chile, das von → Milton Friedman und den „Chicago Boys“ geplant wurde. Am Rande einer Tagung der Mont Pelerin Gesellschaft im chilenischen Seebad Viña del Mar im Jahr 1981 stellt H. in einem Interview mit der Tageszeitung El Mercurio unverhohlen klar, welches Verhältnis er zur Demokratie hat: Den acht Jahre zurückliegenden Putsch betrachtete er als Ultima Ratio gegen die „totalitäre Regierung Allendes“  – den demokratisch gewählten Präsidenten!  – und fügte dann hinzu: „Ich persönlich würde einen liberalen Diktator gegenüber einer demokratischen Regierung, der es an Liberalismus mangelt, bevorzugen“ (zit. n. Biebricher). Eine Würdigung der Leistungen Hayeks ist eng verbunden mit der Entwicklung der Ökonomik im 20. Jahrhundert. Seinen wissenschaftlichen Aufstieg verdankt er seinen geld- und konjunkturtheoretischen Arbeiten vor der großen Weltwirtschaftskrise. Nach dem Erscheinen der General Theory von J. M. Keynes verblasste sein mikroökonomischer Ansatz rasch hinter der makroökonomischen Theorie von Keynes. Nach dem Zweiten Weltkrieg erschien sein Werk Der Weg zur Knechtschaft. Über das Buch, das in der Fachwelt zunächst überwiegend auf Ablehnung stieß, sagte H. rückblickend: „Keynes starb und wurde zu einem Heiligen; und ich diskreditierte mich selbst durch die Veröffentlichung von Der Weg zur Knechtschaft“ (zit. n. Biebricher). Gleichzeitig gelang es ihm, mit der Mont Pelerin Gesellschaft eine der bedeutendsten neoliberalen „Denkfabriken“ zu gründen und einflussreiche Gleichgesinnte und Finanziers um sich zu scharen. Deutschland und Schweden erbrachten den Beweis, dass die Soziale Markwirtschaft, jener „Mittelweg“, den H. als „the muddle of the middle“ verspottete, langfristig erfolgreich sein kann. Eine Renaissance erlebten seine neoliberalen Ideen nach der Verleihung des Wirtschaftsnobelpreises 1974. Zu Beginn der 1980er-Jahre befand sich H. auf dem Höhepunkt seines Ruhmes und entwickelte sich in den folgenden Jahren  – insbesondere nach dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus 1989/1990 – zur Galionsfigur des (ökonomischen) Neoliberalismus. Seine Ideen fanden Eingang in die Wirtschaftspolitik von Margaret Thatcher („Thatcherismus“) und

Literatur

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Ronald Reagan („Reaganomics“) und leben fort in der von den USA ausgehenden „Austrian Economics“.

Wichtige Publikationen • • • • • • • • • • • • • • •

Hermann Heinrich Gossen, 1928 Geldtheorie und Konjunkturtheorie, 1929 Prices and Production, 1931 (dt. Preise und Produktion) Monetary Nationalism and International Stability, 1937 Profits, Interest, and Investment, 1939 The Pure Theory of Capital, 1941 (dt. Die Theorie komplexer Phänomene, 1972) The Road to Serfdom, 1944 (dt. Der Weg zur Knechtschaft, 1945) Individualism and Economic Order, 1949 (dt. Individualismus und wirtschaftliche Ordnung, 1952) John Stuart Mill and Harriet Taylor, 1951 The Counter-Revolution of Science, 1952 (dt. Mißbrauch und Verfall der Vernunft, 1959) The Sensory Order, 1952 The Constitution of Liberty, 1960 (dt. Die Verfassung der Freiheit, 1971) Studies in Philosophy, Politics, and Economics, 1967 Freiburger Studien, 1969 Law, Legislation and Liberty, 3 Bde., 1973–1979 (dt. Recht, Gesetzgebung und Freiheit, 1980/1981)

Literatur T. Biebricher: Demokratie als Problem, in: Die Zeit v. 29.09.2014 M. Dönhoff: F. A. Hayek: „Der Weg zur Knechtschaft“, in: Die Zeit, 10. 10. 1946 Hesse (2009), S. 218–219 Krause/Graupner/Sieber (1989), S. 196–198 Kurz (2009), Bd. 2, S. 228–249 Piper (1996), S. 105–111 Rose (2013), S. 62–72 Söllner (2015), S. 235–237

Internet Hompage der Friedrich A. v. Hayek-Gesellschaft e.V.: http://www.hayek.de

Müller-Armack, Alfred

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Wächter, Ökonomen auf einen Blick, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29069-6_65

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Leben & Karriere • Nach dem Abitur in Essen (1919) studierte Müller-Armack Nationalökonomie und Philosophie in Gießen, Freiburg, München und vor allem in Köln, wo er sich 1923 (im Alter von nur 22 Jahren) bei Leopold von Wiese mit der Arbeit Das Krisenproblem in der theoretischen Sozialökonomik.Versuch einer Neubegründung der absoluten Überproduktionslehre zum Dr. rer. pol. promovierte. • 1926 habilitierte er sich über die Ökonomische Theorie der Konjunkturpolitik und war danach zunächst als Privatdozent tätig. • 1933 trat M.-A. der NSDAP bei. Während der Nazi-Herrschaft war er Mitglied in NS-Organisationen und habe sich zu deren faschistischer Ideologie bekannt (vgl. Krause et al. 1989, S. 376). Von einem „starken“ Staat erhoffte er sich, dass dieser einen „dritten Weg“ zwischen Marxismus und Kapitalismus – in beiden Wirtschaftssystemen sah er Mängel – in der Wirtschaftsgestaltung ermöglichte. • 1934 wurde M.-A. Professor an der Universität Köln, 1938 Professor für Volkswirtschaftslehre in Münster, wo er sich intensiv mit Problemen der Wirtschaftssysteme beschäftigte. Hier war er auch geschäftsführender Direktor des Instituts für Wirtschaftsund Sozialwissenschaften. • 1941 gründete M.-A. die Forschungsstelle für allgemeine und textile Marktwirtschaft (FATM), ein an die Universität Müster angeschlossenes Institut, „in dem sowohl textilwirtschaftsorientierte Grundlagenforschung als auch Gemeinschaftsforschung in Kooperation mit anderen Hochschulen oder Unternehmen erfolgt“ (FATM). • 1950 kehrte M.-A. als Professor für Wirtschaftswissenschaften an die Universität Köln zurück und leitete dort das von ihm gegründete Institut für Wirtschaftspolitik. • 1952 wurde M.-A. von Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard als Ministerialdirektor in das Bundeswirtschaftsministerium berufen, wo er die Abteilung I (Wirtschaftspolitik) leitete. • 1955 nahm M.-A. als deutscher Vertreter an den Gründungsverhandlungen zur EWG teil und war von 1958 bis 1963 als Staatssekretär insbesondere für europäische Angelegenheiten zuständig (vgl. Abb. 65.1). In dieser Funktion beeinflusste er maßgeblich die deutschen Positionen bei den EWG-Verhandlungen. Auch war er Mitglied des Verwaltungsrates der Europäischen Investitionsbank. • Nach dem Kanzlerwechsel schied M.-A. 1963 auf eigenen Wunsch aus dem Bundesdienst aus und widmete sich fortan wieder der Lehre und Forschung. Daneben hatte er eine Vielzahl politischer und wirtschaftlicher Ämter und Führungspositionen inne. Er war Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung (1964–1968), Stadtverordneter der CDU-Ratsfraktion in der Stadt Köln (1964–1969) und Vorsitzender des Aufsichtsrates der Rheinischen Stahlwerke in Essen (1966–1968). M.-A. trat zum 31.12.1968 als Vorsitzender des Aufsichtsrates zurück, weil die Aktionäre ihn in erster Linie für die ungünstige Entwicklung bei Rheinstahl verantwortlich machten (vgl. HNA, 17.12.1968).

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Abb. 65.1  Staatssekretär A. Müller-Armack empfängt den irakischen Ölminister Mohamed Salman im Wirtschaftsministerium, 27. November 1961. (Quelle: Wikimedia/Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Fotograf: R. Patzek (Inv.-Nr.: B 145 Bild-F011913-0008))

• 1970 wurde M.-A. an der Universität zu Köln emeritiert. • Für seine Leistungen wurde M.-A. mehrfach ausgezeichnet; so wurde ihm 1962 das Große Bundesverdienstkreuz verliehen, 1965 die Ehrendoktorwürde der Universität Wien und 1976 die Ludwig-Erhard-Medaille. • M.-A. starb im Alter von 76 Jahren nach kurzer schwerer Krankheit in Köln.

Werk & Wirkung • M.-A. schuf ein umfassendes wissenschaftliches Werk. Insbesondere beschäftigte er sich mit der Konjunkturtheorie und Konjunkturpolitik. Schon seine Habilitationsschrift von 1926 mit dem Titel Ökonomische Theorie der Konjunkturpolitik war eine Pionierleistung auf diesem Gebiet. Besonders herausragend ist jedoch seine Konzipierung und Weiterentwicklung der „Sozialen Marktwirtschaft“. Bereits während der NS-­Herrschaft entwickelte er eine wirtschaftspolitische Konzeption, die einen „dritten Weg“ zwischen zentraler Planwirtschaft und freier Marktwirtschaft darstellen sollte und die er „Soziale Marktwirtschaft“ nannte. Da diese versuche, „die Ideale der Gerechtigkeit, der Frei-

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heit und des wirtschaftlichen Wachstums in ein vernünftiges Gleichgewicht zu bringen“, prägte er den Begriff „irenische Formel“. Nach dem zweiten Weltkrieg publizierte M.-A. dieses wirtschaftspolitische Konzept in seinem Werk Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft (1947). • Den Begriff und die wirtschaftspolitische Konzeption der sozialen Marktwirtschaft erläutert M.-A. auch in sehr prägnanter Form in dem Aufsatz „Soziale Marktwirtschaft“, den er für das Handwörterbuch der Sozialwissenschaften (HdSW) verfasste: „Die Wirtschaftspolitik der Bundesrepublik wurde seit der Währungsreform von 1948 im Zeichen der „sozialen Marktwirtschaft“ geführt. Seither dient dieser Begriff zur Kennzeichnung der wirtschaftspolitischen Gesamtkonzeption, die in erster Linie Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard entwickelte. Sinn der sozialen Marktwirtschaft ist es, das Prinzip der Freiheit auf dem Markte mit dem des sozialen Ausgleichs zu verbinden. … Die negativen Erfahrungen, die mit interventionistischen Mischsystemen gemacht wurden, haben die von Walter Eucken, Franz Böhm, F. A. Hayek, Wilhelm Röpke, Alexander Rüstow u. a. entwickelte Wirtschaftsordnungstheorie zur Einsicht geführt, daß das Prinzip des Wettbewerbs als unerlässliches Organisationsmittel von Massengesellschaften nur funktionsfähig ist, wenn eine klare Rahmenordnung den Wettbewerb sichert. Auf diesen Einsichten, die durch Erfahrung mit der Kriegswirtschaft des 2. Weltkrieges noch vertieft wurden, basiert der Gedanke der sozialen Marktwirtschaft. Mit dem Neoliberalismus teilen die Vertreter der sozialen Marktwirtschaft die Überzeugung, daß der Altliberalismus zwar die Funktionsbedeutung des ­Wettbewerbs richtig gesehen hat, die sozialen und soziologischen Probleme jedoch nicht ausreichend beachtet. Im Gegensatz zum Altliberalismus erstreben sie keine Wiederherstellung einer Laissez-faire-Wirtschaft; ihr Ziel ist eine neuartige Synthese. … Soziale Marktwirtschaft ist eine bewußt gestaltete marktwirtschaftliche Gesamtordnung. Ihr primäres Koordinationsprinzip soll der Wettbewerb sein. … Damit grenzt sich die neue Zielsetzung vom Sozialismus ab, der soziale Reform über einen zentralen Dirigismus erstrebt. … Der Begriff der sozialen Marktwirtschaft kann so als eine ordnungspolitische Idee definiert werden, deren Ziel es ist, auf der Basis der Wettbewerbswirtschaft die freie Initiative mit einem gerade durch die marktwirtschaftliche Leistung gesicherten sozialen Fortschritt zu verbinden.“ „… Der Preisapparat ist nach heutiger Einsicht ein unentbehrlicher Koordinierungs- und Einpendelungsapparat, der die zahllosen und überdies differenzierten Einzelpläne der Konsumenten abstimmt und wirksam werden läßt. Alle zentrale Lenkung sucht demgegenüber die Güterströme anders fließen zu lassen, als es dem Wunsch der Konsumenten entspricht. Diese Orientierung am Verbrauch bedeutet bereits eine soziale Leistung der Marktwirtschaft. In gleicher Richtung wirkt die durch das Wettbewerbssystem gesicherte und laufend erzwungene Produktivitätserhöhung als eine soziale Verbesserung, die um so größer und allgemeiner ist, je mehr durch den Wettbewerb einseitige Einkommensbildungen, die aus wirtschaftlicher Sonderstellung herrühren, eingedämmt werden. Neben dieser dem Wettbewerb an sich schon innewohnenden sozialen Funktion hat die Wirtschaftspolitik weitere Möglichkeiten der sozialen Ausgestaltung der Wirtschaftsordnung. In erster Linie ist hier an die vom Neoliberalismus geforderte institutionelle Sicherung des Wettbewerbs zu denken. Ihr Sinn ist es, Wettbewerbsbeschränkungen unmöglich zu machen, Monopole, Oligopole und Kartelle unter

Wichtige Publikationen

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Kontrolle zu nehmen und dadurch den Wettbewerb zu größter Wirksamkeit im Interesse des Verbrauchers zu bringen. Indem dem Wettbewerb möglichste Elastizität gegeben wird, erfüllt eine Wettbewerbsordnung zugleich auch soziale Aufgaben. Der Gedanke der sozialen Marktwirtschaft beschränkt sich jedoch nicht darauf, lediglich das Instrumentarium der Konkurrenz sozial funktionsfähig zu machen. Der marktwirtschaftliche Einkommensprozeß bietet der Sozialpolitik ein tragfähiges Fundament für eine staatliche Einkommensumleitung, die in Form von Fürsorgeleistungen, Renten- und Lastenausgleichszahlungen, Wohnungsbauzuschüssen, Subventionen usw. die Einkommensverteilung korrigiert. … (A. Müller-Armack, in: HdSW, Bd. 9, 1956, S. 390 f.)“

• Das von M.-A. entwickelte Konzept sowie der Begriff der „Sozialen Marktwirtschaft“ war prägend für die westdeutsche Wirtschaftspolitik der Nachkriegszeit. Er entwickelte ein wirtschafts- und sozialpolitisches Alternativkonzept zu Planwirtschaft und Kapitalismus und ermöglichte Deutschland durch diesen „dritten Weg“, den einige Ökonomen wie beispielsweise → L. von Mises für unmöglich hielten, das sogenannte „Wirtschaftswunder“. Im europäischen Einigungsprozess zur EWG spielte M.-A. eine wichtige Rolle und machte sich für eine gesamteuropäische Freihandelszone stark. Nach J. Starbatty beschäftigte M. A. „sich intensiv mit der Erweiterung der EWG und der institutionellen Basis einer europäischen Konjunkturpolitik. Im Rahmen des ­Integrationsprozesses war er ein gerühmter Verhandler, der mit sicherem Blick für das politisch Erreichbare diplomatisches Geschick mit Grundsatzfestigkeit vereinte. M.A.s Lebensweg war eine glückliche und erfolgreiche Verbindung von theoretischer Kenntnis und praktischem Wirken“ (Sp. 1239).

Wichtige Publikationen • • • • • • • • • •

Ökonomische Theorie der Konjunkturpolitik, 1928 Entwicklungsgesetze des Kapitalismus, 1932 Genealogie der Wirtschaftsstile, 1941 Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft, 1947 Stil und Ordnung der sozialen Marktwirtschaft, 1954 Religion und Wirtschaft, 1959 Studien zur sozialen Marktwirtschaft, 1960 Wirtschaftsordnung und Wirtschaftspolitik, 1966 Auf dem Weg nach Europa, 1971 Genealogie der sozialen Marktwirtschaft (1974).

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Literatur Goldschmidt/Wohlgemuth (Hrsg.): Grundtexte zur Freiburger Tradition der Ordnungsökonomik, Tübingen 2008, S. 451–455 Hasse/Schneider/Weigelt (2005), S. 50–52 Hesse (2009), S. 369–370 Krause/Graupner/Sieber (1989), S. 376–378 Mosdorf: Marktwirtschaft mit Adjektiv, in: Die Zeit, 28. 06. 2001 Neue Deutsche Biographie 18 (1997), S. 487–488 J. Starbatty: Stichwort „Müller-Armack“ in: Staatslexikon (1995), Bd. 3, Sp. 1238–1240 Weitz (2008), S. 191–200

Robinson, Joan Violet

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Wächter, Ökonomen auf einen Blick, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29069-6_66

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Leben & Karriere • Robinson, Tochter eines britischen Generals, besuchte als Schülerin die St. Paul’s Girl School in Brook Green, Hammersmith, West London. • Im Jahr 1922 nahm R. das Studium der Ökonomie in Cambridge auf, wo sie Bekanntschaft mit zwei Ökonomen machte, die unterschiedlicher nicht sein konnten: Sie wurde beeinflusst von dem Kommunisten Maurice Dobb, und sie hörte Vorlesungen des damals bedeutendsten Ökonomen → Alfred Marshall, dessen Lehre nicht nur Cambridge dominierte. R. erinnerte sich an diese Zeit so: „When I came up to Cambridge, in 1922, and started reading economics, Marshall’s ‚Principles‘ was the bible, and we knew little beyond it … Marshall was economics.“ • Nachdem R. 1925 das Studium abgeschlossen hatte, ging sie mit ihrem Mann, den sie kurz zuvor geheiratet hatte, für zwei Jahre nach Indien, wo er eine Stelle als Dozent hatte und sie als Lektorin am Laxmibai College of Arts tätig war und u. a. über anglo-­ indische Wirtschaftsbeziehungen forschte. • 1929 kehrten sie nach Cambridge zurück. R. hatte zunächst eine Stelle als Assistenz-­ Lektorin, später dann eine volle Stelle. In dieser Zeit arbeitete sie auch an ihrem Buch The economics of imperfect competition, das 1933 erschien und in dem sie die neoklassische Lehre von Marshall kritisierte. • Anfang der 1930er-Jahre war R. Mitglied des berühmten „Cambridge-Circus“, einer Vereinigung von Ökonomen um → John Maynard Keynes, mit dem sie eng zusammenarbeitete. In dieser Gruppe diskutierten sie auch über die Vorarbeiten der General Theory von Keynes. • Im März 1941 begann R. mit der Lektüre des Marxschen Kapitals und fand darin, wie aus einem Brief an Kahn hervorgeht, „a lot of excellent stuff … eg, that the quantity of money is determined by prices, not vice versa. But none of the Marxists seem to understand him“ (zit. n. Harcourt/Kerr, S. 35). Als Resultat ihrer Marx-Studien erschien ein Jahr später An Essay on Marx. • Während des Zweiten Weltkrieges arbeitete R. für verschiedene Komitees und Ausschüsse der Regierung sowie der Labour Partei, und sie bereiste die Sowjetunion und China. • Seit 1946 gehörte R. zu den Herausgebern der von → Edgar Salin ins Leben gerufenen internationalen Zeitschrift Kyklos. • Ab 1949 war R. Dozentin in Cambridge. • 1958 wurde R. Mitglied der britischen Akademie für Geisteswissenschaften. • Erst 1965 (im Alter von 62 Jahren!) erhielt R. einen Lehrstuhl in Cambridge, den sie bis zu ihrer Emeritierung im Jahr 1971 behielt. • Ein Jahr später (1966) hielt R. ihre Antrittsvorlesung mit dem Titel New Mercantilism (Neuer Merkantilismus).

Werk & Wirkung

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• R. wurde die Ehrendoktorwürde der Universitäten London und Liège (Lüttich) verliehen. • 1972 hielt R. die berühmte Vorlesung, in der sie die Grundzüge ihres Linkskeynesianismus vorstellte. Danach sollte bei einer staatlich angekurbelten Nachfrage zur Erreichung von Vollbeschäftigung auch berücksichtigt werden, dass die geförderten Projekte (Was soll produziert werden?), gesellschaftlich nützlich sind. • In den letzten Lebensjahren rückte R. – enttäuscht und desillusioniert über den Zustand der Wirtschaftswissenschaft – politisch und ökonomisch immer weiter nach links und widmete sich verstärkt methodologischen Fragen ihres Faches. Seit den 1960er-Jahren finden sich verstärkt kritische Äußerungen in ihrem Werk, wie beispielsweise: „Am einen Bein ungeprüfte Hypothesen, am anderen unprüfbare Slogans – so humpelt die Nationalökonomie daher. Unsere Aufgabe liegt hier darin, diese Mischung von Ideologie und Wissenschaft so gut es geht auseinanderzuhalten“ (zit. n. Hickel, in Piper, S.  176). Oder: „Ökonomie sollte man nicht mit dem Ziel studieren, eine Reihe von fertigen Antworten auf ökonomische Fragen zu erlangen, sondern um zu lernen, wie man es vermeidet, von Ökonomen getäuscht zu werden“ (Robinson 1962, S. 28). • 1979 wurde R. der erste weibliche Fellow am King’s College. Die größte Ehrung als Wirtschaftswissenschaftler, die Verleihung des Wirtschaftsnobelpreises, blieb ihr jedoch versagt. Gegen Ende der 1970er-Jahre erwarteten selbst ihre größten Kritiker, dass ihr diese Ehrung zu Teil werden müsste. → Paul Samuelson äußerte sich hierzu: „Ich war überrascht, dass sie nie den Nobelpreis bekommen hat.“ Allerdings sollten zwei ihrer Schüler später diese Auszeichnung erhalten: → Amartya Sen (1998) und kurz darauf → Joseph Stiglitz (2001).

Werk & Wirkung • In ihren wissenschaftlichen Werken beschäftigte sich Robinson mit zahlreichen theoretischen Konzepten, wie beispielsweise mit dem Wettbewerb, dem Preisproblem, der Arbeitslosigkeit, der Ausbeutung und mit Fragen der Konjunkturpolitik. Dabei folgte sie der Grundkonzeption von Keynes, mit dem sie eng zusammenarbeitete, lehnte sich aber auch bei Marx an. Sie kritisierte scharf die neoklassische Lehre und initiierte eine neue Strömung: den Linkskeynesianismus. • In ihrem ersten bedeutenden Werk The economics of imperfect competition aus dem Jahr 1933 stellt R. die neoklassische These vom Vorherrschen der freien Konkurrenz und der optimierenden Funktion des Marktmechanismus in Frage. Insbesondere ihr Lehrer → A. Marshall lehrte die Auffassung, wonach einer Vielzahl von Anbietern eine Vielzahl von Nachfragern gegenüberstehe und aufgrund dieser atomistischen Marktverhältnisse im Polypol der Einzelne keinen Einfluss auf die Preise nehmen könne. Dieser Auffassung setzte R. ihre eigene Theorie der unvollkommenen Kon-

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kurrenz entgegen. Unter einem imperfekten Wettbewerb versteht R. einen Markt mit vielen Verkäufern, der jedoch in der Hinsicht unvollkommen ist, dass jeder Produzent seine „individual demand curve“ hat. Die Unvollkommenheit kann beruhen auf der Unkenntnis der Konsumenten oder deren Präferenzen (z. B. Lieblingsverkäufer, günstige Lage des Geschäftes, Werbung). Die individuelle Nachfragekurve des Verkäufers zeigt an, wie sich sein Absatz gestaltet, wenn die Waren zu verschiedenen Preisen verkauft werden, und zwar unabhängig davon, ob die Konkurrenzunternehmen auf eine Preisänderung reagieren oder nicht. Somit hat jeder Produzent das Monopol seiner eigenen Ausbringung, d. h. ein Unternehmen hat einen monopolistischen Spielraum, den es ausschöpfen kann. Und daher gleiche nach der Auffassung von R. die Wirklichkeit einer „world of monopolies“. Die Unvollkommenheit spiegelt sich nach R. auch auf dem Arbeitsmarkt wider, den sie im letzten Drittel des Buches behandelt. Während auf dem Gütermarkt der unvollkommene Wettbewerb den Anbietern einen Vorteil verschafft, dreht sich das Verhältnis auf dem Arbeitsmarkt um: Die Anbieter des Produktionsfaktors Arbeit, die Arbeitnehmer, geraten nun ins Hintertreffen und werden von den Arbeitgebern ausgebeutet. Ausbeutung liegt nach R. vor, wenn der Lohn geringer ist als der Grenzertragswert der Arbeit. So gelangt sie zu dem Schluss, dass eine großes Unternehmen seinen Gewinn auf zwei Arten erhöht, nämlich auf Kosten der eigenen Arbeiter, denen es geringere Löhne zahlt als unter vollständiger Konkurrenz, und andererseits auf Kosten der Konsumenten, denen höhere Preise abverlangt werden. „Man muss sich nur Konzerne wie Apple anschauen, um zu sehen, dass ihre Theorie die Wirklichkeit auch heute noch beschreibt. Dass Apple seine iPhones zu Billiglöhnen in China herstellen lassen kann, um sie im Westen zu sehr hohen Preisen zu verkaufen, verdankt der Konzern auch seiner Marktmacht und also der Abwesenheit von vollständiger Konkurrenz“ (Nienhaus 2013). Auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise fielen die Ideen R.s auf fruchtbaren Boden, auch weil zeitgleich und unabhängig von ihr Edward H. Chamberlin zu ähnlichen Ergebnissen gelangte. Er veröffentlichte 1933 sein Werk The Theory of Monopolistic Competition und prägte den Begriff „monopolistische Konkurrenz“. Weiterhin leistete → Heinrich von Stackelberg mit seiner Kritik an R. und seinem Marktformenschema einen wichtigen Beitrag zur Preistheorie. • In den 1950er-Jahren forschte R. auf dem Gebiet der Konjunkturtheorie und nach längeren Vorarbeiten erschien 1956 ihr Buch The accumulation of capital (dt.: Die Akkumulation des Kapitals, 1958). In diesem Werk, das teilweise Spuren eines marxistischen Einflusses aufweist, geht sie der Frage nach den Bedingungen eines stetigen Wachstums nach und entwickelt, aufbauend auf der Keynesschen Kreislaufanalyse, ihre eigene Wachstumskonzeption. Insbesondere geht es R. um eine Analyse der effektiven Nachfrage in Verbindung mit dem Problem der langfristigen Entwicklung. Die Keynessche Kreislaufanalyse und die aus ihr hervorgegangene Wachstumstheorie unterscheiden sich durch ihren Zeithorizont: Die kurzfristig konzipierte Keynessche Analyse befasste sich insbesondere mit der Wirkung von Änderungen der wirksamen

Wichtige Publikationen

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Nachfrage auf Volkseinkommen und Beschäftigung bei gegebener Produktionskapazität (sog. Short-run-Analyse). Die Wachstumstheorie dagegen macht gerade die Ursachen und Wirkungen von langfristigen Änderungen der Produktionskapazität zu ihrem Untersuchungsobjekt, wobei sie ihrerseits meist von kurz- und mittelfristigen Ausnutzungsschwankungen des Produktionspotentials (z. B. durch saisonale oder konjunkturelle Einflüsse) absieht. In ihrem Werk Die Akkumulation des Kapitals versuchte R. die kurzfristige Keynessche Analyse in einen Langfristrahmen zu integrieren und somit zu verallgemeinern. Sie ging der Frage nach, unter welchen Voraussetzungen eine Wirtschaft über lange Zeit stetig wachsen kann und konnte schließlich zeigen, dass hierzu Produktion, Arbeitskräftepotenzial und technischer Fortschritt parallel wachsen müssen. Diesen Gleichgewichtspfad bezeichnete sie als „golden age“, als „goldenes Zeitalter“. • Robinson gilt als der führende Kopf des Linkskeynesianismus. Hesse (2009) nennt sie „eine der prominentesten Gestalten der Ökonomie im 20. Jahrhundert und ganz sicher die bedeutendste Frau auf einem von Männern dominierten Gebiet“ (S. 459). Mehr als 50 Jahre blieb R. „eine überzeugte Kritikerin der klassischen Orthodoxie und eine dominierende, ja furchterregende Erscheinung in der englischsprachigen akademischen Welt“ (Galbraith 1988, S.  220). Die streitlustige Ökonomin kritisierte die Lehre der Neoklassik ebenso wie einige Aspekte der Theorie von Keynes. Sie war die erste Ökonomin, die die Werke von Karl Marx von einem rein ökonomischen Standpunkt analysierte und ihn wieder in der wirtschaftswissenschaftlichen Debatte hoffähig machte. Dennoch wurde ihr von marxistischer Seite vorgeworfen, dass sie zwar „die Widersprüche im Kapitalismus erkannte und brandmarkte, aber einen Ausweg notwendigerweise nur in der Reformierung und Vervollkommnung der gegebenen Ordnung sieht“ (Krause/ Graupner/Sieber, S. 461).

Wichtige Publikationen • The economics of imperfect competition, 1933 • Essays in the theory of employment, 1937 • An essay on marxian economics, 1942 (dt.: Grundprobleme der Marxschen Ökonomie, 1951) • The future of industry, 1943 • The problem of full employment, 1943 (dt.: Das Problem der Vollbeschäftigung, 1949) • The production function and the theory of capital, 1953 • The accumulation of capital, 1956 (dt.: Die Akkumulation des Kapitals, 1958) • Exercises in economic analysis, 1960 • Economic philosophy: An essay on the progress of economic thought, 1962 (dt.: Doktrinen der Wirtschaftswissenschaft, 1965) • Essays in the theory of economic growth, 1962

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• Freedom and necessity: An introduction to the study of society, 1970 (dt.: Die Gesellschaft als Wirtschaftsgesellschaft 1971) • Economic Heresies: Some old fashioned questions in economic theory, 1971 (dt.: Ökonomische Theorie als Ideologie, 1974) • An introduction to modern economics, 1973 (dt.: Einführung in die Volkswirtschaftslehre, 1974) • Aspects of development and underdevelopment, 1979

Literatur B. Finke: Die Unbequeme, in: SZ, 03.04.2015 J. K. Galbraith: Die Entmythologisierung der Wirtschaft (1988) G. Harcourt/P. Kerr: Joan Robinson (2009) Hesse (2009), S. 459 Krause/Graupner/Sieber (1989), S. 459–461 Linß (2014), S. 169–173 C. Nesshöver: Trend zur Ausbeutung – Joan Robinson: „The Economics of Imperfect Competition“, in: Die Zeit, 16.09.1999 L. Nienhaus: Normale Zeiten gibt es nicht, in: FAS, 10.08.2013 Piper (1996), S. 176–181 Söllner (2015), S. 68–71 u. 82–83 Stavenhagen (1964), S. 337–339

von Stackelberg, Heinrich

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Wächter, Ökonomen auf einen Blick, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29069-6_67

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Leben & Karriere • Stackelberg, Sohn eines deutsch-russischen Fabrikdirektors, hat mit seinen wohlhabenden Eltern, die beide adliger Herkunft waren, die ersten zwölf Jahre seines Lebens in Moskau und in Jalta auf der Krim gelebt. Zusammen mit seinem jüngeren Bruder erhielt er Privatunterricht von einem Hauslehrer. • Nach dem Zusammenbruch des Zarenreiches und der Besetzung der Krim flüchtete die Familie nach Ratibor (Oberschlesien), wo S. von 1919 bis 1923 das deutsche Gymnasium besuchte. • 1923 übersiedelte die Familie von Ratibor nach Köln, wo S. kurze Zeit ein humanistisches Gymnasium besuchte und im Frühjahr 1924 die Abiturprüfung ablegte. • Gleich nach dem Abitur immatrikulierte S. sich an der Universität zu Köln. Er nahm zuerst ein Mathematikstudium auf, wechselte jedoch schon bald zur Volkswirtschaftslehre über. Nach sieben Semestern legte er im Dezember 1927 die Diplomprüfung ab. Seine Diplomarbeit schrieb er über Die Quasi-Rente bei A. Marshall. • Von 1928 bis 1935 war S. als Assistent am Staatswissenschaftlichen Seminar tätig. • 1930 promovierte sich S. mit der Dissertation Grundlagen einer reinen Kostentheorie zum Dr. rer. pol. • Im Dezember 1931 trat S.  – er war bereits seit seiner Jugend Mitglied in mehreren völkisch-­nationalen und rechtsextremen Organisationen – der NSDAP bei und war drei Jahre der Führer der nationalsozialistischen Studentenschaft in Köln. 1933 trat er freiwillig der SS bei. • Studienreisen führten S. 1932 nach Österreich und Italien, wo er herausragenden Theoretikern seines Faches (z. B. Luigi Amoroso) begegnete. • 1935 habilitierte sich S. mit der Schrift Marktform und Gleichgewicht. Diese Arbeit „behandelt die mathematische Analyse eines asymmetrischen Dyopols, d. h. Konkurrenz zweier Unternehmen, wovon sich das eine aktiv, das andere reaktiv verhält. Darin besteht sein nachhaltigster Beitrag zur Wirtschaftstheorie“ (I. L. Collier). • Im gleichen Jahr begründete er zusammen mit Hans Peter und Erich Schneider das Archiv für mathematische Wirtschafts- und Sozialforschung, das er bis 1942 herausgab. • 1937 wurde S. an der Universität Berlin, wo er schon seit 1935 als Dozent lehrte, zum außerordentlichen Professor ernannt. Hier verfasste er in rascher Folge Arbeiten zur Preis-, Kapital-, Zins- und Wechselkurstheorie sowie zur Spartheorie. • Von 1938 bis 1940 bekleidete S. eine führende Position im nationalsozialistischen Arbeitswissenschaftlichen Institut (AWI), eine Unterorganisation der Deutschen Arbeitsfront. Jedoch scheint sich S. in dieser Zeit schon vom Nationalsozialismus distanziert zu haben. Denn „seit 1939 hatte S. engen Kontakt zum Kreis liberal gesinnter Wirtschaftswissenschaftler um Walter Eucken und Erwin v. Beckerath“ (K. Borchardt).

Werk & Wirkung

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• Nach zweijährigem Kriegsdienst wurde S. 1941 ordentlicher Professor in Bonn. Jedoch führten mehrfache Einberufungen zum Kriegsdienst zu Unterbrechungen seiner Lehrtätigkeit. Trotzdem gelang es ihm, seine Grundlagen der theoretischen Volkswirtschaftslehre fertigzustellen. Es war „das erste Lehrbuch in deutscher Sprache, das systematisch in die neoklassische Theorie einführte“ (K. Borchardt). • Die letzten drei Jahre seines Lebens verbrachte S. als Gastprofessor am Instituto de Estudios Politicos (Sección de Economia) der Universität Madrid. Hier wurde auch sein Lehrbuch ins Spanische übersetzt, und es erschien sogar noch vor der deutschen Ausgabe. S. verfasste noch eine Reihe von Aufsätzen und war an der Gründung der Revista de Economia Politica beteiligt, bevor er im Alter von 41 Jahren nach einer langen und schweren Krankheit starb.

Werk & Wirkung • Die zwei Hauptwerke von Stackelberg sind Marktform und Gleichgewicht (1934) und sein im Jahre 1943 veröffentlichtes Werk Grundzüge der theoretischen Volkswirtschaftslehre, das ab 1948 unter dem Titel Grundlagen der theoretischen Volkswirtschaftslehre erschien. Es war das erste deutschsprachige Lehrbuch, welches systematisch in die neoklassische VWL einführt. Die in sehr nüchternem und mathematischem Stil verfassten Grundlagen wurden zum (deutschen) Standardwerk der Nachkriegszeit, das später auch in die englische Sprache übersetzt wurde. • Eine herausragende Leistung von S. ist seine Entwicklung des Marktformenschemas, das die Strukturform von Märkten hinsichtlich der Möglichkeiten ihrer Preisbildung aufzeigt. Im Kern geht es darum, herauszufinden, bei welchen Marktformen sich ein Gleichgewicht der Preise einstellt bzw. bei welchen ein solches Gleichgewicht nicht zustande kommt. S. kommt im Ergebnis seiner Untersuchung auf neun verschiedene Marktformen, die sich daraus ergeben, dass sowohl auf der Nachfrageseite als auch auf der Angebotsseite drei Formen möglich sind, die sich aus der Anzahl der Marktteilnehmer (einer  – weniger  – viele) ergeben. Diese neun Marktformen stellt S. in einem morphologischen Kasten dar (siehe Abb. 67.1). • Im Zusammenhang mit seiner Lehre der Marktformen hat S. die Lehre vom „unvollkommenen Markt“ entwickelt. Dabei ging er von dem Idealmodell des vollkommenen Marktes aus, der in der Marktform der vollständigen Konkurrenz vorliegt und durch die Eigenschaften Preisunabhängigkeit, Unterschiedslosigkeit und Freiheit des Tausches charakterisiert ist: „1. Die Preise sind für jede Wirtschaftseinheit Plandaten, d. h. der einzelne Betrieb und der einzelne Haushalt richten sich nach den jeweils geltenden Preisen, ohne sie irgendwie abän-

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Nachfrage: viele

wenige

einer

viele

vollständige Konkurrenz

Nachfrageoligopol

Nachfragemonopol

wenige

Angebotsoligopol

Zweiseitiges Oligopol

Beschränktes Nachfragemonopol

einer

Angebotsmonopol

Beschränktes Angebotsmonopol

Zweiseitiges Monopol

Angebot:

Abb. 67.1  Das Marktformenschema von Stackelberg. (Quelle: Stackelberg: Grundlagen der theoretischen Volkswirtschaftslehre, Bern 1948, S. 235) dern oder beeinflussen zu wollen. Ist diese Sachlage gegeben, so wollen wir sagen, daß das Prinzip der Preisunabhängigkeit erfüllt ist.“ „2. Auf einem Markte kann zu jedem Zeitpunkt für jede Gutsart nur ein Preis gelten, d. h. es ist nicht möglich, daß Güter gleicher Art und im gleichen Zeitpunkt zu verschiedenen Preisen umgesetzt werden. Diese Eigenschaft bestimmter Marktformen nennen wir im Anschluß an Jevons ‚law of indifference‘ Prinzip der Unterschiedslosigkeit.“ „3. Der Einkauf und der Verkauf jedes Gutes ist frei, d. h. jede Wirtschaftseinheit kann ihren Einkauf und ihren Verkauf beliebig gestalten, ohne unter irgendwelchen Rationierungs-, Kontingentierungs-, Verwendungs- oder Lieferungszwang zu stehen. Diese ­Bedingung wollen wir als Prinzip der Freiheit des Tausches bezeichnen (Stackelberg: Grundlagen, S. 185).“

• Ausgehend vom vollkommenen Markt untersucht S., wann ein unvollkommener Markt vorliegt und kommt zu dem Ergebnis, dass dieser vorliegt, wenn das Prinzip der Unterschiedslosigkeit aufgehoben ist. Dies ist der Fall, wenn sich aufgrund von Differenzierungen Präferenzen herausbilden und die Güter somit nicht mehr als gleichartig angesehen werden. S. unterschiedet diesbezüglich vier Arten: –– sachliche Präferenzen: z. B. Verpackung, Handelsmarke, Reklame –– personelle Präferenzen: z.  B.  Geschäftsbeziehungen, Sympathie oder Antipathie, Ruf des Unternehmens (Image) –– räumliche Präferenzen: z. B. Kauf beim benachbarten Lieferanten, auch wenn dieser etwas teurer ist zeitliche Präferenzen: z. B. unterschiedliche Preise je nach Liefertermin „Ein Markt, auf dem die sachlichen, personellen, räumlichen und zeitlichen Bedingungen des Prinzips der Unterschiedslosigkeit erfüllt sind, heißt vollkommener Markt. Ist auch nur eine dieser Bedingungen nicht erfüllt, so haben wir es mit einem unvollkommenen Markt zu tun (Stackelberg: Grundlagen, S. 221).“

Werk & Wirkung

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Tatsächlich ist ein vollkommener Markt unrealistisch oder zumindest äußerst unwahrscheinlich; vielmehr werden die Marktverhältnisse von Oligopolisten beherrscht. • Bedeutsam ist seine Erkenntnis, dass auf oligopolistischen Märkten die Preisbildung nicht zu einem Gleichgewicht führt  – ausgenommen die asymmetrischen Dyopole, Oligopole sowie zweiseitige Monopole. In einem Dyopol, also auf einem Markt mit nur zwei Anbietern, ist nur dann ein stabiles Gleichgewicht möglich, wenn einer der beiden über eine deutlich stärkere Marktmacht verfügt als der andere und der Schwächere sich dem Stärkeren unterwirft: „Ein Gleichgewicht ist erst gegeben, wenn der eine Dyopolist sein Unabhängigkeitsangebot und der andere sein Abhängigkeitsangebot auf den Markt bringt. Wir nennen dieses Typ ‚asymmetrisches Dyopol‘. Aber dieses Gleichgewicht ist labil, weil der zunächst Unterlegende jederzeit den Kampf wieder aufnehmen kann. Nur wenn der eine Dyopolist wirtschaftlich wesentlich stärker erscheint als der andere, wird er sich die günstigste Marktposition zu sichern wissen und den anderen auf die zweitbeste verweisen. Möglicherweise aber werden die Dypolisten sogar versuchen, sich gegenseitig ganz aus dem Markte zu verdrängen, so daß die ‚ruinöse Konkurrenz‘ in ihrer schärfsten Form entbrennt. Nur die Einigung zu einem Kollektivmonopol oder die staatliche Ordnung des Marktes können dem Kampf ein Ende bereiten und ein Gleichgewicht herbeiführen (Stackelberg: Grundlagen, S. 211).“

• Da infolge von Konzentrationsprozessen den oligopolistischen Märkten eine besondere Bedeutung zukommt, fordert S., dass der Staat eingreifen und somit die Ordnung wieder herstellen bzw. sicherstellen solle. Die Rolle, die S. dem Staat beimisst, ist kritisch zu beurteilen, da er einen faschistischen Staat bzw. eine faschistische Wirtschaftspolitik vor Augen hatte. Piper (1996) weist auf Unstimmigkeiten in Stackelbergs Werken hin: „Einerseits entwickelte er 1942 Pläne für ein europäisches Währungssystem nach dem Sieg der Nazis ganz nach Nazizuschnitt. … Andererseits kam er in seinem Vortrag von 1943 über Wirtschaftslenkung den ordnungspolitischen Vorstellungen Walter Euckens sehr nahe. Die Widersprüche sind heute nicht mehr aufzuklären“ (S. 153). • Stavenhagen hebt in seiner Geschichte der Wirtschaftstheorie (1964) hervor, dass die von S. gewonnenen Einsichten über die seiner Vorgänger hinausgehen, weil er, „obgleich ausgehend vom Verhalten der einzelnen Wirtschaftseinheiten, sich nicht wie Robinson und Chamberlin mit einer Partialanalyse begnügt, sondern stets bemüht ist, die Auswirkungen des wirtschaftlichen Geschehens auf die Gesamtwirtschaft zu bestimmen“ (S. 347). Kolb konstatiert: „Die Lehre vom unvollkommenen Markt … erfuhr in Verbindung mit der Lehre von den Marktformen 1934  in Heinrich v. Stackelbergs ‚Marktform und Gleichgewicht‘ ihre maßgebliche Systematisierung“ (S. 139). Sogar von marxistischer Seite wird anerkannt, dass „vor allem seine Untersuchungen zur Marktformenlehre … über das zeitgenössische Niveau hinausgehende Elemente für die theoretische Fundierung der staatsmonopolistischen Wirtschaftspolitik, wenn auch mit profaschistischer Interpretation, enthalten“. Auch dass S. „sich vorbehaltlos für die Mathematisierung der Wirtschaftstheorie einsetzte … in einer Zeit, da die offizielle faschistische Ideologie der Mathematisierung der ökonomischen Theorie ablehnend

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gegenüberstand, charakterisiert ihn als einen weitblickenden“ Ökonomen (vgl. Krause/ Graupner/Sieber, S. 543). V. F. Wagner schreibt im Vorwort zur zweiten Auflage der Grundlagen, dass S. insbesondere „auf dem Gebiete der Kosten, der monopolistischen Marktformen und des Kapitals, und damit des Zeitproblems … Eigenes und Grundlegendes geleistet“ und sich „in kurzer Zeit in der internationalen Fachwelt einen Namen gemacht“ habe.

Wichtige Publikationen • • • •

Grundlagen einer reinen Kostentheorie, 1932 Marktform und Gleichgewicht, 1934 Grundzüge der theoretischen Volkswirtschaftslehre, 1943 Grundlagen der theoretischen Volkswirtschaftslehre, 1948

Literatur Knut Borchardt: Stackelberg, in: NDB, Bd. 24 (2010), S. 779–780 HdSW (1956), Bd. 9, S. 770–772 Hesse (2009), S. 528–529 Irwin L. Collier: Stackelberg, in: Deutsche Biographische Enzyklopädie, Bd. 9 (1998), S. 426 Kolb (2004) Krause/Graupner/Sieber (1989), S. 541–543 Linß (2014), S. 102–106 Piper (1996), S. 149–154 Stavenhagen (1964), S. 339–347

Georgescu-Roegen, Nicholas

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Wächter, Ökonomen auf einen Blick, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29069-6_68

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Leben & Karriere • Georgescu-Roegen, Sohn eines Hauptmanns und einer Lehrerin, zeigte schon früh eine außergewöhnliche Begabung für Mathematik und erhielt daher ein Stipendium für die renommierte Militärschule in Bukarest. • Anschließend studierte er Mathematik in Bukarest, später auch als Stipendiat an der Sorbonne in Paris. Ein weiteres Stipendium ermöglichte ihm ein Studium am University College in London. • 1930 promovierte G.-R. über latente zyklische Bestandteile von Zeitreihen. • 1932 übernahm G.-R. eine Professur für Statistik in Bukarest. • 1934 ging G.-R. als Rockefeller Visiting Fellow nach Cambridge an die Harvard-­ Universität. Hier machte der gelernte Mathematiker auch Bekanntschaft mit → J. A. Schumpeter, der sein Interesse für ökonomische Fragestellungen weckte. • 1936 kehrte G.-R. nach Rumänien zurück, um in seiner Heimat Entwicklungshilfe zu leisten. In Bukarest nahm er wieder seine Professur für Statistik auf, die er bis 1942 ausübte. Als Mitglied des Zentralkomitees der Bauernpartei beschäftige er sich mit der Agrarwirtschaft. Dabei musste er feststellen, dass die Lehren der Mainstream-­ Ökonomie sich nicht anwenden ließen auf die praktischen Probleme einer agrarisch geprägten Wirtschaft. Dies veranlasste ihn, die Wirtschaftstheorie zu modifizieren. Vor allem Schwierigkeiten beim Erhalt der Bodenfruchtbarkeit führten ihn dazu, sich mit bioökonomischen Fragestellungen und dem Zusammenhang von Entropie und Ökonomie zu befassen. • 1944 wurde G.-R. Generalsekretär der rumänischen Waffenstillstandskommission und war in dieser Funktion in die Nachkriegsverhandlungen mit der Sowjetunion involviert. • Seine exzentrische Position gegenüber dem orthodoxen Marxismus und seine kritische Haltung zur Sowjetunion zwangen G.-R. und seine Frau im Februar 1948 zur Flucht vor dem kommunistischen Regime. Versteckt auf einem Schiff gelangten sie nach Istanbul und emigrierten über Frankreich in die USA, wo G.-R. zunächst wieder für ein Jahr in Harvard tätig war. • 1949 erhielt G.-R. eine Professur an der Vanderbilt-Universität in Nashville/Tennessee, wo er bis zu seiner Pensionierung im Jahr 1976 einen Lehrstuhl für Ökonomie innehatte. Daneben lehrte er auch ein Jahr in Genf (1974) und später in Straßburg (1977/1978). • 1973 wurde G.-R. als Mitglied in die American Academy of Arts and Sciences aufgenommen. In den Jahren 1976, 1980 und 1983 wurden ihm drei Ehrendoktorwürden in Europa und den USA zuteil.

Werk & Wirkung

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Werk & Wirkung • Georgescu-Roegen verfasste über 200 Schriften, von denen jedoch gerade einmal drei Titel in deutscher Sprache verfügbar sind. In seinen früheren (sehr mathematisch orientierten) Arbeiten befasste G.-R. sich mit der Nutzen-Theorie und der Input-Output-­ Analyse. Später wandte er sich dem Wachstumsproblem zu. Sein Hauptwerk ist das 1971 erschienene Buch The entropy law and the economic process (dt. Das Entropiegesetz und der Wirtschaftsprozess). Es steht am Anfang einer ganzen Reihe von Abhandlungen, die seit Mitte der 1970er-Jahre erschienen und „die der damals im Entstehen begriffenen ökologischen Ökonomie zuzuordnen sind“ (vgl. Söllner, S. 256). Die ökologische Ökonomie – G.-R. bevorzugte den Begriff „Bioökonomie“ – vereint Erkenntnisse der Ökonomie mit der Ökologie und den Naturwissenschaften, insbesondere der Physik und Biologie. Im Zentrum steht die Problematik, die sich daraus ergibt, dass das Wirtschaften und die Natur (mit ihren begrenzten Ressourcen) untrennbar miteinander verbunden sind. • In dem Aufsatz Was geschieht mit der Materie im Wirtschaftsprozeß? (1974) kritisiert Georgescu-Roegen, dass das überlieferte wirtschaftswissenschaftliche Denken immer noch von einem mechanistischen Leitbild aus der Physik geprägt sei und der Wirtschaftsprozess als „Pendelbewegung zwischen Produktion und Konsum“ aufgefasst werde. Demgegenüber fordert G.-R., die Dimension der Natur ebenfalls zu berücksichtigen. Entsprechend dem ersten Hauptsatz der Thermodynamik könne der Mensch Materie bzw. Energie auch in der Wirtschaft weder schaffen noch vernichten. Demzufolge kann der Mensch Materielles gar nicht produzieren; er absorbiert vielmehr Materie bzw. Energie und gibt sie fortwährend wieder von sich. In dem Zusammenhang beschäftigt sich G.-R. mit dem Begriff der Entropie, den er als „ein Maß der nicht verfügbaren Energie in einem thermodynamischen System“ definiert. Unter diesem Gesichtspunkt treten Materie bzw. Energie in einen Zustand der niedrigen Entropie in den Wirtschaftsprozess ein und verlassen diesen in einem Zustand der hohen Entropie. Entscheidend ist dabei, dass die verfügbare Energie durch den Abbau und die Verwendung von nichterneuerbaren Ressourcen abnimmt. Damit stelle sich aber nicht nur die Frage nach der Weiterexistenz des industriellen Systems überhaupt; es sei, so G.-R., die „Schicksalsfrage der Menschheit“. „(…) Energie kommt in zwei qualitativen Zuständen vor – als verfügbare oder freie Energie, über die der Mensch fast uneingeschränkt gebietet, und nichtverfügbare oder gebundene Energie, die zu gebrauchen dem Menschen verwehrt ist. Die in einem Stück Kohle enthaltene Energie ist freie Energie, weil sie sich in Wärme oder, wenn man will, in mechanische Arbeit verwandeln läßt. Aber die phantastische Menge von Wärmeenergie, die beispielsweise im Wasser des Ozeans gefangen ist, ist gebundene Energie. Schiffe können über sie hinwegfahren, aber sie brauchen dazu freie Energie in Form von Brennstoff oder Wind.

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Wenn ein Stück Kohle verbrannt wird, tritt weder eine Verringerung noch eine Vergrößerung seiner chemischen Energie ein. Aber die ursprüngliche freie Energie ist in Gestalt von Wärme, Rauch und Asche so zerstreut worden, daß sie für den Menschen unbrauchbar geworden ist. Sie ist zu gebundener Energie herabgesunken. Freie Energie ist Energie, die ein Gefälle zeigt, wie etwa das zwischen der Temperatur innerhalb und außerhalb eines Heizkessels. Gebundene Energie andererseits ist chaotisch zerstreute Energie. (…) Freie Energie setzt eine gewisse geordnete Struktur voraus (…). Gebundene Energie ist unordentlich verzettelte Energie (…). Deshalb wird Entropie auch als Maß der Unordnung bezeichnet. Das passt zur Tatsache, daß ein Stück Kupferblech eine niedrigere Entropie aufweist als das Kupfererz, aus dem es gewonnen wurde. (…) Im allgemeinen entartet die freie Wärmeenergie eines abgeschlossenen Systems kontinuierlich und unwiderruflich zu gebundener Energie. Die Übertragung dieser Feststellung von der Wärmeenergie auf alle anderen Arten von Energie führt zur Aufstellung des Zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik, auch Entropiesatz genannt. Dieser besagt, daß die Entropie (das heißt die Menge von gebundener Energie) eines abgeschlossenen Systems kontinuierlich wächst, bzw. daß die Ordnung eines solchen Systems immer mehr in Unordnung übergeht. (…) Praktisch alle Organismen leben von niedriger Entropie in der unmittelbar in der Umwelt vorgefundenen Form. Der Mensch ist die auffälligste Ausnahme: er kocht den größten Teil seiner Nahrung und setzt Bodenschätze in mechanische Arbeit oder in Gebrauchsgüter um. (…) Die Nationalökonomen betonen gern, daß wir nichts für nichts erhalten. Der Entropiesatz lehrt uns, daß die Regeln der biologischen Existenz und – im Falle des Menschen – der wirtschaftlichen weit strenger sind. Ihm zufolge sind die Kosten irgendeines b­ iologischen oder ökonomischen Vorgangs stets größer als der Nutzen, der dabei herausschaut. So betrachtet, führt jede derartige Tätigkeit so oder so zu einem Defizit. Die früher gemachte Feststellung – nämlich, daß der ökonomische Prozeß vom rein physikalischen Standpunkt aus nur wertvolle natürliche Stoffe (niedrige Entropie) in Abfall (hohe Entropie) verwandelt – ist damit vollumfänglich bestätigt. Doch die Rätselfrage, weshalb dieser Prozeß weitergehen sollte, ist noch nicht gelöst. Sie wird uns solange undurchsichtig bleiben, bis wir uns davon Rechenschaft abgegeben haben, daß der eigentliche Ertrag des ökonomischen Prozesses nicht ein materieller Strom von Abfällen, sondern ein immaterieller ist: der Lebensgenuß. (…) Die freie Energie, zu der der Mensch Zugang hat, kommt aus zwei verschiedenen Quellen. Die erste ist ein Vorrat, der Vorrat freier Energie in den Mineralvorkommen des Erdinnern. Die zweite ist ein Fluß, der Fluß der von der Erde eingefangenen Sonnenstrahlung. Zwischen diesen beiden Quellen gibt es verschiedene Unterschiede, auf die gut geachtet werden sollte. Der Mensch beherrscht die Schätze der Erde nahezu unbeschränkt; es wäre denkbar, daß wir sie alle in einem Jahr aufbrauchen würden. Die Sonnenstrahlung dagegen entzieht sich praktisch seiner Kontrolle. (…) Nur die terrestrische liefert uns die Stoffe mit niedriger Entropie, aus denen wir unsere wichtigsten Geräte herstellen. (…) Und schließlich: der terrestrische Vorrat ist im Vergleich mit dem der Sonne eine dürftige Quelle. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird die Sonne noch fünf Milliarden Jahre scheinen, und während dieser Zeit wird die Erde von ihr beträchtliche Energiemengen beziehen. Der gesamte terrestrische Vorrat dagegen würde – es ist kaum zu glauben – nur für wenige Tage Sonnenlicht ausreichen. (…) Das Problem der wirtschaftlichen Verwendung des terrestrischen Vorrats an niedriger Entropie (…) ist die eigentliche Schicksalsfrage der Menschheit.

Werk & Wirkung

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Um dies klar zu machen, wollen wir den gegenwärtigen Vorrat an niedriger Entropie terrestrischer Herkunft mit S bezeichnen und die Menge, um die es sich durchschnittlich alljährlich vermindert, mit r. Wenn wir (was wir hier ohne weiteres dürfen) von der langsamen naturbedingten Abnahme von S absehen, so verstreichen theoretisch höchstens S/r Jahre bis der Vorrat völlig erschöpft ist. Dies ist auch die Zahl der Jahre, die vergehen wird, bis die industrielle Phase der Entwicklung der Menschheit gezwungenermaßen abbricht. (…) Sei dem wie es wolle, es bleibt bei der Tatsache: je höher die wirtschaftliche Entwicklung, desto größer die jährliche Abnahme der Vorräte und demgemäß desto kürzer die Lebenserwartung der menschlichen Spezies. (…) Mit anderen Worten: jeder Cadillac, der vom Band läuft, wird in Zukunft Menschenleben kosten. Wirtschaftliche Entwicklung durch industriellen Überfluß mag für uns und für diejenigen, die unserer Nachfahren, welche sie in nächster Zukunft noch genießen können, eine Wohltat sein. Sie verstößt aber eindeutig gegen die Interessen der Menschheit als gan zes (…).“ (Quelle: N. Georgescu-Roegen: Was geschieht mit der Materie im Wirtschaftsprozeß? In: Brennpunkte (gdi-topics), 1974, H. 2, S. 17–28. Auch in W. Reiß: Mikroökonomische Theorie, 6. Aufl., München 2007, S. 560–571.)

• Seine düsteren Prognosen veranlassten G.-R. im Jahr 1978, einen Aufruf an die Wirtschaftswissenschaftler zu verfassen, den über 200 Fachkollegen unterzeichneten: Für eine menschliche Ökonomie „Die Entwicklung unseres weltweiten Haushalts ‚Erde‘ nähert sich einer Krise, von deren Lösung das Überleben des Menschen abhängt, einer Krise, deren Dimensionen sich an den steigenden Bevölkerungszahlen, dem unkontrollierbaren industriellen Wachstum und der Umweltverschmutzung sowie drohenden Hungersnöten, Kriegen und dem biologischen Zusammenbruch ablesen lassen. Diese Entwicklung ist jedoch nicht nur von unerbittlichen Naturgesetzen, sondern vor allem von dem menschlichen Willen bestimmt worden, der auf die Natur einwirkt. Der Mensch hat sein Schicksal in einer langen Geschichte von Entscheidungen geformt, für die er selbst verantwortlich ist; er kann den Kurs dieses Schicksals durch neue, bewußte Entscheidungen, durch eine neue Willensanstrengung ändern. Dafür bedarf es zunächst jedoch einer neuen Sichtweise der Dinge. Als Ökonomen haben wir vor allem die Aufgabe, wirtschaftliche Prozesse in ihren Abläufen zu beobachten, zu beschreiben und zu analysieren. In den letzten zweihundert Jahren sind die Ökonomen zunehmend zu Stellungnahmen aufgefordert worden, und sie haben sich nicht darauf beschränkt, die Wirtschaftsordnung zu analysieren, zu beschreiben, meßbar zu machen und Theorien aufzustellen, sondern sie haben auch Ratschläge erteilt, geplant und auf den Ablauf wirtschaftlicher Angelegenheiten aktiv eingewirkt. Die Macht – und damit auch die Verantwortung – der Ökonomen hat außerordentlich zugenommen. In der Vergangenheit ist Produktion als Wohltat betrachtet worden. Daß sie auch nachteilige Folgen hat, ist erst in jüngster Zeit sichtbar geworden. Produktion verschlingt notwendigerweise unsere endlichen Vorräte an Rohstoffen und Energie, während sie gleichzeitig unsere ebenfalls nur begrenzt aufnahmefähigen ökologischen Systeme mit den Abfällen ihrer Herstellungsprozesse überschwemmt. Das herkömmliche Maß des Ökonomen für die nationale und soziale Gesundheit ist das Wachstum gewesen. Aber das andauernde industrielle Wachstum in bereits hochindustrialisierten Gebieten ist nur von begrenztem Wert; die gegenwärtige Produktion wächst auf Kosten zukünftiger Produktion und auf Kosten der empfindlichen, mehr und mehr bedrohten Umwelt.

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Die Tatsache, daß unser System endlich ist und es keinen grenzenlosen Energieverbrauch geben kann, konfrontiert uns an jeder Stelle des wirtschaftlichen Prozesses, in der Planung, der Entwicklung und der Produktion, mit einer moralischen Entscheidung. (…) Wir rufen unsere Kollegen auf, ihre Rolle bei der Verwaltung unserer irdischen Heimat wahrzunehmen und sich den Bemühungen anderer Wissenschaftler und Planer, anderer Männer und Frauen aus allen Gebieten des Denkens und Strebens anzuschließen, um das überleben der Menschheit zu sichern. (…) Wir müssen eine neue Ökonomie entwickeln, deren Zweck es ist, mit den Vorräten hauszuhalten und eine rationale Kontrolle über die Entwicklung und Anwendung von Technologien in den Sinne zu erlangen, daß sie – statt steigenden Profiten, der K ­ riegführung oder dem nationalen Prestige – den wahren menschlichen Bedürfnissen dienen. Wir brauchen eine Ökonomie des Überlebens oder mehr noch, der Hoffnung – die Theorie und die Einsicht für eine weltweite Wirtschaft, die sich auf Gerechtigkeit gründet und es ermöglicht, den Reichtum der Erde in der Gegenwart und in der Zukunft gleichmäßig unter ihren Bewohnern zu verteilen. Es ist einsichtig, daß wir eine separate Nationalökonomie sinnvollerweise nicht länger in Betracht ziehen können, ohne ihre Beziehungen zu einem größeren, weltweiten System zu berücksichtigen. Aber die Ökonomen können mehr tun als nur die komplizierten Beziehungen zwischen wirtschaftlichen Einheiten zu messen und zu beschreiben. Wir können aktiv an einer neuen Rangordnung von Prioritäten arbeiten, die die engen Interessen nationaler Souveränität überwindet und stattdessen den Interessen der Weltgemeinschaft dient. Wir müssen das Ideal des Wachstums, das als Ersatz für die gleichmäßige Verteilung des Wohlstands gedient hat, durch eine menschlichere Sichtweise ersetzen, in der Produktion und Konsum den Zielen des Überlebens und der Gerechtigkeit untergeordnet sind. Gegenwärtig kommt eine Minorität der Erdbevölkerung in den Genuß eines unangemessenen hohen Prozentsatzes an Rohstoffen und industriellen Kapazitäten. Diese industriellen Wirtschaftssysteme, kapitalistische wie sozialistische, müssen Wege der Zusammenarbeit mit den Wirtschaftssystemen der Entwicklungsländer finden, um das Ungleichgewicht zu korrigieren, ohne einen ideologischen oder imperialistischen Wettstreit zu verfolgen und ohne die Menschen auszubeuten, denen zu helfen sie beabsichtigen. Will man eine gleichmäßige Verteilung des Wohlstands in der Welt erreichen, so müssen die Menschen der Industrienationen auf das gegenwärtig scheinbar uneingeschränkte Recht verzichten, was immer ihnen an Quellen zugänglich ist, auszuschöpfen, und wir als Ökonomen müssen unseren Teil dazu beitragen, die menschlichen Werte auf dieses Ziel hin neu zu formieren. (…) Zur Zeit verfügen die Menschen über den Reichtum und die Technologie, die ihnen nicht nur ermöglichen, für eine lange Zeit zu überleben, sondern auch, für sich und alle ihre Kinder eine Welt zu schaffen, in der es sich mit Würde, Hoffnung und Behaglichkeit leben läßt; aber sie müssen sich dazu entschließen, es zu tun. Wir rufen die Ökonomen auf, eine neue Sichtweise entwerfen zu helfen, die es den Menschen ermöglicht, ihren Reichtum ihren eigenen Interessen gemäß einzusetzen – bei möglichem Dissens über die Einzelheiten der Methode und des Vorgehens, aber ausgesprochener Einigkeit über die Ziele des Überlebens und der Gerechtigkeit.“ (Quelle: Technologie und Politik, rororo aktuell, Bd.  12/1978, S.  87  ff., gekürzt)

• G.-R. gilt als Wegbereiter der Bioökonomie, einer nachhaltigen und umweltverträglichen Wirtschaft, die auf dem Einsatz erneuerbaren Ressourcen basiert. Das große Verdienst von G.-R., der von der Mainstream-Ökonomie zu Unrecht übergangen wird, besteht darin, eine theoretische Begründung dafür geliefert zu haben, welch herausragende Bedeutung die Energie für moderne Volkswirtschaften hat. Der Essay Das En-

Literatur

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tropiegesetz und das Problem der Ökonomie sowie das Hauptwerk Das Entropiegesetz und der Wirtschaftsprozess von G.-R. begründeten nicht nur seinen Ruf in der ­Fachwelt, sondern führten auch zu heftigen Kontroversen unter den Wirtschaftswissenschaftlern. Zugleich ließen die Schriften ihn zu einem Außenseiter der Ökonomenzunft werden. Unbestreitbar übte sein Entropie-Gesetz einen starken Einfluss auf die ökologische Forschung aus. Mit seinen Schriften hatte G.-R. auch „großen Einfluss auf eine Veröffentlichung ausgeübt, die bis heute ungleich bekannter ist: ‚Die Grenzen des Wachstums‘ des Club of Rome. Mit dieser rückte zum ersten Mal in ein breiteres Bewusstsein, dass ein stetiges Wirtschaftswachstum durch die Erschöpfung der Ressourcen in Zukunft an ein Ende geraten könnte“ (G.  Speckmann). Im Jahre 2009 wurde von der deutschen Bundesregierung der Bioökonomierat als ein unabhängiges Beratungsgremium ins Leben gerufen, um die Bioökonomie in Deutschland aktiv voranzutreiben.

Wichtige Publikationen • • • •

Activity Analysis of Production and Allocation, 1951 Analytical Economics. Issues and Problems, 1966 The entropy law and the economic process, 1971 Energy and Economic Myths. Institutional and Analytical Economic Essays, 1976.

Literatur Hesse (2009), S. 185 Kolb (2004), S. 179 N. Piper: Vor uns der Niedergang, in: Die Zeit, 26. 02. 1993 N. Piper: Der Ökonom der Ökologie, in: SZ, 17. 05. 2010 N. Piper: Entwachsen geht nicht, in: SZ, 05. 08. 2016 Reiß (2007), S. 560–573 Söllner (2015), S. 256 E. Seidel/H. Strebel (Hrsg.): Umwelt und Ökonomie. Reader zur ökologieorientierten Betriebswirtschaftslehre, Wiesbaden 1992 G. Speckmann: Der Entropie-Ökonom, in: ND, 25. 10. 2014.

Internet: N. Georgescu-Roegen: The Entropy Law and the Economic Process in Retrospekt (1986), deutsche Erstübersetzung durch das IÖW, Schriftenreihe des IÖW 5/87. Online verfügbar: https://www. ioew.de/uploads/tx_ukioewdb/IOEW_SR_005_Entropy_Law_and_Economic_Process_in_Retrospect.pdf

Galbraith, John Kenneth

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Wächter, Ökonomen auf einen Blick, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29069-6_69

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Leben & Karriere • Nach dem Studium der Agrarwirtschaft in Ontario (seit 1928), wo er 1931 den Bachelor erworben hatte, studierte Galbraith Volkswirtschaftslehre an der Universität von Kalifornien in Berkley und graduierte dort 1933 zum Master. • 1934 promovierte er in Agrarökonomie und erhielt danach einen Lehrauftrag als Dozent an der Harvard-Universität bis 1939. • 1937 nahm G. die US-amerikanische Staatsbürgerschaft an. • Nach einer kurzen Zeit als Assistenzprofessor in Princeton (ab 1939) wurde er in Washington Leiter der Preisabteilung im Büro für Preispolitik und öffentliche Versorgung (Office of Price Administration and Civilian Supply, OPA), wo er sich der Aufgabe widmete, die kriegsbedingte Inflation in den Griff zu bekommen. Seine Preiskontrollen und Preisobergrenzen bei gleichzeitigem Versuch, die Güterqualität von Verbrauchsprodukten zu standardisieren, machten ihn unbeliebt; so musste er schließlich das Amt niederlegen. • 1946 wurde G. zu einem der Direktoren der U.S. Strategic Bombing Survey ernannt, wo er die Auswirkungen der alliierten Bombenangriffe auf die deutsche Kriegsproduktion untersuchen sollte. Die Ergebnisse publizierte er in dem Wirtschaftsbericht The Effects of Strategic Bombing on the German War Economy. • Von Herbst 1943 bis Sommer 1948 arbeitete G. für das Wirtschaftsmagazin Fortune. Diese Tätigkeit war für seine Karriere in zweifacher Hinsicht von Bedeutung: Einerseits lernte er bei Fortune das journalistische Schreiben, andererseits gewann er tiefe Einblicke in die Wirtschaft. In seinen Memoiren schreibt er: „Die Schreibschule bei Harry Luce war … ein Geschenk fürs Leben. Und es zahlte sich auch ansonsten beruflich aus. Mehr als jede andere Zeitschrift in der Industriegesellschaft sah die damalige ‚Fortune‘ den modernen Großkonzern als eine Haupttriebkraft im wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben. Meine mehrjährige Tätigkeit als Autor und Redakteur verschaffte mir einen so differenzierten und intimen Einblick in die Struktur des Konzerns, in seine Betriebsziele und in seinen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Einfluß, wie ich ihn anders nie hätte bekommen können. … Jener Zeit verdanke ich zum Teil auch das Konzept der ‚Technostruktur‘ als das entscheidende Leitungs- und Erneuerungsprinzip in modernen Großkonzernen sowie vieles andere, das später in meine Lehrtätigkeit in Harvard und in ‚Die moderne Industriegesellschaft‘ einfloß. (Galbraith: Leben in entscheidender Zeit, München 1982, S. 269)“

• Neben seiner Tätigkeit als Redakteur bei Fortune hatte G. zeitlebens verschiedene Ämter und wichtige Positionen inne. So unterstützte er beispielsweise John F. Kennedy als Berater im Wahlkampf und war von 1961 bis 1963 Botschafter der USA in Indien. Außerdem war er Vorsitzender der American Democratic Action und seit 1972 Präsident der American Economic Association. Als Direktor des Rates für eine lebenswerte Welt setzte er sich für eine aktive Rüstungskontrolle ein und war ein entschiedener Gegner der (Wirtschafts-)Politik Reagens.

Werk & Wirkung

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Werk & Wirkung • G. zählt zu den einflussreichsten Ökonomen nach dem Zweiten Weltkrieg. In seinen 33 Büchern, die in mehrere Sprachen übersetzt wurden sowie unzähligen Artikeln und Aufsätzen setzte der „Linksaußen“ der Ökonomenzunft sich kritisch mit dem Kapitalismus auseinander. Die populärsten Bücher bilden eine Trilogie: Gesellschaft im Überfluß, Die moderne Industriegesellschaft und Wirtschaft für Staat und Gesellschaft. Seine Theorien wurden heftig und kontrovers diskutiert. Bedeutsam sind insbesondere die Theorie von der Gegenkraft (Gleichgewicht der Wirtschaftskräfte), die Theorie von der Überflussgesellschaft sowie die Theorie vom Entstehen einer Technostruktur. • In seinem 1952 erschienenen Werk American Capitalism. The concept of countervailling power setzte G. der Annahme von der vollständigen Konkurrenz seine „Theorie von der Gegenkraft“ („countervailing power“) gegenüber. Nach dieser Theorie, die G. insbesondere im 9. Kapitel ausführt, erzeugt eine Machtposition eine Gegenkraft, welche die ursprüngliche Macht neutralisiert. „Das Wirken der Gegenkraft“, schreibt G., „ist am deutlichsten auf dem Arbeitsmarkt erkennbar, und dort ist es auch am besten entwickelt“ (S. 130). Neben den Gewerkschaften, die sich auf dem Arbeitsmarkt als Gegenmacht zu den mächtigen Aktiengesellschaften und Großunternehmen gebildet haben, führt er zahlreiche weitere Beispiele an. „Der Gedanke, daß es in der Wirtschaft einen anderen regulierenden Mechanismus geben könnte als den Wettbewerb, war aus dem wirtschaftlichen Denken fast ganz verbannt worden. Als aber die klassische Form des Wettbewerbs größtenteils verschwand und dafür einige wenige Firmen auftauchten, die … unter einer Decke steckten, da konnte dann mühelos angenommen werden, daß mit dem Verschwinden des Wettbewerbs jeder hemmende Einfluß auf die private Wirtschaftsmacht weggefallen war. … Tatsache ist jedoch, daß trotz allem neue Mittel zur Beschränkung der privaten Wirtschaftsmacht an die Stelle des Wettbewerbs getreten sind. Sie erhielten durch den gleichen Konzentrationsprozeß Auftrieb, der den Wettbewerb beeinträchtigte oder vernichtete. Sie zeigten sich jedoch nicht auf der selben Marktseite, sondern auf der Gegenseite, nicht bei den Konkurrenten, sondern bei den Kunden oder Lieferanten. Es wird sich empfehlen, für dieses Gegenstück zum Wettbewerb einen Namen zu prägen. Daher will ich diesen Einfluß hinfort als ‚Gegenkraft‘ bezeichnen. Um mit einem allgemeinen, etwas dogmatischen Satz zu beginnen, kann man sagen, der private Wirtschaftseinfluß wird durch die Gegenkraft jener im Zaun gehalten, die ihm unterworfen sind. Ersterer erzeugt letztere. Die alte Tendenz, industrielle Unternehmungen in den Händen verhältnismäßig weniger Firmen zu konzentrieren, hat nicht nur, wie die Volkswirtschafter annahmen, zur Bildung einer starken Verkäuferschaft, sondern auch, was sie nicht erkannten, zur Bildung einer starken Käuferschaft geführt. Die beiden stehen nebeneinander, zwar nicht Hand in Hand, aber doch so, daß über die gegenseitige Abhängigkeit kein Zweifel bestehen kann. Der Umstand, daß ein Verkäufer einen gewissen Monopoleinfluß besitzt und folglich gewisse Monopolgewinne einstreicht, bildet für die Firmen, bei denen er kauft oder an die er verkauft, den Anreiz, eine Kraft zum Schutze gegen Übervorteilung zu entwickeln.

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Das bedeutet auch, daß diese Firmen, wenn sie dazu imstande sind, einen Anteil am Reingewinn ihrer Gegner – der diesen auf Grund ihrer starken Machtposition zufließen würde – für sich buchen können. Auf diese Weise löst eine einflussreiche Marktposition die Bildung einer anderen Machtposition aus, welche die erstere neutralisiert. Ich stelle damit die ketzerische Behauptung auf, daß der Wettbewerb, der zumindest seit Adam Smith als autonomer Regulator für das wirtschaftliche Tun und neben dem Staat als einziger regulierender Mechanismus galt, bereits überholt ist! (S. 126–128)“

• In The Affluent Society, 1958 (dt. Gesellschaft im Überfluß) weist G. nach, dass die in den USA vorherrschende liberale Wirtschaftsideologie unzulänglich ist. Ihren Ausdruck findet diese Unzulänglichkeit in einem Missverhältnis von privatem Reichtum und privater Verschwendung einerseits sowie öffentlicher Armut andererseits. Zwar sei es der modernen Industriegesellschaft gelungen, die Bedürfnisse der Bevölkerung zu befriedigen. Doch strebe sie nach immer mehr Wachstum und steigere den privaten Konsum, während es im Bereich der öffentlichen Güter keinen vergleichbaren Mechanismus gebe; vielmehr würden die Ausgaben der öffentlichen Hand als Verschwendung empfunden. Hingegen hält G. staatliche Tätigkeiten und Eingriffe in die Wirtschaft für notwendig, z. B. um – wie er es nennt – „ein befriedigendes Verhältnis zwischen dem Angebot privatwirtschaftlicher Güter und Dienste und dem Angebot öffentlicher Dienste“ zu schaffen; dies nennt er „Soziales Gleichgewicht“ (S.  271). Wie schon zuvor → J. M. Keynes vertritt G. die Ansicht, dass ein ausgeglichener Staatshaushalt weder möglich noch zweckmäßig sei und befürwortet eine Haushaltspolitik des deficit-­ spending. Das folgende Beispiel veranschaulicht die Theorie vom „Sozialen Gleichgewicht“: „Los Angeles zeigt auf fast klassische Weise, wie in einer modernen Großstadt das Problem des Sozialen Gleichgewichts aussieht. Phantastisch leistungsfähige Fabriken und Raffinerien, eine ungeheure Menge von Autos, ein Riesenverbrauch von wunderbar verpackten Waren – und dabei keinerlei städtische Müllabfuhr, so daß die Einwohner ihre Abfälle zu Hause in besonderen Öfen verbrennen müssen, mit dem Erfolg, daß einen großen Teil des Jahres hindurch die Luft fast nicht zu atmen ist. Die Verunreinigung der Luft ließe sich durch eine wohldurchdachte, komplexe Zusammenarbeit verschiedener Kommunaldienste bekämpfen: anständige wissenschaftliche Grundlagenforschung, bessere Polizeivorschriften, eine städtische Müllabfuhr und möglicherweise die klipp und klar ausgesprochene Forderung, daß reine Luft wichtiger ist als die Warenproduktion. Man hat das alles kommen sehen, aber das Resultat blieb bisher eine Stadt, in der es keine reine Luft zum Atmen gibt. (S. 272 f.)“

Das Werk, das in zwölf Sprachen übersetzt wurde, wirkte sich positiv auf die Weiterentwicklung der Wohlfahrtsökonomie aus. Der Begriff der „Affluent Society“ bzw. der „Gesellschaft im Überfluss“ fand Eingang in den allgemeinen Sprachschatz. • Im Vorwort von The new Industrial State, 1967 (dt. Die moderne Industriegesellschaft) weist G. darauf hin, dieses Buch verhalte sich zur Gesellschaft im Überfluß, „wie ein Haus zu einem Fenster. Hier steht nun das ganze Gebäude vor uns. Meine

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frühere Arbeit gewährte nur einen kurzen Blick ins Innere“ (S. 9). In der Industriegesellschaft analysiert G. das System als Ganzes, d. h. er untersucht die ­Wandlungsprozesse der modernen Industriegesellschaft – vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis in die 1960erJahre – mit dem Ziel, die grundlegenden Prinzipien offenzulegen. Er „unternimmt nicht weniger, als die Summe des westlichen, sprich: amerikanischen Wirtschaftssystems zu ziehen“ (B. Molitor, in: Der Spiegel, 18/1968, S. 179). Der ent­scheidende Wandlungsprozess von der „traditionellen“ hin zur „modernen“ Industriegesellschaft habe ­insbesondere auf der Ebene der Unternehmensorganisation stattgefunden: Zum einen habe sich die Struktur der Eigentumsverhältnisse dergestalt verändert, dass nicht mehr der „klassische Unternehmer“ die Geschicke seines Unternehmens in eigener Verantwortung lenkt, sondern bedienstete Manager. Zum Anderen habe der technologische Wandel, d. h. der Anstieg des Einsatzes von Technik dazu geführt, dass sich sowohl die Kapital- als auch die Sozialstruktur in den Industrieunternehmen grundsätzlich ­verändert haben. In der Folge habe sich eine Schicht von Technokraten (Manager, Ingenieure, Experten) herausgebildet, die in den Entscheidungszentren der modernen Industriegesellschaft sitzen; hierfür hat G. den Begriff der „Technostruktur“ geprägt. Er ging davon aus, dass sich in unterschiedlichen Wirtschaftssystemen ähnliche Technostrukturen herausbilden und dies zu einer Annäherung der Systeme führt; auch führe die Technostruktur zu einer Kooperation von Unternehmen und Staat, wodurch die Demokratie gefährdet sei. Seine Theorie der Technostruktur erläutert G. so: „Die Macht im Geschäftsleben und die gesellschaftliche Macht liegen nicht mehr bei Einzelpersonen, sondern sind auf Organisationen übergegangen. Und die moderne Wirtschaftsgesellschaft kann man überhaupt nur als einen im ganzen erfolgreichen Versuch verstehen, auf dem Wege der Organisation eine künstliche Gruppenpersönlichkeit zu schaffen, die für ihre Zwecke einer natürlichen Person weit überlegen ist und zudem noch den Vorzug der Unsterblichkeit genießt. Die Notwendigkeit einer solchen Gruppenpersönlichkeit beginnt mit dem Umstand, daß in einer modernen Industrie eine große Anzahl von Entscheidungen – und in erster Linie alle wirklich wichtigen Entscheidungen – auf Informationen beruhen, die nicht ein einzelner allein besitzt. In der Regel gründen sich solche Entscheidungen auf spezialisiertes wissenschaftliches und technisches Wissen, die gemeinsame Kenntnis oder Erfahrung sowie den künstlerischen oder intuitiven Sinn vieler Einzelpersonen. Diese Fakten werden wiederum mit Hilfe weiterer Informationen gesammelt, analysiert und von Fachleuten mit hochentwickelten technischen Anlagen ausgewertet. Die endgültige Entscheidung ist nur dann wohlbegründet, wenn sie aus allen wichtigen und einschlägigen Informationen gebildet ist. … Die Entscheidungen im modernen Geschäftsleben sind also nicht das Ergebnis einzelner, sondern von Gruppen. Diese Gruppen sind sehr vielfältig, manchmal formell, manchmal informell aufgebaut, und sie sind einem ständigen Wandel in ihrer Zusammensetzung unterworfen. Jede dieser Gruppen besteht aus Leuten, die bestimmte Informationen besitzen oder Zugang zu ihnen haben, und anderen, die darauf geschult sind, alle zu einem bestimmten Zweck

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erforderlichen Informationen zu sammeln, zu prüfen und auf dieser Grundlage Entscheidungen zu treffen. … Mit dem Aufstieg der modernen Kapitalgesellschaft, mit dem Auftauchen der durch moderne Technologie und Planung erforderlich gewordenen Organisation und der Scheidung von Kapital und Unternehmenskontrolle verschwindet der Unternehmer als Einzelperson immer mehr aus dem Bild des gereiften Industriebestriebs. Dieser Wandel wird im wirtschaftlichen Alltag anerkannt, nicht aber in den Lehrbüchern der Ökonomie. An die Stelle des Unternehmers als richtungweisende Kraft tritt das Management. Dieses Kollektiv ist eine unzureichend definierte Einheit; in der großen Kapitalgesellschaft umfasst es den Aufsichtsratsvorsitzenden, den Präsidenten, die für Personal oder wichtige Abteilungen verantwortlichen Vizepräsidenten, Inhaber anderer leitender Posten und eventuell noch die Chefs großer Abteilungen, soweit sie nicht schon oben mit eingeschlossen sind. Hierzu zählt jedoch nur ein kleiner Teil derer, die als Beteiligte mit ihren Informationen zu Gruppenentscheidungen beitragen. Diese Gruppe ist sehr groß; sie reicht von der Führungsspitze des Unternehmens bis hinunter zu den Meistern, Vorarbeitern und Arbeitern, deren Aufgabe darin besteht, mehr oder weniger mechanisch die ergangenen Anweisungen auszuführen und ihre Routinearbeit zu tun. Es gehören alle dazu, die zur Entscheidungsfindung durch die Gruppe spezielles Wissen, besondere Talente oder Erfahrungen beitragen. Diese Gruppe, und nicht das Management, ist die richtungweisende Intelligenz – das Gehirn – des Unternehmens. Es gibt keinen Namen für alle diejenigen, die an der Gruppenentscheidung teilhaben, oder für die Organisation, die sie darstellen. Ich schlage vor, diese Organisation als Technostruktur zu bezeichnen. (S. 76–88, stark gekürzt)“

• Das letzte Werk seiner Trilogie ist Economics and the Public Purpose, 1973 (dt. Wirtschaft für Staat und Gesellschaft). „Dieses Buch“, schreibt G. im Vorwort, „ist Fortsetzung und Abschluß zweier früherer Werke: Gesellschaft im Überfluß und Die moderne Industriegesellschaft. Einige Gedanken stammen auch aus American Capitalism. … dieses Buch soll eine Synthese darstellen, das ganze System zeigen.“ Im Gegensatz zu den beiden vorangegangenen Büchern, die sich auf die Sphäre der Großkonzerne konzentrieren, sollen in Wirtschaft für Staat und Gesellschaft jene Wirtschaftssubjekte und Geschäftszweige „voll in Szene gesetzt“ werden, die in den beiden anderen Werken nicht zum Tragen kommen. Außerdem möchte G. „die ersten internationalen Zusammenhänge aufzeigen“. Vieles in dem Buch stellt im Wesentlichen eine (leicht modifizierte und ergänzte) Wiederholung seiner Ideen dar. Wirklich neu und wichtig ist hingegen der fünfte Teil des Buches, die allgemeine Theorie der Reform, denn: „Dann erst taucht nämlich die Frage auf, was denn zu tun sei. … Nichts wird hier klarer he­ rausgestellt als die Schlußfolgerung: Wenn man die im Wirtschaftsleben wirkenden Kräfte sich selbst überlässt, nützen sie bestenfalls den Mächtigen. (S. 16)“

• G. war ein brillanter Schreiber, der seinem eigenen Anspruch stets gerecht wurde: „Es gibt in der Volkswirtschaftslehre keinen Gedanken, der sich nicht in klarer, unverschnörkelter und allgemein gefälliger Sprache ausdrücken ließe“, schreibt er in seiner (sehr lesenswerten) Theoriegeschichte der Ökonomie mit dem Titel Die Entmythologi-

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sierung der Wirtschaft (S. 14). Als Beispiel für seine literarische Sprachkunst möge die folgende Textpassage aus seinem Bestseller Gesellschaft im Überfluss von 1958 dienen, worin er die im Kapitalismus herrschende Diskrepanz zwischen öffentlicher Armut und privatem Reichtum schildert: „Die Familie, die ihr lilakirschrotes, automatisch geschaltetes, automatisch gebremstes, mit raffinierter Luftheizung und -kühlung ausgestattetes Auto aus der Garage holt, um einen Ausflug zu machen, fährt durch Orte mit schlecht gepflasterten und ungereinigten Straßen, verfallenen Häusern, scheußlichen Reklameschildern und Hochspannungs- oder Telegrafenmasten, deren Leitungen man längst schon unter die Erde hätte verlegen müssen. Dann kommen die Ausflügler in eine Landschaft hinaus, die man vor lauter Werbe „kunst“ einfach nicht mehr sieht. … Unsere Familie genießt am Ufer eines verdreckten Flusses die köstlichen Konserven aus der transportablen Kühlbox und übernachtet dann auf einem Parkgelände, das für Volksgesundheit und öffentliche Moral eine Gefahr ist. Kurz bevor sie auf ihren Luftmatratzen unter dem Dach ihres Nylonzeltes, umgeben von dem Gestank faulender Abfälle, einschlummert, möge sie sich vage Gedanken über die seltsame Unterschiedlichkeit ihrer Genüsse machen. Soll das wirklich der Genius Amerikas sein?“ (S. 269)

• Nach Söllner ist Galbraith „heute sicher der populärste Institutionalist – und einer der populärsten und meistgelesenen Ökonomen überhaupt (was allerdings weniger bahnbrechenden theoretischen Erkenntnissen als vielmehr einem provokativen und spannenden Schreibstil zu verdanken ist)“. Bei ihm zeige sich eine „institutionalistische Vorliebe für staatliche Interventionen“ (Söllner, S.  229  f.). Die Themen, denen sich G. in seinen Büchern widmet (wie beispielsweise Umweltverschmutzung, Bildung, Dritte Welt oder das Machtproblem großer Konzerne) sind auch heute noch aktuell. Der deutsche Ökonom Rudolf Hickel schrieb in seinem Nachruf am 01.05.2006: „John Kenneth Galbraith darf als einer der ganz großen Analytiker und Reformer des modernen Kapitalismus bezeichnet werden. Mit einer ungeheuerlichen Schreibwut hat er dessen Triebkräfte aus Vermachtung und Interessengegensätzen sowie dessen Krisenanfälligkeit beschrieben. … Sein Tod sollte zum Anlass genommen werden, sein Werk für eine politisch gestaltete, solidarische Wirtschaftsgesellschaft neu zu entdecken. Schließlich beschreibt er mit einem Gespür für historischen Wandel wie die Reduktion von Wirtschaft und Gesellschaft auf einzelwirtschaftlichen Eigennutz politische Gestaltung erzwingt.“

Wichtige Publikationen • • • •

A theory of price control, 1952 American Capitalism, 1952 The great crash 1929, 1954 (dt. Der große Crash) The Affluent Society, 1958 (dt. Gesellschaft im Überfluss, 1959)

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• The New Industrial State, 1967 (dt. Die moderne Industriegesellschaft, 1968) • Economics & the public Purpose, 1973 (dt. Wirtschaft für Staat und Gesellschaft, 1974) • Money: Whence It Came, Where It Went, 1975 (dt. Geld. Woher es kommt, wohin es geht, 1982) • A life in our times, 1981 (dt. Leben in entscheidender Zeit, 1982)

Literatur Koesters (1985), S. 301–328 Krause/Graupner/Sieber (1989), S. 166–170 Linß (2014), S. 178–182 Piper (1996), S. 286–292 R. Hickel: Zum Tod von J. K. Galbraith am 30. 04. 2006, www.NachDenkSeiten.de und www.taz.de Söllner (2015) Weitz (2008), S. 159–167

Friedman, Milton

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Wächter, Ökonomen auf einen Blick, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29069-6_70

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Leben & Karriere • Friedman, Sohn eines Kaufmanns, studierte von 1928–1932 Mathematik und Ökonomie an der Rutgers University in New Jersey und erwarb dort den Bachelor of Arts. Anschließend setzte er sein Studium an der University of Chicago fort, das er 1933 mit dem Master abschloss. • Von 1935 bis 1937 forschte F. am National Resources Comittee über das Konsumverhalten. Daran schloss sich ab September 1937 eine Forschungstätigkeit im National Bureau of Economic Research (NBER) über die Einkommensentwicklung von Freiberuflern an. • Versehen mit einem Stipendium der Columbia University ging er nach New York. Dort verfasste er 1941 seine Dissertation mit dem Titel Income from Independent Professional Practice, die er jedoch aufgrund politischer Hindernisse erst 1946 veröffentlichen konnte. • Von 1941 bis 1943 arbeitete F. für die Steuerforschungsabteilung des US-Finanzministeriums (National Bureau of Economic Research). • Anschließend war F. bis 1945 als Statistiker im Office of Scientific Development der Columbia-Universität tätig. Außerdem arbeitete er für das Finanzministerium und war dort für die Einführung eines automatischen Lohnsteuerabzugs verantwortlich – was er rückblickend als schweren Fehler ansah. • Im April 1947 war F. eines der Gründungsmitglieder der von → F. A. von Hayek ins Leben gerufenen Mont Pèlerin Society. Diese Gesellschaft ist ein Zusammenschluss liberaler Intellektueller, die es sich zum Ziel gesetzt haben, freiheitliche Werte zu verteidigen und zu fördern. • 1948 nahm F. seine Lehrtätigkeit als ordentlicher Professor an der University of Chicago auf, die er bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1976 ausübte. In den 1960er- und 70er-Jahren erwarb F. mehrere Doktor- bzw. Ehrendoktortitel und war Mitglied zahlreicher Institutionen und gesellschaftlicher Gremien. • Seit den 1960er-Jahren beriet F. mehrere konservative Politiker in den USA, in den 1980er-Jahren u. a. R. Reagan und M. Thatcher, die ihre Wirtschaftspolitik nach seiner Lehre ausrichteten. • Starke Kritik brachte F. 1975 seine Tätigkeit als Wirtschaftsberater für den chilenischen Diktator A.  Pinochet ein. Dieser hatte zwei Jahre zuvor mit Unterstützung der USA durch einen blutigen Putsch den demokratisch gewählten Präsidenten S. Allende gestürzt, der in Chile ein sozialistisches System etablieren wollte. Unter den Bedingungen der Militärdiktatur war es F. und seinen Mitarbeitern – den sogenannten Chicago Boys – möglich, ihr neoliberales Experiment radikal umzusetzen: Bei dieser ökonomischen Schocktherapie ging es darum, das durch Inflationsraten von mehr als 400 Prozent stark gebeutelte Land zu stabilisieren. F.s wirtschaftspolitischer Leitgedanke ging davon aus, dass eine inflatorische Wirtschaft nur dadurch gerettet werden könne, indem

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die Geldversorgung gedrosselt und Staatsausgaben verringert werden. Pinochets Finanzminister J. Cauas setzte die von F. verordneten Maßnahmen mit dem Ziel um, die Staatsausgaben um bis zu 25 Prozent zu kürzen. Hierzu wurden sämtlichen öffentlichen Einrichtungen, wie beispielsweise Behörden, Universitäten und Staatsbetrieben drastische Sparmaßnahmen auferlegt. Die Sozialversicherung wurde privatisiert, Investitionen zurückgefahren und Einstellungen gestoppt. Außerdem wurden Einkommensund Luxussteuern angehoben und Kredite für die private Wirtschaft verknappt. Gewerkschaften wurden unterdrückt und der Mindestlohn abgeschafft. Zwar ging in den folgenden Jahren die Inflation drastisch zurück, jedoch nicht ohne Nebenwirkungen. Der Spiegel berichtete: „Nun ist die Friedman-Therapie zur Inflationsbekämpfung zwar theoretisch schlüssig und in Boom-Phasen auch durchaus praktikabel. In einem Land wie Chile aber, in dem gegenwärtig steigende Preise mit sinkender Produktion gekoppelt sind, wird der ohnehin stotternde Konjunktur-Motor durch die Vollbremsung abgewürgt. Trotz niedriger Löhne und staatlich erzwungenen Arbeitsfriedens sind denn auch die chilenischen Unternehmer nicht recht glücklich. Wegen mangelnder Nachfrage bleiben sie auf ihren Produkten sitzen“ (Der Spiegel, 29/1975, S. 71). Von 1970 bis 1972 war F. Präsident der Mont Pèlerin Society. 1976 wurde F. der Wirtschaftsnobelpreis verliehen. Er erhielt diese Auszeichnung – wie es in der offiziellen Begründung heißt – „für seine Leistungen in den Bereichen der Konsumtheorie, der Geldgeschichte und -theorie sowie für das Aufzeigen der Komplexität der Stabilisierungspolitik“. Die Auszeichnung wurde überschattet von Protesten wegen F.s Unterstützung des Pinochet-Regimes in Chile. Nach seiner Emeritierung im Jahre 1977 wechselte F. zur Hoover Institution an der Stanford University, für die er bis zu seinem Tode tätig war. 1980 gestaltete F. zehn einstündige TV-Sendungen zu wirtschaftlichen Themen mit dem Titel Free to Choose, die der Sender PBS in den USA ausstrahlte. 1988 wurde F. von US-Präsident R.  Reagan mit der Presidential Medal of Freedom ausgezeichnet – der höchsten zivilen Auszeichnung der Vereinigten Staaten. Noch bis ins hohe Alter äußerte F. sich zum aktuellen Wirtschaftsgeschehen.

Werk & Wirkung • Friedman gilt als Begründer des Monetarismus und somit als Initiator einer „Konterrevolution“ gegen die Lehre von → J. M. Keynes. F. vollbrachte herausragende Leistungen insbesondere auf dem Gebiet der wirtschaftswissenschaftlichen Methodik, der Einkommens- und Konsumtheorie, der Inflationstheorie und der Geldpolitik. Zu seinen Hauptwerken zählen die Monetäre Geschichte der Vereinigten Staaten 1857–1960 und

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Kapitalismus und Freiheit. Im Zentrum seines Werkes steht die politische und wirtschaftliche Freiheit des Individuums. Den von ihm so verhassten Wohlfahrtsstaat umschrieb er mit dem Schlagwort: „to do good with other people’s money“. • In dem 1953 erschienenen Aufsatz zur Methodenlehre in den Wirtschaftswissenschaften The Methodology of Positive Economics plädiert F. für positivistisch-empirische Forschungsmethoden. Die Ökonomik müsse eine werturteilsfreie Wissenschaft sein, die auf empirisch überprüfbaren Theorien basiere. Mathematisch-theoretischen Mo­ dellen, die keine empirisch überprüfbaren Hypothesen liefern, stand er ablehnend gegenüber. • Mit seinem 1957 veröffentlichten Werk A Theory of the Consumption Function versucht F. die Theorie von Keynes zu widerlegen, wonach eine Beziehung zwischen den Konsumausgaben der Haushalte und ihren Einkommen existiere. F. geht dabei davon aus, dass sich das Einkommen der Haushalte aus zwei Komponenten zusammensetzt: einem langfristig erwarteten, „permanenten Einkommen“ sowie einem „transitorischen Einkommen“, das aus kurzfristigen, vorübergehenden Zuflüssen besteht. F.s Analysen zeigten, dass die Konsumausgaben der Haushalte von ihrem permanenten Einkommen bestimmt werden und transitorische Einkommen meistens vernachlässigt werden. Wichtig sei also die langfristige Einkommenserwartung und nicht das kurzfristig erzielte Einkommen. Wenn Haushalte nur eine einmalige Transferleistung vom Staat erhalten, dann verwenden sie diese nicht für den Konsum, sondern sparen das Geld, da sie den Konsum nicht am kurzfristigen, sondern am „permanenten Einkommen“ ­orientieren. Und somit wäre also die Konsumquote der Haushalte stabil. Mit dieser Tatsache versuchte F. die keynesianische Auffassung zu widerlegen, dass die Menschen mit steigendem Einkommen immer weniger Teile davon konsumieren bzw. immer mehr sparen. Daraus schloss F., dass staatliche Interventionen, die auf eine Stimulierung der Nachfrage abzielten, wirkungslos blieben und der von Keynes proklamierte Multiplikatoreffekt nicht seine volle Wirkung entfalten könne. Vielmehr stiegen die öffentlichen Schulden, mit denen der Staat seine Maßnahmen zur Ankurbelung der Wirtschaft finanziert. • 1962 wurde F.s populäres Werk Capitalism and freedom veröffentlicht, das 1971 auch in deutscher Übersetzung unter dem Titel Kapitalismus und Freiheit erschien. Es handelt sich dabei weniger um eine ökonomische Schrift, als vielmehr um F.s politisch-­ ideologisches Glaubensbekenntnis, in dem er seine radikal-liberalen Ansichten darlegt. F. geht davon aus, dass „wirtschaftliche Freiheit eine notwendige Voraussetzung für politische Freiheit“ sei und plädiert dafür, dass sich der Staat aus dem Wirtschaftsgeschehen heraushalten solle: „Was wir dringend brauchen, um ökonomische Stabilität und Wirtschaftswachstum zu erreichen, ist eine Rückführung des staatlichen Einflusses.“ So forderte er beispielsweise die Abschaffung des Führerscheins, der Ärztelizenzen und anderer Berufsbeschränkungen, der Schulpflicht, der Subventionszahlungen, des Mindestlohnes und der Wehrpflicht. Außerdem sollte die staatliche Fürsorge stark

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eingeschränkt, die Sozialversicherung und das Bildungssystem privatisiert sowie Handelsbeschränkungen vollständig aufgehoben werden. F. ging sogar so weit, zu fordern, Prostitution und Marihuana zu legalisieren. Generell sollte der Staat seine Aktivitäten auf ein absolutes Minimum zurückführen und lediglich dafür sorgen, dass die Sicherheit und ein Rechtssystem gewährleistet sind. Die Rolle des Staates (aus liberaler Sicht) fasst er so zusammen: „Eine Regierung, die für Ruhe und Ordnung sorgt, die die Eigentumsrechte definiert, die ein Instrument vorsieht, mit dem wir die Eigentumsrechte und andere Gesetze im Spiel der Wirtschaftskräfte ändern können, eine Regierung, die Kontroversen über die Auslegung der Gesetze entscheidet, die Einhaltung von Verträgen erzwingt, den Wettbewerb fördert, ein monetäres System schafft, sich für die Bekämpfung technischer Monopole und die Beseitigung ihrer Folgewirkungen einsetzt, wenn dies angebracht scheint, und die die private Wohlfahrt und die Familie bei der Fürsorge der Unzurechnungsfähigen, seien es Geisteskranke oder Kinder, unterstützt – eine solche Regierung hat zweifellos eine Reihe wichtiger Funktionen zu erfüllen. Der konsequente Liberale ist kein Anarchist. Die Funktionen einer solchen Regierung wären zwar klar abgegrenzt, aber eine Unzahl von Aufgaben würden vernachlässigt, die jetzt in Amerika von den Bundesstaaten oder von der Regierung und in anderen westlichen Ländern von den entsprechenden Instanzen übernommen werden. … Vielleicht trägt die folgende Liste dazu bei, deutlich zu machen, welche Rolle ein Liberaler der Regierung zuweist … Die Liste enthält eine Aufstellung von Funktionen, die … nicht in Form der oben erwähnten Richtlinien ausreichend zu rechtfertigen sind. 1. 2. 3. 4. 5.

Paritätische Preisunterstützung in der Landwirtschaft. Importsteuer oder Restriktionen für Exporte … Staatliche Überwachung der Produktion … Mietkontrollen … oder umfassende Lohn- und Preiskontrollen … Gesetzlich festgelegte Höhe der Mindestlöhne oder gesetzliche Festlegung von Höchstpreisen … 6. Genaue Regulierung der Wirtschaft …, zum Beispiel die genaue Regulierung des Bankwesens. 7. … die Kontrolle von Radio und Fernsehen … 8. Die heutige Sozialpolitik, insbesondere die Pensions- und Renten-­Programme, die die 9. Menschen buchstäblich zwingen, a) einen bestimmten Prozentsatz ihres Gehaltes in Rentenpapieren anzulegen, b) die Renten bei einer staatlich geführten Gesellschaft zu kaufen. 10. Lizenzvorschriften … 11. Der sogenannte ‚gemeinnützige Wohnungsbau‘ und andere subventionierte Projekte, die den Wohnungsbau fördern sollen … 12. Die Wehrpflicht zur Aufrechterhaltung einer kriegsstarken Armee in Friedenszeiten … 13. Nationalparks 14. Das gesetzliche Verbot der Postbeförderung mit Gewinn. 15. Gebührenpflichtige Straßen, die dem Staat gehören und von ihm verwaltet werden. Diese Liste ist bei weitem nicht vollständig. (M. Friedman: Kapitalismus und Freiheit, München 2004, S. 59–60).“

• Ein weiteres Hauptwerk, das F. zusammen mit der Wirtschaftshistorikerin A. J. Schwartz im Jahre 1963 veröffentlichte, ist die Monetary History of the United States,

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1867–1960. Dieses voluminöse Werk ist das Ergebnis mehrjähriger Forschungsarbeit. Die beiden Ökonomen erforschten im Auftrag des National Bureau of Economic Research die Wirtschaftsgeschichte der USA und richteten dabei ihr Hauptaugenmerk auf die Rolle des Geldes und der Zentralbank. Sie fanden heraus, dass eine Ausweitung der Geldmenge einherging mit Konjunkturaufschwüngen und steigender Inflation. Hingegen ging eine Verringerung der Geldmenge Hand in Hand mit Konjunkturabschwüngen und sinkender Inflation. So fanden sie ihre These bestätigt, dass ein Zusammenhang besteht zwischen Geldmenge, Konjunktur und Inflation. Das Resultat ihrer Studien schien einerseits die These von J.  M. Keynes, wonach „Geld keine Rolle spiele“ („Money doesn’t matter“) zu widerlegen und gleichzeitig die Quantitätstheorie des Geldes zu bestätigen. Nach dieser Lehrmeinung, die insbesondere auf Irving Fisher und Gustav Cassel zurückgeht, besteht ein proportionaler Zusammenhang zwischen der umlaufenden Geldmenge und dem Preisniveau. F., der diese „klassische“ Quantitätstheorie weiterentwickelte, sieht in der Inflation ein länger anhaltendes Phänomen, das vom gesamtwirtschaftlichen Geldmarkt ausgeht. Die Ursache liege darin, dass das Geldmengenwachstum im Verhältnis zum Wachstum der ­Güterproduktion zu hoch ist: „Inflation ist immer und überall ein monetäres Phänomen; Inflation wird dadurch ausgelöst, daß die Geldmenge rascher zunimmt als die gütermäßige Wertschöpfung“ (Friedman). Daher empfiehlt er den Zentralbanken, die Geldmenge stetig um einen festen Prozentsatz zu erhöhen, der dem Produktionspotential entspricht. Dieses kontrollierte Geldmengenwachstum soll zwischen drei und fünf Prozent jährlich betragen. Damit vertritt F. also eine vollkommen konträre Auffassung zu Keynes: Wirtschaftswachstum lasse sich nach F. nur über die Ausweitung der Geldmenge, also durch eine expansive Geldpolitik, erreichen, und nicht, wie Keynes es forderte, über eine Erhöhung der Staatsausgaben. Viele Notenbanken nahmen Ende der 1970er-Jahre den Rat von F. an, wendeten sich jedoch schnell wieder davon ab. Das Konzept der Geldmengensteuerung, wie F. sie vorschlug, gilt heute als überholt. • Dass die Meinungen über F. weit auseinandergehen, verwundert kaum, bedenkt man, dass er wie kein anderer Ökonom auch politisch polarisierte. So weist Spahn daraufhin, dass die „Beurteilung Friedmans eine – für einen Nobelpreisträger ungewöhnliche – Ambivalenz“ (in: Kurz 2009, S. 294) erkennen lasse. Die Ursache könnte – wenn man → Paul Krugmans Ansicht teilt – darin gesehen werden, dass die Person F. drei Facetten in sich berge: den Ökonomen, den wirtschaftspolitischen Berater und den Ideologen. Die herausragenden Leistungen F.’s auf dem Gebiete der Ökonomie, insbesondere zur Geldtheorie und Konsumtheorie, werden auch von seinen schärfsten Kritikern anerkannt. Auf Ablehnung in der Wissenschaft stießen seine ideologische Art sowie ein „oberflächliches Hantieren mit theoretischen Modulen unterschiedlicher methodologischer Herkunft“ (Spahn, in: Kurz, S. 293). Starke Ablehnung erfuhr er auch für seine Aktivitäten in Chile; denn als Wissenschaftler – so der Vorwurf – hätte er kein Land als „Versuchslabor“ für die Umsetzung seiner Ideen missbrauchen dürfen.

Literatur

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Wichtige Publikationen • • • •

Theory of the Consumption Function, 1957 Capitalism and Freedom, 1962 (dt. Kapitalismus und Freiheit, 1971) A Monetary History of the United States 1867–1960 (mit A. J. Schwartz), 1963 The Optimum Quantity of Money: And other Essays, 1969 (dt. Die optimale Geldmenge und andere Essays, 1970)

Literatur Hesse (2009), S. 170–172 Koesters (1985), S. 283–300 Kolb (2004), S. 159–164 Krause/Graupner/Sieber (1989), S. 158–160 Kurz (2009), Bd. 2, S. 282–300 Linß (2014), S. 203–208 Piper (1996), S. 274–280 Rose (2013), S. 72–78 Söllner (2015), S. 173–176 Volkery: Das Märchen von den Chicago Boys, Spiegel-online vom 05.09.2003 Rezept aus Chicago. In: Der Spiegel, Nr. 29/1975, S. 71 ff.

Samuelson, Paul Anthony

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Wächter, Ökonomen auf einen Blick, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29069-6_71

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Leben & Karriere • Samuelson studierte von 1931 bis 1935 an der Universität von Chicago, die stark vom neoklassischen Denken geprägt war und noch immer ist. Nach dem Bachelor-­Abschluss ging er als Hochbegabter an die Harvard-Universität, wo die damals neuen Ideen von → J. M. Keynes das Fach dominierten und auch S. beeinflussten. Zu seinen Lehrern zählten u. a. der „amerikanische Keynes“ A. Hansen sowie W. Leontief und → J. A. Schumpeter. • 1936 erwarb S. den Mastergrad in Harvard, und noch im selben Jahr veröffentlichte er seinen ersten Aufsatz. Ein Jahr später wurde er Mitglied der Society of Fellows an der Harvard Universität. • Im Jahr 1941 verweigerte Harvard S. eine Professur. Zeitgenossen meinen, dies sei auf seine Überheblichkeit und auch auf Antisemitismus zurückzuführen. Im gleichen Jahr nahm S. eine ordentliche Professorenstelle am Massachusetts Institute of Technology (MIT) an und blieb dort bis zu seinem Tode. Unter seiner Leitung etablierte sich die ökonomische Abteilung am MIT, wo er über 600 Aufsätze verfasste, zu einem der führenden Institute der ökonomischen Fachwelt – vier seiner Schüler erhielten den ­Nobelpreis. • Kurz nach dem zweiten Weltkrieg erhielt S. von dem Chairman seines Departments am MIT den Auftrag, ein einführendes Lehrbuch für die Studenten zu verfassen. Es war die Geburtsstunde seiner Economics, die 1948 erschien. • Im Jahre 1970 erhielt S. den Wirtschaftsnobelpreis für die Fortentwicklung der statischen und dynamischen Wirtschaftstheorie. Ein Jahr später wurde er mit der Albert-­ Einstein-­Erinnerungsmedaille ausgezeichnet. • 1986 wurde S. emeritiert. • 1996 erhielt er als zweiter Ökonom von US-Präsident B. Clinton die „National Medal of Science“. • S. pflegte eine enge Verbindung zur Praxis. Als Experte, Berater und Gutachter wirkte er in zahlreichen wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Institutionen und Organisationen (z. B. als Wirtschaftsberater von J. F. Kennedy). Mit seinem Freund und Rivalen → M. Friedman verfasste er Kolumnen in der Newsweek.

Werk & Wirkung • Dass S. als der „letzte Generalist“ der Volkswirtschaftslehre gilt, liegt daran, dass er zahlreiche wichtige Beiträge zu den unterschiedlichsten Themengebieten der Ökonomie lieferte. In seinen über 600 Aufsätzen beschäftigte er sich beispielsweise mit der Allokationstheorie, den Marktmechanismen, der keynesianischen Makroökonomie, der Dogmengeschichte seines Fachs und mit der Theorie des internationalen Han­ dels. Internationale Popularität erlangte der Nobelpreisträger mit seinem Lehrbuch Economics.

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• Schon seine ersten Artikel, die in angesehenen Fachzeitschriften erschienen, machten S. als „Wunderkind“ in der Ökonomen-Zunft bekannt: 1938, im Alter von nur 23 Jahren, erschien sein Aufsatz A Note on the Pure Theory on Consumer Behaviour, in dem er seine Revealed Preference Theory (dt.: Theorie der offenbarten Präferenzen) entwickelt. Sie dient der Modellierung von Konsumentenentscheidungen und war ein herausragender Beitrag zur Haushaltstheorie. Der 1939 verfasste Beitrag Wechselbeziehungen zwischen der Multiplikatoranalyse und dem Akzeleratorprinzip, in dem S. ein Modell entwirft, das hilft, Konjunkturphänomene abzubilden sowie seine Doktorarbeit aus dem Jahr 1941, die er nach dem Zweiten Weltkrieg als Buch veröffentlichte, begründeten seinen internationalen Erfolg. • In der 1947 publizierten Dissertation Foundations of Economic Analysis (dt.: Grundlagen der Wirtschaftsanalyse) denen Samuelson das Zitat „Mathematics is a Language“ von J. W. Gibbs voranstellte, unternahm er den Versuch, eine „allgemeine Theorie wirtschaftlicher Theorien“ zu formulieren. In frühreren ökonomischen Werken hatte S. gewisse Ähnlichkeiten festgestellt, die ihn annehmen ließen, dass es eine gemeinsame Theorie geben könnte, die diese vereint. Ihm gelang es, ökonomische Einsichten in eine mathematische Sprache zu übersetzen; und er lieferte eine erste moderne Zusammenfassung der neoklassischen Theorie in mathematischer Form. Von großer Bedeutung sind dabei die Termini „Maximierung“, „Gleichgewicht“ und „optimale Bedingungen“. Eine Schlüsselhypothese und ein Leitmotiv der Arbeit bestehen darin, dass die Gleichgewichtsposition „eine maximale oder minimale Position“ im Rahmen eines Systems aus verschiedenen Dimensionen von Wahlmöglichkeiten ist. Durch die intensive Anwendung von Differenzial- und Integralrechnung gelang es S., die Stringenz ökonomischer Theorien zu erhöhen. Die Foundations haben, wie sein Schüler C. von Weizsäcker feststellt, „die Art und Weise, wie ökonomische Theorie betrieben wurde, revolutioniert“ und „eigentlich die Grundlage für die axiomatische Methode gelegt, die in den folgenden Jahrzehnten zur herrschenden Methode in der Wirtschaftstheorie geworden und bis heute geblieben ist“ (Weizsäcker in: Kurz, S. 305 f.). • Aus S.s Vorlesungen am MIT ist sein Lehrbuch Economics hervorgegangen, das 1948 in erster Auflage erschien. Es wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt und entwickelte sich rasch zum bedeutendsten VWL-Lehrbuch des 20. Jahrhunderts. Die Business Week schrieb im Jahre 1959: „Einige Ökonomen sind der Meinung, dieses Lehrbuch … sei Samuelsons größte Leistung. Es stellt einen großen Schritt in Richtung auf eine weltweite, gemeinsame Sprache der Ökonomie dar.“ Bahnbrechend an S.s Lehrbuch waren zwei Aspekte: Zum einen ist es in formaler Hinsicht ein didaktisch hervorragend gestaltetes Werk, in klarer Sprache geschrieben und mit Grafiken versehen, die komplizierte Sachverhalte veranschaulichen. Zum anderen stellt es in inhaltlicher Hinsicht den gelungenen Versuch dar, verschiedene Strömungen des ökonomischen Denkens (Mikroökonomie und Makroökonomie) miteinander zu vereinigen.

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Vom sturen Beharren der Chicagoer Schule auf ihren vollkommenen mikroökonomischen Bedingungen hielt S. ebenso wenig, wie von einem „Patentrezept-­Keynesianismus“. So bettete er die Lehre von → J. M. Keynes in seine Gleichgewichtstheorie ein und versöhnte jene Denkrichtungen, die ihn geprägt haben: die neoklassische Sichtweise aus Chicago und den Keynesianismus aus Harvard. Diese „neoklassische Synthese“ – die Verbindung der herkömmlichen Neoklassik (mit der Betonung des Marktgleichgewichts) mit der keynesianischen Lehre (mit der Betonung des Staatseingriffes) – konnte er durch seine bereits in den Foundations entwickelte mathematische Methode stützen. Den Kapitalismus betrachtet Samuelson als ein wandlungsfähiges System; er erkannte: „Das Verhalten der Menschen und Institutionen um uns herum ändert sich ständig. Unsere Theorien müssen sich mit ihnen ändern“ (zit. n. Piper, S. 255). So machte S. sich stark für eine Konzeption der „mixed economy“ („gemischte Wirtschaft“): Der Staat soll eingreifen, wenn der Markt versagt. Jedoch weist er auch darauf hin, dass staatliche Eingriffe zu Verzerrungen führen können. Im Februar 2009, dem Todesjahr von S. und auf dem Höhepunkt der Finanzkrise, erschien die ‚Ausgabe letzter Hand‘ seiner Volkswirtschaftslehre; ihr stellt der Verfasser ein „Plädoyer für eine Ökonomie der Mitte“ voran: „… Überraschenderweise stellt nun gerade diese 19. Auflage die vielleicht profundeste Überarbeitung dar. Wir nennen sie die „Auflage der ökonomischen Mitte“. Sie ­unterstreicht den Wert wirtschaftlicher Mischsysteme  – einer Wirtschaft also, die straffe Marktdisziplin mit angemessener staatlicher Regulierung verbindet. … Wie die Wirtschaftsgeschichte bestätigt, ist weder der unregulierte Kapitalismus noch die überregulierte Zentralwirtschaft in der Lage, eine moderne Gesellschaft effektiv zu organisieren. Gerade die Torheiten am rechten und am linken Rand des Spektrums legen einen vernünftigen Mittelweg nahe. Die streng kontrollierte zentralistische Planung, für die sich noch Mitte des letzten Jahrhunderts weite Kreise begeistern konnten, musste, nachdem dieses System in den kommunistischen Staaten zu Stagnation und unzufriedenen Konsumenten geführt hatte, wieder über Bord geworfen werden. Und worin genau bestand dieser Weg in die Knechtschaft, vor dem uns Hayek und Friedman so eindringlich gewarnt haben? Sie wetterten gegen Sozialversicherungen, Mindestlöhne, Nationalparks, progressive Besteuerung und gegen staatliche Regeln zum Schutz der Umwelt oder zur Eindämmung der globalen Erwärmung. Trotzdem befürworten Menschen in wohlhabenden Gesellschaften diese Programme mit überwältigender Mehrheit. Gemischte Wirtschaftssysteme verbinden Rechtsstaatlichkeit mit einem eingeschränkten Maß an Wettbewerbsfreiheit. … Unsere Aufgabe ist es daher, sicherzustellen, dass wir in „Volkswirtschaftslehre“ nur die aktuellsten und wichtigsten Thesen bedeutender Ökonomen behandeln und die Logik des modernen wirtschaftlichen Mischsystems ausgewogen präsentieren, nicht ohne auch der Kritik von links und rechts einen Platz einzuräumen. Wir gehen aber sogar noch einen Schritt weiter: Unserer Ansicht nach benötigen wir eine „begrenzte Ökonomie der Mitte“. Unser Wissen ist unvollkommen und auch die Ressourcen der Gesellschaft sind nicht unendlich. Überdies sind wir uns der aktuellen misslichen Lage bewusst. Wir haben gesehen, dass ein ungezügelter Kapitalismus zu schmerzhaften Einkommens- und Vermögensungleichheiten führt und dass angebotsseitige Haushaltsdoktrinen große Löcher in die Staatskassen gerissen haben. Wir mussten feststellen, dass die bedeutendsten Innovationen des modernen Finanzwesens, als sie in einem unregulierten System zur

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Anwendung kamen, Milliardenverluste bewirkt und zum Ruin vieler ehrwürdiger Finanzin­ stitutionen geführt haben. Nur wenn es uns gelingt, unsere Gesellschaften auf einen Weg der Mitte zurückzuführen, kann die globale Wirtschaft zur Vollbeschäftigung zurückkehren, und nur dann werden auch die Früchte des Fortschritts wieder gerechter verteilt werden (P. A. Samuelson/W. D. Nordhaus: Volkswirtschaftslehre, 4. Aufl. München 2010 [= Economics, 19th edition], S. 7–8.)“

• Bereits seit den 1930er-Jahren gehörte die Theorie des internationalen Handels zu Samuelsons Forschungsgebiet, auf dem er zahlreiche Arbeiten veröffentlichte. Insbesondere sein 1941 zusammen mit Wolfgang Stolper verfasster Aufsatz Protection and Real Wages erlangte Berühmtheit. Die Autoren gingen auf der Grundlage des Heckscher-­Ohlin-Theorems der Frage nach, welche Auswirkung die Veränderung des relativen Preises eines Gutes auf die Realeinkommen der Produktionsfaktoren in einem Land hat. Sie konnten anhand eines Zwei-Länder-Modells, in dem es zwei Güter und zwei Produktionsfaktoren gibt, zeigen, dass bei einem Anstieg des relativen Preises eines Gutes der relative Preis des besonders stark genutzten Produktionsfaktors steigt, ebenso dessen Realeinkommen. Des Weiteren erhöht sich die Produktion dieses Gutes auf Kosten der Produktion des anderen Gutes. „Obwohl also die Gesamtwirtschaft durch die Einführung des Außenhandels profitiert, erleidet derjenige Produktionsfaktor, der zuhause knapper ist als im anderen Land, Schaden.“ Dieser Lehrsatz, der als Samuelson-Stolper-Theorem bekannt geworden ist und als ein Meilenstein in der Außenhandelsforschung gilt, besagt, „daß man bei der Ableitung der Vorteile eines Systems des Freihandels … vorsichtiger vorgehen muß, als dies traditionell der Fall war“ (C. v. Weizsäcker, in: Kurz, S. 312). Kurz vor seinem Tod verfasste Samuelson den bemerkenswerten Aufsatz Where Ricardo and Mill Rebut and Confirm Arguments of Mainstream Economists Supporting Globalization, in dem er am Beispiel der USA und China nachweist, dass die Lehre vom Freihandel (→ D. Ricardo) „grundfalsch“ und eine „populär-polemische Unwahrheit“ ist. Im Kern argumentiert S. so: Wenn China seine Produktivität in der Herstellung eines bestimmten Gutes deutlich steigert, verlieren die USA bei der Produktion dieses Gutes ihre komparativen Vorteile. Die internationalen Tauschverhältnisse, die sogenannten „Terms of trade“, verschlechtern sich zum Nachteil der USA.  Dies hat zur Folge, dass die ursprünglichen Vorteile aus dem internationalen Handel nicht mehr ausreichen, um die mit dem Freihandel verbundenen Einkommensverluste der amerikanischen Arbeitnehmer zu kompensieren. Die Annahme, dass Freihandel nur zu Gewinnern führe, lässt sich daher nicht mehr uneingeschränkt aufrechterhalten. Menschen, Wirtschaftsbranchen und auch Länder können durchaus zeitweise zu den Verlierern des Freihandels werden, wenn sich die internationalen Tauschverhältnisse ändern. Allerdings stellt S. auch klar, dass er protektionistische Maßnahmen für falsch hält: Zölle seien „die Brutstätte ökonomischer Verkalkung“. Zur Globalisierung sagt er: „Vielleicht sollten wir den Prozess ein wenig bremsen, aber man kann ihn nicht stoppen, und man sollte das auch nicht tun. Was wir tun können: den Menschen helfen, die an den Folgen leiden“ (Spiegel Spezial, S. 152).

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• Samuelson kann als ein „Ökonom der Mitte“ charakterisiert werden: Er attackierte mit seinem überragenden Sachverstand sowohl rechte (z.  B. M.  Friedman) als auch linke (z. B. J. K. Galbraith) Kollegen der Ökonomenzunft. Er beriet den Republikaner D.  Eisenhower ebenso wie den Demokraten J.  F. Kennedy. Das Angebot offizieller Berater der Regierung zu werden, lehnte er jedoch mit der Begründung ab, er wolle sich seine Unabhängigkeit erhalten. Zur Zeit des Kalten Krieges habe er „die friedliche Koexistenz zwischen Kapitalismus und Sozialismus realistisch für einen längeren historischen Zeitraum als unausweichlich und praktizierbar“ betrachtet (Krause/Graupner/Sieber, S.  480). Er wies auf die Nachteile und Risiken des Freihandels und der Globalisierung ebenso hin wie auf jene von protektionistischen Maßnahmen. Den „Weg der Mitte“ beschritt er auch in seinem Lehrbuch, in dem er „die Logik des modernen wirtschaftlichen Mischsystems ausgewogen“ präsentiert, „nicht ohne auch der Kritik von links und rechts einen Platz einzuräumen“ (Samuelson/Nordhaus: Volkswirtschaftslehre, 2010, S. 8). Ebenso wie er den Kapitalismus als ein wandlungsfähiges System verstand, passte er auch sein Lehrbuch immer wieder an neueste Entwicklungen an: „Dieses Buch entwickelt sich in gleicher Weise wie die Wirtschaft und die Welt um uns herum“ (S.  10). „Meine Seele“, sagte S., „gehört der Arbeit an der wissenschaftlichen Front“. Dazu befasste er sich auch mit der Dogmengeschichte seines Fachs und unterzog sowohl Ricardo als auch Marx einer kritischen Analyse. Seine ideologische Unvoreingenommenheit und sein ausgewogenes ökonomisches Urteil kommen auch in seinem berühmten Ausspruch zum Ausdruck: „Gott gab den Ökonomen zwei Augen, damit sie Angebot und Nachfrage betrachten.“

Wichtige Publikationen • Interactions between the Multiplier Analysis and the Principle of Acceleration. In: Review of Economics and Statistics, 1939 • Protection and Real Wages. In: The Review of Economic Studies, 1941 • Foundation of Economic Analysis, 1947 • International Trade and the Equalization of Factor Prices. In: Economic Journal, 1948 • Economics, 1948 (dt.: Volkswirtschaftslehre) • Linear Programming and Economic Analysis, 1958 • Where Ricardo and Mill Rebut and Confirm Arguments of Mainstream Economists Supporting Globalization. In: Journal of Economic Perspectives, 2004

Literatur Hesse (2009), S. 478–480 Krause/Graupner/Sieber (1989), S. 478–481 Kurz (2009), Bd. 2, S. 301–319 Linß (2014), S. 223–227

Literatur Piper (1996), S. 253–259 Piper: Der Ökonom des Jahrhunderts, in: SZ, 17. 05. 2010 Rose (2013), S. 189–194 Spiegel Spezial 7/2005, S. 150–153 Tichy (2012), S. 125–133

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Heinen, Edmund

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Wächter, Ökonomen auf einen Blick, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29069-6_72

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Leben & Karriere • Nach dem Abitur, das Heinen 1937 in Saarbrücken abgelegt hatte, nahm er sein Studium in Aachen auf und führte es in Danzig fort. • 1939 unterbrach er das Studium und nahm am Zweiten Weltkrieg teil. • 1943 geriet H. in amerikanische Kriegsgefangenschaft, in der er im Fernstudium Business Economics an der University of Minnesota studierte. • Nach seiner Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft studierte H. Betriebswirtschaftslehre an der Universität Frankfurt a. M., u. a. bei → Erich Gutenberg. Nachdem er 1948 das Studium mit dem Grad eines Diplomkaufmanns abgeschlossen hatte, ging er nach Saarbrücken. • An der Universität des Saarlandes in Saarbrücken war H. an der Gründung und dem Aufbau der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät beteiligt. Die Einrichtung des dortigen Studienganges der BWL geht auf sein Engagement zurück. 1949 erwarb er dort den Doktorgrad und habilitierte sich zwei Jahre später. 1954 wurde er planmäßiger außerordentlicher Professor für BWL. • Drei Jahre später (1957) verließ er Saarbrücken und folgte einem Ruf an die Ludwig-­ Maximilians-­Universität in München auf einen Lehrstuhl für BWL, wo er das Institut für Industrieforschung gründete und bis zu seiner Emeritierung Ende 1987 wirkte. Sieben Rufe an Universitäten des In- und Auslandes lehnte H. ab. • Für seine wissenschaftlichen Leistungen erhielt H. mehrere Auszeichnungen und Würdigungen, u. a. wurden ihm das Bundesverdienstkreuz und der bayerische Verdienstorden verliehen. 1987 wurde er zum Ehrenmitglied des Verbands der Hochschullehrer für Betriebswirtschaft ernannt.

Werk & Wirkung • Heinens wissenschaftliche Leistung, die zur Weiterentwicklung der deutschen BWL beitrug, beruht auf zwei Gebieten: Zunächst sind seine Beiträge zur Produktions- und Kostentheorie sowie zur Kostenrechnung zu nennen. Er entwarf eine differenzierte Produktionsfunktion vom Typ C und entwickelte eine darauf aufbauende Kostentheorie. Damit hat er „diese traditionsreichen Kerngebiete der Betriebswirtschaftslehre weiterentwickelt und durch neuartige Aspekte bereichert“ (Picot, S. 427). Weitaus bedeutsamer für die wissenschaftliche Weiterentwicklung der BWL ist jedoch sein Ende der 1960er-Jahre entwickeltes Konzept der sog. „entscheidungsorientierten Betriebswirtschaftslehre“, in dem H. das Entscheidungsproblem in den Vordergrund rückt und dessen Bedeutung für die Analyse und Gestaltung betriebswirtschaftlicher Fragestellungen hervorhebt. Dieser neuartige Ansatz führte auch zu einer interdisziplinären Öffnung

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der BWL (z. B. zur Psychologie und den Sozialwissenschaften), die bis dahin im Wesentlichen durch → E.  Gutenberg dominiert wurde. Somit wurde auch der vorherrschende neoklassische Ansatz, der auf dem Menschenbild vom „homo oeconomicus“ basiert (und implizit auch dem Gutenberg’schen System zugrunde liegt), abgelehnt: „Die entscheidungsorientierte Betriebswirtschaftslehre entlässt … den ‚homo oeconomicus‘ der klassischen Mikroökonomie in das Reich der Fabel“, schreibt H. in seinen Grundfragen (S. 395). Der entscheidungsorientierte Ansatz berücksichtigt vielmehr ein realistisches menschliches Verhalten und geht nicht mehr nur vom modellhaften, rational denkenden Nutzenmaximierer aus. • In seiner 1972 erstmals herausgegebenen Industriebetriebslehre erläutert Heinen das Konzept der entscheidungsorientierten Betriebswirtschaftslehre so: „Die Betriebswirtschaftslehre befaßt sich wie andere Sozialwissenschaften mit dem menschlichen Handeln. Gegenstand betriebswirtschaftlicher Forschung sind die Grundlagen, Abläufe und Auswirkungen menschlicher Entscheidungen auf allen Ebenen betriebswirtschaftlicher Organisationen. Aufgabe der Betriebswirtschaftslehre als angewandte Wissenschaft ist es, den Organisationsmitgliedern bei der Lösung ökonomischer Problemstellungen zu helfen. In der Betriebswirtschaftslehre hat in den letzten Jahren der entscheidungsorientierte Ansatz zunehmend an Bedeutung gewonnen … „Entscheidungsorientiert“ nennt sich dieser Ansatz, weil in erster Linie die den ausführenden Tätigkeiten vorgelagerten Prozesse des Auswählens oder Entscheidens das Erkenntnisobjekt der Betriebswirtschaftslehre bilden. Dieses Vorgehen geht auf die Tatsache zurück, daß letztlich jede ausführende Tätigkeit – in Betriebswirtschaften ebenso wie in anderen Organisationen – aus irgendeiner Entscheidung resultiert. Die Betrachtung erfordert naturgemäß einen weitgefaßten Entscheidungsbegriff, der rationale Entscheidungen ebenso einschließt wie Zufallsentscheidungen. Es ist demgemäß keine Tätigkeit denkbar, die nicht vorab Gegenstand einer Entscheidung war. Der entscheidungsorientierte Ansatz beschränkt sich indessen nicht nur auf den unmittelbaren Wahlakt; vielmehr bezieht er sämtliche mit einer Wahlhandlung verbundenen Aktivitäten in die Überlegung ein: das Problemerkennen ebenso wie die Alternativensuche und -auswahl, deren Durchsetzung und Kontrolle. Eine entscheidungsorientierte Betriebs­ wirtschaftslehre analysiert somit die spezifischen Verhaltensweisen der in Betriebswirtschaften tätigen Wirtschaftssubjekte. Diese auf das menschliche Verhalten ausgerichtete Konzeption sieht Betriebswirtschaften als Sozialsysteme, d.  h. als Mehrheiten von Personen, zwischen denen – bedingt durch die Arbeitsteiligkeit – vielfältige Beziehungen bestehen. Das Entscheidungsverhalten der Mitglieder einer Betriebswirtschaft läßt sich nur unter Berücksichtigung solcher Beziehungen sowie der externen und individuellen Einflüsse erfassen. Dies erfordert ein begriffliches Instrumentarium, das ohne Rückgriff auf Erkenntnisse anderer sozialwissenschaftlicher Disziplinen wie z. B. Psychologie, Sozialpsychologie oder Politologie kaum zu entwickeln ist. Eine in diesem Sinne entscheidungsorientierte Betriebswirtschaftslehre ist daher notwendigerweise interdisziplinär angelegt. (E.  Heinen (Hrsg.): Industriebetriebslehre, 6. Aufl., Wiesbaden 1978, S. 25 f.) Die nachstehende Abbildung (vgl. Abb.  72.1) soll den Forschungsansatz der entscheidungsorientierten Betriebswirtschaftslehre verdeutlichen. Das breite obere Rechteck kenn-

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72  Heinen, Edmund

Betriebswirtschaftslehre Bewertung von Handlungsmöglichkeiten Erforschung (1) betriebswirtschaftlicher Ziele und Zielbildungsprozesse (z. B. Gewinn-, Umsatz-, Rentabilitäts-, Sicherheitsstreben etc.)

Systemtisierung (2) betriebswirtschaftlicher Entscheidungstatbestände (z. B. Problemstellung im Produktions-, Absatz- oder Finanzbereich etc.)

(3) Betriebswirtschaftliche Erklärungsmodelle

(z. B. Produktionsfunktion, Preis-AbsatzFunktion etc.)

Grundmodelle (5) Betriebswirtschaftlich relevante Modelle der Menschen, der Gruppe, der Organisation und der Gesellschaft

fachübergreifende Auf- (6) fassungen (z. B. Entscheidungs-, Organisations-, Systemtheorie)

(4) Betriebswirtschaftliche Entscheidungsmodelle (z. B. Entscheidungsmodell zur optiomalen Programmplanung, Investitionsmodelle etc.)

Ergebnis fachverbindender (interdisziplinärer) Forschung

Nachbarwissenschaften (7) (z. B. Volkswirtschaftslehre, Rechtswissenschaft, Soziologie, Politologie, Psychologie, Sozialpsychologie, Mathematik)

Abb. 72.1  Der Forschungsansatz der entscheidungsorientierten Betriebswirtschaftslehre. (Quelle: E. Heinen (Hrsg.): Industriebetriebslehre, 8. Aufl., Wiesbaden 1990, S. 12) zeichnet den Aktivitätsbereich der Betriebswirtschaftslehre, das untere Rechteck deutet ihre interdisziplinäre Verbundenheit an. (E. Heinen (Hrsg.): Industriebetriebslehre, 8. Aufl., Wiesbaden 1990, S. 12)“

• Heinen kommt das Verdienst zu, dass durch sein neues Konzept die BWL eine Öffnung erfahren hat. Seine entscheidungsorientierte BWL trug wesentlich dazu bei, das bis dahin von Gutenberg dominierte Fach interdisziplinär zu öffnen und andere Wissenschaften miteinzubeziehen. Schanz betont, „dass das heuristische Potenzial dieses Ansatzes beträchtlich ist. Indem die einseitig ökonomi(sti)sche Betrachtung des betriebswirtschaftlichen Erkenntnisobjekts in Gestalt einer im Kern sozialwissenschaftlich ausgerichteten Perspektive Konkurrenz bekommen hat, sind der Betriebswirtschaftslehre neue und wichtige Zugangsmöglichkeiten zu bislang verschlossen gebliebenen Problemfeldern eröffnet worden“ (S. 62).

Wichtige Publikationen • Zum Problem des Zinses in der industriellen Kostenrechnung, 1952 • Die Kosten – ihr Begriff und ihr Wesen

Literatur

• • • • • • • • • • • •

541

Anpassungsprozesse und ihre kostenmäßigen Konsequenzen, 1957 Handelsbilanzen, 1958 Betriebswirtschaftliche Kostenlehre, 1959 Die Zielfunktion der Unternehmung, 1962 Betriebswirtschaftslehre heute  – Die Bedeutung der Entscheidungstheorie für Forschung und Praxis, 1966 Das Zielsystem der Unternehmung, 1966 Das Kapital in der betriebswirtschaftlichen Kostentheorie, 1966 Einführung in die Betriebswirtschaftslehre, 1968 Zum Wissenschaftsprogramm der entscheidungsorientierten Betriebswirtschaftslehre. In: ZfB, 39 Jg., 1969, S. 207–220 Industriebetriebslehre. Entscheidungen im Industriebetrieb, 1972 Kosten und Kostenrechnung, 1975 Unternehmenskultur, 1977

Literatur Bellinger (1988), S. 83–86 Hesse (2009), S. 222–223 Löffelholz (1980), S. 925–930 A. Picot: Edmund Heinen – 70 Jahre. In: zfbf, 41. Jg., 5/1989, S. 427–430 Schanz (2014), S. 54–62 Wöhe (1978), S. 58–60 Wöhe (2010), S. 17–18

Ulrich, Hans Martin

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Wächter, Ökonomen auf einen Blick, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29069-6_73

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73  Ulrich, Hans Martin

Leben & Karriere • Ulrich besuchte das Gymnasium in Bern und legte dort im Herbst 1938 die Matura ab. • Anschließend begann er ein Studium der Ingenieurswissenschaften an der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) in Zürich, das er jedoch nach einem Jahr abbrach, um zur Wirtschaftswissenschaft zu wechseln. • 1939 ging U. zurück nach Bern an die dortige Universität. 1944 promovierte er zum Dr. rer. pol. mit seiner Dissertation Nationalökonomie und Betriebswirtschaftslehre als Wirtschaftswissenschaften und ihr gegenseitiges Verhältnis. Seine Promotion schloss er mit höchster Auszeichnung ab. • Von 1944 bis 1946 war U. Assistent von A. Walther an der Universität Bern. • 1947 habilitierte sich U. in Bern mit einer Schrift, die zwei Jahre später unter dem Titel Betriebswirtschaftliche Organisationslehre veröffentlicht wurde. • Ab 1947 hatte U. in Bern zunächst eine Stelle als Privatdozent und wurde 1953 zum außerordentlichen Professor für Organisation und Rechnungswesen berufen. In dieser Zeit (1951–1953) wirkte er zugleich als Vizedirektor des betriebswirtschaftlichen In­ stituts der ETH Zürich. • 1954 folgte U. einem Ruf an die Handelshochschule St. Gallen (heute: Universität St. Gallen), wo er als ordentlicher Professor bis zu seiner Emeritierung im Frühjahr 1985 forschte und lehrte. Er wirkte insbesondere auf den Gebieten der Allgemeinen Betriebswirtschaftslehre und der Organisationslehre. In dieser Zeit gründete und leitete er das Institut für Betriebswirtschaft und begründete eine neue Richtung in der BWL, die sogenannte „systemorientierte Managementlehre“, die auch als „St. Galler Managementmodell“ bekannt wurde und großen Einfluss auf die Entwicklung des Faches nahm. • Ulrich wurden verschiedene Auszeichnungen und Ehrungen zuteil: Er war Träger der Johann-Friedrich-Schär-Medaille (1971) und des Martin-Hilti-Preises (1982). Er erhielt die Ehrendoktorwürde der Universitäten Zürich (1977), Augsburg (1980) und Mannheim (1985). Er war Mitglied der International Academy of Management und Ehrenmitglied des Verbandes der Hochschullehrer für Betriebswirtschaft.

Werk & Wirkung • Etwa zeitgleich zu der in Deutschland stattfindenden sozialwissenschaftlichen Öffnung der Betriebswirtschaftslehre (z. B. durch → Edmund Heinen) entwickelte Ulrich an der Hochschule St. Gallen den „systemorientierten Ansatz“, den er in seinem Werk Die Unternehmung als produktives soziales System (1968) vorstellte. Unternehmen – als eine besondere Erscheinungsform von Organisationen – stellen für U. Systeme dar.

Werk & Wirkung

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„Unter einem System verstehen wir eine geordnete Gesamtheit von Elementen, zwischen denen irgendwelche Beziehungen bestehen oder hergestellt werden können (H. Ulrich: Die Unternehmung als produktives soziales System, 1970, S. 105).“

Der konkrete Bezug zur Betriebswirtschaft wird hergestellt durch die von U. verwendeten Attribute „produktiv“ und „sozial“. Unternehmungen sind sowohl produktive als auch soziale Systeme. Er zielt darauf ab, eine Unternehmung aufzugliedern, in ihre Subsysteme zu zerlegen und deren Beziehungen unterein ander zu analysieren. U., der Unternehmungen als Regelsysteme versteht, möchte sodann aufzeigen, wie diese im Sinne der Kybernetik geregelt und gesteuert werden können. Zur Kybernetik schreibt er: „Dieses Teilgebiet der Systemtheorie befasst sich mit einem bestimmten Phänomen, das überall in der Natur und in der Gesellschaft vorkommt, demjenigen der Lenkung, dem unter Kontrolle halten von Zuständen. Sie ist also durchaus eine empirische Wissenschaft, aber mit einem Problembereich, der gewissermaßen quer liegt zu allen üblichen wissenschaftlichen Disziplinen (H. Ulrich: Management – eine unverstandene gesellschaftliche Funktion, 1983, S. 181).“

• Da Unternehmungen auch soziale Gebilde sind, die der Lenkung und Steuerung bedürfen, spricht man bei der Anwendung der Kybernetik auf das betriebswirtschaftliche Erkenntnisprojekt Unternehmung auch von einem sozial-kybernetischen Ansatz der Betriebswirtschaftslehre. Gegenüber dem Ansatz von → Gutenberg, der an der Kombination der Produktionsfaktoren orientiert ist, findet durch den Ansatz von U. also eine erhebliche Erweiterung, eine Öffnung der Betriebswirtschaftslehre statt. Inwiefern ein Unternehmen ein regelungsbedürftiges System ist, kann verglichen werden mit der Funktionsweise eines Thermostats: Zunächst herrscht ein Gleichgewichtszustand. Eine Störung innerhalb des Systems führt zu einem schlechteren IstWert, der an einen Regler gemeldet wird. Dieser erfasst die Soll-Ist-Abweichung und reagiert in Form einer veränderten Anweisung an die Regelstrecke, und zwar solange bis die Ist-­Werte den Soll-Werten entsprechen. Dieses Prinzip überträgt U. auf das Unternehmen (siehe Abb. 73.1). Entspricht der Output (z. B. ein Produkt) nicht den Sollwerten (z. B. Qualitätsstandards) nimmt eine Entscheidungsinstanz (z. B. der Maschinenführer) eine Korrekturentscheidung vor und verändert die Einstellung der Maschine. Dieses ist der erste Regelkreis, der unterhalb der Unternehmensleitung abläuft. Kommt es zu weiteren massiven Störungen, die sich auf der unteren Ebene nicht korrigieren lassen, wird die übergeordnete Instanz (z. B. Unternehmensführung) einbezogen und es kommt evtl. zu einer Formulierung eines neuen Soll-Wertes. Es entsteht also ein zweiter Regelkreis. Man erkennt, dass im Gegensatz zum Gutenbergschen Ansatz der Mitarbeiter nicht bloß als ein Produktionsfaktor gesehen wird, sondern wesentlicher Träger eines

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73  Ulrich, Hans Martin

Zielsetzendes System (ZS)

Übergeordnetes System

Entscheidungsinstanz (EI) Korrekturentscheide

Regler (R) (Soll-Ist-Vergleich)

Ziel, Soll-Wert

Ist-Wert-Erfasser (IWE) (Regler im w.S.) Input

Aktivität

Output

Ist-Wert

Regelsystem Störungen Auslösung und Inganghaltung des Ziel-Ansteuerungsvorganges Rückkoppelungsschleife, bestehend aus – Ist-Wert-Erfassung – Soll-Ist-Vergleich – Korrekturmaßnahmen

Abb. 73.1  Aufbau eines Regelsystems nach H. Ulrich. (Quelle: H. Ulrich: Die Unternehmung als produktives soziales System, 2. Aufl. Bern: Haupt 1970, S. 123)

wirtschaftenden Sozialgebildes ist. Gutenberg selbst übte Kritik am sytemtheoretischen Ansatz. Seine skeptische bis ablehnende Haltung äußerte er in spöttischer Form so: „Der Systemansatz von Ulrich liefert keine methodische Prozedur, weder für Fragen der Prozeßanalyse noch der Prozeßgestaltung. Es wird nur ausführlich gesagt, daß es S ­ ysteme »natürlicher« oder »künstlicher«, von Menschen geschaffener Art gibt, daß sich ein System durch

Literatur

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eine Menge von Elementen kennzeichnet, zwischen denen Abhängigkeiten bestehen, daß Systeme sich in Subsysteme untergliedern lassen, daß es offene und geschlossene, deterministische und probabilistische, statische und dynamische Systeme gibt. … Über die Beliebigkeit des Systembegriffs im heutigen deutschen Sprachgebrauch (und nicht nur in ihm) kommt Ulrich denn auch nicht heraus. … Dem Systemansatz von Ulrich fehlt also die Systemidee. Er ist blaß und nur eine Rahmenbedingung unverbindlicher Art. Es ist schwer zu verstehen, wie ein solcher Systemansatz den Gegenstand einer Disziplin zu bestimmen die Kraft haben soll (E. Gutenberg: Zur Theorie der Unternehmung, Berlin u. a. 1989, S. 169 f.).“

• Heute wird allgemein anerkannt, dass der von Ulrich entwickelte Ansatz wesentlich dazu beigetragen hat, eine Verschiebung der Betriebswirtschaftslehre hin zur Managementlehre bewirkt zu haben. Dies wird bestärkt durch die eigene Auffassung U.s, wonach der Zweck der BWL darin bestehe, „handelnden Menschen das in bestimmten Problemsituationen benötigte Wissen zur Verfügung zu stellen …. In diesem Sinn wird die hier postulierte BWL verstanden als Unternehmungsführungslehre oder, wenn man den engen Bezug auf Unternehmungen vermeiden will, als Managementlehre“ (Ulrich: Zum Praxisbezug der Betriebswirtschaftslehre, S. 135 f.). Generell hat das Werk von U. zu einer erheblichen Öffnung des Faches geführt: So werden Unternehmen als offene, soziale Systeme betrachtet; die Einführung einer wertmäßigen Führungsebene hat die BWL für ökologische und ethische Fragen (Unternehmensethik) geöffnet, und die rein analytische Betrachtungsweise hat sich geweitet zu einer systemischen Denkweise.

Wichtige Publikationen • • • • •

Betriebswirtschaftliche Organisationslehre, 1948 Die Unternehmung als produktives soziales System, 1968 Unternehmungspolitik, 1978 Management (gesammelte Aufsätze), 1984 Anleitung zum ganzheitlichen Denken und Handeln, 1988

Literatur Schanz (2014), S. 62–74 Markus Schwaninger: Hans Ulrich – Leben und Werk, in: alma 2/2001, Das Alumni-Magazin der Universität St. Gallen, S. 19–22 Wöhe (2010), S. 18

Selten, Reinhard

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Wächter, Ökonomen auf einen Blick, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29069-6_74

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Leben & Karriere • Schon als Jugendlicher zeigte sich bei Selten ein ausgeprägtes Interesse und eine große Begabung für das Fach Mathematik. Nach dem Abitur im nordhessischen Melsungen (1951) studierte er von 1951 bis 1957 Mathematik an der Goethe-Universität in Frankfurt a. M.. Daneben interessierte er sich auch für Psychologie und Wirtschaftswissenschaften. Da er der erste Student war, dem es erlaubt wurde, sein Diplom in einem nicht-naturwissenschaftlichen Nebenfach abzulegen, fiel seine Wahl auf die „mathematische Ökonomik“. • 1957 schloss er sein Mathematik-Studium mit dem Diplom ab und promovierte sich vier Jahre später. • Nach seiner Promotion (1961) wurde S. von Oskar Morgenstern, den er in Frankfurt kennenlernte, nach Princeton eingeladen, wo er mit R. J. Aumann und M. Machler zusammen arbeiten konnte. • 1965, auf einem Höhepunkt des „Kalten Krieges“, war S. Mitglied einer Gruppe von zehn Spieltheoretikern, die im Auftrag der Arms Control an Disarmament Agency spieltheoretische Analysen zur nuklearen Abschreckung erarbeiten sollten. Dort lernte er auch John C.  Harsanyi kennen, mit dem er viele Jahre lang zusammen arbeitete. S. schreibt hierzu: „… The group often met for several days near Washington D.  C.. I cooperatet with John C. Harsanyi on bargaining under incomplete information, but I also did other work on models of nuclear deterrence. Theo group did not produce anything of practical value for for the Arms Control an Disarmament, but nevertheless it was very successful because important theoretical advances, e.g. in the analysis of repeated games of incomplete information by Aumann, Maschler, and Stearns were mede there (zit. n. W. Reiß 2007, S. 488).“

• Von 1967–1968 hatte S. eine Gastprofessur an der University of California in Berkeley, USA. • 1968 erfolgte in Frankfurt a. M. die Habilitation in Wirtschaftswissenschaften. • 1969 ging S. an die Freie Universität Berlin, wo er bis 1972 den Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre innehatte. Die dortigen Studentenunruhen veranlassten S., an die neugegründete Universität Bielefeld zu wechseln. • Von 1972 bis 1984 hatte S. eine Professur am Institut für Mathematische Wirtschaftsforschung der Universität Bielefeld. • Von 1984 bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1996 war S. ordentlicher Professor für Wirtschaftstheorie an der Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Dort gründete er das Labor für Experimentelle Wirtschaftsforschung, mit dem er internationale Berühmtheit erlangte.

Werk & Wirkung

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• S. ist Träger zahlreicher Ehrendoktorwürden und bedeutender Auszeichnungen; so wurde ihm z. B. im Jahre 2006 der Orden Pour le Mérite für Wissenschaften und Künste verliehen. • S. war Mitglied der Econometric Society, der European Economic Association, der American Economic Association, der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste, der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, der American Academy of Arts and Sciences und der Gesellschaft für experimentelle Wirtschaftsforschung.

Werk & Wirkung • Zu den Forschungsschwerpunkten Seltens gehört neben der Spieltheorie und ihrer Anwendung die von ihm begründete experimentelle Wirtschaftsforschung. Für seine zwei Publikationen auf dem Gebiet der Spieltheorie aus den Jahren 1965 und 1975, in denen er das Gleichgewicht in nicht-kooperativen Spielen analysierte, erhielt S. (zusammen mit John C. Harsanyi und John F. Nash) als erster Deutscher 1994 den Wirtschaftsnobelpreis. • Seine besondere Leistung auf dem Gebiet der Spieltheorie sowie deren praktischen Nutzen erläutert Selten in einem Interview so: „Bis in die siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts stand vor allem die sogenannte kooperative Spieltheorie im Vordergrund der wissenschaftlichen Auseinandersetzung, die im Prinzip von den Begründern der Spieltheorie John von Neumann und Oskar Morgenstern entwickelt wurde. Die kooperative Theorie ist im Grunde aber nur eine Art Abkürzung, weil man davon ausgeht, dass die jeweiligen Spielpartner eine irgendwie geartete Kooperation suchen werden. Man setzt also eine Kooperation voraus und geht dann eigentlich nur noch der Frage nach, wie Gewinne aufgeteilt werden oder welche Koalitionen sich bilden. John Harsanyi und ich haben dann auf der Grundlage der Arbeiten von John Nash, der mit seinem Begriff des strategischen Gleichgewichts ja schon die wesentlichen Grundlagen geschaffen hatte, den Ansatz der nichtkooperativen Theorie weiterentwickelt. In der nichtkooperativen Theorie wird eben eine Kooperation nicht einfach angenommen, sondern sie wird als Gleichgewicht eines Spiels charakterisiert, das nicht unbedingt mit einer Kooperation enden muss. … Es wurden dadurch zum einen Vorhersagen über sehr viele interessante Marktsituationen, insbesondere Oligopole, möglich, zum anderen hat sich dann eben als Erstes ein neues wissenschaftliches Gebiet entwickelt, die sogenannten „New Industrial Economics“, zu Deutsch neue Industrieökonomik, herausgebildet, bevor die Spieltheorie dann auch in einer Reihe anderer Felder der Wirtschaftstheorie Einzug gehalten hat. Die Erkenntnisse der New Industrial Economics waren deshalb so wichtig, weil man dadurch erfahren hat, dass das Ergebnis, das in einer bestimmten, genau definierten Situation als rationale Lösung angesehen werden kann, nicht übereinstimmt mit dem, was man als Ergebnis erhält, wenn man die gleiche Situation in einem Laboratorium experimentiert. Anders gesagt: Die Vorhersagen eines bestimmten Modells halten einer praktischen experimentellen Überprüfung nicht stand. Ein

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Grund dafür ist, dass in wirtschaftstheoretischen Modellen meistens vorausgesetzt wird, dass die Menschen nur ihren eigenen materiellen Nutzen maximieren wollen. Unsere Experimente haben gezeigt, dass das eben in der Wirklichkeit nicht der Fall ist. Es ist vielmehr so, dass es durchaus eine interaktive Motivation gibt, bei der Fairness, Vertrauen und Reziprozität eine sehr wichtige Rolle spielen. Anders gesagt, der Mensch strebt eben auch in nichtkooperativen Spielen eine faire Lösung an, die dann nicht unbedingt im Gleichgewicht ist, und vertraut eben darauf, dass der Andere sich ebenfalls als anständig erweist. Je nach Situation findet man aber auch eine negative Reziprozität vor, bei der Bestrafung oder Rache als sehr wichtige Motivation auftreten (in: institutional-money, Ausgabe 3/2010).“

• Seit der Klassik werden in der Ökonomie Modelle verwendet, die auf der Annahme basieren, dass sich die Menschen stets rational verhalten. S. kamen während seiner spieltheoretischen Forschungen erhebliche Zweifel an dieser traditionellen Theorie, insbesondere an dem Modell des „homo oeconomicus“. Sein Anliegen war es daher, das reale menschliche Verhalten im Wirtschaftsleben zu ergründen und dieses auch in seine Spieltheorie zu integrieren. In diesem Zusammenhang zeigt sich S. offen dafür, die Psychologie stärker in die Wirtschaftswissenschaft mit einzubeziehen, weil „es die Aufgabe der Ökonomen ist zu verstehen, was in der Wirtschaft vorgeht. Und wenn dazu die Psychologie erforderlich ist, dann müssen wir uns darum kümmern.“ „Es gibt in der Wirtschaftswissenschaft eine methodologische Auffassung, die ich als „naiven Rationalismus“ bezeichne. Der Ausgangspunkt ist das Bild des voll rationalen „homo oeconomicus“, von dem angenommen wird, daß es im großen und ganzen die Wirklichkeit richtig widerspiegelt. (…) Die Meinungen darüber, was Spieltheorie ist und was sie sein sollte, haben sich im Laufe der Zeit gewandelt, manchmal in überraschender Weise. Wir stehen jetzt vor der Aufgabe, aus der experimentellen Forschung heraus eine deskriptive Spieltheorie zu entwickeln, die eingeschränkt rationales strategisches Verhalten realistisch beschreibt (R. Selten: Die konzeptionellen Grundlagen der Spieltheorie einst und jetzt, Bonn Econ Discussion Papers 01/2001, S. 13 f.).“

• 1984 gründete S. in Bonn das erste Laboratorium für experimentelle Wirtschaftsforschung. Die experimentelle Wirtschaftsforschung ist eine Methode, empirische Daten in einem kontrollierten Umfeld zu erzeugen; sie werden in Experimentalsitzungen oder im Feld gewonnen. Dabei treffen Versuchspersonen reale Entscheidungen, die mit Geldanreizen ausgestattet sind. Diese Methode zielt darauf ab, eine bessere Verhaltensanalyse zu ermöglichen und beispielsweise zu erkennen, wann und wie Menschen sich irrational verhalten, also vom Bild des homo oeconomicus abweichen. Ergänzend bedient man sich noch anderer Erhebungsmethoden, wie z.  B. den traditionellen ­Feldstudien oder Fragebögen. In dem Labor widmet man sich beispielsweise der ­Erforschung von Auktionen und Märkten, Verhandlungen, Arbeits- und Gesundheitsökonomik, Fairness und Reziprozität, Gruppenentscheidungen und Neuroökonomik.

Literatur

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• S. ist der Gründervater der experimentellen Wirtschaftsforschung; und er hat wesentlich dazu beigetragen, dass diese Forschungsmethode mittlerweile in der Fachwelt anerkannt ist und sich etabliert hat. An vielen Universitäten existieren heute Labors, die das wirtschaftliche Verhalten von Menschen erforschen. „Allein in Deutschland gibt es laut einer einschlägigen Liste der Universität Montpellier mittlerweile 20 Experimentallabors, insgesamt 69 in ganz Kontinentaleuropa und 61 in den USA. Rund ein Fünftel der deutschsprachigen Volkswirte beschäftigt sich mittlerweile lieber mit Versuchen anstatt mit mathematischen Formeln“ (E. Pickartz). In der experimentellen Wirtschaftsforschung ist Deutschland heute sogar eines der führenden Länder – sicherlich auch ein Verdienst von S. Durch seine Forschungen hat S. das lange Zeit vorherrschende Menschenbild vom homo oeconomicus revidiert und somit das theoretische Fundament der (neo)klassischen Wirtschaftstheorie ins Wanken gebracht. Auch die Spieltheorie gehört spätestens seit der Verleihung des Nobelpreises an S. im Jahr 1994 zum Standardrepertoire an den wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten. Über seine weitere Forschertätigkeit sagte S. in einem Interview: „Ich bin für alle immer der Spieltheoretiker, dabei interessieren mich heute ganz andere Sachen. Spieltheorie, das ist jetzt Mainstream, die eingeschränkte Rationalität, das ist noch Neuland, daran muss ich noch ein bisschen arbeiten, damit sich das durchsetzt. An dem Buch mit John Harsanyi habe ich 18 Jahre gearbeitet, eines über Qualitative Reasoning ist jetzt seit 20 Jahren in Arbeit. Ich muss der Masse eben immer weit voraus sein, weil ich mich immer so lange mit den Dingen befasse (In: ZiF-Mitteillungen 1/2011).“

Wichtige Publikationen • Spieltheoretische Behandlung eines Oligopolmodells mit Nachfrageträgheit  – Teil I: Bestimmung des dynamischen Preisgleichgewichts, Teil II: Eigenschaften des dynamischen Preisgleichgewichts. In: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, 121, 1965 • Reexamination of the Perfectness Concept for Equilibrium Points in Extensive Games. In: International Journal of Game Theory, 4, 1975

Literatur Hesse (2009), S. 502 A. Müller: Reinhard Selten – Vom Außenseiter zum Nobelpreisträger, Handelsblatt vom 04.10.2010, S. 16–17 J. Pennekamp: Reinhard Selten – Der Spieler, FAS vom 07.12.2013 E. Pickartz: Der Boom der Experimentalökonomie, Handelsblatt vom 07.04.2013 Piper (1997), S. 112–117 Reiß (2007) Rose (2013), S. 88 ff.

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N. Häring: Abgang eines großen Denkers, Handelsblatt vom 02. 09. 2016

Internet http://www.bonneconlab.uni-bonn.de/team/selten.reinhard http://www.nobelprize.org/nobel_prizes/economic-sciences/laureates/1994/selten-bio.html http://www.bgse.uni-bonn.de/bonn-econ-papers/archive/2001/bgse2_2001.pdf. http://www.institutional-money.com/magazin/theorie-praxis/artikel/test-4/ https://www.uni-bielefeld.de/ZIF/Allgemeines/Selten_Interview.pdf

Kotler, Philip

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Wächter, Ökonomen auf einen Blick, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29069-6_75

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Leben & Karriere • Als Schüler an der High School entdeckte Kotler die Lust am Schreiben. Er verfasste Artikel für die Schülerzeitung und debattierte leidenschaftlich mit seinen Mitschülern das aktuelle politische Geschehen. Mit 14 Jahren las K., der in armen Verhältnissen aufwuchs, das Kommunistische Manifest von → Karl Marx. Es drängte sich ihm die Frage auf: „Why is income so poorly distributed?“ Von da an wurde ihm klar, „that I wanted to help create a more equitable society by making better use of economic theory“ (Kotler 2017, S. 19). Zunächst spielte K. mit dem Gedanken, den Beruf des Buchhalters zur erlernen, weil er so etwas über Wirtschaft lernen und ein geregeltes Einkommen haben könne. • K. immatrikulierte sich an der DePaul University, einer privaten Hochschule in Chicago, die ihm ein Stipendium ermöglichte. Zunächst begann er Buchhaltung und Rechtswissenschaften zu studieren. Schon nach einem Jahr bemerkt er, „that something was missing“. So beschloss er sein Studium breiter aufzustellen. K. war fasziniert von „The Great Books“, einer mehrbändigen Enzyklopädie, die vom Universitätspräsidenten der University of Chicago Robert Hutchins (1899–1977) und von Mortimer Adler  (1902–2001) herausgegeben wurde. Auch wurden Lehrveranstaltungen zu den „Great Books“ angeboten. Die Leser bzw. Studierenden sollten in umfassender Weise gebildet und mit den bedeutenden Werken und großen Menschheitsideen des westlichen Bildungskanons vertraut gemacht werden. „I kept reading about the ideas of philosophers such as Plato, Aristotle, Machiavelli, Immanuel Kant, among others“ erinnert K. sich in seiner Autobiografie. „I sharpened my ability to think critically. The Great Books helped me develop a lifelong interest in ‚building a better society‘“ (Kotler 2017, S. 18). Nach zwei Jahren an der DePaul Universität wechselte K. an die University of Chicago. • Zu Kotlers Lehrern an der University of Chicago gehörten die Vertreter der sogenannten „Chicago School“, wie z.  B. → Milton Friedman und Frank Knight. Von ihnen lernte er, welche Bedeutung dem freien Spiel der Marktkräfte und dem Wettbewerb zukommt. Er war fasziniert von der Theorie des Kapitalismus. Nachdem K. mit Anfang 20 sein Studium der Volkswirtschaftslehre mit dem Mastertitel (1953) abgeschlossen hatte, ging er für seine Promotion an das Massachusetts Institute of Technology (MIT), wo wiederum ein zukünftiger Nobelpreisträger sein Lehrer sein sollte. Bei seinem Doktorvater Paul A. Samuelson lernt er die Ideen von → John M. Keynes kennen. Die Begegnung mit Samuelson beeinflusste K.s ökonomisches Denken und ließ ihn zu einem überzeugten Keynesianer werden (vgl. Kotler 2017, S. 21). Eine Forschungsreise führte K. – begleitet von seiner Frau Nancy, die er kurz zuvor geheiratet hatte – von 1955 bis 1956 nach Indien. 1956 erhielt K. den Doktortitel in Wirtschaftswissenschaften. In den folgenden Jahren studierte K. in postgradualen Studienprogrammen Soziologie in Chicago und höhere Mathematik an der Harvard University.

Werk & Wirkung

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• Seit 1962 bekleidet K. den Lehrstuhl für Internationales Marketing an der renommierten J. L. Kellogg School of Management der Northwestern University in Illinois. Einer Anekdote zufolge hatte man ihm eine Professur für Management oder für Marketing angeboten. Er habe sich dann entschieden, „das zu unterrichten, wovon ich am wenigsten verstand – Marketing“ (zit. n. Kennedy, S. 119).

Werk & Wirkung • Die „Geburtsstunde“ des Marketing liegt in den 1950er-Jahren. Reavis Cox, Wroe Alderson und Stanley J. Shapiro (1950) vertraten damals eine neue Sichtweise, wonach Marketing als Input-Output-System aufgefasst wurde. Ebenfalls im Jahr 1950 fand der Begriff „Marketing Mix“ Eingang in die Fachliteratur. Es war Neil H. Borden, der ihn erstmals in seinem Buch Advertising – Text and Cases (S. 164) verwendet. Zehn Jahre später entwickelte Edmund Jerome Mc Carthy in seinem Buch Basic Marketing (1960, S.  45) ein managementorientiertes Konzept zum Marketing-Mix, das auf den sogenannten „Four P’s“ basiert. Seitdem gelten Product, Price, Promotion, Place als die Schlüsselelemente im Marketingprozess. Es sollte an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben, dass schon fünf Jahre zuvor → Erich Gutenberg in Der Absatz konstatiert, „daß Unternehmungen, die unter marktwirtschaftlichen Bedingungen arbeiten, über ein ­bestimmtes absatzpolitisches Instrumentarium verfügen, das sie in den Stand setzt, auf die marktlichen Geschehnisse in ihren Absatzbereichen gestaltend Einfluß zu nehmen. Dieses Instrumentarium besteht aus den vier Bestandteilen: ‚Absatzmethode‘, ‚Produktgestaltung‘, ‚Werbung‘ und ‚Preispolitik‘“ (Gutenberg, 1955, S. 15). Mit der prägnanten Formulierung der „4 P’s“ von McCarthy im Jahr 1960 nimmt das „moderne Marketing“ seinen Anfang. Die wirkliche Neuorientierung des Marketings als Führungsfunktion setzte jedoch erst ein mit der Bedürfnis- und Kundenorientierung als eine unternehmerische Leitgröße. „Vor allem durch die Arbeiten von Philip Kotler wurde in den 60er-Jahren das angebotsorientierte durch das nachfrageorientierte Marketing abgelöst“ (Diller 2001, S.  978). Die Entwicklungsstufen des Marketing (vgl. Meffert 2009, S. 6–10) zeigt Abb. 75.1. • Kotler kommt das Verdienst zu, das Marketing konsequent ausgebaut und als eine wirtschaftswissenschaftliche (Teil-)Disziplin etabliert zu haben. Er prägte viele Begriffe, die heute zum Standardvokabular der Marketingexperten gehören und entwickelte grundlegende Konzepte des Marketings (vgl. Campus Management, Bd. 2, S. 1147). Später dehnte er seine Marketing-Studien auch auf nichtkommerzielle Bereiche aus, z. B. auf die Vermarktung von Personen, Städten, Ländern. 1971 verfasste er zusammen mit Gerald Zaltman „Social Marketing“ und wandte das Marketingkonzept auf die Politik an. Social Marketing (auch: Sozio-Marketing) kann allgemein als „Marketing

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Abb. 75.1  Entwicklungsstufen des Marketing. (Quelle: Meffert et al. (2019), S. 8.)

für aktuelle soziale Ziele“ definiert werden. Mit dem Beitrag „Demarketing“ stellte K. die Antithese zum Marketing auf: Unternehmen oder die Gesellschaft könnten ein ins Gegenteil verkehrtes Marketing dazu nutzen, eine exzessive oder sozial unerwünschte Nachfrage zu dämpfen (vgl. Kennedy, S. 122). Zu seinen neueren Konzepten gehört z. B. das sogenannte „Marketing 4.0“. Der Focus des Marketings hat sich seit den 1950er-Jahren immer wieder verändert. Stand beim ursprünglichen, klassischen Marketing (Marketing 1.0) das Produkt im Zentrum, verschob sich mit dem Marketing 2.0 der Schwerpunkt zum Konsumenten (Consumermarketing). Beim Marketing 3.0 rückt Kotler den Menschen mit all seinen Facetten in den Mittelpunkt des Interesses. Das Marketing 4.0 ist geprägt durch die Digitalisierung. Nach Kotlers Ansicht wird es künftig zur Überschneidung von digitalem und klassischem Marketing kommen, denn der Mensch will digitale Information und Interaktion, zugleich aber auch individualisierte Produkte und persönliche Dienstleistungen.

Werk & Wirkung

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• K. hat über 60 Bücher (vgl. www.pkotler.org) verfasst und über 150 Aufsätze zu vielfältigen Themen des Marketings in renommierten Fachzeitschriften veröffentlicht (z. B. Harvard Business Review, Journal of Marketing, Journal of Marketing Research). Sein wohl bedeutendstes Werk, das auch seinen Ruhm begründet hat, ist das 1967 erschienene Lehrbuch Marketing-Management (siehe Abb. 75.2). Es umfasst auf rund 1000 Seiten das gesamte Spektrum des zeitgenössischen Marketings, wurde in über 25 Sprachen übersetzt und gilt weltweit als das Standardwerk in der Marketing-Lehre. Dieser Erfolg ist wohl auch der Konzeption des Buches zu verdanken: Es ist systematisch angelegt, enthält viele Fallbeispiele aus der Praxis und bezieht andere Wissenschaften mit ein, wie z.  B. die Mikroökonomie, Psychologie und Mathematik. Zum 50-jährigen Jubiläum von „Marketing-Management“ wurde K. in einem Interview danach gefragt, welches die größten Änderungen an diesem Lehrbuch in den letzten fünf Jahrzehnten gewesen seien, und welche ursprünglichen Konzepte er im Laufe der Jahre verworfen oder aktualisiert habe. Die Antwort:

Abb. 75.2  Die 1. Auflage von „Marketing Management“ ist 1967 erschienen. Die Financial Times zählt das Buch zu den 50 besten Wirtschaftsbüchern aller Zeiten

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„In meinem Buch ‚Marketing Management‘ beschreibe ich die wichtigsten Marketingkonzepte im ersten Kapitel. Sie sind: Segmentierung, Zielsetzung, Positionierung, Bedürfnisse, Wünsche, Bedarf/Nachfrage, Angebote, Markenbildung, Wert und Befriedigung, Austausch, Transaktionen, Mentoren und Netzwerke, Marketingkanäle, Lieferkette, Wettbewerb, die Marketingumgebung und Marketingprogramme. Diese Begriffe umfassen das Arbeitsvokabular eines Marketingprofis.“

Abb. 75.3  Quellen: Kotler (2007), S. 11; www.marketing-und-vertrieb-international.com/marketing/kotler-interview-zu-marketing-fragen.htm „The core idea of marketing is that business should be a machine for satisfying a want or a given set of wants of a chosen set of customers. This has remained through all 15 editions of Marketing Management. What I have added is that business must include the impact of its decisions on the environment, the communities, and the planet. We want business to pay attention to people, the planet, as well as profits.“

Im Kern geht es in „Marketing-Management“ darum, wie es ein Unternehmen bewerkstelligen kann, den Kunden zufriedenzustellen, Werte für ihn zu schaffen, an sich zu binden – und dabei auch noch profitabel zu arbeiten (siehe Abb. 75.3). Denn nur jene Unternehmen, denen dieses gelingt, werden sich am Markt durchsetzen können. „Deshalb beginnt der Marketingprozess damit, die Kundenwünsche festzustellen und zu verstehen. Zum Marketingprozess gehört es, Lösungen zu erarbeiten, welche die Kunden zufriedenstellen, dem Hersteller und Anbieter Gewinn bringen und die den Einsatz von menschlicher Arbeitskraft, Kapital und anderen Ressourcen rechtfertigen. Führende Marktpositionen werden dadurch erreicht, dass das Unternehmen seine Kunden durch Innovationen und Verbesserungen, Qualität und Kundendienste an sich bindet und Neukunden hinzugewinnt. Diese Aufgabenstellung besteht für das gesamte Unternehmen. Allen mitwirkenden Abteilungen und Personen muss dies eine Verpflichtung sein. Wenn diese Verpflichtung fehlt, kann auch noch so viel Werbung und Verkaufsförderung langfristig keinen Erfolg bringen“ (Kotler 2007, S. xxviii).

Der Inhalt des Lehrbuch-Klassikers wurde von Auflage zu Auflage aktualisiert und erweitert. So hat K. in den letzten Ausgaben beispielsweise auf die Bedeutung des Personals hingewiesen und aufgezeigt, wie die Digitalisierung die Marketingtheorie und -praxis beeinflusst. • Der englische Ökonom Peter Doyle gelangt zu folgender Würdigung von Kotlers Leistung: „Ehe er auf der Bildfläche erschien, beschränkten sich Publikationen und Lehre im Bereich Marketing hauptsächlich darauf, die Funktionen des Marketing zu beschreiben. Kotler hingegen gab dem Schreiben und der Lehre auf diesem Gebiet eine

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a­ nalytische Ausrichtung und ließ es zu einer anerkannten akademischen Disziplin werden“ (Campus Management, Bd.  2, S.  1149). Und sein US-amerikanischer Kollege Gary Hamel behauptet: „Es gibt auf diesem Planeten nur wenige MBA-Absolventen, die sich nicht ihren Weg durch Kotlers enzyklopädischen Leitfaden gebahnt und davon nicht enorm profitiert hätten. Ich kenne keinen anderen Business-Autor, der sein Feld derartig umfassend, klar und sachverständig abdeckt wie Phil Kotler.“ (Campus Management, Bd. 2, S. 1612). Eine völlig gegensätzliche Position nahm der deutsche Betriebswirt Dieter Schneider (1935–2014) ein, der der Marketingwissenschaft skeptisch gegenüberstand. Insbesondere kritisierte er die Einbeziehung der Verhaltenswissenschaften in die Betriebswirtschaftslehre, was seinerzeit einige Aufregung und auch heftige Diskussionen ausgelöst hat (vgl. Kuß 2011, S. 192). In seiner „Geschichte und Methoden der Wirtschaftswissenschaft“ übt Schneider heftige Kritik am Marketing als Managementphilosophie, denn „als solche weckt sie durch zumindest leichtfertige, oberflächlich weite Wortwahl den Verdacht, eine ‚bessere‘ Allgemeine Betriebswirtschaftslehre bieten zu können, als jene, die auf der Wirtschaftstheorie aufbaut“ (Schneider 2001, S. 264). Den Vertretern des Marketings – namentlich Kotler – wirft er vor: unsaubere Argumentation, zu weite und undurchdachte Definitionen, nichtssagende Selbstverständlichkeiten, wissenschaftliches Wunschdenken, ja sogar eine Verunstaltung der Wissenschaften. Die Lehrtexte der Marketingwissenschaft bieten nach Schneider „gar keine Wissenschaft im Sinne einer Theoriebildung […], sondern lediglich Beschwörungsformeln in einer Dompteursprache für Manager“ (S. 265). Zuletzt setzte sich Christian Blümelhuber kritisch mit K.s Konzepten auseinander und warf die Frage auf, ob sich das von K. geprägte Marketing überlebt oder noch eine Zukunft habe. Er kommt zu dem Ergebnis, dass nicht K. der Entwicklung hinterherhänge, sondern viele seine Anhänger: „Seine Fans, die sein Lehrbuch der Moderne unendlich wiederkäuen, stecken viel tiefer im Morast der Vergangenheit fest als er selbst“ (Blümelhuber, S.  20). Sie hätten keine Antworten auf drängende Fragen, wie nach der Verteilung des Wohlstandes, sozialer Verantwortung oder Umweltschutz. K. hingegen entwickelt sich weiter, immer noch mit dem Ziel vor Augen, die Welt ein Stück weit besser zu machen. Er möchte, dass die Unternehmen gute Profite machen, aber sie müssten eben auch Verantwortung übernehmen (vgl. Berdi, S. 28). • K. wurde von 22 Universitäten die Ehrendoktorwürde verliehen, z. B. von der: Universität Stockholm, Universität Zürich, Wirtschaftsuniversität Athen, Budapester Hochschule für Wirtschafts- und Verwaltungswissenschaften, Krakau School of Business and Economics und DePaul University. Darüber hinaus wurden ihm zahlreiche andere Auszeichnungen zuteil: In einer Umfrage im Jahr 1975 wurde Kotler von den akademischen Mitgliedern der American Marketing Association (AMA) zum „Leader in Marketing Thought“ gewählt. 1978 erhielt er den „Paul Converse Award“ der AMA für seinen grundlegenden Beitrag zum Marketing. 1985 erhielt Kotler als erster den „Distinguished Marketing Educator Award“ der AMA. 1989 wurde er mit dem „Charles

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Coolidge Parlin Marketing Research Award“ ausgezeichnet. 1995 wurde er von der Sales and Marketing Executives International (SMEI) zum „Marketer of the Year“ ernannt. 2011 wurde er zur „Legend in Marketing“ gekürt. 2012 belegte K. Platz 1 der „Management-A-List of Academics“. 2013 wurde er der erste Träger des „Marketing for a Better World“-Preises der William L.  Wilkie American Marketing Association Foundation für bedeutende Beiträge zur Marketingtheorie und -praxis. Im gleichen Jahr wurde er in die „Management Hall of Fame“ aufgenommen.

Wichtige Publikationen • Marketing Management: Analysis, Planning, Implementation and Control, 1967 (dt. Marketing-Management: Analyse, Planung und Kontrolle, 1974) • P. Kotler/S. J. Levi: Broadening the Concept of Marketing, in: Journal of Marketing, Januar 1969 • P. Kotler/G. Zaltmann: Social Marketing – An Approach to Planned Social Change, in: Journal of Marketing, Juli 1971 • P. Kotler/S. J. Levi: Demarketing – Yes, Demarketing, in: Harvard Business Review, Nov./Dez. 1971 • Strategic Marketing for Nonprofit Organizations, 1975 (dt. Marketing für Nonprofit-­ Organisationen, 1978) • Marketing Models, 1983 • Principles of Marketing, 1980 (dt. Marketing – Eine Einführung, 1988; Grundlagen des Marketing, 2. Aufl., 1999) • Social Marketing: Strategies for Changing Public Behavior, 1989 (dt. Social Marketing, 1990) • Marketing. How to Create, Win, and Dominate Markets, 1999 (dt. Marketing. Märkte schaffen, erobern und beherrschen, 1999) • FAQs on Marketing, 2004 (dt. FAQs zum Marketing, 2005) • Ten Deadly Marketing Sins, 2004 (dt. Die zehn Todsünden im Marketing, 2005) • Confronting Capitalism: Real Solutions for a Troubled Economic System, 2015 (dt. Der Kapitalismus auf dem Prüfstand: Seine 14 Mängel – und wie wir sie beheben können, 2016) • Marketing 4.0: Moving from Traditional to Digital, 2017 (dt. Marketing 4.0: Der Leitfaden für das Marketing der Zukunft, 2017) • My Adventures in Marketing. The Autobiography of Philip Kotler 2017

Literatur

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Literatur H. Hesse (2009), S. 281 C. Berdi: Der weise Mann des Marketings, in: Absatzwirtschaft 7/2012, S. 26–28 C. Blümelhuber: …und tschüss, Mr. Kotler? In: Absatzwirtschaft, Sonderheft zum Deutschen Marketingtag vom 05.11.2010, S. 17–20 Campus Management, 2 Bände, Frankfurt a. M. 2003, S. 374 ff, 1147 ff, 1610 ff. H. Diller: Marketing-Geschichte. In: Vahlens großes Marketing-Lexikon, 2. Aufl., München 2001, S. 976–979 C. Kennedy: Management Gurus - 40 Vordenker und ihre Ideen, Wiesbaden 1998, S. 118–123 P. Kotler: Marketing-Management, 12. Aufl. München 2007 (limitierte Ausgabe) P. Kotler: My Adventures in Marketing. The Autobiography of Philip Kotler, 2017 A. Kuß: Marketing-Theorie, 2. Aufl., Wiesbaden 2011 H. Meffert (Hrsg.): Erfolgreich mit den Großen des Marketings, Frankfurt/New York 2009 H. Meffert et al.: Marketing, 13. Aufl., Wiesbaden 2019 D.  Schneider: Betriebswirtschaftslehre, Bd. 4: Geschichte und Methoden der Wirtschaftswissenschaft, München/Wien 2001.

Internet: http://www.philkotler.com http://www.kellogg.northwestern.edu/faculty/directory/kotler_philip.aspx

Foto Kotler: P. Kotler (persönliche Korrespondenz Wächter/Kotler, E-Mail vom 07.07.2019).

Sen, Amartya

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Wächter, Ökonomen auf einen Blick, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29069-6_76

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Leben & Karriere • Der aus einer Professorenfamilie stammende Sen besuchte zunächst die St. Gregory’s School und später die Shantiniketan Tagore’s School. • Von 1951 bis 1953 studierte S. Ökonomie am Presidency College in Kalkutta, das er mit dem B.A. (Hauptfach Wirtschaft und Nebenfach Mathematik) abschloss. Die Mehrzahl der dortigen Studenten waren Mitglieder der kommunistischen Partei; doch trotz seiner Sympathien für deren Ziele stand er den autoritären Mitteln des Kommunismus ablehnend gegenüber. • 1953 verließ S. Kalkutta und ging nach Cambridge, um dort am Trinity College zu studieren. Dort erwarb er 1955 einen weiteren B.A. und 1959 den Master in Ökonomie. In Camridge wurde er konfrontiert mit den widerstreitenden Ansichten und Interessen der dort lehrenden keynesianischen Ökonomen (Kahn, Kaldor, Robinson) auf der einen und den neoklassischen Ökonomen (Robertson, Johnson, Bauer, Farrell) auf der anderen Seite. Wie S. in seiner Autobiografie anmerkt, war er „lucky to have close relations with economists on both sides of the divide.“ Seine Abschlussarbeit reichte S. bei einem Stipendienwettbewerb ein. Er konnte ihn für sich entscheiden und erhielt ein Stipendium, welches ihm die Möglichkeit eröffnete, vier Jahre lang in Cambridge frei zu forschen. Er entschied sich für politische Philosophie. • Nach einer Professur in Kalkutta (1956–1958) und kurzen Gastprofessuren am MIT und in Stanford (1960–1961) kehrte S. wieder zurück nach Indien, wo er von 1963 bis 1971 an der Deli School of Economics lehrte und diese zum führenden wirtschaftswissenschaftlichen Lehr- und Forschungszentrum ausbaute. Hier schreib er auch sein Hauptwerk Collective Choice and Social Welfare (1970). • 1971 übernahm S. einen Lehrstuhl an der London School of Economic. Es folgte eine Professur in Oxford von 1977 bis 1987. • Ab 1987 lehrte S. an der Harvard University, wo er eigentlich zwei Professuren hatte: Er gehörte sowohl dem Fachbereich für Wirtschaftswissenschaften als auch der philosophischen Fakultät an. Hier beschäftigte er sich mit welfare economics und political philosophy. • 1998 nahm S. ein Angebot seiner alten Wirkungsstätte in Cambridge an und kehrte als „Master of Trinity College“ nach England zurück. In dieses Jahr fällt auch seine Auszeichnung mit dem Nobelpreis, den er für seine Beiträge auf dem Gebiet der Wohlfahrtsökonomie erhielt. • Seit 2004 ist S. wieder als Ökonom und Philosoph in Harvard tätig.

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• Im Jahr 2008 wurde die „Stiglitz-Sen-Fitoussi-Kommission“ ins Leben gerufen. Der offizielle Name dieser Expertenkommission, die im Auftrag der französischen Regierung gebildet wurde, lautet: Commission on the Measurement of Economic Performance and Social Progress (CMEPSP) (= Kommission zur Messung von wirtschaftlicher Leistung und sozialem Fortschritt). →J. E. Stiglitz amtierte als Vorsitzender, Sen als wissenschaftlicher Berater und Fitoussi als Koordinator. Ihr Auftrag war es, ein neues Verfahren zur Messung des Wohlstandes (als Alternative zum Bruttoinlandsprodukt) zu entwickeln. • S. wurde bisher rund 100-mal die Ehrendoktorwürde verliehen. Er erhielt neben dem Nobelpreis für Wirtschaft über 30 Ehrungen und Auszeichnungen. Im Jahr 2007 wurde er in Deutschland gleich dreimal geehrt: Die Universität Kiel verlieh ihm die Ehrendoktorwürde und den „Global Economy Prize“ und die Identity Foundation und die Universität Köln den „Meister Eckhart Preis“, eine der bedeutendsten philosophischen Auszeichnungen Europas.

Werk & Wirkung • Sen, der seit 1957 über 30 Bücher schrieb und weit mehr als 300 Aufsätze in den renommiertesten Fachzeitschriften veröffentlichte, wurde vor allem bekannt durch seine Beiträge zur Wohlfahrtsökonomik und zur Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung. Für S. ist das Hauptziel einer nachhaltigen wirtschaftlichen Entwicklung die Freiheit und somit die Beseitigung von Unfreiheiten als grundlegende Voraussetzung. Unfreiheiten sieht S. zum Beispiel im Hunger, in der Unterernährung, in mangelnder Gesundheitsfürsorge, in mangelnder Versorgung mit sauberem Trinkwasser und in mangelnden Bildungseinrichtungen. In seiner Forschung und in seiner generellen Forderung nach Gerechtigkeit verbindet S. immer auch ökonomische mit philosophischen und politischen Fragen. Die Rolle der politischen Institutionen spielen dabei ebenso eine Rolle wie die Verteilung von Macht und Verantwortung in der Gesellschaft oder wie das Zustandekommen von individuellen und kollektiven Entscheidungen. • S. leistete wichtige Beiträge zur Wohlfahrtsökonomik und insbesondere zur Social-­ Choice-­Theorie, der Theorie kollektiver Entscheidungen. Für diese Leistungen auf dem Gebiet der Mikroökonomie wurde er 1998 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet. In dem 1966 veröffentlichten Artikel A Possibility Theorem on MajorityDecisions sowie in seinem Hauptwerk Collective Choice and Social Welfare von 1970 konnte S. das sogenannte „Arrow’sche Unmöglichkeits-Theorem“, auch „Arrow-Paradoxon“ genannt, widerlegen. Arrow formulierte in seiner 1951 erschienenen Arbeit fünf Anforderungen, die alle erfüllt sein müssen, damit kollektive Entscheidungen nicht im Widerspruch stehen zu individuellen Präferenzen. Diese fünf Prämissen ergeben zusammen das berühmte „Unmöglichkeits-Theorem“. Damit versuchte er nachzuweisen, dass demokratisch herbeigeführte Abstimmungsergebnisse unter bestimmten Prämissen

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widersprüchlich seien. „Die Wahlergebnisse führen zu keiner widerspruchsfreien gesellschaftlichen Wohlfahrtsfunktion, weil das Wahlergebnis davon abhängt, welche Alternative aus einer gegebenen Menge von erstrebenswerten gesellschaftlichen Zielen vom Staat zur Abstimmung gestellt wird“ (Bontrup 2004, S.  143). S. konnte durch Abwandlungen der von Arrow gestellten Bedingungen zeigen, wie das Mehrheitsprinzip doch sinnvoll funktioniert und wie sich ein Ausgleich zwischen der gesellschaftlichen und individuellen Sphäre herbeiführen lässt. Von den zahlreichen Analysen Sens ist sein „liberales Paradoxon“ bekannt geworden, wonach die individuellen Freiheitsrechte zu wirtschaftlicher Ineffizienz führen können. • Im Zentrum von Sens Werk steht seine Freiheitstheorie. Grundlegend hierfür ist das Buch Development as Freedom aus dem Jahr 1999, in dem er „Ergebnisse tiefen Nachdenkens über die Grundbegriffe der Sozialphilosophie und höchst praktische Erfahrungen“ (Weizsäcker 2007) miteinander vereint. Zentral für S.s Begriff der Freiheit ist das Konzept der „Capabilities“, der „Befähigungen“, womit die Möglichkeiten des Handelns gemeint sind. Menschen sind dann frei, wenn sie relevante Handlungsalternativen haben. In seiner Autobiographie verdeutlicht S. dies beispielhaft an einem Erlebnis, das er als Teenager hatte: „One afternoon in Dhaka, a man came through the gate screaming pitifully and bleeding profusely. The wounded person, who had been knifed on the back, was a Muslim daily labourer, called Kader Mia. He had come for some work in a neighbouring house – for a tiny reward – and had been knifed on the street by some communal thugs in our largely Hindu area. As he was being taken to the hospital by my father, he went on saying that his wife had told him not to go into a hostile area during the communal riots. But he had to go out in search of work and earning because his family had nothing to eat. The penalty of that economic unfreedom turned out to be death, which occurred later on in the hospital. (Sen: Biographical, http://www.nobelprize.org (o. J.))“

Der muslimische Tagelöhner, der in dem Hindu-Gebiet nach Arbeit suchte, um seine Familie ernähren zu können, hatte keine Handlungsalternative  – und bezahlte diese ökonomische Unfreiheit mit seinem Leben. Neben einer relevanten Handlungsalternative beinhaltet S.s Begriff der Freiheit noch eine zweite Dimension: die prozeduralen Rechte, also das Verhältnis zwischen dem Staat und dem Einzelnen. Nach Sen seien beide Seiten wichtig; Freiheit und Wohlstand gehören für ihn untrennbar zusammen. Oft gehe Wohlstand mit politischer Freiheit einher, andererseits ist politische Freiheit nicht ohne Marktfreiheit denkbar. Und obwohl S. im Grunde für Märkte ist, betont er zugleich die Rolle des Staates; nicht nur weil es auch zu Marktversagen kommen kann, sondern auch, weil der Staat in vielen Bereichen als Akteur für die Durchsetzung von Freiheit sorgen muss. In einem Interview mit dem Handelsblatt erhebt S. die Forderung nach einem neuen ökonomischen Denken: „Wir brauchen einen breiteren, ganzheitlicheren Blick. Wir müssen die gesamte Bandbreite der menschlichen Bedürfnisse sehen, die für Wohlstand notwendig sind. Ich wünsche mir ein ökonomisches Denken, das der menschlichen Freiheit größere Aufmerksamkeit schenkt. Ich

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meine nicht nur formale Rechte, sondern echte Freiheit  – dass jeder Einzelne bestimmen kann, was er für ein Leben führt und was er erreicht. Die grundlegende Frage, die sich Ökonomen stellen sollten, ist: Was können wir tun, um eine anständige Gesellschaft zu haben, in der die Menschen weit mehr Freiheit haben, ein Leben zu führen, auf das sie stolz und glücklich sind. Und wir müssen uns fragen, welche Hilfe der Staat leisten kann, damit es diese substanzielle Freiheit gibt. … Wir dürfen die Funktionen des Staates nicht aus dem Blick verlieren. Eine seiner wichtigen Aufgaben ist es, die Schwachen in der Gesellschaft zu schützen und für soziale Sicherheit zu sorgen. Wichtig ist auch, dass der Staat die Marktwirtschaft reguliert. Derzeit brauchen wir gut durchdachte Stimulierung, nicht drastische Einschnitte bei den staatlichen Aktivitäten (in: Handelsblatt, 12.04.2012).“

• Der Wohlstand eines Landes wird üblicherweise ausgedrückt durch das Bruttoinlands­ produkt (BIP), die Summe aller in einem Land produzierten Güter und Dienstleistungen, bewertet zu Marktpreisen. Sen sieht in dieser rein monetären Betrachtung einen mangelhaften Gradmesser und schlechten Indikator für die wirtschaftliche Entwicklung eines Landes. Sie sollte auch gemessen werden an Aspekten wie z. B. Lebenserwartung, Alphabetisierung, Ernährung, Gesundheit, Bildung, Freizeit und Mitbestimmung der Menschen. Daher entwickelte er zusammen mit dem befreundeten pakistanischen Ökonomen Mahbub ul Haq einen „Index für menschliche Entwicklung“, den „Human Development Index“ (HDI). Dieser wird seit 1990 jährlich in einem Bericht der Vereinten Nationen, dem Human Development Report, veröffentlicht (vgl. Abb. 76.1). In den HDI fließen folgende Variablen ein: Lebenserwartung bei der Geburt, Alphabetisierungsrate Erwachsener, Durchschnittsdauer des Schulbesuchs sowie das Bruttonationaleinkommen (BNE) pro Kopf. Für jede Komponente wird auf einer Skala von 0 bis 1 ein Wert zugemessen und schließlich aus den verschiedenen Komponenten ein Gesamtindex errechnet. Der Index kann zwischen 0 und 1 liegen; je näher er an 1 liegt, desto besser sind die Lebensbedingungen. Danach war 2014 die Entwicklung in Norwegen mit 0,944 am besten (Platz 1 im HDI-Ranking). Für D ­ eutschland betrug der Index

Hier waren die Lebensbedingungen im Jahr 2018 … sehr hoch hoch mittel niedrig keine Angaben

Abb. 76.1  Der Human Development Index (HDI). (Quelle: Wikimedia)

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0,911 (Platz 6). Auf dem letzten Platz (sehr niedrige Entwicklung) befand sich Niger mit 0,337 (Platz 187). • Sen ist nicht bloß Ökonom, sondern kann durchaus als ein sozialwissenschaftlicher Universalgelehrter gesehen werden. Denn in seinen Arbeiten verbindet er grundlegende ökonomische Probleme mit moralphilosophischen und politischen Fragestellungen. So zeigt sein Werk, „daß es auch in den Wirtschaftswissenschaften möglich ist, auf engagierte Weise politisch relevante Themen aufzugreifen und diese auf theoretisch anspruchsvolle Weise zu bearbeiten. … und es zeigt sich, daß es zwischen realitätsfernem Theoretisieren und blindwütigem Aktionismus einen gangbaren und erfolgversprechenden ‚dritten Weg‘ gibt“ (Sautter und Serries (o. J.), S. 87). Carl Christian von Weizsäcker sieht in S. einen Sozialphilosophen, der in der Tradition so großer Denker steht wie →Adam Smith, →John Stuart Mill, →John M.  Keynes, →Walter Eucken, →Milton Friedman, →Friedrich A. von Hayek und auch →Karl Marx. Für den Philosophieprofessor Christopher Morris ist S. „ein Liberaler im breiten, traditionellen Sinne, ein politischer Denker, für den der Wert der Freiheit das Wichtigste und Elementarste überhaupt ist“ (zit. n. Tichy 2012, S. 175). Und Bruno Frey sagt über ihn: „Sen ist einer der wenigen Ökonomen, die sich mit der philosophischen Dimension der Wirtschaft befassen“ (zit. n. Krohn o.  J.). Diese Haltung ruft bei einigen Fachvertretern Kritik hervor. Sie sind der Meinung, dass die Ethik nichts in der Wirtschaftswissenschaft zu suchen habe. Und nach der Verleihung des Nobelpreises an S. ätzte das konservative Wall Street Journal mit dem zweideutigen Aufmacher: „Der falsche Ökonom hat gewonnen“. Eine Einordnung S.s fällt schwer, denn sein Verständnis von Freiheit, Markt und Staat stößt sowohl bei den Linken als auch bei den Liberalen und Konservativen auf Unverständnis. Dass S. in den Medien zuweilen als „Mutter Theresa der Ökonomen“, als „Moralökonom“ oder auch als „Anwalt der Armen“ bezeichnet wird, hängt nicht nur mit seinen wissenschaftlichen Arbeiten zusammen, sondern hat seine Ursache sicherlich auch in seinem persönlichen Verhalten. Welches Selbstverständnis S. als Ökonom hat, wird in der folgenden Aussage deutlich, die er nach Bekanntgabe der Entscheidung des Nobelpreiskomitees gesagt haben soll: „Wenn die Leute hören, dass ich Ökonom bin, fragen sie mich, wie sie ihr Geld anlegen sollen. Ich sage ihnen dann, dass ich ihnen keinen Rat geben kann und dass mich vielmehr die Menschen interessieren, die kein Geld haben, um es anzulegen“ (zit. n. Fellner 2005, S. 167). Und so ist es auch nur folgerichtig, dass S. die Hälfte seines Nobelpreisgeldes der Pratichi-Stiftung spendete, welche die Probleme der Schulbildung in seiner Heimat wissenschaftlich erforscht.

Wichtige Publikationen • Choice of Techniques, 1960 • A Possibility Theorem on Majority Decisions, in: Econometrica, Bd.  34, 1966, S. 491–499

Literatur

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• • • • •

Collective Choice and Social Welfare, 1970 On Economic Inequality, 1973 (dt.: Ökonomische Ungleichheit, 1975) Choice, Welfare and Measurement, 1982 The Standard of Living, 1987 (dt.: Der Lebensstandard, 1990) Development as Freedom, 1999 (dt.: Ökonomie für den Menschen. Wege zu Gerechtigkeit und Solidarität in der Marktwirtschaft, 2000) • Identity and Violence: The Illusion of Destiny, 2006 (dt.: Die Identitätsfalle. Warum es keinen Krieg der Kulturen gibt, 2007) • The Idea of Justice, 2009 (dt.: Die Idee der Gerechtigkeit, 2010) • An Uncertain Glory: India and Its Contradictions, 2013 (dt.: Indien: Ein Land und seine Widersprüche, 2014)

Literatur H.-J. Bontrup (2004) Volkswirtschaftslehre. Grundlagen der Mikro- und Makroökonomie. München: Oldenbourg W. J. Fellner (2005): Das Ökonomische im Spannungsfeld von Ökonomie und Soziologie Hesse (2009), S. 502–503 D.  Heß/O.  Storbeck: Viele Ökonomen nehmen ihre simplen Modelle zu ernst, in: Handelsblatt, 12.04.2012 P. Krohn: Ein Ökonom mit Charisma, in: Die Zeit, 24. März 2008 Kurz (2009), S. 354–372 Rose (2013), S. 199–201 H.  Sautter/C.  Serries: Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften 1998 an Amartya Sen; in: WiSt, H. 2, 02/1999, S. 85–87 Tichy (2012), S. 173–181 C. v. Weizsäcker (2007): Laudatio für Amartya Sen anlässlich der Verleihung des Meister Eckhart Preises

Internet http://www.nobelprize.org/nobel_prizes/economic-sciences/laureates/1998/sen-bio.html

Lucas, Robert E.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Wächter, Ökonomen auf einen Blick, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29069-6_77

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Leben & Karriere • Im Alter von 17 Jahren verließ Lucas sein Elternhaus, um ein Ingenieurstudium zu beginnen. Eigentlich wollte er am MIT studieren, doch es gewährte ihm keine Studienförderung. So ging er nach Chicago. Da dort jedoch kein Ingenieurstudiengang angeboten wurde, schrieb er sich zunächst für Mathematik ein. Später wählte er Geschichte zu seinem Hauptfach und schloss dieses Studium 1959 mit dem Bachelor ab. • Anschließend schrieb L. sich in Berkeley für ein Graduiertenstudium der Geschichte ein und belegte auch Kurse in Wirtschaftsgeschichte. So reifte sein Entschluss, zur Volkswirtschaftslehre zu wechseln. • L. kehrte nach Chicago zurück und wandte sich 1960 dem Studium der Volkswirtschaftslehre zu, welches er 1964 mit der Promotion abschloss. In dieser Zeit besuchte er auch die Kurse von →Milton Friedman, die ihn faszinierten. Besonders angetan war er von dessen logischer Analyse makroökonomischer Themen. Weiterhin wurde L. beeinflusst von →Paul Samuelsons Werken, von dem er das methodische Rüstzeug erwarb. In einem autobiographischen Aufsatz erinnert sich L.: „It was lucky for me that one of my undergraduate texts referred to Paul Samuelson’s Foundations of Economic Analysis as ‚the most important book in economics since the war.‘ Both the ­mathematics and the economics in Foundations were way over my head … Certainly Friedman’s brilliance and intensity, and his willingness to follow his economic logic wherever it led all played a role. After every class, I tried to translate what Friedman had done into the mathematics I had learned from Samuelson“ (www.nobelprize.org). • Nach seiner Promotion 1964 in Wirtschaftswissenschaften war L. bis 1967 als Assistant Professor am Carnegie Institute of Technology tätig und hatte daran anschließend bis 1970 eine Stelle als Associate Professor an der Carnegie-Mellon University in Pittsburgh/Pennsylvania. • 1970 erhielt L. einen Lehrstuhl für Wirtschaft an der Carnegie-Mellon University. • Seit 1975 hat L. eine Professur für Ökonomie an der Universität von Chicago, wo er insbesondere zur Investitionstheorie, zur Geldtheorie, zur dynamischen Theorie der öffentlichen Finanzen sowie zur Theorie der internationalen Finanzwirtschaft forscht. • 1995, im Alter von 58 Jahren, wurde L. der Wirtschaftsnobelpreis verliehen. Er erhielt diese Auszeichnung „für die Entwicklung und Anwendung der Hypothese rationaler Erwartungen und für seine grundlegende Veränderung der makroökonomischen Analyse und der Auffassung von Wirtschaftspolitik“. Besonders gewürdigt wurden die klare Schärfe und der umfassende Charakter der von L. entwickelten theoretischen Modelle. Mit diesen habe er die Entwicklung der Volkswirtschaftslehre in den letzten 25 Jahren entschieden vorangetrieben.

Werk & Wirkung

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Werk & Wirkung • Bis Anfang der 1970er-Jahre dominierte der Keynesianismus die Wirtschaftspolitik vieler Industriestaaten. Durch lenkende Eingriffe in die Wirtschaft, so die Annahme, lasse sich nicht nur die Konjunktur, sondern auch Arbeitslosigkeit und Inflation steuern. Große Bedeutung hatte diesbezüglich die sogenannte Phillipskurve, die den Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und Inflation beschreibt. Empirische Studien hatten gezeigt, dass in Zeiten hoher Inflation die Arbeitslosigkeit niedriger war et vice versa. Daraus schlossen Politiker, dass durch eine Ausweitung der Staatsausgaben und einer inflationären Politik die Arbeitslosigkeit bekämpft werden könnte. Populäres Beispiel hierfür ist die Aussage des damaligen Wirtschafts- und Finanzministers und späteren Bundeskanzlers Helmut Schmidt: „Mir scheint, daß das deutsche Volk – zugespitzt −5 % Preisanstieg eher vertragen kann, als 5 % Arbeitslosigkeit“ (in: SZ, 28.07.1972). Hier setzt die Kritik von Lucas an. Er hält dieser Ansicht entgegen, dass die Beschäftigung langfristig nicht durch eine expansive Wirtschaftspolitik erhöht werden könne. Im Zentrum seiner Argumentation steht die bereits 1961 von John F. Muth entwickelte und von L. weiter ausgebaute „Hypothese der rationalen Erwartungen“, die das Herzstück der NKM darstellt. In dem Zusammenhang sind zwei Beiträge von L. für die Wirtschaftswissenschaft von herausragender Bedeutung: Der Artikel Expectations and the Neutrality of Money (1972) wird als der Grundstein der Neuen Klassischen ­Makroökonomik (NKM) angesehen und in Econometric Policy Evaluation: A Critique (1976) wird die sogenannte „Lucas-Kritik“ vorgestellt. • Die „Theorie der rationalen Erwartungen“ stammt ursprünglich von John F. Muth, der sie in seinem 1961 erschienenen Aufsatz Rational Expectations and the Theory of Price Movements vorstellte. Später wurde sie von Lucas interpretiert, weiterentwickelt und auf makroökonomische Modelle angewendet. Die Theorie der rationalen Erwartungen geht davon aus, dass Wirtschaftssubjekte (z. B. Unternehmer, Verbraucher, Arbeitnehmer) sich Gedanken über die Zukunft machen und auf der Grundlage aller verfügbaren Informationen Erwartungen bilden, die ihr weiteres (ökonomisches) Handeln bestimmen. Das „Vorgängermodell“, das der adaptiven Erwartungen, brachte aufgrund zu simpler Annahmen nur unbefriedigende Ergebnisse. Denn entweder wurden statische Faktoren verwendet (z. B. wird ein heutiger Preis auch für das nächste Jahr erwartet) oder adaptive Faktoren (der Preis im nächsten Jahr ist ein Mittelwert aus dem heute realisierten und dem für heute erwarteten Preis). Die Theorie der rationalen Erwartungen basiert hingegen nicht auf Werten der Vergangenheit, die einfach in die Zukunft transferiert werden; es wird angenommen, dass die Menschen vollständig informiert sind und zudem auch die Funktionsweise der ökonomischen Modelle bzw. deren ­zugrunde liegenden Theorien adaptieren. Alle verfügbaren Informationen werden in einem permanenten Prozess aktualisiert und interpretiert, sodass keine „systemischen“ Fehler gemacht werden. In diesem Sinne entstehen also „rationale“ Erwartungen. Die Theorie der rationalen Erwartungen ist nicht unumstritten. Bezweifelt wird einerseits, dass die Wirtschaftsakteure wirklich so gut informiert sind, wie es in der Theorie vorausgesetzt wird und ob sie, wenn sie es wären, auch wirklich rational handeln

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könnten (z.  B. können Löhne nicht immer neu verhandelt werden, da Tarifverträge existieren). Die beiden MIT-Professoren und Nobelpreisträger →Paul Samuelson und Robert M. Solow halten wenig von dieser Theorie: Solow lehnte es schlicht ab, sich auf diese einzulassen. Und Samuelson hält sie für Unsinn, denn „die Menschen fassen die Wirtschaft verschieden auf, sonst würden sie gar keine Finanzgeschäfte machen. Nach der Theorie der rationalen Erwartungen müßte sich ihr Verhalten zu einem unverzerrten Durchschnitt aggregieren. Das ist lächerlich“ (zit. n. Pinzler). • Die sogenannte „Lucas-Kritik“ basiert auf der Theorie der rationalen Erwartungen und ist eine konsequente Anwendung auf die Wirtschaftspolitik; genauer gesagt auf wirtschaftspolitische Maßnahmen, die auf rein makroökonometrischen Modellen basieren. Denn bei einem Politikwechsel ändern die Menschen aufgrund rationaler Erwartungen ihr Verhalten und passen es der neuen Politik an. Die ökonometrischen Gleichungen, die vor einer wirtschaftspolitischen Maßnahme aufgestellt wurden und von einem bestimmten Verhalten der Akteure ausgingen, sind dann nicht mehr zutreffend. Daher führt ein wirtschaftspolitischer Wechsel häufig zu völlig anderen Ergebnissen, als vorher angenommen. In den Worten von Lucas (zuerst im Original, dann in deutscher Übersetzung): „Given that the structure of an econometric model consists of optimal decision rules of economic agents, and that optimal decision rules vary systematically with changes in the structure of series relevant to the decision maker, it follows that any change in policy will systematically alter the structure of econometric models (Lucas: Econometric Policy Evaluation: A Critique, 1976). Da die Struktur eines ökonometrischen Modells optimale Entscheidungsregeln der Wirtschaftssubjekte umfasst und da optimale Entscheidungsregeln sich systematisch mit den für die Wirtschaftspolitik relevanten Zeitreihendaten ändern, wird jede Änderung der Wirtschaftspolitik die Struktur des ökonometrischen Modells ändern.“

• Volbert (1995) bringt es – überspitzt, aber sehr anschaulich – so auf den Punkt: „Die Transakteure lassen sich nur einmal von der Politik täuschen – danach haben sie hinzugelernt“ (S. 891). Demnach ist der Handlungsspielraum der Wirtschaftspolitik also sehr gering. Samuelson weist in seinem Lehrbuch darauf hin, dass dieses Problem nicht nur die keynesianische Konjunkturpolitik betrifft, sondern ebenso monetaristische Maßnahmen: „Genauso wie sich die scheinbare kurzfristige Phillips-Kurve verschieben kann, wenn eine keynesianisch ausgerichtete Regierung sie zu manipulieren versucht, so könnte sich auch die nur scheinbar konstante Umlaufgeschwindigkeit des Geldes ändern, wenn die Zentralbank feste Regeln für das Geldmengenwachstum erlässt“ (Samuelson und Nordhaus 2007, S. 981). • Manche bezeichnen Lucas als „Totengräber des Keynesianismus“, andere etwas zurückhaltender als „Angebotsökonom“. Mit seinen theoretischen und empirischen ­Beiträgen hat er die Makroökonomik massiv beeinflusst und weiterentwickelt. Seine Lehre hat Eingang in die gängigen Standardlehrbücher der Volkswirtschaftslehre gefunden. In ihrem Lehrbuch Makroökonomie bezeichnen O. Blanchard und G. Illing die Lucas-­Kritik als „eine der wichtigsten ökonomischen Erkenntnisse der letzten Jahrzehnte“ (5.  Aufl. 2009, S.  299). Sowohl Theoretiker als auch Praktiker müssen ihre

Literatur

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Vorstellungen über volkswirtschaftliche Zusammenhänge überdenken  – dies betrifft insbesondere die Politik. Dies darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Theorie der rationalen Erwartungen auch kontrovers diskutiert und attackiert wurde – und auch noch wird. Ein Vorwurf lautet, dass in der Realität Menschen nicht in der Lage seien, alle relevanten Informationen zu sammeln und auch richtig zu verarbeiten. So sind „Lucas und andere Mitbegründer der ‚Theorie rationaler Erwartungen‘ im Zuge der Finanzmarktkrise stark kritisiert worden, weil es in dieser die Finanzakteure offensichtlich nicht geschafft haben, die von ihnen selbst geschaffenen Risiken ‚rational‘ in den Griff zu bekommen“ (Sell, in: NZZ 21.10.2014). Und im Jahr 2003 prophezeite L. in seiner Ansprache zur Eröffnung einer Tagung amerikanischer Ökonomen: „Das zen­ trale Problem der Depressionsvermeidung ist in jeder praktischen Hinsicht gelöst.“ Vier Jahre später brach die Finanzkrise aus. Hingegen waren die rationalen Erwartungen seiner Ehefrau zutreffender: Bei der Scheidung im Jahr 1988 einigte sie sich mit ihrem Ehemann darauf, dass falls ihm innerhalb der nächsten sieben Jahre der Nobelpreis zugesprochen werden sollte, er ihr die Hälfte abzugeben habe. Kurz vor Ablauf der Frist erhielt L. dann tatsächlich den Nobelpreis. „Abgemacht ist eben abgemacht“ soll sein Kommentar gewesen sein.

Wichtige Publikationen • • • • •

Real Wages, Employment and Inflation, 1969 (zus. mit L. Rappling) Expectations and the Neutrality of Money, 1972 Econometric Policy Evaluation: A Critique, 1976 Studies in Business-Cycle Theory, 1981 Models of Business Cycles, 1987

Literatur Hesse (2009), S. 315 f. Linß (2014), S. 217–222 Rose (2013), S. 116–117 P. Pinzler: Die Ohnmacht der Politiker, in: Die Zeit, 13.10.1995 Samuelson/Nordhaus (2007), S. 975 ff. F. Sell: Sind rationale Erwartungen wirklich obsolet? in: NZZ, 21.10.2014, S. 26 Söllner (2015), S. 181–186 u. 202–205 A.  Volbert: Robert Lucas: Der aktiven Konjunktursteuerung den Todesstoß versetzt, in: WISU 11/1995, S. 891

Internet http://www.nobelprize.org/nobel_prizes/economic-sciences/laureates/1995/lucas-facts.html

Akerlof, George A.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Wächter, Ökonomen auf einen Blick, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29069-6_78

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78  Akerlof, George A.

Leben & Karriere • Akerlof, der aus einer reinen Akademikerfamilie stammt, interessierte sich schon früh für „soziale Dinge“, wie er selber sagt. Schon in der Oberschule fasste er den Entschluss, später einmal Professor für Ökonomie zu werden. Da sein Vater, ein Chemieprofessor, an verschiedenen Universitäten arbeitete, musste auch der Sohn häufig die Schulen wechseln: Zunächst Pittsburgh, dann Washington D. C. und schließlich Princeton. • Nach seinem Studium an der Yale University, das A. 1962 mit dem B. A. abschloss, promovierte er im Jahre 1966 am Massachusetts Institute of Technology (MIT) bei Robert M. Solow. In seiner Arbeit unternahm er den Versuch, die keynesianische Lehre mikroökonomisch zu fundieren. Anschließend lehrte er vier Jahre als Assistant Professor, dann bis 1977 als Associate Professor an der University of California, Berkeley. • Von 1967 bis 1968 übernahm A. eine Gastprofessur am Statistischen Institut in Neu Delhi. Dieser Auslandsaufenthalt in Indien bereicherte ihn: Er sammelte neue Erfahrungen, gewann Erkenntnisse aus der indischen Wirtschaftsgeschichte, beschäftigte sich mit dem Problem der indischen Arbeitslosigkeit und erforschte, wie sich das indische Kastensystem auf den Markt auswirkt. • Von 1973 bis 1974 war A. Mitglied im Wirtschaftsrat des US-Präsidenten. • 1977 wurde A. ordentlicher Professor in Berkeley. • Ein Jahr später wurde er Professor für Geld- und Wirtschaftsfragen an der London School of Economics. • 1980 kehrte er zurück nach Berkeley, wo er noch heute lehrt. • Im Jahre 2001 wurde A. zusammen mit →Joseph E. Stiglitz und M. Spence mit dem Wirtschaftsnobelpreis ausgezeichnet. Sie erhielten die Auszeichnung für ihre Analysen von Märkten mit asymmetrischen Informationen. • A. war Mitbegründer des im Oktober 2009 gegründeten Institute for New Economic Thinking (INET), das es sich zur Aufgabe gemacht hat, neue Denkansätze in die Volkswirtschaftslehre einzubringen. • A. wurde im Jahr 2000 die Ehrendoktorwürde der Universität Zürich verliehen und erhielt 2006 den „Weltwirtschaftlichen Preis“ des Kieler Instituts für Weltwirtschaft. Er ist Mitglied mehrer Institutionen, wie z. B. der American Economic Association, des National Bureau of Economic Research und der Econometric Society.

Werk & Wirkung

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Werk & Wirkung • Akerlof publizierte über 60 Fachaufsätze, von denen die 1970 erschienene Schrift The Market for ‚Lemons‘: Quality Uncertainty and the Market Mechanism wohl zu den bedeutsamsten zählt. • In The Market for Lemons stellt A. am Beispiel des Gebrauchtwagenmarktes dar, dass es zu Marktversagen kommen kann, wenn Verkäufer und Käufer über unterschiedliche Informationen verfügen, also eine Informationsasymmetrie vorherrscht. Da die Käufer vor Vertragsabschluss nicht zwischen qualitativ minderwertigen Autos („lemons“) und qualitativ höherwertigen Autos („peaches“) unterscheiden können, richten sie ihre Zahlungsbereitschaft an der durchschnittlich zu erwartenden Qualität aus. Somit sind sie aber auch nicht bereit, für „peaches“ einen angemessen Preis zu zahlen. Die sinkende Zahlungsbereitschaft führt dazu, dass weniger „peaches“ angeboten werden. Es kommt zur einer Art Abwärtsspirale, die schließlich dazu führt, dass die schlechte Qualität die gute Qualität vom Markt verdrängt (= adverse Selektion) – mit den Worten A.s: „The ‚bad‘ cars tend to drive out the good“ (S. 489 f.). „The example of used cars captures the essence of the problem. From time to time one hears either mention of or surprise at the large price difference between new cars and those which have just left the showroom. The usual lunch table justification for this phenomenon is the pure joy of owning a „new“ car. We offer a different explanation. Suppose (for the sake of clarity rather than reality) that there are just four kinds of cars. There are new cars and used cars. There are good cars and bad cars (which in America are known as „lemons“). A new car may be a good car or a lemon, and of course the same is true of used cars.“ „The individuals in this market buy a new automobile without knowing whether the car they buy will be good or a lemon. But they do know that with probability q it is a good car and with probability (1-q) it is a lemon; by assumption, q is the proportion of good cars produced and (1-q) is the proportion of lemons.“ „After owning a specific car, however, for a length of time, the car owner can form a good idea of the quality of this machine; i.e., the owner assigns a new probability to the event that his car is a lemon. This estimate is more accurate than the original estimate. An asymmetry in available information has developed: for the sellers now have more knowledge about the quality of a car than the buyers. But good can and bad cars must still sell at the same pricesince it is impossible for a buyer to tell the difference between a good car and a bad car. It is apparent that a used car cannot have the same valuation as a new car -if it did have the same valuation, it would clearly be advantageous to trade a lemon at the price of new car, and buy another new car, at a higher probability q of being good and a lower probability of being bad. Thus the owner of a good machine must be locked in. Not only is it true that he cannot receive the true value of his car, but he cannot even obtain the expected value of a new car.“

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78  Akerlof, George A.

„Gresham’s law has made a modified reappearance. For most cars traded will be the „lemons,“ and good cars may not be traded at all. The ‘bad’ cars tend to drive out the good (in much the same way that bad money drives out the good). But the analogy with Gresham’s law is not quite complete: bad cars drive out the good because they sell at the same price as good can; similarly, bad money drives out good because the exchange rate is even. But the bad cars sell at the same price as good cars since it is impossible for a buyer to tell the difference between a good and a bad car; only the seller knows. In Gresham’s law, however, presumably both buyer and seller can tell the difference between good and bad money. So the analogy is instructive, but not complete. … (Akerlof: The Market for Lemons, S. 489 f.)“

Akerlofs „Lemon-Modell“ bzw. die Problematik der Informationsasymmetrien gehört längst zum Standardrepertoire der Mikroökonomie und hat Eingang gefunden in die einschlägigen Lehrbücher, so beispielsweise bei Pindyck und Rubinfeld (siehe Abb. 78.1): „Wenn die Verkäufer mehr Informationen über die Qualität eines Produkts haben als die Käufer, kann sich ein „Lemons-Problem“ ergeben, bei dem Produkte minderer Qualität qualitativ hochwertige Produkte vom Markt verdrängen. In Teil (a) liegt die Nachfragekurve für Autos hoher Qualität bei DH. Wenn nun die Käufer ihre Erwartungen bezüglich der Durchschnittsqualität der Autos auf diesem Markt senken, verschiebt sich ihre wahrgenommene Nachfrage auf DM. Ebenso verschiebt sich in Teil (b) die wahrgenommene Nachfragekurve für Gebrauchtwagen minderer Qualität von DL auf DM. Folglich sinkt die Verkaufsmenge der Autos hoher Qualität von 50.000 auf 25.000 und die Verkaufsmenge der Autos minderer Qualität steigt von 50.000 auf 75.000. Letztendlich werden nur noch Gebrauchtwagen minderer Qualität verkauft“ (R.  Pindyck / D. Rubinfeld: Mikroökonomie, 7. Aufl. München 2009, S. 802).

PH

PL

SH

€10.000

€10.000

SL

DH €7.500

€7.500

DM

DM €5.000

DLM

DLM

€5.000

DL

DL

25.000 50.000 (a) Hochwertige Autos

50.000 75.000 (b) Autos minderer Qualität

Abb. 78.1  The Market for Lemmons (am Beispiel des Gebrauchtwagenmarktes). (Quelle: Pindyck/Rubinfeld (2009), S. 802)

Werk & Wirkung

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Akerlofs Analysen über die Auswirkungen asymmetrischer Informationen gehen weit über den Markt für Gebrauchtwagen hinaus. Sein Modell kann ebenso auf andere Märkte angewendet werden. So untersuchte A.s Kollege Michael Spence den Arbeitsmarkt unter dem Blickwinkel asymmetrischer Informationen, während sich J. E. Stiglitz mit diesem Ansatz dem Versicherungsmarkt zuwandte. Und A. selbst erforschte den indischen Finanzmarkt, insbesondere die asymmetrische Information zwischen Kreditgeber und Kreditnehmer im ländlichen Bereich. • Zwei Jahre nach dem Ausbruch der Finanzkrise 2007 erschien das von Akerlof (zusammen mit Robert Shiller) verfasste populärwissenschaftliche Werk Animal Spirits: How Human Psychology Drives the Economy, and Why It Matters for Global Capitalism (dt.: Animal Spirits: Wie Wirtschaft wirklich funktioniert, 2009). Darin stellen die beiden Ökonomen dem in der Wirtschaftswissenschaft immer noch weit verbreiteten Menschenbild des homo oeconomicus die schon von →J.  M. Keynes aufgestellte These entgegen, dass nicht nur die Rationalität, sondern vielmehr die „Animal-Spirits“, die irrationalen Aspekte des menschlichen Handelns wie Instinkte und Emotionen, die Wirtschaftsakteure antreiben. A. und Shiller fordern, das menschliche Verhalten in der Ökonomik stärker zu berücksichtigen: „Um zu verstehen, wie Volkswirtschaften funktionieren und wie wir sie zu unserem Vorteil steuern können, müssen wir die Denkmuster berücksichtigen, die den Ideen und Gefühlen der Menschen zugrunde liegen – ihre Animal Spirits. Nur wenn wir uns klarmachen, dass ökonomische Ereignisse im Kern großenteils mentale Ursachen haben, können wir sie wirklich verstehen und erklären (S. 17).“

Daher setzen die Autoren sich mit psychologischen Faktoren wie Zuversicht, Vertrauen, Fairness usw. auseinander und untersuchen, wie diese das wirtschaftliche Handeln beeinflussen. Da psychologische Faktoren (in Form von sog. „Feedbackmechanismen“) auch eine Rolle beim Ausbruch der Finanzkrise spielten, sind sie davon überzeugt, dass die klassische Ökonomie die Krise weder hätte vorhersehen noch auf diese hätte reagieren können. Sie appellieren nicht nur für eine Neubesinnung in der Ökonomik, sondern regen auch zu einer kritischen Auseinandersetzung mit dem System des ­Kapitalismus an: „Keine Frage, der Kapitalismus hat wahre Wunder vollbracht. Doch wir sollten nicht vergessen, dass es höchst verschiedene Formen des Kapitalismus mit höchst verschiedenen Eigenschaften und Vorzügen gibt“ (S. 244). Auch die Rolle des Staates wird in dem Zusammenhang betont: „Er muss wieder den Boden für einen gesunden Kapitalismus bereiten“ (S. 135). Das Werk schließt mit dem Appell „Reformen der Institutionen und der Gesetze zur Regulierung des Finanzsektors auf den Weg zu bringen“ und dem Hinweis, „dass wir unsere wirtschaftlichen Probleme nur dann lösen können, wenn wir den Animal Spirits die Beachtung schenken, die ihnen gebührt“ (S. 250). • In öffentlichen Auftritten und Interviews kritisiert der überzeugte Keynesianer A. die (neo-) liberale Annahme, dass Märkte grundsätzlich effizient seien. Auch macht er sich stark für einen Paradigmenwechsel in der Volkswirtschaftslehre: Er fordert die Abkehr von neoklassischen Ansätzen und eine Rehabilitation des Keynesianismus. Politisch war er zudem ein vehementer Kritiker der Regierung G. W. Bush, die er für „die schlimmste

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in der mehr als 200-jährigen Geschichte der USA“ hält. Sie habe seiner Auffassung nach „nicht nur in der Außen- und Wirtschafts-, sondern auch in der Sozial- und Umweltpolitik außerordentlich unverantwortlich gehandelt“ (in Spiegel-­Online, 2003). • Im Gegensatz zu vielen anderen Ökonomen, die der Verwendung mathematischer Modelle kritisch gegenüberstehen, fordert A. sogar mehr Mathematik in der Wirtschaftswissenschaft: „In Wahrheit benutzen die meisten Ökonomen nur relativ simple Mathematik. Deshalb lassen ihre Modelle viel von dem außen vor, was im Leben passiert. … Wenn wir etwa in unsere Modelle ein komplexeres Menschenbild einbauen wollen, einen Menschen, der Gefühle hat, nicht immer rational agiert, dann brauchen wir mehr Mathematik, nicht weniger“ (in FAS, 27.10.2009). Auch vertritt A. die Ansicht, dass in ökonomischen Modellen Erkenntnisse anderer Wissenschaften, wie z. B. der Psychologie und der Soziologie, stärker berücksichtigt werden sollten. • Während die FAZ Akerlof am linken Flügel der Ökonomenzunft verortet, „weil er Märkten und Wettbewerb eher misstraut und stets Marktversagen wittert“ (23.08.2008), sieht Die Zeit in ihm einen „Kämpfer für eine menschennähere Ökonomie“ (02.04.2009). Sachlicher fällt die Würdigung von W. Emons in der NZZ aus, wenn er konstatiert: „Die Informations-Ökonomie hat die Art und Weise verändert, wie Ökonomen über Märkte denken“ und hervorhebt, dass „die Informations-Ökonomie eines der aktivsten Forschungsfelder innerhalb der Volkswirtschaftslehre [ist]“ und auch die Spieltheorie „starke Impulse“ von ihr empfing (13./14.10.2001).

Wichtige Publikationen • The Market for „Lemons“ – Quality Uncertainty and the Market Mechanism. In: The Quarterly Journal of Economics, Vol. 84, No. 3., 08/1970, S. 488–500 • An economic theorist’s book of tales, 1984 • Explorations in pragmatic economics, 2005 • Animal Spirits, 2009 • Identity Economics, 2010

Literatur Hesse (2009), S. 6–7 Horn (2012), S. 253–283 „Unsere Regierung wirft das Geld einfach weg“, Spiegel-Online, 29.07.2003 „Schöpfer der Zitronen-Theorie“, Spiegel-Online, 29.07.2003 „Die meisten Ökonomen nutzen simple Mathematik“, FAS vom 27. 10. 2009 Rose (2013), S. 104–106

Internet Die offizielle Homepage von Akerlof: http://emlab.berkeley.edu/users/akerlof/

Stiglitz, Joseph E.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Wächter, Ökonomen auf einen Blick, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29069-6_79

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79  Stiglitz, Joseph E.

Leben & Karriere • Seine Jugendjahre schildert Stiglitz in eigenen Worten so: „Ich wuchs am Südufer des Michigansees auf, in einer der archetypischen Industriestädte des Landes: Gary im Bundesstaat Indiana. Dort sah ich mit eigenen Augen Armut, Ungleichheit, Rassendiskriminierung und immer wieder Arbeitslosigkeit, wenn das Land von einer Rezession nach der anderen gebeutelt wurde. Arbeitskämpfe waren an der Tagesordnung … Ich hörte rhetorische Floskeln über die „amerikanische Mittelschichtgesellschaft“, aber die Menschen, die ich sah, besetzten zumeist die unteren Ränge, und ihre Stimmen gehörten nicht zu denen, die das Land prägten. … Ich gehörte zu den Glücklichen, denen das Land Chancen bot, und ging mit einem Stipendium des National Merit Scholarship Program ans Amherst College (Stiglitz: Reich und Arm, München: Siedler 2015, S. 11 f.).“

• Von 1960 bis 1964 studierte S. Mathematik, Physik und Wirtschaftswissenschaften am Amherst College in New England. In seinem ersten Studienjahr wechselte er von Physik zu Volkswirtschaftslehre: „Ich wollte herausfinden, warum unsere Gesellschaft so funktionierte, wie sie es tat. Ich studierte nicht nur deshalb Volkswirtschaftslehre, um Ungleichheit, Diskriminierung und Arbeitslosigkeit zu verstehen, sondern auch, weil ich etwas gegen die Probleme unternehmen wollte, die unser Land plagten“ (Stiglitz: Reich und Arm, S. 12 f.). • Nach dem Abschluss (Bachelor) wechselte S. an das MIT in Boston, wo er sich 1967 bei Robert Solow und →Paul Samuelson promovierte. In seiner Dissertation befasste er sich insbesondere mit den Bestimmungsfaktoren der Einkommens- und Vermögensverteilung. • Von 1969–1971 war S. als Gastdozent in Kenia tätig. Die Erfahrungen, die er dort sammelte, gaben den Anstoß zu einigen seiner wichtigsten Werke. So schreibt er im Vorwort von Schatten der Globalisierung: „Kenia stand damals vor großen Herausfor­ derungen, und der Gedanke beflügelte mich, dass es möglich sein sollte, die Lebensbedingungen von Milliarden von Menschen, die wie die Kenianer in extremer Armut leben, zu verbessern. Die Volkswirtschaftslehre mag manch einem als eine trockene, esoterische Disziplin erscheinen, doch eine gute Wirtschaftspolitik kann die Lebensbedingungen dieser armen Menschen grundlegend verändern“ (S. 9). • Seine Karriere als Professor für Wirtschaftswissenschaften begann an der Yale University (1970–1974). Es folgten Professuren an der Stanford University, an der University of Oxford und an der Princeton University. Seit 1999 lehrte S. an der Columbia University. • Zum Wintersemester 2001 übernahm S. eine Professur an der Columbia University in New York, wo er auch Mitgründer und Co-Präsident der Initiative für Politischen Dialog wurde; daneben lehrt er an der Business School, der Graduate School of Arts and Sciences sowie an der School of International and Public Affairs.

Werk & Wirkung

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• Von 1993–1997 war S. Mitglied des Sachverständigenrats von US-Präsident Bill Clin­ ton und berat die Dienststellen der US-Regierung in wirtschaftlichen Angelegenheiten. • 1997 trat S. in die Weltbank ein, in der er fast drei Jahre lang die Position des Chefvolkswirts und die des Senior Vice President bekleidete. Im Jahr 2000 musste er von diesem Amt zurücktreten, weil er mit seiner heftigen Kritik am marktwirtschaftlichen Kurs und an der Dogmatik des Internationalen Währungsfonds in der Asien-Krise in Washington zu sehr angeeckt war. „Spätestens mit dieser Episode stieg der Ökonom zur Ikone der Anti-Globalisierungs-Bewegung auf“ (FAZ). • Von 2008–2009 war er Vorsitzender der International Commission on the Measurement of Economic Performance and Social Progress, einer Kommission der Vereinten Nationen, deren Aufgabe es war, eine Alternative zum BIP als Maßstab für den Wohlstand eines Landes zu entwickeln. • Als Vorsitzender der Commission of Experts on Reforms of the International Monetary and Financial System war S. im Jahre 2009 für Reformen des Finanzsystems verantwortlich. • Im Oktober 2009 war S. zusammen mit anderen Ökonomen an der Gründung des In­ stitute for New Economic Thinking (INET) beteiligt. Es war eine Reaktion auf die Finanzkrise: Die Wissenschaftler erkannten die Notwendigkeit, neue Wege in der Ökonomie zu beschreiten, neue Denkansätze in die Volkswirtschaftslehre einzuführen und alte Denkmuster aufzubrechen. In einem Essay zur Gründung des Instituts schrieb S.: „Die Finanzkrise hat innerhalb der ökonomischen Zunft zu einem tiefen Nachden­ ken geführt, sie war ein Realitätstest für viele lang etablierte Ideen“ (Handelsblatt, 03.11.2009). • 1979 wurde S. mit dem John Bates Clark Award ausgezeichnet, 2001 erhielt er (zusammen mit →G. Akerlof und M. Spence) den Wirtschaftsnobelpreis für die Analysen von Märkten mit asymmetrischen Informationen.

Werk & Wirkung • Wie ein roter Faden zieht sich heftige Kritik „an Liberalisierung, Privatisierung und Deregulierung, an den Spekulanten und an den Reichen, deren politischer Einfluss die Demokratie zerstöre“ (FAZ) durch S.’ zahlreiche populärwissenschaftliche Werke, Aufsätze und Kolumnen. • Im Jahr 2000 nahm S. das Angebot von Project Syndicate an, eine monatliche Kolumne zu verfassen. So schrieb er im folgenden Jahrzehnt regelmäßig zu ökonomischen Fragestellungen, insbesondere zu vier zentralen gesellschaftlichen Problemen: –– zur Ungleichheit, also der „großen Kluft“ zwischen Arm und Reich

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79  Stiglitz, Joseph E.

–– zum wirtschaftlichen Missmanagement –– zur Globalisierung –– zur jeweiligen Rolle von Staat und Markt. In seinem Buch Reich und Arm (2015) finden sich einige dieser Kolumnen, und S. versucht zu zeigen, dass „die vier Themen miteinander zusammenhängen“: „Trotz der Tatsache, dass die Globalisierung das Wachstum angekurbelt haben mag, hat sie höchstwahrscheinlich auch die Ungleichheit erhöht – und zwar vor allem deshalb, weil wir die Globalisierung nicht so gestaltet haben, wie es notwendig gewesen wäre“ (S. 18). • In dem 2002 erschienenen Bestseller Globalization and its Discontents (dt. Die Schat­ ten der Globalisierung) befasst sich S. mit dem Prozess der Globalisierung und gelangt zu dem Befund: „Die Globalisierung in ihrer heutigen Form ist keine Erfolgsgeschichte. Sie hat das Schicksal der meisten Armen in der Welt nicht gelindert. Sie ist ökologisch bedenklich. Sie hat die Weltwirtschaft nicht stabilisiert. Und bei der marktwirtschaftlichen Transformation der Zen­ tralverwaltungswirtschaften wurden so viele Fehler gemacht, dass, mit Ausnahme von China, Vietnam und einigen osteuropäischen Ländern, die Armut sprunghaft anstieg und die Einkommen stark zurückgingen. Manche sehen einen einfachen Ausweg: Sie wollen die Globalisierung begraben. Doch das ist weder machbar noch wünschenswert. … Nicht die Globalisierung ist das Problem, sondern die Art und Weise, wie sie umgesetzt wurde. Und ein Teil des Problems liegt bei den internationalen Wirtschaftsinstitutionen, dem IWF, der Weltbank und der WTO, die die „Spielregeln“ der Globalisierung festlegen. … Ich glaube, dass die Globalisierung so gestaltet werden kann, dass sie ihr positives Potenzial freisetzt, und, dass die internationalen Wirtschaftsinstitutionen so umgeformt werden können, dass sie ihren Beitrag zur Erreichung dieses Zieles leisten (J. Stiglitz: Die Schatten der Globalisierung, Berlin: Siedler 2002, S. 247).“

S. kritisiert massiv die WTO, die „den freien Handel über alles stellt“, sowie den IWF, dessen „Strategien von Finanzinteressen dominiert werden“ (S.  248) und der durch seine wirtschaftspolitischen Programme die Situation in den Schwellenländern und der „dritten Welt“ verschärft habe. S. erhebt den Vorwurf, dass der IWF auf Kosten der Ärmsten die Interessen der US-Hochfinanz vertrete. Er zeigt die Grenzen des Marktes auf, macht sich stark „für eine ausgewogene Sicht der Rolle des Staates, die die Grenzen und das Versagen von Markt und Staat anerkennt“ und plädiert „für eine partnerschaftliche Zusammenarbeit der beiden“ (S. 252). • In seinem Werk Die Roaring Nineties, das 2003 erschien, setzt sich S. kritisch mit der US-Wirtschaftspolitik der 1990er-Jahre auseinander. Die negativen Auswüchse der Wirtschaft am Ende des 20. Jahrhunderts, wie bspw. die Börsenblase oder die Bilanzbetrügereien des Unternehmens ENRON, seien durch eine neoliberale Wirtschaftspolitik sogar noch forciert worden. Liberalisierte Kapitalmärkte und eine Senkung der öffentlichen Ausgaben haben zu größerer Instabilität geführt. Er empfiehlt – auch für die deutsche Volkswirtschaft – eine keynesianisch ausgerichtete Wirtschaftspolitik.

Werk & Wirkung

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• Nicht nur seine Bücher, auch sein praktisches politisches Engagement machten S. zu einer „Ikone der Kapitalismuskritik“ und zu einem der populärsten Ökonomen der Gegenwart: „Er war bei den ersten Protesten gegen die Globalisierung dabei, er stellte sich gegen die Liberalisierung der Finanzmärkte, die Sparpolitik Europas in der Schuldenkrise und schließlich den schrankenlosen Kapitalismus“ (Piper). • S.’ systemkritische Ansichten lassen sich wohl am besten verstehen, wenn man sein wissenschaftliches Werk berücksichtigt, für das er – zusammen mit →G. Akerlof und mit M. Spence – im Jahre 2001 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde. Darin beschäftigt er sich mit asymmetrischen Informationen und geht davon aus, dass Marktteilnehmer unterschiedlich informiert seien. Diese Informationsasymmetrien können dazu führen, dass Märkte nicht (mehr) funktionieren. Es kommt zu Marktversagen. Mit diesem Ansatz konnte S. beispielsweise Phänomene auf dem Arbeitsmarkt erklären, die zuvor Rätsel aufgaben: Warum zahlen Unternehmen einigen Mitarbeitern Löhne, deren Höhe über dem Marktniveau liegt? Die Erklärung ist simpel: Die Unternehmen verfügen nicht über die Informationen, um bestimmen zu können, wie leistungsfähig die Mitarbeiter tatsächlich sind. Würde das Unternehmen den Lohn senken, würde dies dazu führen, dass die besten Leute weggehen. Es käme zu einer „adversen Selektion“ (= Negativauslese). Ähnliches gilt für Finanzmärkte. Für eine Kreditrationierung fand S. die folgende Erklärung: Besteht für die Banken ein höheres Risiko, dass Schuldner ihre Kredite nicht mehr zurückzahlen, schützen sie sich nicht durch eine Erhöhung der Zinsen, sondern durch eine Kreditverknappung. • S. anerkennt die wichtige Funktion, die Märkten zukommt, hält diese aber aus vielfältigen Gründen für unvollkommen. Gründe für Marktversagen sieht er beispielsweise in dem „Handeln in Stellvertretung“ (agency), dem „moral hazard“, der „Tatsache, dass sich Individuen in systematischer Weise irrational verhalten“ und in der zunehmenden Bedeutung „externer Effekte“. In seinem Werk Im freien Fall (2010) schreibt er: „Ich glaube, dass Märkte im Zentrum jeder Volkswirtschaft stehen, dass sie aus eigener Kraft aber nicht richtig funktionieren. Damit stehe ich in der Tradition des berühmten britischen Ökonomen John Maynard Keynes … Der Staat muss eine Rolle spielen, nicht nur um die Wirtschaft zu retten, wenn Märkte versagen … Um die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit eines Landes zu steigern, müssen sowohl Märkte als auch die staatlichen Institutionen verbessert werden. Das Argument, weil der Saat manchmal versagt, solle er nicht in Märkte eingreifen, wenn die Märkte versagen, entbehrt jeglicher Grundlage – sowie das umgekehrte Argument, weil Märkte gelegentlich versagen, sollten sie abgeschafft werden, jeglicher Grundlage entbehrt (S. 10 und 311).“

• Der Keynesianer und Nobelpreisträger Stiglitz ist ein Grenzgänger zwischen Politik und Wirtschaft. Er bekleidete bedeutende Positionen, wie z. B. als Chefvolkswirt bei der Weltbank, er gilt als Ikone der Globalisierungskritiker, verfasste zahlreiche kritische Bücher und meldet sich unablässig zu aktuellen wirtschaftspolitischen Themen zu Wort – oftmals mit sehr spitzer Feder. Die US-Regierung ist vor seiner Kritik ebenso

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wenig sicher wie die deutsche Bundesregierung oder der IWF und die Weltbank. Dass seine populärwissenschaftlichen Bücher sich auszeichnen „durch eine Mischung aus kluger Kritik und ebenso grober wie populistischer Vereinfachung“ (Piper), darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass seine Forschungsarbeiten auf dem Gebiet der Informationsökonomie einen herausragenden Beitrag zur Weiterentwicklung der Wirtschaftswissenschaft geleistet haben. Seine theoretischen Erkenntnisse und Ideen versucht er stets in die wirtschaftspolitische Praxis zu übertragen. S., den Die Welt einmal als einen „Popstar unter den Ökonomen“ bezeichnete (Die Welt, 17.9.2015), zählt sicherlich zu den schillernden Persönlichkeiten seines Fachs.

Wichtige Publikationen • • • • • •

Economics of the Public Sector, 1986 (dt. Finanzwissenschaft, 1989) Economics, 1993 (dt. Volkswirtschaftslehre, 1999) Whither Socialism, 1994 (dt. Wohin Sozialismus?) Globalization and its Discontents, 2002 (dt. Die Schatten der Globalisierung) Making Globalization Work, 2006 (dt. Die Chancen der Globalisierung) Freefall: America, Free Markets, and the Sinking of the World Economy, 2010 (dt. Im freien Fall: Vom Versagen der Märkte zur Neuordnung der Weltwirtschaft) • The Price of Inequality: How Today’s Divided Society Endangers Our Future, 2012 (dt. Der Preis der Ungleichheit: Wie die Spaltung der Gesellschaft unsere Zukunft bedroht) • Creating a Learning Society: A New Approach to Growth, Development, and Social Progress, 2014 (dt. Die innovative Gesellschaft. Wie Fortschritt gelingt und warum grenzenloser Freihandel die Wirtschaft bremst, 2015) • The Great Divide: Unequal Societies and what we can do about them, 2015 (dt. Reich und Arm: Die wachsende Ungleichheit in unserer Gesellschaft)

Literatur Hesse (2009), S. 535–536 Lüchinger (2007), S. 223–240 N. Piper: „Der kluge Populist“, SZ vom 09. 02. 2013 „Joseph Stiglitz 70 Jahre“, FAZ vom 09. 02. 2013 Rose (2013), S. 92 ff

Internet Die offizielle Homepage von Stiglitz: http://www8.gsb.columbia.edu/faculty/jstiglitz/ http://www.nobelprize.org/nobel_prizes/economic-sciences/laureates/2001/stiglitz-facts.html

Krugman, Paul R.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Wächter, Ökonomen auf einen Blick, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29069-6_80

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591

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80  Krugman, Paul R.

Leben & Karriere • Krugman, der einer typisch amerikanischen Mittelschichtfamilie eines New Yorker Vorortes entstammt, wollte nach dem Besuch der dortigen öffentlichen High School eigentlich Geschichte studieren, entschied sich dann jedoch für die Wirtschaftswissenschaften. • Sein Grundstudium absolvierte K. am Yale College und schloss es 1974 mit dem Bachelor of Arts mit einer Arbeit über Wechselkurse ab. Ein Stipendium der National Science Foundation ermöglichte es ihm, sein Studium am MIT fortzusetzen, wo er sich nach nur drei Jahren (1977) promovierte. In seiner Dissertation erbrachte er den mathematischen Beweis, dass ein Industriezweig durch einzelne staatliche Eingriffe Wettbewerbsvorteile im internationalen Wettbewerb erlangen kann. • Nach einem kurzen Zwischenspiel als Assistenzprofessor in Yale kehrte K. 1980 als Associate Professor ans MIT zurück, wo er vier Jahre später zum ordentlichen Professor ernannt wurde. • Von 1982 bis 1983 war K. als Wirtschaftsberater für die Reagan-Regierung tätig, wo er nach eigener Aussage „eine Stimme der Vernunft zwischen lauter Ideologen“ gewesen sei (vgl. Der Spiegel 16/2004). Zehn Jahre später beriet K., der sich selbst als einen „gemäßigten Liberalen“ bezeichnet, den Präsidentschaftskandidaten Clinton in Handels- und Währungsfragen. • 1991 erhielt der 37-jährige K. die John-Bates-Clark-Medaille. Neben dem Wirtschaftsnobelpreis, der ihm im Jahr 2008 verliehen wurde, ist sie die höchste Auszeichnung für Ökonomen. • Nach Stanford (1994), MIT (1996) und Princeton (2000) ist K. seit August 2015 Professor an der City University of New York (CUNY) und am Luxembourg Income Study Center, wo er insbesondere zum Thema Ungleichheit forscht. • Seit 1999 schreibt K. eine Kolumne in der New York Times, in der er sich mit spitzer Feder zu wirtschaftspolitischen Themen (z. B. zur Globalisierung, Einkommensverteilung, Sozialpolitik sowie zur Finanzkrise) kritisch äußert und insbesondere den Neoliberalismus immer wieder scharf attackiert.

Werk & Wirkung • K. verfasste eine Vielzahl von Büchern; neben akademischen Standardwerken zur Volkswirtschaftslehre auch populärwissenschaftliche. Einige sind entstanden aus seinen Kolumnen, die seit 1999 zweimal wöchentlich in der New York Times erscheinen und in denen er „hartnäckig und regelmäßig mit der US-Regierung abrechnet“ (Der

Werk & Wirkung

593

Spiegel). Seine scharfe Kritik zu Wirtschafts- und Finanzthemen machte ihn berühmt und brachte seinen Kolumnen Kultstatus ein. Die Washington Monthly bezeichnete K. als den „bedeutendsten politischen Kolumnisten Amerikas“. • Für seine bedeutenden wissenschaftlichen Arbeiten zur Außenhandelstheorie (Ende der 1970er/Anfang der 1980er-Jahre) und zur Wirtschaftsgeographie (Anfang der 1990er-Jahre), die heute als Standardlehre gelten, wurde K. im Jahre 2008 mit dem Wirtschaftsnobelpreis ausgezeichnet, laut offizieller Begründung für seine „Analyse von Handelsstrukturen und Standorten ökonomischer Aktivität“. • Die von K. entwickelte „Neue Außenwirtschaftstheorie“ basiert auf zwei Aufsätzen: Increasing Returns, Monopolistic Competition and International Trade (1979) und Scale Economies, Product Differentiation, and the Pattern of Trade (1980). K. erkannte einen Widerspruch zwischen der herkömmlichen, d. h. klassischen Außenhandelstheorie, die auf der Idee des Freihandels und der komparativen Kostenvorteile basiert und auf →Adam Smith und →David Ricardo zurückgeht, und den tatsächlichen Handelsstrukturen, wie sie sich seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts beobachten lassen. Vor K. ging man davon aus, dass der internationale Handel von drei Faktoren bestimmt wird: länderspezifischen Unterschieden, unterschiedlichen Kostenverhältnissen sowie unterschiedlichen Faktorausstattungen. Das heißt, dass jedes Land seine Stärken nutzt, sich auf das spezialisiert, was es besser kann und schließlich diese Güter mit anderen Ländern tauscht (z. B. chilenischer Rotwein und deutsche Autos). Die Realität zeigt jedoch, dass der überwiegende Teil des Welthandels nicht zwischen Ländern stattfindet, die sich hinsichtlich der Ausstattung an Faktoren und Ressourcen unterscheiden. ­Vielmehr findet der Handel zwischen jenen Ländern statt, die sich darin sehr ähnlich sind (z. B. japanische Computer und deutsche Autos). „Die wichtigsten Handelsnationen“, erklärt K., „sind sich in Bezug auf Technologie und Ressourcen immer ähnlicher geworden, oft gibt es keine klaren komparativen Kostenvorteile mehr.“ Somit ist die klassische Freihandelstheorie (vgl. hierzu →D. Ricardo) nicht (mehr) in der Lage, den heutigen Welthandel zur erklären. K. verwarf die bis dahin vorherrschende Theorie, insbesondere die Annahme der vollständigen Konkurrenz bzw. erweiterte diese um einige neue Aspekte. So entwarf er ein neues Modell, das die Realität besser abbilden und erklären kann. Seiner „Neuen Außenhandelstheorie“ liegen die Annahmen zugrunde, dass –– die Aufnahme von Handel zu einer höheren Produktion und einer Senkung der Stückkosten führen –– steigende Skalenerträge (economies of scale) und Konsumdifferenzierung den internationalen Handel begründen –– durch die Beherrschung der Märkte durch Monopole und Oligopole die Entwicklung des Handels beeinflusst wird.

594

80  Krugman, Paul R.

K.s Modell konnte auch zeigen, dass der Handel sich konzentriert und es bei Handelsliberalisierung keine Gleichverteilung der Wohlfahrtsgewinne gibt. Vielmehr fallen die Gewinne in den bereits existierenden Wohlfahrtsinseln (z. B. in Europa und den USA) an. Dies führe zu einer wachsenden globalen Ungleichheit. • Ein weiterer bedeutender Durchbruch gelang K. Anfang der 1990er-Jahre auf dem Gebiet der Wirtschaftsgeographie: Er erkannte die Bedeutung der räumlichen Dimension wirtschaftlicher Aktivitäten und bezog die Geografie in seine Außenwirtschaftstheorie mit ein. Die von ihm entwickelte „Neue Ökonomische Geografie“ (NÖG) vereint die Erkenntnisse seiner Außenwirtschaftstheorie mit der Raumwirtschaftstheorie. Sie berücksichtigt die Standortentscheidungen der Wirtschaftssubjekte (Unternehmen und private Haushalte) und untersucht, wie eine ungleichmäßige Verteilung der wirtschaftlichen Aktivität im Raum zustande kommt. Im Mittelpunkt steht das „Zentrum-­ Peripherie-­Modell“, das zwei Regionen abbildet und mit dessen Hilfe nun die Einflüsse der beiden Regionen aufeinander untersucht werden. Von besonderem Interesse ist die Entstehungsweise von agglomerativen Tendenzen, d. h. die Herausbildung und Wirkungsweise von wirtschaftlichen Ballungsräumen. Innovativ an diesem Modell ist die Berücksichtigung des technischen Fortschritts, steigender Skalenerträge, die Bedingungen des unvollkommenen Marktes sowie das Auftreten von Externalitäten, die durch Transportkosten hervorgerufen werden. • In seinen Kolumnen wendet sich der streitlustige K. leidenschaftlich gegen marktliberale Ansichten, wenn er beispielsweise sagt, der Nobelpreisträger →M. Friedman sei „abgeglitten in die Behauptungen, dass der Markt immer funktioniert und dass nur der Markt funktioniert … Mit seinem laisser-faire-Absolutuismus hat er zu einem geistigen Klima beigetragen, in dem der Glaube an den Markt und die Verachtung für Regierungen oft die Fakten übertrumpfen“ (Handelsblatt, 26.11.2007). K. vertritt die Ansicht, dass „Amerika einen Sozialstaat nach dem Vorbild Europas und ein stark reguliertes Finanzsystem“ braucht und befürwortet eine antizyklische Finanzpolitik. Anhänger einer Sparpolitik bei einem geringen Wirtschaftswachstum vergleicht er mit mittelalterlichen Medizinern, „die Kranke zur Ader ließen und sie damit nur noch kränker machten“. In umweltpolitischen Fragen vertritt K. den Standpunkt einer marktorientierten Klimaschutzpolitik mittels Emissionsrechtehandel und hebt hervor, dass die von konservativer Seite oft vorgebrachten Nachteile einer Klimaschutzpolitik eine „politische Masche“ seien. • Collier schreibt über Krugman: „Er ist ein innovativer Theoretiker, kenntnisreicher Analytiker und Kommentator der Wirtschaftspolitik sowie Aufklärer über aktuelle volks- und weltwirtschaftliche Fragen und Probleme“ (S. 237). Die praktische Relevanz der von Krugman entwickelten Theorien kann mit den Worten des DIW so zusammengefasst werden: „Von der Neuen Ökonomischen Geographie erhofft man sich – im Zusammenspiel mit der Industrieökonomik, der Arbeitsmarktökonomik und der Au-

Wichtige Publikationen

595

ßenhandelslehre – vor allem Antworten auf dringliche gesellschaftliche Fragen, die mit dem alten Instrumentarium nicht oder nur bedingt zu behandeln waren. Dies betrifft insbesondere die Funktionsweise und die Interaktion regionaler Arbeitsmärkte: Welche Konsequenzen hat die ungleiche Verteilung wirtschaftlicher Aktivität im Raum für die Löhne und den Grad der Beschäftigung auf den jeweiligen Arbeitsmärkten? Hängen diese Wirkungen vom Grad der beruflichen Qualifikation der Arbeitnehmer ab? Welche Anreize ergeben sich für die Humankapitalbildung? Wie wirken Änderungen im externen Umfeld der regionalen Arbeitsmärkte auf diese zurück?“ (Wochenbericht des DIW 19/2002, S. 304). Kappel sieht in dem Zentrum-Peripherie-Modell von K. „ein einfaches Erklärungsmodell für die gegenwärtige Konzentration der Produktion und des Wohlstandes in den OECD-Ländern“. Weiterhin könne es „auch erklären, weshalb China durch Massenproduktionsvorteile und sinkende Transportkosten zurzeit seinen Wohlstand steigern kann“. Und schließlich beinhalte es „zudem eine politische Botschaft: nämlich die Notwendigkeit eigenständiger industrieller Entwicklungen in der Peripherie“ (vgl. Kappel, S. 5). Nach Ansicht der Frankfurter Rundschau ist K. „nicht nur einer der besten und renommiertesten Wirtschaftswissenschaftler unserer Zeit, er ist auch ein begnadeter Autor, der es versteht, komplexe Zusammenhänge so zu beschreiben, dass sie auch der interessierte Laie ohne Probleme versteht“ (FR, 13.05.2012).

Wichtige Publikationen • Increasing Returns, Monopolistic Competition and International Trade. In: Journal of International Economics, 9, 1979, S. 469–479 • Scale Economies, Product Differentiation, and the Pattern of Trade. In: American Economic Review, 70, 1980, 950–959 • Market Structure and Foreign Trade: Increasing Returns, Imperfect Competition and the International Economy, 1987 • Adjustment in the World Economy, 1987 • International Economics: Theory & Policy, 1988 (dt. Internationale Wirtschaft: Theorie und Politik der Außenwirtschaft) • The Age of Diminished Expectations, 1990 • Geography and Trade, 1991 • Development, Geography and Economic Theory, 1995 • Strategic Trade Policy and the New International Economics Pop Internationalism, 1996 • The Accident Theorist, 1998 (dt. Schmalspurökonomie) • The Return of Depression Economics, 1999 (dt. Die große Rezession) • Microeconomics, 2004 • Economics, 2005 (dt. Volkswirtschaftslehre) • The Return of Depression Economics And The Crisis Of 2008, 2009 • End This Depression Now!, 2012 (dt. Vergesst die Krise!)

596

80  Krugman, Paul R.

Literatur I.  L. Collier: Nachwort (Über den Autor). In: P.  Krugman: Die neue Weltwirtschaftskrise, 2008, S. 223–238 J. Fleischhauer: 130 Zeilen Empörung. In: Der Spiegel 16/2004, S. 82–87 Hesse (2009), S. 285–286 R. Kappel: Von der Ungleichverteilung des Wohlstands – Wirtschafts-Nobelpreis an Paul Krugman. In: GIGA Focus 12/2008 M. Koch: „Wir müssten schon einen neuen Planeten finden“, SZ vom 17.05.2010 N. Piper: Der Professor beliebt zu kämpfen, SZ vom 17.05.2010 M. Roos: Die Neue Außenhandelstheorie und die Neue Ökonomische Geographie; in: Wirtschaftsdienst – Zeitschrift für Wirtschaftspolitik, 11/2008, S. 756–760 Söllner (2015), S. 276–279 O. Storbeck: Schlammschlacht um Friedmans Erbe, Handelsblatt vom 26.11.2007 Wirtschafts-Nobelpreis für US-Forscher Krugman, Handelsblatt vom 13.10.2008

Teil III Serviceteil

Zeittafel zur Literaturgeschichte der Ökonomie

Erscheinungsjahr Zwischen 385 und 370 v. Chr. etwa 354 v. Chr. 387-367 v. Chr. in den letzten Lebensjahren im letzten Lebensabschnitt 329-326 v. Chr. 1494

81

Autor Xenophon

Werk Oikonomikós

Xenophon Platon Platon

Póroi (dt.: Über die Staatseinkünfte) Politeia (dt.: Der Staat) Nomoi (dt.: Die Gesetze)

Aristoteles

Nikomachische Ethik

Aristoteles Pacioli

Politik Summa de arithmetica, geometria, proportioni et proportionalita Von Kauffshandlung und Wucher A discourse of trade from England unto the East Indies (dt.: Gedanken zum Handel Englands mit Ost-Indien…) A Treatise of Taxes and Contributions (dt.: Eine Abhandlung über Steuern und Abgaben) England’s treasure by forraign trade (dt.: Englands Schatz durch den Außenhandel, 1911) Politischer Discurs von den eigentlichen Ursachen deß Auf- und Abnehmens/der Staedt/Laender und Republicken Moral Discurs von den eigentlichen Ursachen des Glücks und Unglücks

1524 (1609?) 1621 1662

Martin Luther Thomas Mun William Petty

1664

Thomas Mun

1668

Johann Joachim Becher

1669

Johann Joachim Becher

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Wächter, Ökonomen auf einen Blick, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29069-6_81

599

600

81  Zeittafel zur Literaturgeschichte der Ökonomie

1675

Jacques Savary

1690 1701 1708 1716 1752–1756

William Petty Paul J. Marperger Paul J. Marperger Paul J. Marperger Carl G. Ludovici

1758 1759

François Quesnay Adam Smith

1776

Adam Smith

1796

Georg F. Sartorius

1798

Thomas R. Malthus Jean-Baptiste Say Johann M. Leuchs Robert Owen A new View of Society (dt.: Eine neue Auffassung von der Gesellschaft, 1900) Robert Owen Observations on the Effect of the Manufactoring System (dt.: Beobachtungen über die Wirkung des Fabriksystems, 1926) David Ricardo On the principles of political economy and taxation (dt.: Die Grundsätze der politischen Ökonomie oder der Staatswirthschaft und der Besteuerung, 1821) Thomas Principles of political economy (dt.: Grundsätze der R. Malthus politischen Ökonomie, 1910) Karl Heinrich Grundriß der Kameralwissenschaft oder Rau Wirthschaftslehre für encyklopädische Vorlesungen Johann Ausführliches Handelslexikon oder Handbuch der M. Leuchs höheren Kenntnisse des Handels Karl Heinrich Ueber die Kameralwissenschaft. Entwicklung ihres Rau Wesens und ihrer Theile Johann H. von Der isolierte Staat in Beziehung auf Landwirthschaft und Thünen Nationalökonomie, 3 Bde., 1826–1863

1803 1804 1813 1815

1817

1820 1823 1824–1826 1825 1826

Le Parfait Negociant (dt.: Der vollkommene Kauff- und Handels-Mann) Political Arithmetick (dt.: Politische Arithmetik) Probier-Stein der Buch-Halter Neu-Eröffnetes Kauffmanns-Magazin Beschreibung der Banken Eröffnete Akademie der Kaufleute oder vollständiges Kaufmanns-Lexicon alles Wissenswerthen und Gemeinnützigen in den weiten Gebieten der Handlungswissenschaft und Handelskunde überhaupt, 5 Bde. Tableau économique The theory of moral sentiments (dt.: Theorie der ethischen Gefühle) An inquiry into the nature and causes of the wealth of nations (dt.: Untersuchung über Wesen und Ursachen des Reichtums der Völker) Handbuch der Staatswirthschaft zum Gebrauche bey academischen Vorlesungen, nach Adam Smith’s Grundsätzen Essay of the principle of population (dt.: Eine Abhandlung über das Bevölkerungsgesetz, 1905) Traité d’économie politique System des Handels

81  Zeittafel zur Literaturgeschichte der Ökonomie 1826 ff.

Karl Heinrich Rau

1836

Robert Owen

1838

Antoine A. Cournot

1841 1843

Friedrich List John St. Mill

1843

Wilhelm Roscher

1844

John St. Mill

1845 1848 1848

Friedrich Engels Karl Marx John St. Mill

1854

Wilhelm Roscher

1859 1859

John St. Mill Wilhelm Roscher

1862

Clément Juglar

1867 1868 1874 1876 1876

Karl Marx Clément Juglar Wilhelm Roscher Adolph Wagner Adolph Wagner

1876–1878

Friedrich Engels

1877 ff. 1879 1880

Adolph Wagner Alfred Marshall Friedrich Engels

601

Lehrbuch der politischen Oekonomie. 1. Bd.: Grundsätze der Volkswirthschaftslehre, 1826; 2. Bd.: Grundsätze der Volkswirthschaftspolitik, 1828; 3. Bd.: Grundsätze der Finanzwissenschaft, 2 Teile, 1832 u. 1837. The Book of the New Moral World (dt. Das Buch der neuen moralischen Welt, 1840) Recherches sur les principes mathématiques de la théorie des richesses (dt.: Untersuchungen über die mathematischen Grundlagen der Theorie des Reichtums, 1924) Das nationale System der politischen Ökonomie A System of Logic, Ratiocinative and Inductive, Being a Connected View of the Principles of Evidence, and the Methods of Scientific Investigation (dt.: System der deduktiven und induktiven Logik, 1849) Grundriß zu Vorlesungen über die Staatswirthschaft. Nach geschichtlicher Methode Essays on some unsettled Questions of Political Economy (dt.: Einige ungelöste Probleme der politischen Ökonomie, 1976) Die Lage der arbeitenden Klasse in England Manifest der Kommunistischen Partei Principles of Political Economy, with some of their Applications to Social Philosophy (dt.: Grundsätze der politischen Oekonomie, nebst einigen Anwendungen derselben auf die Gesellschaftswissenschaften, 1852) System der Volkswirtschaft, Bd. 1: Grundlagen der Nationalökonomie On Liberty (dt.: Über die Freiheit, 1860) System der Volkswirtschaft, Bd. 2: Nationalökonomik des Ackerbaus und der verwandten Urproduktionen De crises commerciales et leur retour périodique en France, en Angleterre et aux Etats-Unis Das Kapital, Bd. I Du change et de la liberté d’émission Geschichte der National-Oekonomik in Deutschland Grundlegung der politischen Ökonomie Adolph Wagner Allgemeine oder theoretische Volkswirtschaftslehre Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft („Anti-Dühring“) Finanzwissenschaft, 4 Bde. The Economics of Industriy Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft

602 1881 1883

1884 1885 1886 1887 1889 1890 1893/1918 1894 1894 1896 1899 1900 1902 1904 1910

1910 1910 1911 1911 1911 1912

1913 1914 1916 1916

81  Zeittafel zur Literaturgeschichte der Ökonomie Wilhelm Roscher System der Volkswirtschaft, Bd. 3: Nationalökonomik des Handels und Gewerbfleißes Carl Menger Untersuchungen über die Methode der Socialwissenschaften und der politischen Ökonomie insbesondere Eugen v. Kapital und Kapitalzins. Geschichte und Kritik der Böhm-Bawerk Kapitalzins-Theorien Karl Marx Das Kapital, Bd. II Wilhelm Roscher System der Volkswirtschaft, Bd. 4: System der Finanzwissenschaft Karl Kautsky Karl Marx’ ökonomische Lehren Eugen v. Kapital und Kapitalzins. Positive Theorie des Kapitales Böhm-Bawerk Alfred Marshall Principles of Economics (dt.: Handbuch der Volkswirtschaftslehre, 1905) Karl Bücher Die Entstehung der Volkswirtschaft, 2 Bde. Karl Marx Das Kapital, Bd. III Wilhelm Roscher System der Volkswirtschaft, Bd. 5: System der Armenpflege und Armenpolitik Eugen v. Zum Abschluß des Marxschen Systems Böhm-Bawerk Karl Kautsky Die Agrarfrage Gustav Schmoller Grundriß der allgemeinen Volkswirtschaftslehre, Bd. 1 Werner Sombart Der moderne Kapitalismus, Bd. 1 und 2 Gustav Schmoller Grundriß der allgemeinen Volkswirtschaftslehre, Bd. 2 Joseph Hellauer System der Welthandelslehre – Ein Lehr- und Handbuch des internationalen Handels (10. Aufl. unter dem Titel Welthandelslehre – Handelsverkehrslehre mit besonderer Berücksichtigung des Außenhandels, 1954) Karl Bücher Das Gesetz der Massenproduktion Rudolf Hilferding Das Finanzkapital Johann F. Schär Allgemeinen Handelsbetriebslehre Joseph Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung Schumpeter Frederick The Principles of Scientific Management (dt.: Die W. Taylor Grundsätze wissenschaftlicher Betriebsführung 1919) Heinrich Allgemeine kaufmännische Betriebslehre als Nicklisch Privatwirtschaftslehre des Handels (und der Industrie) (später u. d. Titel: Wirtschaftliche Betriebslehre, 1921 und Die Betriebswirtschaft, 1932) Rosa Luxemburg Die Akkumulation des Kapitals Eugen v. Macht oder ökonomisches Gesetz? Böhm-Bawerk Silvio Gesell Die natürliche Wirtschaftsordnung durch Freiland und Freigeld Wladimir I. Lenin Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus

81  Zeittafel zur Literaturgeschichte der Ökonomie 1919 1919 1919 1920 1921 1922

Alfred Marshall Eugen Schmalenbach Eugen Schmalenbach Heinrich Nicklisch Fritz Schmidt

1923

Ludwig von Mises Edgar Salin

1923 1925

Alfred Marshall Rudolf Seyffert

1926

Wilhelm Kalveram Nikolai Kondratieff John M. Keynes

1926 1926 1927 1927 1927 1927 1929 1929 1929 1930 1930 1930

1931 1932 1933 1933

Wilhelm Kalveram Wilhelm Rieger Eugen Schmalenbach Werner Sombart Wilhelm Kalveram Konrad Mellerowicz Rudolph Seyffert John M. Keynes Werner Sombart Gunnar Myrdal

603

Industry and Trade Dynamische Bilanz Kostenrechnung und Preispolitik Der Weg aufwärts! Organisation Die organische Bilanz im Rahmen der Wirtschaft (ab 3. Aufl. u. d. Titel: Die organische Tageswertbilanz, 1929) Die Gemeinwirtschaft Geschichte der Volkswirtschaftslehre (ab 1967 unter dem Titel: Politische Ökonomie. Geschichte der wirtschaftspolitischen Ideen von Platon bis zur Gegenwart) Money, Credit and Commerce Über Begriff, Aufgaben und Entwicklung der Betriebswirtschaftslehre Bankbuchhaltung Die langen Wellen der Konjunktur The end of Laissez-Faire (dt.: Das Ende des Laissez-­ Faire) Kaufmännisches Rechnen Einführung in die Privatwirtschaftslehre Der Kontenrahmen Der moderne Kapitalismus, Bd. 3 Finanzierung der Unternehmung Allgemeine Betriebswirtschaftslehre Allgemeine Werbelehre A treatise on Money (dt.: Vom Gelde, 1932) Die drei Nationalökonomien Vetenshap och Politik i Nationalekonomie (dt.: Das politische Element in der national-ökonomischen Doktrinbildung, 1932) Prices and production (dt.: Preise und Produktion)

Friedrich A. v. Hayek Rudolf Seyffert Handbuch des Einzelhandels Friedrich A. v. Monetary Theorie and the Trade Cycles Hayek Joan V. Robinson The economics of imperfect competition

604 1934 1936

1939

81  Zeittafel zur Literaturgeschichte der Ökonomie Heinrich v. Stackelberg John M. Keynes

1944

Joseph Schumpeter Walter Eucken Ludwig v. Mises Joseph Schumpeter Heinrich v. Stackelberg Friedrich A. v. Hayek Gunnar Myrdal

1944

Karl Polanyi

1947

Alfred Müller-­ Armack Paul A. Samuelson Wilhelm Kalveram Paul A. Samuelson Wilhelm Kalveram Erich Gutenberg

1940 1940 1942 1943 1944

1947 1948 1948 1949 1951 ff.

1951 1952 1954 1956 1957 1957

1957 1958

Marktform und Gleichgewicht The General Theory of Employment, Interest and Money (dt.: Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes) Business Cycles (dt.: Konjunkturzyklen, 1961) Die Grundlagen der Nationalökonomie Nationalökonomie Capitalism, Socialism, and Democracy (dt.: Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, 1946) Grundzüge der theoretischen Volkswirtschaftslehre The Road to Serfdom (dt.: Der Weg zur Knechtschaft, 1945) An American Dilemma: The Negro Problem and Modern Democracy The Great Transformation (dt.: The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen, 1978) Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft Foundation of economic analysis Industriebetriebslehre Economics (dt.: Volkswirtschaftslehre) Der christliche Gedanke in der Wirtschaft

Grundlagen der Betriebswirtschaftslehre, Bd. 1: Die Produktion, 1951; Bd. 2: Der Absatz, 1955; Bd. 3: Die Finanzen, 1969 Rudolph Seyffert Wirtschaftslehre des Handels Walter Eucken Grundsätze der Wirtschaftspolitik Joseph History of Economic Analysis (dt.: Geschichte der Schumpeter ökonomischen Analyse, 1965) Joan V. Robinson The accumulation of capital (dt.: Die Akkumulation des Kapitals, 1958) Milton Friedman Theory of the Consumption Function Gunnar Myrdal Economic Theory and Underdeveloped Regions (dt.: Ökonomische Theorie und unterentwickelte Regionen, 1959) Karl Polanyi Trade and Market in the Early Empires John K. Galbraith The Affluent Society (dt.: Gesellschaft im Überfluß, 1959)

81  Zeittafel zur Literaturgeschichte der Ökonomie 1960 1962 1962 1963

1963 1965 1966 1967 1967

1968 1969 1969

1969

1970 1970 1971

1972 1972 1973 1973 1973 1975 1976 1976

Friedrich A. v. Hayek Milton Friedman Erich Kosiol Milton Friedman (mit A. J. Schwartz) Konrad Mellerowicz Reinhard Selten

605

The Constitution of Liberty (dt.: Die Verfassung der Freiheit, 1991) Capitalism and freedom (dt.: Kapitalismus und Freiheit, 1971) Organisation der Unternehmung A monetary history of the United States 1867–1960

Unternehmenspolitik, 3 Bde., 1963–1964

Spieltheoretische Behandlung eines Oligopolmodells mit Nachfrageträgheit Edmund Heinen Das Zielsystem der Unternehmung John K. Galbraith The New Industrial State (dt.: Die moderne Industriegesellschaft, 1968) Philip Kotler Marketing-Management: Analysis, Planning, Implementation and Control (dt.: Marketing-­ Management: Analyse, Planung und Kontrolle, 1974) Hans Ulrich Die Unternehmung als produktives soziales System Gunnar Myrdal Objectivity in Social Research (dt.: Objektivität in der Sozialforschung, 1971) Gunnar Myrdal Asian Drama: An Inquiry into the Poverty of Nations (dt.: Asiatisches Drama: Eine Untersuchung über die Armut der Nationen, 1973) Edmund Heinen Zum Wissenschaftsprogramm der entscheidungsorientierten Betriebswirtschaftslehre. In: ZfB, 39 Jg., S. 207–220 George The Market for Lemons A. Akerlof Amartya Sen Collective Choice and Social Welfare Nicholas The entropy law and the economic process Georgescu-­ Roegen Edmund Heinen Industriebetriebslehre. Entscheidungen im Industriebetrieb Robert E. Lucas Expectations and the Neutrality of Money John K. Galbraith Economics & the public Purpose (dt.: Wirtschaft für Staat und Gesellschaft, 1974) Friedrich A. v. Law, Legislation and Liberty, 3 Bde., 1973–1979 (dt.: Hayek Recht, Gesetzgebung und Freiheit, 1980/1981) Amartya Sen On economic inequality (dt.: Ökonomische Ungleichheit, 1975) Reinhard Selten Reexamination of the Perfectness Concept for Equilibrium Points in Extensive Games Erich Kosiol Pagatorische Bilanz Robert E. Lucas Econometric Policy Evaluation: A Critique

606

81  Zeittafel zur Literaturgeschichte der Ökonomie

1976

Joseph Stiglitz

1979

Paul Krugman

1980

Paul Krugman

1986

Joseph Stiglitz

1994 1999

Joseph Stiglitz Amartya Sen

2002

Joseph Stiglitz

2009

George A. Akerlof/ Robert J. Shiller

Equilibrium in Competitive Insurance Markets. An Essay on the Economics of Imperfect Information. (zus. mit M. Rothschild) Increasing Returns, Monopolistic Competition and International Trade Scale Economies, Product Differentiation, and the Pattern of Trade Economics of the Public Sector (dt.: Finanzwissenschaft, 1989) Whither Socialism (dt.: Wohin Sozialismus?) Development as freedom (dt.: Ökonomie für den Menschen, 2000) Globalization and its Discontents (dt.: Die Schatten der Globalisierung, 2002) Animal Spirits. How human psychology drives the economy, and why it matters for global capitalism (dt.: Animal Spirits. Wie Wirtschaft wirklich funktioniert.

Glossar

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American Austrians (auch Neo-Austrians; Libertäre Schule). Bezeichnung für die Anhänger der österreichischen Schule der Ökonomie in den USA, als deren Gründervater → L. von Mises gilt. Zu den Vertretern der A. A. werden die 4. und 5. Generation der österr. Schule, also überwiegend Schüler von Mises, gezählt (z.  B. Israel M.  Kirzner und Murray N.  Rothbard). Die Anhänger der A.  A. vertreten überwiegend einen radikalen laissez-faire-marktwirtschaftlichen Standpunkt. Ihr Ideal sehen sie in einer Gesellschaft, in der der Staat keinerlei Einfluss hat. Die wirtschaftliche und gesellschaftliche Koordination soll über Verträge und Märkte organisiert werden. Arbeitswertlehre Die A. geht davon aus, dass Güter einen „objektiven“ Wert haben. Dieser bemisst sich nach der Arbeit, die bei der Produktion in das Produkt eingegangen ist. Erste Ansätze einer A. lassen sich bereits bei → Aristoteles finden. Eine bedeutsame Entwicklung erfuhr die A. erst in der Klassischen Ökonomie von → W. Petty, → A. Smith und → D. Ricardo. Sie erkannten in der Arbeit die wertbildende Substanz der Güter und im Preis die Erscheinungsform des Wertes. In Ricardos Theorie der relativen Tauschwerte heißt es: „Die Güter tauschen sich im Verhältnis der auf sie verwendeten Arbeit, gemessen an der Zeit.“ Die A. von Ricardo wurde von → K. Marx weiterentwickelt. Für ihn ist eine Ware „vergegenständlichte Arbeit“, und ihr Tauschwert bemisst sich nach der „gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit“, die zu ihrer Herstellung notwendig ist. Nach marxistischer Auffassung kann nur die Arbeit Werte schaffen, sie ist daher auch der einzig wahre Produktionsfaktor. Während die A. ab Ende des 19. Jh. in der (bürgerlichen) Wirtschaftswissenschaft an Bedeutung verlor, ist sie in der marxistischen Lehre ein fundamentaler Bestandteil.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Wächter, Ökonomen auf einen Blick, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29069-6_82

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Austromarxismus besondere Ausformung des orthodoxen Marxismus in Österreich. Bekanntester Vertreter dieser Richtung ist → R. Hilferding. Weitere wichtige Vertreter sind M. Adler, O. Bauer und E. Lederer. Bauernkrieg Bezeichnung für den Aufstand der deutschen Bauern in Mittel- und Süddeutschland in den Jahren 1524/25. Der B. war der Höhepunkt einer Krise des → Feudalismus. Die Bauern forderten u.  a. eine Aufhebung der Leibeigenschaft, Verringerung ihrer Lasten, des → Zehnts und der Zwangsdienste. → Martin Luther sah die sozialen Forderungen der Bauern als berechtigt an, verurteilte jedoch deren gewalttätiges Vorgehen scharf. Bevölkerungslehre, malthusianische → Malthusianismus Bioökonomie Von dem rumänischen Wirtschaftswissenschaftler und Mathematiker → Georgescu-­ Roegen verwendeter Begriff für → Ökologische Ökonomie. Bolschewiki/Bolschewismus (=Mehrheitler). Von → W. I. Lenin gewählte Bezeichnung für eine (radikale) Strömung innerhalb der russischen sozialdemokratischen Arbeiterbewegung, die unter seiner Führung stand. Bei einer Abstimmung über die zukünftige Ausrichtung der sozialdemokratischen Arbeiterpartei im Jahre 1903 setzten sich die B. gegen die Menschewiki (=Minderheitler) durch. Ab 1912 war „B.“ der Name für die aus der Spaltung hervorgegangene selbständige Partei. Nach der Novemberrevolution und der Machtübernahme durch die B. führte die Kommunistische Partei der Sowjetunion (KPdSU) die Bezeichnung B. weiterhin als Beinamen. Bolschewismus wird als Bezeichnung für die Wirtschafts- und Staatspolitik Lenins benutzt. Break-even-Point (BeP) Der BeP ist jene Produktmenge, bei der das Unternehmen weder einen Gewinn noch einen Verlust erwirtschaftet; die Kosten werden durch den Erlös exakt gedeckt. Wird die Produktionsmenge um eine Einheit erhöht, so gelangt das Unternehmen in die Gewinnzone. Daher spricht man auch von „Gewinnschwelle“ oder „kritischer Ausbringungsmenge“. Dieser Punkt wurde etwa zeitgleich von → K. Bücher (1910) und → J. F. Schär (1911) entdeckt. Letzterer fand hierfür die Bezeichnung „Toter Punkt“.

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Will man den BeP berechnen, so gilt die Bedingung: Umsatzerlöse = Gesamtkosten. Löst man diese Gleichung auf, so erhält man die Formel zur Berechnung der kritischen Ausbringungsmenge (BeP): BeP =

fixe Gesamtkosten Stückpreis – variable Stückkosten

In diesem vereinfachten Grundmodell werden also die fixen Kosten durch den Deckungsbeitrag pro Stück dividiert. Bruttoinlandsprodukt (BIP) In der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung ist das BIP die Summe aller Güter und Dienstleistungen (bewertet zu Marktpreisen), die innerhalb eines Jahres in einem Land (durch Inländer und Ausländer) hergestellt werden. Das BIP dient als Indikator zur Messung des Wirtschaftswachstums. Die Eignung des BIP als Wohlstandsindikator ist umstritten. Die Nobelpreisträger → J. Stiglitz und → A. Sen gehörten 2008/2009 einer Arbeitsgruppe an, die von der französischen Regierung beauftragt wurde, ein neues Konzept zur Messung des Wohlstandes zu finden. Sen entwickelte bereits in den 1990er-Jahren den → Human Development Index (HDI). Cambridge-Schule Neben der Österreichischen Schule und der Lausanner Schule eine weitere Denkrichtung in der neoklassischen Theorie. C.-S. ist außerdem eine Bezeichnung für eine Gruppe von Ökonomen, die auf den in Cambridge lehrenden Ökonomen → A. Marshall zurückgeht. Die C.-S. verbindet neoklassische Ansätze (Grenznutzenschule) mit der traditionellen klassischen Theorie. Marshall unterschied z. B. zwischen kurzer und langer Periode, zwischen steigenden, konstanten und fallenden Kosten, zwischen Unternehmung und Indus­ trie, zwischen internen und externen Kosten und zwischen Konsumenten- und Produzen-

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tenrente. Methodisch überwiegt in der C.-S. die Partialanalyse. Die C.-S. hatte einen großen Einfluss im englischsprachigen Raum. Ceteris paribus lat. „unter sonst gleichen Umständen“. Der schon von → W. Petty verwendete und von → A. Marshall in der Mikroökonomik popularisierte Terminus „ceteris paribus“ (Abkürzung: c. p.) besagt, dass in der ökonomischen Analyse einer der betrachteten Faktoren verändert wird, während alle anderen Faktoren als konstant angenommen werden. Chicago Boys Gruppe von chilenischen Wirtschaftswissenschaftlern, die in Chicago studiert hatten und die Ideen ihres Lehrers → M. Friedman unter dem Diktator August Pinochet radikal umsetzten. Sie führten in einer Art ökonomischen Experiment eine von Friedman verordnete „Schocktherapie“ durch. Chicagoer-Schule Denkschule, die an der Universität von Chicago entstand und auf der klassischen Theorie aufbaut. Wichtigste Vertreter sind → M. Friedman, H. Simon, G. J. Stigler, R. Coase und G. Becker. Die Freiheit des Marktes wird hervorgehoben und staatliche Eingriffe radikal abgelehnt. Im Zentrum der C.-S. steht der Monetarismus. Die C.-S. hatte in den 1980er-­ Jahren starken Einfluss auf die Wirtschaftspolitik und bildete das theoretische Fundament für angebotsorientierte Politikprogramme (z. B. von R. Reagan und M. Thatcher). Club of Rome 1968 gegründeter, internationaler Zusammenschluss von Wissenschaftlern, Politikern und Wirtschaftsführern, der das Ziel verfolgt, aktuelle Menschheitsprobleme zu erforschen. Im Mittelpunkt stehen wirtschaftliche, ökologische, soziale und demografische Fragen und Probleme, die die Menschheit vor Herausforderungen stellen. Die ersten Berichte des Club of Rome aus den 1970er-Jahren (z. B. zu den Grenzen des Wachstums und zur Energiekrise) fanden weltweite Beachtung. Beeinflusst wurden diese Berichte auch von den wissenschaftlichen Arbeiten des Wirtschaftswissenschaftlers und Mathematikers → Georgescu-Roegen. Colbertismus Nach dem Minister Jean B. Colbert benannte Spielart des Merkantilismus in Frankreich, in der besonders das Gewerbe und der Außenhandel hervorgehoben wurde. Der C. vernachlässigte die Landwirtschaft, was zur Entstehung des Physiokratismus führte. Commerzialismus Englische Variante des Merkantilismus, in deren Zentrum insbesondere die Handelspolitik und die Kolonialpolitik stehen.

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Deduktion/deduktive Methode Eine Schlussfolgerung vom Allgemeinen auf das Spezielle. Das Gegenstück ist die induktive Methode. Doppelte Buchhaltung/Buchführung Der Begriff „Doppelte Buchführung“ kann mehrfach gedeutet werden: • Durch Abschluss der Bestandskonten in der Bilanz und durch Abschluss der Erfolgskonten in der Gewinn- und Verlustrechnung (GuV) wird der Periodenerfolg doppelt ermittelt. • Jeder Geschäftsfall wird doppelt festgehalten, nämlich im Grundbuch (zeitliche Ordnung) und im Hauptbuch (sachliche Ordnung). • Jeder Buchungsvorgang stellt einen Wertübergang dar, d. h. jeder Leistung entspricht eine Gegenleistung, und daher werden zwangsläufig zwei Konten berührt. Die Technik der D. B. ist seit 1340 nachweisbar. Der italienische Franziskanermönch und bedeutende Mathematiker → Luca Pacioli veröffentlichte im Jahr 1494 die erste gedruckte Schrift zur D. B. und trug so wesentlich zu deren Verbreitung bei. East India Company 1600 gegründete englische Handelskompanie, die das Monopol im Handel mit Indien hatte. Ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts verfügte sie über sehr viel Macht und Einfluss. Ab 1813 verlor sie ihre Monopolstellung und wurde schließlich 1858 aufgelöst. Bedeutende Ökonomen, die auch dem Vorstand der E. angehörten, waren z. B. → T. Mun und → J. St. Mill. Empirismus/empirische Forschung Lehre (bzw. Forschungsmethode), wonach alle Erkenntnis nur auf Erfahrung beruht. Entscheidungsorientierte BWL Neuerer Ansatz in der Betriebswirtschaftslehre, der von → E. Heinen Ende der 1960er-­ Jahre begründet wurde. Die e. BWL versteht sich als eine angewandte Wissenschaft, die darauf abzielt, das betriebliche Entscheidungsverhalten transparenter und prognostizierbarer zu machen. Dieser neue Ansatz rückte das betriebliche Entscheidungsproblem in den Mittelpunkt. Es entsteht dadurch, dass Unternehmen nicht nur ein Ziel (Gewinnmaximierung) verfolgen, sondern ein ganzes Bündel unterschiedlicher Ziele. Somit grenzte sich der entscheidungsorientierte Ansatz klar von dem Gutenberg schen Ansatz ab und öffnete das Fach auch für sozialwissenschaftliche Fragestellungen.

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ex-ante-/ex-post-Analyse Die ex-post-Analyse bezieht sich auf die Vergangenheit; sie beschreibt Tatsächliches. Die ex-ante-Analyse bezieht sich auf die Zukunft; sie deutet Mögliches an. Das Begriffspaar wurde 1928 von → G. Myrdal in die Wirtschaftswissenschaft eingeführt. experimentelle Wirtschaftsforschung Die e. W. ist eine empirische Forschungsmethode der Wirtschaftswissenschaften. Die Erkenntnisse werden im Labor gewonnen, wo das Entscheidungsverhalten von Versuchspersonen in bestimmten Situationen erforscht wird. Besonders gut harmoniert die e. W. mit der Spieltheorie, deren Ergebnisse sie überprüfen kann. Begründer der e. W. ist der deutsche Ökonom → R. Selten, der Mitte der 1980er-Jahre an der Universität Bonn das erste Labor für e. W. aufbaute und im Jahre 1994 den Wirtschaftsnobelpreis erhielt. Feudalismus Wirtschafts- und Sozialordnung, die in der wirtschaftsgeschichtlichen Entwicklung die Sklavenhalterschaft ablöst und ihrerseits durch den → Kapitalismus abgelöst wird. Im F. vollzieht sich der Übergang von der Naturalwirtschaft zur Warenproduktion und Ware-­ Geld-­Beziehung. Der F. ist dadurch gekennzeichnet, dass die adlige Oberschicht vom Herrscher lehnsrechtlich mit Grundherrschaft und verschiedenen Vorrechten ausgestattet wird. Insbesondere im späteren Mittelalter vorherrschende Gesellschaftsformation. Eine Krise des F. führte im 16. Jh. zum → Bauernkrieg. Finanzkapital Insbesondere von dem Marxisten → R. Hilferding geprägter Begriff, der auf sein gleichnamiges Hauptwerk Das Finanzkapital (1910) zurückzuführen ist. F. bezeichnet das bei wenigen Geldinstituten konzentrierte Geldkapital, also das miteinander verflochtene Kapital von Großindustrie und Banken. Hilferding zufolge verleiht das F. seinen Besitzern und Verwaltern eine so mächtige Stellung, dass es ihnen möglich ist, die Struktur der Wirtschaft und den Ablauf des Wirtschaftsprozesses zu beeinflussen. Freiburger Schule Gruppe von Wirtschaftswissenschaftlern, die sich um 1930 in Freiburg bildete und während des Zweiten Weltkrieges nach einem „dritten Weg“ zwischen Kapitalismus und Sozialismus suchte. Ihre Hauptvertreter waren → W.  Eucken, F.  Böhm und W.  Röpke. Die F. S. beschäftigte sich insbesondere mit Fragen der Wirtschaftsordnung und wird als wissenschaftstheoretische Grundlage des Neoliberalismus angesehen. Die F.  S. ebnete den Weg zur Sozialen Marktwirtschaft in Deutschland. Freihandel Beim F. herrschen freie wirtschaftliche Beziehungen zwischen Volkswirtschaften, d. h. es existieren keine staatlichen Beschränkungen im Warenaustausch in Form von Verboten, Zöllen, Kontingenten, Steuern oder ähnlichen Handelshemmnissen. Das Freihandelsprin-

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zip wurde im 18. Jahrhundert von Vertretern des Liberalismus (z. B. → A. Smith) entwickelt. → D.  Ricardo entwickelte die Theorie der komparativen Kostenvorteile, wonach Arbeitsteilung und F. zum Vorteil für alle Beteiligten sind. Das Freihandelsprinzip wird auch kritisiert, z. B. von → G. Myrdal, → P. A. Samuelson und → P. Krugman. Freiheit Die Fähigkeit eines Menschen, selbständig und ohne Zwang Entscheidungen zu treffen und so zu handeln, wie er will. Die marxistische Lehre hält F. für eine Fiktion, da die Menschen trieb- und milieubedingt agieren und im Milieu die ökonomischen Verhältnisse eine bedeutende Rolle spielen. Ausführlich beschäftigte sich der Ökonom und Nobelpreisträger → A. Sen mit der Freiheitstheorie. Sein Freiheitsbegriff fußt auf dem Konzept der „Capabilities“, (engl. „Befähigungen“), womit die Möglichkeiten des Handelns gemeint sind. Menschen sind nach Sen dann frei, wenn sie relevante Handlungsalternativen haben. Genossenschaftswesen Das moderne G. hat sich im 19. Jh. entwickelt. Es basiert auf den Prinzipien der Selbsthilfe und der Gesellschaftsreform. Genossenschaften sind demokratisch organisierte Zusammenschlüsse von Wirtschaftssubjekten, die die Selbsthilfe und die wirtschaftliche Förderung ihrer Mitglieder (Genossen) vor das Profitinteresse stellen. Als Gründervater des G. gilt der engl. Frühsozialist → Robert Owen. gerechter Preis Zu der Frage, welcher Tauschwert als „gerecht“ anzusehen ist, gehen die Ansichten seit jeher weit auseinander, weil Moralnormen kultur- und zeitabhängig und zudem subjektiv auslegbar sind. Da keine allgemeingültige Definition für einen g. P. existiert, werden im Folgenden einige Auffassungen exemplarisch vorgestellt: Bereits die antike griechische Philosophie setzte sich mit der Frage des g. P. (pretium iustum) auseinander. Nach Platon dienen wirtschaftliche Transaktionen vor allem der Versorgung der Bürger, ein Gewinn sei daher nur in mäßigen Margen erlaubt. Eine differenziertere Auffassung legt Aristoteles im fünften Buch seiner Nikomachischen Ethik dar. Preise müssen verhältnismäßig sein, wobei das Maß für Verhältnismäßigkeit der Bedarf sei. Der Preis einer Ware solle sich nach dem Bedürfnis richten. Der Römer Cicero (De Officiis III, 12) berücksichtigt in seiner Auffassung vom g. P. die Bedeutung der Informationen; der Verkäufer habe alle Informationen, die den Kaufabschluss betreffen, aufzudecken (vgl. Lütge/Uhl: Wirtschaftsethik, München 2018, S. 43 ff.). Im Mittelalter zielt → Martin Luthers Idee vom g. P. auf eine optimale Güter- und Einkommensverteilung ab, die sowohl das Allgemeinwohl als auch eine für Käufer- und Verkäuferseite akzeptable Preisgestaltung berücksichtigt. Nach dem Zweiten Weltkrieg thematisiert der Betriebswirtschaftler → Wilhelm Kalveram die Frage der Preisgerechtigkeit in seiner Schrift Der christliche Gedanke in der Wirtschaft (1949).

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Gesetz der Massenproduktion Das von → Karl Bücher im Jahre 1910 entdeckte Phänomen und formulierte Gesetz, wonach mit steigender Produktionsmenge die Durchschnittskosten sinken, weil die fixen Kosten sich auf die zunehmende Stückzahl verteilen. Mit zunehmender Menge reduziert sich also der Fixkostenanteil pro Stück. Etwa zeitgleich befasste sich auch → Johann Friedrich Schär mit den Kosten und entwickelte in dem Zusammenhang die Lehre vom „Toten Punkt“, die heute bekannt ist unter der Bezeichnung → „Break-Even-Point“ bzw. „Break-Even-Analyse“. Gesetz von der zunehmenden Staatstätigkeit Von → Adolph Wagner entdecktes und formuliertes Gesetz: „Beobachtungsmäßig, historisch und statistisch nachweisbar zeigt sich im Staate eine deutliche Tendenz zur Ausdehnung der öffentlichen bzw. Staatstätigkeiten mit dem Fortschritt der Volkswirtschaft und Kultur auf den Gebieten der beiden organischen Staatszwecke.“ Globalisierung Bezeichnung für das Phänomen einer stark und stetig ansteigenden internationalen Verflechtung der Volkswirtschaften. Auf ökonomischem Gebiet ist die G. gekennzeichnet durch einen starken Wachstum des Außenhandels, der internationalen Direktinvestitionen und Finanztransaktionen. Der Trend zur internationalen Ausdehnung ökonomischer Aktivitäten ist keine neue Erscheinung. Schon 1848 beschreibt → K. Marx im Manifest der Kommunistischen Partei das Wesen der G. – auch wenn er den Begriff nicht verwendet: „Das Bedürfnis nach einem stets ausgedehnteren Absatz für ihre Produkte jagt die Bourgeoisie über die ganze Erdkugel … Die Bourgeoisie hat durch ihre Exploitation des Weltmarkts die Produktion und Konsumption aller Länder kosmopolitisch gestaltet. … Die uralten nationalen Industrien sind vernichtet worden und werden noch täglich vernichtet. Sie werden verdrängt durch neue Industrien, … die nicht mehr einheimische Rohstoffe, sondern den entlegensten Zonen angehörige Rohstoffe verarbeiten und deren Fabrikate nicht nur im Lande selbst, sondern in allen Weltteilen zugleich verbraucht werden. An die Stelle der alten, durch Landeserzeugnisse befriedigten Bedürfnisse treten neue, welche die Produkte der entferntesten Länder und Klimate zu ihrer Befriedigung erheischen. An die Stelle der alten lokalen und nationalen Selbstgenügsamkeit und Abgeschlossenheit tritt ein allseitiger Verkehr, eine allseitige Abhängigkeit der Nationen voneinander.“ Der Nobelpreisträger → J. Stiglitz setzt sich in seinen Werken mit der G. kritisch auseinander. Grenznutzenschule Denkschule, deren Vertreter den subjektiven Nutzen in den Vordergrund stellen. 1870/1871 entdeckten → L. Walras, W. S. Jevons und → C. Menger den Grenznutzen etwa zeitgleich und unabhängig voneinander. → J. H. Thünen hat als erster Theoretiker das Prinzip der Grenzproduktivität entwickelt und in eindeutiger Weise formuliert.

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Handelsbilanz Die H. ist ein Teil der Leistungsbilanz. In ihr wird der gesamte außenwirtschaftliche Warenverkehr einer Volkswirtschaft erfasst. Die Warenausfuhr (Exporte) wird der Wareneinfuhr (Importe) gegenübergestellt. Liegt der Wert der Exporte über denen der Importe, liegt ein Handelsbilanzüberschuss vor. Man spricht in dem Fall von einer aktiven H. Erste Überlegungen zur H. finden sich bei dem bedeutendsten Vertreter des englischen Merkantilismus → T. Mun. Historische Schule Von → W. Roscher begründete Schule der Nationalökonomie, die von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die Weimarer Republik die vorherrschende Denk- und Forschungsrichtung in Deutschland war. Zu ihren Vertretern zählen neben Roscher beispielsweise → G. Schmoller, → K. Bücher, → W. Sombart und M. Weber. Die H. S. geht davon aus, dass gesellschaftliche und ökonomische Verhältnisse historisch entstanden sind und es keine allgemeingültigen Theorien geben könne. Die Forschungsmethode war ein empirisch-­ beschreibendes Vorgehen. Auch sollten außerökonomische Faktoren (wie z.  B.  Recht, Sitte, Moral, Politik, Religion), die auf die Wirtschaft einwirken, berücksichtigt werden. Ihr Ziel war eine historisch fundierte Sozialwissenschaft. Homo oeconomicus idealtypisches Menschenbild, das insbesondere der Klassik und Neoklassik zugrunde liegt. In die Betriebswirtschaftslehre fand es (indirekt) Eingang durch den Ansatz von → E. Gutenberg. Das Modell des h. o. geht von einem Menschen aus, der ausnahmslos rational handelt. Er ist vollständig über das Marktgeschehen informiert und verfügt über alle Informationen. Es strebt danach, stets seinen eigenen Nutzen zu maximieren. Dieses Modell, das sich auf → J. St. Mill zurückführen lässt, wird immer stärker kritisiert bzw. ganz abgelehnt (z. B. in der VWL von → R. Selten und in der BWL von → E. Heinen und → W. Kalveram). Insbesondere seit Ende der 1980er-Jahre versucht die experimentelle Wirtschaftsforschung ein realistisches Bild vom ökonomisch handelnden Menschen zu erhalten. Human Development Index (HDI) Der von → A. Sen entwickelte HDI ist ein Indikator für die wirtschaftliche Entwicklung eines Landes. Im Gegensatz zum BIP, das rein monetär orientiert ist, berücksichtigt der HDI darüber hinaus Faktoren wie Lebenserwartung, Alphabetisierungsrate, Durchschnittsdauer des Schulbesuchs sowie das Bruttonationaleinkommen (BNE) pro Kopf. Der HDI wird seit 1990 jährlich in einem Bericht der Vereinten Nationen, dem Human Development Report, veröffentlicht. Imperialismus Nach → W. I. Lenin ist der I. die höchste Stufe des Kapitalismus; und zwar „auf jener Entwicklungsstufe, wo die Herrschaft der Monopole und des Finanzkapitals sich heraus-

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gebildet, der Kapitalexport hervorragende Bedeutung gewonnen, die Aufteilung der Welt durch die internationalen Trusts begonnen hat und die Aufteilung des gesamten Territoriums der Erde durch die größten kapitalistischen Länder abgeschlossen ist“ (LAW, Bd. II, S. 728–730). Neben Lenin haben sich insbesondere J. A. Hobson, → R. Hilferding und → R. Luxemburg mit dem I. beschäftigt. Induktion/induktive Methode Schlussfolgerung vom Speziellen auf das Allgemeine. Das Gegenstück ist die deduktive Methode. Informationsasymmetrie Zustand, in dem die Marktakteure über unterschiedliche Informationen verfügen. Dieser Zustand kann durch adverse Selektion (=Negativauslese) zu Marktversagen führen. → G. Akerlof, → J. Stiglitz und A. M. Spence erhielten für ihre Arbeiten auf diesem Gebiet den Wirtschaftsnobelpreis. Internationaler Währungsfonds (IWF) Der IWF ist eine internationale, rechtlich selbständige Sonderorganisation der Vereinten Nationen. Nachdem bereits 1941 durch den von → J. M. Keynes ausgearbeiteten und nach ihm benannten Keynes-Plan die Vorarbeiten für eine Reorganisation der internationalen Währungsordnung begannen, wurde der IWF zusammen mit der Weltbank am 22.07.1944 in Bretton Woods (New Hampshire, USA) gegründet, um nach dem Zweiten Weltkrieg eine internationale Währungsordnung auf möglichst breiter Basis zu schaffen. Am 27.12.1945 trat das Abkommen in Kraft. Die BRD trat am 14.08.1952 dem IWF bei. Aktuell (2016) sind 189 Staaten Mitglied des IWF. Mit Beitritt in den IWF werden den Mitgliedern Quoten zugeteilt (ähnlich wie Kapitalanteile); deren Höhe bemisst sich nach der Höhe des Volkseinkommens, den Währungsreserven und dem Umfang des Außenhandels. Nach dieser Quote richten sich das Stimmrecht der Mitgliedsstaaten in den IWF-­ Organen sowie der Erwerb von Währungen anderer Mitgliedsstaaten durch die Einzahlung eigener Währung. Der IWF hat die Aufgabe, • • • • •

die Stabilität des internationalen Finanzsystems zu stärken die internationale Zusammenarbeit in der Währungspolitik zu fördern das Wachstum des Welthandels zu erleichtern das Ungleichgewicht in den Zahlungsbilanzen der Mitglieder zu reduzieren seinen Mitgliedern in Währungs- und Finanzkrisen durch Kredite zu helfen.

Bei Wirtschafts- und Finanzkrisen können die Mitglieder Unterstützungsprogramme des IWF beantragen. Sie erhalten dann Kredite, müssen jedoch strenge wirtschaftspolitische Auflagen des IWF erfüllen, die helfen sollen, die Krise zu überwinden. Die Auflagen beinhalten Vorgaben zur Erhöhung der Deviseneinnahmen (Steigerung von Exporten), zur

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Haushaltsstabilisierung und zur Erhöhung des Wirtschaftswachstums (Beispiel: Grie­ chenland-­Krise). In seinem Werk Die Schatten der Globalisierung kritisiert → J. Stiglitz, dass die Strategien des IWF von Finanzinteressen dominiert werden und „der IWF den sozialen Belangen der Armen kaum Beachtung schenkt“ (S. 248). „Wenn Krisen auftraten, verordnete der IWF überholte, ungeeignete ‚Standardlösungen‘, ohne sich um die Auswirkungen auf die Menschen in den Ländern zu scheren, die diese Vorgaben umsetzen sollten. … Ideologische Erwägungen bestimmten die wirtschaftspolitischen Auflagen, und von den um Beistand ersuchenden Ländern erwartete man, dass sie die Vorgaben des IWF ohne Diskussion umsetzten“ (S. 12). Kameralismus Eine Variante des Merkantilismus, speziell in den deutschen Staaten und in Österreich vom 17. bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts. Im Mittelpunkt stand die wirtschaftliche Entwicklung des Staates. Für die Beamtenausbildung wurden die ersten ökonomischen Lehrstühle an Universitäten geschaffen. Ein bedeutender Vertreter des K. war z.  B. → J. J. Becher. Kapital K. hat in der Wirtschaftswissenschaft eine dreifache Bedeutung: (1) Neben Boden und Arbeit bezeichnet es den dritten volkswirtschaftlichen Produktionsfaktor. (2) Im Sinne von Geld kapital, welches die finanziellen Mittel umfasst, die zur Erneuerung bzw. Erweiterung des Kapitalstocks zur Verfügung stehen. (3) Im betrieblichen Rechnungswesen das Gesamtvermögen, bestehend aus Eigenkapital und Fremdkapital, welches auf der Passivseite der Bilanz erfasst wird.

Kapitalismus Bezeichnung für ein neuzeitliches Wirtschaftssystem, das gekennzeichnet ist insbesondere durch freies Unternehmertum und Privateigentum (an den Produktionsmitteln) und die Steuerung der Wirtschaftsaktivitäten dem Mark überlässt. Der Begriff (freie) ‚Marktwirtschaft‘ wird häufig synonym für K. verwendet. Zu den wichtigsten Ökonomen, die sich mit dem K. wissenschaftlich auseinandergesetzt haben, zählen → K. Marx, → F. Engels, → R. Luxemburg, → W. I. Lenin, → J. Schumpeter und → W. Sombart. Letzterer unterschied zwischen Früh-, Hoch- und Spätkapitalismus. Kathedersozialisten Name für eine Gruppe von Nationalökonomen, die sich im deutschen Kaiserreich für soziale Reformen und staatliche Eingriffe in die Wirtschaft einsetzten, um so die Lage der Arbeiter zu verbessern. Die Bezeichnung geht zurück auf Heinrich B.  Oppenheim, der

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dem liberal-manchasterlichen Kongreß deutscher Volkswirte angehörte. Er bezeichnete in einem Artikel in der Nationalzeitung → G. von Schmoller und seine Gefolgsleute polemisch als K. Keynesianismus Makroökonomisches Lehrgebäude und Bezeichnung für jene Theorien und Strömungen, die auf den Überlegungen von → J. M. Keynes aufbauen bzw. aus diesen hervorgegangen sind. Folgende Ökonomen lassen sich zu den „Keynesianern“ zählen: Zum Beispiel → J. Robinson, N. Kaldor, → J. K. Galbraith, → G. Myrdal, →G. Akerlof, → P. Krugman, → J. Stiglitz. Klassik → „Klassische Ökonomie“ Klassische Ökonomie Bezeichnung für jene ökonomische Denkrichtung, die im Wesentlichen auf den Lehren von → A. Smith, → D. Ricardo und → J. St. Mill basiert sowie auch für die Epoche von 1776 (Wealth of Nations von Smith) bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts. Wichtigster Vertreter in Deutschland war → J. H. von Thünen, in Frankreich → J.-B. Say.→ J. M. Keynes verwendet „das Wort ‚klassisch‘ für die gesamte Tradition orthodoxen Denkens von Smith und Ricardo an“, schreibt → J.  K. Galbraith in seiner Entmythologisierung des ökonomischen Denkens und führt weiter aus: „Zu Keynes’ Zeiten pflegte man von der neoklassischen Schule zu sprechen, die man für eine höhere Stufe der Klassik hielt. Diese unterschied sich aber nicht wesentlich von der älteren Lehre. Die neue Bezeichnung berücksichtigte lediglich die zahlreichen verfeinernden Ergänzungen…“ (S. 377 f., Anm. 9). Kommerzielle Revolution Die k. R. war ein gesamteuropäisches Phänomen, das die Handelsstrukturen und das Wirtschaftsleben etwa zwischen dem 13. und 15. Jh. grundlegend veränderte. Die k. R. wurde forciert durch das Aufkommen der Schriftlichkeit, die Einführung der → Doppelten Buchhaltung (zu deren Verbreitung insbesondere → Luca Pacioli beitrug), die Ablösung des Wanderhandels durch die Sesshaftwerdung der Kaufleute sowie Innovationen im Zahlungsverkehr (z. B. Kredit und Wechsel) und dem Transportwesen (bessere Lagermöglichkeiten und Transportmittel). Kommunismus (lat. Communis = „allen oder mehreren gemeinsam“) Nach → K. Marx und → F. Engels folgt der K. als letzte Entwicklungsstufe auf den Sozialismus. Der K. ist eine klassenlose Gesellschaftsform, in der das Privateigentum an den Produktionsmitteln aufgehoben ist. Ein bedeutendes rein ökonomisches Werk ist – neben dem Kapital von Marx – Das Finanzkapital des österr. Marxisten → R. Hilferding. Eine politische Interpretation und praktische Umsetzung der marxistischen Lehre vollzog → W. I. Lenin.

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Kondratieff-Zyklen Nach ihrem Entdecker → Nikolai Kondratieff benannte → Konjunkturzyklen mit einer Dauer von 48 bis 60 Jahren. Kongreß deutscher Volkswirte Eine Versammlung, die sich 1858 konstituierte und sich die Förderung des Freihandels zur Aufgabe gestellt hatte. In den ersten Jahren seines Bestehens setzte sich der KdV hauptsächlich ein für Gewerbefreiheit und Freizügigkeit sowie für Förderung des Genossenschaftswesens, später vorzugsweise für die Neuregelung des Bank- und Münzwesens im Sinne der Goldwährung und die Beschränkung der Banknoten. Der letzte (22.) Kongress wurde 1885 in Nürnberg abgehalten. Konjunkturzyklus Aufeinanderfolge von in bestimmten Zeitspannen wiederkehrenden Schwankungen (Aufund Abschwüngen) der wirtschaftlichen Aktivität um ihren langfristigen Trend (siehe Abb. 82.1). Ein Konjunkturzyklus vollzieht sich in den Phasen: • • • • •

Krise (Depression) Aufschwung (Expansion) Hochkonjunktur (Boom) Abschwung (Rezession) Krise (Depression)

Auf → Josef A. Schumpeter geht die Einteilung in Kitchin-, → Juglar- und →Kondratieff-­ Zyklen zurück (siehe Abb. 82.2). Nach dem Schumpeterschen Dreiwellenschema bilden drei 21/3-jährige Kitchin-Zyklen einen 7-jährigen Juglar-Zyklus und sieben Juglar-Zyklen einen 49-jährigen Kondratieff-Zyklus. Noch vor Juglar entdeckte → Karl Marx Zyklen mit einer Dauer „von zehn oder elf Jahren“, deren Periode „sich stufenweise verkürzen wird“ (MEW, Bd. 23, S. 662). Kosten (1) BWL: Nach → E. Schmalenbach versteht man unter K. „den in Geld bewerteten Güterverzehr, der für die Erstellung betrieblicher Leistungen anfällt“. Sch. beschäftigte sich intensiv mit der Kostentheorie und identifizierte verschiedene Kostenarten die abhängig von der Produktionsmenge sind. (2) VWL: Der Kostenbegriff wird allgemein weiter gefasst als bei 1); er umfasst auch K., die Dritten entstehen, d. h. nicht in der Kostenrechnung von Haushalten und Betrieben auftauchen (z.  B. „externe K. “ in der Umweltökonomik). Bei der Bewertung von K. kann (neben den Marktpreisen) auch der entgangene Nutzen als Maßstab herangezogen werden; man spricht dann von Alternativkosten oder auch Opportunitätskosten (opportunity costs). Beispiel: Die verwendeten Mittel für den Bau einer Autobahn können nicht verwendet werden für öffentliche Nahverkehrsmittel.

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Abb. 82.1  Schematische Darstellung des Konjunkturzyklus. (Quelle: U. Baßeler et al.: Grundlagen und Probleme der Volkswirtschaftslehre, Stuttgart 2006, S. 862.)

Abb. 82.2  Konjunkturzyklen mit unterschiedlicher Wellenlänge. (Quelle: Der Brockhaus Wirtschaft, Mannheim/Leipzig 2004, S. 334.)

Kumulative Effekte mit zirkulärer Verursachung Von → G. Myrdal entwickelte Theorie, die im Gegensatz steht zum Gleichgewichtsdenken der klassischen Lehre. Dem „Modell der zirkulären Verursachung mit kumulativen Effekten“ liegt ein Prozess zugrunde, in dem ein Faktor zugleich Ursache und Wirkung ist und eine bestimmte positive oder negative Entwicklung sich immer weiter in die einmal einge-

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schlagene Richtung verstärkt. Mit diesem Modell erklärte Myrdal die wirtschaftliche Rückständigkeit bestimmter Regionen und wandte sie auch an, um z. B. die Verstärkung der Ungleichheit durch Freihandel oder auch die Rassenkonflikte in den USA zu erklären. Lausanner Schule Name für eine Gruppe von Ökonomen, die an der Universität von Lausanne (Schweiz) lehrte. Zu den wichtigsten Vertretern dieser Schule zählen → L. Walras, der sie begründete sowie V. Pareto, der später auf dessen Lehrstuhl folgte. Im Mittelpunkt ihrer Lehre steht die Theorie des allgemeinen Gleichgewichts, die mit ihrer mathematischen Methode zur Weiterentwicklung der Neoklassik beitrug. Libertäre Schule → American Austrians List-Gesellschaft Nach ihrer Selbstbeschreibung „eine internationale Vereinigung von persönlichen, korporativen und institutionellen Mitgliedern aus Wirtschaft, Wissenschaft, Politik, Verbänden und öffentlicher Verwaltung. Sie wurde 1954 von → E.  Salin als Nachfolgerin der Friedrich-­List-Gesellschaft gegründet, die seit 1925 mit ihren Konferenzen und Gutachten hohes nationales und internationales Ansehen genoß und sich im Jahre 1935 selbst auflöste, um sich dem drohenden Eingriff der Nationalsozialisten zu entziehen. Mit ihrer Vorgängerin teilt die heutige List-Gesellschaft die Aufgabe, wirtschafts- und gesellschaftspolitische Probleme zu erforschen, Lösungen wissenschaftlich zu erarbeiten und die Ergebnisse für die Praxis in Wirtschaft, Verwaltung und Politik nutzbar zu machen. Ihr wichtigstes Anliegen ist, Praktiker und Wissenschaftler zu gemeinsamer Arbeit zusammenzuführen“ (Quelle: http://www.list-gesellschaft.de). Malthusianismus Bevölkerungslehre von → R.  Malthus wonach die Bevölkerungszahl in geometrischer Folge, die Nahrungsmittelproduktion jedoch in arithmetischer Folge zunimmt. Die Folge seien Hungersnöte, Armut und Elend. Malthus forderte daher eine Geburtenkontrolle. Seine düstere Vorhersage ist nicht eingetreten, da durch technischen Fortschritt und steigende Produktivität die Nahrungsmittelproduktion gesteigert werden konnte. Manchester-Schule Internationale Freihandelsbewegung, die sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts um die Handelskammer in Manchester bildete. Ihre geistigen Führer waren Richard Cobden (1804–1865) und John Bright (1811–1889). Die M.-S. machte sich für den Freihandel stark und kämpfte insbesondere für die Abschaffung der Getreidezölle. Nachdem 1846 die Getreidezölle abgeschafft wurden, erlangte sie international Berühmtheit. 1860 setzte sich in England der Freihandel durch. Heute werden die Begriffe „Manchesterkapitalismus“

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und „Manchestertum“ abwertend gebraucht, um unerwünschte und extreme Auswüchse des Kapitalismus (z. B. Ausbeutung, Massenarmut, Massenarbeitslosigkeit, Umweltverschmutzung) zu bezeichnen. Marginalanalyse Eine Methode, mit der die Reaktion einer wirtschaftlichen Größe untersucht wird, die sich durch eine minimale Änderung einer anderen Größe, der Grenzgröße, ergibt. Als mathematisches Hilfsmittel wird die Differenzialrechnung verwendet. Beispielsweise ist der Grenzerlös der Erlöszuwachs, der erzielt wird durch den Verkauf einer weiteren Mengen­ einheit. Als Begründer der M. gilt → J. H. Thünen. Die Marginalanalyse wurde auch zur Basis von → C. Mengers subjektiver Werttheorie. Marketing Unter M. versteht man eine marktorientierte Unternehmensführung. Der Begriff M. hat eine dreifache Bedeutung: a) Absatzpolitik als ein betrieblicher Funktionsbereich, b) Management von Austauschprozessen und -beziehungen, c) Unternehmensphilosophie. Das moderne M. entstand in den 1950er-Jahren in den USA und setzte sich in den 1970er-Jahren auch in Deutschland durch, wo es die Absatzwirtschaft bzw. Absatzlehre verdrängte, die im Gegensatz zum kundenorientierten Marketing eher vertriebsorientiert war. Herausragender Mitbegründer und wichtigster Vertreter des M. ist der US-Ökonom → Philip Kotler. Ein wichtiger deutscher Vertreter des M. ist der Heribert Meffert, der seit 1969 den ersten Lehrstuhl für Marketing innehatte. Marktformen Kennzeichnung der Struktur von Angebot und Nachfrage anhand verschiedener Kriterien. In quantitativer Hinsicht unterscheidet man nach der Anzahl der Marktteilnehmer auf der Angebots- und der Nachfrageseite (einer, wenige, viele), in qualitativer Hinsicht unterscheidet man vollkommene und unvollkommene Märkte. Ein vollkommener Markt liegt dann vor, wenn die Güter homogen sind, es einen einheitlicher Preis gibt und die Marktteilnehmer über vollständige Markttransparenz verfügen. Schon im 17. Jahrhundert entwickelte der Kameralist → J.  J. Becher eine einfache Marktformenlehre und unterschied zwischen „Monopolien“, „Polypolien“ und „Propolien“. → H. von Stackelberg und → W. Eucken entwickelten Typologien mit 9 bzw. 25 verschiedenen M. Marktversagen liegt vor, wenn der Markt keine optimale Allokation herbeiführen kann, weil keine vollständige Konkurrenz vorliegt und somit der Preismechanismus teilweise außer Kraft gesetzt ist. Die Ursachen können z. B. auf die Marktmacht (Monopole) zurückgeführt werden oder auf positive bzw. negative externe Effekte. Ein totales M. liegt vor, wenn der Markt ein Gut grundsätzlich nicht bereitstellt. Dies ist z. B. der Fall bei öffentlichen Gü-

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tern (Verteidigung, Straßenbeleuchtung). Mit den Ursachen von M. beschäftigten sich z. B. G. → Myrdal, → G. Akerlof und → J. Stiglitz. Marxismus (1844–1895) Zusammenfassende Bezeichnung für die Lehre von → K. Marx und → F. Engels. Wichtige Weiterentwickler waren → R.  Hilferding und → W.  I. Lenin. Außerdem trugen → K. Kautsky und → R. Luxemburg wesentlich zur Verbreitung und Popularisierung der Marx­ schen Lehre im deutschen Sprachraum bei. Mathematik in der Wirtschaftswissenschaft Als „Vater der mathematischen Volkswirtschaftslehre“ wird → A. A. Cournot angesehen. Mit seinem Werk, die Recherches sur les principes mathématiques de la théorie des richesses (Untersuchungen über die mathematischen Grundlagen der Theorie des Reichtums) leistete Cournot einen Beitrag zur Erklärung des Marktmechanismus unter Zuhilfenahme der mathematischen Analyse. Eine verstärkte Mathematisierung der Volkswirtschaftslehre erfolgte insbesondere durch die Lausanner Schule (sie wird auch mathematische Schule genannt). Ökonomen, die die mathematische Methode in der VWL forcierten, sind z. B. → L. Walras, → J. H. von Thünen und → P. A. Samuelson. In der BWL kam es zwischen → E. Gutenberg und → K. Mellerowicz zu einem Methodenstreit um die Frage, ob die Verwendung von mathematischen Modellen in der betriebswirtschaftlichen Theorie sinnvoll ist. Mellerowicz vertrat die traditionelle unmathematische Methode, Gutenberg setzte sich für mathematische Verfahren ein. → G. Akerlof fordert mehr Mathematik in der VWL, um so in Modellen komplexere Menschenbilder konstruieren und analysieren zu können. Merkantilismus Wirtschaftstheorie und Wirtschaftspolitik in der Phase des Frühkapitalismus, die etwa vom Beginn des 17. Jahrhunderts bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts reicht und das Ziel verfolgt, Handelsbilanzüberschüsse zu erzielen, d. h. die Staatskassen zu füllen. Ein wichtiger englischer Vertreter war → T. Mun. Herausragende Bedeutung für den Kameralismus (die deutsche Spielart des Merkantilismus) hatte → J. J. Becher. Der Begriff „M.“ wurde von → A. Smith geprägt, der das Merkantilsystem ablehnte. Methodenstreit Wissenschaftliche Auseinandersetzung um die „richtige“ bzw. angemessene Forschungsmethode in der Wirtschaftswissenschaft. (1) VWL: In der VWL entbrannte der 1. Methodenstreit zwischen → G. Schmoller (Historische Schule) und → C. Menger (Grenznutzenschule). Dabei ging es um die Berechtigung und Bedeutung der theoretischen Forschungsmethode, insbesondere um deduktive und induktive Verfahren. Beim 2. Methodenstreit (zwischen M. Weber und → W. Sombart auf der einen Seite und → G. Schmoller, A. Wagner und E. von Philippovich auf der anderen Seite) ging es um die Zulässigkeit von normativen Aussagen

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(Werturteilen). Weber und Sombart vertraten die Auffassung, dass Werturteile mit objektiver Wissenschaft nicht vereinbar seien. ( 2) BWL: Der 1. Methodenstreit wurde 1912 von M. Weyermann und H. Schönitz ausgelöst. Sie betrachteten die BWL als einen Bereich der VWL. → E. Schmalenbach vertrat hingegen die Ansicht, dass die BWL eine technologisch orientierte Kunstlehre sei, in deren Mittelpunkt der Wirtschaftlichkeitsaspekt stehe. Der 2. Methodenstreit entzündete sich an der Wirtschaftlichkeitslehre von Eugen Schmalenbach. → Wilhelm Rieger löste diesen Streit aus, als er Schmalenbachs Auffassung seine Privatwirtschaftslehre gegenüberstellte, die sich am Rentabilitätsaspekt orientiert. Beim 3. Methodenstreit zwischen → E. Gutenberg und → K. Mellerowicz ging es insbesondere um die Frage, ob die Verwendung von mathematischen Modellen in der betriebswirtschaftlichen Theorie sinnvoll ist. Mellerowicz vertrat die traditionelle unmathematische Methode, Gutenberg setzte sich für mathematische Verfahren ein.

Monetarismus Gegenströmung zum Keynesianismus (seit Ende der 1960er-Jahre), die die Geldmenge als entscheidende Determinante wirtschaftlicher Schwankungen betont. Begründer und Hauptvertreter dieser Lehre ist → M. Friedman. Mont Pelerin Gesellschaft Von → Friedrich A. von Hayek ins Leben gerufene „neoliberale Denkfabrik“, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, über die Zukunft des Liberalismus zu beraten und neoliberale Positionen durch Beeinflussung der öffentlichen Meinung zu stärken. Anfang April 1947 folgten 36 gleichgesinnte liberale Gelehrte und Ökonomen einer Einladung Hayeks und fanden sich am Mont Pelerin in der Schweiz ein. Zu den Teilnehmern dieses ersten Treffens gehörten u. a. → W. Eucken, → M. Friedman, → L. von Mises und W. Röpke. Nationalökonomie Veraltete Bezeichnung für das Fach Volkswirtschaftslehre, die so nur im deutschsprachigen Raum existierte. Der Begriff wurde populär durch → F.  Lists Werk Das nationale System der politischen Ökonomie. Neoklassik Wirtschaftswissenschaftliche Denkrichtung von ca. 1870 bis 1930, in deren Mittelpunkt das subjektive Verhalten der Wirtschaftssubjekte, die Theorie vom Grenznutzen („Marginalismus“) und das Konzept von Angebot und Nachfrage steht. Die N. wurde zur herrschenden Lehre in der Mikroökonomie. Siehe auch → Klassik. Neoliberalismus Wirtschaftspolitische Lehre, die eng verwandt ist mit dem Ordoliberalismus. Im Gegensatz zum klassischen Liberalismus, der auf dem wirtschaftlichen „laissez faire“ basiert, ist

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beim N. der Leistungswettbewerb auch vom Staat durch die Wirtschaftsordnung festgelegt. Staatliche Regelungen (z.  B. das Kartellgesetz) schaffen und garantieren das freie Spiel der Marktkräfte. Neue Außenhandelstheorie Erweiterung der „klassischen Außenhandelstheorie“, die insbesondere auf die Arbeiten von → P. Krugman zurückgeht. Neue Klassische Makroökonomie Im Zentrum dieses Lehrgebäudes steht die Theorie der rationalen Erwartungen von → R. E. Lucas, wonach wirtschaftspolitische Maßnahmen des Staates wirkungslos sind, da die Marktakteure diese in ihre Entscheidungen mit einbeziehen. Neue Ökonomische Geographie Von → P. Krugman entwickeltes Modell, das die Bedeutung der Standortwahl erklärt. Neue Ökonomische Politik (NÖP) (russ.: Nowaja ekonomitscheskaja politika, abgekürzt: NEP). Von → W. I. Lenin im Jahre 1921 eingeleitete Reform der Wirtschaftspolitik, in der marktwirtschaftliche Elemente Vorrang gewannen und die den „Kriegskommunismus“ ablöste. New Deal In den USA in den 1930er-Jahren unter Präsident Franklin D. Roosevelt eingeleitete wirtschafts- und sozialpolitische Maßnahmen, mit dem Ziel die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise zu beseitigen. Dieser sozialpolitische Plan umfasste großzügige Staatsausgaben, z. B. für Bau- und Sanierungsmaßnahmen, Verbesserung der Sozialversicherung und Wohlfahrtspflege sowie für die Reorganisation des Bank- und Börsensystems. Nobelpreis (für Wirtschaftswissenschaften) Von der schwedischen Reichsbank in Erinnerung an Alfred Nobel gestifteter Preis für Wirtschaftswissenschaften, der erstmals 1969 an R. Frisch und J. Tinbergen verliehen wurde. Normativistische Theorie/normative Richtung der BWL Eine ethisch-wertende Denkrichtung, die auf Werturteilen basiert. Sie beschreibt also nicht (nur) objektiv, wie etwas ist, sondern insbesondere wie etwas sein soll. Die normative Richtung der Betriebswirtschaftslehre wurde mit den Werken von → J.  F. Schär (1911), → H.  Nicklisch (1912) und R.  Dietrichs (1914) begründet. Nach dem Zweiten Weltkrieg war →Wilhelm Kalveram der Hauptvertreter einer von der katholischen Soziallehre geprägten Betriebswirtschaftslehre.Siehe auch → Werturteilsstreit.

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Ökologische Ökonomie vereint Erkenntnisse der Ökonomie mit der Ökologie und den Naturwissenschaften, insbesondere der Physik und Biologie. Im Zentrum steht die Problematik, die sich daraus ergibt, dass das Wirtschaften und die Natur (mit ihren begrenzten Ressourcen) untrennbar miteinander verbunden sind. Als Begründer dieser Lehre gilt → Georgescu-Roegen. Ordoliberalismus Deutsche Variante des Neoliberalismus. Wirtschaftsordnung, die auf dem Prinzip der marktwirtschaftlichen Ordnung basiert. Die theoretische Grundlage geht auf die Freiburger Schule um → W. Eucken zurück. Österreichische Schule (auch: österreichische Grenznutzenschule, Wiener Schule). Spezifische Richtung der Neoklassik, die zwar auch auf einer subjektiven Werttheorie basiert, jedoch die mathematische Analyse und das Gleichgewichtsdenken der anderen neoklassischen Vertreter (→ L. Walras, W. S. Jevons) ablehnt. Mit ihrer subjektiven Wertlehre und ihren methodologischen Ansichten grenzte sich die ÖS von der Klassik, dem Marxismus sowie der Historischen Schule ab. Begründer der ÖS ist → C. Menger mit seinem Werk Grundsätze der Volkswirthschaftslehre (1871). Zur ersten Generation gehören: → E. von Böhm-Bawerk, F. Wieser, R.  Zuckerkandl, E.  Sax, R.  Meyer, J.  Komorzynski, R.  Auspitz und R.  Lieben; zur zweiten Generation gehören: → J. Schumpeter, → L. von Mises und → F. A. von Hayek. In den 1880er-Jahren kam es zum Methodenstreit zwischen C. Menger und → G. Schmoller, dem führenden Vertreter der → Historischen Schule. Ostindische Kompanie → East India Company Physiokratismus/Physiokratie Wirtschaftstheoretisches System in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, das auf einer „natürlichen Ordnung“ basiert und in dem die „Herrschaft der Natur“ im Mittelpunkt steht. Dementsprechend wird in dieser von → F. Quesnay begründeten Schule der Landwirtschaft ein hoher Stellenwert eingeräumt. Nach Ansicht der Physiokraten werden nur durch menschliche Arbeitskraft Werte geschaffen. Planwirtschaft (auch Zentralverwaltungswirtschaft). Ein Ordnungssystem der Wirtschaft, in dem ökonomische Entscheidungen zentral getroffen und die Abläufe auch zentral gesteuert und kontrolliert werden. Die Produktion und Verteilung der Güter wird also nicht – wie dies in der Marktwirtschaft geschieht – über den Preismechanismus durch Angebot und Nachfrage gesteuert, sondern von einer zentralen Stelle (z. B. einer Behörde) geplant. In der Marktwirtschaft hingegen treffen die Individuen ihre Entscheidungen aufgrund ihrer eigenen Wirtschaftspläne. Vehemente Kritiker der P. waren und sind alle Vertreter der Neoklassik,

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der Österreichischen Schule und andere Neoliberale, wie z.  B. → L. von Mises, → F. A. Hayek, → M. Friedman. Privatwirtschaftslehre Eine auf → W. Rieger zurückgehende (alternative) Bezeichnung des Faches Betriebswirtschaftslehre, die sich für einen kurzen Zeitraum eingebürgert hatte. 1928 erschien sein Werk Einführung in die Privatwirtschaftslehre. Als Name des Fachs setzte sich jedoch der von → E. Schmalenbach eingeführte Begriff „Betriebswirtschaftslehre“ durch. Protektionismus Wirtschaftspolitische Maßnahmen eines Staates, die dem Schutz der inländischen Wirtschaft bzw. bestimmter Wirtschaftszweige dienen. Solche Schutzmaßnahmen können z. B. Importbeschränkungen, Importverbote oder (Schutz-)Zölle sein. Ein Verfechter des P. war der deutsche Ökonom → F. List, der sich mit den wirtschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten verschiedener Länder beschäftigte. Um die Volkswirtschaft einer Nation in ihrer Entwicklung zu unterstützen, befürwortete er Schutzzölle. Auch → G. Myrdal ging davon aus, dass durch Freihandel zwischen unterentwickelten Regionen und ökonomisch fortgeschrittenen Regionen Ungleichheit und Armut verstärkt werde. Siehe auch → Freihandel. Quantitätstheorie Der Q. liegt folgende Formel zugrunde: Geldmenge · Umlaufgeschwindigkeit des Geldes = Preisniveau · Handelsvolumen: Oder in abgekürzter Form:

M· V = P· Y

Die Monetaristen gehen davon aus, dass ein kausaler Zusammenhang zwischen Inflation und Geldmenge besteht. Aus der Gleichung kann man erkennen, dass bei einer Erhöhung der Geldmenge (M) durch die Notenbank bei konstanter Umlaufgeschwindigkeit (V) und konstantem Handelsvolumen (Y), das in etwa dem BIP entspricht, die Preise (P) steigen müssen. → M. Friedman empfahl daher eine stetige Ausweitung der Geldmenge um ca. 3–5 Prozent. Rationale Erwartungen „Rational“ sind Erwartungen dann, wenn sie nicht systematisch falsch (oder verzerrt oder voreingenommen) sind und die Wirtschaftssubjekte (z. B. Käufer, Verkäufer, Investoren, Arbeitnehmer usw.) sämtliche ihnen zur Verfügung stehenden Informationen nutzen. Nach der Theorie der rationalen Erwartungen adaptieren die Wirtschaftssubjekte die Theorien und Ergebnissen der Wirtschaftswissenschaft und richten ihr zukünftiges Verhalten danach aus. Die „Theorie der rationalen Erwartungen“ stammt ursprünglich von John F. Muth, der sie in seinem 1961 erschienenen Aufsatz Rational Expectations and the The-

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ory of Price Movements vorstellte. Später wurde sie von → R. E. Lucas weiterentwickelt und auf makroökonomische Modelle angewendet. Schwedische Schule → Stockholmer Schule Soziale Marktwirtschaft Deutsche Variante des Wohlfahrtsstaates, die wesentlich von → A. Müller-Armack entwickelt wurde. Die ordnungspolitische Konzeption der S. M. basiert auf dem Ordoliberalismus. Noch während der Nazi-Herrschaft stellten Ökonomen der Freiburger Schule Überlegungen an, wie die Wirtschaft nach Kriegsende gestaltet werden sollte. Die S. M. verbindet Elemente der Marktwirtschaft mit sozialen Aspekten und stellt so einen „dritten Weg“ zwischen Kapitalismus und Sozialismus dar. Sozialismus Ökonomische Lehre, in deren Mittelpunkt das Prinzip der Gemeinsamkeit steht. Die Interessen und Bedürfnisse einer Gruppe bzw. eines Kollektivs überwiegen jene des Individuums. Der Marxismus stellt z. B. die Ziele der Arbeiterklasse in den Vordergrund und verfolgt eine „Diktatur des Proletariats“. Der Sozialismus wird als eine Vorstufe zum Kommunismus betrachtet. Den utopischen Ansichten der Frühsozialisten setzten → K.  Marx und → F.  Engels den wissenschaftlichen Sozialismus entgegen. Nach → K. ­Polanyi ist S. „dem Wesen nach die einer industriellen Zivilisation innewohnende Tendenz, über den selbstregulierenden Markt hinauszugehen, indem man ihn bewußt einer demokratischen Gesellschaft unterordnet“ (The Great Transformation, 11. Aufl. Suhrkamp 2014, S. 311). Spieltheorie Die S. ist ein mathematisches Konzept und Analyseinstrument zur Beschreibung von strategischen Spielen, bei denen die Spieler den Spielverlauf durch ihre Strategie ganz (z.  B. beim Schach) oder teilweise (z.  B. beim Skat) bestimmen können. In der Wirtschaftswissenschaft wird sie angewendet, wenn es darum geht, Entscheidungen unter Ungewissheit zu treffen oder Konfliktsituationen zu analysieren. Beispiele hierfür sind: das Wettbewerbsverhalten von Unternehmen, das Bietverhalten in Auktionen, Konzernübernahmen, die Auswahl von Unternehmensstandorten, Konflikte zwischen Tarifparteien. Im Prinzip geht es immer um strategisches Denken und Verhalten mit dem Ziel, den eigenen Nutzen zu maximieren. → P. A. Samuelson brachte es mit folgenden Worten auf den Punkt: „Sobald Sie in Ihre Entscheidungen mit einbeziehen, was Ihr Gegner denkt und wie Sie sich im Gegenzug dazu verhalten werden, befinden Sie sich schon mitten in der Welt der Spieltheorie“. Die S. wurde entwickelt von dem Mathematiker J. v. Neumann und dem Ökonomen O. Morgenstern, die im Jahre 1944 ihr gemeinsames Werk The Theory of Games and Economic Behavior veröffentlichten. J. C. Harsanyi, J. F. Nash und → R. Selten entwickelten

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die S. weiter und wandten sie auf ökonomische Fragestellungen an. Hierfür wurden sie im Jahr 1994 mit dem Wirtschaftsnobelpreis ausgezeichnet. Staatsquote Ausgaben des Staates; siehe auch → Staatstätigkeit. Staatssozialismus Von → Adolph Wagner geprägter Begriff für Sozialstaat bzw. → Wohlfahrtsstaat. Siehe auch → Staatstätigkeit, → Gesetz von der zunehmenden Staatstätigkeit. Staatstätigkeit Ökonomische Aktivität des Staates, der die Frage zugrunde liegt, in welchem Umfang welche Güter und Dienstleistungen nicht über den Markt anzubieten sind. Auf der Einnahmenseite wird die S. bestimmt durch die Steuerquote, auf der Ausgabenseite durch die Staatsquote. Der deutsche Ökonom → Adolph Wagner stellte das Gesetz von der zunehmenden Staatstätigkeit auf. Stamokap Abkürzung für „Staatsmonopolkapitalismus“. Auf → R. Hilferding zurückgehende Theorie, die später von → W. I. Lenin aufgegriffen und weiterentwickelt wurde. Als Stamokap wird die letzte, absterbende Phase des Kapitalismus bezeichnet. Stockholmer Schule (auch Schwedische Schule). Gruppe von in Stockholm lehrenden Ökonomen, die an die geldtheoretischen Überlegungen von K. Wicksell anknüpfen. Als Gründer der S. S. gelten vor allem E. Lindahl, → G. Myrdal und B. Ohlin. Letzterer gab auch dieser Schule ihren Namen. Die S. S. besitzt kein festes und einheitliches Lehrgebäude. Gemeinsam ist ihren Vertretern der Versuch, die Theorie des allgemeinen Gleichgewichts mit geldtheoretischen Überlegungen zu verbinden. Dies führte zur Entwicklung einer makroökonomischen Theorie der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage. Daher wird von der S. S. auch der Anspruch erhoben, bereits einige Jahre vor → J.  M. Keynes wesentliche Elemente seiner Theorie vorweggenommen zu haben. Stufentheorie Insbesondere von den Vertretern der Historischen Schule (z. B. → F. List, → G. Schmoller, → K. Bücher) angewendete Methode zur Gliederung und Beschreibung der Phasen wirtschaftlicher Entwicklung.

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Systemorientierte Betriebswirtschaftslehre Von → H. Ulrich initiierter Ansatz in der BWL, der die Systemtheorie bzw. die Kybernetik (gr. „Steuermannskunst“) auf die Unternehmung anwendet, da diese sowohl ein „produktives“ als auch ein „soziales“ System darstellt und es mithin der Lenkung und Steuerung bedarf. Der systemorientierte Ansatz führte zu einer Öffnung des Fachs und schuf die Basis für die Managementlehre. Taylorismus Lehre, die auf → F. W. Taylor zurückgeht und die optimale Gestaltung industrieller Arbeitsprozesse mittels wissenschaftlicher Studien (z. B. Zeitstudien) zum Ziel hat. Im Mittelpunkt steht die produktive Verwertung der menschlichen Arbeitskraft. Technostruktur Von → J.  K. Galbraith geprägter Begriff für Management bzw. eine unternehmerische Organisationsstruktur. Der organisatorische Ausdruck „Technostruktur“ betont, dass die Entscheidungsgewalt nicht mehr bei dem einzelnen Unternehmer liegt, sondern auf Gruppen von Spezialisten (Techniker, Organisatoren usw.) übergegangen ist, deren Entscheidungen wiederum nur von anderen Spezialistengruppen umgestoßen werden können. Schon → W. Sombart stellte fest, dass die Phase des Spätkapitalismus u. a. gekennzeichnet ist durch eine „Entseelung und Vergeistigung“ der Betriebe. Dies kommt dem Phänomen der späteren T. von Galbraith sehr nahe.

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Theorie der rationalen Erwartungen → Rationale Erwartungen Unternehmer Eine Person, die ein Unternehmen gründet, dieses eigenverantwortlich führt und auch das unternehmerische Risiko trägt. Mit der Bedeutung des Unternehmers haben sich insbesondere → J.  B. Say, → A.  Marshall und → J.  Schumpeter auseinandergesetzt. Nach → J. K. Galbraith wurde der traditionelle Unternehmertyp verdrängt durch eine →Technostruktur. Verband der Hochschullehrer für Betriebswirtschaft (VHB) Der VHB ist ein eingetragener Verein, der am 26.11.1921 in Frankfurt a. M. als Verband der Dozenten für Betriebswirtschaftslehre an deutschen Hochschulen gegründet wurde mit dem „Zweck, die Betriebswirtschaftslehre in Forschung und Lehre zu fördern, auf eine angemessene Vertretung der Betriebswirtschaftslehre an den in Frage kommenden Hochschulen hinzuwirken und die Standesinteressen seiner Mitglieder zu vertreten“ (HWB, Bd. 5, 1928, Sp. 552). Zu den Gründungsmitgliedern gehörten → Heinrich Nicklisch, Abraham Adler und → Fritz Schmidt; bald darauf traten Ernst Pape, → Josef Hellauer und → Eugen Schmalenbach dem VHB bei. Traditionell findet die jährliche Hauptversammlung in der Regel zu Pfingsten statt. Offizielle Internetseite des VHB: https://vhbonline.org Verein für Socialpolitik 1873 von → G. von Schmoller, → A. Wagner und anderen Vertretern der → Historischen Schule gegründeter Zusammenschluss von Nationalökonomen. Der Verein widmete sich insbesondere der „sozialen Frage“ und war bestrebt, mittels Reformen Verbesserungen auf dem Gebiete der Sozialpolitik zu erreichen. Nach den Worten Schmollers wollte der Verein „auf der Grundlage der bestehenden Ordnung die unteren Klassen soweit heben, bilden und versöhnen, dass sie in Harmonie und Frieden sich in den Organismus einfügen“. Von liberalen Ökonomen wurden die Mitglieder des Vereins daher spöttisch als „Kathe­ dersozialisten“ bezeichnet. Der Verein, der auch heute noch existiert, ist eine der bedeutendsten Vereinigungen von Wirtschaftswissenschaftlern im deutschsprachigen Raum. Verkehrslehre Heute kaum noch verwendete Bezeichnung für das von → Josef Hellauer begründete Teilgebiet der Betriebswirtschaftslehre, das sich mit den Beziehungen (dem Verkehr) zwischen den einzelnen Wirtschaftsgliedern befasst (Waren, Geld, Informationen).

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Vulgärökonomie Begriff, der auf → K. Marx zurückgeht und im marxistischen Sprachgebrauch verwendet wird für ein niedriges wissenschaftliches Niveau, insbesondere für die bürgerliche Ökonomie. Welthandelsorganisation (World Trade Organization, WTO). Die WTO ist eine autonome Sonderorganisation der Vereinten Nationen mit Sitz in Genf. Als Nachfolgerin des Allgemeinen Zoll- und Handels­ abkommens (GATT) wurde sie gegründet am 15.04.1994 auf der Ministerkonferenz in Marrakesch (Marokko) und trat in Kraft am 01.01.1995. Neben dem IWF und der Weltbank bildet die WTO, der 162 Mitgliedsstaaten angehören (2015), die dritte Säule der Weltwirtschaftsordnung. Die Aufgabe der WTO ist die Sicherstellung und Stärkung eines funktionsfähigen Wettbewerbs, d. h. sie soll die internationalen Handelsbeziehungen organisieren und überwachen sowie im Falle von Handelskonflikten als Schiedsrichter fungieren. Um einen freien Welthandel zu gewährleisten, sollen Handelshemmnisse (z. B. Zölle, Subventionen, Dumping, Diskriminierung) abgebaut und so die Liberalisierung des Handels vorangetrieben werden. Weltwirtschaftskrise Die große W. nahm ihren Anfang mit dem Börsenkrach in New York am 25.10.1929. Sie führte zu einer weltweiten Rezession, die 1932 ihren Tiefpunkt erreichte. Ein liberaler Erklärungsansatz sieht folgende Ursachen für die Krise: • Überkapazitäten in der amerikanischen Wirtschaft und kreditfinanzierte Spekulationen an den Aktienmärkten; die Märkte reagierten sehr sensibel schon auf geringste Kursrückgänge und lösten einen Kurssturz aus. • Absatzschwierigkeiten und ein starker Preisverfall in der Landwirtschaft führten zu einer Agrarkrise. • Behinderung des Welthandels durch protektionistische Zollpolitik. • Starke Ausweitung des internationalen Geldverkehrs, der verursacht war durch Zahlungsverpflichtungen der europäischen Staaten als Folge des 1. Weltkrieges (vgl. Brockhaus Wirtschaft, S. 660 f). Neben diesem liberalen Ansatz, der die Weltwirtschaftskrise als Zusammentreffen eines normalen Industriezyklus mit exogenen Ereignissen (Folgen des Weltkrieges, Staatseingriffe in die Wirtschaft u. a.) erklärt und die besondere Schärfe in einer Serie von historisch zufälligen Ereignissen sieht, projiziert der marxistische Erklärungsansatz die Krise auf den Hintergrund einer kapitalistischen Wirtschaft, die ihre Niedergangsperiode durchläuft, und der fehlende Expansionsmöglichkeiten und eine zunehmende Monopolisierung ihre Flexibilität genommen hätten (vgl. Wirtschafts-Ploetz, S. 239). Die Weltwirtschaftskrise führte zu einem starken Rückgang der Produktion in den Industrieländern, die Preise und Volkseinkommen schrumpften und es kam zu einer extrem

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hohen Arbeitslosigkeit. Lag die Zahl der Arbeitslosen in Deutschland vor der Krise bei etwa 1,2 Millionen, betrug sie im Januar 1933 rund 6 Millionen. Diese ökonomische Katastrophe ebnete den Weg für Hitlers Machtergreifung. Die Weltwirtschaftskrise mit ihrer extrem hohen Arbeitslosigkeit veranlasste → J. M. Keynes zur Niederschrift seiner General Theory. Werturteilsstreit Dem W., der aus den methodologischen Untersuchungen M. Webers hervorgegangen ist, liegt die Frage zugrunde, ob wirtschaftliche (und gesellschaftliche) Tatbestände einer Wertung (z. B. unter ethischen, moralischen oder religiösen Gesichtspunkten) unterzogen werden dürfen. Es geht im Kern also um die Frage, ob die Wirtschaftswissenschaft Werturteile enthalten darf oder nicht. Weber und → W.  Sombart vertraten die Auffassung, dass die Wirtschaftswissenschaft eine empirische Wissenschaft sei, in der Werturteile keinen Platz hätten. Nach A. Wagner und → G. Schmoller müsse die Wirtschaftswissenschaft Werturteile enthalten bzw. diese bei der Theoriebildung berücksichtigen. (Siehe auch → Normativistische Theorie) Wiener Schule auch → Österreichische Schule oder österreichische Grenznutzenschule Wirtschaftskreislauf Darstellung der Güter- und Geldströme zwischen den Wirtschaftssektoren (private Haushalte, Unternehmen, Banken, Staat und Ausland) in einer Volkswirtschaft in Form eines Kreislaufs. Ein Kreislaufmodell wurde erstmals von → F. Quesnay entwickelt. Wirtschaftsstufen → Stufentheorie Wissenschaftlicher Sozialismus → K. Marx führte diesen Begriff ein, um seine Theorien von jenen der utopischen Sozialisten (z. B. R. Owen, Ch. Fourier) abzugrenzen und um deutlich zu machen, dass er den Sozialismus wissenschaftlich begründet. Marx sagt die Selbstzerstörung der kapitalistischen Gesellschaft voraus, woraus der Sozialismus (als Vorstufe zum Kommunismus) hervorgehen werde. Wohlfahrtsstart Der W. ist eine institutionalisierte Form der sozialen Sicherung. Er sieht es als seine zen­trale Aufgabe an, durch bestimmte Maßnahmen die Existenz und Entfaltung der Menschen zu sichern und sie vor elementaren Risiken zu sichern (z. B. Unfälle, Arbeitslosigkeit, Armut, Pflege). Die Sorge für das Dasein und das Existenzrisiko werden somit zu einem nicht unerheblichen Teil von der Gemeinschaft getragen. Kritiker sehen die Gefahr darin, dass der Staatsinterventionismus zunimmt, das Individuum mit

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seinen Gestaltungsplänen zurückgedrängt wird, der Staat seine Macht immer weiter ausweitet und die Kosten für die öffentlichen Leistungen die wirtschaftliche Stabilität bedrohen. Der Begriff „W.“ stammt aus dem angelsächsischen Sprachgebrauch. In Deutschland spricht man (verfassungsrechtlich) vom Sozialstaat oder (wirtschaftspolitisch) von der Sozialen Marktwirtschaft, deren geistiger Vater → A. Müller-Armack ist. Das schwedische Modell des Wohlfahrtsstaates, das sog. „folkhem“ (schwed. Volksheim), wurde geprägt von → G. Myrdal und Per Albin Hansson. WTO W orld T rade O rganization (→Welthandelsorganisation) Wucher Juristisch liegt W. vor, wenn die Leistung in einem auffälligen Missverhältnis zur Gegenleistung steht und zudem die Situation des Geschäftspartners (z. B. Zwangslage, Unerfahrenheit) ausgenutzt wird. Wuchergeschäfte gelten als sittenwidrig, da sie gegen ethische Grundlagen verstoßen. Bereits → Martin Luther übte in seinen Schriften heftige Kritik an Wuchergeschäften und entwickelte in dem Zusammenhang seine Vorstellungen vom → „gerechten Preis“. Zehnt Vermögensabgabe an die Kirche, die etwa seit dem 6. Jh. vor allem den Bauern abgefordert wurde. Der Z. wurde in verschiedenen Formen erhoben, wie z.  B. von Feld- und Gartenfrüchten, vom Getreide und vom Vieh. Im 19. Jh. wurde der Z. (vor allem durch die Revolution 1848) aufgehoben bzw. abgelöst. Beispielsweise setzte sich → K. H. Rau für die Aufhebung des Z. ein. Zollverein Handelspolitischer Zusammenschluss der deutschen Staaten im 19. Jh. mit dem Ziel, Handelshemmnisse (z.  B.  Zölle) abzubauen und so einen einheitlichen (deutschen) Wirtschaftsraum zu schaffen. Ein wichtiger Vorkämpfer und Wegbereiter war → F. List. Beispielsweise setzte sich auch → K. H. Rau 1835 für den Beitritt Badens zum Deutschen Zollverein ein.

Kommentierte Literaturhinweise

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Handwörterbücher Handwörterbuch der Betriebswirtschaft (HWB), 5 Bde., hrsg. v. H. Nicklisch, 1. Aufl., Stuttgart: C. E. Poeschel, 1926–1928; 3. Aufl., Stuttgart: C. E. Poeschel 1956–1962. Das HWB ist das erste Handwörterbuch, mit dem der Versuch unternommen wurde, das Wissen der Betriebswirtschaftslehre zu systematisieren. Das von Heinrich Nicklisch begründete und herausgegebene Nachschlagewerk enthält auch Artikel zu bedeutenden Betriebswirtschaftlern sowie einen von R. Seyffert verfassten Artikel zur Geschichte der BWL. Handwörterbuch der Sozialwissenschaften (HdSW), 12 Bde. u. Registerband, hrsg. v. E. v. Beckerath u. a., Stuttgart/Tübingen/Göttingen: G. Fischer/J. C. B. Mohr/Vandenhoeck & Ruprecht, 1956–1968. Das HDSW liefert eine Vielzahl biografischer Aufsätze sowie fundierte Artikel zur Dogmen- und Wirtschaftsgeschichte. Historisch sehr interessant, da man hier auch Artikel findet, die von bedeutenden Ökonomen selbst verfasst wurden (der biografische Artikel über Karl Marx wurde bspw. von Friedrich Engels verfasst, der Aufsatz zur „Sozialen Marktwirtschaft“ stammt von Alfred Müller-Armack). Viele Artikel sind immer noch lesenswert. Handwörterbuch der Staatswissenschaften (HdStW), 7  Bde., hrsg. v. J.  Conrad, W. Lexis u. a., 2. Aufl., Jena: Fischer 1898–1901. Wichtige Primärquelle der Wirtschaftsgeschichte, enthält zahlreiche Beiträge von bedeutenden Ökonomen, wie z.  B.  Gustav Schmoller, Max Weber, Carl Menger, Friedrich Engels und Werner Sombart.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Wächter, Ökonomen auf einen Blick, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29069-6_83

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83  Kommentierte Literaturhinweise

Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaft (HdWW), 9  Bde. u. Registerband, hrsg. v. W. Albers u. a., Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1977–1983 Umfangreiche Enzyklopädie der Wirtschaftswissenschaften, unverzichtbares Nachschlagewerk. Handwörterbuch des Kaufmanns. Lexikon für Handel und Industrie, 5 Bde., hrsg. v. K. Bott, Hamburg: Hanseatische Verlagsanstalt 1925–1927. Praxisorientiertes und reich bebildertes Lexikon; enthält z.  B.  Beiträge von Konrad Mellerowicz, Fritz Schmidt, Rudolf Seyffert, Wilhelm Kalveram.

Lexika Brockhaus Lexikon der Weltgeschichte, 2  Bde., Leipzig/Mannheim: F.  A. Brockhaus 2003 Das Lexikon enthält rund 4000 Stichwörter zu Personen und Sachbegriffen. Corsten, Hans/Gössinger, Ralf: Lexikon der Betriebswirtschaftslehre, 5. Aufl., München: Oldenbourg, 2008. Sachwörterbuch zur BWL mit (umfangreichen) 207 Hauptstichwörtern und über 800 Kurzstichwörtern, verfasst von 137 Autoren. Dichtl, Erwin/Issing, Otmar: Vahlens Großes Wirtschaftslexikon, 2. Aufl., München: Vahlen, 1993. Zweibändiges Sachwörterbuch mit über 11000 Stichwörtern, verfasst von 300 Autoren. Deutsche Biographische Enzyklopädie (DBE), 12  Bde., hrsg. von W.  Killy und R. Vierhaus, 2. Aufl., München: Saur 2005–2008. Gabler Wirtschaftslexikon, 19. Aufl., Wiesbaden: Gabler 2018. Das Standardlexikon der Wirtschaftswissenschaft umfasst mehr als 26.000 Stichwörter, die von über 180 Experten aus Wissenschaft und Praxis verfasst wurden. Eine Online-Version ist gratis verfügbar: http://wirtschaftslexikon.gabler.de/ Geigant, Friedrich et al.: Lexikon Volkswirtschaft. 7. Aufl., Landsberg am Lech: Moderne Industrie, 2000. Einbändiges Sachwörterbuch der Volkswirtschaftslehre mit mehr als 3000 Stichwörtern auf rund 1200 Seiten. Enthält ausführliche Beiträge, die den Charakter von Handbuchartikeln haben. Volkswirtschaftliche Theorien und Denkschulen der Ökonomie werden hier umfangreicher erläutert als in anderen Lexika. Görres-Gesellschaft (Hrsg.): Staatslexikon. Sonderausgabe der 7., völlig neu bearbeiteten Aufl., Freiburg/Basel/Wien 1995. Bei dem Herder-Staatslexikon handelt es sich um ein Handwörterbuch, das die Vorzüge eines (alphabetisch geordneten) Nachschlagewerkes mit denen eines (systematisch geordneten) Handbuchs verbindet. Die 5 Bde. (Sonderausgabe 7 Bde.) enthalten über 1300 Artikel, davon rund 240 biographische Artikel.

Wirtschaftsgeschichte

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Grüske, Karl-Dieter/Schneider, Friedrich: Wörterbuch der Wirtschaft, 13.  Aufl., Stuttgart: Kröner, 2003. Sachwörterbuch mit rund 3700 Stichwörtern, die knapp, präzise und gut verständlich erläutert werden. Hasse, Rolf/Schneider, Hermann/Weigelt, Klaus (Hrsg.): Lexikon Soziale Marktwirtschaft. 2. Aufl., Paderborn u. a.: Schöningh 2005. Neben Sachartikeln zur Wirtschaftspolitik enthält dieses Lexikon auf 55 Seiten Beiträge zu über 30 Personen, die im Zusammenhang mit der sozialen Marktwirtschaft eine wichtige Rolle spielen.

Wirtschaftsgeschichte Berghoff, Hartmut: Moderne Unternehmensgeschichte, 2. Aufl., Berlin: De Gruyter/Oldenbourg 2016. Braudel, Fernand: Sozialgeschichte des 15.-18. Jahrhunderts  – Der Handel, München: Kindler 1986. Favier, Jean: Gold und Gewürze – Der Aufstieg des Kaufmanns im Mittelalter, Hamburg: Junius 1992. Henning, Friedrich-Wilhelm: Wirtschafts- und Sozialgeschichte, 3 Bde.: 1. Das vorindustrielle Deutschland 800 bis 1800, 5.  Aufl., Paderborn u.  a.: Schöningh 1994. 2. Die Industrialisierung in Deutschland 1800 bis 1914, 9. Aufl., Paderborn u. a.: Schöningh 1995. 3. Das vorindustrielle Deutschland 1914 bis 1992, 9.  Aufl., Paderborn u.  a.: Schöningh 1997. Standardwerk zur deutschen Wirtschaftsgeschichte. Kulischer, Josef: Allgemeine Wirtschaftsgeschichte des Mittelalters und der Neuzeit, 2 Bde., 4. Aufl., München/Wien: Oldenbourg 1971 Lütge, Friedrich: Deutsche Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 3. Aufl. Berlin u. a.: Springer, 1966. ‚Neoliberales‘ Standardwerk zur deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Mottek, Hans: Wirtschaftsgeschichte Deutschlands. Ein Grundriß, 3 Bde.: 1. Von den Anfängen bis zur Zeit der Französischen Revolution, 5. Aufl., Berlin (Ost): Deutscher Verlag der Wissenschaften, 1977. 2. Von der Zeit der Französischen Revolution bis zur Zeit der Bismarckschen Reichsgründung, 2. Aufl., Berlin (Ost): Deutscher Verlag der Wissenschaften, 1972.

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83  Kommentierte Literaturhinweise

3. Von der Zeit der Bismarckschen Reichsgründung 1871 bis zur Niederlage des faschistischen deutschen Imperialismus, 2. Aufl., Berlin (Ost): Deutscher Verlag der Wissenschaften, 1975. Deutsche Wirtschaftsgeschichte aus marxistischer Perspektive. North, Michael (Hrsg.): Deutsche Wirtschaftsgeschichte – Ein Jahrtausend im Überblick, München: C.H. Beck 2000. Ott, Hugo; Schäfer, Hermann (Hrsg.): Wirtschafts-Ploetz. Die Wirtschaftsgeschichte zum Nachschlagen. Freiburg u. Würzburg: Ploetz, 1984. Wichtiges Nachschlagewerk zu den Daten, Fakten und Zusammenhängen der internationalen Wirtschaftsgeschichte. Seraphim, Peter-Heinz: Deutsche Wirtschaftsgeschichte, 2.  Aufl. Wiesbaden: Gabler 1966. Spoerer, Mark; Streb, Jochen: Neue deutsche Wirtschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts. München: Oldenbourg, 2013. Diese Wirtschaftsgeschichte stellt einen gelungenen Versuch dar, die Wirtschaftsgeschichte mit der Wirtschaftstheorie zu verbinden. Spufford. Peter: Handel, Macht und Reichtum – Kaufleute im Mittelalter, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2004. Walter, Rolf: Wirtschaftsgeschichte. Vom Merkantilismus bis zur Gegenwart. 5. Aufl., Wien/Köln/Weimar: Böhlau 2011 (=UTB). Eine für den Einstieg und zur ersten Orientierung sehr gut geeignete Einführung in die Wirtschaftsgeschichte; für die wissenschaftliche Arbeit jedoch zu oberflächlich.

Lehrbücher VWL Bontrup, Heinz-Josef: Volkswirtschaftslehre. Grundlagen der Mikro- und Makroökonomie. München: Oldenbourg, 2004. Kritisches VWL-Lehrbuch mit einer kurzen Einführung in die Dogmengeschichte. Die Wirtschaftstheorie wird ergänzt durch wirtschaftshistorische und dogmengeschichtliche Ausführungen. Eine interessante Alternative zu den üblichen „Mainstream“-Lehrbüchern. Clement, R./Terlau, W./Kiy, M.: Angewandte Makroökonomie, 5. Aufl., München: Vahlen, 2013. Umfassendes, verständlich geschriebenes Lehrbuch zur Makroökonomie mit zahlreichen Fallbeispielen, Grafiken und Übersichten. Piekenbrock, Dirk/Henning, Alexander: Einführung in die Volkswirtschaftslehre und Mikroökonomie. 2. Aufl., Berlin/Heidelberg: Springer/Gabler 2013.

Dogmenhistorische Darstellungen

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Kap. 7 enthält auf rund 30 Seiten eine „Einführung in die volkswirtschaftliche Dogmengeschichte“, die sehr gut zum Einstieg geeignet ist. Reiß, Winfried: Mikroökonomische Theorie. Historisch fundierte Einführung. 6. Aufl., München: Oldenbourg, 2007. Lehrbuch mit einem neuartigen Ansatz, bei dem die mikroökonomische Theorie und die Dogmengeschichte miteinander verbunden werden. Enthält Leseproben bedeutender Ökonomen und Übungsaufgaben. Samuelson, Paul A./Nordhaus, William D.: Volkswirtschaftslehre, 3. und 4.  Aufl., Landsberg am Lech: mi-Fachverlag/Redline, 2007 und 2010. Seit über 60 Jahren das internationale Standardwerk der VWL und „Vorbild für alle folgenden Wirtschaftslehrbücher“ (Die Zeit). BWL Gutenberg, Erich: Einführung in die Betriebswirtschaftslehre. Wiesbaden: Gabler, 1958. Das erste Kapitel dieser selbst zum Klassiker avancierten schmalen Einführung enthält einen kurzen „historischen Rückblick“ über die Entwicklung der BWL. Heinen, Edmund: Einführung in die Betriebswirtschaftslehre, 9.  Aufl. Wiesbaden: Gabler, 1985. Das erste Kapitel enthält einen sehr knappen dogmenhistorischen Überblick über die Entwicklung der BWL. Löffelholz, Josef: Repetitorium der Betriebswirtschaftslehre, 6.  Aufl., Wiesbaden: Gabler, 1980. Das 9. Kapitel enthält auf knapp 50 Seiten „Die Entwicklung der Betriebswirtschaftslehre seit der Jahrhundertwende“. Hier werden „Die Hauptströmungen in der Betriebswirtschaftslehre“ und „Wichtige Systeme der Betriebswirtschaftslehre“ dargestellt: J. F. Schär, H. Nicklisch, E. Schmalenbach, F. Schmidt, W. Rieger, K. Mellerowicz, E. Schäfer, E. Gutenberg, E. Heinen, E. Kosiol, R. B. Schmidt, J. Kolbinger Wöhe, Günter: Einführung in die Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, 13. und 24. Aufl. München: Vahlen 1978 und 2010. Die älteren Auflagen dieses Standardwerkes zur BWL enthalten noch eine umfangreiche Darstellung der Geschichte der Betriebswirtschaftslehre. Da in den neueren Auflagen dieser dogmengeschichtliche Teil sehr stark gekürzt wurde, empfiehlt sich der Griff zu älteren Auflagen (bis zur 20. Auflage).

Dogmenhistorische Darstellungen VWL Anikin, Andrej W.: Ökonomen aus drei Jahrhunderten. Frankfurt a. M.: Verlag Marxistische Blätter, 1974. Die von dem russischen Ökonomen Anikin verfasste Theoriegeschichte stellt die wichtigsten Ökonomen „aus drei Jahrhunderten“ aus marxistischer Sichtweise dar. Biografien,

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83  Kommentierte Literaturhinweise

Wirtschaftsgeschichte und Dogmengeschichte werden sehr gekonnt miteinander ­verwoben. Hervorragend geschrieben und für Einsteiger wie Fortgeschrittene gleichermaßen geeignet. Behrens, Fritz: Grundriss der Geschichte der Politischen Ökonomie, Berlin (Ost): Akademie-Verlag, 1962 ff. (Mehrbändige) Dogmengeschichte der VWL aus marxistischer Sichtweise. Blaug, Mark: Systematische Theoriegeschichte der Ökonomie. 4 Bände. München: Nymphenburger, 1971 ff. Dieses vierbändige Standardwerk der Theoriegeschichte geht in die Tiefe und ist eher für „Fortgeschrittene“ geeignet. Die Theorien der wichtigsten Ökonomen vom Merkantilismus bis zum Keynesianismus werden sehr ausführlich dargestellt und auf hohem Niveau erläutert. Durch Lesehinweise und Inhaltsangaben ist es auch sehr gut geeignet als Begleitlektüre bzw. „Lektüreschlüssel“ zu den Originalwerken. Fabiunke, Günter: Geschichte der bürgerlichen politischen Ökonomie, Berlin (Ost): Die Wirtschaft, 1975. Anhand zahlreicher Schaubilder, kurzen Originaltexten sowie Kommentaren werden komplexe ökonomische Theorien aus marxistischer Sicht erläutert. Unter didaktischen Gesichtspunkten eine vorbildliche Darstellung. Galbraith, John Kenneth: Die Entmythologisierung der Wirtschaft. Grundvoraussetzungen ökonomischen Denkens. Wien/Darmstadt: Zsolnay, 1988. Eine hervorragende, sehr gut lesbare Einführung in die Geschichte der ökonomischen Theorie, verfasst von einem der bedeutendsten Ökonomen des 20. Jh. Gerade zum Einstieg ist dieses Werk besonders gut geeignet. Issing, Otmar: Geschichte der Nationalökonomie, 4. Aufl., München: Vahlen, 2002. Kompakte, leicht verständlich geschriebene Dogmengeschichte der VWL, die in 12 Kapiteln die wichtigen Schulen und Theorien von den „Vorläufern der Nationalökonomie“ bis zur „Neoklassik“ auf rund 300 Seiten vorstellt. Das Buch ist zuerst als Serie in der Zeitschrift WiSt erschienen. Das Werk geht etwas mehr in die Tiefe als das von Kolb, ist aber dennoch sehr gut geeignet für „Einsteiger“. Kolb, Gerhard: Geschichte der Volkswirtschaftslehre. 2. Aufl. München: Vahlen, 2004. Kompakte, leicht verständlich geschriebene Dogmengeschichte der VWL, die in 12 Kapiteln die wichtigen Schulen und Theorien von den „Vorläufern“ (Kap. 1) bis zur „Evolutorischen Wirtschaftstheorie“ (Kap. 12) auf knapp 200 Seiten vorstellt. Das Werk ist bestens geeignet für „Laien“ und „Einsteiger“, die sich einen Überblich über die Geschichte der Volkswirtschaftslehre verschaffen wollen. Kolb, Gerhard: Wirtschaftsideen. Von der Antike bis zum Neoliberalismus. München: Oldenbourg, 2008. In diesem schmalen Büchlein wird auf rund 120 Seiten ein kurzweiliger, allgemeinverständlicher Überblick über die ökonomischen Denkschulen gegeben. Es handelt sich dabei um einen Abdruck von zwölf Beiträgen, die zuerst in der Zeitschrift ‚WISU – Das Wirtschaftsstudium‘ erschienen sind. Aufgrund der extremen Kürze und Oberflächlichkeit ist es insbesondere für Laien und Schüler zum Einstieg in die Thematik geeignet. Studenten

Dogmenhistorische Darstellungen

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sollten besser zur Geschichte der Volkswirtschaftslehre von Kolb greifen – hier ist auch das Preis-Leistungsverhältnis wesentlich besser! Meißner Herbert (Hrsg.): Geschichte der politischen Ökonomie. Grundriß. Berlin (Ost): Dietz, 1978. Diese Dogmengeschichte aus der DDR stellt die Entwicklung der Wirtschaftswissenschaft aus einem marxistisch-leninistischen Blickwinkel dar. Der kritische Leser wird sie dennoch mit Erkenntnisgewinn lesen können, wenn er sich bewusst ist, dass dieses Werk, wie es im Vorwort heißt, „nicht nur die Funktion hat, den Wirtschaftswissenschaftler beim Studium der Geschichte seiner Wissenschaft zu unterstützen, sondern ihm auch bei der wirksamen Führung des ideologischen Klassenkampfes zu helfen.“ Muhs, Karl: Kurzgefaßte Geschichte der Volkswirtschaftslehre. Hauptströmungen der Nationalökonomie. Wiesbaden: Gabler, 1963. Gut lesbare und komprimierte Darstellung der volkswirtschaftlichen Ideengeschichte vom „Altertum“ bis zur „Renaissance der theoretischen Nationalökonomie“ auf rund 160 Seiten. Roscher, Wilhelm: Zur Geschichte der englischen Volkswirtschaftslehre, Leipzig: Weidmannsche Buchhandlung 1851. Roscher, Wilhelm: Geschichte der National-Oekonomik in Deutschland, München: Oldenbourg, 1874. Salin, Edgar: Geschichte der Volkswirtschaftslehre, 2. Aufl., Berlin: Springer 1929. Salin verbindet in diesem schmalen Werk, das selbst zum Klassiker geworden ist, die Geschichte der VWL mit einem Geistes- und Kulturwissenschaftlichem Ansatz. Nicht gerade für den Einsteiger geeignet, bietet sie (immer noch) eine Einführung mit Tiefgang. Die letzte (5.) Auflage erschien 1967 unter dem Titel Politische Ökonomie. Geschichte der wirtschaftspolitischen Ideen von Platon bis zur Gegenwart. Schmölders, Günter: Geschichte der Volkswirtschaftslehre. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1962. Das Buch besteht aus zwei Teilen. Im ersten Teil wird ein Überblick über die Entwicklung volkswirtschaftlichen Denkens gegeben, der mit den „Vorläufern“ (Hesiod, Xenophon, Aristoteles) beginnt und bei der „Entwicklungs- und Wachstumstheorie (Schumpeter) endet. Dargestellt werden wichtige Vertreter der Epochen, wie z. B. Quesnay, Smith, List, Marx, A.  Wagner, Schmoller, Menger, Veblen, Keynes u.  a. Der zweite Teil enthält kurze Leseproben aus den Hauptwerken der vorgestellten Ökonomen“. Da das Buch VWL-Geschichte und Lesebuch in einem ist, ist es gut geeignet, sich einen ersten Überblick über die Geschichte der VWL bis zur Mitte des 20. Jh. zu verschaffen und zugleich auch einen unkomplizierten Zugang zu den Quellentexten zu erhalten. Schumpeter, Joseph A.: Geschichte der ökonomischen Analyse, 2 Bde., Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1965 (Nachdruck 2007). Voluminöse, posthum von Schumpeters Frau herausgegebene Geschichte der Volkswirtschaftslehre, die selbst ein Meilenstein der Dogmengeschichte ist. Sie „bildet die Krönung seines wissenschaftlichen Werkes“ (F. K. Mann, Vorwort). Die zwei Bände umfassen rund 1500 Seiten. „Trotz der Vorläufigkeit und Lückenhaftigkeit vieler Teile bildet das ungefüge

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83  Kommentierte Literaturhinweise

Fragment ein in seiner Weite und Tiefe einzigartiges theoriegeschichtliches Ganzes“ (F. K. Mann). Söllner, Fritz: Die Geschichte des ökonomischen Denkens. 4.  Aufl., Berlin/Heidelberg: Springer |Gabler, 2015. Eine Dogmengeschichte, die eher für Studenten im fortgeschrittenen Studium zu empfehlen ist. Der Schwerpunkt liegt auf der neoliberalen „Mainstream“-Ökonomie. Für „Einsteiger“ in die Dogmengeschichte ist die Geschichte der Volkswirtschaftslehre (2004) von G. Kolb oder der Sammelband von O. Issing besser geeignet. Stavenhagen, Gerhard: Geschichte der Wirtschaftstheorie, 3. Aufl., Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1964. In diesem wissenschaftlichen Standardwerk zur Dogmengeschichte werden die ökonomischen Theorien und Denkschulen vom Merkantilismus bis in die Gegenwart nachgezeichnet, z. B. Physiokratische Lehre, System der klassischen Nationalökonomie, Sozialismus, historische Schule, Grenznutzenlehre, Welfare Economics. Im Vergleich zu Kolb und Söllner geht Stavenhagen mehr in die Tiefe. Nachteil: Das Werk spiegelt den Wissensstand von 1960 wider; „neuere“ Ansätze fehlen somit. BWL Bellinger, Bernhard: Geschichte der Betriebswirtschaftslehre, Stuttgart: C.  E. Poeschel 1967 Eine auch zum Einstieg geeignete, komprimierte und gut lesbare Überblicksdarstellung der geschichtlichen Entwicklung der Betriebswirtschaftslehre. Bellinger, Bernhard: Die Betriebswirtschaftslehre der neueren Zeit, Darmstadt: WBG 1988. Brockhoff, Klaus: Geschichte der Betriebswirtschaftslehre. Kommentierte Meilensteine und Originaltexte, 2. Aufl. Wiesbaden: Gabler, 2002. Das Buch zeichnet die historische Entwicklung der BWL anhand von Auszügen aus der betriebswirtschaftlichen Literatur nach. Dies geschieht in vier Schritten, die den Abschnitten des Buches entsprechen: In der Einführung werden wissenschaftliche Leistungen der Betriebswirtschaftslehre gezeigt und der potentielle Wert historischer Perspektiven verdeutlicht. Im folgenden Teil wird ein grober Überblick über die Entwicklung der Betriebswirtschaftslehre gegeben. Es folgt ein Abschnitt, der sich mit den Auffassungen vom Unternehmer beschäftigt. Der letzte Abschnitt greift einzelne Themen- und Problembereiche des Faches auf. Brockhoff, Klaus: Betriebswirtschaftslehre in Wissenschaft und Geschichte, 4. Aufl. Wiesbaden: Gabler, 2014. Das Lehrbuch beschreibt die Entwicklung der Betriebswirtschaftslehre als wissenschaftliche Disziplin. Neben den wissenschaftstheoretischen Aspekten, die in den ersten Kapiteln behandelt werden, dürfte insbesondre das Kap. 6, in dem auf rund 120 Seiten die Geschichte der BWL skizziert wird, für Studenten der BWL von Interesse sein. Gaugler, Eduard; Köhler, Richard: Entwicklungen der Betriebswirtschaftslehre, Stuttgart: Schäffer-Poeschel 2002.

Dogmenhistorische Darstellungen

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Lingenfelder, Michael (Hrsg.): 100 Jahre Betriebswirtschaftslehre in Deutschland 1898–1998. München: Vahlen, 1999. Dieser Sammelband enthält 14 Beiträge, die zwischen 1997 und 1998 in der Zeitschrift WiSt – Wirtschaftswissenschaftliches Studium erschienen sind. In ihnen werden wichtige Meilensteine des gesamten Fachs hervorgehoben sowie die Entwicklungen spezieller Betriebswirtschaftslehren skizziert. Löffelholz, Josef: Geschichte der Betriebswirtschaft und der Betriebswirtschaftslehre, Stuttgart: C. E. Poeschel 1935. Mantel, Peter: Betriebswirtschaftslehre und Nationalsozialismus. Eine institutionenund personengeschichtliche Studie. Wiesbaden: Gabler, 2009. In dieser wissenschaftlichen Studie (Doktorarbeit) wird speziell die Situation der Betriebswirtschaftslehre im Nationalsozialismus untersucht. Vor diesem Hintergrund wird auf zahlreiche Forscher und Lehrer der deutschen BWL eingegangen. Matiaske, Wenzel; Weber, Wolfgang (Hrsg.): Ideengeschichte der BWL. ABWL, Organisation, Personal, Rechnungswesen und Steuern. Wiesbaden: Springer Gabler 2018. Penndorf, Balduin: Geschichte der Buchhaltung in Deutschland. Leipzig: Gloeckner 1913. Schanz, Günther: Eine kurze Geschichte der Betriebswirtschaftslehre, Konstanz und München: UVK/Lucius, 2014. Der Schwerpunkt dieser komprimierten Geschichte der BWL (rund 140 Seiten) liegt auf den Wissenschaftsprogrammen des Faches und wendet sich in erster Linie an Studenten der höheren Semester. Behandelt werden u.  a. Eugen Schmalenbach, Wilhelm Rieger, Heinrich Nicklisch, Erich Gutenberg, Edmund Heinen und Hans Ulbricht. Schneider, Dieter: Betriebswirtschaftslehre, Bd.  4: Geschichte und Methoden der Wirtschaftswissenschaft, München/Wien: Oldenbourg 2001. Seyffert, Rudolf: Über Begriff, Aufgaben und Entwicklung der Betriebswirtschaftslehre, 6. Aufl., Stuttgart: C. E. Poeschel, 1971. Sundhoff, Edmund: Dreihundert Jahre Handelswissenschaft. Beiträge zur Geschichte der Betriebswirtschaftslehre. 2. Aufl., Köln: Bachem 1991. Diese Theoriegeschichte der Handelswissenschaft gibt auf knapp 300 Seiten einen sehr guten Überblick über die Entwicklung des Faches, angefangen bei der Kommerzienkunde des Mittelalters bis hin zur Betriebswirtschaftslehre des Handels in der Gegenwart. Behandelt werden die folgenden Ökonomen: Savary, Marperger, Ludovici, Leuchs, Schär und Seyffert. Verband der Hochschullehrer für Betriebswirtschaft e.V. (Hrsg.): Der Verband der Hochschullehrer für Betriebswirtschaft  – Geschichte des VHB und Geschichten zum VHB. Wiesbaden: Gabler, 2012. In diesem Werk werden die Entwicklung des Verbandes der Hochschullehrer für Betriebswirtschaft (VHB) und die Etablierung der Betriebswirtschaftslehre im deutschsprachigen Raum dargestellt. Es werden systematische Überblicke und Zusammenfassungen angeboten sowie historische Zusammenhänge und Entwicklungen sichtbar gemacht. Auch

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83  Kommentierte Literaturhinweise

werden – überwiegend aus dem Blick von Zeitzeugen – „Kurzgeschichten“ erzählt, die ein Bild davon vermitteln, was sich hinter einzelnen historischen Facetten tatsächlich verbirgt. Weber, Eduard: Literaturgeschichte der Handelsbetriebslehre. Eine zusammenfassende Darstellung der Autoren und Erkenntnisse der alten Betriebswirtschaftslehre bis 1898. Nachdruck der Ausgabe von 1914, Köln: Bachem, 1990. Auf knapp 150 Seiten werden die wichtigsten Autoren der Handelswissenschaft und deren Schriften vom 17. Jh. bis zum Ende des 19. Jh. dargestellt. Behandelt werden beispielsweise: J.  Savary, P.  J. Marperger, C.  G. Ludovici, J.  K. May, J.  H. Jung und J. M. Leuchs. Das Buch liefert einen guten Überblick über die Geschichte der Handlungswissenschaft in Deutschland bis zum Ende des 19. Jh.

Ökonomen Euchner, Walter (Hrsg.): Klassiker des Sozialismus. 2 Bde. München: C. H. Beck 1991. In den zwei Bänden werden Leben und Werk von insgesamt 36 Vertretern des Sozialismus ausführlich dargestellt: Band 1 enthält bspw. Marx, Engels und Kautsky, Band 2 bspw. Lenin, Luxemburg und Hilferding. Jeder Personenbeitrag hat eine Länge von ca. 15 Seiten und enthält ein Porträt. Der Anhang enthält Anmerkungen, Literatur, ein Personenund Sachregister sowie ein Verzeichnis der Abbildungen. Hesse, Helge: Ökonomen-Lexikon. Düsseldorf: Verlag Wirtschaft und Finanzen, 2003. Neben Ökonomen werden in diesem Lexikon auch Unternehmer, Politiker und Philosophen in insgesamt 600 kurzen Porträts dargestellt. Die Auswahl ist stellenweise fragwürdig: Napoleon und Hitler finden Erwähnung, wichtige aktuelle Ökonomen fehlen. Zeittafel, Glossar und Register runden das Werk ab. Die aktuelle und stark erweiterte Auflage ist 2009 im Schäffer-Poeschel Verlag unter dem Titel „Personenlexikon der Wirtschaftsgeschichte: Denker, Unternehmer und Politiker in 900 Porträts“ erschienen. Hesse, Helge: Personenlexikon der Wirtschaftsgeschichte. Denker, Unternehmer und Politiker in 900 Porträts. 2. Aufl., Stuttgart: Schäffer-Poeschel, 2009. Horn, Karen Ilse: Die Stimme der Ökonomen. Wirtschaftsnobelpreisträger im Gespräch. München: Hanser, 2012. Horn stellt in dem kurzweilig geschriebenen Buch zehn herausragende Persönlichkeiten der Wirtschaftwissenschaften vor. Nach den sehr interessanten Biographien kommen die Nobelpreisträger in Interviews zu Wort: P. A. Samuelson, K. J. Arrow, J. M. Buchanan, R. M. Solow, G. S. Becker, D. C. North, R. Selten, G. A. Akerlof, V. L. Smith und E. S. Phelps. Klein-Blenkers, Fritz: Entwurf einer Gesamtübersicht über die Hochschullehrer der Betriebswirtschaft in der Zeit von 1898–1934. Köln: Wirtschaftsverlag Bachem, 1988. Dieser erste Band der Reihe „Schriften zur Geschichte der Betriebswirtschaftslehre“ liefert eine Übersicht über die ersten Hochschullehrer der BWL, die als Professoren an deutschsprachigen Hochschulen lehrten. Auf je zwei DIN-A4-Seiten pro Person werden detaillierte Daten zum Werdegang und zur wissenschaftlichen Tätigkeit dargestellt. Der Anhang enthält über 50 Fotos der behandelten Betriebswirte.

Ökonomen

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Koesters, Paul-Heinz: Ökonomen verändern die Welt. Wirtschaftstheorien, die unser Leben bestimmen. Hamburg: Goldmann,1985. Auf rund 300 Seiten werden 12 wichtige Ökonomen von Smith bis Galbraight sehr anschaulich und lebendig dargestellt. Großes Gewicht wird auf die Theorien der Ökonomen vor dem Hintergrund des jeweiligen wirtschaftsgeschichtlichen Kontextes gelegt. Insofern zugleich eine gut lesbare Wirtschaftsgeschichte. Zahlreiche s/w-Abbildungen. Krause, W./Graupner, K.-H./Sieber, R. (Hrsg.): Ökonomenlexikon. Berlin (Ost): Dietz, 1989. Auf 620 Seiten werden rund 300 Ökonomen von 60 (marxistischen) Wirtschaftswissenschaftlern im typischen Lexikon-Format dargestellt. Die Beiträge sind sehr fundiert und faktenreich, allerdings werden Werk und Wirkung der behandelten Ökonomen aus marxistischer Sichtweise stark wertend, d. h. ideologisch interpretiert. Für Fortgeschrittene ist dieses DDR-Lexikon trotzdem (bzw. gerade deswegen?) noch mit Erkenntnisgewinn zu lesen, da die Lektüre die Einnahme eines kritischen Blickwinkels ermöglicht. Mit 101 Abbildungen und Literaturangaben. Kurz, Heinz D. (Hrsg.): Klassiker des ökonomischen Denkens, 2 Bände. München: C.H. Beck 2009. Dieses Werk („Nachfolge“ von Starbatty) ist eine relativ gut verständliche Einführung in das Denken der wichtigsten Ökonomen. 28 Autoren behandeln Leben, Werk und Wirkung von 35 „Klassikern des ökonomischen Denkens“ auf über 750 Seiten in zwei Bänden. Band 1 enthält die Ökonomen von Adam Smith bis Alfred Marshall, Band 2 die wichtigsten Denker von Vilfredo Pareto bis Amartya Sen. Eine solide Grundlage für die weitere wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Ökonomen und ihren Hauptwerken. Linß, Vera: Die wichtigsten Wirtschaftsdenker, 5. Aufl., Wiesbaden: Marix, 2014. In 60 Porträts werden Leben und Werk der „wichtigsten Wirtschaftsdenker“ auf jeweils 4–5 Seiten vorgestellt. Gut lesbare, leicht verständliche Darstellung, die (ebenso wie das Werk von Piper) hervorragend für Einsteiger geeignet ist. Lüchinger, René (Hrsg.): Die zwölf wichtigsten Ökonomen der Welt. Von Smith bis Stiglitz. Zürich: Orell Füssli, 2007. Sieben Autoren  – zumeist Journalisten des schweizerischen Wirtschaftsmagazins Bilanz – stellen auf 240 Seiten „ihre“ zwölf wichtigsten Ökonomen vor. Abgerundet werden die gut lesbaren Ökonomen-Porträts jeweils durch Fotos, einen tabellarischen Lebenslauf, eine Zeittabelle, eine Tabelle mit geschichtlichen Daten, eine kommentierte Auflistung der Hauptwerke sowie Zitaten zu bestimmten ökonomischen Themenbereichen. Piper, Nikolaus (Hrsg.): Die großen Ökonomen. 2.  Aufl., Stuttgart: Schäffer-Poeschel, 1996. In 47 Porträts werden Leben und Werk der „großen Ökonomen“ von 30 Autoren auf jeweils 6–8 Seiten vorgestellt. Gut lesbare und leicht verständliche Darstellung, die auch für Einsteiger sehr geeignet ist. Mit Literaturhinweisen und s/w-Abbildungen. Die Beiträge wurden zuerst 1992/1993 in der Wochenzeitung Die Zeit veröffentlicht. Im Vergleich zu dem Buch von Vera Linß sind die Aufsätze fundierter und kenntnisreicher geschrieben.

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83  Kommentierte Literaturhinweise

Piper, Nikolaus (Hrsg.): Die neuen Ökonomen. Stuttgart: Schäffer-Poeschel, 1997. In diesem Werk werden, wie es im Untertitel heißt, die (neuen) „Stars, Vordenker und Macher der deutschsprachigen Wirtschaftswissenschaft“ vorgestellt. Das Buch behandelt neben Volkswirtschaftlern wie z. B. Reinhard Selten auch die aus den Medien bekannten Ökonomen wie Hans Werner Sinn und Peter Bofinger. Daneben finden auch Betriebswirtschaftler wie Heribert Meffert oder Horst Albach ihren Platz. Internationale Ökonomen werden leider nicht behandelt. Putnoki, Hans; Hilgers, Bodo: Große Ökonomen und ihre Theorien: Ein chronologischer Überblick. Weinheim: Wiley-VCH, 2006. Zum Einstieg empfehlenswerte Darstellung, in der neben den „Klassikern“ der Ökonomie auch einige Nobelpreisträger behandelt werden. Die Theorien werden leicht verständlich erklärt und durch Minicomics, Abbildungen und Schaubildern ergänzt. Recktenwald, Horst Claus (Hrsg.): Geschichte der politischen Ökonomie. Eine Einführung in Lebensbildern. Stuttgart: Kröner, 1971. Auf rund 600 Seiten werden 24 bedeutende Ökonomen (von Quesnay bis Eucken) dargestellt. Wie der Herausgeber schreibt, will „das Werk eine Anthologie, eine ‚Blumenlese‘, von abgerundeten Portraits über das Leben und Wirken großer Nationalökonomen sein, in welche die geistige und politische Leistung einbezogen ist. … Die Autoren sind in vielen Fällen von gleichem Rang wie die ‚Gekrönten‘. Das verleiht der Lektüre einen ganz besonderen Reiz, schreiben und urteilen doch gleichsam berühmte Nationalökonomen über berühmte Nationalökonomen.“ Das Buch enthält einen Bildteil mit 23 Abbildungen, eine Chronologie sowie ein Literatur- und Namensverzeichnis. Sehr empfehlenswert! Rose, Ingo: Die Wirtschaft und ihr Preis. Die Erkenntnisse der Nobelpreisträger – und wie sie unsere Welt verändern. Regensburg: Bückle & Böhm 2013. Auf über 200 Seiten werden die Theorien der Nobelpreisträger für Wirtschaft in leicht verständlicher Form dargestellt. Der Schwerpunkt liegt nicht auf den Ökonomen, also den Trägern des Preises, sondern auf deren ökonomischen Theorien. Diese werden in sechs Themenkreisen (Wirtschaftsgeschichte, Wachstum und Wandel; Geld und Konjunktur; Spieltheorie; Wirtschaftspsychologie und Wirtschaftspolitik; Wirtschaftsmathematik; Wirtschaftstheorie) behandelt. Jedem Themenkreis (Kapitel) folgt ein ergänzender Essay. Abgerundet wird die Darstellung durch einen Anhang (Liste der Wirtschaftsnobelpreisträger, Glossar, Register). Starbatty, Joachim (Hrsg.): Klassiker des ökonomischen Denkens, 2 Bde., München: C.  H. Beck, 1989 (Lizenzausgabe in einem Band der Nikol Verlagsgesellschaft, Hamburg, 2012). In diesem Standardwerk werden auf über 700 Seiten 29 Ökonomen (von Platon bis Eucken) und deren Hauptwerke von bedeutenden Vertretern des Fachs umfassend, fundiert aber dennoch gut lesbar dargestellt. Mit Porträtabbildungen, ausführlichen Literaturhinweisen sowie Sach- und Personenregister. Dieses Werk bildet eine gute Basis für die weitere wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Ökonomen und ihren Hauptwerken. Tichy, Roland: Große Ökonomen und ihre Ideen. Wien: Linde 2012.

Ökonomen

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Auf knapp 200 Seiten stellen acht Autoren (zumeist Journalisten der Wirtschaftswoche) 19 wichtige Ökonomen vor. Jeder Beitrag enthält eine Abbildung, Zitate und w ­ eiterführende Literaturhinweise. Ein für Einsteiger interessantes und gut lesbares Buch, für die wissenschaftliche Beschäftigung eher ungeeignet. Weitz, Bernd O. (Hrsg.): Bedeutende Ökonomen. München: Oldenbourg 2008. Auf 200 Seiten werden 20 Ökonomen vom 17. Jahrhundert bis heute porträtiert. Neben den Lebensläufen der Ökonomen werden auch deren Theorien und Ideen nebst kurzen Textbeispielen dargestellt. Ein gelungenes Werk, das sowohl für Laien als auch für Studierende gleichermaßen geeignet ist.

Bildnachweise

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Die meisten der in diesem Buch verwendeten Bilder und Fotos stammen von Wikimedia-­ Commons (http://commons.wikimedia.org). Diese sind lizenzfrei oder rechtefrei bzw. gemeinfrei, weil ihre urheberrechtliche Schutzfrist abgelaufen ist oder der Rechteinhaber diese Bilder zur Verwendung freigibt. Ökonomen-Porträts von Wikimedia – Commons Akerlof (Urheber: Yan Chi Vinci Chow, 21.03.2007), Aristoteles, Becher, Böhm-Bawerk, Engels, Eucken, Friedman, Galbraith, Gesell, Hayek, Hilferding, Juglar, Kautsky, Keynes, Krugman, Lenin, List, Lucas, Luxemburg, Malthus, Marshall, Marx, Menger, Mill, Mises, Mun, Myrdal, Platon, Quesnay, Rau, Ricardo, Robinson, Roscher, Say, Samuelson, Sartorius, Savary, Schmoller, Schumpeter, Selten, Sen, Smith, Sombart, Stiglitz (© Raimond Spekking/CC-BY-SA-4.0), Taylor Sonstige Fotos und Abbildungen von Wikimedia – Commons • „Das neue Verhältnis zwischen Arbeiter und Unternehmer“ • „Die Not unserer Zeit!“ • US-Präsident Reagan erläutert seine Steuerreform in einer TV-Ansprache (1981) • Preisverleihung des Nobelpreises 2010 im Stockholmer Konzerthaus • Handelshochschule Leipzig (Postkarte um 1910) • Blick in einen Hörsaal • Sokrates im Gespräch mit dem jungen Xenophon • Bevölkerungsrückgang nach dem Dreißigjährigen Krieg • Bauer beim Schärfen einer Sense • „Das Lichten eines Hochwaldes“ • Lists Entwurf eines deutschen Eisenbahnnetzes von 1833

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Wächter, Ökonomen auf einen Blick, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29069-6_84

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Nationalversammlung in der Paulskirche Das Hauptgebäude der British-East-India-Company in London, um 1800 Der Kölner Kommunistenprozess von 1852 „Capital and Labour“ Einnahmen, Ausgaben und Leistungen der Arbeiterversicherung des Deutschen Reiches 1885 bis 1909. Die Wiener Universität (um 1880) Mechaniker bei Tabor Co. Rechenschieber für Dreharbeiten Muster des physiokratischen Geldes, 1919 Besuch des Parteivorstandes der SPD in der Reichsparteischule der SPD, 1907 Die Akademie für Sozial- und Handelswissenschaften, Postkarte von 1907 Geldentwertung durch Hyperinflation Die Unterzeichnung des Friedensvertrages im Spiegelsaal, Versailles, 28. Juni 1919 Deutsche Reparationsablieferungen nach dem Versailler-Diktat 1920 Hauptgebäude der Humboldt-Universität (Ruine), 1949 Müller-Armack empfängt den irakischen Ölminister (Quelle: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Fotograf: R. Patzek, Inv.-Nr.: B 145 Bild-F011913-0008) Der Human Development Index (HDI)

Aus anderen Quellen stammen folgende Bilder • Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Bd. 4, Leipzig 1841, S. 768: Xenophon • Bundesverband Deutscher Volks- und Betriebswirte e. V. (bdvb): E. Schmalenbach • Deutsche Allgemeine Zeitung vom 19.07.1936: H. Nicklisch • Deutsches Historisches Museum, Berlin: Gemälde von Hans Mocznay, Karl Marx im Gespräch mit französischen Arbeitern (Inv.-Nr. Kg 61/6) • Bibliothek der Universität Basel: E. Salin, J. F. Schär • Brockhoff, K.: Betriebswirtschaftslehre in Wissenschaft und Geschichte. 4. Aufl. Wiesbaden 2014, S. 151: H. Rieger • Kari Polanyi-Levitt/Karl Polanyi Institute of the University of Concordia: K. Polanyi • Konrad-Adenauer-Stiftung e. V.: A. Müller-Armack (Klaus Barisch/KAS-ACDP) • Technische Universität Berlin: K. Mellerowicz • Universitätsarchiv Frankfurt: F. Schmidt (Signatur: UAF Abt. 854 Nr. 1482), W. Kalveram (Signatur: UAF, Abt. 854, Nr. 719) • Universitätsarchiv Leipzig: K. Bücher (Signatur FS N00468-016) • Universität zu Köln: R. Seyffert • University of Chicago, Department of Economics/Robert E. Lucas: Robert E. Lucas • Pindyck/Rubinfeld: Mikroökonomie, 7.  Aufl. München 2009, S.  802: The Market for Lemmons

84 Bildnachweise

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Der Autor bedankt sich bei den o. g. Universitäten, Museen, Archiven und anderen Institutionen für die freundliche Unterstützung und Genehmigung zur Verwendung der Bilder. Mein ganz besonderer Dank gilt Kari Polanyi-Levitt, Robert E. Lucas und Philip Kotler, die mir freundlicherweise Fotos zur Verfügung gestellt und deren Nutzung gestattet haben. Sollte – trotz aller Sorgfalt, die Autor und Verlag haben walten lassen – bei der Verwendung der Bilder und Fotos versehentlich gegen ein Recht verstoßen worden sein, so wird der Rechteinhaber gebeten, sich mit Autor oder Verlag in Verbindung zu setzen, um etwaige Ansprüche zu regeln.