130 6 14MB
German Pages 165 [168] Year 2022
Ulrich Nortmann, geb. 1956, war bis 2021 an der Universität Saarbrücken als Professor für Theoretische Philosophie und Wissenschaftstheorie tätig. Er wuchs in Nordhessen auf, studierte und promovierte in Göttingen und lebt in Bonn. Bei der wbg erschien von ihm 2008 Unscharfe Welt? Was Philosophen über Quantenmechanik wissen möchten.
www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-45018-3
Ulrich Nortmann CARPET.ART
Dieses Buch handelt nicht nur von Teppichen und deren Verwandtschaft, wie: Taschen, Kamelbehänge, Pferdedecken usw. Sondern es handelt auch von moderner Kunst. Zugleich ist es ein Buch über Farben und das Färben. Mit alten orientalischen Teppichen lassen sich Feste der Farben feiern, bedeutende Maler wussten darum. Wieso alte Teppiche? Deshalb, weil im Orient seit dem ausgehenden neunzehnten Jahrhundert mit der Verdrängung von natürlichen Färbemitteln durch Chemiefarben eine Transformation in farbästhetischer Hinsicht stattgefunden hat, die keine Verbesserung war. Gut also, dass man heute noch vielfältige Arbeiten aus der vorsynthetischen Ära kennenlernen kann, auch außerhalb von Museen. Es gibt einen Markt für Sammlerteppiche, weltumspannend und doch nur Wenigen bekannt, auf dem solche Arbeiten ausgestellt, gehandelt und diskutiert werden, in kunstgeschichtlicher wie kulturhistorisch-ethnologischer Perspektive.
Ulrich Nortmann
CARPET.ART Ein philosophischer Blick auf Teppiche
Ulrich Nortmann
CARPET.ART
Ulrich Nortmann
CARPET.ART Ein philosophischer Blick auf Teppiche
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. wbg Academic ist ein Imprint der wbg. © 2022 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht. Layout, Satz und Prepress: Thomas Fehige-Lutz, Coesfeld Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de Printausgabe ISBN 978-3-534-45018-3 eBook ISBN 978-3-534-45019-0
Inhalt 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. 22. 23. 24. 25.
Kunst, Leben, Leben mit Kunst 7 Sammlerteppiche 8 Malerei der Moderne 11 Grade der Intellektualisierung 12 Gauguin, Matisse 13 Progressiv: Textilien? 19 Exkurs: Verschränkung und Einheit 21 Primitivismus und Leere 25 Farbstimmungen 27 Lebenswelt und künstlerische Absicht 30 Expression 35 Kelimschichten 39 Teppichparadigma? 40 Medium, Struktur, Material 41 Herstellungskontexte, Gebrauchskontexte 47 Ornament und Rapport 54 Verrückt nach Farben 57 Herodot 62 Wissensverlust 63 Drachen: schlecht oder gut? 67 Säulen und Teppiche: chinesisch 70 Drachen und Teppiche: kaukasisch 71 Abstraktion 72 Rustikale Transformation 76 Mehr Abstraktion, und dazu: LichtMetaphysik 83
26. 27. 28. 29. 30. 31. 32. 33. 34. 35.
Fell oder Blumen? 89 Was möglich wäre 97 Teppiche: deutsche Mentalitäten 99 Will man Zerstörung? 105 Religiöse Signatur? 106 Zuordnung: regional und ethnisch 114 Gesetz und Abweichung 116 Handel, Käufe, Preise 123 Auktionsgeschehen 124 Transsylvanier & Co.: eine Frage der Dimension? 127 36. Original, Fälschung, Replik 131 37. Herstellungszusammenhang und Aura 138 38. Diachrone Identität 145 39. Heraklit 148 40. Persistenz: relativ? 149 41. Altersbestimmung: die Faktoren 151 42. Kalender: die Unterschiede 152 43. Mitteilungen: mündlich, schriftlich, bildlich 153 44. Physis und Physik 155 45. Stilistik und Stilanalyse 159 Nachwort 161 Bildnachweise 163 Personen- und Ortsnamen 164
1. Kunst, Leben, Leben mit Kunst. Ein Leben und Wohnen ohne Kunst, das wäre sicher möglich. Etwas Wesentliches würde allerdings fehlen, etwas, das in glücklichen Fällen ungemein anregend und bereichernd sein kann. Viele Menschen würden dieser Behauptung vermutlich zustimmen. Darunter wären alle, die sich bereits mit Kunst umgeben und die diesen Zustand nicht mehr missen möchten. Sich für Kunst generell oder für ein bestimmtes Genre, etwa die Malerei, zu begeistern weckt oft den Wunsch nach eigenem Kunstbesitz. Dahinter steht, abgesehen von ökonomischen Gesichtspunkten, das Verlangen, sich den Werken in aller Ruhe und mit ausreichend Zeit widmen zu können. Man möchte sie auf diese Weise besser verstehen lernen und in ihrem Beziehungsreichtum ergründen. Dem Ausdruck von Arbeiten, in deren Besitz man sich glücklich bringen konnte, bei wechselnden Lichtverhältnissen, abhängig von Tages- und Jahreszeiten, und in unterschiedlichen Atmosphären nachzuspüren kann ein ästhetisches Erlebnis bedeuten, das Liebhaberinnen und Liebhaber von Kunst fasziniert und motiviert. Besuche im Museum ermöglichen erste Begegnungen mit Kunstwerken. Die dort gewonnenen Eindrücke sind oft flüchtig und vorläufig. Der Kunstliebhaber kann nicht hoffen, diese Arbeiten jemals zu besitzen. Das ist in Ordnung so. In Museen aufbewahrte, hochrangige Werke gehören dort auch hin. Sicher verwahrt und gehütet, werden sie als kulturelles Erbe für kommende Generationen erhalten und entweder dauerhaft oder bei thematischen Ausstellungen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Solche Werke sind dem Kunstmarkt auf lange Sicht entzogen. Dies sollte bei Menschen mit Sammelinteresse jedoch nicht zur Entmutigung führen. Denn es gibt viel mehr, und das in keiner geringen Qualität, worauf man ein Auge werfen kann. Das Angebotsspektrum ist breit, und es lässt sich auch mit kleinem
Geld etwas erreichen. Da Museen, quasi die Tempel der Kunst, schon lange so wahrgenommen werden, dass sie die Maßstäbe für höchste Qualität vorgeben, sind passionierte, finanzstarke Sammler oft auf der Suche nach Objekten von annähernder Museumsqualität. Gelegentlich sind sie dabei erfolgreich. Jeder kauft nach seinen Möglichkeiten. Wenn es mit dem Erwerb geklappt hat, auf welchem Niveau auch immer, stellt sich in der Regel die Frage: Wie soll mit dem Erworbenen umgegangen werden? Soll man es einfach ins eigene Normalleben integrieren? Es unbekümmert nutzen, seltene alte Teppiche z. B. auf dem Boden gebrauchen? Klar ist, dass man nichts erlebt mit Werken, die im Tresor liegen oder zusammengerollt in der Truhe aufbewahrt werden. Demnach wären die Gemälde, die Grafiken, die skulpturalen Objekte, eventuell auch die Teppiche, zu Hause an die Wand oder auf den Boden zu bringen? Und ebenso am Arbeitsplatz, wo sich gegebenenfalls im eigenen Büro ein nicht unerheblicher Teil des Lebens abspielt? Beides war früher bei Kunstwerken in Privatbesitz üblich und ist auch heute noch der Fall. In diesem Buch sind die Objekte, um die es vor allem gehen soll, antike Teppiche; in einem Sinn des Wortes »antik«, der noch zu präzisieren sein wird. Sie bilden einen von der heutigen Kunstwissenschaft leider vernachlässigten Bereich. Das müsste nicht so sein. Es handelt sich um ein Thema, dem ein an moderner Kunst geschulter Blick ausgesprochen gut tut. Zugleich ist es ein Thema, dem in Zeiten einer konfliktreichen Konstellation zwischen Orient und Okzident eine besondere Aktualität zukommt. Wer den Orient ein bisschen besser verstehen will, der sollte sich auch mit dessen uralter Teppichkultur auseinandersetzen. In den Teppichen, die man als die ›Bilder des Orients‹ bezeichnen kann, ist vielleicht so etwas enthalten wie eine Essenz orientalischer Weltsichten? Wir werden sehen, man soll nicht zu hoch greifen. Jedenfalls werde ich versuchen, möglichst umfassend die verschiede7
nen Aspekte eines überraschend tiefgründigen Themas anzusprechen. Dabei werden Geschichte, Ästhetik und Philosophie eine Rolle spielen. Gelegentlich sind Kurzausflüge in die belletristische Literatur vorgesehen. Unterwegs sollen aber auch profane Dinge thematisiert werden wie die finanzielle Seite des Sammelns orientalischer Textilien und mögliche Bezugsquellen. Deshalb wird zu Ihrer Orientierung immer einmal wieder, mit Blick auf einzelne Arbeiten, von Preisen im Marktsegment der Sammlerteppiche die Rede sein; und davon, wo sich solche Objekte heute noch erwerben lassen. Schon an dieser Stelle sei bemerkt, dass die Preisunterschiede erheblich und die Einkaufsmöglichkeiten vielfältig sind. Wer nicht gut informiert ist, hat keine Chance, eine erfolgreiche Sammlerin oder ein erfolgreicher Sammler zu werden. Das vorliegende Buch will aber auch solche Interessenten ansprechen, denen es genügt, ihre Phantasie von zwei oder drei ausgesuchten Arbeiten beflügeln zu lassen. In jedem Fall besteht das Ziel darin, durch eine geeignete Verbindung von Text und Bild Anregungen zu geben, Augen zu öffnen und die eine oder andere Abkürzung möglich zu machen: Abkürzung beim Zugang zu einem nicht alltäglichen Bereich ästhetischer Erfahrung. 2. Sammlerteppiche. Im Alter von sechs Jahren interessierte mich an dem im Wohnzimmer der elterlichen Mietwohnung ausliegenden Maschinenteppich vor allem die plattgetretene Bordürenzone. Dort fand ich die Straßen und Trassen, auf denen ich Spielzeugautos und Züge fahren lassen konnte. Im Alter von elf Jahren langweilten mich in den Geschäften, in denen meine Eltern sich für das inzwischen erbaute eigene Haus »echte« Teppiche zeigen ließen, besonders die reichlich feilgebotenen Gardinen- und Vorhangstoffe. Mit sechzehn Jahren erlebte ich in einer nordhessischen Mittelstadt einigermaßen bewusst die Ausläufer des westdeutschen Teppichbooms und fragte mich, wann 8
denn das Geld des alten Herrn endlich dafür ausreichen würde, einen der elitären Isfahan-Teppiche aus den Herbstausstellungen des führenden Teppichhauses am Ort zu kaufen. Etwas mit feinster morgenländischer Rankenmusterung, und in das feste Grundgewebe könnte dann in unbeobachteten Momenten die von allen geliebte Hauskatze mit Genuss ihre Krallen schlagen. Mit Anfang zwanzig hatte ich die Teppiche nahezu vergessen, weil mich Differentialgleichungen und Logikkalküle in anderen gedanklichen Bezirken gefangen hielten. Ich hatte es ja so gewollt. Im Alter von sechsundzwanzig Jahren machte ich mich, wieder aufgetaucht aus der Strenge von Mathematik und mathematischer Philosophie, auf den Weg in die südhessische Weltstadt und erlebte dort meine erste SammlerteppichAuktion. Ich sah: Farben, die gegenüber den Koloriten der Stücke, für welche meine Eltern ihr Geld zum Teppichhändler getragen hatten, eine neue, ganz andere Qualität besaßen. So ging das im Fünfjahrestakt. Nun sind weitere Jahre und Jahrzehnte verstrichen. In dieser Zeit bin ich sehr vielen alten Teppichen und gefühlt beinahe ebenso vielen Sammlern, jüngeren wie älteren, begegnet. Von den Teppichen habe ich einige erworben. Ich kann jetzt mit dem Blick des Erfahrenen, der sich über die Jahre auch eine Schwäche für moderne Malerei geleistet hat, sagen: Wer nach alten Teppichen verrückt ist, der ist, so wie ich die Dinge erlebt habe, immer zugleich verrückt nach guten Farben. Und umgekehrt? Das mag erst einmal offen bleiben. Später werden wir zu dem Thema einen prominenten Maler hören. Fest steht, dass bei Teppichen und Textilien die Farbqualität eine entscheidende Rolle spielt und immer schon gespielt hat. Diese Feststellung gilt unabhängig von der Frage, ob solche Artefakte lediglich als gehobene Einrichtungsgegenstände in Betracht gezogen werden oder aber als Sammelobjekte.
◀
Abb. 1: Kelim, 318 × 158 cm, Mitte 19. Jh., südlicher Kaukasus. – Die Größenangaben auf den Bildseiten sind Circa-Angaben. Bei handgefertigten Textilien, die selten ganz geradlinige Ränder aufweisen, kann das kaum anders sein.
9
Was Teppiche angeht, so können wir zu kommerziellen Zwecken hergestellte Massenware aus jüngerer und jüngster Zeit für die nächsten hundertfünfzig Seiten aus dem Spiel nehmen. Darunter ist heute viel Belangloses, schlimmstenfalls auch Geschmackloses zum Abwinken. Es ist traurig, das so hart sagen zu müssen. Denn in den Sachen steckt in jedem Fall ein beträchtliches Quantum Arbeit. In der Regel ist aber unter der kommerziellen Neuware nichts, was einen Kenner in positive Aufregung versetzen würde. Nichts, das womöglich in ihm ein Jagdfieber entzünden könnte. Es soll in diesem Buch also um etwas anderes gehen: um die ›richtigen‹ Stücke. Um das, was der Kenner oder die Kennerin als sammelwürdige Arbeiten im Teppichbereich ansieht. Im Fokus stehen Arbeiten, bei denen die Frage berechtigt ist und mitunter zwingend erscheint, ob man es mit wirklicher Kunst zu tun hat. Oder doch ›nur‹ mit Kunsthandwerk? Skeptiker werden vielleicht mit gerunzelter Stirn zu verstehen geben wollen, dass sie sich nichts Konkretes vorstellen können: Was sollen das für Teppiche sein, die angeblich für den sammlerischen Blick interessant sind? Womöglich auch und gerade für das mit bildender Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts vertraute Auge? Wer die entsprechende Übersicht hat, dem kann dabei so manches einfallen. Von dem wiederum viele andere nichts mehr wissen, weil … Ja, deshalb, weil sich am Teppichmarkt bestimmte Entwicklungen und Stimmungsumschwünge vollzogen haben. Einiges davon soll später beleuchtet werden. Dabei wird sich der Angelegenheit auch so etwas wie ein mentalitätengeschichtliches Interesse abgewinnen lassen. Was ist sammelwürdig? Ich denke an eher vor dem Jahr 1900 als danach entstandene Objekte, darunter vielfältige Dorfund Stammesarbeiten, ob mit Flor versehen, ob als Flachgewebe oder Stickerei ausgeführt, wie sie ursprünglich aus Dörfern des Kaukasus kamen, aus Orten etwa im heu10
tigen Staatsgebiet Armeniens oder Aserbaidschans, aus abgelegenen anatolischen Siedlungen, ebenso aus den Steppen Turkmenistans und von den Gebirgsausläufern des nordwestlichen Iran, um beispielhaft nur einige Gebiete zu nennen. Haben die Knüpferinnen und Weberinnen dort Kunst hervorgebracht? Womöglich ›moderne‹ Kunst? Wie auch immer, die Stücke, um die es geht, zeichnen sich in vielen Fällen durch eine besonders bemerkenswerte Farbqualität aus. Hinzu kommen bei den besten Exemplaren kraftvolle Muster, die im Zusammenspiel mit Farbigkeit und Wollqualität faszinieren. Ich werde durch Farbabbildungen Eindrücke zu vermitteln versuchen. Vor den Originalen ist die Wirkung erfahrungsgemäß meist noch einmal eine andere. Im Vordergrund sollen Objekte stehen, die nach ihrem ästhetischen Rang, nach ihrer Präsenz und expressiven Potenz, auch wegen ihrer ethnologischen Bedeutung, als Erzeugnisse einer besonders produktiven Ära anzusehen sind. Diese Ära neigte sich für die Textilkunst Zentral- und Vorderasiens mit dem ausgehenden neunzehnten Jahrhundert dem Ende zu – was mit einer Reihe von Faktoren machtpolitischer, ökonomischer, technologischer und soziokultureller Art zu tun hat. Speziell hinsichtlich der Farbqualität der von Menschen in jenen Regionen hergestellten textilen Objekte bestand ein wesentlicher Transformationsfaktor in den seit den 1850er Jahren in der europäischen ChemieIndustrie erzielten Durchbrüchen bei der Herstellung synthetischer Farbstoffe. Diese industriell erzeugten und ökonomisch bald außerordentlich erfolgreichen Färbemittel drangen schon kurz nach ihrer Entdeckung und kommerziellen Verfügbarkeit auch in die orientalischen Knüpfgebiete vor. Dort traten sie bei der Färbung von Wollgarnen in Konkurrenz zu den traditionellen Verfahren des Färbens mit Naturstoffen. Die auf breiter Front erfolgende Durchsetzung synthetischer Farben sollte den Beginn einer Phase des ästhetischen Nieder-
gangs markieren. Dabei spielte neben dem harmonisch unbefriedigenden Zusammenklang vieler früher Chemiefarben auch deren schlechte Lichtbeständigkeit eine Rolle. So prosaisch kann es zugehen beim Erreichen oder Verfehlen künstlerischer Ziele: Das verwendete Material muss stimmen. Mit Erzeugnissen aus der in farbästhetischer und künstlerischer Hinsicht interessanten Ära vor Augen hat sich kein Geringerer als Paul Gauguin (1848–1903) zur Teppich-Thematik geäußert. In den späten 1890er Jahren machte er sich entschieden für ein Studium orientalischer Teppiche stark. Die Begründung? Dort finde man als Maler alles, was man über Farben wissen müsse. Eine starke Ansage, die ich noch im Wortlaut aus der Quelle zitieren werde. Meine daran anknüpfende These ist: Ein markantes Textil verdient Aufmerksamkeit, ganz wie ein Kunstwerk. Es vermag einem Raum den Stempel aufzudrücken. Man wird ihm nicht gerecht, wenn … Doch mehr dazu später anhand ausgewählten Bildmaterials. 3. Malerei der Moderne. Farben werden also ein wichtiges Thema sein. Ein allgemeinerer Gesichtspunkt ist die Gelungenheit. Sie ist bei der Bewertung von Kunst das zentrale Prädikat, und alles oder fast alles dreht sich um die Frage, worin sie besteht und wie sie sich auf den Begriff bringen lässt. Auch mit Blick auf Teppiche wird es im Folgenden bei der Betrachtung einzelner Arbeiten immer wieder zumindest implizit um größere oder geringere Gelungenheit gehen. Lassen Sie uns jedoch an dieser Stelle zunächst über Malerei reden, vor allem über europäische Malerei. Bei Gelungenheit sollte in der Malerei nicht zu pauschal an Schönheit gedacht werden, wie auch immer diese Eigenschaft näher zu definieren wäre; was in verbindlicher Form sowieso unmöglich ist. Die Entwicklung der europäischen bildenden Kunst hat, besonders wenn man die Moderne hinzunimmt, überdeutlich werden lassen, dass es viele und sehr unterschiedliche Möglichkei-
ten gibt, wie Werke gelungen sein oder gelungen erscheinen können. Schönheit wäre als Gesichtspunkt viel zu eng. Nicht zu reden von der bei Kunsttheoretikern verbreiteten Ansicht, dass die Moderne im Wesentlichen an dem Punkt begonnen habe, an dem jeder Verpflichtung auf Schönheit eine Absage erteilt wurde. Werfen wir einen Blick auf die Entwicklung – erst kurz, in den nachfolgenden Abschnitten mit mehr Details. Es ist bekannt, dass in der europäischen bildenden Kunst über Jahrhunderte hinweg ein zentrales Kriterium der Gelungenheit von Werken in der Antwort auf die Frage lag: In welchem Umfang lassen diese Werke beim Rezipienten Wahrnehmungseindrücke entstehen, die demjenigen nahe- oder gleichkommen, was die Betrachter sähen, wenn sie den Blick auf einen entsprechenden Ausschnitt der Wirklichkeit richteten? Gemeint ist hierbei eine außerbildliche Wirklichkeit, die entweder die tatsächliche Wirklichkeit ist oder auch eine bloß mögliche Wirklichkeit sein kann. Demnach ging es zwar nicht ausschließlich, aber doch ganz wesentlich um den Grad der Wirklichkeitsadäquatheit von Darstellungen, die sich thematisch dem widmeten, was im Prinzip mit den Augen sinnlich erfassbar ist: tatsächliche oder mögliche Landschaften, Architekturen und Interieurs; Menschen, Tiere und Pflanzen; Körperhaltungen, Gesten und Gesichtsausdrücke von Tieren und Menschen, diese auch in der Rolle von Indikatoren für die innere Befindlichkeit und Gestimmtheit der dargestellten Individuen; mit der Möglichkeit der Verallgemeinerung auf einen Typus, für den dann eine aussagekräftige Exemplifikation angestrebt war. Naturnachahmung! Irgendwann schienen die Möglichkeiten zur Herstellung von Wirklichkeitsadäquatheit durch die Beherrschung von perspektivischer Darstellung, durch einen geschickten Umgang mit Hellund Dunkeltönen zur Wiedergabe von Licht und Schatten usw. weitgehend ausgeschöpft. Außerdem schoben sich Fotografie 11
und Film bei der Darstellung außenweltlicher Themen als starke Konkurrenzmedien in den Vordergrund. In der Folge begannen in der Malerei andere Ziele eine Rolle zu spielen: die Thematisierung von Innenwelten, der malerische Ausdruck von Stimmungen und Atmosphären als solchen, auch ohne die Bindung an gegenständliche Träger und physische Indikatoren; der ästhetische Eigenwert von Farben und Formen, die nicht mehr die Farben und Formen von etwas zu sein brauchten. Es vollzog sich das, was wir im Rückblick als den Übergang zu Expression und Abstraktion beschreiben. 4. Grade der Intellektualisierung. In der westlichen Malerei hat er sich irgendwann zugetragen, der Übergang zu Expression und Abstraktion. Daran haben wir uns längst gewöhnt. Überraschender ist, dass vergleichbare Tendenzen bei orientalischen Textilien de facto schon viel früher als in der europäischen Malerei zu verzeichnen sind. Ich sage deshalb de facto, weil ich den Befund in seiner reinen, produktbezogenen Außenansicht meine. Auf einem anderen Blatt steht die Frage nach dem gedanklichen input. Wie weit könnten im Kontext der Herstellung solcher Textilien bewusst ausgebildete Absichten und reflektierte Gestaltungsentscheidungen seitens der schöpferisch tätig gewordenen Individuen den Weg zu ›modernen‹ Tendenzen gebahnt haben? Das sind Fragen, auf die sich schwerlich nichtspekulative Antworten geben lassen. Konkret: Wir können nicht wissen, ob jemals eine Knüpferin oder Weberin des achtzehnten oder neunzehnten Jahrhunderts, wenn unter ihren Händen eine weitgehend abstrakte Komposition entstand, Gedanken bewegt hat, die auch nur in die Richtung dessen wiesen, was bei der Entwicklung der malerischen Moderne Europas an gedanklichem Vorlauf oder theoretischer Begleitreflexion wirksam war. Parallelen auf dieser Ebene wären ziemlich überraschend. In Frankreich, in Deutschland und anderswo wurden regelmäßig während der je12
weils laufenden künstlerischen Transformationsprozesse oder in deren Folge die Dinge in programmatischer Absicht zu einer konzeptuellen Verdichtung gebracht. Der Grad intellektueller Durchdringung des Geschehens ist in den Umbruchphasen der MalereiEntwicklung ganz erheblich gewesen. Oft meldeten sich die künstlerischen Akteure selbst mit theoretischen Beiträgen zu Wort. Das Maß an Intellektualisierung war und ist im Kunstbetrieb nach wie vor auffällig. Ein Analytiker des westlichen Kunstgeschehens wie der US-amerikanische Philosoph, Kunstkritiker und Kunsttheoretiker Arthur C. Danto (1924–2013) ging schon vor dreißig Jahren so weit, darin das Endstadium der Kunst-Entwicklung vorgezeichnet zu sehen. Für Danto besteht das Ende der Entwicklung darin, dass das Kunstschaffen im traditionellen Sinne ersetzt wird durch eine Kunst, die sich vor allem auf die Produktion von Theorien über Kunst verlegt. Kunst sucht in dieser Richtung ihr abschließendes Selbstverständnis. Sie macht dabei die Auslegung des Projekts zum eigentlichen Projekt. Für anschaubare und mit den Händen greifbare Artefakte bliebe nach einer solchen Sicht zuletzt nicht mehr viel übrig. Physische Objekte hätten noch die Funktion, als mehr oder weniger geeignete Auslöser kunstphilosophischen Theoretisierens zu dienen. Das Theoretisieren, der Diskurs, die in ihm verhandelten Gedanken wären das eigentlich Wichtige. Man muss es sich ungefähr so vorstellen – nur hinsichtlich des sich abzeichnenden Werkbegriffs noch radikaler – , wie einst durch Fountain von 1917, die provokante Präsentation eines schnöden Urinals als Kunstobjekt durch Marcel Duchamp (1887–1968), die Frage aufgeworfen wurde: Ob Kunst vielleicht nichts anderes ist als eine bestimmte Art ihrer Inszenierung? Die Kunst würde sich im Exponieren derartiger Fragen zuletzt als ihre eigene Philosophie neu erfinden. Der traditionelle Künstler und die Künstlerin mit besonderen Kompetenzen in der Bearbeitung körperlicher Materien, nicht bloß
gedanklichen Materials, sie wären dazu verurteilt, von Konzept-Künstlern abgelöst zu werden. Sie würden vielleicht abgelöst von Künstlern, wie Rudolf Stingel einer ist? Mehr über ein immerhin ziemlich sinnliches und überdies sehr teppichaffines der jüngeren Projekte Stingels im Abschnitt 35, »Transsylvanier & Co.«. Kunstphilosophie statt Kunst, überbordende Theoretisierung, das ist keine Vorstellung, an der Freunde der Sinnlichkeit in der Kunst große Freude haben können. Da dient es fast schon der Beruhigung, dass an entsprechende Tendenzen nicht zu denken ist, wo es um die Teppicherzeugung in bäuerlichen oder nomadischen Kontexten geht, etwa in den Gebirgsdörfern des Kaukasus oder den Steppen Turkmenistans. Was in den Köpfen einzelner Knüpferinnen und Weberinnen vor sich gegangen sein mag, und dies zumal dort, wo sie sich gegebenenfalls einmal mutig über tradierte Gestaltungskonventionen hinwegsetzten – wir können es, wie gesagt, nicht wissen. Schriftliche Dokumente, Programmatisches, im Sinne der Selbstauslegung verwertbare Aufzeichnungen sind nicht bekannt. In vielen Fällen haben wir es in der Zeit vor 1900 in wichtigen teppicherzeugenden Regionen mit kaum alphabetisierten Gemeinschaften zu tun. Solche schriftlosen Verhältnisse sind nicht günstig dafür, wenigstens für ein bestimmtes Spektrum orientalischer Textilien die kunstanaloge Rezeption als eine mögliche Einstellung konsensfähig zu machen. Die breite Durchsetzung entsprechender Rezeptionshaltungen hat immer eine schwierige Ausgangsposition, wo den Urhebern der Objekte die Chance fehlte, die eventuell hinter ihrem Schaffen stehenden Empfindungen und Ideen auf eine begriffliche Ebene zu heben, sie durch schriftliche Fixierung in einen größeren, die Zeiten überspannenden Diskurs einzugeben. 5. Gauguin, Matisse. Immerhin sind Akteure auf den Plan getreten, Künstler mit Namen von Gewicht im heutigen globalen Kul-
turkosmos, die mit markanten Stellungnahmen von außen in die programmatische Lücke stießen, post festum sozusagen. Deshalb post festum, weil eine lange Hochphase der Teppichkunst damals schon beinahe Vergangenheit war. Der Blick dieser Künstler ist freilich partiell ein westlich geprägter geblieben. Die Maltradition, die es zu überwinden galt, war stets präsent. Der erste ist der bereits erwähnte Paul Gauguin, ein früher Meister der leuchtenden Farben und der starken Farbkontraste. Gauguin lässt in seinen Bildern ein ums andere Mal kräftige Komplementärfarben ungebremst aufeinandertreffen, ohne Abschattierungen oder breiten, trennenden Konturstrich. Soll man es einen ›Teppichstil‹ nennen? Während eines zweiten Südsee-Aufenthalts, zwischen 1896 und dem Beginn des Jahres 1898, hielt der Maler zahlreiche Reflexionen in seinem persönlichen Exemplar der teils autobiographischen, teils fiktionalen Noa Noa-Erzählung fest, einer Schrift über Lebensform und Mythen der Tahitianer. In einer dieser Reflexionen ruft er den Malernachwuchs mit großem Nachdruck, ja mit Pathos zum Studium von Teppichen auf. Dabei hat er vor allem die bei diesen Objekten – sagen wir: bei den gelungenen unter diesen Objekten – begegnende Farbkultur im Sinn. »Oh ihr Maler«, schreibt Gauguin, »die ihr nach einer Anleitung zum Umgang mit Farbe (une technique de la couleur) fragt, studiert die Teppiche, und ihr werdet dort alle Kenntnis finden.« So lesen wir es auf Seite 178 der von Daniel Guérin besorgten Auswahl aus brieflichen Äußerungen und in das Noa Noa-Autograph eingetragenen Notizen Gauguins. Alles findet sich in den Teppichen, so wollte Gauguin sagen, was man als Künstler und Künstlerin für einen guten, wirkungsvollen Umgang mit Farbe wissen muss, tout ce qui est science. Der Passus geht noch ein bisschen weiter, wir werden später sehen. 13
◀
Abb. 2: Henri Matisse, Le rideau égyptien, 1948, Öl auf Leinwand, 116 × 89 cm; The Phillips Collection, Washington, D. C.
14
Der nächste ist Henri Matisse (1869–1954), ein konsequenter Wanderer auf dem Pfad der Flächigkeit. Beim Stichwort »Flächigkeit« sollte man nicht allein an die Scherenschnitt-Arbeiten des Spätwerks denken. Matisse hat sich ebenfalls, vielleicht durch Gauguin angeregt, von orientalischen Erfahrungen inspirieren lassen. Irgendwann sprach er resümierend davon, dass ihm die malerische »Erleuchtung« immer aus dem Orient gekommen sei. So die Angaben bei Gérard-Georges Lemaire, L’univers des Orientalistes, deutsch Orientalismus. Das Bild des Morgenlandes in der Malerei, Potsdam 2010, hier auf Seite 295. Dabei umfasste »der Orient« gemäß dem damaligen westeuropäischen Sprachgebrauch nicht nur den mehr oder weniger fernen Osten, sondern auch den Süden, nämlich Nordafrika. Für Matisse wurde vor allem Marokko wichtig. Dorthin unternahm er mehrfach Reisen, die sich in seinem malerischen Werk deutlich niederschlugen. Doch der Maghreb-Bezug war nicht alles. Wir wissen ebenso vom Einfluss, den die Stilistik alter persischer Miniaturen auf Matisse ausübte, und es gab die zentralasiatischen Teppiche. Auf Gemälden von Matisse finden wir mehrfach turkmenische Teppiche eines bestimmten, identifizierbaren Typus prominent in die Komposition eingebaut. Das allein wäre allerdings nicht sonderlich bemerkenswert. Nein, dieser Maler steht auch für die Idee des polyzentrischen Bildaufbaus. Während etwa beim traditionellen Porträt alle Bildelemente auf ein einziges Zentrum hin ausgerichtet sind, auf das Gesicht natürlich, scheint es Matisse bei seinen Kompositionen oft darum gegangen zu sein, verschiedenen Bildbereichen in gleicher Weise, ohne nennenswerte Unterschiede bei der Gewichtung, ihr Maß an Ausdruckskraft zu geben. Welcher Kenner dächte dabei nicht an die typischen Rapportmuster von Teppichen, zumal von Teppichen turkmenischen Ursprungs und anderen nomadischen Arbeiten?
Beide Merkmale, Flächigkeit anstelle von Raumtiefe und Polyzentrik statt Zentralkomposition, finden sich in auffallender Ausprägung bei einem späten Gemälde von Matisse, nämlich bei Le rideau égyptien. Dieses Bild, deutsch Der ägyptische Vorhang, Abb. 2, entstand im Jahre 1948. Entscheidend für die kaum überhörbaren Anklänge an die Ästhetik orientalischer Textilien ist in dem Fall weniger das Sujet. Im Sujet hatte sich bei vielen Orientalisten-Malern des 19. Jahrhunderts der Orientbezug erschöpft. Die entsprechenden Werke würde man heute als Genrebilder im konventionellen Stil abendländischer Malerei der Zeit einstufen – ohne dass nennenswerte, durch die Begegnung mit islamischen Ländern und deren Kulturgut angestoßene Veränderungen der Malweise festzustellen wären. Den entscheidenden Unterschied bei Matisse machen die Art der Komposition und der Umgang mit Farbe und Farbkontrasten. Im Einzelnen ist zur Komposition beim Ägyptischen Vorhang zu bemerken: Die links im mittleren bis oberen Bildraum gezeigten Palmwedel entfalten sich nicht irgendwo draußen in der Tiefe eines Gartens, sondern sie wurden vom Maler nach vorn ins Interieur geholt. Dort bieten sie sich wie flächigornamentale Strukturen auf einem großformatigen Gemälde dar, dessen Grund durch ein Fensterkreuz, das aufgemalt erscheint, in vier rechteckige Segmente gegliedert ist. Die Linien der vom titelgebenden Vorhang geschlagenen Falten fordern nicht mehr zu einer räumlichen Lesart auf, sondern wandeln sich zu einem Bestandteil des Flächendesigns selbst. Der von der Obstschale geworfene Schatten beginnt seine Funktion als ein Anzeiger für die Körperlichkeit der Schale zu verlieren. Er wird beinahe zu einem Bestandteil der Musterumgebung, wie es das Schwarz als Grundfarbe des Vorhangs ist. Der Verzicht auf ein eindeutiges Bildzentrum ist offensichtlich.
15
◀
16
Abb. 3: Knüpfteppich Kasak mit rechts oben in die Hauptbordüre eingeknüpfter Datierung, 370 × 119 cm, gemäß Datierung entstanden im Jahre 1887 christl. Zeitrechnung, Südwest-Kaukasus. Kasak oder Kasach, aserbaidschanisch Qazax, ist eine im Kaukasus zwischen dem georgischen Tiflis und dem zu Aserbaidschan gehörenden Gendje gelegene, ebenfalls aserbaidschanische Stadt. – Zur Entschlüsselung der Datierung Abb. 76, S. 153.
Zum Vergleich: Für die Rezeption und Aufwertung vor allem von skulpturalen Werken der früher so genannten »primitiven« Kunst Afrikas und Ozeaniens im Westen hat es eine erhebliche Rolle gespielt, dass führende Köpfe der malerischen Avantgarde Europas im ersten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts die ästhetischen Qualitäten dieser Stammeskunst erkannten. Die Künstler wurden in ihrem eigenen Schaffen von der Eigenart solcher Werke erkennbar beeinflusst. Wovon genau? Zuerst einmal von deren Simplizität und Prägnanz, einer Folge der Reduktion von Formen auf das Wesentliche. Dann von der Bereitschaft zur Überakzentuierung bestimmter Züge des jeweils Dargestellten, bis in die Nähe von magischer Realitätsüberschreitung und der Erzeugung von Surrealitäts-Anmutungen. Beim Teppichstil waren andere Momente von Bedeutung. Doch Gauguins und Matisse’ schriftliche wie malerische Interventionen zugunsten einer von diesem Stil inspirierten Ästhetik, und damit auch zugunsten der Teppiche selbst, scheinen weitgehend verpufft zu sein. Zwar dürfte beispielsweise eine im Jahre 1910 in Dresden veranstaltete Gauguin-Ausstellung einiges an Einfluss auf Künstler der fünf Jahre zuvor gegründeten Brücke-Gruppe wie Karl Schmidt-Rottluff (1884–1976) ausgeübt haben. Aber vielleicht waren orientalische Textilien nie »primitiv« genug, um dauerhaft eine ähnliche Karriere wie Afrikana und verwandte Stammeskunst zu erleben? Und dabei auch über Gauguin und Matisse hinaus malerische Œuvres so zu prägen, wie afrikanische und ozeanische Schnitzarbeiten dies bei SchmidtRottluff und vielen anderen erkennbar vermochten? Die Vermutung ist, was den Primitivismus-Teil der Frage betrifft, unzutreffend. Es hat ihn im Orient ohne Zweifel gegeben, den Primitivismus bei der Gestaltung von Textilien. Die Frage der Karriere von Teppichen im Kunstbetrieb, im westlichen und insbesondere im europäischen, sowie bei deutschen Interieur-Gestaltungen ist ein ande-
res Kapitel, zu dem wir später kommen. Man darf sich im Hinblick auf beide Bereiche, Kunst und Interieur, die nicht zu scharf voneinander getrennt werden sollten, jedenfalls durch eines nicht in die Irre führen lassen: durch die heute übliche Verengung des Wahrnehmungshorizonts auf das Paradigma des typischen kommerziellen, blumigdekorativ gestalteten Perserteppichs. Es gibt vieles und darunter ganz anderes. Davon handelt dieses Buch. Es handelt vor allem von dem, was Sie normalerweise nicht zu sehen bekommen. Mit den ersten beiden Abbildungen haben wir einen Anfang gemacht. Gleich soll eine weitere Abbildung nachgelegt werden. Deshalb, weil kein Grund dazu besteht zu verleugnen, dass auch die Gattung des floralen persischen Werkstatt-Teppichs beachtliche Exemplare zu bieten hat. Ein Stück wie Nr. 4 besitzt, so fremdartig es für heutige mitteleuropäische Sehgewohnheiten zunächst anmuten mag, einen eigenen ästhetischen Reiz. Das Feldmuster auf nachtblauem Grund strahlt mit den leichten Unregelmäßigkeiten seiner Zeichnung etwas von einer kindlich-ungebrochenen Freude an der Farbigkeit von Blüten und immer noch mehr Blüten aus. Die Farbkontraste sind stark und dabei harmonisch ausbalanciert. Die herbe Stilisierung des weniger dicht gedrängten Rankenwerks in den Längsbahnen der gelbgrundigen Hauptbordüre setzt der überbordenden Vitalität und der Verspieltheit des Feldmusters eine mäßigende Geste entgegen. Falls dieses erste Beispiel hinsichtlich Farbqualität und Alter nicht genügen sollte, dann werfen Sie einen Blick voraus auf Nr. 34, S. 65. Dort meint man in einen ähnlich üppig blühenden, zugleich aber von entschlossener gärtnerischer Hand auf Linie gebrachten Garten zu schauen; einen Garten, der, nachdem die Hitze des Tages der Abendkühle gewichen ist, vor der heraufziehenden Nacht noch einmal seine erfrischte Blütenpracht zeigt. 17
◀
Abb. 4: Knüpfteppich Keschan, 210 × 130 cm, Ende 19. Jh., Zentralpersien. Keschan oder Kaschan ist eine südlich der heutigen iranischen Hauptstadt Teheran gelegene Stadt am Rande der zentraliranischen Wüste.
◀
Abb. 5: Frauen-Umhang, genannt Chirpi, Stickarbeit auf gelber Seide, 106 × 78 cm, Mitte 19. Jh., Zentral-Asien, TekkeTurkmenen. Die Tekke waren ein Stamm unter einer ganzen Reihe verschiedener Turkmenenstämme, die sich nach Herkunftserzählung, beanspruchten Weideund Siedlungsgebieten (z. B. Gebiet der Achal-Oase am südwestl. Rand der Karakum-Wüste im Fall der Tekke) sowie sprachlichen und anderen kulturellen Merkmalen voneinander abgrenzten.
◀
Abb. 5a: Detail aus Nr. 5.
18
Im Bewusstsein von Gemeinschaften, die Dürre und Steppenlandschaften kennen, von Halbwüsten und Wüsten nicht zu reden, spielt das Wasser naturgemäß eine herausgehobene Rolle, und mit ihm das Gartenund Blütenthema. Der blühende Garten war und ist ein Sehnsuchtsort. Dass man sich diesem Thema auch mit ganz anderen darstellerischen Mitteln zu nähern wusste, zeigt der Vergleich mit den Abbildungen 16, 54 und 55 auf den Seiten 32 und 101. Wenigstens an einer Stelle sollte in diesem Buch der Vollständigkeit halber auch durch ein Bild vor Augen geführt werden, dass dann, wenn von textilen Objekten die Rede ist, ein Spektrum von Arbeiten gemeint ist, zu dem nicht zuletzt Bekleidung zu zählen ist. Natürlich geht es nicht um Kleidungsstücke von irgendeiner Konfektions-Stange. Sondern um solche wie einen ehrwürdigen turkmenischen Frauenumhang, Abb. 5. 6. Progressiv: Textilien? Ich habe es als bemerkenswert bezeichnet, als ziemlich überraschend, in welchem Umfang Entwicklungen der malerischen Moderne Europas bei orientalischen Textilobjekten de facto vorweggenommen wurden. Keine Frage, dass dabei eher an Arbeiten wie Nr. 1, S. 9, statt an den Keschan Nr. 4 zu denken ist. Gehen wir dem behaupteten Zusammenhang etwas weiter nach – auch mit dem Ziel, dass Sie beizeiten mehr an Teppichen zu sehen bekommen. Die Moderne, so heißt es gern von kunsthistorischer Seite, hat zuerst einmal das Paradigma der Flächigkeit in Geltung gebracht, besser gesagt: es wieder in Geltung gebracht. Matisse’ malerische Orientierung habe ich entsprechend apostrophiert. Die Fläche wird nicht mehr benutzt, oder nicht mehr nur benutzt, um auf ihr mit verschiedenen malerischen Mitteln einen illusionären Raum von scheinbarer Tiefe entstehen zu lassen, in dem sich dann allerhand ereignen kann und zum Sujet machen lässt. Sie wird stattdessen als bloße Fläche nicht länger verleugnet. Auch die der Fläche mitgegebene Farbe wird nicht länger einseitig in den
Dienst der Vorführung von etwas anderem gestellt. Die Farbe wird in ihrem Eigenwert rezipierbar. Was Flächigkeit in der Malerei konkret bedeuten kann, lässt sich besonders gut anhand von Bildern nachvollziehen, die eigentlich noch bestimmte außenweltliche Konstellationen zum Thema haben. Die in der Ausführung aber den Akzent so stark auf eine ohne nennenswerte räumliche Tiefe entwickelte Farbflächen-Komposition legen, dass das Erkennen der jeweiligen Ausgangskonstellation in ihrer dreidimensionalen Lesart einer gezielten Sehanstrengung bedarf. Ein Beispiel ist Nr. 6. Das Titelwort »Zirkuszelt« gibt den entscheidenden Hinweis für die Erfassung des darstellerischen Gehalts – bei einer Komposition, die auf den ersten Blick eigentlich vollkommen abstrakt wirkt. Vor einem großen Zelt, das mit Hilfe von Seilen aufgespannt ist, die an zwei Trägermasten befestigt wurden, befinden sich im linken und rechten Vordergrund Zirkuswagen. Beim Wohnwagen auf der rechten Seite steht die Tür offen. Im Zelteingang ist halb verdeckt eine Person zu sehen. Farben, habe ich gesagt, werden in ihrem Eigenwert rezipierbar. Hier sind es warme Erdtöne, die der Maler in einer für seinen Stil charakteristischen, nach Art des Kubismus facettierten Komposition zusammengeführt hat. Die Arbeit steht im Kolorit dem Kelim Nr. 20 auf S. 36 nahe. Wenn man die Betonung des Eigenwerts von Farben mit Entwicklungen in der Musik vergleichen will: Wir kennen dort seit langem das Projekt der Herstellung einer relativen Autonomie der Töne. Gemeint ist der Übergang von einer Programm-Musik, die an vielfältigen Abbildungszwecken orientiert ist, zu so etwas wie »reiner« oder »absoluter« Musik.
19
◀
Abb. 6: Paul Magar, Das Zirkuszelt, 1957, Öl auf Leinwand, 50 × 60 cm.
◀
Abb. 7: Kenneth Noland, Via Blues, 1967, Öl auf Leinwand, 229 × 671 cm.
◀
Abb. 8: Nikola Dimitrov, Farbraum Nr. I, 2013, Pigmente, Binde- und Lösungsmittel auf Bütten, 42 × 52 cm.
20
Die um 1850 entstandene kaukasische Kelim-Decke mit Streifenmuster, Abb. 1 auf S. 9, führt das Prinzip für den visuellen Bereich vor Augen. Die Arbeit lässt zugleich anschaulich werden, wie durch eine bestimmte Verteilung von Farben und Streifenbreiten Rhythmus und flirrende Dynamik erzeugt werden können. Man beachte die Differenziertheit, die Brillanz und die Wärme der unverblassten Farben, auch die Harmonie ihrer Zusammenstellung. Die Qualität hat ihren Preis. Das Stück wurde bei einer Auktion in Wiesbaden im Jahre 2004 für 9.500 Euro zugeschlagen, sicher kein zu hoher Preis. Kelims sind, von Einzelfällen abgesehen, abstrakte Bilder. Sie thematisieren keine realen Gegenstände. Bei unserem Beispiel könnte man allenfalls mit den zierlichen, auf den flachgewebten Grund aufgestickten Linienund Kreuzornamenten irgendeine figurative Darstellungsabsicht verbinden. Falls von diesen Elementen abgesehen hier aber doch etwas darzustellen war, besser gesagt, etwas zum Ausdruck zu bringen und im Betrachter zu evozieren war, dann war es dies: eine bestimmte atmosphärische Qualität, eine spezifische Stimmung. Die hervorgerufene Gestimmtheit vermag ihrerseits die eine oder andere assoziative Bahn zu aktivieren. Für den, der sich solchen Assoziationen bereitwillig hingibt, passiert auf diesem Kelim einiges, etwa: Bunt gemusterte Spiralstäbe sind zu sehen. Sie scheinen eine kontrollierte Drehbewegung in der Verlaufsrichtung farbgefüllter Kanäle aufzunehmen. Womöglich, um am Ende eines zielführend synchronisierten, mehrkanaligen Prozesses ihre kinetischen Energien in ein furioses Farbmischungsfinale zu entladen, das erst jenseits der eröffneten Bühne erahnbar ist. Phantasie gibt hinzu, was ihr spannend erscheint. Was tatsächlich zu sehen ist, ereignet sich unter Verzicht auf Raumtiefe, Perspektive, Fluchtlinien. Es gibt keine Modellierung von Volumina durch Hell und Dunkel. Zwei Dimensionen und
Farben ohne jede Abschattierung reichen aus. Unter dem Gesichtspunkt der Modernität der Flächengestaltung sollte ein Textil wie Nr. 1 verglichen werden mit Werken einer streng geometrisch verfahrenden, dezidiert unter den Leitsatz »das Thema ist die Farbe selbst« gestellten Malerei, wie wir sie unter anderem von Kenneth Noland (1924– 2010) kennen. Eine vergleichbare ästhetische Programmatik wird, um einen lebenden Künstler zu nennen, von Nikola Dimitrov verfolgt, wenngleich auf deutlich kleiner bemessenen Flächen, Abb. 8. Dimitrov will offenbar zusätzlich plastischen Effekten nachgehen, die sich in der Folge einer versetzten Anordnung von Farbstreifen-Kolonnen einstellen. 7. Exkurs: Verschränkung und Einheit. Keine Regel ohne Ausnahme, so sagt man. Abweichungen von der Flächigkeitsregel kommen in der Tat auch bei orientalischen Teppichen vor. Beispielsweise in Gestalt von Tüfteleien mit der Tiefenillusion bei den Hauptbordüren einer bestimmten Familie sehr alter westanatolischer Teppiche. Bei diesen Arbeiten, den sogenannten Holbein-Teppichen, über die noch ausführlicher zu reden sein wird, sehen wir in vielen Fällen in der Hauptbordüre Paare von Stangen in parallelem Verlauf wie in Abb. 9, denen komplexe Klammern den nötigen Zusammenhalt zu verleihen scheinen. Die Klammern werden immer wieder senkrecht zu den Stangen durch die virtuelle Dreidimensionalität geführt. Dies ist ein ausgesprochener Sonderfall.
21
◀
Abb. 9: Bordüre, ca. fünfhundert Jahre alt, Detail aus Nr. 71, S. 133, HolbeinTeppich.
◀
Abb. 10: Knüpfteppich Bordjalou-Kasak, 241 × 170 cm, 19. Jh., Südwest-Kaukasus. Bordjalou ist eine heute Marneuli genannte Stadt in Georgien, die im Norden der Kasak-Region nicht weit von Tiflis entfernt liegt.
◀
22
Abb. 11: Knüpfteppich der Kasak-Gruppe, 144 × 100 cm, Mitte 19. Jh., Südwest-Kaukasus.
Holbein-Teppiche? In Verbindung mit dem Hinweis, dass es sich hierbei um eine Teppichgruppe türkischen Ursprungs handelt, wird die Bezeichnung bei textilgeschichtlichen Laien für Verwunderung sorgen; sind doch die Holbeins eine Malerfamilie des sechzehnten Jahrhunderts in Süddeutschland gewesen. Es gibt verschiedene Bezeichnungen dieser Art. Man spricht zum Beispiel auch von Lotto-, Bellini-, Crivelli- oder Ghirlandaio-Teppichen und -Mustern. Die Bezeichnungen lassen sich leicht erklären. Sie nehmen immer auf Maler Bezug, in deren Bildern Teppiche des jeweiligen Typus dargestellt sind. Ich werde auf das Thema noch einmal in Abschnitt 43, »Mitteilungen«, zurückkommen. Der Normalfall sieht bei Bordüren, falls solche überhaupt vorhanden sind (anders als z. B. bei Nr. 1 auf S. 9), beispielsweise so aus, dass in langen Bändern Zinnenformen ganz in der Fläche zu einer reziproken Lesbarkeit miteinander verschränkt sind. Ein gutes Beispiel ist Nr. 77 auf S. 157. Bei diesem farblich bemerkenswerten Teppich kann man in der Hauptbordüre, von außen kommend, weiße, schopfartig bekrönte Zinnenformen sich in eine rote Grundfläche schieben sehen. Oder man nimmt umgekehrt, vom Innenfeld herkommend, rote Zinnen wahr, die sich in eine weiße Grundfläche schieben. Zwei Lesarten sind möglich, räumliche Tiefe ist dabei kein Thema. Derartige Formenverschränkungen sind in ihrer beispielsweise bei kaukasischen Dorfteppichen immer wieder auch im Feld begegnenden Vielfalt ein Thema für sich. Vielleicht hatten die Knüpferinnen schlicht Freude daran, im Zuge des Experimentierens mit einfachen Grundformen Kippbilder verschiedener Komplexitätsgrade entstehen zu lassen. Alles ohne die Ausnutzung von räumlichen Umspring-Effekten, wie wir sie von geeigneten Darstellungen kennen, die das perspektivische Sehen auf die Probe stellen. Zu Phänomenen der letzteren Art bieten Farbserigraphien von Victor Vasarely (1908– 1997) aus den 1970er Jahren gute Veran-
schaulichungen, dazu Abb. 19 auf S. 34. Im Prinzip tun es aber auch einfache perspektivische Würfelkanten-Zeichnungen, wie jeder sie im Handumdrehen selbst aufs Papier bringen kann. Vielleicht also war bei den Teppichen die schlichte Freude am optischen Effekt als gestalterisches Prinzip wirksam. Vielleicht steckte auch mehr dahinter, eine bestimmte inhaltliche Botschaft? Zu auffällig ist bei der Mustergestaltung bestimmter Arbeiten die Rolle hakenförmiger Ornamentfortsätze, die sich scheinbar mit analog geformten Elementen entgegengesetzter Orientierung und kontrastierender Farbe verbinden wollen wie ein Schlüsselloch mit dem dazu passenden Schlüssel. Betrachten Sie dazu etwa die Innenzeichnung der bei Nr. 3 auf S. 16 übereinander gestellten oktogonalen Formen. Von den Ecken der gestuften Umrisse der Kreuzformen, die jeweils einen zentralen Stern einschließen, gehen Fortsätze in der Form eines großen griechischen Gamma ab. Diese Γ- oder Gamma-Fortsätze sind mit passend aus der Grundfläche herausgeschnittenen Komplementärformen gleicher Art zur Einheit verschränkt. Die Stufenkreuze liegen so nicht mehr einfach der jeweiligen oktogonalen Grundfläche gleichsam lose auf, sondern sie wirken wie eng mit ihr verzahnt. Bei Teppichen vom Bordjalou-Typus ist die Verzahnungsthematik regelmäßig auf die Spitze getrieben, bis hin zu einer multiplen Reißverschluss-Anmutung, Abb. 10. So ist das: Wo unter dem Vorzeichen der Abstraktion die verfügbaren Flächen nicht dazu genutzt werden, ein in einem fingierten Wirklichkeitsraum ablaufendes Geschehen vorzuführen, aus dessen inhaltlicher Eigenlogik der Zusammenhalt käme, dort bedarf es anderer Mittel, um Einheit ins Bild zu setzen. Auch hier ein Wort zur Terminologie. Oktogonale Ornamente wie bei Nr. 3 werden als Memling-Göls bezeichnet. Das hat einen zweifachen Grund. Erstens erinnern diese Ornamente mit ihrer Umrissform an turk23
menische Stammeszeichen, Göls genannt. Zweitens sind Teppiche mit entsprechender Musterung auf mehreren Bildern von Hans Memling (um 1430–1494) zu sehen, einem aus Deutschland stammenden Maler der niederländischen Schule. Memling hat einen solchen Teppich, als Tischdecke verwendet, in der Arbeit Majolika-Vase mit Blumen dargestellt. Es ist dieselbe Art von Verbindung zwischen Teppich und Maler, der auch Holbein-Teppiche ihre Bezeichnung verdanken. Beim Memling-Göl ebenso wie bei den für Bordjalou-Kasaks typischen hakenbesetzten Rauten und den dazu komplementären Zickzack-Bändern wirken die Hakenformen schlüssig in die Komposition eingebunden. Dagegen sieht man bei alten kaukasischen und anatolischen Arbeiten auch häufig aus einem Primärornament entspringende, hakenartige Fortsätze, die in den musterfreien Umgebungsraum ausgreifen, als wären sie noch auf der Suche: Suche nach irgendeinem Gegenstück, mit dem sie sich zu einer festgefügten Einheit verbinden könnten, dazu Abb. 11. Ob an der Quelle, nahe den historischen Ursprüngen, mehr dahinter steht als der Spaß am ornamentalen Optik-Experiment, mehr als die Freude an der reziproken Lesbarkeit von Konstellationen aus ineinander greifenden Formen, die der heutige Betrachter jedenfalls zu spüren meint? Möglicherweise gibt es diese zusätzliche Inhaltsdimension. Mag sein, dass sowohl in durchdacht erscheinenden Formgebungen wie beim Memling-Göl als auch bei jenen eher tastend ins Nichts hinein vorgeschobenen Hakenformen eine Sehnsucht zum Ausdruck kommt. Es könnte eine Sehnsucht, auf welchem Grunde auch immer entstanden, danach sein, dualistisch Entzweites, das eigentlich zusammengehört, wieder in Harmonie verbunden zu sehen. Vielleicht haben wir es mit einem Residuum eines tief verwurzelten Unbehagens zu tun: Unbehagen am Bild einer aufgespaltenen Welt, wie es seit der Blütezeit des Platonismus in vielen Köpfen zu Hau24
se gewesen ist, nicht nur in abendländischen Köpfen. Was sich zunächst in der von Platon (428/27–348/47 v. Chr.) ausgearbeiteten Fassung und erst recht später unter dem Einfluss des Platon-Schülers Aristoteles (384–322 v. Chr.) als eine vergleichsweise neutrale ontologische Lehre darstellte, konnte nach und nach weltanschaulich aufgeladen werden. Es wurde stärker mit Wertvorstellungen besetzt und zu religiösen Systemen hochgesteigert, so geschehen von Syrakus bis Nischapur. Im Kern sah sie folgendermaßen aus, die Botschaft von der Weltenspaltung: Hier unten haben wir die widerspenstige Materie, den Stoff. Dort oben ist die Welt der von Platon mit Nachdruck beschworenen, idealen Formen oder »Ideen«. Die sogenannten Formen, sie bilden im Platonismus eine eigene Welt des Abstrakten, außerhalb von Raum und Zeit. Nur dem reinen, empirisch nicht korrumpierten Geist sollen sie uneingeschränkt zugänglich sein. Dabei ist die Welt der abstrakten Ideen am Ende nicht völlig selbstgenügsam. Vor allem dann nicht, wenn diese Ideen als Inhalte in einem immerfort tätigen göttlichen Intellekt aufgefasst werden. Es gibt dann einen Zug zur Materie hin, einen Formungsdrang, gegen den die ›böse‹ Materie sich allerdings in der Regel sperrig verhält. Man erhält ein dualistisches Bild, dem zufolge auch die empirisch vorfindbaren Einzeldinge, nach ihrer Natur als geformte Materie, in einen materiellen Anteil und eine vorbildhafte Idee zerfallen. Die mit den Ideen gesetzte Perfektheitsnorm kann aus Platons Sicht von den raumzeitlichen Dingen nie ganz erreicht werden. Der Topos kam immer wieder gut an. Mit Leichtigkeit hat er beispielsweise den Sprung in die Spitze der deutschen Nationalliteratur geschafft: »Dem Herrlichsten, was auch der Geist empfangen, / Drängt immer fremd und fremder Stoff sich an«, lässt Goethe seine Faust-Figur über die widerständige Aufdringlichkeit des stofflichen Prinzips klagen.
Bei den Teppichen und den gewebten Textilien wären anfänglich leere oder als leer gedachte Flächen als die rohen Materien anzusehen? Durch geeignete Formung, wie sie einem mit Gestaltungswillen begabten Geist gelingt, müsste man an ihnen die Einheit eines von innerem Zusammenhalt geprägten Ganzen herstellen? Wer weiß. Vieles muss gedanklich möglich gewesen sein auf dem Boden eines Motivgeflechts, das sich, geographisch sehr weit erstreckt und den Inhalten nach überaus aufnahmefähig, aus Platonismus, nestorianischem Christentum, Manichäismus, verschiedenen islamischen Strömungen und ich weiß nicht was speiste. Ja, wir wissen zu wenig, wissen vor allem über den Volksglauben in der entfernteren Vergangenheit der teppicherzeugenden Regionen zu wenig. Ideengeschichtliche Vermutungen zu einer Bildsprache kann man immer anstellen. Wenn es nicht bei der Spekulation bleiben soll, muss man Indizien zu sammeln versuchen. Konkreter wird es in dieser Richtung gegen Ende von Abschnitt 25, »Mehr Abstraktion, und dazu: Licht-Metaphysik«. Dort werden sogenannte Stern-Kasaks thematisiert. Aber zugegeben, falls Sie hier wie dort nach eindeutigen Belegen verlangen: Fehlanzeige. Keine Knüpferin, keine Weberin kann mehr um Auskunft über etwaige tiefere Absichten gefragt werden. Die Zeiten der Feldforschung sind vorbei, was im neunzehnten Jahrhundert und früher entstandene Arbeiten angeht. Zum Nachlesen wurde nichts von erster Hand für spätere Rezipienten aufgeschrieben. 8. Primitivismus und Leere. Bei aller Modernität in der Ausstrahlung ist der Kelim Nr. 1 von S. 9 in seiner Gestaltung wohlorganisiert, und er besitzt einen ausgesprochen kultivierten Charakter. Kultiviertheit demnach. Bitte, das ist es eben! Wo bleibt denn, so könnte gefragt werden, die in Aussicht gestellte gewisse »Primitivität«? Wo haben wir z. B. ein Objekt, das die Konfrontation mit der einen großen, kraft-
voll vibrierenden Farbfläche herbeiführt? Vielleicht annähernd so wie bei manchen in den 1950er Jahren entstandenen Arbeiten von Mark Rothko (1903–1970), die weniger zart ausgefallen sind als vieles, was man später von ihm sah. Rothko, in seiner FarbfeldMalerei von Matisse stark beeinflusst, ist ein übergroßer Name. Die Größe sollte aber nicht zu Lähmungen führen. Daher zögere ich nicht, zu diesen nach Antwort drängenden Fragen ein weiteres Flachgewebe-Beispiel anzuführen, nicht gar so alt und entstanden im nordwestlichen Iran, Abb. 12 auf der nächsten Seite. Das eine Moment von Gewicht ist hier die zentrale Rotfläche. Das andere Moment ist die aggressiv wirkende Zackenrahmung, die an den Blick in einen weit aufgerissenen Schlund denken lässt, oder in die Glut eines mit Mühe eingehegten Feuers. Die Farbschwankungen im Rot tragen zur Steigerung der Dynamik bei und indizieren ein naturhaftes oder organisches Geschehen. Farbe, die an einen identifizierbaren gegenständlichen Träger gebunden wäre, strahlte nicht so leicht diese Macht aus. Denn stets würde man, und sei es unbewusst, das absehbare Ende des Trägerindividuums mitbedenken. Eine Feuersbrunst, die zahlreiche Häuser erfasst hat: Sie ist irgendwann ausgebrannt, wenn nur noch rauchende, aschige Überreste da sind, die keinem Feuer mehr Nahrung zu geben vermögen. Ein Vulkan, der rotglühende Lava ausspeit: Er wird irgendwann erloschen, der Lavastrom zu schwärzlichem Gestein erkaltet sein. Der andere Weg besteht darin, der reinen Qualität als solcher einen Auftritt zu verschaffen. Wird das gut gemacht, so hebt sich bald das Farbereignis, verselbständigt, über kontingente Einschränkungen hinweg und kann im Auge des Betrachters nahezu grenzenlose Kraft gewinnen.
25
◀
Abb. 12: Kelim, 338 × 137 cm, um 1900, NordwestPersien, Schahsavan-Arbeit. Die Schahsavanen sind ein Zusammenschluss mehrerer Stämme, die im 19. Jh. überwiegend nomadisch im nordwestlichen Teil Persiens und in der sich anschließenden südkaukasischen Region lebten.
◀
26
Abb. 13: Knüpfteppich Talisch-Met Haneh, 232 × 107 cm, Mitte 19. Jh., südöstlicher Kaukasus. Talisch oder Talysch ist eine ebenso wie das Talysch-Gebirge nach der Volksgruppe der Talyschen benannte Region, die im Westen des Kaspischen Meers an den Norden Irans grenzt.
Es ist vielleicht überflüssig zu sagen, doch sicherheitshalber: Ein Objekt wie Nr. 12 würde man, ebenso wie die vorhergehende Nummer, eher nicht dem Gebrauch auf dem Boden aussetzen. Sondern man würde es als Querformat an einer entsprechend großzügig bemessenen, freien weißen Wand plazieren. – Für welches Geld denn? Das Stück war bei einer in Wiesbaden im Jahr 2015 durchgeführten Auktion für moderate rund 3.500 Euro plus Aufgeld zu haben. Was es mit Auktionen, Hammerpreisen, Aufgeldern usw. genauer auf sich hat, erfahren Sie im Abschnitt 34, »Auktionsgeschehen«. Die Idee, eine monochrom-musterfreie Fläche in ihrer ganzen ungefilterten Direktheit zum Zentrum einer Komposition zu machen und dadurch, möglicherweise mit spirituellen Untertönen, die Leere aufzuwerten, ist nicht auf Flachgewebe beschränkt. Ich werde darauf noch einmal im Abschnitt 30, »Religiöse Signatur?«, eingehen. Bei Knüpfteppichen der Talisch-Region ist diese Konzeption weit verbreitet. Das Beispiel Nr. 13 ist typisch für die Provenienz. Im Vergleich mit Nr. 12 ist hier der expressive Charakter entschieden zurückgenommen zugunsten einer mit Sorgfalt ausgearbeiteten, große Harmonie ausstrahlenden Bordüre, bei der in der weißgrundigen Hauptbahn Rosetten und zu Vierergruppen zusammengestellte Würfelformen einander im gleichmäßigen Rhythmus eines zur Ruhe gekommenen Geschehens ablösen. In der erklärungsbedürftigen, in den Ursprungsregionen gebräuchlichen Bezeichnung Met Haneh für den Teppichtypus mit musterfreiem Innenfeld steckt wahrscheinlich das aus dem Arabischen entlehnte Wort hana für Haus. Met ist möglicherweise eine dialektale Variante von arabisch mayit für »tot«, »leblos«. Als Bezeichnungen für das leere Feld wären »lebloses Haus« und »totes Haus« zwar nachvollziehbar, sie klingen aber im Deutschen eindeutig zu negativ. Denn die leere Fläche ist hier unter positiven Vorzeichen zum Thema geworden, ja man muss sie sich der Idee nach in
die Nähe der Vollkommenheit gerückt denken. Eben darin hat man vermutlich eine Antwort auf die Frage zu suchen, warum bei Talisch- und anderen Met-Haneh-Teppichen häufig dann doch ins Feld ein einziges, winziges, farblich abweichendes Motiv eingeknüpft oder -gewebt ist: Die Makellosigkeit der monochromen Leere wird bewusst durchbrochen. Die Absicht, etwas Vollkommenes zu schaffen, und wäre es auch nur im Kleinen auf der Fläche eines Teppichs, sie kann als Hybris empfunden werden. 9. Farbstimmungen. Im Übergang zur Moderne, so hört man gleichfalls oft sagen, wird der Ausdruck von Stimmungen und Atmosphären, auch und gerade ohne jede gegenständliche Verankerung, zu einem wichtigen malerischen Bestreben. Zu erreichen beispielsweise durch den Einsatz einer bestimmten Farbpalette. Zwei Knüpfteppiche aus den Dörfern rund um den in Armenien gelegenen Sewan-See führen vor Augen, wie durch Realisierung desselben kompositorischen Grundschemas in unterschiedlichen Farbspektren radikal verschiedene atmosphärische Werte transportiert werden können, Abb. 14 und 15, die beiden nächsten Seiten. Diese Arbeiten repräsentieren eine unter der Bezeichnung »Sewan-Kasak« bekannte, von Sammlern sehr geschätzte Teppichgruppe. In beiden Fällen wird die Komposition auf der figürlichen Ebene von einer kraftvollen Schildform bestimmt. Für sie kann man einen rein ornamentalen Charakter annehmen. Denkbar ist allerdings auch, dass wir es hier mit einem Nachhall der eindrücklichen Wirkung realer Schilde zu tun haben. Also mit Verweisen auf eine Artefakt-Sorte, die für Stärke und entschlossene Verteidigungsbereitschaft steht; letztlich vielleicht mit Verweisen, in emblematischer Verdichtung, auf eben diese Eigenschaften selbst.
27
◀
Abb. 14: Knüpfteppich Sewan-Kasak, 231 × 162 cm, 19. Jh., südwestlicher Kaukasus. Die Stadt Kasak, der für die Ursprungsbezeichnung maßgebliche Ort, liegt in der Nähe des Sewan-Sees. Die Bezeichnung »Sewan-Kasak« hat sich speziell für solche Arbeiten der Kasak-Gruppe eingebürgert, die als Hauptmotiv die markante Schildform zeigen.
28
◀
Abb. 15: Knüpfteppich der Sewan-Gruppe, 271 × 185 cm, 19. Jh., ebenfalls südwestlicher Kaukasus.
29
Schilde gehörten jedenfalls zur Ausstattung der Männer von Rang in den Stämmen und Familienclans der Kaukasusvölker des neunzehnten Jahrhunderts. Der erhebliche Stellenwert geht z. B. aus entsprechenden Angaben in einem Reisebericht hervor, der unter dem Titel Vom Newastrand nach Samarkand 1889 in Wien von einem Maximilian Ritter von Proskowetz (1851–1898) publiziert wurde. Der Autor hebt eigens hervor, dass es ihm im Kaukasus gelungen sei, einige Helme und Schilde zu erwerben. Die Leute trennten sich offenbar nicht leicht davon. Unabhängig von denkbaren lebensweltlichen Anknüpfungspunkten ist bei den Sewan-Kasaks auch ein früher Mustertransfer von Anatolien in den Kaukasus eine Möglichkeit. Anatolische Teppiche mit schildähnlichen Medaillons sind jedenfalls ab dem sechzehnten Jahrhundert in verschiedenen Beispielen überliefert. Das Schildmotiv wird vielleicht irgendwann, wenn nicht von vornherein, für die Knüpferinnen und ebenso dann auch für die meisten Nutzer von Teppichen der betreffenden Gruppe nur noch einen ornamentalen Charakter besessen haben. Anders dagegen bei anderen Musterelementen. Im Inneren des oberen und unteren Segments der Schildformen, von denen aus die Gesamtkomposition organisiert ist, finden sich jeweils Strukturen, die an Blütenkelche in bunten Farben denken lassen, in hochgradig abstrahierter Ausführung. Es wird sich um eine durch nochmalige Begradigung zustande gekommene Reduktionsform dessen handeln, was wir im Feld des Gebetsteppichs Nr. 16, S. 32, in einem naturnäheren Darstellungsstil ausgeführt sehen. – Zu Gebetsteppichen ausführlicher der Abschnitt »Religiöse Signatur?«. – Bei Nr. 15 nehmen zusätzlich Baumformen von den Spitzen der seitlichen Flügel der hier ausnahmsweise grün umrandeten Schildform ihren Ausgang. Solche Baumstrukturen stellen ein bei dem Typus fast obligatorisches Element dar. Dieser Mischcharakter aus einerseits mutmaßlich ungegenständlich-ornamenta30
len und andererseits erkennbar gegenstandsbezogenen Musterbestandteilen ist ein typischer Zug vieler Arbeiten aus dörflicher Herstellung in der Sewan-Region, wie sie im neunzehnten Jahrhundert und früher von den Familien oftmals für den Eigenbedarf angefertigt wurden. 10. Lebenswelt und künstlerische Absicht. Wir sollten an dieser Stelle ein paar kurze Bemerkungen zur familiären Arbeitsteilung bei der Herstellung von Textilien einflechten, auch dazu. Es ist schließlich erklärungsbedürftig, dass seit einiger Zeit, wenn es um die Erzeugung von Teppichen geht, immer nur von Knüpferinnen in der weiblichen Form die Rede ist. Was hatten die Männer zu tun? In dörflich-familiären und stammesgesellschaftlichen Herstellungskontexten lagen das Knüpfen von Teppichen und das Weben von Textilien ohne Flor – von Kelims, Sumakhs und anderem – tatsächlich in den Händen von Frauen und Mädchen. Anders in städtischen Manufakturen, dort haben immer auch Männer geknüpft. Für das Färben der Wollgarne waren nach allem, was wir wissen, überwiegend Männer zuständig, nämlich entweder männliche Familienmitglieder oder professionelle Färbemeister im regionalen Umfeld. Vor dem Färben lag die Gewinnung der Wolle. Die Männer und Jungen der Familie oder der Sippe innerhalb des Stammesverbandes kümmerten sich um die Pferde und Kamele, die Schaf- und Ziegenherden sowie um die Schur der Tiere. Das Spinnen der Wolle zum Garn besorgten wiederum hauptsächlich die Frauen. Zurück zu den beiden Kasak-Teppichen und zu ihrer nächsten Verwandtschaft. Auf vielen Sewan-Kasaks begegnen uns jene vermutlich von Bäumen inspirierten Nebenformen. Wir kennen aus der Region aber auch Teppiche mit Baumdarstellungen, die viel klarere Bezüge zu realen Gehölzen aufweisen. Besonders einschlägig sind Arbeiten der sogenannten Baumkasak-Gruppe. Hier
werden Bäume, und zwar offenbar Nadelbäume, zum Hauptthema. Auch in diesen Fällen bleibt es dabei, dass der Darstellungscharakter insgesamt durch eine Tendenz zur Linearisierung geprägt ist, bei der die Formen kräftig vereinfacht werden, Abb. 17. Stellt man sich die Frage, welche im Kaukasus heimischen Nadelbäume auf die dort lebenden Menschen beeindruckend genug gewirkt haben könnten, dass sie ihnen Teppiche widmeten bis hin zur Herausbildung eines festen, tradierungsfähigen Typus, so verfällt man schnell auf die Nordmann-Tanne. Das ist die nach dem finnischen Botaniker Alexander Davidowitsch von Nordmann (1803–1866) benannte Spezies Abies nordmannina. Diese in Nordostanatolien, im westlichen Kaukasus und in Aserbaidschan als Wildform vertretene Abies-Spezies, deren jugendliche Zucht-Exemplare hierzulande als Weihnachtsbäume wohlbekannt sind, bietet mit bis zu fünfzig, sechzig Metern Höhe und entsprechenden Stammdurchmessern in der Tat ein eindrückliches Bild. Es scheint für die Deutung der Muster bei Bauern- und Nomadenteppichen, falls eine figurale Darstellungsabsicht erkennbar wird, generell vernünftig, zuerst nach denkbaren Anknüpfungspunkten in der jeweiligen Lebenswirklichkeit der Menschen zu fragen – soweit sich über diese vergangene Wirklichkeit heute noch Aufschlüsse gewinnen lassen. In den in Frage kommenden Regionen haben sich, was Naturthemen betrifft, innerhalb von einhundert bis zweihundert Jahren im Allgemeinen keine ganz großen Veränderungen hinsichtlich der wild vorkommenden Tier- und Pflanzenspezies ergeben, eher nur bei den Bestandszahlen. Insofern besitzen wir mit dem heute noch vorgefundenen Zustand eine Urteilsgrundlage. Auch ist auf elementarer Ebene von einer Konstanz in der emotionalen Empfänglichkeit der Menschen auszugehen. Was heute beeindruckt, erheitert, Sehnsüchte weckt, wird Generationen früher, soweit es auch damals zum Lebenszusammenhang gehör-
te, eine ähnliche emotionale Wirkung gehabt haben. Suche nach Anknüpfungspunkten in der jeweiligen Lebenssphäre? Ich will damit sagen: Warum sollten etwa die Leute in einem Kaukasus-Dorf Palmen oder Papageien haben darstellen wollen, wenn sie eher Tannen und Hühner kannten? Aber sie haben doch auch Drachen dargestellt? Ja, richtig, und Drachen existierten nicht einmal irgendwo, oder höchstens als fiktive Wesen. – Von Drachen-Darstellungen und dem, was es damit auf sich haben kann, werden ausführlich die Abschnitte 20 bis 25 dieses Buchs handeln. Darstellungen fiktiver Wesen: Der vorgeschlagene Ansatz will gar nicht ausschließen, dass mit so etwas zu rechnen ist; dass also viel mehr zum Thema werden konnte als das, was zum unmittelbaren Erfahrungshorizont gehörte. Vermittelt durch Fernhandel und andere kulturelle Einflussbahnen, durch spirituelle Bedürfnislagen oder irgendwelche besonderen Gegebenheiten können Verbindungen der Menschen zu fremden Lebenswirklichkeiten zustande gekommen sein und zu Vorstellungswelten, die über das Alltägliche weit hinausreichten. So etwas kann zu unerwarteten Darstellungsabsichten führen. Dies alles ist kein Problem, im Gegenteil. Es macht die Dinge höchstens interessanter. Nur sollte klar sein, dass es immer dann, wenn hypothetische Deutungen in dieser oder jener vom Nächstliegenden abweichenden Richtung vertreten werden, ein Desiderat ist, wenigstens ansatzweise auf nachvollziehbare Gründe dafür verwiesen zu werden.
31
◀
Abb. 16: Gebetsteppich Dagestan, 153 × 108 cm, 19. Jh., Nordost-Kaukasus. In der Region Dagestan befindet sich der Siedlungsschwerpunkt der Volksgruppe der Awaren, deren Widerstand gegen die russische Expansion im Kaukasus seit Beginn des 19. Jh.s von Tolstoj in seinem Roman Hadschi Murat zum Thema gemacht wurde. Heute ist Dagestan eine russische Republik, in der mit der Stadt Derbent die südlichste Stadt der Russischen Förderation liegt.
◀
32
Abb. 17: Baum-Kasak, 192 × 127 cm, 19. Jh., Gegend um die Stadt Kasak.
Was die Sewan-Kasaks angeht, so sind in beiden Fällen die Farben von hervorragender Qualität und Frische. Dabei könnten ihre atmosphärischen Werte und die durch sie hervorgerufenen Jahreszeiten-Impressionen kaum unterschiedlicher sein. Das Farbspektrum von Nr. 14 vermittelt besonders durch die starken Rot-Gelb-Weiß-Kontraste die Energie des Aufbruchs in einen strahlenden Frühsommertag, etwa zum Viehauftrieb auf eine blütenreiche Hochweide. Dagegen lässt das gedeckte, schwere Kolorit von Nr. 15 eher an eine Stimmung denken wie bei der kontemplativen Hingabe an die Stille eines Herbsttages, der sich zwischen mächtigen, dunkel bewaldeten Berggipfeln zum Abend neigt. Manchmal bekommt man den atmosphärischen Wechsel – quasi im Stile einer Modulation, das heißt in der Musik: eines bruchlosen Übergangs von einer Tonart in die andere – sogar innerhalb desselben Stücks vor Augen geführt, Abb. 18. In der unteren Hälfte des großen Flachgewebes, auf dem in wechselnden Farben ausgeführte Parallelogramme sich zu plastisch hervortretenden Spitzgiebelformen aneinanderreihen, dominiert eine von warmen Rotund Beigetönen geprägte Farbstimmung. Dagegen schiebt sich in der oberen Hälfte, bedingt durch eine Zunahme der Blauanteile, von rechts her ein Schwall man möchte fast sagen kälteren Wassers in die Wärme hinein; um zum Ende hin die Herrschaft wieder an die Warmphase abzugeben. Ob nicht intendierte Farbschwankungen dabei als aleatorischer Faktor mitgewirkt haben? Zufall, der allerdings als Aleatorik fest eingeplant wird, ist im zwanzigsten Jahrhundert in der westlichen Bild- und Tonkunst zu einem bedeutsamen Faktor geworden. Er spielt immer dann eine Rolle, wenn die partielle Verweigerung von absichtsvoller Formung zu einem künstlerischen Ziel wird. Hier, im Falle des Kelims, müssen wir eine mögliche Rolle des Zufalls bei der Ausformung des koloristischen Gesamtbildes offenlassen.
Im Übrigen gilt auch für den plastischen Charakter des Feldmusters, dass dieser sich durch die spezifische Art der Bedeckung des Grundes mit Reihen von Parallelogrammen in alternierender Rechts-Links-Ausrichtung schlicht als eine Nebenfolge eingestellt haben kann, ohne dass gezielt auf eine räumliche Wirkung hingearbeitet wurde. Man weiß es nicht. Mit dieser Einschränkung hinsichtlich des gedanklichen Vorlaufs ist die perspektivische Lesbarkeit des Stücks dazu geeignet, nochmals vor Augen zu führen, dass das Flächigkeitsprinzip, so wichtig es beim orientalischen Teppich ist, auch dort keine ausnahmslose Geltung besitzt. Es liegt nahe, den Kelim zu Werken der Op-Art um 1970 in Beziehung zu setzen. Bei Vasarelys Arbeit von 1973, Abb. 19, entscheidet sich von einem Augenblick auf den anderen, ob Sie den Eindruck haben, schräg von unten auf die dunklen Bodenplatten von vier Würfeln zu schauen – oder schräg von oben auf vier Deckflächen. Oft macht ein Lidschlag den Unterschied. Vergleichbare Umspringeffekte können Sie bei der Betrachtung des Kelimmusters feststellen. Natürlich wirkt der Teppich dabei viel spontaner. Nicht zuletzt setzen im unteren Querpaneel der sorgfältig ausgearbeiteten Zinnenbordüre einige Farbwerte, die aus der Reihe der gleichmäßig-reziproken Verschränkungen von satten Indigo- und Brauntönen mit Wollweiß herausspringen, ein verhaltenes Zeichen der Freiheit. Ansonsten sorgt die allseitige Einfassung des Feldes durch diese traditionell gestaltete Bordüre für eine gewisse Bändigung. Der Tanz der Farbflächen-Geometrie könnte sonst für ein auf Normalbetrieb eingestelltes Auge zu wild ausfallen.
33
◀
◀
34
Abb. 19: Victor Vasarely, O. T., 1973, Farbserigraphie, 55 × 41 cm.
Abb. 18: Kelim, 338 × 169 cm, um 1900, nordwestliches Persien.
11. Expression. Wir sind weiterhin damit beschäftigt, uns Wegmarken der malerischen Moderne und die entsprechenden begrifflichen Fixierungen zu vergegenwärtigen. Ziel dabei: der Abgleich mit Phänomenen, die uns bei ausgewählten alten Textilien des Orients begegnen. Die nächsten Stichworte nach Flächigkeit und Primitivismus, Impression und Optical sind: Expression, Abstraktion. Im kunstgeschichtlich informierten Rückblick auf die Entwicklung sagt man gewöhnlich: Mit dem Übergang zum malerischen Expressionismus kam es nicht mehr vorrangig auf die wirklichkeitsnahe bildliche Vorführung von außenweltlichen Konstellationen an. Vielmehr rückte nun der Ausdruck innenweltlicher, affektgetönter Überformungen solcher Konstellationen in den Fokus der künstlerischen Arbeit. Logischerweise darf dann ein Pferd in kühlem Blau daherkommen, ein Hund kann gelb sein und ein menschliches Gesicht in Grün dargestellt werden. Es gibt keine nach Maßgabe der empirischen Realitäten unpassenden Farben. Deshalb nicht, weil es eben von einem Subjekt so empfunden, von ihm mit dem geistigen Auge so gesehen, im Herzen in dieser Weise gefühlt werden könnte. Erst recht sollte es, der Logik des abstrakten Expressionismus entsprechend, derartige Freiheitsspielräume dort geben, wo eine weit in die Abstraktion getriebene Auffassung der Dinge die jeweiligen gegenständlichen Ausgangspunkte nur noch wie ein fernes Echo anklingen lässt. Betrachten wir unter diesen Leitgedanken einmal den recht alten anatolischen Kelim Nr. 20. Das aus konservatorischen Gründen auf Leinwand montierte Stück hat leider im Laufe der Zeiten den unteren Abschluss oder noch etwas mehr an Fläche verloren. Wir sehen im Zentrum drei gefiederte Großformen in vertikaler Ausrichtung, ausgeführt in Feuerrot und Stahlblau auf einem warm-sandfarbenen, von einer roten Zackenlinie eingefassten Grund. Es ist plausibel, die Zentralformen als
hochgradig abstrahierte Vogeldarstellungen zu interpretieren und dabei an Vögel zu denken, die sich mit weit ausgebreiteten Schwingen im Flug, sozusagen im Formationsflug, befinden. Der Einwand, dass es keine Vögel mit einem durchweg roten oder blauen Gefieder gebe, jedenfalls nicht in Anatolien, läuft bei dem hier erreichten Abstraktionsgrad ins Leere. Man beachte, was das Kolorit betrifft, die feine, sensibel in Rot gearbeitete Kontur der mittleren Vogelgestalt. Durch diese Konturierung wird nicht nur eine inhaltliche Verbindung der mittleren Form zu den beiden äußeren Individuen hergestellt, sondern zugleich dem an sich schweren Blauton eine dem Flugmodus angemessene optische Leichtigkeit mitgegeben. Es handelt sich um gestalterische Entscheidungen, die offenbar nicht extern auf Wirklichkeitstreue abzielten, sondern einer eigenen, internen Logik folgten. Optische Effekte, die sich durch die Einfassung von Musterpartien mit farblich kontrastierenden Konturlinien erzielen lassen, spielen bei orientalischen Textilien immer wieder eine Rolle. Geradezu Standard ist es, gelbe oder sandfarbene Partien mit einer schmalen roten Kontur zu versehen. Dies verändert dann den visuellen Eindruck in die Richtung eines warm schimmernden Goldtons. Sehr schön zu sehen ist ein solcher Effekt von optischer Farbmischung bei den mutmaßlichen Staubgefäßen der ebenso hypothetischen Großblütenformen im Feld von Nr. 73, S. 142. Bei Nr. 10 auf S. 22 kann man durch direkten Vergleich innerhalb des einen Stücks die optischen Auswirkungen von entweder gegebener oder fehlender Rot-Konturierung nachvollziehen. Betrachten Sie dazu die sandfarbenen Hakenrauten in der Feldmitte des Bordjalou-Kasaks. – Wenn man sich fragt, welche konkrete Art von Wissen, das aus den Teppichen zu ziehen wäre, Gauguin wohl im Sinn gehabt haben könnte, dann liegt in diesen Dingen vermutlich eine Teilantwort. 35
◀
Abb. 20: Kelim, 194 × 135 cm, auf Leinwand genäht, um 1800, Region um Kütahya. Kütahya ist eine Stadt im westlichen Anatolien, ungefähr auf halber Strecke zwischen Izmir und Ankara gelegen.
36
◀
◀
Abb. 21: Knüpfteppich Akstafa, 298 × 117 cm, 19. Jh., Ost-Kaukasus. Akstafa ist eine Ortschaft in einer östlich an die Kasak-Gegend sich anschließenden Region.
Abb. 22: Knüpfteppich Schirwan, 157 × 122 cm, 19. Jh., Ost-Kaukasus. Schirwan, früher ein eigenständiges Khanat, ist heute eine Region auf dem Staatsgebiet Aserbaidschans.
37
Kelims wie Nr. 20 wurden nach allem, was man weiß, von anatolischen Dorfbewohnern oft hergestellt, um nach dem Ableben von Familienangehörigen als Sargbedeckung auf dem Weg zur Begräbnisstätte Verwendung zu finden. Man subsumiert solche Arbeiten daher heute unter den Begriff des »Kultkelims«. Da in vielen Kulturen das Sterben als ein transitorischer Vorgang aufgefasst wurde und wird, bei dem die Seele sich vom Körper löst und, von den Beschwernissen des irdischen Daseins befreit, in ätherischer Leichtigkeit himmelwärts davonfliegt, können die Vogelformen sinnbildlich für eine entsprechende metaphysische Übergangsvorstellung stehen. Die markanten roten Zacken würden in diesem Kontext einen zinnenbewehrten Schutzwall andeuten, der den Wunsch nach einem behüteten, ungestörten Aufstieg der Seelen zum Ausdruck bringt. Die Deutung der Zentralformen als Vogelabstraktionen ist, wenn man nur genug Vergleichsmaterial gesehen hat, nicht übermäßig weit hergeholt. Das lehrt beispielsweise der Vergleich mit einem typischen Vertreter der kaukasischen Akstafa-Gruppe, Abb. 21. Zu Vergleichszwecken kann zusätzlich Nr. 22 herangezogen werden. Offenbar wurden bei der Vogelbeobachtung, ob auf dem eigenen Hof oder draußen in der Natur, als ein bestimmendes Merkmal der Vogelsilhouette entweder die im Flug breit ausgestellten Konturfedern wahrgenommen, besonders differenziert beim Gleitflug großer Greifvögel und Geier zu erkennen. Oder aber es konnten die am Boden im Imponiergestus hochgestellten und fächerartig aufgespreizten Schwanzfedern einen vergleichbaren Eindruck hinterlassen, etwa bei Hühnervögeln wie Trappen, KaukasusBirkhühnern und anderen, auch bei gefiederten Nutztieren natürlich und bei Ziergeflügel wie Pfauen. Bei der zeichnerischen Transformation der Silhouetten in eine weitgehend aus geraden Linien aufzubauende Reduktionsform war dieser Eindruck zu er38
halten. Darüber hinaus bot sich eine besondere Akzentuierung durch gesteigerten Parallelismus an. Im Fall von Nr. 21 kann es keinen Zweifel daran geben, dass es sich bei den paarweise auftretenden Motiven, von denen die zentralen Sternmedaillons gerahmt werden, um Vogeldarstellungen handelt. Im Übrigen ist hier in starkem Kontrast etwa zu Nr. 12 und Nr. 13 von S. 26 der Feldgrund dicht mit kleinen Sekundärformen gefüllt. Dies erreicht ein Ausmaß, das von manchem Betrachter vielleicht schon als störend empfunden wird. Immerhin ist aber die primäre Musterschicht aus Sternmedaillons und »AkstafaVögeln« im vorliegenden Fall so stark gegen die zweite Musterschicht abgehoben, dass diese wie ein ornamentales Grundrauschen in die Hintergrund-Wahrnehmung absinkt, sobald man sich dem Teppich aus einiger Entfernung widmet, wenn man so will: ihm aus der Distanz zuhört. Darin liegt ein Prinzip zahlreicher Kompositionen, die wir bei Teppichen sehen. Der Betrachter bekommt im Grunde nicht ein einziges Bild geboten. Es sind vielmehr je nach der zum Objekt eingenommenen räumlichen Distanz und der Art der visuellen Fokussierung mehrere Bilder im Spiel, die im Charakter sehr unterschiedlich sein können. Jedes Primär-, Sekundär- oder sogar Tertiärornament kann dabei, sofern es eine hinreichend ausgearbeitete Binnenstruktur aufweist, einen betrachtenswerten Kosmos für sich darstellen. Generell gilt, dass die Gestaltungsentscheidungen der Knüpferinnen und Weberinnen sich offenbar zwischen den Polen minimalistischer Neigungen einerseits und eines gewissen horror vacui, einer Furcht vor der leeren Fläche, andererseits bewegten. Wo sich regionale Traditionen stärker in der Richtung des einen oder des anderen der beiden Pole herausbildeten, konnte das den Knüpferinnen die immer wieder fälligen Entscheidungen leichter machen. Vielleicht führte es aber auch zu Situationen, in denen sich gelegentlich das Empfinden ein-
stellte, in den eigenen gestalterischen Möglichkeiten eingeschränkt zu sein. 12. Kelimschichten. Wir gehen noch einmal zurück zum Sepulkralkult. Am Ende der Grablegungszeremonie wurden die zur Bedeckung von Sarg oder Totenbahre verwendeten Kelims in vielen Fällen der örtlichen Moschee als Geschenke überlassen. In der Moschee dienten sie dann als Unterlage beim gemeinschaftlichen Gebet. Es ist leicht vorstellbar, dass über Jahre und Jahrzehnte viel mehr Kelims zusammenkamen, als sich in den Räumen nebeneinander ausbreiten ließen. Man hat die neu hinzukommenden Stücke in der Regel einfach über die schon vorhandenen, älteren gelegt. In der Folge haben sich in manchen Moscheen Anatoliens über Zeiträume von Jahrhunderten hinweg ganze Schichten, nicht leicht mehr zu durchdringen, von Gebetsunterlagen wie Sedimente ablagern können. Die einzelnen Horizonte der Schichten freizulegen muss sich in der Zeit der Entdeckungen wie eine aufregende Grabung angefühlt haben. Ich meine die Zeit, als im Westen der Kunstmarkt ein wachsendes Sammlerinteresse an alten türkischen Kelims verzeichnete und Gotteshäuser noch in den abgelegensten Winkeln der Türkei durchforstet wurden. Man ist versucht, in Anlehnung an die Paläontologie von so etwas wie einer Paläotapetologie zu sprechen. Falls Sie Spaß an Sprachspielen und Interesse an dem Begriffsfeld haben: Pálaios ist das griechische Wort für alt, tapetum, italienisch tappeto, das lateinische Wort für Teppich, insbesondere für den Wandteppich. Davon abgeleitet wird dann im Deutschen aus dem Wandbehang die allseits bekannte Tapete, die heute nichts mehr zum Aufhängen, sondern etwas zum Ankleistern ist. Viele Objekte der ältesten Horizonte in den Moscheen konnten während jener Jahre der ›Grabungen‹ gesichert und durch Überführung in die Sammlungen türkischer Museen vor dem absehbaren Untergang be-
wahrt werden. Oder sie wurden von Händlern aufgekauft und gelangten in private Sammlungen. Vor Ort brachte man den vermeintlichen alten Lumpen oft wenig Wertschätzung entgegen. ⋆
NORTMANN: Welches waren denn die Jahre, in denen alte anatolische Kelims auf einmal als Sammelobjekte interessant wurden? Was änderte sich in dieser Phase am Kunstmarkt, was in den Ursprungsregionen? MALTZAHN: Die Faszination antiker Kelims besteht für uns in der Abstraktion der Muster und Ornamente, deren geheimnisvolle Symbolik sich einer sicheren Deutung entzieht, und in den Farben, die oft in überraschender Weise miteinander kombiniert sind. Außerdem beeindrucken die kühnen Kompositionen. Die Entdeckung und Wertschätzung orientalischer Kelims in westlichen Ländern nahm Anfang der siebziger Jahre von England ihren Ausgang. Eine neue Generation von Händlern leistete dabei Pionierarbeit. 1977 fand in London die erste Kelimausstellung mit dem bezeichnenden Titel »The Undiscovered Kilim« statt. Sie wurde zum Fanal einer neuen Bewegung, die auch private Sammler ergriff. Im ›Swinging London‹ waren junge Leute aller Couleur – Maler, Architekten, Popstars – die ersten begeisterten Käufer. Die Sehgewohnheiten dieser Käufer der ersten Stunden waren von der modernen und auch der zeitgenössischen Kunst geprägt. In den Kelims fanden sie etwas damit Verwandtes. Bald traten auch Sammler aus Kontinentaleuropa und den USA auf den Plan. Plötzlich waren die bis dahin wenig beachteten Kelims im Fokus. Immer neue frühe Stücke tauchten auf. Als dem Ursprungsland, in dem sich viele antike Stücke erhalten hatten, kam der Türkei zunehmend zentrale Bedeutung für den Nachschub eines sich rasant entwickelnden Marktes zu. Dort wurden Kelims in Moscheen oder Dörfern gefunden, aufge39
kauft und exportiert. Wichtige Ausstellungen fanden statt und wurden in Katalogen dokumentiert. Es entstand eine umfangreiche Fachliteratur, die Aspekte der Kelims und Flachgewebe erforscht. Viele Fragen bleiben allerdings unbeantwortet, da der historischen Forschung ihr wichtigstes Werkzeug, nämlich schriftliche Quellennachrichten, die nicht existieren, fehlt. ⋆ ⋆
13. Teppichparadigma? Ein Museum kann ein Ort sein, an dem die Dinge zum Verstauben stillgestellt sind. Das gilt auch für Teppichmuseen. Bei ihnen leiten wegen der Natur der gezeigten Objekte die assoziativen Bahnen vielleicht erst recht zum Thema Staub hin. Insofern ist es erfreulich und gut für die gedankliche Entstaubung, dass seit einigen Jahren in der Kunstwissenschaft eine lebhafte Diskussion über die Bedeutung des »Teppichparadigmas« geführt wird. Dies auch im Zusammenhang mit aktuellen europäischen Ausstellungen, bei denen außereuropäische Textilien eine herausgehobene Rolle spielten. Es geht dabei um die tatsächliche oder angebliche Bedeutung jenes Paradigmas für die Entstehung der klassischen, nach-impressionistischen Moderne der westlichen Malerei. Der Begriff wurde für den kunstgeschichtlichen Kontext von dem USamerikanischen Kunsthistoriker Joseph Masheck geprägt. Vorher hatte ein Landsmann Mashecks, der Wissenschaftsphilosoph Thomas Kuhn (1922–1996), die Rede von Paradigmen und von wissenschaftlichen Revolutionen als Paradigmenwechseln in die Sprache der Wissenschaftstheorie eingeführt. Kuhn war mit dem Ziel angetreten, die Dynamiken der Wissenschaftsentwicklung besser beschreibbar zu machen. Der maßgebliche Text ist sein Buch The Structure of Scientific Revolutions von 1962. Es hat dann nicht lange gedauert, bis einige der Sprachregelungen Kuhns sich in die Ge40
meinsprache ausbreiten konnten und dort auf Dauer sesshaft wurden. Eine für unsere Sache einschlägige frühe Publikation Mashecks, erschienen zuerst im Jahrgang 51 des Arts Magazine von 1976, trägt den sprechenden Titel: »The Carpet Paradigm: Critical Prolegomena to a Theory of Flatness.« Immer wieder geht es um Flächigkeit. Der Autor identifiziert in seiner Studie unter anderem die Arts and Crafts-Bewegung des William Morris (1834–1896) als ein wichtiges Bindeglied zwischen Orientteppich-Rezeption auf der einen Seite und Herausbildung postimpressionistischer Programmatiken in der Malerei, bis hin zum Kubismus, auf der anderen Seite. Die aktuelle, auf Masheck Bezug nehmende kunsttheoretische Diskussion wirkt mitunter allerdings unbefriedigend: deshalb, weil die Kenntnis alter Teppiche und ihrer Entstehungsbedingungen bei den Diskussionsteilnehmern in der Regel begrenzt ist. Vermutlich wäre noch einiges an Erkenntnisfortschritten möglich, wenn mehr dafür getan würde, teppichkundliches Spezialwissen gezielt mit kunstgeschichtlichem Normalwissen zusammenzuführen. Wie dem auch sei, es soll in diesem Essay nicht an einem Mythos von der Geburt der malerischen Abstraktion aus dem Geist des Teppichparadigmas gestrickt werden. Es geht also nicht darum zu behaupten, die westliche Avantgarde sei im Wesentlichen bloß noch nachgezogen, nachdem der ansonsten seit ein paar Jahrhunderten ökonomisch und kulturell als abgehängt wahrgenommene Osten sich doch einmal in die Rolle der progressiveren Kraft gefunden und die schnellere Entwicklung hingelegt hätte. Als Bild drängt es sich auf: Der Westen wäre auf einen künstlerisch längst dahinrollenden Orientexpress nur noch aufgesprungen. Wirklich? Eher nicht so. Richtig ist, dass es, wie wir gesehen haben, einzelne Exponenten der klassischen malerischen Moderne wie Gauguin und Matisse gab, die beizeiten ein Au-
ge für die Qualitäten alter Textilien besaßen und sich davon bewusst haben inspirieren lassen. Richtig dürfte aber auch sein, dass ein lange vor 1900 bereits feststellbarer Zug etwa zur Abstraktion in der Formensprache des antiken orientalischen Teppichs sich nicht einer reflektierten künstlerischen Programmatik verdankte. Vielmehr wurde der Reduktions- und Abstraktionszug im Großen und Ganzen schlicht durch Besonderheiten des Mediums und die damit verbundenen, gesetzmäßigen Tendenzen im Herstellungsprozess angeschoben. Davon ist jedenfalls dort auszugehen, wo man sich beim Knüpfen oder Weben deutlich unterhalb des planerischen wie technischen Niveaus einer Werkstattproduktion bewegte, die auf gehobene bis höfische Ansprüche ausgerichtet war. Irgendwann werden Knüpferinnen dann wahrscheinlich auch gezielt auf jenem Gleis weitergemacht haben. Die einmal erfahrene Freude an einem freieren Spiel mit Formen und an der Hervorbringung kompositorisch überzeugender geometrischer Konfigurationen wird Lust auf mehr gemacht haben. Für die Minimierung des Naturalismus kann ansonsten das islamische Bilderverbot eine Rolle gespielt haben – eine Rolle, die sicher nach verschiedenen Regionen unterschiedlich zu gewichten ist. Bei dem fraglichen religiösen Komplex handelt es sich im Kern um ein in der Exegese der heiligen Schriften des Islam umstrittenes Theorem. Nach einer der Auslegungen soll die singuläre Stellung des islamischen Gottes als des Erschaffers aller Kreaturen nicht dadurch eine Relativierung erfahren, dass Menschen nach Belieben bildliche Darstellungen von Lebewesen erzeugen; nur Bilder von ihnen, aber immerhin. Im Hinblick auf die historische Teppichproduktion Anatoliens und deren Bilderarmut ist ein entsprechender religiöser Einfluss nicht unplausibel. Auf kaukasischen und persischen Textilien, und zwar auch auf solchen, die eindeutig nicht christlichen Ursprungs sind, werden aber viel zu oft Men-
schen, Tiere und Pflanzen gezeigt, wenn auch häufig in einem kräftigen Reduktionsstil, als dass man von einer flächendeckenden Wirksamkeit eines mit islamischer Religiosität verknüpften Abbildungsverbots ausgehen möchte. Nachdem ich es eben indirekt habe einfließen lassen: Ja, es hat im Orient den aus christlichen Milieus kommenden Anteil am Teppichwesen gegeben. Vor allem ist in diesem Zusammenhang an die Rolle von Armenierinnen und Armeniern in Herstellung und Handel zu erinnern. Später wird noch Gelegenheit dazu sein, weiter auf den christlich-armenischen Beitrag zur Teppichproduktion vergangener Jahrhunderte einzugehen. 14. Medium, Struktur, Material. Im vorigen Abschnitt war von den in einem bestimmten Darstellungsmedium angelegten Gesetzmäßigkeiten der bildsprachlichen Entwicklung die Rede. Dies ist der richtige Punkt, um über Teppichstrukturen zu sprechen, und auch nochmals über die Entstehungsbedingungen von Teppichen und verwandten Textilien. Das ist ohnehin schon deshalb überfällig, weil in früheren Abschnitten ohne besondere Rücksicht auf den Kenntnisstand von etwaigen Neuankömmlingen im Land der Teppiche zum Beispiel zwischen Knüpfteppichen und Flachgeweben unterschieden, von Kelims gesprochen wurde usw., alles zunächst ohne nähere Erklärung. Was dazu in den folgenden Absätzen nachgetragen wird, ist grundlegend. Für Kennerinnen und Kenner gehört es aber zum kleinen Einmaleins, sie können es ohne Verlust übergehen. Für die Herstellung von Knüpfteppichen und Flachgeweben wird ein Knüpf- bzw. Webstuhl verwendet. Der erste Schritt bei der Erzeugung eines Knüpfteppichs oder eines Gewebes ohne Flor ist das Aufspannen der Kettfäden, immer in enger Parallelführung zwischen den beiden horizontal gelagerten Balken des Knüpfstuhls. Ich spreche hier zunächst nur von aufrecht stehen41
den Knüpfstühlen. Bei diesen bildet ein Balken in horizontaler Lage in der Verbindung mit zwei senkrecht gestellten Balken und einem oberen Querbaum einen aufrechten Rahmen. Die von den Nomaden verwendeten liegenden, transportablen Knüpfvorrichtungen haben eine andere Konstruktion. Die stets sehr straff gespannten Kettfäden bestehen aus Wolle oder Baumwolle. Die Wolle kann Schafwolle oder Ziegenhaar sein. Unter Werkstattbedingungen kommt unter Umständen auch Seidenmaterial zum Einsatz. Je feiner bei einem Knüpfteppich die zu realisierende Knüpfung ausfallen soll, desto enger werden die Kettfäden nebeneinander gespannt. Wird das fertiggestellte Stück später von den Balken genommen, so bilden die Kettfaden-Enden, soweit sie lose belassen und nicht z. B. abgeflochten werden, die Fransen des Teppichs. – Abgeflochten: Eine für die ostkaukasische Kuba-Region typische Art der Kettfaden-Abflechtung können Sie sehen, wenn Sie einen genaueren Blick auf die Enden des ganz am Schluss in Abb. 79 gezeigten Teppichs werfen, S. 158. Der Musteraufbau beginnt bei einem Knüpfteppich mit Wollflor damit, dass von Wollknäueln, die in unterschiedlichen Färbungen vorbereitet wurden, Fäden abgenommen werden. Die Fäden werden mit je zwei, manchmal auch mehr Kettfäden in der Art verschlungen, wie man es in Abb. 23 sieht, und schließlich mit einem Messer abgetrennt. Je nach dem Kolorit, das zustande kommen soll, wird die Farbe aus einer Palette von vielleicht zehn Möglichkeiten, manchmal mehr, oft weniger, ausgewählt. Es gibt eine ganze Reihe unterschiedlicher Techniken, die für die Musterbildung maßgeblichen Fäden in das Grundgerüst einzuschlingen. Bei der Abbildung liegt nach der üblichen Terminologie links ein symmetrischer »türkischer« und daneben ein nach rechts offener, asymmetrischer »persischer« Einfach-Knoten vor. Bei analog ausgeführter Schlingung um vier Kettfäden wären es Doppel-Knoten. Bei den wie auch 42
Abb. 23: Zwei Arten, das Knüpfgarn um die Kettfäden zu schlingen. Der symmetrische Knoten ist für Anatolien und den Kaukasus typisch, während man z. B. bei turkmenischen Arbeiten sowohl den symmetrischen als auch den asymmetrischen Knoten findet, mit charakteristischen Unterschieden je nach Stammesgruppe. Zeichnungen aus F. Formenton, Das Buch der Orientteppiche, deutsche Sonderausg. ohne Ort und Jahr des italien. Originals Il libro del tappeto bei Mondadori, Mailand 1984, S. 52.
immer im Einzelfall in die Kettfäden eingebrachten Schlingen handelt es sich nie wirklich um geschlossene Knoten im landläufigen Sinn. Durch verschiedene Maßnahmen wird dafür gesorgt, dass die »Knoten« trotzdem immer sehr fest im Grundgewebe sitzen, dazu gleich mehr. Die beiden freien Enden des eingeknüpften Wollfadens weisen zur Knüpferin hin und ergeben, wenn irgendwann in einem letzten Arbeitsgang sämtliche Florfäden durch eine abschließende Schur auf gleiche Höhe gebracht sind, einen einzelnen Bildpunkt etwa in Rot, wenn man so will: ein einzelnes Rot-Pixel; falls Rot die gewählte Farbe war. Dabei haben die verwendeten Knüpfgarne ihre jeweilige Stärke, die durch Verzwirnung mehrerer dünner Fäden zustande gekommen ist, und bestimmen so die Größe der Bildpunkte. Weil die Kettfäden im realen Herstellungsfall viel enger zusammenstehen, als es in der schematischen Abbildung den Anschein hat, verschmelzen die beiden aus einem Knoten entspringenden Florfaden-Enden, die auch durch die Nachbarknoten noch kräftig zusammengeschoben werden, in der Wahrnehmung praktisch zu einem einzigen Farbpixel. Dieser Eintrag von Knoten in das von den Kettfäden aufgespannte Grundgerüst wiederholt sich nun für ein Kettfaden-Paar nach dem anderen, in einem quer nahezu über die Gesamtbreite des entstehenden Teppichs
hinweg erstreckten Arbeitsgang. Lediglich am linken und rechten Rand der Teppichbreite werden einige Kettfäden ausgespart. Man muss es eigens betonen, weil das Wissen um die hier geschilderte handwerkliche Technik in Europa nicht mehr selbstverständlich ist: Der Knüpfteppich ist kein mit dem Pinsel bunt bemaltes Gewebe. Schon gar nicht ist er ein irgendwie mit einem Muster bedruckter Stoff. Für Kenner ist das eine abwegige Vorstellung. Nein, sein Muster wird Querlinie für Querlinie aus einzelnen, durch Knoten erzeugten Bildpunkten in mühevoller Kleinarbeit aufgebaut. Der Lohn der Mühe ist am Ende eine Farbwirkung, die viel intensiver ausfallen kann, als es bei einem oberflächlichen Farbauftrag durch Bemalen der Fall wäre. Ist die Knüpferin mit einer fast über die gesamte Teppichbreite erstreckten Knotenreihe fertig geworden, so greift sie zu einem Metallkamm, der in einem abgeschrägten, länglichen Griff ausläuft. Der Abstand der Zinken ist beim gewählten Kamm so eingerichtet, dass diese sich lückenlos zwischen die Kettfäden schieben lassen. Damit schlägt die Knüpferin die Knoten der gerade fertiggestellten Reihe kräftig nach unten hin an. Sie schlägt sie entweder gegen eine bereits ausgeführte Knotenreihe an. Oder, soweit es sich noch um die allererste Reihe handelt, gegen ein Anfangssegment des Teppichs, das als feste Stütze der Konstruktion in das Grundgerüst eingewebt wurde. Die Funktion des Anfangsstücks ist es nicht, zum Muster beizutragen, sondern der Konstruktion Halt zu geben. Anschließend führt die Knüpferin einen langen, ebenfalls zum Muster nicht beitragenden Wollfaden, der als Schussfaden bezeichnet wird, die nächste Horizontallinie entlang in einem wellenförmigen Verlauf komplett über die Breite des Teppichs. Nämlich so, dass der Schussfaden einmal oberhalb des Kettfadens verläuft, sodann unterhalb des Nachbar-Kettfadens zu liegen kommt, schließlich wieder über den nächsten Kettfaden gelegt wird, und immer so wei-
ter. Es können auch mehrere Schüsse sein. Sie sind auch nicht immer nur aus Wolle, sondern können aus Baumwolle oder Seide bestehen. In jedem Fall wird nach dem Einziehen des Schusses oder der Schüsse noch einmal abschließend, bevor die Knüpferin sich die nächste Knotenreihe vornimmt, mit dem Kamm fest nach unten hin angeschlagen. Dadurch werden die florbildenden Fäden auf eine Linie gebracht und im Grundgewebe quasi eingeklemmt. Sie sitzen am Ende so fest, dass man sie nur mit Mühe herausziehen könnte. Durch die Konstruktion mit Schussfäden erhält der Teppich insgesamt seine feste Struktur. Das kann bis hin zu einem brettartigen Griff bei manchen Arbeiten mit vier oder fünf stark angeschlagenen Schüssen gehen. Zum Stichwort Grundgewebe: Unter dem vollständigen Grundgewebe versteht man das Gitter, welches durch die Verbindung aller Kettfäden mit den zu ihnen senkrecht verlaufenden Schüssen gebildet wird. Einen freien Blick auf diese elementare Art von Webstruktur gewähren, abgesehen von der Leinen-Hinterlegung, das flachgewebte untere Anfangssegment von Nr. 75 und die Flor-Fehlstellen des Teppichs, S. 147. Die Schussfäden können von der Seite her noch mehr oder weniger stark angezogen und gespannt werden. Dann verschieben sich unter dem ausgeübten Zug die Kettfäden gegeneinander. Es kommt zu einer stärker oder schwächer geschichteten Lagerung, statt dass die Fäden exakt in einer Ebene liegen. Die Unterseite des Teppichs erhält dadurch eine ripsartige Textur. Sie stellt in ihrer jeweiligen Ausprägung für Stücke aus bestimmten Herstellungsregionen ein typisches Erkennungsmerkmal dar. Aus der Art, wie die Schussfäden über die letzten seitlichen Kettfäden der Teppichbreite geschlungen werden, um durch Zurückführung in die andere Richtung für den nächsten Einschuss zur Verfügung zu stehen, und auch daraus, wie die äußeren, nicht mehr von Knoten besetzten Kettfäden mit 43
zusätzlich eingebrachten Kantenfäden umwickelt werden, ergibt sich die Machart der »Schirasi« des Teppichs. Das ist die Beschaffenheit seiner Kante, d. h. die Art der Seitenbefestigung. Das aus dem Persischen entlehnte Wort Schirasi, besser transkribiert eigentlich shirazeh, bezeichnet unter anderem die bei der Buchherstellung für eine Fadenheftung verwendeten Fäden. Auch der vollständige Bucheinband ist eine mögliche Bedeutung. Das Wort scheint sich im Persischen darüber hinaus auf verschiedene Sorten von Bändern zu beziehen: Bänder, die überall dort, wo Teile eines Ganzen zusammengefügt werden sollen, zur abschließenden Befestigung eingebracht werden. Durch das stetig wiederholte Anschlagen der Knoten nach unten erhalten die Florfäden eine leichte Abschrägung zu demjenigen Ende des Teppichs hin, bei dem die Knüpferin mit der Arbeit begonnen hat. Streicht man später mit der Handfläche über den fertigen Teppich, so wird diese Ausrichtung als »Strich« wahrnehmbar. Man bemerkt, dass die Hand entweder gegen den Strich oder mit ihm über das Stück gleitet. Dadurch ist, unabhängig von einer eventuellen richtungsgebundenen Organisation des Musters wie beispielsweise bei einem Kasak vom Baumteppich-Typus oder einem Gebetsteppich, für den Knüpfteppich eine objektive, in seiner Struktur verankerte Unterscheidung von oberem und unterem Ende definiert. Das untere Ende ist immer dasjenige, auf welches der Strich zuläuft. Das Unten der Struktur kann durchaus einmal das Oben des richtungsgebundenen Musters sein – wenn z. B. die Knüpferin bei einem Gebetsteppich mit dem Gebetsgiebel und der ihm angelagerten Bordürenpartie begonnen und sich dann beim Knüpfen entgegen der Musterrichtung vorangearbeitet hat. Für Abbildungszwecke muss man sich, wo es um Hochformat-Abbildungen geht, immer zwischen den beiden möglichen vertikalen Ausrichtungen des jeweiligen Stücks 44
entscheiden – falls nicht gerade ein richtungsgebundenes Muster einem die Entscheidung abnimmt. Bei vielen der in diesem Buch gezeigten Arbeiten erschien für den optischen Eindruck die eine Ausrichtung genauso gut wie die andere. In anderen Fällen wurde nach Maßgabe ästhetischer Gesichtspunkte subjektiv entschieden. Ist dann im Text mit Bezug auf einen abgebildeten Teppich vom oberen oder unteren Ende die Rede, so ist damit immer der Teil gemeint, der in der Abbildung oben bzw. unten zu sehen ist. Dies braucht nicht das strukturelle obere oder untere Ende des Teppichs zu sein. Ich erwähne das unter anderem deshalb, weil es durchaus einmal passieren kann, nicht nur in diesem Buch, dass eine Abbildung einer an sich großzügig angelegten Komposition die Frage aufwirft, warum das Muster zum unteren Ende hin gedrängter ausfällt als in der sonstigen Fläche. In solchen Fällen ist mit der Möglichkeit zu rechnen, dass es sich beim Unten der Abbildung um das strukturelle obere Ende des Teppichs handelt. Oft ist den Knüpferinnen gegen Ende ihrer Arbeit schlicht der Platz knapp geworden, dem durch den oberen Querbalken des Knüpfstuhls eine Grenze gezogen war. Dann waren sie sozusagen auf der Zielgeraden zum Platzsparen und zur Muster-Komprimierung genötigt. Je nachdem, welche Länge den über die Ebene des Grundgewebes hinausgreifenden Florfäden nach der abschließenden Schur noch belassen ist, hat der Flor eine gewisse Höhe. Oder es hat, anders gesagt, der Teppich seine jeweilige Dicke. Der Teppich ist also im Neuzustand bei weitem nicht so flach, wie es ein nur aus Kettfäden und Schüssen bestehendes Gewebe wäre. Unter Umständen weist ein Teppich eine Florhöhe von drei oder mehr Zentimetern auf und erhält dadurch einen beinahe fellartigen Charakter. Was sehr erwünscht sein kann, wenn das Stück dazu gedacht ist, bei einem Haus in rauher Gebirgslage die winterliche Boden- oder Wandkälte abzuhal-
ten. Dies gilt erst recht, wenn der Teppich als Schlafunterlage dienen soll. Durch Abnutzung bei einer überwiegenden Verwendung auf dem Boden, das heißt in der Regel: durch schlichtes Begehen oder Beliegen, auch durch Beknien bei einem Gebetsteppich, kann allerdings im Laufe von Jahren und Jahrzehnten so viel von der ursprünglichen Florhöhe eines Knüpfteppichs abgetragen werden, dass das Objekt irgendwann beinahe oder ganz auf die Höhe seines Grundgewebes reduziert ist. Es könnte dann bei flüchtigem Hinsehen für ein Flachgewebe gehalten werden. Ein Teppich ist natürlich umso anfälliger für Abnutzung, je weicher und je weniger widerstandsfähig die verwendete Florwolle ist. Spezialisten könnten eine Menge über unterschiedliche Wollqualitäten sagen. Über Qualitäten, die davon abhängen, von welchen Körperpartien der in welcher Jahreszeit geschorenen Tiere die Wolle genommen wurde, um welche Tierart und Rasse es sich handelte, wo die Tiere lebten und wie sie geweidet hatten. Zum Vergleich: Weinfreunde haben im Allgemeinen eine Vorstellung davon, dass Kennerschaft und Spezialisierung in diesem Feld auf erstaunliche Höhen gebracht werden können. Ich meine die Blind-Identifikation von Rebsorten und Jahrgängen, Terroirs und Kellern. Der Teppichfreund könnte analog über einen, sagen wir, betagten Tadschiken um 1930 zu phantasieren beginnen, der ein Leben lang mit Wolle und Teppichen gehandelt hat und nach kurzem Befühlen eines alten Stücks in der Lage wäre, vom Flormaterial zu sagen: Kommt von der Halspartie bucharischer Schafe, Frühjahrswolle, Tiere haben in den 1880er Jahren hauptsächlich Gras vom Westhang des X-Berges gefressen, und ich glaube, die meisten waren bei der Schur nicht älter als zwei Jahre. Das ist, wie gesagt, eine Phantasie. Dennoch, es hat nach allem, was man weiß, im Hinblick auf Wollqualitäten visuell-taktile Unterscheidungsfähigkeiten gegeben und wird sie in bestimmten Regionen der tep-
picherzeugenden Länder wahrscheinlich immer noch geben, die für urbanisierte Mitteleuropäer kaum vorstellbar sind. Diese Begrenztheit des Vorstellbaren ist normal. Normal bei Leuten, die Bekanntschaft mit Schafen nur aus der Distanz machen, am ehesten noch durch die Autofensterscheibe hindurch, wenn eine Herde die Landstraße quert. Irgendwann wird jene hochspezialisierte Kennerschaft, weil in den Teppichregionen ohne nennenswerten schriftlichen Widerhall ausgeübt, so lautlos verschwunden sein, als wäre sie nie dagewesen. Es wird wie in so vielen Fällen von Spezialisierungen, handwerklichen Fertigkeiten usw. laufen, denen am Ende in der Lebensform, die sich auf breiter Front durchsetzte, keine Bedeutung mehr zukam … irgendwie schade. Durch das bis hierhin gezeichnete Bild sollte eine halbwegs konkrete Vorstellung davon entstanden sein, was gemeint ist, wenn mit Blick auf Knüpfteppiche von deren Struktur und der materiellen Qualität gesprochen wird. Zu den für die Struktur bestimmenden Faktoren gehören dem Gesagten zufolge, zusammengefasst: Qualität und Art, inklusive Zwirnung, der verwendeten Garne, Typus der eingeknüpften Knoten, Anzahl der Knoten pro Flächeneinheit, Anzahl der Schüsse zwischen je zwei Knotenreihen und Art der Führung der Schussfäden sowie in Verbindung damit Grad der Schichtung des Grundgewebes, Art der Befestigung der seitlichen Kanten, Beschaffenheit der Endabschlüsse. Das Bild ist noch längst nicht vollständig. Schon deshalb nicht, weil überwiegend von der Erzeugung von Teppichen mit Flor die Rede war und von den dabei zur Anwendung kommenden Verfahrensweisen, aus denen sich die strukturelle Charakteristik des jeweiligen Stücks ergibt. Es fehlen noch die Flachgewebe, also die florlosen Teppiche. Auch bei Flachgeweben beginnt die Herstellung wie gehabt mit einem Grundgerüst aus eng nebeneinander gespannten Kettfäden. Für den Musteraufbau werden aber nicht Knoten in die Kettfäden eingebracht, 45
sondern es werden unterschiedlich gefärbte Garne im Prinzip wie Schussfäden durch die Reihe der Kettfäden geschlagen. Nur dass diese Fäden anders als wirkliche Schüsse in der Regel nicht über die gesamte Breite geführt werden, sondern lediglich so weit, wie es jeweils für ein Motiv nötig ist, wenn dieses mit der vorgesehenen Farbe in einer bestimmten horizontalen Erstreckung realisiert werden soll. Bei Flachgeweben sind demnach die eingeschossenen Fäden farbtragend und musterbildend, dazu sind es unter Umständen auch noch die Kettfäden. Dagegen sind beim Knüpfteppich die Schuss- ebenso wie die Kettfäden im Normalfall von der Florseite her nicht zu sehen, sondern werden durch die über dem Grundgewebe stehenden Florfäden verdeckt. Im Einzelnen gibt es auch bei der Arbeit am Flachgewebe eine beträchtliche Bandbreite von Möglichkeiten, im Rahmen der Basistechnik speziellere Verfahren anzuwenden. In der Folge konnte sich eine Fülle von Unterarten solcher Gewebe entwickeln. Dementsprechend wird unterschieden zwischen Schlitzkelims, Kelims mit verhängten Schüssen, Sumakhs, Sumakhs in reverse-Sumakh-Technik, Vernehs, Sillehs, Broschiergeweben usw. ⋆
NORTMANN: Ich bin nicht sicher, ob man jemandem, der sich noch nie Gedanken über die Struktur unterschiedlicher FlachgewebeArten gemacht hat, bloß mit Worten und ohne Zeichnungen zu Hilfe zu nehmen einen Begriff von der jeweiligen Machart vermitteln kann, auch von den Konsequenzen für Optik und Verwendbarkeit. Sie sprechen diese Dinge immer wieder in Objektbeschreibungen für Auktionskataloge an und werden daher am besten Auskunft geben können. MALTZAHN: Grundsätzlich gilt der Satz: Alle Kelims sind Flachgewebe, aber nicht alle Flachgewebe sind Kelims. Was ein Kelim ist, lässt sich leicht erklären. Von Schlitzke46
lims spricht man dann, wenn an den Stellen, wo zwei unterschiedlich farbige Schussfäden aufeinandertreffen, aber an diesen Stellen wieder umkehren, vertikale Schlitze entstehen. Da lange Schlitze die Stabilität des Gewebes beeinträchtigen würden, müssen die Schlitze kurz sein. Daraus ergibt sich zwangsläufig ein geometrischer Stil der Ornamente mit vielen rechten Winkeln und kleinen Farbblöcken. In Nordwestpersien und im Kaukasus wurden die Schlitze später manchmal vernäht, zum Beispiel bei den sehr feinen Kelims aus dem TalischGebiet. Bei den Kelims mit einfach und mit doppelt verhängten Schussfäden werden Schlitze durch die Webtechnik vermieden. Hier werden die aufeinandertreffenden Schüsse verbunden, etwa so, als wenn man beide Zeigefinger miteinander verhakt. Doppelt verhängte Schüsse ergeben auf der Rückseite des Gewebes kleine Erhöhungen, die in der Gesamtschau die Linien des Musters hervorheben. Diese stabilen Gewebe eignen sich als Fußbodenteppiche. Sumakhs sind eine ganz andere Art von Flachgeweben. Die musterbildenden Schussfäden werden zum Beispiel über drei Kettfäden geführt und dann über zwei Kettfäden zurückgeführt, und so weiter. Im Deutschen wird diese Technik, die ein dickeres und stabileres Gewebe hervorbringt, als »kehrseitiges umschlingendes Wickeln« bezeichnet. Der Terminus ist etwas unhandlich, versuchen Sie einmal, ihn im Zuge einer Beschreibung zu deklinieren. Deshalb verwendet man besser die Bezeichnung »SumakhTechnik«. Die Technik kommt in unterschiedlichen Ausführungen vor, zum Beispiel auch als »Reverse«-Sumakh. Weitaus komplizierter ist die Lage bei Broschiergeweben, weil es eine große Zahl verschiedener Broschiertechniken gibt. Für den Laien ist es schwierig, diese Techniken auseinanderzuhalten. Das lernt man erst im Laufe der Zeit, wenn man viele broschierte Flachgewebe untersucht hat. Der fast immer geometrische Stil der Muster von Flachge-
weben hängt immer eng mit der jeweiligen Technik zusammen, deren Gesetzmäßigkeiten das Muster angepasst werden muss. ⋆ ⋆
15. Herstellungskontexte, Gebrauchskontexte. Der Zweck dieses Essays besteht nicht darin, Leserinnen und Lesern umfassende Detailkenntnisse in textilstrukturellen Angelegenheiten zu vermitteln. Grundkenntnisse sind gut und nötig. Für alles Weitere kann auf thematisch anders ausgerichtete Spezialliteratur verwiesen werden, die bei Interesse unschwer auffindbar ist. Für uns soll im Moment der leitende Gesichtspunkt sein: Welche Konsequenzen haben technisch-strukturelle Bedingungen für Darstellungsstil und kompositorische Entwicklungen gehabt? Da handwerkliche Techniken ihrerseits sich oft, bis zu einem gewissen Grad, als ein Produkt von soziokulturellen Faktoren verstehen lassen, die in den jeweiligen Herstellungsumgebungen und Lebensformen ihren Sitz haben, möchte ich zwecks Vervollständigung des Bildes einige Basisinformationen auch zu diesem letzteren Komplex bereitstellen. Wem das alles im Ansatz zu materialistisch klingt, zu wenig idealistisch für ein im Raum stehendes ›Kunstwollen‹: Bei nüchterner Betrachtung war nicht alles, was zuweilen unter marxistischen Vorzeichen über das Verhältnis von ökonomischer Basis und kulturellem Überbau vertreten wurde, so ganz falsch. Jedenfalls ist die Berücksichtigung von Aspekten der Lebensform zugleich ein Anlass, die bisherige Einengung der Perspektive auf Teppiche ein Stück weit zurückzunehmen. Die unter künstlerischen oder ethnologischen Gesichtspunkten sammelwürdigen Textilien umfassen viel mehr Objektsorten als nur Teppiche. Wenn in einer Werkstatt geknüpft und gewebt wird, dann geht es allerdings in erster Linie um Teppiche; nicht um Taschen, Kameldecken, Vorratssäcke und dergleichen. In der Werkstatt findet eine kommerzielle
Produktion statt, die entweder an der allgemeinen Marktlage orientiert ist oder Aufträge wohlhabender Besteller bedienen will. So entstehen oft aufwendig vorausgeplante und technisch anspruchsvoll ausgeführte Arbeiten für den Boden oder die Wand. Gern werden die Kunden sie als Repräsentationsobjekte zur Hebung des eigenen Prestiges einsetzen. Wo dagegen Textilien in Familien und Familienverbänden entstanden sind, die ganz oder zeitweilig nomadisch lebten, kamen darüber hinaus auch völlig andere Verwendungszwecke in Betracht. Das betrifft etwa die verschiedenen turkmenischen Stammesgruppen des neunzehnten Jahrhunderts, des achtzehnten Jahrhunderts und früherer Zeiten, soweit unsere Kenntnis dahin zurückreicht. Man muss sich Zwecke vorstellen, die für die Lebensabläufe in solchen Gemeinschaften von elementarer Bedeutung waren. Gewiss, auch im turkmenischen Wohnzelt, der Jurte, spielte der sogenannte Hauptteppich, ostoghusisch chaly, eine gewichtige Rolle. Er wurde wohl vor allem bei besonderen Anlässen ausgelegt, bei Festen wie dem Hochzeitsfest, beim Empfang angesehener Stammesangehöriger und dergleichen. Das hatte dann durchaus Züge einer PrestigeAngelegenheit: Welcher Haushalt verfügt über den schönsten Fest- und Staatsteppich, in welcher Familie gelingen den Frauen die besten Arbeiten? In einer Jurte muss aber auch das tägliche Leben gelebt werden. Der dabei verwendete Hausrat muss untergebracht werden. Er muss vor allem so untergebracht werden können, dass die dafür vorzusehenden Behältnisse sich beim Weiterziehen den Tragetieren ohne Probleme aufbürden lassen. Man stellt in einer Jurte keinen kantigen, aus hartem Holz gefertigten Wäsche- oder Geschirrschrank auf. Welchem Kamel wollte man so etwas für einen stunden-, ja tagelangen Zug auf die Flanke binden? Es bedurfte weicher, schmiegsamer und zugleich robuster Behältnisse. So haben die Noma47
denkulturen in Vorder- und Zentralasien, in Anatolien, Aserbaidschan und dem Iran, einen ganzen Kanon von typisierten Vorratssäcken und Taschen unterschiedlicher Formate und ornamentaler Stile entwickelt, bis hin zu einer Reihe von regelrechten Spezialitäten. Mit Spezialitäten meine ich Behältnisse wie Salztaschen, zur Aufnahme des für das Vieh mitgeführten Lecksalzes; Scherentaschen, zur Aufbewahrung der bei der Schaf- und Ziegenschur verwendeten Scheren, und anderes. Es waren alles in allem fast immer kunstvoll gearbeitete Stücke, die in einem die Rolle von Einrichtungsgegenständen und von Transportbehältern spielen konnten. Bei der Herstellung kamen nicht nur unterschiedliche Techniken der Flachgewebe-Erzeugung zum Einsatz, sondern oft waren die Schauseiten auch in Knüpftechnik ausgeführt. Dementsprechend umfasste das Inventar der Gebrauchs-, Schmuck- und Repräsentationstextilien beispielsweise in einem gut ausgestatteten Turkmenen-Haushalt neben großen Haupt- und kleinen Sitzteppichen auch Türteppiche (Engsi) sowie Herdteppiche und verschiedene Taschenformate, wie etwa die sogenannten Tschowals. Das sind große Aufbewahrungstaschen mit einer Kelimrückseite und mit seitlich fest eingearbeiteten, geflochtenen Kordeln. Die Tschowals wurden mittels der Kordeln am inneren Holzgitter der Jurte fixiert und dienten dazu, den Hausrat oder Vorräte aufzunehmen. Weiter gab es Torben, das sind kleinere und ansonsten den Tschowals gut vergleichbare Taschen, die am unteren Ende oft mit aufwendig gearbeiteten Zierfransen besetzt waren. Noch kleinere Taschenformate werden Mafrasch oder Kap genannt. Ferner gehörten dazu: Ok Baschs oder Zeltstangenbehälter, deren Zweck es war, nach dem Abbau der Jurte über die Spitzen der gebündelten Dachstangen gezogen zu werden; zur Zier wie auch, ganz praktisch, zur Vermeidung von Verletzungen beim Transport. Es gab Pferdedecken und Sattelauflagen, man hatte Kamelflankenbehänge, 48
im Oghusischen Asmalyk genannt. Asmalyks wurden paarweise angefertigt und dienten vor allem als Schmuck für das Hochzeitskamel, auf dem die Braut bei der Hochzeitszeremonie zur Jurte ihres zukünftigen Mannes geführt wurde. Auch die sogenannten Khalyks und die größeren Kapunuks dürfen in dieser Aufzählung nicht fehlen. Sie waren ebenfalls zeremonielle Schmuckbehänge, mit einer ganz bestimmten, vorgeschriebenen Form. Ein nach dem heutigen Kenntnisstand vollständiges Verzeichnis findet sich auf den Seiten 86 ff. von Brigitte Rossetti, Die Turkmenen und ihre Teppiche. Eine ethnologische Studie, einer in Berlin 1992 erschienenen akademischen Qualifikationsarbeit im Fach Ethnologie. Bei den Turkmenen wurden auf den Schauseiten ihrer Textilien zumeist bestimmte Ornamente, die den Charakter von Stammesemblemen gehabt zu haben scheinen, in streng rhythmisierter Wiederholung gezeigt. Dies sind die sogenannten Göls oder Güls. Gül ist ein türkisches Wort für Rose. Wegen ihrer repetitiven Grundanlage und der vergleichsweise gering ausgeprägten Buntheit galten solche Arbeiten bei westlichen Sammlern über einen längeren Zeitraum als etwas langweilig. Zu düster im Kolorit, nicht lebendig genug. Sie trafen am Markt auf geringere Resonanz als Arbeiten anderer Provenienz. Die Literatur tat ein Übriges. In einem deutschen Teppichbuch aus den 1950er Jahren wird von turkmenischen Teppichen zu verstehen gegeben, dass sie langweilig seien wie die weiten Steppen, die ihre Urheber auf der Suche nach gutem Weideland durchwanderten: Die endlos langweilige Eintönigkeit der Steppe spiegle sich im Charakter dieser Arbeiten wider.
◀
Abb. 24: Hauptteppich mit kirschrotem Grund, Fragment, 110 × 164 cm, vor 1800, Zentralasien, salorisch. Die Saloren waren ein Turkmenen-Stamm wie die Tekke und andere.
◀
Abb. 25: Hauptteppich, 238 × 230 cm, vor 1800, sarykisch. Die Saryken sind ein weiterer Turkmenen-Stamm gewesen. – Vor der Versteigerung in Deutschland im Herbst 2010 befand sich der Teppich zuletzt im Besitz des Dritten Viscount Leverhulme.
49
◀
Abb. 25a: Detail aus Nr. 25.
◀
Abb. 26: Taschenfront mit auberginefarbenem Grund, 71 × 114 cm, erste Hälfte 19. Jh., PseudoTschaudor-Arbeit. In den unteren Abschluss-Streifen der Tasche, den sog. Elem, sind Baum- oder Strauchmotive eingeknüpft. – Die Ethnie, die man heute durch die Hilfsbezeichnung »PseudoTschaudoren« namentlich zu fixieren versucht, stellt eine nicht mehr genauer fassbare Untergruppe im Stammesverband der Tschaudor-Turkmenen dar.
50
◀
Abb. 27: Taschenfront, 60 × 110 cm, um 1800, Salor-Turkmenen. Die Farben sind besonders glühend, das Käuferinteresse war bei einer 2016 durchgeführten Auktion entsprechend groß: Schätzpreis 7 500 Euro, Zuschlag bei 26 000 Euro. Der niedrige bis ausgefallene Flor in den Gül-Zentren ist eine Folge von Korrosion des rubinroten Seidenmaterials, das dort beim Knüpfen verwendet wurde.
◀
Abb. 28: Tasche mit geknüpfter Front und langen Zierfransen, 43 × 107 cm, Mitte 19. Jh., Tekke-Turkmenen. Ausnahmsweise sind die seitlichen Aufhängekordeln erhalten. Oft wurden diese irgendwann, wenn nicht schon durch Verschleiß verlorengegangen, von Händlern abgeschnitten, ebenso wie die flachgewebten Rückseiten: in der Erwartung, dass die Schauseiten der Taschen sich dann besser als »Teppiche« verkaufen ließen.
51
◀
Abb. 29: Flachgewebte Pferde-Decke, 167 × 118 cm, Ende 19. Jh., nicht turkmenisch, sondern von der anderen Seite des Kaspischen Meeres: eine Schahsavan-Arbeit aus der Region Moghan. Die Moghan- oder Mugansteppe ist eine ausgedehnte, für die Weidewirtschaft gut geeignete Ebene im südöstlichen Kaukasus zwischen Talysch-Gebirge und Kaspischem Meer. – Die beiden schmal-rechteckigen Laschen der Decke waren dazu bestimmt, um den Hals des Reittieres gelegt zu werden.
52
◀
Abb. 30: Asmalyk, d. i. ein Kamelflanken-Behang, 75 × 124 cm, 19. Jh., Jomud-Turkmenen. Diese Arbeiten wurden, ihrem Verwendungszweck entsprechend, normalerweise in Paaren hergestellt. Manchmal haben sich beide zusammengehörigen Stücke bis heute erhalten.
◀
Abb. 31: Blumen-Asmalyk, 131 × 61 × 89 cm, vor 1800, Saryk-Turkmenen. Die Dominanz von Weiß ist für ein turkmenisches Textil ungewöhnlich. Wir sehen sie vermutlich nur bei solchen Arbeiten, die eigens für den Hochzeitszug angefertigt wurden. In der Hochzeitskarawane trug ein reich mit Asmalyks und weiteren textilen Schaustücken geschmücktes Kamel die Sänfte mit der Braut.
53
Aus dem neunzehnten Jahrhundert wird von einem französischen Adligen eine Teppich-Anekdote überliefert, die in einem Roman von Joris-Karl Huysmans (1848– 1907), Gegen den Strich von 1884, verarbeitet wurde. Sie findet auch bei Masheck Erwähnung. Dem Adligen soll sein orientalischer Teppich zu flach und zu wenig lebhaft erschienen sein. Er habe daraufhin für viel Geld ein lebendes Exemplar einer seltenen Schildkrötenspezies erstanden: um das Tier immer wieder gemächlich über den Teppich laufen zu sehen. So sollte dem Textil mit einer maßvollen Dosis Vitalität aufgeholfen werden. Man fragt sich, ob es womöglich eine turkmenische Arbeit war, wie im Herrenhaus der Viscounts Leverhulme. Irgendwann ist auch das Ensemble aus Teppich und herumkriechender Schildkröte im Naturzustand nicht mehr Reiz genug gewesen. Der reale Comte de MontesquiouFezensac, im Roman ist aus ihm ein fiktiver letzter Herzog des Hauses Floressas des Esseintes geworden, soll ihren Panzer mit Edelsteinen haben besetzen lassen. Das Tier überlebte es nicht lang. Wie blind muss der Comte gewesen sein? Oder es lag einfach an den schlechten Lichtverhältnissen in seinen Gemächern, bei Huysmans: »In eine Ecke seines Speisezimmers gepresst, betrachtete Des Esseintes nun die Schildkröte, die im Halbdunkel funkelte.« Die Wahrnehmung hat sich seit den 1960er Jahren gründlich geändert. Es entwickelte sich eine zunehmende Wertschätzung für die bei guten turkmenischen Arbeiten realisierten und oft erst im hellen Licht, sicherlich nicht im altmodischen Halbdunkel eines gräflichen Salons, zu voller Wirkung kommenden Farbqualitäten. Die gewisse Zurückhaltung in der Ausschöpfung des Farbspektrums, eine erkennbare Neigung dahin, die Effekte geringfügiger farblicher Nuancierungen auszuloten (wie wir es in einem malerischen Kontext auch bei Ickrath sehen, Abb. 63 auf S. 120), man lernte sie als Folge von offenbar bewusst gefällten Gestaltungsentscheidungen innerhalb der Her54
stellerkultur zu respektieren. Die Menschen dort strebten nun einmal nicht die Buntheit der kaukasischen Dorfteppiche oder anatolischer Kelims an. Bei den Farben dominieren Töne des RotBraun-Spektrums. Sie können von sattem Kirschrot über Mahagoni bis hin zu Auberginetönen reichen, oft von Stamm zu Stamm in charakteristisch unterschiedlicher Gewichtung und Abwandlung. Pauschal kann gesagt werden, dass uns die Turkmenen vergangener Jahrhunderte sicherlich einige der schönsten, am tiefsten glühenden Rottöne geschenkt haben, welche die visuelle Erfahrung überhaupt kennt – Farben, von denen es sehr fraglich ist, ob wir sie jemals wieder neu erzeugt sehen werden. Denn das alte Färbewissen ist weitgehend verlorengegangen. Mehr darüber gibt es in den Abschnitten 17 bis 19 zu sagen, wo Farben ausführlicher thematisiert werden. Aber nicht nur das Färbewissen ist verloren. Die turkmenischen Stammeskulturen sind insgesamt untergegangen. Was uns bleibt, sind die von ihnen hervorgebrachten textilen Werke. 16. Ornament und Rapport. Wie hat eine mit ihrem Stamm nomadisch lebende turkmenische Knüpferin des neunzehnten Jahrhunderts an Textilien gearbeitet? Wie machte es ihre auf der anderen Seite des Kaspischen Meeres in einem der Dörfer des Kaukasus sesshaft lebende Zeitgenossin? Beide waren mit Sicherheit, wo es um irgendwelche für die innerfamiliäre Verwendung bestimmten oder auch für kleinkommerzielle Zwecke in Arbeit genommenen Textilien ging, deutlich anders am Werk als unter Manufaktur-Bedingungen tätige Knüpferinnen. Man muss es sich atmosphärisch ungefähr so vorstellen: Die Mutter ist die erfahrene Knüpferin, sie macht bei einem neuen Stück den Anfang und hat das Sagen. Die älteste Tochter schaut sich einiges ab und arbeitet irgendwann gut mit. Der Knüpfstuhl ist breit genug, dass zwei Frauen nebeneinander tätig sein können. Geknüpft wird im
Wesentlichen aus dem Kopf. Die Großmütter geizen dabei nicht mit vom Herdfeuer aus erteilten Ratschlägen. Sie wissen sehr gut, welche Muster sie einst unter den Händen hatten, als ihre Finger noch geschmeidiger arbeiteten. Jon Thompson hat es einmal anhand eines musikalischen Vergleichs anschaulich zu machen versucht: »Teppiche, die von Nomaden und Stammesfrauen geknüpft worden sind, haben den Charakter von Volksmusik. Sobald sie alt genug sind, lernen die Mädchen die Muster wie ein Volkslied von ihren Müttern. Nichts ist schriftlich festgelegt, alles wird mündlich überliefert.« Die Formulierungen finden sich in Thompson, Carpet Magic, 1983; hier S. 16 f. der deutschen Ausgabe Orientteppiche: Aus den Zelten, Häusern und Werkstätten Asiens von 1990. Bei Teppichen, die unter Werkstattbedingungen hergestellt werden, können sich die Ausführenden bis heute in vielen Fällen an einer auf Karton präzise entworfenen Darstellung orientieren. Der Karton dient beim Knüpfen als Vorlage. Oft wird im Hinblick auf die beim anspruchsvollen, gut betuchten Kunden unterstellte Qualitätserwartung eine sehr hohe Knotenzahl pro Flächeneinheit realisiert. Infolge der Feinheit der Knüpfung lassen sich dann Muster ausführen, bei denen gerundete Konturen und in eleganten Bögen und Umschwüngen geführte Ranken, Blätter und dergleichen das Bild prägen. Bei den Bordüren wird Wert auf eine vorausschauende Gestaltung gelegt. Es soll gewährleistet sein, dass in den Ecken, wo Längs- und Querbordüren rechtwinklig aufeinandertreffen, keine Brüche im Bordürenmuster entstehen. Wo dagegen die Entstehung von Teppichen mehr oder weniger eine FamilienAngelegenheit ist, da sind die Knüpferinnen viel stärker als die in der Werkstatt arbeitenden Frauen und Männer auf Gedächtnis und Vorstellungskraft angewiesen. Das intendierte Muster muss, auch mit einer ganz bestimmten Farbwahl, gedanklich vorweggenommen und die Antizipation über vie-
le Arbeitsschritte hinweg aufrechterhalten werden. Es bestehen dabei aber durchaus Spielräume für ein spontanes Umdisponieren. Die Erinnerung an vorher gesehene, ähnliche Muster sorgt für die Fortführung einer unter Umständen sehr weit in die Vergangenheit zurückreichenden Tradition der Form- und Farbgebung. Mitunter werden stark abgenutzte, verschlissene Stücke, die nach Bedarfslage durch etwas Neues ersetzt werden sollten, als ungefähre Vorbilder zur Hand gewesen sein. Hinsichtlich der Durchführung muss man sich einen entscheidenden Unterschied zur Malerei klarmachen. Nehmen Sie an, ein figurativ arbeitender Maler will eine in Öl auszuführende Darstellung eines bestimmten Stücks Vegetation auf einen hochformatigen Malgrund bringen. Genauer ist die Absicht, sagen wir, eine Kaukasus-Tanne abzubilden – also nichts anderes als die bereits erwähnte und auf den mitteleuropäischen Weihnachtsbaum-Märkten wohlbekannte Nordmann-Tanne. Zuerst einmal kann der Maler mit wenigen entschlossenen Pinselstrichen den Stamm bis hinauf in die Spitze entwerfen. Wenn damit schon annähernd die obere Bildgrenze erreicht ist, kann anschließend die Ausarbeitung des Astwerks und Nadelkleids in Angriff genommen werden. Später kommt am Fuß des Baumes noch die Strauch- und Krautschicht an die Reihe. Beim Knüpfen lässt der gewählte Darstellungsmodus ein solches Hin- und Herspringen während des Bildakts nicht zu. Wenn die Knüpferin, die einen Baum darstellen möchte, oben an der Baumspitze angelangt ist, führt für sie kein Weg mehr zurück nach unten. Sie musste nämlich ihr Bild in einer Knotenreihe nach der anderen jeweils über die gesamte Breite des entstehenden Teppichs von ganz unten aufbauen. Klar ist, dass sie dabei immer schon mitzubedenken hatte, welche Nebenmotive sie Horizontallinie für Horizontallinie in der Nachbarschaft der zentralen Struktur und gleichzeitig mit dieser entstehen lassen wollte. 55
Das stellt beim Knüpfen aus dem Kopf eine bemerkenswerte kognitive Organisationsleistung dar. Die Knüpferin führt nicht im Feld des Teppichs zunächst die Darstellung eines bestimmten Objekts, auf das sie fokussiert wäre, in der räumlichen Entfaltung nach oben zu Ende und wendet sich erst dann dem nächsten Objekt zu. Nein, sie muss jederzeit die schichtweise durchzuführende, synchrone Entwicklung einer ganzen Reihe von Motiven im Blick haben. Zusätzlich muss sie auch noch Aufmerksamkeit auf die Bordürengestaltung verwenden. Da überlässt sie es, um die Komplexität halbwegs zu begrenzen, gern auch einfach dem Zufall, ob das längsseitige Bordürenmuster sich im Fortgang der Arbeit so entwickeln wird, dass man es mit dem zum Ende hin fälligen Richtungswechsel bruchlos in die obere Querbahn fortsetzen kann. Wenn der Zufall keine passablen Ecklösungen hergab, scheint der beim senkrechten Aufeinandertreffen von Bordürenbahnen am oberen Teppichende entstehende Musterbruch, zu bemerken etwa in Abb. 33 auf S. 60, gelassen akzeptiert worden zu sein. Wie steht es mit technischer Komplexität? Nun, die Knüpfung braucht nicht immer die feinste und regelmäßigste zu sein. Das spart Herstellungszeit. Was kein unwichtiger Punkt ist, wenn der neue Teppich schon bald, möglichst noch vor dem ersten Wintereinbruch, fertig sein soll. Wo die Knüpfung grob ist, da werden die Linien eckiger, fallen die Konturen öfter getreppt als gerundet aus. Es tritt ein herber, von Rektilinearität geprägter Stil an die Stelle der durchorganisierten, leichtfüßigen, kurvolinearen Eleganz, auf die sich so oft der Ehrgeiz der Manufakturen gerichtet hat. Der charakteristische, horizontalschichtige Herstellungsprozess, er lässt sich gelegentlich am abgeschlossen vorliegenden Produkt noch nachvollziehen. Nämlich dann, wenn eine Knüpferin unterwegs ihre MusterDisposition umgestoßen hat, zum Beispiel gegen Ende der Arbeit an einem Teppich, 56
wie wir das am oberen Feldende von Nr. 52 auf S. 94 bei genauem Hinschauen erkennen. Hier ist etwas geschehen, das unter Werkstatt-Bedingungen ausgeschlossen wäre. Die Knüpferin hat sich offenbar in der Endphase ihrer Arbeit am Feldmuster dafür entschieden, die begonnenen Darstellungen von Vierbeinern nicht weiterzuführen. Statt dessen wollte sie das Feld mit einem horizontal durchlaufenden, nur mit Oktogonen besetzten Musterstreifen zum Abschluss bringen. In der Folge sehen wir drei kopflose Tierdarstellungen. Alles, was oberhalb der Rümpfe noch kommen müsste, erscheint wie abgetrennt durch einen einzigen, über die ganze Feldbreite gezogenen Schnitt. Es leuchtet ein, dass sich unter den geschilderten Bedingungen: Lage für Lage ist aus dem Kopf ein Gesamtmuster aufzubauen, Spielräume für Zufälle wie für spontane Abweichungen vom vorgefassten kompositorischen Konzept bestehen dabei, eine Tendenz zur Reduktion, zur Vereinfachung und Begradigung von Formen geltend machte. Das bedeutete: geometrische Stilisierung der Motive. Das Endresultat konnte sein: eine weit vorangetriebene Abstraktion. Eine Abfolge freier, mehr oder weniger schwungvoll ausgeführter Pinselstriche ist eine Sache. Die streng sequentiell ablaufende Füllung einer Matrix mit Farbpixeln ist eine ganz andere Sache, und sie bringt naturgemäß andere Bildergebnisse hervor. Dementsprechend war es bei den Teppichen eine in der Herstellungstechnik präformierte Entwicklung, dass sich in vielen Fällen ein eigentümlicher Misch-Charakter aus Rustikalitäts- und Modernitätsanmutung einstellte. Wo dagegen der Versuch unternommen wurde, im Teppichmedium den malerischen Duktus nachzustellen und sogenannte Bildteppiche anzufertigen, wirken die Resultate oft unglücklich. Es kommt dabei leicht ein Eindruck auf wie bei einer fehlbesetzten Rolle im Schauspiel: Darstellungsmedium und darstellerische Absicht wollen nicht zueinander passen.
Weitere Konsequenzen der Herstellungsbedingungen? Häufig geht die Tendenz dahin, solche Musterelemente zu verwenden und für sie Abmessungen vorzusehen, bei denen eine allzu weite Ausdehnung in vertikaler Richtung nicht einkalkuliert zu werden braucht. Sonst werden die Dinge beim Knüpfen aus dem Kopf zu komplex. Statt dessen lieber: Wiederholung. Die Aufgabe besteht darin, die Fläche bis zum oberen Querbalken des Knüpfstuhls hin auszufüllen. Da bietet es sich an, gut überschaubare, in sich abgeschlossene Ornamente, die im Zuge der weiter unten ausgeführten Arbeit bereits realisiert wurden, nach oben hin sich wiederholen zu lassen; die Wiederholungen aber gern mit Variationen im Kolorit und in Details der Formgebung. Die Idee des Musterrapports ist geboren. Nicht als Element einer, wenn man hoch greifen wollte, theoriegetriebenen ästhetischen Programmatik, sondern weil der Herstellungsmodus darauf zulief. Aus der Not lässt sich eine Tugend machen. Die Knüpferin kann jetzt einen Großteil ihres gestalterischen Einfallsreichtums darauf verwenden, die für mehrfache Vorkommnisse ausgewählten Grundformen in unterschiedlichen Farbstellungen zu präsentieren. Ein schönes Beispiel für die offensichtliche Lust an der Farbvariation im Rahmen der Ausführung eines Rapportmusters ist neben manchem, das wir bereits gezeigt haben, Nr. 32. Bei Nr. 33 äußert sich dieselbe Lust an der Variation eher bei der Gestaltung der mutmaßlichen Blüten- und Blütenkelchformen in der weißen und der rotgrundigen Hauptbordüre, während im Feld die ruhige Dominanz eines bei Teppichen selten gesehenen Azurblaus den Blick auf sich zieht. Den Zug hin zur Formenreduktion, schließlich sogar zu gewagt erscheinenden Abstraktionen, das Ganze gepaart mit einer Tendenz zur Hervorbringung von Mustern mit Rapportcharakter, man kann ihn für die historische Teppichkunst des Kaukasus sehr gut anhand des Übergangs von bestimmten Werkstattarbeiten zu Teppichen
mit dörflichem Charakter studieren. Das werden wir auch bald tun, von Abschnitt 24 an. Dabei werden wir uns auf eine Fallgruppe konzentrieren, bei der am Beginn der Entwicklungen vermutlich ziemlich naturalistisch angelegte Drachendarstellungen in verschiedenen Darstellungsmedien gestanden haben. Am Ende wird man die Genese einer ganzen Typenklasse kaukasischer Dorfteppiche verstanden haben. An diesen Typen haben die Knüpferinnen teils bis zum ausgehenden neunzehnten Jahrhundert festgehalten. Man stellt eine erstaunliche Beharrlichkeit fest, wenn man Arbeiten unterschiedlichen Alters miteinander vergleicht. 17. Verrückt nach Farben. Es ist beinahe nicht möglich, einen Teppich wie Nr. 32 zu betrachten, ohne das Bedürfnis zu empfinden, über Farben zu sprechen. Daher will ich zunächst zu diesem Thema zurückkehren. Auch sollte die historische Tiefendimension der Farbthematik ein Stück weit ausgeleuchtet werden. Ein guter Teppich, er sollte kräftige, lebhafte Farben haben wie jener Gendje oder der Fachralo-Kasak, oder? – Aber wird er dann nicht aufdringlich, schiebt sich vielleicht zu sehr in den Vordergrund? – Und wenn er nun genau dorthin gehört, in den Vordergrund? Es war ein Sonderweg des westlichen Einrichtungsgeschmacks, im Großen und Ganzen eine bedauerlich einseitige Entwicklung, dass während ausgedehnter Strecken des zwanzigsten Jahrhunderts gedeckten Farben und zurückhaltenden Koloriten ohne starke Kontraste der Vorzug gegeben wurde. Man kann sagen, diese Präferenz wurde geradezu als ein Ausweis von Kultiviertheit und gehobenem ästhetischen Empfinden gewertet.
57
◀
Abb. 32: Knüpfteppich Gendje, 194 × 168 cm, Mitte 19. Jh., zentraler Kaukasus. Gəncə, ins Deutsche als Gendje oder Gändschä transkribiert, ist eine ungefähr auf halber Strecke zwischen Tiflis und Baku gelegene Großstadt des heutigen Aserbaidschan. Zu Zeiten der Sowjetunion hieß der Ort Kirowabad, davor wurde er unter russischer Herrschaft Elisavetpol oder Jelisawetpol genannt.
58
◀
Abb. 32a: Detail aus Nr. 32.
59
◀
Abb. 33: Knüpfteppich Fachralo-Kasak, 290 × 135 cm, Mitte 19. Jh., südwestlicher Kaukasus. Fachralo ist eine Ortschaft in der Kasak-Region.
60
Das ist so weit in Ordnung, wie darin ein Abwehrreflex gegenüber dem zum Ausdruck kommt, was einfach zu viel ist: gegenüber der Aufdringlichkeit greller, typischerweise synthetischer Starkfarben, wenn diese aus allen Ecken nach Beachtung schreien. Von optischem Marktgeschrei kann bei den Farbqualitäten, die uns in diesem Buch beschäftigen, aber nicht die Rede sein. Ein markantes Textil verdient Aufmerksamkeit, ganz wie ein Kunstwerk. Es vermag einem Raum den Stempel aufzudrücken. Man wird ihm nicht gerecht, wenn man es auf die Funktion reduziert, einen unauffälligen Hintergrundbeitrag zu einer distinguierten Atmosphäre zu leisten. Lässt man eine Beethoven-Sonate als gefällige Unterlage zu einem Mehrgang-Menü gedämpft in den Raum spielen? Gedämpft wie in der Wohlfühl-Oase? Besser nicht. Genauso sind Kompositionen aus guten Buntfarben, wie sie die Kunst des Färbens mit Naturmitteln hervorgebracht hat, etwas zu Grandioses, um ihnen herabgedimmte Auftritte zu verordnen. Es ist klar, dass die Menschen in vielen teppicherzeugenden Regionen Vorder- und Zentralasiens über’s Jahr eine ansehnliche Menge spektakulärer Farben von der Natur sozusagen frei Haus geliefert bekamen. So ist es noch heute, beispielsweise in den Dörfern der Kaukasus-Täler. Die Natur hat die Farben blühender Stauden sowie der im Kaukasus reichlich vorkommenden Wildformen von Zwiebelgewächsen im Angebot. In den im Sommer von großer Hitze geprägten Tieflagen lässt sie Vögel wie Bienenfresser und andere auftreten, mit Gefiedern von ausgesprochen attraktiver Farbigkeit. Dies alles sind jedoch, aus der Perspektive der Menschen gesagt, flüchtige Farben. Die Blumen sind bald nach dem Aufblühen wieder verwelkt. Die Vögel? Sind scheue Wesen, die zum Menschen auf Distanz halten. Auf Distanz, sofern sie nicht gerade das Pech haben, in eine Falle zu gehen, so dass sie fortan ihr Gefieder in einem Käfig zur Freude farbhungriger Betrachter herzeigen müssen.
Wenn die Menschen also die Möglichkeit haben wollten, sich jederzeit am Anblick von Buntfarben zu erfreuen, dann mussten sie die Mühe auf sich nehmen, in ihrer Umgebung nachzusuchen, was die Natur an Färbemitteln bereithielt. Dabei war neben Schönheit und Intensität selbstverständlich die Dauerhaftigkeit der erzielbaren Farbtöne ein wesentlicher Aspekt. Bei Farbstoffen, die zur Verzierung von Textilien durch Bemalen Verwendung finden sollten oder zum Färben von Wollgarnen, aus denen dann Textilien angefertigt werden konnten, war eine hohe Licht- und Waschechtheit erwünscht. Langwierige Explorationen waren nötig, um die richtigen Mittel zu finden. Man darf mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen, dass die Palette an Naturfarben, die man bis an die Schwelle zum zwanzigsten Jahrhundert bei kunstfertig erzeugten Teppichen und Textilien aus Anatolien, dem Kaukasus, Iran und Turkmenistan findet, das Resultat eines jahrhundertelangen, wenn nicht sogar Jahrtausende währenden Experimentierens mit unterschiedlichen Materialien mineralischer, pflanzlicher und tierischer Herkunft darstellt. Dabei ist nicht so klar, ob das, was wir als Kolorite etwa bei Objekten zu sehen bekommen, die ungefähr ab der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts in den einschlägigen Regionen entstanden, noch den vollen, akkumulierten Kenntnisstand einer langen Färbetradition repräsentiert oder aber bereits ein Stadium reduzierter Vielfalt und vereinfachter Verfahrensweisen anzeigt. Wie viel den Leuten in weit zurückliegenden historischen Zeiten der Knappheit, als noch keine fortgeschrittene Chemie ihre scheinbar überreiche Angebotspalette ausbreiten konnte, die Verfügbarkeit brillanter Buntfarben bedeutet hat, lässt sich exemplarisch am Aufwand ermessen, der für Purpur und Karmin getrieben wurde. In der Antike scheute man für die Gewinnung eines einzigen Gramms reinen Purpurs nicht die Mühe, rund zehntausend Purpurschnecken ein61
zusammeln, zu zerstampfen und tagelang in Salz zu kochen. Oder: Ein Gramm Karmin – Koschenille – zur Erzielung von Karminrot brauchte ungefähr zweitausend weibliche, trächtige Cochenille-Schildläuse, die auf Kakteen gezüchtet wurden. Über die bis weit ins neunzehnte Jahrhundert hinein wirksame Tradition der Ernte und Verarbeitung der Insekten ließen sich längere, in den Details nicht unbedingt appetitliche Geschichten erzählen. 18. Herodot. Was den Kaukasus betrifft, so wird die historische Tiefe der dort gepflegten Färbekunst in einigen Bemerkungen greifbar, die sich in den Historien des griechischen Urvaters der Geschichtsschreibung finden. Ich meine Herodot von Halikarnassos (ca. 490–430 v. Chr.). Wenn wir dieser Quelle folgen, dann muss der Umgang mit Textilfarbstoffen in der Kaukasus-Region schon viele Jahrhunderte vor dem Beginn unserer Zeitrechnung ein hohes Niveau erreicht haben. So hoch, dass man weithin davon sprach. Weit genug jedenfalls, dass es auch in Athen und Thurioi vernommen wurde. Es ist unter Historikern umstritten, ob Herodot selbst weite Reisen, geradezu Expeditionen, durchführte, auf denen er die Dinge persönlich in Augenschein hätte nehmen können. Im Zusammenhang mit Ausführungen über den Perserkönig Kyros II. im ersten Buch der Historien geht Herodot auf den Kaukasus ein, in den Abschnitten 203 und 204 des Buchs. Er spricht von einem Gebirge, »ungeheuer« nach Umfang und Höhe. Das Gebirge wird korrekt auf der Abendseite des Kaspischen Meeres lokalisiert. Es werde, heißt es, auch von vielen verschiedenen Völkern besiedelt. Aus griechischer Sicht war dort natürlich Barbaren-Land. So verwundert es nicht, dass Herodot die Gelegenheit wahrnimmt, neben Wichtigerem eine Information, oder eine Pseudo-Information, unterzubringen, vielleicht mit wohligem Schauder vor den »Barbaren«: Die Menschen in diesem Gebir62
ge hätten keine Scheu, den Beischlaf vor aller Augen auszuüben, so wie das Vieh. Neben derartiger Negativ-Folklore findet sich auch etwas halbwegs Konkretes über die Färberei. Es heiße, bemerkt Herodot, dass die Kaukasier aus den Blättern eines bestimmten Baumes, die sie zerrieben und mit Wasser versetzten, einen Farbstoff erzeugten, um damit Tierdarstellungen auf ihre Kleidung zu malen. Er ist vorsichtig und erweckt nicht den falschen Eindruck von persönlicher Augenzeugenschaft. Die wörtliche Formulierung ist: legetai, d. i. es wird gesagt, nämlich dass sie dies machen. Gewiss werden die Kaukasier den Brei gekocht oder zum Gären gebracht haben, auch wenn Herodot über die Prozess-Details nichts weiter mitzuteilen weiß. Dass der Baum oder die Pflanze ebenfalls nicht benannt wird, ist bedauerlich. Der für Herodot wichtige Punkt ist die ganz ungewöhnliche Haltbarkeit des Gemalten. Dazu lesen wir: »Diese Tiere gingen niemals aus, sondern alterten mit dem Gewebe, als wären sie hineingewirkt.« Selbst wenn ein Herodot des achtzehnten oder neunzehnten Jahrhunderts persönlich durch Anatolien und den Kaukasus bis ans Kaspische Meer gereist und darüber hinaus noch weiter ostwärts vorgedrungen wäre, dabei stets die eigene Nase in den Sud gesteckt und Informationen aus erster Hand über das Färben zu sammeln versucht hätte – Entscheidendes hätte er wohl nicht erfahren. Denn bei dem Stellenwert, den gute Färbungen bei den Menschen hatten, muss die Färberei für die darauf spezialisierten Könner ein einträgliches Handwerk gewesen sein. Jeder erfolgreiche Färber wird dabei über Spezialitäten und kleine Verfahrensgeheimnisse verfügt haben, die er nicht an die große Glocke hängte. Wozu denn die Konkurrenz stark machen? Ich stelle es mir ungefähr so vor wie beim hessischen Metzgermeister, der seine besonderen Wurstrezepte hat. Die lässt er am liebsten nur den designierten Nachfolger im Betrieb wissen, am besten jemanden aus der
eigenen Familie, ansonsten behält er sie für sich. 19. Wissensverlust. Irgendwann im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts kam es im vorderen Orient und in Zentralasien dahin, dass die Spezialitäten des Färbens mit Naturmitteln nicht mehr oder kaum noch tradiert wurden. Warum? Deshalb, weil der Siegeszug preisgünstiger sowie einfacher und schneller zu handhabender Chemiefarben kaum aufzuhalten war. Daher wissen wir heute zwar einerseits viel über das traditionelle Färben von Textilien und Textilfasern, nicht zuletzt im Ergebnis naturwissenschaftlicher Analyse-Bemühungen. Doch wir wissen andererseits vieles auch nicht und werden es vermutlich nicht mehr in Erfahrung bringen können. Das Gewusste betrifft typischerweise die beim Färben verwendeten Ausgangsmaterialien und bestimmte darauf bezogene Informationen, wie sie zum Teil noch bis vor wenigen Jahrzehnten bei alten Menschen in den Knüpfregionen in Erinnerung waren. Der Gehalt der Erinnerungen konnte mit technischen Mitteln überprüft werden. Vieles davon hat Harald Böhmer (1931–2017) zusammengetragen, in einem im Jahre 2002 veröffentlichten Buch mit dem Titel Kökboya – Naturfarben und Textilien. Eine Farbenreise von der Türkei nach Indien und weiter. Es sind Informationen der Art, dass man die Wolle, bevor man sie in ein Farbbad gibt, am besten erst einmal mit einem Beizmittel wie Alaun behandelt, und dies unter Umständen tagelang; damit bei einem späteren Arbeitsgang der Farbstoff tief in das Garn eindringen und sich fest mit der Faser verbinden kann. Oder weiter, seinerzeit vermutlich Allgemeingut: Braun lässt sich, wo nicht gerade naturbraune Schaf- oder Kamelwolle zur Hand ist, mit Hilfe von WalnussSchalen erzielen. Für Gelb sind Granatapfelschalen eine Überlegung wert, und für Rot kommt die Krappstaude oder eben jene Cochenille-Schildlaus in Betracht. Galläpfel, die sich auf der Unterseite von Eichenblät-
tern bilden, nachdem die Gallwespe zugestochen hat, taugen für Schwarz. Bei Indigo empfiehlt sich das Zusetzen von Urin. Und anderes mehr. Den Ausgangssubstanzen können die chemische Expertin und der biologische Experte heute mit naturwissenschaftlichen Mitteln auf die Spur kommen. Was verborgen bleibt, sind dann aber die Verfahrensdetails. Diese beeinflussen – wie jeder weiß, der selbst einmal Färbeversuche unternommen hat – das Ergebnis unter Umständen entscheidend. Wie haben sie es gemacht? Wie hat es irgendein einzelner, besonders versierter, ehemals vielleicht in seiner Umgebung legendärer, für uns als Individuum jedoch nicht mehr fassbarer Färber gemacht? Das heißt: Wie lang hat er das Wollgarn im Alaunbad bei welcher Temperatur köcheln lassen, welche Kniffe hat er beim Gärenlassen der Granatapfelmasse zur Anwendung gebracht, wurde vielleicht zuerst eine Kaltfärbung vorgenommen, danach gab es sicher eine Fortsetzung unter Erhitzung, Erhitzung bis auf welche Temperatur denn? Welche Rolle spielten die Qualität des Wassers und dessen Mineralgehalt? Von hierher oder von dieser Quelle dort durfte man es nehmen, aber nicht von drüben hinter dem Berg? Und so weiter. Es sind unübersehbar viele Verfahrensparameter denkbar, wenn man ohne konkrete Hypothesen startet. Herauszufinden, mit welchem Vorgehen sich die besten Resultate erzielen lassen, würde darauf hinauslaufen, alte, verlorengegangene Erfahrungen auf’s Neue zu gewinnen. Und wenn es die akkumulierten Erfahrungen einer langen Kette von Generationen gewesen sind? Das kann niemand im Ernst als Einzelperson nachholen wollen. So werden wir uns damit abfinden müssen, dass wir beispielsweise viele der bereits hervorgehobenen Rottöne, die zum Repertoire der auf Rot spezialisierten turkmenischen Färbemeister früherer Jahrhunderte gehörten, in der alten Qualität nicht mehr neu aufgelegt sehen werden. Ein 63
Grund mehr, die durch alte Arbeiten solcher Provenienz ermöglichten Farberfahrungen zu suchen, am besten vor den Originalen; und sich durch Wertschätzung, hier und da auch Kauf und irgendwann Rückführung in den Markt an der Erhaltung und Weitergabe der Stücke zu beteiligen. Die Praxis einer kleinhandwerklichen, sicher immer ein wenig freihändig durchgeführten Einfärbung von Wollmaterial hatte noch einen Nebeneffekt, den heutige Rezipienten ebenfalls zu schätzen wissen. Die Garne wurden selbst in einem einzigen Farbbad nicht vollkommen gleichmäßig durchgefärbt. Außerdem hatten die beim Färbemeister für’s Färben vorgehaltenen Töpfe oder Bottiche sehr überschaubare Abmessungen, verglichen mit großen Kesseln in modernen chemischen Werken. Wer zum Färben nicht schon im eigenen Hof mit Bordmitteln tätig wurde, sondern lieber zum Spezialisten ging, der musste unter Umständen selbst bei diesem mehrere Lieferungen Wollgarn hintereinander ins Farbbad geben lassen; beispielsweise dann, wenn genügend Material für die roten Musterpartien von gleich zwei oder drei von den Frauen geplanten Teppichen zusammenkommen sollte. Da nicht alle Parameter auf das Genaueste kontrolliert und in ihren Werten wiederholt werden konnten, musste von Farbbad zu Farbbad mit kleinen Schwankungen gerechnet werden. Am Ende bestand das fertiggefärbte Garn aus mehreren Partien in Rottönen, die sich um Nuancen voneinander unterschieden – oder die sich irgendwann im Zuge der Alterung des Materials so voneinander unterscheiden würden. Umso besser! Beim fertigen Teppich nehmen wir den Wechsel der Nuancen als Lebendigkeit wahr, als das Gegenteil koloristischer Sterilität, als einen wesentlichen Faktor für Intensität und Tiefe des von der Fläche vermittelten Farbeindrucks. Besonders augenfällig ist der Effekt bei größeren, ganz musterfrei belassenen Farbflächen. Wenn diese sich zwar monochrom präsentieren, aber eben nicht monoton-monochrom, 64
dann kommen die leichten Farbschwankungen einem guten Vibrato beim Geigen- oder Celloton gleich. Es ist dieses Vibrato, das man zum Beispiel an den Farbflächen in der Malerei eines Kenneth Noland vermissen kann, wenigstens in der durch einen nahezu texturlosen Farbauftrag geprägten Phase seines Schaffens, S. 20; und das einem bei Arbeiten von Mark Rothko gerade nicht fehlen wird, S. 113. Infolge von alterungsbedingten chemischen Veränderungen bei Wollmaterial und Farbstoffen können solche Schwankungen sich noch einmal steigern. Manchmal werden die Farbschwankungen so stark, dass sie sich zu einem quasi aleatorischen Faktor entwickeln, mit Auswirkungen auf den Gesamteindruck einer Komposition. In jedem Fall, bei geringer wie bei stärkerer Ausprägung des Phänomens, spricht man unter Rückgriff auf das persische Adjektiv für ein scheckiges Oberflächenbild von abrash. Selbst ein recht starker Abrasch gilt bei alten Teppichen unter Kennern im Allgemeinen nicht als Qualitätsmangel. Allerdings lässt sich, Kennerschaft hin oder her, nicht leugnen, dass ein Abrasch über längere Zeiträume hinweg auch einmal einen Verlauf nehmen kann, bei dem er am Ende in ästhetischer Hinsicht stört, wie am oberen Feldende bei Nr. 34. Dieser Teppich verdient auch deshalb gezeigt zu werden, weil er paradigmatisch vor Augen führt, dass selbst ein »blumiger Perser« und dazu ein Werkstatt-Teppich große Attraktivität besitzen kann – wenn nur die Farbqualität stimmt. Der Blau-Abrasch in der rotgrundigen Hauptbordüre hat bezaubernde Nuancen hervorgebracht. Auf die Veränderung des nachtblauen Grundes zu einem Braunton am oberen Feldende hätte man dagegen verzichten können.
◀
Abb. 34: Blütenteppich, Ausschnitt, 572 × 178 cm, 18. Jh., Nordwest-Persien.
65
Für solche Ergebnisse von, nun ja, PseudoZufall ist bei normierten Färbungen, die auf präzise gesteuerten industriellen Prozessen beruhen, natürlich kaum ein Spielraum mehr. Pseudo-Zufall ist deshalb das richtige Wort, weil sich streng genommen Weniges im Weltlauf als wirklich zufällig herausstellen dürfte, sofern nur die jeweilige Vorgeschichte umfassend berücksichtigt wird. Man nennt in der Naturwissenschaft und in der Wissenschaftsphilosophie ein Geschehen pseudo-zufällig, wenn der Verlauf zwar bis ins Einzelne determiniert ist, sich aber zunächst, vielleicht auch für immer, teilweise außerhalb dessen entwickelt, was für Menschen mit praktikablem Aufwand steuerbar ist. Dadurch erscheinen solche Verläufe dem Menschen zufällig, ohne es wirklich zu sein. Die Ausschaltung auch noch von PseudoZufall durch eine technikbasierte Ausweitung der Kontrollmöglichkeiten ist für viele Zwecke durchaus in Ordnung. Die Leute wollen nun einmal beim Autolack oder beim Mantelstoff im Allgemeinen keine unregelmäßigen Färbungen sehen bis auf das, was sich durch das flüchtige Spiel von Licht und Schatten ergeben mag. In anderen Zusammenhängen ist die gnadenlose Herstellung von Konstanz ein Verlust. Ein Verlust, herber noch, ist das Verschwinden bestimmter Farbwerte, die sich offenbar nur mit Naturmitteln hervorbringen ließen, aus den Paletten. Eigenartig ist, dass selbst die prima facie gewagtesten Zusammenstellungen von Naturtönen erfahrungsgemäß fast immer ein harmonisch wirkendes Gesamtbild ergeben; was von synthetischen Farben und deren Kombinationen nicht behauptet werden kann. Eigentlich müsste es dafür eine naturwissenschaftliche Erklärung geben. Falls es sie gibt, ich kenne sie nicht. Auch dies weiß ich, und ich weiß es wiederum nicht, weil ich es nur feststellen, mir aber physikalisch nicht erklären kann: Betätige in einem Raum, in dem ein Teppich mit Naturfarben auf dem Boden liegt oder an der Wand hängt, bei Einbruch der Dunkel66
heit den Lichtschalter, und regelmäßig wird es so scheinen, als wären am Teppich die Farben angeknipst worden. »Da eines abends wird das werk lebendig«, heißt es in Der Teppich, einem aus dem Jahre 1899 datierenden Gedicht von Stefan George (1868–1933); die eigenwillige Rechtschreibung ist Absicht. Nein, nicht nur eines Abends passiert es, sondern an jedem Abend, wenn du es willst. Aber mach’ dasselbe bei einem Orientteppich aus moderner Produktion mit Synthesefarben, und nichts passiert. Klar, man sieht die Farben besser, so wie man eben alles im Raum besser sieht. Das ist es, was passiert. Doch die Farben beginnen nicht zu leben, nicht aufzuleuchten, von innen zu glühen. Lassen wir noch ein Streiflicht auf die Anfänge der Verlustgeschichte fallen, und zugleich auf die zu ihr parallel verlaufene industrielle Erfolgsgeschichte; zur Ergänzung des in Abschnitt 2, »Sammlerteppiche«, dazu bereits Angemerkten. Die chemische Herstellung von Anilinfarben aus Steinkohlenteer kam in Europa ab 1856 in Fahrt. Dies war die Basis beispielsweise für den ökonomischen Aufstieg der BASF, der im Jahre 1865 gegründeten Badischen Anilin- und Sodafabrik in Ludwigshafen. Anilinöl für die Synthese von Anilinfarben lässt sich aus pflanzlichem Material gewinnen, nämlich aus dem in Indien heimischen Indigostrauch. Seit 1834 war aber bekannt, dass diese Benzol-Verbindung auch aus Steinkohlenteer, einem Nebenprodukt der Verkokung von Steinkohle, erzeugt werden kann. Diese Entdeckung sollte in der industriellen Textilwirtschaft innerhalb weniger Jahre zur Verdrängung von natürlichem Indigoblau durch sogenanntes Anilinblau führen. Ähnlich lief es in den Folgejahren für zahlreiche andere traditionelle Färbemittel. Hohe Produktionskapazitäten suchen sich Märkte. Daher war es nur eine Frage der Zeit, bis Exporte auch in den Orient und nach Ostasien für eine Transformation des dortigen Färbewesens sorgen würden. Im Jahre 1890 gingen dann schon rund
achtzig Prozent der Jahresproduktion an Anilinfarben des Deutschen Reiches, das zum Weltmarktführer aufgestiegen war, in den Export. Davon entfielen beispielsweise fünfzehn Prozent auf China. Das waren für China ungefähr 1100 Tonnen Farbpulver in Dosen. Für Russland und Zentralasien habe ich keine Zahlen. Wegen des aus dieser Expansion sich ergebenden Einschnitts bei der Teppicherzeugung in farbästhetischer Hinsicht war es sinnvoll, die in einer noch weitgehend prä-synthetischen Ära entstandenen Arbeiten mit einem eigenen Prädikat zu belegen. So ist es heute im seriösen Handel üblich, bei orientalischen Sammlertextilien dann und nur dann von »antiken« Stücken zu sprechen, wenn es sich um Objekte handelt, die deutlich vor dem Jahr 1900 entstanden sind. Mit der Antike im allgemeinhistorischen Sinn, also mit der Periode, die dem Mittelalter vorausging, hat ein solches Prädikat natürlich nicht viel zu tun. Ein Teppich besitzt nun einmal aufgrund seiner durch und durch organischen Natur nicht die Dauerhaftigkeit eines Marmorreliefs oder eines Tonscherbens. Für ihn sind hundertfünfzig Jahre oder mehr schon ein beachtliches Alter. Bei Arbeiten dieser Alterskategorie kann man davon ausgehen, dass die vorkommenden Farben überwiegend mit Naturmitteln erzeugt wurden. Gelegentliche Ausnahmen bestätigen die Regel. Auch können umgekehrt um 1900 und danach entstandene Stücke noch die alte Farbqualität aufweisen. Niemand hat ja den Leuten verboten, sich weiterhin der traditionellen Färbemethoden zu bedienen. Es wurde nur faktisch immer weniger damit. Farben machen die Welt zweifellos um vieles reicher. Dabei sollte aber nicht aus dem Blick geraten, dass die Welt zugleich reich an Sachen ist, für die Farben gar nicht in Betracht kommen. Darunter beispielsweise: Zahlen, Gedanken, Stimmungen, Sachverhalte, Begriffe. Soviel Philosophie, soviel Platonismus, als Abstraktionismus ausgelegt, muss sein. Nehmen wir Zahlen. Sie sind
etwas Abstraktes, das nicht mit konkreten Zahlzeichen verwechselt werden darf. Nur die Zeichen können in weißer oder farbiger Kreide auf einer Tafel erscheinen und damit einen Ort und eine Farbe haben. Gedanken stehen Sachverhalten nahe oder sind gedachte Sachverhalte. Dass gewisse Stimmungen durch geeignete, auf einen Malgrund aufgebrachte oder in einem Teppich verarbeitete Farben und Zusammenstellungen von Farben ziemlich zuverlässig bei menschlichen Betrachtern ausgelöst werden können, heißt nicht, dass in diesen Fällen bildliche Darstellungen von Stimmungen mit entsprechender Farbigkeit vorlägen. Weiter, nicht einmal ein farbbezogener Sachverhalt wie der, dass Rot die Farbe des Mohns ist, kommt in Rot daher oder besitzt sonst irgendeine Farbe. Gemalte Drachenbilder kommen zwar nicht ohne Farben aus, aber es sind keine Bilder des Drachenbegriffs, sondern Bilder von Wesen, die dann, wenn sie real existierten, unter den Drachenbegriff fielen. Es klingt ein bisschen nach verkehrter Welt: Von Drachen, die nicht wirklich existieren, gibt es sehr wohl farbige Bilder; dagegen kann man vom Drachenbegriff, der unbeschadet dessen, dass nichts unter ihn fällt, wirklich existiert, überhaupt kein Bild haben, kann ihn nur sprachlich bezeichnen. Und welche Farbe haben Drachen, böse Drachen? Vielleicht das Grün der Zauneidechse? Oder ein giftiges Schwefelgelb? 20. Drachen: schlecht oder gut? Was in diesem Essay bereits früher sehr allgemein über die Bedingungen geäußert wurde, unter denen sich im Medium der Teppichkunst Entwicklungen hin zu vergleichsweise abstrakten Musterkonzepten ergeben konnten, ja mussten, lässt sich an einem aufschlussreichen Beispielfall nachvollziehen. Hierbei dürften am Beginn einer längeren Entwicklung einigermaßen naturalistische Darstellungen ohne jeden Rapportcharakter gestanden haben.
67
◀
Abb. 35: Hartmann Schedel, Buch der Chroniken, 1493, Ausschnitt von Blatt CXXIIII, Rückseite, aus einem Faksimile des Exemplars der Herzogin Anna Amalia-Bibliothek in Weimar (bei Weltbild, Augsburg 2005, als Lizenzausg. des Taschen-Verlags, Köln 2001).
68
Abb. 37: Drachen-Teppich Pao Tao, 207 × 128 cm, Ende 19. Jh., Nordost-China. Pao Tao oder auch Baotou ist eine Stadt in der Region Innere Mongolei der Volksrepublik China.
◀
◀
Abb. 36: Säulenteppich Ning Hsia, 213 × 129 cm, Mitte 19. Jh., Nordchina. Ning Hsia oder Ningxia ist eine nordchinesische Provinz.
Der Weg führt, konkret, von unter Werkstattbedingungen entstandenen chinesischen Textilien mit Drachendarstellungen über die bereits einem Musterrapport verpflichteten Drachenteppiche aus kaukasischer Werkstatt-Produktion zu verschiedenen Typen kaukasischer Dorfteppiche. Woher diese Prominenz des DrachenThemas? Drachen spielen in vielen alten Kulturen eine auffällige Rolle. Klarerweise ist es immer etwas schief, in diesen Zusammenhängen einfach von Drachen und ihrer naturalistischen Darstellung zu sprechen, kommen doch in der Natur keine Drachen vor. Phantasiebilder von Drachen sind aber keine reinen Phantasmen. Sie basieren auf Versatzstücken, die sich der empirischen Wirklichkeit entnehmen lassen. René Descartes (1596–1650) hätte im Rückgriff auf seine erkenntnistheoretisch motivierte Klassifikation menschlicher Vorstellungen von der Drachenvorstellung als einer idea a me ipso facta gesprochen: als einer Vorstellung, die ich mir aus aktuellen oder erinnerten Wahrnehmungseindrücken durch Rekombination der Teile selbst zusammensetzen kann. Dort, wo Drachenkonzepte negativ konnotiert sind, werden sie durch die Wahrnehmung von »Gezücht« wie Schlangen und Eidechsen, vielleicht auch von widerspenstig sich windenden Fischleibern angeregt worden sein. Es war eine Sache der Phantasie, die als passend erachtete Größe dazuzugeben. Merkmale des Stereotyps sind: schuppenbesetzter Körper; langer, möglichst mit Zacken versehener Schwanz; schlangenartige Verwindungsfähigkeit des niedrig gelegten Rumpfes; Beine, die nicht unter dem Körperschwerpunkt stehen, sondern zu beiden Seiten des Rumpfes bullig nach Eidechsenund Waran-Art aufsetzen; eine gegabelte Zunge, die angriffslustig bald weit aus dem Maul hervorstößt, bald prüfend zurückgezogen wird. Optional hat ein solches Wesen mehrere Köpfe und ist zusätzlich mit Fledermausflügeln, dem Maßstab angepasst, ausgestattet; hinzu kann ein stachelbewehrter Nackenschild kommen.
In der germanischen Mythologie und im Nibelungen-Epos ist der Drache die Verkörperung des Bösen. Dasselbe gilt in der christlichen Überlieferung, wie wir sie in Text und Bild kennen, von der Apokalypse des Johannes bis zur Legende von Georgios von Kappadokien als dem Drachentöter St. Georg. Auf eine Wirksamkeit Georgs in Zentralanatolien legt sich Hartmann Schedels Weltchronik vom Ende des fünfzehnten Jahrhunderts fest. Auf dem bei Schedel gebotenen Bild wird das Drachen-Stereotyp eher verfehlt. Die Holzschnitt-Darstellung auf Blatt 124 verso der Weltchronik zeigt ein Wesen, das sich weder in der Größe, in Relation zur GeorgsFigur gesehen, noch im Phänotyp sonderlich von einem ganz gewöhnlichen Hund unterscheidet. Nur der deutlich in die Länge gezogene, schlangenartige Schwanz und die mit spitzeren Krallen ausgestatteten Pfoten machen den Unterschied. Bei allem Mangel an physischer Wucht, der Drache ist in derartigen religiösen Kontexten als eine Erscheinungsform des Teufels oder, abstrakter gesprochen, des Chaos gemeint: des Chaos, das der Ordnung des noch ungeschaffenen Kosmos vorausgeht und diese Ordnung im späteren Verlauf der Weltgeschichte immer wieder bedrohen wird. Weil die bösen Mächte niemals endgültig besiegt sind. In vielen Darstellungen, die sich überzeugender ausnehmen als jener schwachbrüstige und scheinbar dem Menschen sich anschmiegende HolzschnittDrache, passt zur Chaos-Furcht die Unübersichtlichkeit des Körpereindrucks, der von einem richtigen Drachenwesen ausgeht. Was sich nämlich in blindwütiger Attacke hin und her wirft und sich dabei so zu verwinden vermag, dass irgendwann der Angegriffene kaum noch Vorder- und Hinterbeine auseinanderhalten kann, die einmal hier, im nächsten Moment schon woanders zum Austeilen spitzkralliger Hiebe ansetzen, während die Zunge plötzlich dicht bei der Schwanzspitze nach vorn stößt und der Rücken sich zum Berg aufwölbt … dies alles 69
gleicht dem Wirbel eines von vielen Seiten zugleich über das Opfer hereinbrechenden Angriffssturms. Es ist, als hätte das für sich genommen schon genügend furchterregende Wesen sich noch einmal verdoppelt und verdreifacht. In Mythen und Märchen des Abendlandes ist der Drache ein aggressiver Bewacher von Schätzen oder entführten Jungfrauen in wüsten Gegenden. In dieser Rolle treibt er am Höhleneingang so lange sein Unwesen, bis der Held kommt und zum tödlichen Schlag ausholt. Dann besitzt das reichlich fließende Blut unter Umständen noch die schaurig-schöne Eigenschaft, dem, der darin badet, durch Härtung der Haut zu weitgehender Unverwundbarkeit zu verhelfen; ein wichtiger Punkt im mittelhochdeutschen Nibelungenlied des frühen dreizehnten Jahrhunderts. Ein Kontrapunkt zu all dem wäre: Der Drache verkörpert das Gute, und er gehört eher in luftige Höhen als in eine finstere Felsödnis. Aha, eben deshalb lassen Kinder überall auf der Welt und, historisch gesehen, vielleicht zuerst im alten China »Drachen« in die Luft steigen? Tatsächlich ist die in der traditionellen chinesischen Mythologie verankerte Drachen-Vorstellung mit ganz anderen Werten besetzt als die abendländische Konzeption. Mehr darüber im nächsten Abschnitt. 21. Säulen und Teppiche: chinesisch. Im neunzehnten Jahrhundert und weit davor werden Drachenwesen auf Porzellanarbeiten, auf Prunkgewändern und ThronsesselAuflagen, auf Wand- und Säulenteppichen aus dem nördlichen China regelmäßig so dargestellt, vergleichsweise naturalistisch, wie in Nr. 36. Die Ikonographie solcher Kompositionen ist gut erforscht. Am unteren Rand des nach einer festen Norm entworfenen Szenarios ist der terrassenförmig aufgebaute Berg Meru zu sehen. Gemäß alten hinduistischen und buddhistischen Vorstellungen bildet Meru das Zentrum der Welt. Um den Berg herum 70
tost das Meer. Es lässt Gischt bis hinauf zum Berggipfel spritzen. Im Luftraum über dieser Erde-Wasser-Szenerie – der Wechsel des Elements wird durch die im Mittelfeld links und rechts untergebrachten, schematisierten Wolkenformen angezeigt – bewegt sich fliegend ein Drache. Der Körper des Wesens vereinigt in sich zwar überwiegend die dem Stereotyp entsprechenden, furchteinflößenden Eigenschaften. In einem gewissen Kontrast dazu jagt der Drache aber auch wie in der Hingabe an ein kurzweilig-harmloses Spiel einem mehrfarbigen Ball nach, mit einem konzentrierten und dabei durchaus freundlichen Gesichtsausdruck. Der Ball oder die Kugel ist von einer Aura züngelnder Flammen umgeben. Das die Luft durchpflügende Wesen hat diese Kugel offenbar sehr fokussiert im Blick. Die Linien, die von den Augen wie spiralig endende Tentakeln ausgehen, dürften für die durchdringende Intensität eines Blicks stehen, der es vermag, wenn es wirklich ernst zugeht, das jeweilige Gegenüber im buchstäblichen Sinn zu fixieren: es einzufangen und festzusetzen. So zumindest im Falle, dass es sich um eine leichter als die Feuerkugel zu fassende Beute handelt. Die mutmaßlichen Blickstrahlen werden mitunter zu Schnurrhaaren, wie das nächste Beispiel, Abb. 37, zeigt. Alles in allem eignet dem Drachen eine unverkennbare Ambivalenz. Er könnte auch ganz anders als im jagenden Spiel. Die Kugel ist die sogenannte Feuerperle, im Mythos ein Sinnbild der Weisheit. Passend zu dem, wonach der Drache auf der Jagd ist, steht er selbst in derartigen Darstellungen aus dem alten China symbolisch für die Eigenschaft der Klugheit; auch für eine auf Klugheit basierende Bereitschaft zu wohlwollender Fürsorge. Es wäre im Wirklichkeitsfall wahrscheinlich vor allem eine Fürsorglichkeit gegenüber denen, die es sich durch ihr Verhalten verdient haben. Das sind vorwiegend positive Attribute. Im Verein mit der zugleich vermittelten Botschaft, dass hier ein Geschöpf von respektverlangender Überlegenheit seinen Auftritt
hat, konnten solche Züge die Drachenfigur, in legitimatorischer Funktion, zum Emblem des chinesischen Kaiserhauses werden lassen. Chinesische Bildteppiche wirken aufgrund ihres naiv realistischen, mitunter allzu harmlos-heiteren Darstellungscharakters oft künstlerisch nicht besonders überzeugend. Im Fall von Nr. 37 ist der Drache vollends zu einem bloß noch lieb erscheinenden Wesen mutiert, dem man keine Schrecklichkeiten mehr zutraut. So harmlos wirkt er, wie er da senkrecht in der Luft steht, dass man ihn auch im Kinderzimmer aufhängen könnte. Traumatisierende Effekte scheinen ausgeschlossen zu sein. Die frühere Vielschichtigkeit der Figur ist dahin. Trotzdem sollte man diese Teppiche gesehen haben. Man kann dann umso besser die Qualität des atmosphärischen Umschwungs, die archaisch bis modern anmutende Expressivität würdigen, welche in den besten Fällen mit kaukasischen Adaptionen des Drachenthemas einhergeht. Die Drachen-Darstellung sei bei Nr. 36 von S. 68, so sagten wir, eine vergleichsweise naturalistische. Bei einem sorgfältig geplanten, in einer Werkstatt wahrscheinlich nach einem gezeichneten Entwurf ausgeführten Teppich kann dieser Grad an Naturalismus auch kein Problem sein. Für eine rigorose Reduktion von Formen-Komplexität, bis hin zur Unkenntlichkeit des Ausgangspunkts, ist unter solchen Herstellungsbedingungen keine Nötigung gegeben. Wir werden sehen, dass sich dies für das gleiche Sujet unter veränderten Bedingungen deutlich anders darstellt. Allerdings ist auch mit Blick auf Abb. 36 die Frage berechtigt, wie denn der Naturalismus-Befund mit dem surrealen Eindruck eines Drachenkörpers zusammenpassen soll, der höchst vital erscheint, obwohl er durch scharfe Schnitte in einzelne Segmente zerlegt wurde. Die Antwort ist einfach. Wir haben es hier mit einem Teppich aus der Gattung der Säulenteppiche zu tun. Derartige Teppiche waren zur Hängung um Rundsäu-
len bestimmt. Sie wurden, was noch einmal den Werkstatt-Charakter unterstreicht, jeweils für eine ganz bestimmte architektonische Situation konzipiert. Dabei passte man die Teppich-Abmessungen dem Säulenumfang an und richtete die Musterung so ein, dass sich im Moment der Hängung die Darstellung nahtlos zum Bild eines Drachenkörpers schließen konnte, der sich aufsteigend um die Säule windet. Man findet auch Stücke mit ähnlicher Musterung, die zum oberen Ende hin schmaler werden. Diese waren dann als Behänge für nach oben sich verjüngende Säulen gedacht. Stellen Sie sich das Ganze in einer Säulenhalle vervielfacht vor. Im flackernden Licht von Fackeln muss der Eindruck bizarr bis überwältigend gewesen sein. 22. Drachen und Teppiche: kaukasisch. Irgendwann zwischen 1600 und 1700 wurden Drachendarstellungen ein wichtiges Thema in den Teppichwerkstätten des Kaukasus. Vielleicht auch schon früher, doch davon fehlen uns dann die materiellen Zeugnisse. Als Inspirationsquellen haben wahrscheinlich Drachendarstellungen christlicher Provenienz mit Einflüssen aus dem Fernen Osten und aus Persien zusammengewirkt. In und an christlichen Kirchen und Klöstern im armenischen Siedlungsgebiet wird man auf Tafelbildern oder in skulpturaler Ausführung Figuren wie dem Heiligen Georg oder dem Erzengel Michael in Verbindung mit dem Drachen begegnet sein. Chinesische Textilien mit Drachendarstellungen in der Art von Nr. 36 wurden durch Handel entlang der Seidenstraße verbreitet. Sie müssen frühzeitig über Persien in den Kaukasus eingewandert sein. Importierte textile Luxusware im Kaukasus? Ja, denn dort lebten ja nicht bloß einfache Bauern, Viehzüchter und Nomaden oder Halbnomaden. Die sozialen Gemeinschaften waren wie üblich hierarchisch aufgebaut. An der Spitze standen die Repräsentanten lokaler Herrscher-Dynastien: Khane und deren Familien, die bei aller zeit71
weiligen Abhängigkeit von Großreichen wie Persien oder Russland ihre eigenen kleinen Fürstentümer regierten, wie beispielsweise die Khanate von Schirwan, Gendje, Talisch und andere. Für die Deckung des in diesem gesellschaftlichen Umfeld anfallenden, gehobenen Bedarfs an handwerklichen Erzeugnissen aller Art kam Importware aus den Regionen jenseits des Kaspischen Meeres bis hinüber nach China in Betracht. Aber nicht nur das. Allem Anschein nach wurden auch leistungsfähige Teppichwerkstätten vor Ort unterhalten. Diese Werkstätten konnten selbst große und sehr große Formate liefern, möglicherweise auch zu Exportzwecken. So entstanden unter WerkstattBedingungen Teppiche von beachtlichen Ausmaßen und mit komplexen Mustern, darunter zahlreiche Exemplare einer Gattung, die unter Kunsthistorikern und Sammlern als die der kaukasischen Drachenteppiche bekannt ist. Ein gutes Beispiel ist Nr. 38. Die Komposition, in auffallend kräftigen Farben ins Bild gesetzt, dürfte spontan irgendwie ausdrucksstark, vielleicht aber auch schwer durchschaubar wirken. Weniger eingeübte Betrachterinnen und Betrachter werden sich vor einem solchen Teppich insbesondere fragen, wo denn auf ihm Drachen zu sehen sein sollen. Der Reihe nach! Wir halten zunächst mit Blick auf die weißgrundige Hauptbordüre fest, dass sich bei diesem Stück der Werkstatt-Charakter unter anderem an dem Umstand ablesen lässt, dass die BordürenMusterung mit ihrer, wie es scheint, blütenbesetzten Ranke ziemlich gut organisiert ist. Sie ist so gut organisiert, dass es dort, wo Längs- und Querpartien der TeppichRandzone aufeinandertreffen, zu keinem Musterbruch kommt, wie wir ihn z. B. bei Nr. 77 und ebenso bei dem VergleichsLenkoran Nr. 78 sehen, auf S. 157. Was dem Ehrgeiz der Werkstätten als ein zu vermeidender handwerklicher Mangel galt, ist bei Produkten des dörflichen Hausfleißes die Regel. Dort ist der Musterbruch beim Richtungswechsel von Bordüren etwas, das die 72
Knüpferinnen, wie früher schon bemerkt, unbekümmert hinnehmen konnten. Im Feld haben wir es bei Nr. 38 zunächst mit zwei großen, übereinander gestellten rautenförmigen Kompartimenten zu tun, die durch einen Rahmen aus schwarzgrundigen, gezackten Formen mit rankenartiger Innenzeichnung vom roten Grund abgeteilt sind. Mittig sind bei jeder der beiden Rauten auf der vertikalen Achse drei zerklüftete Blütenformen mit reicher Binnenstruktur zu sehen. Nachdem Sie sich soweit in der Komposition orientiert haben, können wir zu den Drachen kommen. Wo sind sie nämlich zu sehen? Innerhalb der unteren Raute beispielsweise stehen in dem Freiraum, den die drei zentralen Großblüten lassen, rechts und links zwei ungefähr s-förmige, gelbgrundige Formen mit blauroter Innenzeichnung. Das sind sie: Es sind die für diese Teppichgattung namengebenden Drachenmotive. 23. Abstraktion. Verglichen mit einer Darstellung, wie sie auf dem zuvor gezeigten chinesischen Säulenteppich begegnet, wurde das Drachen-Stereotyp bei Nr. 38 entschlossen vereinfacht und linearisiert. Gebogene Linien finden wir weitgehend durch gerade Linien oder eine getreppte Linienführung ersetzt. Beibehaltene Elemente des Drachen-Stereotyps sind: geschuppter Körper, wobei die Schuppen hier durch kleine rötliche Kreisformen angezeigt werden; eine insgesamt schlangenartig zur s-Form gewundene Darbietung des Körpers; im oberen Viertel als in Weiß ausgeführte Rund-Doppelhaken eventuell eine Reminiszenz an die Doppelzüngigkeit einer gespaltenen Schlangen-Zunge; in Gestalt verschiedener seitlicher Anhängsel und Fortsätze Andeutungen von Beinen und Schwanz, und zwar in einer Weise, dass die Wirbel- und Chaos-Anmutung der Gesamtstruktur unterstützt und so der Vorstellung eines wild um sich schlagenden und beißenden Aggressors entsprochen wird. Nichts Gutes also.
◀
Abb. 38: Drachen-Teppich, 496 × 222 cm, 18. Jh., südlicher Kaukasus oder Nordwest-Persien.
73
Nein, unter christlichen oder islamischen Vorzeichen ist von Drachen nichts Gutes zu erwarten. Insoweit dürfte hier eine ganz andere gedankliche Ausgangslage wirksam sein als in der chinesischen Tradition. In der Mitte und im oberen Drittel des Teppichs finden Sie in abgewandelter Farbstellung die Drachenformen wiederholt, denen wir uns im vorigen Abschnitt zunächst mit Augenmerk auf den unteren Bereich des Stücks gewidmet hatten. Diese charakteristischen Formen kommen demnach nicht nur im Inneren der rautenförmigen Kompartimente zu stehen, sondern wir sehen sie in der Mitte des Feldes, dort in weißgrundiger Ausführung, auch in den Raum eingestellt, der zwischen den Rauten eröffnet ist. Besser gesagt: Es sieht auf den ersten Blick so aus, als stünden die weißgrundigen Drachengestalten des mittleren Feldbereichs in der freien Fläche. In Wirklichkeit besetzen sie je eine Hälfte von zwei weiteren Rauten, die man sich seitlich über die Teppichbreite hinaus entwickelt denken muss, in einer gegenüber den vollständig dargestellten Rauten versetzten Anordnung. So werden die Rauten zu Bestandteilen eines gedachten unendlichen Rapports. Das Böse wird vielleicht niemals vollständig besiegt sein. Doch wenn es stärkere Mächte gibt, die es einzuhegen und seinen Einfluss zu begrenzen vermögen … dann besteht ein sehr guter Weg, der entsprechenden Hoffnung Ausdruck zu verleihen, darin, die Drachen in eine Komposition von bezwingender Art einzubauen. Ich meine eine Komposition, bei der Drachen es sich gefallen lassen müssen, eingezäunt zu werden. Eine Komposition, die sie dazu nötigt, sich den übergreifenden Ordnungsprinzipien und Symmetrien eines Musterrapports zu fügen. Einzelheiten des Typus lassen sich noch einmal anhand des Fragments Nr. 39 studieren. Aus der Nähe betrachtet wirkt hier die Gestaltung, mit vielen kraftvoll in Szene gesetzten Zackenformen, ausgesprochen dramatisch. So muss es wohl sein, wenn eine 74
nach Ordnung strebende Macht auf Chaos trifft. Drachenteppiche aus dem Kaukasus sind in Museumssammlungen über die halbe Welt vertreten, von Berlin und Budapest über Istanbul, Jerusalem, London, New York und Washington bis Wien und Zürich. Zu welchen Zwecken die bei aller Tendenz zur zeichnerischen Reduktion doch aufwendig gemachten Teppiche ursprünglich hergestellt wurden, kann heute niemand mehr mit Sicherheit sagen. Viele sind seit dem Ende des neunzehnten Jahrhunderts in Moscheen auf dem früheren Gebiet des Osmanischen Reichs entdeckt worden, was einen Verwendungshinweis gibt. So soll ein Exemplar, es ist bis heute als der »Grafsche Drachenteppich« bekannt, von dem Wiener Antiquitätenhändler Theodor Graf (1840–1903) aus einer Moschee in Damaskus gekauft worden sein. Später gelangte das Stück in die IslamAbteilung der ehemals Königlichen Museen Berlins. Es verbrannte im März 1945 während eines Bombenangriffs auf die Stadt bis auf einen kleinen Rest. Eine ganze Anzahl von Arbeiten der Gruppe hat sich mutmaßlich über Jahrhunderte in anatolischen Moscheen erhalten. Von dort wurden sie vor allem im ersten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts durch Museen in der Türkei aufgekauft. Band I des 1978 in London erschienenen, zweibändigen Werks Early Caucasian Carpets in Turkey von Şerare Yetkin (1929–1995) bietet einen guten Überblick über diesen Teil des Bestandes. Eine thematisch einschlägige Publikation mit einem anderen Schwerpunkt, nämlich auf den Beständen des Textile Museum in Washington, ist: Charles Grant Ellis, Early Caucasian Rugs, Washington 1976.
◀
Abb. 39: Drachen-Teppich, Fragment, auf Leinwand genäht, 161 × 113 cm, 17. Jh. oder früher, südlicher Kaukasus.
75
Obwohl also vieles in Museen einen festen und, hoffentlich, sicheren Hafen gefunden hat, kommen gelegentlich immer noch vollständige oder auch mehr oder weniger stark fragmentierte Exemplare historischer Drachenteppiche auf den Markt. Wo dann zur altersbedingten Seltenheit ein hohes Maß an zeichnerischer und farblicher Prägnanz hinzutritt, pflegt das Sammlerinteresse groß zu sein. Das Stück Nr. 39 erzielte bei einer Auktion im Oktober 1999 einen Zuschlagspreis von immerhin 24.000 DM, während die als vollständiger Teppich auf uns gekommene Nummer 38 fünf Jahre zuvor 90.000 DM erlöst hatte. Beim Fragment ist im oberen linken Viertel des erhaltenen Teils die erwartbare Drachenform zu sehen. Mehr als dieses eine Vorkommnis ist nicht übrig geblieben. Zu Ihrer raschen Orientierung im Bild können wir von der stark abstrahierten Darstellung eines Drachens sprechen, der einen roten Schwanz hat. Andeutungen von Schuppen fehlen in diesem Fall. Bei den fünf oder sechs von der Hauptmasse des Körpers abgehenden Fortsätzen, in denen man gemäß der Sachlogik am liebsten Klauenbilder sähe, geht die Stilisierung stark in die Nähe von Blütendarstellungen; so dass man sich nicht mehr sicher sein kann, ob es den an der Herstellung Beteiligten jederzeit klar und auch zu zeigen wichtig gewesen ist, dass eigentlich Drachen das Thema waren. Bei genügend weit vorangetriebener Abstraktion ist immer mit der Möglichkeit zu rechnen, dass eine Struktur irgendwann nur noch als Ornament gesehen oder in Teilen kurzerhand uminterpretiert und der jeweiligen Musterumgebung angeglichen wird, also jedenfalls nicht mehr in ihrem ursprünglichen Darstellungsgehalt eindeutig erkannt und bewahrt wird. Die Hauptbordüre ist auch bei diesem Beispiel weißgrundig. Zwischen je zwei Blütenformen ist eine Wirbelform gestellt, die eine Drehbewegung suggeriert. Es hat den Anschein, dass diese Struktur bei einer ganzen Reihe von Teppichgattungen, die wir 76
als dörfliche Ableitungen aus WerkstattDrachenteppichen ansehen dürfen, ins Repertoire der fest verankerten Musterelemente aufgenommen wurde; und dass sie auch in die Feldmusterung hat einwandern können. 24. Rustikale Transformation. Damit sind wir wieder bei den kaukasischen Dorfteppichen angelangt. Nachdem nämlich Werkstatt-Teppiche mit Drachenmotiven einmal in der Welt waren, scheint etwas für die Musterentwicklung und -diversifizierung Interessantes geschehen zu sein. Knüpferinnen aus dem ländlichen Milieu müssen hier und da in gut sortierten Basaren oder in den Haushalten von wohlhabenden Kaufleuten oder Angehörigen des lokalen Adels, möglicherweise auch in Moscheen, Stücke in der Art von Nr. 38 und Nr. 39 gesehen haben. Mitunter waren sie vielleicht als Lohnknüpferinnen in Manufakturen selbst an der Herstellung beteiligt. Die Frauen müssen dann ein Gedächtnisbild der Gesamtkomposition oder einzelner, für sie besonders einprägsamer Elemente davon im Kopf nach Hause getragen haben, um irgendwann unternehmungslustig zu sagen: So etwas versuche ich auch zu machen. Der Mustertransfer wird dabei in hohem Maße einer individuellen Selektion unterlegen haben. Es werden immer mehr oder weniger stark ausgeprägte Vereinfachungstendenzen wirksam gewesen sein. In der Folge müssen zahlreiche neue Kompositionsideen mit unterschiedlichen Akzentuierungen entstanden sein. Einige davon werden auf Anhieb überzeugt und Nachahmerinnen gefunden haben. Bis sich am Ende eines längeren, quasi evolutionären Prozesses schließlich eine Anzahl neuer Typen herausgebildet hatte. Biologische Evolution … ist bekanntlich die Ausformung von Arten auf der Grundlage eines Dreischritts von Zufallsmutation, Selektion und Merkmalsverbreitung durch Reproduktion. Das hier thematisier-
te Geschehen lässt sich zwanglos auf diese Theorie-Ebene beziehen. Mutation, ob mit Zufallsanteilen oder ohne, ist das, was die einzelne Knüpferin sich auf der Grundlage eines erinnerten Wahrnehmungseindrucks als Abwandlung des Wahrgenommenen hat einfallen lassen. Selektion ist die Reaktion ihrer Umgebung darauf. Was überzeugt, wird nachgeahmt, verfestigt sich zum Typus und wird als Typus tradiert. Dies wäre die Artenbildung durch eine Reproduktion, die nicht mehr biologisch, sondern kulturell zu nennen ist. Von solchen Konzepten, die verworfen wurden, ohne einen Traditionszweig mit einer überlebensfähigen Anzahl von Individuen zu begründen, können wir heute nichts mehr wissen. Es hat sie aber mit ziemlicher Sicherheit gegeben. Unter dem jedoch, was von den im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert fest etablierten Gattungen kaukasischer Dorfteppiche bis heute bewahrt wurde, findet sich ein guter Teil, bei dem eine Ableitung aus dem Archetypus der historischen Drachenteppiche ausgesprochen plausibel ist. Betrachten wir als ein erstes Beispiel Nr. 40, nächste Seite. Hier ist im Vergleich mit den mutmaßlichen historischen Vorläufern ein schmaleres Läuferformat realisiert worden. Die Idee von Großblütenformen, die mittig in senkrechtem Aufstieg anzuordnen sind, ist beibehalten. Von der ursprünglichen Gliederung der Gesamtkomposition durch eine Abfolge übereinander gestellter Rauten ist dagegen nichts mehr zu sehen. In fünffacher Paarung treten an Sägeblätter erinnernde, gezackte Formen auf. Ohne jede Kenntnis der älteren Drachenteppiche wüsste man sie nur schwerlich zu deuten. Die entsprechende Kenntnis vorausgesetzt, kann man in diesen Formen kaum etwas anderes als Drachen-Abkömmlinge sehen. Auf eine Art und Weise, die für den erreichten Abstraktionsgrad schon spektakulär zu nennen ist, stellen die Abkömmlinge in ihrer gezackten, angriffslustig wirkenden Starkfarbigkeit jene Dynamik von Ag-
gressionsentfaltung heraus, die wir früher meinten: eine Aggression, unter der dem Opfer alsbald die Fähigkeit zur Unterscheidung von Oben und Unten, von Vorn und Hinten beim Angreifer abhanden käme – so dass sich Konfusion einstellt. Hinsichtlich der gewählten Stilisierungsmittel, bis hin zur Farbwahl, sind die Motive gut vergleichbar mit Siegfried Brzoskas Ölbild »Dreileibiger Dämon«, Abb. 41. Das großformatige Gemälde ist von einer im Athener Akropolis-Museum ausgestellten Plastik inspiriert, die wahrscheinlich dem Giebelschmuck des im Jahre 480 v. Chr. zerstörten Alten Athena-Tempels zuzuordnen ist. Gezeigt wird ein dreileibigfischschwänziger Dämon. Das Konzept wurde in der Antike aus der möglicherweise orientalisch beeinflussten Triton-Figur entwickelt. Zugrunde lagen also archaische Vorstellungen von einem Meerungeheuer – oder eines von der Ungeheuerlichkeit nicht weit entfernten Meergottes. Ganz anders, viel bedächtiger nämlich, ist die Ausstrahlung von Nr. 42. Das Rückgrat der Gesamtkomposition bilden je vier in doppelt-konkave Anordnung gebrachte Musterelemente in der Form langgestreckter, mit vier Haken besetzter Parallelogramme. Alternativ kann man die Komposition auch so lesen, dass sich vier der insgesamt acht Haken-Parallelogramme in der Feldmitte in konvexer Anordnung um eine blaugrundige Wirbelform gruppieren, während von den darüber und darunter angesetzten Konfigurationen gleicher Art jeweils die Hälfte durch eine Querbordüre abgeschnitten ist. Unter dieser Lesart lassen sich die Linien der Bildarchitektur eher zu den Verhältnissen bei Nr. 47 auf S. 86 in Beziehung setzen. Auf dem grünen Grund der Parallelogramme sehen wir jeweils zwei Reihen kleiner, dachziegelartig übereinander gesetzter Sichelformen in Gelb. Sie können nichts anderes als ein Schuppenkleid repräsentieren.
77
◀
Abb. 40: Knüpfteppich Kuba, 335 × 140 cm, Ausschnitt, erste Hälfte 19. Jh., Ost-Kaukasus. Kuba oder Quba, nicht mit der Karibik-Insel zu verwechseln, ist eine Stadt und Region im Ost-Kaukasus.
78
◀
Abb. 40a: Detail aus Nr. 40, mutmaßliches Drachenmotiv.
◀
Abb. 41: Zum Vergleich mit 40a, Dreileibiger Dämon, 1995, Öl auf Leinwand, 110 × 250 cm, von Siegfried Brzoska. Ein gelbgrundiges Zackenmotiv stellt hier wie dort quasi als Scharnier die Verbindung der vorderen Körpermasse mit dem vor allem aus einem mächtigen Schwanz bestehenden Hinterleib her.
79
◀
Abb. 42: Sog. Pinwheel-Kasak, 258 × 184 cm, erste Hälfte 19. Jh., Südwest-Kaukasus.
80
Das soll aus dem ursprünglichen Drachenkonzept geworden sein? Ja, etwas anderes kommt kaum in Betracht. Schwanz, Beine, Zunge, Stacheln – scheint alles in den vier schematisierten Haken seinen gemeinschaftlichen Niederschlag gefunden zu haben. Ob die Knüpferinnen sich bei der Weitergabe des Musters über Generationen hinweg stets des Sachgehalts der grüngrundigen Motive bewusst waren? Wir wissen es nicht wirklich. Der Typus muss aber in ästhetischer Hinsicht überzeugt haben. Er scheint sich über einen Zeitraum von mindestens hundert Jahren gehalten zu haben. Auffällig sind noch die erwähnten blaugrundigen, jeweils mit einer weißgrundigen Rosette geschmückten Wirbelformen. Diese Formen haben der Gruppe den heute gebräuchlichen Namen eingebracht: PinwheelKasak, zu englisch pinwheel: Windrädchen. Gemeint sind die kleinen Plastik-Windräder, die sich Fünfjährige gern an den Fahrradlenker klemmen, um beim Fahren noch etwas mehr Dynamik zu verspüren. Die Wirbelformen sind rätselhaft. Verschiedene Motivationen sind denkbar. Es könnte sich um ein weiteres in die Komposition eingebautes, jedoch ganz anders akzentuiertes Drachen-Derivat handeln. In diesem Fall wäre es das Ziel gewesen, bewusst eine wirbelnde Dynamik ohne jedes Beiwerk ins Bild zu setzen. Möglicherweise liegt ein Nachhall von spiralig auslaufenden Blickstrahlen oder Barthaaren vor, wie wir sie an Drachendarstellungen auf chinesischen Säulenteppichen sehen, S. 68. Vielleicht hat auch einfach die Bordüre von Stücken wie Nr. 39 von S. 75 mit ihren Wirbel-Elementen die Entwicklung einer verwandten, als Bestandteil eines Feldmusters verwendbaren Großform angeregt. Wie es im Einzelnen auch gelaufen sein mag, die ornamental verdichtete Nachahmung einer Wirbel-Dynamik steht in jedem Fall einer Komposition gut zu Gesicht, in der das andere bestimmende Element, der gelbgrüne Schuppenkörper, für den Aufruf von Dra-
chenvorstellungen eher zu statisch geraten ist. Die Bordürenzone der Pinwheel-Kasaks ist, das sei noch am Rande bemerkt, vor den Originalen fast immer von bestechender Präsenz und Schönheit. Eine Abbildung kann davon keinen wirklich treffenden Eindruck vermitteln. Denn die Materialität dieser Arbeiten, die Qualität der seidigen Hochlandwolle im Zusammenwirken mit der satten Farbigkeit, die bei guter Erhaltung mit der beträchtlichen Florhöhe gegebene Tiefendimension, sie können mit fotografischen Mitteln nicht befriedigend erfasst werden. Dies ist ein erneutes Plädoyer dafür, sich auf den Weg zu den Originalen zu machen. Ein drittes Beispiel ist Nr. 43, die nächste Seite. In farblicher Hinsicht beeindruckt dieser »Kasak« vor allem durch das sehr gute Grün im Zusammenspiel mit sattem Rot und Gelb. Klare und stabile Grüntöne waren mit Natur-Farbmitteln schwer zu erzielen. Umso bemerkenswerter ist es, wie gut die Grünfärbung bei dem hier verwendeten Florwollgarn gelungen ist. Das kann auch anders, schlechter, aussehen wie bei Nr. 52 auf S. 94. Die meisten Teppiche der Gruppe sind in der heute zwischen Armenien und Aserbaidschan teilweise umstrittenen Region Karabagh entstanden und nicht im Kasak-Gebiet, so wahrscheinlich auch hier. Insofern ist es tatsächlich angebracht, gegen die konventionelle Bezeichnungsweise wie oben nur von einem Kasak in Anführungszeichen zu sprechen. Im vorliegenden Fall könnte es sich um eine armenische Arbeit handeln. Vom geläufigen Drachen-Stereotyp ist in diesem Fall kaum mehr als die phänotypische Verwindungsform geblieben: die ungefähre s-Form, die hier abwechselnd in Rot und Weiß sowie mit einer Konturlinie in der jeweils anderen Farbe ausgeführt wurde. Die einen Wirbel suggerierende WindradStruktur behauptet sich hartnäckig auch bei dem Typus, diesmal ins Zentrum von zwei formatfüllenden Medaillons gestellt.
81
◀
Abb. 43a: Detail aus Nr. 43, Ausschnitt der rechten Längsbahn der Bordürenzone, sogenannte Vogelkopf-Bordüre. Um die hier gewählte Perspektive auf das Muster der Hauptbordüre zu bekommen, muss man den Teppich gegen die sonstige Orientierung des Musters betrachten.
◀
Abb. 43: Knüpfteppich Chondsoresk, 211 × 132 cm, 19. Jh., südlicher Kaukasus. Chondsoresk oder Chndsoresk ist ein Dorf in der heute zwischen Aserbaidschan und Armenien zum Teil umstrittenen KarabaghRegion.
◀
Abb. 44: Fischadler in typischer Hab-Acht-Haltung, hier auf dem Titel eines Magazins des World Wide Fund for Nature.
82
Wir sehen eine ansprechende Komposition, die bei dem mit den s-Formen erreichten, hohen Reduktionsgrad natürlich immer für Fehldeutungen anfällig war. Daher verwundert es nicht, dass für diese Teppichgattung jahrzehntelang im deutschen Handel die Bezeichnung »Wolkenband-Kasak« in Gebrauch war. Wo nämlich der eine die Schlange sieht, fühlt der andere sich an langgezogene, kurvige Wolkenformationen erinnert. Im Kontext von Wolken-Vorstellungen kann allerdings die Rede von »Bändern« immer noch irritieren. Die Irritation schwindet, sobald man sich die übliche Stilisierung von Wolkenmassen auf chinesischen Säulenteppichen wie Nr. 36 auf S. 68 vergegenwärtigt. Wolken sind dort, im Luftraum über dem Berg Meru schwebend, wattige Gebilde mit einer welligen Kontur, die jeweils zusammengehalten werden durch ein innenliegendes, gekrümmtes Band. Um das Band herum organisieren sie sich wie um einen Kondensationskeim. Diese Verbindung ändert jedoch nichts daran, dass es bei dem von Nr. 43 repräsentierten Typus ein Irrtum sein dürfte, hinsichtlich der Mustergenese an eine Wolkenthematik zu denken. Erwähnenswert ist noch die Hauptbordüre, die einen Rapport aus versetzt angeordneten Dreiecksformen mit eigenwilligen Fortsätzen zeigt. Einen Deutungshinweis gibt die überlieferte Bezeichnung »Vogelkopf-Bordüre«. Allerdings habe ich gerade deutlich gemacht, dass man einmal in Umlauf gelangte Händler-Sprechweisen nicht in jedem Fall für bare Münze nehmen darf. Man muss den terminologischen Befund immer mit sonstigen Indizien abgleichen. Hier scheint die Bezeichnung etwas Richtiges zu treffen. Die Dreiecksformen entsprechen ziemlich gut der radikal auf das Wesentliche reduzierten Silhouette eines Greifvogels – von dieser Vogelordnung hat der Kaukasus reiche Bestände zu bieten –, wenn er auf der Sitzwarte, durch irgendeine Regung in seinem Rücken aufmerksam gewor-
den, den Blick ruckartig nach hinten wendet. Man käme allerdings nicht leicht auf einen solchen Zusammenhang, gäbe es nicht das erwähnte terminologische Datum. In den gängigen Bezeichnungen kann altes Händlerwissen stecken. Den Ursprung muss man sich so vorstellen, dass in Zeiten, in denen dasjenige neu hergestellt wurde, was für uns heute den Status von TeppichAntiquitäten hat, Händler über die Dörfer der einschlägigen Gegenden zogen. Sie werden nachgefragt haben, wo gegen Sofortzahlung Teppiche abzugeben wären. Eventuell wurde auch die kleinkommerzielle Herstellung von Teppichen durch die Aufkäufer vorfinanziert. Es ist nur natürlich anzunehmen, dass diese oft die Gelegenheit ergriffen, an die Knüpferinnen Fragen zu richten. Bei Mustern, die einen deskriptiven Gehalt zu besitzen schienen, ohne dass der sich zweifelsfrei von selbst erschloss: Was soll das hier denn sein? Was wolltest du dort darstellen? Aus den Antworten werden sich in dem einen oder anderen Fall eingängige Bezeichnungen entwickelt haben. Die Bezeichnungen wurden an andere Händler und die nächste Händlergeneration weitergereicht, um schließlich in Warenverzeichnissen, Rechnungsdokumenten usw. verschriftlicht aufzutreten. Am Ende waren bestimmte Terminologien im Sprachgebrauch fest verankert. 25. Mehr Abstraktion, und dazu: LichtMetaphysik. Im Kasak-Beispiel Nr. 45 sind Drachenformen unmittelbar kaum noch zu identifizieren. Und doch, der Grundgedanke der Komposition steht dem kompositorischen Konzept von Nr. 38 von S. 73 erkennbar nahe. So nahe nämlich, dass man kaum umhin kann zu sagen: Die auf der vertikalen Mittelachse entwickelten Strukturen sind Reduktionsformen der ursprünglichen Großblüten oder »Palmetten«. Die links und rechts davon einander als Gegenüber korrespondierenden Sichelformen mit gezackter Innenzeichnung müssten Reste von Dra83
chenformen darstellen. Die veränderte Auslegung des ursprünglichen Kompositionsschemas führt zu einem neuen Gesamtbild von archaisch-kraftvoller Ausstrahlung, an dem das ausdrucksstarke Kolorit seinen gewichtigen Anteil hat. Wird dieser Teppich, in einem großzügigen Zimmer frei auf den Holzdielen liegend, von den milden Strahlen einer tiefstehenden Herbstsonne erfasst, so werden die Gelb- und Rottöne eine Intensität zu entfalten beginnen, als wären sie gerade entzündet worden. – Um es ein Stück weit nachzuempfinden: Halten Sie die Abbildung nahe ans Licht Ihrer Leselampe. – Dann kann man innehalten und schauen. Der eine ist empfänglich für den emblematischen Charakter des Stücks. Vielleicht sieht er dementsprechend das Hoheitszeichen einer aufstrebenden Macht vor sich und verspürt den flammenden Aufstiegswillen … der sich bei Nr. 46 dann bereits in die Ruhe einer wohlgeordneten, gefestigten Herrschaft herabgemäßigt zu haben scheint. Ein anderer mag anders empfinden. Es ist auf dieser Ebene ein freies Spiel mit Assoziationen, völlig losgelöst von denkbaren Urheber-Intentionen. Das ist legitim, mehr als legitim. Eine ästhetische Einstellung gegenüber einem Artefakt einzunehmen, es schließt genau dies ein: den Empfindungskomplexen nachzuspüren, die das Objekt beim heutigen oder, hypothetisch, bei einem zukünftigen Rezipienten anzustoßen vermag. Das gilt besonders bei einem hohen Abstraktionsgrad, der entsprechend weite Assoziationsspielräume eröffnet. Es ist wichtig, sich dabei nicht auf einen gedanklichen Horizont einengen zu lassen, wie er für den Entstehungskontext plausibel ist. Dass man ein Objekt mit derartigen Ausdruckspotenzen, wo man sich in seinen Besitz bringen konnte, nicht der Energie beraubt, indem man es unter einen Tisch legt oder einer Polstergruppe artig als Fußmatte zuordnet, sollte sich, von konservatorischen Gesichtspunkten ganz abgesehen, von selbst 84
verstehen. Man würde auch eine ernstzunehmende Skulptur nicht zum Garderobenständer degradieren. Ob sogar der geheimnisvolle Typus der sogenannten Stern-Kasaks mit den historischen Drachenteppichen und deren Thematik in einen evolutionären Zusammenhang gestellt werden kann? In Abb. 47 ist die Gruppe durch ein Exemplar vertreten, das leider in stark abgenutztem Zustand überliefert ist. Was die regionale Zuordnung angeht, so kommen viele Exemplare wohl nicht direkt aus dem Kasak-Gebiet. Es gibt jedenfalls eine stilistisch und strukturell klar umrissene Untergruppe, deren Angehörige wie z. B. die später auf S. 90 gezeigte Nr. 48 vermutlich zu den Fällen zu zählen sind, in denen man besser von Kasaks in Anführungszeichen spräche. Ich möchte in ikonographischer Hinsicht zunächst anmerken, dass bei Nr. 47 auffällige grüngrundige Ornamente nach einer Erklärung verlangen. Wir sehen diese Ornamente beim abgebildeten Exemplar je vierfach in diagonaler Ausrichtung um zwei zentrale, rotgrundige Großsterne gruppiert, die jeweils aus der Überlagerung einer Raute und eines Rechtecks hervorgehen. Wir finden sie ferner am unteren Ende des Teppichs zweifach angeschnitten vor. Dort mit Bezug auf einen weiteren rotgrundigen Stern, der nicht mehr im Feld untergebracht werden konnte, den man sich vielmehr im Raum außerhalb des Teppichs vorstellen muss. So entspricht die Lesart der Komposition dem in ihr angelegten Rapportcharakter. Alles erscheint vorbereitet für eine unendliche Fortsetzung der überall entstehenden Teilkonstellationen von Musterelementen, für die Fortschreibung des Bildtexts in Richtung der Seiten und Enden des Teppichs und über diese hinaus.
◀
Abb. 45: Knüpfteppich Kasak, 235 × 154 cm, 19. Jh., Südwest-Kaukasus.
◀
Abb. 46: Knüpfteppich mit Zackenmotiven, 313 × 135 cm, 19. Jh., vielleicht Lenkoran. Lenkoran ist eine im südlichen Kaukasus an der Küste des Kaspischen Meeres gelegene Stadt.
85
◀
Abb. 47: Knüpfteppich mit Stern-Muster, genannt Stern-Kasak, 213 × 146 cm, erste Hälfte 19. Jh., südwestlicher Kaukasus. – Der Zustand ist offensichtlich schlecht, und trotzdem war dieser Teppich bei einer Auktion im Jahre 2008 einem Bieter mehr als 45 000 Euro wert. Verrücktheit, Leidenschaft? Oder einfach gute Marktkenntnis?
86
Keine Frage, jene grüngrundigen Formen verlangen nach einer Erklärung. Es sei denn, wir wollten sie als vergleichsweise unverbindliche Kartuschen betrachten, eingelassen in den Freiraum, der im Umfeld der übergeordneten Musterschicht eröffnet ist. Damit meine ich die Schicht, die sich aus den beiden unterschiedlich entworfenen Typen von Sternen zusammensetzt, rotgrundig die einen und mittelblaugrundig die anderen. In den Freiraum bündig eingelassene Kartuschen? Dann wäre das gestalterische Ziel an den betreffenden Stellen eine fliesenartige Ausfüllung des Grundes gewesen und nicht viel mehr. Es handelt sich bei den grünen Motiven, kompositorisch gesehen, in der Tat um Sekundärstrukturen. Sie schmiegen sich den großen Sternformen gleichsam an. Sie haben getreppte Konturen, sind mit roten Haken versehen und besitzen eine Innenzeichnung, die aus vielen kleinen Rauten, teils auch Kreuzen, besteht und vor allem aus je zwei sterngefüllten Quadraten. Genauer gesagt sind es offenbar zwei Quadrate immer dort, wo dafür ausreichend Raum vorhanden war, sonst musste eines genügen. Nach der Art ihrer Anordnung und ihrer Gestaltung wird man solchen Strukturen, wie sie bei allen mir bekannten SternKasaks zum Bild gehören, einen gewissen Bezug zu den Schuppenkörpern von Arbeiten wie Nr. 42, S. 80, oder einem Vorläufer davon nicht absprechen können. Die kleinen Rauten und Kreuze kommen in dem speziellen Rahmen, in dem sie zu Teilen der Binnenzeichnung jener Sekundärstrukturen werden, als Entsprechungen der gelben Sichelformen von Nr. 42 in Betracht. Wie diese können sie als abstrahierte Verweise auf eine schuppenbesetzte Haut interpretiert werden. Die innerhalb der grünen Strukturen dominanten Sterne – stehen als neu hinzutretendes Element vielleicht für zwei ins Überdimensionale vergrößerte, funkelnde Augen? Kann sein, kann auch nicht sein. Ähnlich wie beim biologischen Evolutionsgeschehen gilt hier: In unklaren Fäl-
len muss man darauf hoffen, dass irgendwann noch missing links auftauchen werden, Zwischenglieder in einer hypothetisch angenommenen Kette der Musterentwicklung. Immerhin, mindestens ein Beleg für Drachendarstellungen kaukasischer Abkunft mit deutlich betonten Augenpaaren, nämlich in der Form von Sternrosetten, ist aus der Literatur längst bekannt. Es ist der ins ausgehende achtzehnte Jahrhundert datierte Schirwan-Drachenteppich aus den Beständen des Berliner Museums für Islamische Kunst, Inventarnr. I.8/59; zugleich Abb. 104 in dem von Friedrich Spuhler 1987 publizierten Bestandskatalog Die Orientteppiche im Museum für Islamische Kunst Berlin. Darüber hinaus gibt unsere Nr. 40, S. 78f., einen Hinweis: mit Drachenmotiven, bei denen stets im Kopfbereich Rosetten eingeknüpft sind. Ich gehe davon aus, dass auf ihre besondere Weise auch die Stern-Kasaks Drachenteppiche sind, in hochgradig abstrahierter Ausführung. Wenn es sich thematisch so verhält, dann könnten diese Teppiche als Träger einer ziemlich eindrucksvollen Botschaft zum Verhältnis von lichter und dunkler Seite der Welt gelesen werden. Die Drachen würden wie gehabt das finstere Böse vertreten. Ist im Teppichmuster auch ein Gegenpol dazu erkennbar? Ja, natürlich. Wenn überhaupt etwas, dann sollten die primären, vertikal gereihten und im Zentrum jeweils noch einmal mit einem kleinen Strahlenmotiv in kastenförmiger Umrandung besetzten Sternformen für das hell leuchtende Gute stehen. So ähnlich, wie in der Lichtsymbolik des christlich überformten Platonismus die Idee des Guten und mit ihr die als allgütig gedachte göttliche Instanz durch die Sonne und deren gleißendes Licht versinnbildlicht werden. Stern, Lichtstrahl und Gutes, das ist auch für den völlig nüchternen Geist ein nahe liegender Zusammenhang, denkt man an die segensreiche Wirkung der Sonneneinstrahlung für das Leben auf der Erde. Textgrundlage bei Platon ist an erster Stelle das be87
rühmte Höhlengleichnis aus dem Buch VII des Dialogs Politeia, im Deutschen Der Staat oder Die Verfassung. Bei der Deutung des Höhlengleichnisses nimmt man üblicherweise ein in Buch VI vorausgehendes Gleichnis hinzu, das treffend als Sonnen-Gleichnis bezeichnet wird. Der Sonnen-Topos ist aber keine exklusiv griechische oder später römische Angelegenheit gewesen. Ein orientalisches Pendant zur Vergöttlichung der Sonne hat man in der Mithra-Verehrung im Persien der Partherzeit. Die Drachen müssen, wie gesagt, bei einer so ausgerichteten, dualistischen Interpretation das Böse darstellen. Aber, und das ist bemerkenswert, sie sind nicht gänzlich und unwiderruflich an die Finsternis verloren. Denn immerhin, es eignet ihnen ein Funke Lichtartigkeit, und sie drängen geradezu ans Licht heran. – Die von beiden Seiten vorgestreckten Haken sind auch schon da. Sie warten nur darauf, ineinander greifen zu können. – Was wiederum an Platon erinnert, der von allem, was Lebewesen ist und einen Gesichtssinn besitzt, ungefähr folgendes Bild unterhält: Mögen solche Geschöpfe als materiegebundene auch noch so fest mit mindestens einem Bein im verachtenswerten Stoff feststecken, so besitzen sie doch mit dem Auge das »sonnenartigste« aller Organe. Im Dunkeln sieht man nichts. Zum Sehen braucht das Auge Licht, und das ist für Platon Grund genug, den Augen eine enge Verwandtschaft mit dem Licht zuzusprechen. So gilt dieses Organ als etwas ganz Besonderes, Einzigartiges unter den Sinnesorganen. Für seine Charakterisierung wird von Platon im Politeia-Text das Superlativ-Wort hēlioeidéstaton gewählt, mit der Bedeutung: dem Helios in höchstem Maße ähnlich. Helios ist in der griechischen Antike die Sonne und zugleich der Sonnengott. Zum Vergleich sei hier auf ein weiteres, religiös aufgeladenes Narrativ verwiesen, das für Deutungszwecke herangezogen werden kann: Im dualistischen Weltbild des an seinem Ursprung zoroastrisch ebenso 88
wie christlich beeinflussten Manichäismus stehen Licht und Finsternis, Gut und Böse einander gegenüber; und zwar eigentlich als scharf geschiedene Pole. Jedoch sollen diese Pole im gegenwärtigen Weltalter durch partielle Vermischung eine begrenzte Verbindung miteinander eingegangen sein. Vermischung, ist davon etwas auf unserem Teppich zu finden? Ja. Erstens werden kleine Rauten und Kreuze nicht nur dort gezeigt, wo sie nach der von mir unterstellten Sachlogik hingehören, nämlich auf den mutmaßlichen Drachenkörpern als Andeutungen von Schuppen. Wir bemerken dieselben Rauten und Kreuze im Inneren der mächtigen Sterne der primären Musterschicht. Wichtiger ist zweitens, dass der Teppich, wie vorhin betont, Funken, nämlich Sterne geringerer Größe, auch in den hypothetischen Drachenmotiven aufscheinen lässt. Eine Grundbotschaft des Manichäismus lautet: Licht ist nicht nur am Himmel, es findet sich auch in den Geschöpfen unten auf der Erde. Das ist nicht viel anders gedacht, als wir es von Platon kennen. Nur ist Mani zufolge dieses Licht in den irdischen Geschöpfen regelrecht eingeschlossen. Man muss es suchen und befreien, alles ohne den Lebewesen Verletzungen zuzufügen. Dann kann die Vereinigung mit dem großen, transzendenten Ursprung allen Lichts stattfinden. Auf diese Weise soll die gespaltene Welt irgendwann wieder zur Einheit gelangen. Wie lässt sich ein derartiger Gedankenkomplex in einer Bildsprache ausdrücken? Bei einem Bild wie unserem Teppich vielleicht so, dass die in ihm entworfene primäre und die sekundäre Musterschicht aufeinander bezogen werden, als wollten die Motive der zweiten Schicht sich bei denen der ersten quasi unterhaken: Die grüngrundigen Teilhaber am Licht drängen mit ausgestreckten Armen heran an die durch die roten Sterne repräsentierte Lichtheimat. Das alles sind natürlich Deutungsansätze im metaphysischen Höhenflug. Wie gern würde man bei den Knüpferinnen nachfragen, was sie sich dachten. Oder wenn es ei-
nen Weg gäbe, über schriftliche Quellen herauszufinden, welche uralten religiösen Traditionen eventuell in der Weltsicht der Leute noch wirksam waren … Die Wünsche sind unerfüllbar. Darüber dürfen wir eins aber nicht aus dem Blick verlieren: dass es sich in der Frühzeit bei Teppichen oft um quasisakrale Objekte handelte, bis hin zu Trägern kosmologischer Botschaften. Es ging nicht bloß um handwerkliche Erzeugnisse zum profanen Gebrauch. Bei der immer wieder erkennbaren Traditionsbindung der Knüpferinnen können sich Spuren eines ursprünglichen Transzendenzbezugs über sehr lange Zeiträume erhalten haben. Denken Sie nur an die in Abschnitt 11 thematisierten »Kultkelims« und die Seelenaufstiegs-Thematik. Weitab von spekulativen Höhen können wir, jetzt wieder ganz down to earth, feststellen: Das Beispiel des antiken Kasaks Nr. 47 ist gut dazu geeignet, das Phänomen der Braunkorrosion zu illustrieren. Sie bemerken auf S. 86 in der blaugrundigen Hauptbordüre unschön wirkende, graue Dreiecksflächen, die dort nicht hinzugehören scheinen. Durch Korrosion ist der dunkelbraune, fast schwarze Flor, der an diesen Stellen ursprünglich das Bordürenbild mitbestimmte und der an anderen Stellen noch vorhanden ist, nahezu vollständig ausgefallen. Das freiliegende Grundgewebe wird sichtbar. Oft behilft man sich in solchen Fällen zur Herstellung eines ansprechenden optischen Gesamteindrucks mit Nachknüpfungen; also mit Knoten, die in das intakte Grundgewebe neu eingeknüpft werden. Großflächige Nachknüpfungen stellen allerdings eine gewisse Verfälschung dar. Bei sehr alten Arbeiten und insbesondere bei Objekten von musealer Qualität würde man davon um der Authentizität willen eher Abstand nehmen. Unser Beispiel ist einstweilen unrestauriert geblieben. Bevor Sie nun auf den Gedanken kommen, es existierten womöglich überhaupt keine gut erhaltenen, antiken kaukasischen Teppiche mit dem Sternmuster mehr, soll abschließend noch ein Exemplar in einem
ungleich besseren Zustand gezeigt werden. Das Stück kann zugleich als einer der heute bekanntesten kaukasischen Teppiche des neunzehnten Jahrhunderts bezeichnet werden. Es ist der ehemals zur Sammlung von E. Heinrich Kirchheim (1932–2006) gehörende Teppich Nr. 48, nächste Seite. Zuletzt hatte ich bei einer Auktion im Herbst 1999 die Gelegenheit, das elitäre Knüpfwerk zu sehen. Damals wurde es für nicht weniger als 290.000 DM zugeschlagen. Im Vergleich dazu war Nr. 47 neun Jahre später schon beinahe billig zu haben: 38.000 Euro Hammerpreis. 26. Fell oder Blumen? Am Beispiel der überwiegend in der Karabagh-Region geknüpften Arbeiten, die man lange Zeit als »Wolkenband-Kasaks« oder als »Chondsoresks« zu bezeichnen pflegte, ist deutlich geworden: Etablierten Benennungen von Teppichgattungen ist nicht immer zu trauen. Sie können in Fragen der Muster-Deutung in die Irre führen. Das Gleiche lehrt ein Typus, den wir zum Abschluss unseres Ausflugs in die Muster-Evolution betrachten wollen. Die Mehrzahl der Exemplare, denen wir uns nun zuwenden, wurde wahrscheinlich von armenischen Knüpferinnen aus dem Dorfe Lori Pampak nordwestlich des SewanSees, oder aus dessen unmittelbarer Umgebung, angefertigt. Man kann dafür eine Zeitspanne ansetzen, die mindestens vom frühen bis zum ausgehenden neunzehnten Jahrhundert reichte. Nr. 49 ist ein in jeder Hinsicht exemplarischer Vertreter einer eher späten Untergruppe des Typus, die man in die zweite Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts einordnet. Mit Blick auf die zentrale, bei diesen Teppichen so gut wie immer in grüner Farbe auf weißem Grund ausgeführte Kreuzform sprechen die Insider bis heute gern von einem Tierfell-Motiv. Man hat dementsprechend für die gesamte Gruppe und deren Verwandtschaft die Bezeichnung »TierfellKasak« geprägt. 89
◀
Abb. 48: Knüpfteppich mit Stern-Muster, 254 × 157 cm, frühes 19. Jh., südöstlicher Kaukasus.
90
◀
◀
Abb. 49: Knüpfteppich Lori-PampakKasak, 250 × 166 cm, 19. Jh., südwestlicher Kaukasus. Lori Pampak ist eine Ortschaft nordwestlich des SewanSees.
Abb. 50: Knüpfteppich Kasak, 143 × 115 cm, 19. Jh., Südwest-Kaukasus.
91
◀
Abb. 49a: Detail aus Nr. 49.
92
Wobei zu dem, was ich hier die Verwandtschaft nenne, etwa auch die viel kleinere, vom Format her eher der GebetsteppichFamilie zugehörige Arbeit Nr. 50 zu zählen ist. Anscheinend gab es in der Gegend von Lori Pampak damals Könner im Farbenkochen, die sich sehr gut auf Grünfärbungen verstanden. Doch das ist im Augenblick nicht unser Thema. Zurück zur eigentlichen Frage: Weshalb ein Tierfell-Motiv? Offenbar deshalb, weil vor allem das vertikale Segment der charakteristischen Kreuzform, im kleinformatigen Beispiel isoliert gestellt, dazu geeignet ist, manchen Betrachter – oder viele Betrachter, oder alle? – an das Bild einer abgezogenen, zum Trocknen aufgespannten Tierhaut zu erinnern. Das wirkt als Sujet brutal, erscheint vom optischen Befund her aber durchaus nachvollziehbar. Vielleicht soll man auch an ein längst zu Ende bearbeitetes und irgendwann bei Bedarf auf dem Boden ausgelegtes Tierfell denken. Die entsprechende Hypothese zur Muster-Entstehung wäre ungefähr folgende: Zuerst haben die Menschen in ihren Wohnstätten, um sich an ungemütlichen Tagen vor Bodenkälte zu schützen, Tierfelle benutzt. Später, als Teppiche erfunden und in Gebrauch gekommen waren, hatte man in den Florteppichen so etwas wie einen ökonomisch sinnvollen Fellersatz. Ökonomisch sinnvoll deshalb, weil ein Schaf seine Haut nur einmal hergibt, während es Wolle über viele Jahre zu Teppichen beisteuern kann. Es mag in dieser frühen Phase der Teppichgeschichte für die Menschen nahe gelegen haben, Stücke mit Mustern zu schaffen, deren Umrissform derjenigen von Fellen entsprach, um an die ältere Praxis zu erinnern. Musterideen dieser Art könnten im weiteren Verlauf, so der Gedanke, durch kontinuierliche Vererbung aktiv geblieben sein, und das über sehr lange Zeiträume hinweg. Denkbar wären weit mehr als zweitausend Jahre, mit Ausläufern bis an die Gegenwart heran.
Das ist kein unplausibles Bild. Trotzdem stellt der Tierfell-Gedanke, in welcher der Versionen auch immer, bei den LoriPampak-Teppichen letztlich wohl eine falsche Sichtweise dar, soweit die reale Mustergenese und nicht bloß eine Assoziationsmöglichkeit betroffen ist. Um diese Einschätzung zu begründen, treten wir zunächst einen großen Schritt zurück und werfen einen Blick auf ein sehr altes Erzeugnis der kaukasischen Kunst der Seidenstickerei, Abb. 51. Die Komposition steht dem Musteraufbau bei historischen Drachenteppichen wie Nr. 38 von S. 73 nahe. Kein Wunder bei der ungefähren zeitlichen Koinzidenz der Entstehung beider Arbeiten. Von den zwei rautenförmigen Kompartimenten, die beim Drachenteppich das Gerüst des sichtbaren Teils der Komposition bilden, ist in der Stickerei nur ein einziges Gegenstück zu sehen, wie als Resultat einer Anpassung der Komposition an das kleinere Format. – Bei Drachenteppichen kann die Zahl der Rauten übrigens auch viel größer als Zwei sein, wie die Betrachtung anderer, hinreichend großflächig erhaltener Exemplare über Nr. 38 hinaus lehrt. Es kommt immer darauf an, wie groß der Ausschnitt des gedachten unendlichen Muster-Rapports ist, den bei festgelegter Ausdehnung der Rauten die Abmessungen des Teppichs zu zeigen erlauben. Im Fall der Stickerei haben wir es anstelle einer wirklichen Rautenform mit einem durch allseitige Abplattung der Spitzen zum Oktogon gewandelten Format zu tun. Diese oktogonale Geometrie begegnet uns dann beim Lori-Pampak-Kasak wieder, nämlich in Gestalt eines achteckigen Zentralmedaillons mit zwei auf der Vertikalachse hinzutretenden, fast zum Siebeneck hin entwickelten Anhanggebilden. Im Vergleich mit den Verhältnissen beim Drachenteppich, wo florale Großformen die vertikale Symmetrieachse der Rauten besetzen, hat bei der Stickarbeit die Kreuzform im Zentrum des Oktogons an Ausdehnung noch erheblich zugelegt; vor allem an Ausdehnung in der Horizontalen. 93
◀
◀
Abb. 52: Knüpfteppich Chondsoresk, 251 × 158 cm, 19. Jh., SüdKaukasus.
94
Abb. 51: Seidenstickerei, 129 × 71 cm, um 1700, Karabagh-Gebiet, südlicher Kaukasus.
In der Folge war im Inneren des Oktogons nicht mehr genug Raum, um Drachenmotive angemessener Größe unterkommen zu lassen. Vielmehr hatten entsprechende Drachen-Stilisierungen sich nunmehr als sFormen von außen an die Seiten des Oktogons anzulagern, vergleichbar der MusterDisposition in den Sternkasak- oder Stern»Kasak«-Beispielen Nr. 47 und Nr. 48 von S. 86 und 90. Wichtiger als ein denkbarer Drachenteppich-Bezug ist für uns im Moment aber die Einordnung der bei der Nadelarbeit in die Mitte des Oktogons gestellten Kreuzform. Dass wir es dabei mit einem frühen Prototypus der Lori-Pampak-Kreuzform zu tun haben, dürfte offensichtlich sein. Zugleich muss eine Tierfell-Deutung ausgeschlossen werden. Es hätte sich sonst um ein seltsames Tier mit extrem schmaler oder heftig eingeschnürter Taille gehandelt. Nein, bei der hier in Stichtechnik ausgeführten Kreuzform wird es sich um ein prägnantes Blütenschema handeln. Als Vorbild kann man die Blüte der Tulpe oder einer verwandten Art annehmen. Die Blüte wird nicht lediglich einmal, sondern sie wird in kreuzständiger Anordnung vierfach gezeigt. Im späteren Lori-Pampak-Medaillon hat das prototypische, hinsichtlich der Gestaltung der vierfach dargebotenen Blüte zunächst uniforme Motiv noch eine interessante Abwandlung erfahren, durch die ein Prozess-Bezug entsteht. Wir sehen nämlich bei Nr. 49 einerseits in horizontaler Entfaltung eine Doppelform, die, wie es scheint, zwei Tulpenblüten oder tulpenähnliche Blüten in einem fortgeschrittenen Knospenstadium zeigen soll, kurz vorm Aufbrechen der Knospen. Auf beiden Seiten gibt es langgestreckt in die Knospen eingeschnittene Hohlformen, die gelb gerahmt und mit rot-weißer Füllung versehen von einem Scheitelpunkt aus in rechtwinkliger Spreizung zum mutmaßlichen Blütenboden weisen. Sie sind ein plausibles optisches Signal dafür, dass die Entfaltung der Blüten-
blätter, die kaum noch im Einschlag nach innen zu halten sind, unmittelbar bevorsteht. Andererseits haben wir es bei der korrespondierenden Form in der Senkrechten offenbar mit einem Bild derselben Blüten zu tun, jedoch im Stadium der vollen Reife, ja der Überreife. Darauf weisen lange, über die Blütenkrone hinaus sich bereits nach außen biegende Staubblätter hin und ein zu voller Dicke ausgereifter Stempel. Der anzunehmende Stempel wird hier ebenso in roter Farbe angezeigt, wie er schon im Knospenstadium zu sehen war. Bei der Knospe wäre er vor der Natur natürlich für das Auge nicht unmittelbar wahrnehmbar. Im Ergebnis spräche man besser von Tulpen-Kasaks. Damit wären auch, eine durchaus willkommene Nebenwirkung, unangenehme Untertöne von Schlachtung, Häutung und Zerlegung eines Tierkörpers abgehalten. Außerdem ist nicht gut zu verstehen, warum sich ausgerechnet um ein Tierfell herum allerlei Vögel tummeln sollten, wie wir sie im Inneren des achteckigen Medaillons bemerken. Das lässt sich als ergänzendes Naturmotiv, ebenso wie die Farbe Grün, besser mit knospenden und später dann aufgeblühten Blumen zusammenbringen. Ein Wort noch zu der zweifachen Formen-Duplizierung, von der nach der vorgetragenen Deutung auszugehen ist. Bei Textilarbeiten orientalischen Ursprungs begegnen wir ziemlich oft einer darstellerischen Strategie, die hier einmal mehr zur Anwendung gekommen ist. Um die Präsenz einer zum Thema gemachten Art von Sachen oder Individuen zu unterstreichen, werden mehrere bildliche Repräsentanten davon zu einer einzigen Form verschmolzen. Einer der möglichen Darstellungsmodi besteht darin, die gewählten Formen von einem gemeinsamen Ursprung aus sich in entgegengesetzte Raumrichtungen entwickeln zu lassen. So muss man es bei der Innenzeichnung des Lori-Pampak-Oktogons sehen. 95
Ein anderer Duplizierungsmodus besteht darin, dass eines der Bilder, größenmäßig passend eingerichtet, einfach in das andere hineingestellt wird. So bemerkt man bei genauerem Hinsehen an einigen Stellen der Vogel-Hauptbordüre von Nr. 43 auf S. 82, dass kleine Vogelformen in die Rumpfflächen der übergeordneten, stärker abstrahierten Vogelmotive eingefügt wurden. In einer Ornamentkunst, die mit großer Selbstverständlichkeit die Norm einer durchweg naturalistischen Gegenstandsauffassung zurückstellt zugunsten der Ermöglichung eines freien Spiels mit schematisierten Elementarformen, sind derartige inklusive Formendopplungen offenbar überhaupt kein Problem. Sehen wir uns ein weiteres Beispiel für die nicht-inklusive Dopplung an. Zur Kontrastierung sei zunächst auf die Tierdarstellungen der Pferdedecke Nr. 29 von S. 52 verwiesen. Neben stark schematisiert gezeichneten Hühnervögeln, vielleicht Pfauen, mit hochgestelltem Schwanzgefieder sehen wir zahlreiche Vierbeiner. Passend zur Zweckbestimmung der Decke wird es sich um Pferde handeln. In formaler Analogie zu den Vogelmotiven werden die Tiere durchweg mit hochgeworfenem Schweif gezeigt. Die Kopfgestaltung ist bei den Vierbeinern ganz ähnlich wie bei den Hühnervögeln ausgefallen. Soweit es Pferde angeht, kann man entweder an wehendes Mähnenhaar oder an Schmuck denken, wie ihn die Menschen in den Herstellungsregionen bei festlichen Anlässen oft ihren Tieren durch Einflechten in die Mähne angelegt haben. Im Hinblick auf die mutmaßlichen Pfauen- oder Hühnermotive wird man als natürliches Vorbild für den angedeuteten Kopfschmuck die bei diesen Tieren auf dem Scheitel sitzende Federkrone oder den Kamm annehmen. Bei beiden Tierformen wäre der naturalistischen Norm, abgesehen von der üblichen FormenVereinfachung durch die konsequente Begradigung von Linien, noch Genüge getan. Vergleichen Sie demgegenüber den großen, zur seitlichen Bordürenzone hin aus96
gerichteten Vierbeiner, den wir rechts vom mittleren, blaugrundigen der drei Medaillons bei Nr. 52 sehen. Dort, wo man mit der Pferdedecke im Sinn links ein Hinterteil mit hochgeworfenem Schwanz oder Schweif erwarten würde je nachdem, welche Tierart dargestellt werden sollte, hat die Knüpferin umstandslos eine zweite Kopf-Hals-Partie angesetzt; in diesem Fall mit der gleichen RechtsOrientierung wie schon gehabt. Zugleich begegnen uns an vielen anderen Stellen des Teppichs aber auch Darstellungen, die im Wesentlichen dem Tierschema der Decke entsprechen. Der Wechsel zwischen eingeschränkt realistischen und weniger wirklichkeitsnahen Formgebungen war anscheinend kein Problem. Die verschmelzende FormenDopplung – Kunsthistoriker sprechen gern von Doppelprotomen – gehört als intensifier immer mit zum einsetzbaren bildsprachlichen Instrumentarium. Auf manchen Teppichen bemerkt man bei den Motiven, die als Verschmelzungen von je zwei VierbeinerDarstellungen zu lesen sind, auch eine größere Zahl von Beinstrichen als üblich. Es ist nur konsequent, wenn wir in solchen Fällen die Anzahl auf acht Striche verdoppelt finden. Der Teppich Nr. 52, bei einer Wiesbadener Auktion im Jahr 2018 angeboten und dort für moderate 3.800 Euro unter Vorbehalt zugeschlagen, kann nebenher noch als Illustration einer Feststellung zur Farbe aus Abschnitt 24, »Rustikale Transformation«, dienen: Gute und stabile Grünfärbungen waren mit aus der Natur kommenden Färbemitteln nicht leicht zu erzielen. Wobei Ausnahmen die Regel bestätigen. Im gegebenen Beispiel haben wir eher die Regel. Die Grundfarbe beim oberen und beim unteren der drei Medaillons ist zu einem wenig attraktiven Grünton mit zu hohem Grauanteil geraten. Dafür entschädigt das Stück durch die ungewöhnlich zahlreichen LebewesenDarstellungen, die wie spontan über den leuchtend roten Grund hingestreut wirken.
Neben Tieren, darunter vielen Vögeln, und Blüten sind auch zwei winkende Männer zu sehen. Offenbar hat die Knüpferin einen Weg gefunden, ihrer Freude an der Fülle des sie umgebenden Lebens Ausdruck zu verleihen. 27. Was möglich wäre. »Aber wer weiß, vielleicht ist das Buch versiegelt, und ihr könnt es nicht lesen.« So heißt es mit einer Portion Skepsis bei Gauguin im unmittelbaren Anschluss an seine Aufforderung zum Studium des besonderen »Buchs«, das die Teppiche sind. Selbst wenn der Maler sich mit seinen Worten vor allem an Zunftkollegen wandte und weniger an sonstige Freunde von Farben, Formen und daraus hervorgehenden Kompositionen: Angesichts des im Westen im Interieurbereich heute ziemlich begrenzten Stellenwerts traditioneller orientalischer Textilien könnte man meinen, dass tatsächlich nur noch wenige Kennerinnen und Kenner die Objekte zu lesen und entsprechend zu schätzen wissen. Dabei rede ich an dieser Stelle nicht einmal von der Möglichkeit, Teppiche mit Kunst in Verbindung zu bringen. Ich will lediglich, aber immerhin, von anspruchsvollen Innenraum-Gestaltungen sprechen, die sich einer modernen Ästhetik verpflichtet sehen. Hierbei spielen Teppiche in Europa gegenwärtig in der Tat nur noch eine randständige Rolle. Dehnt man den Blick auf Nordamerika aus, so stellt sich die Situation differenzierter dar. In diesem Buch soll auf derartige interkulturelle Unterschiede aber nicht näher eingegangen werden. Wir bleiben in Deutschland, allgemeiner in Europa. Es könnte zweifellos anders sein in europäischen Häusern und Wohnungen, ganz anders. Nicht zuletzt ist dies alles eine Frage der beim Publikum entweder vorhandenen oder eben nicht mehr vorhandenen Informationen darüber, was im Bereich des Komponierens mit Farben und Formen der Teppichsektor an Entdeckungen bereithält. Wie Sie schon seit geraumer Zeit merken, ist dieses
Buch ein Versuch, die irgendwann entstandenen Informationslücken zu füllen. Es könnte ganz anders sein, keine Frage. Da gibt es vielleicht im Wohnbereich die eine exponierte, gut ausgeleuchtete, lang gestreckte weiße Wand. In der Außenansicht stellt sie möglicherweise ein schlüssig eingebundenes Element eines Baukörpers dar, der konsequent an der strengen Architektursprache kubischer Formen orientiert ist. Vielleicht ist es aber zugleich eine Wand, mit der die Bewohner im Inneren nichts Rechtes anzufangen wissen. Teppiche oder Kelims? Sie könnten dort, auf dem Boden ausgelegt oder quer hängend an die Wand gebracht, für eindrückliche ästhetische Erfahrungen sorgen. Und es muss nicht bei der weißen Umgebung bleiben. Manchmal führt auch ein schwarzer Grund zur richtigen Art von Spannung, dazu Abb. 53, die nächste Seite. Ich spreche von visuellen Erfahrungen, die in der Regel nicht einmal besonderer Vorbereitung bedürfen. Kein längeres Einsehen ist nötig, keine aufwendige, zur Kennerschaft und womöglich erst über die Kennerschaft zur vollen Empfänglichkeit hinführende Befassung mit den Dingen verlangt. Die Wirkung ist unmittelbar. Es braucht lediglich ein bisschen Sinn für Farben. Zusätzlich mag ein intuitiv-architektonischer Blick von Vorteil sein, ein Blick für Komposition, für Balance, für die Herstellung von Spannung durch Kontrastierung, auch im Innenbereich. Zweifellos sind Teppiche gut für besondere ästhetische Akzente, gerade in einem entschieden modern gestalteten Umfeld. Es müssen nur die »richtigen« Arbeiten sein, wie es an früherer Stelle hieß. Einen konkreten Begriff davon habe ich zu vermitteln versucht. Und beginne jetzt doch wieder über Kunst zu reden. Denn es führt kein Weg daran vorbei: In den besten Fällen sind solche Arbeiten als Kunstwerke rezipierbar, und das nach eher zeitlosen als historisch gebundenen Maßstäben. 97
◀
Abb. 53: Kappadokischer Kelim, 354 × 140 cm, vor 1800, Zentral-Anatolien. Kappadokien ist eine Region in der Zentral-Türkei. – Wenn ein Kelim geplant war, für den die Breite des im Haus verfügbaren Webstuhls nicht ausreichte, wurden zwei oder mehr Bahnen nacheinander gewebt, die man dann in einem letzten Arbeitsschritt zusammennähte. Bei freihändigem Weben aus dem Kopf konnte es dabei immer zu einem gewissen Musterversatz zwischen den separat hergestellten Bahnen kommen, wie wir ihn auch hier sehen.
98
Gewiss, man wird sie als Kunstwerke einer etwas anderen, einer durchaus eigentümlichen Art betrachten müssen. Eigentümlich im Vergleich mit den heute stärker angesagten, großformatigen Werken zeitgenössischer Malerei, in deren räumlicher Nachbarschaft sie ihren Platz finden könnten, in einem modernen, jedoch nicht auf ästhetische Einheitskost festgelegten Ambiente. Neben oder unter solchen Fällen moderner Kunst an der Wand müsste ein altes Textil-Objekt sich dann behaupten. Manchmal wird es sich, denkt man etwa an Abb. 1 von S. 9 oder auch an 12 von S. 26 und Abb. 53, gerade umgekehrt verhalten: Die Malerei muss sich neben ausdrucksstarken Textilarbeiten behaupten. Der Gedanke an Gleichrangigkeit ist in jedem Fall ein guter Antagonist: ein Gegenmotiv zum pauschalen Wegwinken von Objekten aus dem Umkreis des RechteckigBuntfarbig-Textilen in die Ecke bloßer Dekoware. Als käme für dies alles, ob als Bodenoder als Wandobjekt, höchstens das Prädikat »dekorativ« in Betracht; dazu vielleicht noch »antiquiert«, soweit von einem höheren Alter auszugehen ist. 28. Teppiche: deutsche Mentalitäten. Mag sein, dass viele das von Gauguin gemeinte, aus lauter Teppichen bestehende ›Buch‹ nicht zu lesen verstehen. Eigentlich waren die Voraussetzungen in Deutschland bald nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sehr günstig für die Entwicklung einer entsprechenden ›Lese‹-Kompetenz, um im Bild zu bleiben. Es gab ein schnell wachsendes Interesse am echten Teppich. Von den 1960er Jahren an ereignete sich sogar ein regelrechter Teppichboom, der bis ungefähr 1985 ungebrochen anhielt. Wie konnte es trotzdem später zu der festgestellten Randständigkeit textiler Objekte aus dem Orient kommen? Und dazu, dass die Existenz der Teppichqualität, um die es in diesem Buch geht, heute weitgehend in Vergessenheit geraten scheint, sieht man einmal von einer dem quantitativen
Umfang nach ziemlich überschaubaren Gemeinde von Kennerinnen und Kennern, von Sammlern und Liebhaberinnen antiker Teppiche ab? Man kann dazu einiges sagen. Vielleicht ließe sich sogar am Leitfaden der Teppichthematik eine spezielle Mentalitätengeschichte Deutschlands für die Zeit nach 1945 entwickeln. Wir schauen einmal, ob sich einige Facetten einer solchen denkbaren Geschichte zu einem plausiblen Bild zusammenfügen lassen. Reden wir zunächst über die sogenannte Wirtschaftswunderzeit. In dieser Zeit wollten auf einmal alle Deutschen »echte« Teppiche besitzen. Echtheit hieß in diesem Fall: Die begehrten Objekte sollten nicht aus maschineller Fertigung kommen, sondern von Hand geknüpft worden sein, in irgendwelchen kleinen Werkstätten im Orient. Der Orient: Man hatte dabei als Gegend vor allem Persien im Sinn, das ferne Land, in dem der Schah regierte. Anfangs hießen dementsprechend sämtliche handgeknüpften Teppiche summarisch »Perser«. Vorhin war das Wort »alle« natürlich ein bisschen übertrieben. Außerdem kann hier sowieso nur von Westdeutschland die Rede sein. Im Osten gab es kein Angebot. Die stets knappen Devisen waren für dringlichere Güter als ausgerechnet für Teppichimporte zu reservieren. Aber im Westen! Es existierten da der Zahl nach eine Menge Interessenten, typischerweise kulturell aufgeschlossen und gebildet, ansatzweise auch schon zu vorsichtigen interkulturellen Erfahrungen bereit, den Kultur-Chauvinismus politisch aggressiver Zeiten galt es zu überwinden. Zahlenmäßig waren es vor allem der Mittelschicht angehörige Leute, zu materiellem Wohlstand gelangte Familien. Man gehörte in vielen Fällen zu einem Aufsteigermilieu, in dem Einkommen, Ersparnisse und der Kredit der Bausparkasse, mit dem die letzte Finanzierungslücke überbrückt werden musste, endlich dafür hinreichten, ein eigenes Haus ins Neubaugebiet zu stellen. 99
Anschließend widmete man sich mit Lust der Einrichtungsaufgabe. Das war ja auch eine sehr gute, unanstößige Sache. Wahrnehmungen von Trümmerlandschaften und das von nackter Notwendigkeit diktierte Aufräumen und Wiederaufbauen wurden abgelöst von einem Hunger nach Ästhetik aus selbstbestimmtem Gestaltungshandeln. Auch ein Schuss Exotik durfte im Innenraum dabei sein, verbunden mit Solidität und Wertbeständigkeit wäre am besten. Allerorten waren also Leute um das Wie ihrer Wohnungseinrichtung besorgt. Man schaute sich um. Wie machen es andere? Es kam eine Entwicklung in Gang, die schnell etwas von der Dynamik einer Infektionsausbreitung annahm. Es gibt auch gute Epidemien. Immer beginnt es irgendwo bei dem einen oder den zwei früh Infizierten. Die sind also schon einmal da. Dann treffen dort abends eine Handvoll Paare ein, Kollegen, Freunde, deren Partner, sie folgten der Einladung zu Häppchen und Wein. Die Gastgeber führen beiläufig, nicht frei von Stolz, die jüngste Teppicherwerbung vor. Die Gäste lassen sich beeindrucken. Es genügt für die weitere Dynamik, dass anschließend ungefähr die Hälfte unter sich sagt: So etwas wollen wir auch besitzen. Wo dies passiert, ist es nur zu verständlich. Hat man doch noch die öde Ausstrahlung von Maschinenteppichen der Zwischenkriegszeit und der ersten Nachkriegsjahre im Sinn. Vielleicht ist man sogar im eigenen Wohnzimmer den Teilen noch leibhaftig ausgesetzt. Sie sind rechteckig, sie haben ein Muster, sie enden in Fransen. Die Fransen liegen gewöhnlich zerzaust. So kommt es, dass Rechtecke der perfekt geradlinigen Art mit sehr viel weniger ordentlichen Anhängseln sich für Rituale hergeben. Immer samstags kann das Glattstreichen der Zotteln für den Feiertag stattfinden. Im Frühjahr und Herbst ist die Verschleppung nach draußen auf die Stange angesagt, zum knallenden, staubwolkigen Ausklopfen. 100
Es sind Notmittel. Notmittel der Fußbodenbedeckung, die nach einigen Jahren des Gebrauchs oft mumienhaft wirken, da hilft kein noch so fleißiges Klopfen. Im Vergleich dazu repräsentiert solch ein Medaillon- oder gar ein Baumteppich aus den Händen von, sagen wir mal, Angehörigen der iranischen Volksgruppe der Bachtiaren schon einmal ein ganz anderes Niveau von vitaler Farbigkeit, von optischer wie haptischer Präsenz – auch wenn er, sofern jüngeren Datums, für den Händler ein eher gewöhnlicher Teppich ist. Weiter geht’s, mit ein wenig Phantasie, diese immer gespeist von persönlichen Erinnerungen an die Generation der Eltern, an deren Weg in die Teppiche. Die angesteckte Hälfte der Leute sucht, kann sein schon am zweiten oder dritten Samstag nach der infektiösen Party, das innerstädtische Orientteppich-Haus auf. Noch ist es das einzige in der mittelgroßen Stadt, die in vielem ein wenig nachhinkt, wie so oft. Das Phänomen vervielfältigt sich, die Gesamtnachfrage geht hier und in den Großstädten sowieso erkennbar nach oben, bald zieht sie – man lebt in der Marktwirtschaft – ein entsprechendes Angebot nach sich. Da lässt sich gutes Geld verdienen, es reicht für mehr Geschäfte als nur ein einziges pro Stadt, der orientalische Teppich wird als Warengruppe eigenständig. Längst stellt er nicht mehr nur eine Unterabteilung in Gardinen- und Bettenläden dar. Für so manchen Exiliraner – das Schahregime verhält sich nicht gut zu politisch Andersdenkenden, der gefürchtete Geheimdienst heißt SAVAK – tun sich in der Folge unverhoffte Beschäftigungsmöglichkeiten in der Fremde auf.
◀
◀
Abb. 54: Gartenteppich, 213 × 164 cm, Ende 19. Jh., Bachtiari-Stämme. Die Bachtiaren sind eine im südwestlichen Zentral-Iran teils noch halbnomadisch lebende Volksgruppe.
Abb. 55: Gebetsteppich Marasali, ebenfalls mit Gartenthematik, 145 × 106 cm, Mitte 19. Jh., östlicher Kaukasus, Region Schirwan. Marasali ist ein in der Region gelegenes Dorf.
101
Die deutsche Kundschaft lernt etwas dazu. Irgendwann kann man den Bachtiari von einem Keschan unterscheiden, kann leichte Farbausblutungen und andere kleine handwerkliche Mängel, die für Preisnachlässe gut sind, bewusst wahrnehmen und in zielführender Weise zur Sprache bringen. Man hat verstanden, dass Provenienz und nicht Provinz das richtige Wort ist, wo man von der Herkunft eines Teppichs sprechen will. Die Türken können es nicht mehr so gut, die Pakistaner versuchen es jetzt auch, der Perser ist unschlagbar, den superfeinen Isfahan können wir uns nun einmal nicht leisten, auch gute Nomadenteppiche kommen von dort, Gaschgai und so weiter, das ist ein Geheimtipp, man befindet sich auf dem Weg zur Kennerschaft. Bloß gegenüber alten Teppichen, da gibt es in den ersten Jahren merkwürdige Berührungsängste. Eine Scheu vor dem Anblick von Alters- und Abnutzungsspuren? Anfassen, barfuß betreten? Geht gar nicht. Man scheut nicht zuletzt die Berührung im buchstäblichen Sinne. So dass der Autor eines in Deutschland sehr gut gehenden, auch ins Englische übersetzten Teppichbuchs es noch in der vierten Auflage von 1960 für angezeigt hält zu schreiben: »Der Käufer braucht keine Sorge wegen Übertragung von Krankheiten durch alte Teppiche zu haben. Es ist bisher kein derartiger Fall bekannt geworden.« So heißt es im beruhigenden Tonfall eines älteren Hausarztes bei Hermann Haack in Echte Teppiche, auf Seite 93 der 1960er Ausgabe. Die erste Auflage war 1956 in München erschienen. Kein Wunder, dass die Aneignung teppichgeschichtlicher Grundkenntnisse unter solchen Bedingungen nur schleppend in Gang kam. Es gab Verkäufer, die angesichts plumper Nachahmungen turkmenischer Stammes-Göls auf Teppichen aus seinerzeit neuer pakistanischer Produktion im Ernst von »Elefantenfuß-Design« redeten. Die Kundschaft hatte dem zunächst nicht viel Fundiertes entgegenzusetzen. Ein Kauf beschädigter oder sogar nur fragmentarisch 102
erhaltener antiker Arbeiten, turkmenisch oder von anderswo, schien für die meisten undenkbar. Mit den Geschäften nehmen die Schaufenster zu. Wenn dann die Auslagen am Abend in ein warmes elektrisches Licht getaucht sind, das die Wollfarben zum Schimmern bringt, vermitteln diese Orte dem interkulturell noch nicht wirklich erfahrenen, durchschnittlichen deutschen Innenstadt-Bummler eine Ahnung von orientalischer Märchenhaftigkeit. Ja, so etwas ist es, eine Märchenhaftigkeit in der Farbigkeit. Gerade das, was es braucht in den vielen neu und eher nüchtern gestalteten Fußgängerzonen, die der Tiefbau in so mancher vom Krieg stark betroffenen Stadt mit leichter planerischer Hand durch die Zerstörungsschneisen hat legen können. Es ist viel Platz entstanden. Der Anblick von Inseln warmer, anheimelnder und zugleich exotischer Farbigkeit in der sachlichen Weite, er ist unmittelbar überzeugend. Die logische Folge war: Noch mehr Menschen wollten solche Stücke für ihr Zuhause besitzen. Die Nachfragekurve ging weiter nach oben. Goldgräberstimmung breitete sich unter den Händlern aus. Die Margen wuchsen, es schien nur noch eine Richtung zu geben, aufwärts. Besonders gut hatte es getroffen, wer dem Geschäft mit dem Teppich im politischen Zentrum der Bonner Republik nachgehen konnte. Ministerien, Botschaften, das Kanzleramt waren in erheblichen Stückzahlen mit großformatig-repräsentativer und entsprechend hochpreisiger Knüpfware auszustatten. Selbstverständlich war auf politische Unanstößigkeit des Designs zu achten: Keine Hakenkreuze bitte wie in Nr. 36 von S. 68. Das führende Bonner Teppichhaus konnte unter den geschilderten Umständen zum Elite-Anbieter aufsteigen, mit besten Verbindungen der Inhaberfamilie in höhere politische Kreise. Probleme mit Hakenkreuzen? Einmal wurde mir im Geschäft eine Reklamation gezeigt, ein großformatiges nord-
westpersisches Flachgewebe. Es war von der deutschen Botschaft in irgendeinem südamerikanischen Staat, wenn ich mich recht entsinne, an den Verkäufer zurückgegeben worden. Jahrelang hatte in der Botschaft niemand darauf geachtet, dann bemerkte man auf einmal die ins Muster eingebauten Swastikas. Das war ein Einzelfall, unerheblich für die geschäftliche Gesamtsituation auf dem Teppichmarkt der Bundeshauptstadt. Dort, und nicht anders im übrigen Lande, wurde der Perserteppich auch von ganz oben her stilbildend. Irgendwann war er so etwas wie das ausgerollte Emblem der Bonner Wohlstandsrepublik geworden. Die Botschaft hätte nicht zwingend zur Rückgabe des Flachgewebes schreiten müssen. Nehmen Sie den erwähnten Säulenteppich Nr. 36. Dort sehen wir in der linken Feldmitte eine dunkelblaugrundige, mit drei Hakenkreuz-Formen verzierte Vase. So etwas kommt vor. Es kommt in diesem Fall in einem antiken Teppich vor, der rund achtzig Jahre vor dem politischen Aufstieg der Nazi-Bewegung entstanden ist. Mehr noch, bereits Jahrtausende vor dem Zugriff der Nazis war das Hakenkreuz, oder eben mit dem Sanskrit-Wort die swastika, als Symbol in Gebrauch, zunächst vor allem auf dem indischen Subkontinent. Dieses Zeichen, es war ja, wenn man es ganz neutral und ohne ein Mitbedenken historischer deutscher Lasten nur an dem Zweck misst, den Eindruck einer etwas rumpeligen Drehbewegung zu vermitteln, gar nicht schlecht ausgedacht. In der alten indischen Kultur konnte es für verschiedene Aspekte des menschlichen Lebens zwischen Aufstieg und Niedergang stehen. Dabei wurde hinsichtlich des symbolischen Gehalts zeitweilig sogar nach links- oder rechtsdrehender Ausführung unterschieden. Das alles sind kulturhistorisch interessante Details. Zugleich ist aber klar, dass nach allem, was von 1933 an geschehen war, die an sich unschuldige Swastika im deutschen Handel nach 1945 nur tabu sein konnte.
Insgesamt blühte also der Handel. Dann fielen sie ab, die Kurven, die Handelsmargen, das Kundeninteresse, so langsam von Mitte der 1980er Jahre an. Mancher Händler, der von den Kunden zuletzt schon ein bisschen zu hoch auf dem Ross und dort auch mit goldener Nase gesehen wurde, musste zurückstecken. Später, als es hier und da bereits um Verkleinerung, Rückzug, Totalausverkauf wegen Geschäftsaufgabe ging, konnte man leicht an Joachim Witt denken. Der hatte, zeitlich ungefähr passend im Jahre 1981, als ein Schwimmer auf der Neuen deutschen Welle das ewige Geschehen von Aufstieg und Niedergang auf den Punkt gebracht, allerdings mit einer speziellen psychopathologischen Note: »Ich war der goldene Reiter, ich war so hoch auf der Leiter, doch dann fiel ich ab, ja dann fiel ich ab.« Ja, am Ende war es ein starker Abfall. Wobei die Bonner Republik, wenn man von Psychopathologie redet, wenig Manisches an sich hatte. Es war vielmehr so, dass man sich mit Maß und Kontrolle nach oben entwickelte. Solidität war ein Leitwert. Oben angekommen zu sein bedeutete, an der Konsolidierung zu arbeiten und bei der Üppigkeit, wo ihr ein gewisser Raum gegeben wurde, doch auch auf Grenzen zu achten. Nicht ganz zu vergessen, wo man herkam. Friedrich Flick blieb, auch als er schon hundertfacher DM-Millionär war, seinen billigen Zigarren der Marke Handelsgold treu. Wie kam es zum Niedergang? Irgendwann hatte bei vielen das Lebensgefühl sich in eine andere, leichtere, weniger auf Gediegenheit zielende Richtung zu entwickeln begonnen. Der Designgeschmack hatte angefangen, sich zu verändern. Auf einmal erschien das ins Medaillon des Keschan und ins Feld darum herum eingeknüpfte, blumenbesetzte Rankenwerk, wenngleich durch eine stringente Bordürenlinie eingefasst, viel zu blütenschwer. Es war einfach alles zu viel. Alles ansatzweise Verspielte oder gar üppig Ornamentale begann vorgestrig und großelterlich zu wirken. 103
Jedes Ornament ist ein Verbrechen, neue Sachlichkeit, Bauhaus, form follows function: In den lange zurückliegenden Anfangsjahren solcher Strömungen müssen selbst die entschlossensten Fürsprecher manchmal, im Stillen, resigniert gedacht haben, das werde sich auf breiter Front wohl niemals durchsetzen. Und dann ist es auf einmal so weit, dass die Menschen sich vom lieblichen Ornament ab- und zur Designstrenge hinwenden. Am Ende zog noch die Politik fort aus Bonn. Von dem in Berlin neu errichteten Kanzleramt ging nach Architektur und Innenausstattung eine Botschaft radikaler Nüchternheit und Modernität aus. Kleine Nebenwirkung der großen politischen Umbrüche: Jenem Bonner Teppichhaus brach ein wichtiger Teil seiner Kundschaft weg. Man konnte sich noch bis in die 2010er Jahre halten, dann kam nach Jahrzehnten glänzender Geschäfte mit Knüpferzeugnissen das Ende. Der Teppich begann auf viele in der Rückschau bieder zu wirken, bieder vielleicht wie jene ganze Bonner Republik. Die nun Gefahr lief, von der neuen, alten Hauptstadt aus als ein nicht mehr unbedingt identitätsrelevantes politisches Durchgangsstadium betrachtet zu werden, auf dem Weg zu einem moderneren Deutschland. Der Umschwung traf auf den fine artMärkten nicht allein Teppiche, sondern beispielsweise auch Möbel, Gläser, Silber, Porzellangeschirr. Irgendwann war die süddeutsche Barockkommode mit ihren bewegten Schubladenfronten und den fein ausgeführten Bandintarsien für einen Bruchteil des Betrages zu haben, den der Kunde um 1970 für sie aufwenden musste. In der Folge dieser Geschmacksumkehr in Kombination mit steil ansteigenden innerstädtischen Ladenmieten wurde es allmählich weniger mit den Antiquitätengeschäften in deutschen Innenstädten. Wo sind sie geblieben? Muss man sie jetzt im Gewerbegebiet suchen? Mit ihnen verschwand die schon immer sehr viel seltenere Spezies der Galerien für Teppichantiquitäten nahezu vollständig. Dadurch gingen kunden104
nahe Anschauungs- und Informationsquellen verloren, die das Marktgeschehen hätten beeinflussen und die auf breiter Front geschmacksbildend hätten wirken können. Fortan konnte kaum mehr jemand einfach beim Einkaufen, im Vorübergehen, einen Eindruck davon gewinnen, was es da eventuell außerdem noch gab im Teppichbereich, neben beliebig wiederholbarer Ausverkaufsware von geringem ästhetischen Reiz. Dass es den Teppichsektor besonders hart traf, hängt auch mit einer damals im Ursprungsland Iran vorherrschenden, mit der neuen deutschen Präferenz für Designstrenge wenig kompatiblen Vorstellung davon zusammen, was einen guten Teppich ausmachen sollte. Den Geschmacksvorstellungen der iranischen Oberschicht der späten Pahlewi-Ära, bis hinauf ins Kaiserhaus selbst, hatte es entsprochen, beim Entwurf der knüpftechnisch ambitionierten, feinsten Werkstatt-Teppiche – von feinster Qualität, was die Knotenzahl pro Flächeneinheit und den Organisationsgrad des Musters angeht – immer noch eine Arabeskenschicht mehr anzufordern, bei den auf das Grundgewebe gebrachten Verschlingungen und Durchdringungen vegetabiler Formen eine hoch und höher gesteigerte Komplexität nachzufragen. Dies war dort »unten«, im Iran, soziologisch gesehen nicht zuletzt eine Frage des Prestiges der Person, die den Teppich später ihr eigen nennen wollte. Prestigestreben setzt gern darauf, sich besonders hohen Arbeitsaufwand einzukaufen. Gestalterisch war es das krasse Gegenteil einer nüchternen, in der formalen Leichtigkeit nach Prägnanz suchenden Modernität. Jener Zug hin zum verfeinerten, überladenen, im Grunde dekadent zu nennenden Spätstil bestimmte noch bis weit über das Jahr 1979 hinaus erhebliche Anteile der iranischen Teppichproduktion für den Inlandsmarkt, mit Auswirkungen natürlich auch auf die Exportware. Politisch markierte das genannte Jahr einen tiefen Einschnitt. Es war das Jahr der Entmachtung und Exilierung
von Schah Reza Pahlewi und seiner Familie im Zuge der sogenannten Islamischen Revolution. Damit sind wir beim nächsten, einem eher unter der Oberfläche wirksamen Faktor, dem Verhältnis zum Islam. Dem westlichen Teppichinteresse dürfte eine seit den 1990er Jahren aufgekommene Reserviertheit gegenüber vielem, was irgendwie mit dem Islam zu tun hat, zugesetzt haben – eine Folge des islamisch motivierten Terrorismus, der in jener Zeit weltweit an Umfang und Gefährdungspotential zunahm. Dabei hätten in Deutschland schon viel früher Schahbesuch, Jubelperser, 68er Proteste, Polizeieinsatz und die Folgen die Popularität des »Persers« einschränken können. Wovon aber erst einmal nichts zu bemerken war. Klar, linke Studenten mit längeren Haaren stellten sowieso nicht den Kern der Teppich-Nachfrage. Anders seit den 1990er Jahren, wie gesagt. Zur Terror-Erfahrung kam die nicht länger ausblendbare Wahrnehmung des illiberalen Charakters verschiedener islamischer Regimes hinzu, das Befremden über ein von ganzen Regimes oder von öffentlich besonders gut sichtbaren EinzelAkteuren unterhaltenes Frauenbild mit anti-emanzipatorischen Zügen, die Irritation durch archaisch wirkende Einstellungen zu physischer Gewalt und anderes mehr. Illiberal ging es und geht es oft genug immer noch zu, in mancher Hinsicht auch archaisch, das ist alles richtig. Sie hinken gegenwärtig in soziokultureller Hinsicht nach, zweifellos, und unübersehbar gibt es Gruppierungen, die extremen Glaubensauslegungen anhängen. Von einem Nachhinken konnte aber keineswegs in jeder historischen Phase die Rede sein, als gehörte es zum Wesenskern dieser Glaubensrichtung. Um das Jahr fünfzehnhundert beispielsweise waren die westeuropäischen Regenten beim Blick nach Osten ausgesprochen besorgt: wegen der wirtschaftlichen, technologischen und militärischen Überlegenheit
des politischen Hauptakteurs im Orient, des Osmanischen Reichs. Die Stärke des großen Konkurrenten war nicht zuletzt eine Folge des multikulturellen Charakters seiner Gesellschaft, mit einem hohen Anteil gesellschaftlich weitgehend reibungslos integrierter Christen, Juden und anderer. Umgekehrt spielt sich im christlichen Abendland wahrlich auch keine gegen Rückfälle resistente, immer geradlinige zivilisatorische Fortschrittsgeschichte ab. Soll man also wegen eines kontingenten und auf mittlere Sicht überwindbar erscheinenden Entwicklungsrückstands in muslimisch geprägten Gesellschaften tausend und mehr Jahre islamischer Kunst und islamischen Kunsthandwerks negieren? Das wäre ziemlich kurzschlüssig. Es ist richtig, das Gros der Teppichproduktion, auch der historischen, entfällt auf islamische Gemeinschaften. Es ist ebenfalls eine Tatsache, dass es z. B. die islamspezifische Gattung der Gebetsteppiche gab und gibt, Abb. 55 auf S. 101. Näheres dazu folgt in Kürze. Über diesen Feststellungen sollte nicht vergessen werden: Bei vielen künstlerisch bemerkenswerten Erzeugnissen aus der dörflichen Teppichproduktion des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts dürfte es sich mit ziemlicher Sicherheit um Arbeiten christlich-armenischer Knüpferinnen handeln. 29. Will man Zerstörung? Nicht-islamischer Ursprung einer bedeutenden Untergruppe textiler Arbeiten des Orients – ob Kenntnis dieses Faktums den Teppichen in westlichen Gesellschaften hätte helfen können, vor allem im Bewusstsein vieler ihrer jüngeren, liberal und anti-traditionalistisch eingestellten Leute? Das ist unklar. Die Situation ist jetzt einmal so, wie sie ist. Was nicht heißt, dass man sie nicht mit dem Blick nach vorn zu ändern versuchen könnte, durch eine Verbreiterung der Wissensbasis. Es heißt im Übrigen auch nicht, dass Teppiche beim jungen Publikum überhaupt keine Rolle mehr spielten. 105
Kaum zu übersehen ist nämlich, dass auf »junges Wohnen« abstellende Einrichtungshäuser in Deutschland seit einigen Jahren ziemlich flächendeckend bestimmte Bodentextilien im Angebot haben und damit kommerziell erfolgreich sind. Es handelt sich, gern an das Schlagwort vintage look geknüpft, um Stücke, die einerseits nach Abmessungen, Musterung etc. einen vertraut wirkenden Typus traditioneller Teppiche, wie er in den Köpfen als Stereotyp präsent sein mag, ganz unbekümmert zitieren. Andererseits wirkt der Umstand, dass starke Spuren von Abnutzung zu konstitutiven Designelementen gemacht werden, bis hin zu einer großflächigen Zerstörung des Musters, wie eine explizite Distanzierung von solchen Stereotypen. Dieses Element von Destruktion, Dekonstruktion wäre als Begriff zu anspruchsvoll, es geht mitunter so weit, dass der Eindruck stumpfer Gewalt entsteht. Es ist, als wären die schweren Planierschilde von eigens in die Produktion bestellten Raupenfahrzeugen irgendwann über das Gewebe hinweggeschrammt. An dem Punkt wird es mentalitätenanalytisch interessant. Der beschriebene Einrichtungstrend steht nämlich nicht isoliert da. Er verlängert bloß die Linien einer anderweitig schon längst etablierten Tendenz: Präferenz für destroyed look. Am Anfang stand im Bekleidungsbereich die Durchsetzung einer worn look-Ästhetik. Dann kamen die Einrisse und Löcher hinzu. Zerstörtes Aussehen wurde zu der auf Abnutzung folgenden Steigerungsform. Niemand schüttelt inzwischen mehr den Kopf über solche Kleidung. Im Gegenteil, man hat sich an die Ausbreitung des Phänomens gewöhnt und vermag es als Bereicherung anzusehen. Inzwischen sind noch ganz andere Bereiche erfasst. Begünstigt durch eine Beschleunigung der Kommunikationsverhältnisse konnte es dahin kommen, dass der Gebrauch korrekter, mit Bedacht eingesetzter Schriftsprache in den Geruch der Biederkeit geriet. Es wurde zur schickeren, 106
jugendlicher wirkenden Option, sich einer partiell demolierten Sprache zu bedienen: Kiez-Deutsch usw. Mit dem dazu passenden Möbel- und Teppichdesign ergibt sich ein stimmiges Bild. Unversehrtheit wirkt zu brav. Man will den Schuss Anarchie, und sei es durch ein simuliertes Zerstörungsgeschehen. Warum denn bloß? Ein Mangel an konstruktiver Kreativität kann eine Rolle spielen, dazu ein Rückgang von gelassener Souveränität in der schlichten Übernahme von Bewährtem. Auch wichtig vielleicht: das Verblassen von Erinnerungen an den Bedrohungscharakter wirklicher Zerstörungen, wie sie mit gewaltsam ausgetragenen Konflikten einhergehen. Was dereinst die Designgeschichte der ersten Hälfte des einundzwanzigsten Jahrhunderts zu absichtlich an Mobiliar sowie an Bekleidungsund Einrichtungstextilien angebrachten Zerstörungsspuren zu schreiben haben wird, bleibt abzuwarten. Wir wollen uns weiterhin auf traditionelle Teppiche konzentrieren, und zwar wie gehabt vor allem auf solche der Alterskategorie »antik«. Versehrungen haben sich in diesen Fällen alters- und gebrauchsbedingt fast immer von selbst eingestellt, unter Umständen bis hin zum Extrem der Fragmentierung. Da hat bei der Produktion niemand nachhelfen müssen. 30. Religiöse Signatur? Die im vorigen Abschnitt als traditionell bezeichneten Teppiche bilden, das ist inzwischen deutlich geworden, eine in vieler Hinsicht sehr inhomogene Gruppe. Auf ein vermutlich in manchen Köpfen nach wie vor abgespeichertes Einheitsschema vom floral ornamentierten Perserteppich lassen sie sich nicht reduzieren. Eine spezielle, im Wesentlichen funktional definierte Untergruppe, mit der auch die Islam-Thematik noch einmal in den Blick kommt, bilden die Gebetsteppiche. Dies sind vergleichsweise kleinformatige Teppiche mit einem richtungsgebundenen Muster, zu dem als nahezu obligatori-
sches Element eine Gebetsnische oder ein sogenannter Gebetsgiebel gehört. Im Aufbau typische Beispiele sind Nr. 16 und Nr. 55 auf S. 32 und 101. Solche Teppiche konnten von gläubigen Moslems zu den vorgeschriebenen Gebetszeiten als Unterlage zum Beten ausgerollt werden, mit Ausrichtung des Giebels, und dann auch des im Giebelbereich aufliegenden Kopfes des Gläubigen selbst, auf die Stadt Mekka. In den gar nicht so seltenen Fällen von gegenüber dem Normalmaß noch einmal deutlich verkleinerten Abmessungen handelt es sich vielfach um Reisegebetsteppiche. Sie ließen sich zusammengerollt auf Reisen mitführen, so dass auch unterwegs das fromme Ritual vollzogen werden konnte. Am anderen Ende der Größenskala stehen für den Gebrauch in Moscheen angefertigte Reihengebetsteppiche, auf denen für ein gemeinsames Beten mehrere Gebetsnischen nebeneinander gereiht sind wie bei Nr. 56, nächste Seite. ⋆
NORTMANN: Manche Teppiche haben eine bewegte Geschichte, in der sich übergeordnete Entwicklungen spiegeln. Zu Nr. 56 lässt sich wohl einiges erzählen. MALTZAHN: Das eindrucksvolle Fragment stammt aus einem ursprünglich sehr großen, weißgrundigen Reihengebetsteppich (Saf ) aus Bochara. Erhalten sind drei vollständige Gebetsfelder und ein halbes Feld am linken Rand, außerdem die obere Querbordüre. Die mit bunten Winkeln besetzten Mihrabs haben die Gestalt von Türmen, deren verlängerte Seiten und Giebelspitzen mit drei mächtigen Doppelhaken bekrönt sind. Vertikale Bahnen mit demselben Winkelmuster rahmen die Felder ein. Die Wirkung dieses Safs ist ausgesprochen monumental. Alle Formen sind einfach und kraftvoll gezeichnet, eine Konzentration auf das Wesentliche. Insofern unterscheidet sich dieser Saf deutlich von
den mit ihm verwandten, älteren ErsariEinzelnischen-Gebetsteppichen, deren Felder dichte Blütenmuster aufweisen. Ein noch größeres Fragment, das aus demselben Teppich stammt, befindet sich heute in einem Museum in Bochara, der Hauptstadt des gleichnamigen Emirats in Südwest-Usbekistan. Aus Quellenangaben wissen wir, dass dieser ursprünglich riesige Teppich im Jahr 1874 vom Emir Muzaffar für die örtliche Bala Hauz-Moschee in Auftrag gegeben wurde. Achtzehn turkmenische und zwei usbekische Knüpfer sollen ein Jahr lang mit seiner Herstellung beschäftigt gewesen sein. In den Wirren des russischen Bürgerkrieges wurde der Teppich aus der Moschee entfernt und in Stücke zerschnitten. Über den Markt in Istanbul gelangten einige Fragmente in den Handel, so auch dieses Exemplar, ein anderes wurde von der Galerie Bausback publiziert. Zwei andere Fragmente eines BocharaReihengebetsteppichs mit analoger Musterung wurden 1998 bei Sotheby’s und 2002 bei Christie’s in London versteigert. Sie repräsentieren den gleichen Typus, scheinen aber aus einem älteren Teppich zu stammen, der in stilistischen Details von unserem Fragment leicht abweicht. Die beiden Londoner Fragmente sind stark abgenutzt. Der ältere Saf war offenbar so verschlissen, dass er in Bochara ausgemustert und durch eine Neuanfertigung ersetzt wurde. Das erklärt den Auftrag des Emirs Muzaffar. ⋆ ⋆
Auch Nr. 55 von S. 101 verdient einen näheren Blick. Das Feldmuster kann hier als blumig bezeichnet werden, warum denn nicht. Und doch, der Gebrauch des Adjektivs mit seiner leicht abschätzigen Bedeutung ist in diesem Fall irreführend. Denn wir sehen eine erstaunlich modern wirkende Art, das Blumenthema zu interpretieren. Um eine naiv-realistische Darstellung ging es der Knüpferin offenbar nicht.
107
◀
Abb. 56: Reihen-Gebetsteppich, sogenannter Saf, Fragment, auf Leinwand genäht, 147 × 209 cm, zweite Hälfte 19. Jh., in Buchara angefertigt. Buchara, auch Buxoro, ist eine sehr alte Stadt in Usbekistan, die schon in vorislamischer Zeit als ein wirtschaftliches und kulturelles Zentrum zu Bedeutung gelangte. – In islamischer Zeit sahen die Bibliotheken der Stadt, es war irgendwann gegen Ende des 10. Jh.s, den jungen, in der Nachbarschaft geborenen Ibn Sina unter den Studenten in ihren Hallen. Ibn Sina sollte später in Europa Avicenna genannt werden und es zu einem erstklassigen Ruf bringen: als ein an Aristoteles geschulter Philosoph mit außergewöhnlichen medizinischen Kenntnissen, was ihm den Titel »Fürst der Ärzte« eintrug.
◀
Abb. 57: Gebetsteppich Mudjur, 182 × 137 cm, erste Hälfte 19. Jh., Zentralanatolien. Mudjur ist eine türkische Stadt.
108
Eine enge Festlegung auf einen naturalistischen Darstellungsstil wäre auch gar nicht angebracht gewesen. Falls nämlich davon auszugehen ist, dass die Knüpferin sich für den Betenden, als Gegenstand seiner Kontemplation, weniger einen irdischen als vielmehr einen überirdischen Garten vorstellte. Wir sehen als ein in vielen verschiedenen Farb- und Innenzeichnungsvarianten wiederholtes Grundelement das Boteh-Motiv, zu persisch boteh: Strauch, Busch, Büschel. Die Frage nach dem Ursprung des sehr alten Motivs lässt sich heute nicht mehr eindeutig beantworten. Diskutiert werden wahlweise Palmblätter, Zypressenwipfel, Blumen und Flammen. Zypressenwipfel sind nicht abwegig. Während nämlich bei Fichten und Tannen der jährliche Längenzuwachs im Normalfall über einen einzigen, stramm nach oben zeigenden Leittrieb stattfindet, bieten bei den Gehölzen der Zypressenfamilie oft mehrere, am weitesten nach oben vorgeschobene Triebe sich dem Betrachter als ein zur Seite hängendes Büschel dar. Das entspricht in etwa der Art, wie beim Boteh die seitwärts gebogene Spitze gestaltet ist. Es sollte meines Erachtens bei der Suche nach Boteh-Vorbildern auch an die glockenförmigen Blüten des Granatapfelbaums im Knospenstadium gedacht werden sowie an die Blüten der in Zentralasien verbreiteten Tragant-Arten. Der Tragant oder Bocksdorn ist im heutigen Persisch eine der spezielleren Bedeutungen des Wortes boteh. Wie dem auch sei, wer nicht auf eine naturalistische Darstellungsnorm festgelegt ist, den würde nichts daran hindern, zur Herstellung einer Gartenimpression reale Wipfel-, Blatt- und Knospenformen zu einer einzigen floralen Phantasieform zusammenfließen zu lassen. Selbst die Flamme könnte im Spiel bleiben. Der draußen, auf der Wiese oder im Garten, in der richtigen Jahreszeit beim Anblick einer Vielfalt von Blüten unterschiedlicher Arten und Formen entstehende Eindruck flirrender, im Sonnenlicht entflammter Farbigkeit, wie wäre er in einem textilen Medium, das eher wenig Raum
gibt für impulsive Bildakte, am besten einzufangen? Er dürfte kaum wirkungsvoller ins Bild gesetzt und beim Betrachter hervorgerufen werden können als dadurch, dass planvoll immer wieder gezackte Farbbänder gestaltet und in die einmal gewählte Grundform als Binnenzeichnung eingeschrieben werden. Weiter, wie ließe sich wohl das Glitzern und Funkeln der vielleicht noch vom Nachttau benetzten Blütenblätter darstellen, wenn auf sie die erste Morgensonne fällt? Zum Beispiel dadurch, dass die Botehs gegenüber der Normalform eine Kontur erhalten, die aus feinen Zackenbändern gebildet ist. Die Knüpferin hat sich einiges einfallen lassen und dabei so etwas wie einen besonderen, linear-impressionistischen Stil entwickelt, der zugleich einer abstrakten Gegenstandsauffassung nahe kommt. Ich sage der Einfachheit halber: die Knüpferin, im Singular. Tatsächlich wird es nicht eine einzige gewesen sein. Denn die angeführten Gestaltungsprinzipien sind typisch für Teppiche aus dem Dorf Marasali. Sie werden sich über einen längeren Zeitraum hinweg als Ergebnisse eines schöpferischen Gruppenprozesses entwickelt haben. Diese Ergebnisse lassen sich unter rein ästhetischen Gesichtspunkten würdigen. Ein religiöser Verwendungs- und Verweisungszusammenhang kann dabei, muss aber nicht mitbedacht werden. Um die Breite des möglichen Spektrums aufzuzeigen, gehe ich noch auf ein deutlich anders konzipiertes Gebetsteppich-Beispiel einer anderen Provenienz ein, auf einen antiken Mudjur, Abb. 57. Die visuelle Attraktivität beruht hier auf dem starken Kontrast zwischen den fein ziselierten, kleinteiligen Blütenformen der Bordürenzone auf der einen Seite und dem im Wesentlichen musterfrei in markantem Feuerrot gearbeiteten Gebetsfeld auf der anderen Seite. Möglicherweise spielte bei der kompositorischen Ausgestaltung dieser Teppiche der Gedanke einer spirituellen Bewusstseins109
Transformation eine Rolle: Versuche den Teppich so zu entwerfen, dass sein Anblick aus nächster Nähe bei der Versenkung in einen anderen Zustand helfen kann. Wie denn? In der Weise vielleicht, dass der Anblick des Gebetsfeldes aus geringer Distanz mit dem betenden Individuum etwas macht. Könnte nicht bei ihm die gedankliche Verwicklung in eine sei es zu Besorgnissen führende, sei es betörende Mannigfaltigkeit der Dinge und Gegebenheiten des gewöhnlichen Lebens herabgesetzt werden, für eine Weile zumindest? Wir sollten nicht bloß an die Ausbreitung einer kontemplativen Leere in einem Bewusstsein denken, das gewöhnlich von zahllosen Spuren des In-der-Welt-Seins besetzt ist. Zu fragen ist auch, wie es mit der Herstellung konkreter Transzendenz-Bezüge steht, insbesondere: mit dem Denken des Unendlichen. Ein Artefakt ist zu gestalten, die vorgegebene Fläche ist nicht sehr groß. Die Natur operiert in ganz anderen Dimensionen. Sie hat immer schon den Raum, um mit der für menschliche Verhältnisse unermesslichen Weite eines Ozeans oder eines bis zum Horizont erstreckten Graslandes dem Betrachter eine Ahnung von Unendlichkeit zu vermitteln. Nicht zu reden vom Blick in den nächtlichen Sternenhimmel. Was wäre in der betreffenden Hinsicht auf der überschaubaren Fläche eines Teppichs auszurichten? Antwort: Durch Farbschwankungen, durch feine und feinste Abstufungen eines Farbtons, nicht unbedingt planvoll zustande gebracht, aber bei der Herstellung aufgrund von Erfahrung einkalkulierbar, kann eine bei flüchtiger Betrachtung monochrome Fläche so etwas wie einen Verweis auf Unendlichkeit mit sich führen. Direkte sinnliche Wahrnehmung würde den Gedanken vermitteln, dass die Endlichkeit vielleicht überwindbar ist: genau so, wie eine gegebene Farbqualität sich endlos in Nuancen auffächern lässt. Im Westen war es Aristoteles, der als erster klar die Einsicht aussprach, dass al110
les Kontinuierliche selbst dort, wo es »hinsichtlich der äußersten Enden« noch so begrenzt ist, gleichwohl auch unbegrenzt genannt werden kann. Gemeint war, dass es »hinsichtlich der Teilung« unbegrenzt sei, nämlich hinsichtlich der Unterteilung nach innen. Ganz richtig. Eine solche Teilung lässt sich bei einem Kontinuum ständig weiter verfeinern, etwa im Fall einer Strecke durch fortgesetztes Halbieren der Ausgangsstrecke, der aus ihr erzeugten Teilstrecken und so weiter. Die Quelle ist Aristoteles, Physik, Buch VI, Kapitel 9. Ständige Verfeinerung, ja: Auch zwischen zwei Rotschattierungen kann man stets noch eine dritte einschieben, und im Prinzip immer so fort bis an die Grenzen der optischen Unterscheidungsfähigkeit. Das, worauf Aristoteles in seiner Physik-Schrift abzielte, waren zwar in erster Linie Raumstrecken und darüber hinaus auch Zeitintervalle; in beiden Fällen solche von endlicher äußerer Ausdehnung, ohne dass diese Endlichkeit irgendwie die Möglichkeit einer unbegrenzt fortgeführten Binnenteilung hätte mindern können. Warum Raum und Zeit? Der griechische Ausnahme-Denker hatte bei der von ihm angemahnten Unterscheidung zweier Arten von Unbegrenztheit vor allem das Ziel im Auge, bestimmten sehr radikalen, gegen den Realitätsgehalt von BewegungsWahrnehmungen gerichteten Argumenten seitens der eleatischen Philosophie-Konkurrenz wirksam entgegenzutreten. Jede Bewegung hat ihre Geschwindigkeit. Geschwindigkeit bemisst sich nach der pro Zeiteinheit zurückgelegten Strecke. Für Bewegungen sind also die wesentlichen Größen tatsächlich: die Raumstrecke und das Zeitintervall. Damit waren für Aristoteles Raum und Zeit als Themen gesetzt. Während Einzelheiten des damals zwischen Athen und dem italischen Elea ausgetragenen Streits um Bewegungen hier nichts zur Sache tun, kann festgehalten werden: Der Fall des in eine unübersehbare Tiefe von Nuancen entwickelbaren Farbraums
lässt sich nahtlos an die Überlegungen anschließen, die bei Aristoteles dem Kontinuum gewidmet sind. Und zwar auch deshalb, weil der paradigmatische Ortsraum immer mit im Spiel ist. Denn dort, wo Farben keine abstrakten Farbwerte bleiben, sondern physisch auf einem flächenmäßig begrenzten Träger dargeboten werden müssen, beanspruchen sie jeweils ihren Teil an Fläche; so dass jede breite Auffächerung des Spektrums an Farbnuancen eine entsprechend weit vorangetriebene Aufteilung des Raums voraussetzt. Denken Sie bei all dem an abrash auf der Teppichfläche, und erinnern Sie sich an das hierdurch in eindrücklicher Weise belebte und mit Tiefe versehene Feld von Nr. 12, S. 26. Wir können zur Veranschaulichung noch Nr. 58 hinzunehmen, nächste Seite. Die Art und Weise, in der bei diesem Kelim drei changierend-monochrome Farbfelder in Szene gesetzt werden, wirkt ausgesprochen modern. Sie erscheint wie eine Synthese der Bildvorstellungen, die von Barnett Newman (1905–1970) und Mark Rothko (1903–1970) in den Arbeiten Nr. 59 und Nr. 60 verwirklicht wurden. Von Newman der Bildaufbau, so möchte man spontan sagen, von Rothko die fließende bis schwebende Anmutung des Rot, als wäre es entmaterialisiert. Der Maler erzielte diesen Effekt mittels einer besonderen Lasurtechnik, die zu einer leicht unregelmäßigen Pigmentverteilung führt. In Wirklichkeit ist, was das Zeitverhältnis angeht, die aserbaidschanische Decke rund achtzig Jahre älter als die beiden hier zum Vergleich herangezogenen Gemälde, von denen das eine beispielhaft für den amerikanischen Abstrakten Expressionismus steht, während das andere repräsentativ ist für die Strömung der hard edge-Farbfeldmalerei. Islamischer als bei Gebetsteppichen geht’s nicht, vordergründig betrachtet. Es bleibt darüber hinaus auch bei der Feststellung, dass der größte Anteil der historischen Teppichproduktion in einem kulturell von islamischer Religiosität mitbeeinflussten
Herstellungskontext zu verorten ist. Demnach wären die meisten Teppiche irgendwie vom Islam bis hinein in ihr Grundgewebe imprägnierte Erzeugnisse? Und müssten eine Rezeption erfahren, die in hohem Maße diesem Aspekt Rechnung trägt? Nein. Wir sollten es gerade nicht bedingungslos mit Autorinnen und Autoren halten, die meinen: »Um ein kunsthandwerkliches Objekt wirklich verstehen und würdigen zu können, erscheint es … wesentlich, sich von der westlich geprägten ästhetischen Brille zu befreien und sich mit dem Volk, das das ›Kunstobjekt‹ erzeugt, intensiv zu befassen.« Dies ist die Sicht von Brigitte Rossetti, vorgetragen in der Einleitung von Die Turkmenen und ihre Teppiche. Die hier angemahnte ethnologische Befassung kann sehr verdienstvoll und erhellend sein. Der engagierte Sammler möchte ihre Ergebnisse nicht missen. Sie kann aber den freien Blick auf das Wirkungspotential verstellen, das einer Arbeit als einem ästhetischen Objekt von zeitloser Ausdruckskraft zukommt. Daher ist es wichtig, die »westlich geprägte« Brille, die inzwischen eine doch eher von globalen Einflüssen geformte Brille ist, gerade nicht wegzulegen. Man sollte sie im Gegenteil vor den Teppichen möglichst oft aufsetzen und dabei kulturgeschichtlichethnologisches Hintergrundwissen gegebenenfalls auch einmal bewusst einklammern. Damit klar werden kann: Selbst einem noch so säkular eingestellten Betrachter, der von einer urbanen Lebensform und von Seherfahrungen mit moderner Kunst und Architektur herkommen mag, können hier und heute gelungene Arbeiten aus dem Bereich antiker orientalischer Teppiche, also aus einem völlig anderen kulturellen Kontext, spontan etwas sagen.
111
◀
Abb. 58: Kelim, 248 × 177 cm, 19. Jh., Süd-Kaukasus, Aseri-Volksgruppe. – Würde ein vergleichbares Muster in Schlitzkelimtechnik nach einem Plan ausgeführt, der anders als im obigen Fall geradlinige Ränder für die Farbbahnen vorsieht, so entstünden zwei lange Schlitze in der Vertikalen: zwei von unten bis oben durchlaufende Schlitze an den Farbgrenzen, wo beiderseits die Umkehrstellen von jeweils rund zweitausend Schussfäden in einer Linie übereinander liegen würden. Es ist klar, dass die Stabilität des Flachgewebes dadurch stark beeinträchtigt wäre. Mit der Entscheidung für eine Kontur aus horizontal ineinandergreifenden Zacken und diagonal gegeneinander versetzten Umkehrstellen lässt sich dagegen die Instabilität weitgehend vermeiden. Letztlich zeigt das Beispiel von Nr. 58 im Vergleich etwa mit Abb. 60, wie bestimmte Gestaltungsprinzipien, denen man in der Teppichkunst immer wieder begegnet, mit technischen Gegebenheiten und praktischen Erfordernissen in Verbindung stehen, die in diesem Bereich wirksam sind. Weitere Zusammenhänge ähnlicher Art sind ein Thema in den Abschnitten 14 bis 16.
112
◀
Abb. 59: Mark Rothko, Untitled (Red, Orange), 1968, Öl auf Leinwand, 233 × 176 cm.
◀
Abb. 60: Barnett Newman, The Way II, 1969, Acryl auf Leinwand, 198 × 152 cm.
113
Außerdem kann es für einen Teppich, soweit wir nicht gerade das Genre der Gebetsteppiche vor Augen haben, eine ihm ganz äußerliche Eigenschaft sein, die Entstehung einer muslimischen Knüpferin zu verdanken. Hier ist ein anderes, profaneres Bild: Die Winter, sie waren kalt – beispielsweise in den Dörfern des Gebirgszuges, den wir den Kleinen Kaukasus nennen, dort waren sie sogar sehr kalt. Wenn dann um das Jahr 1850 etwa in dem Örtchen Fachralo, zwischen dem Sewan-See auf knapp zweitausend Metern Höhe und dem Suramskij-Pass gelegen, in einer Familie muslimischen Glaubens die Frauen in monatelanger gemeinschaftlicher Arbeit einen großen, hochflorigen Teppich aus bester, wärmender Hochlandwolle entstehen ließen, so hatte das nicht besonders viel mit Religiosität zu tun. Es hatte zuerst einmal mit der im Winter vom Steinfußboden aufsteigenden Kälte zu tun. Und dann auch mit einem offenbar ausgeprägten Sinn der Menschen für heitere Farbigkeit. Je härter der Winter ausfiel, desto mehr, denke ich mir, war diese Farbigkeit gefragt. Sie war gefragt, um an dunklen Tagen die Erinnerung an blütenübersäte Frühlingswiesen und das lichte Blau schimmernder Bergseen aufsteigen zu lassen. Wir brauchen uns nur an Nr. 33 von S. 60, beispielsweise, zu erinnern. Darüber hinaus dürften, wie schon erwähnt, zahlreiche der schönsten Arbeiten, die uns aus der dörflichen Teppichproduktion des neunzehnten Jahrhunderts erhalten geblieben sind, das Werk christlich-armenischer Knüpferinnen besonders aus ehemals Russisch-Armenien gewesen sein, aber auch aus den bis zum Genozid armenisch besiedelten Regionen Anatoliens. Es gibt also durchaus den »christlichen orientalischen« Teppich, wenn denn eine religiöse Signatur für die Rezeption überhaupt eine Rolle spielen soll. Volkmar Gantzhorn hat sich in seiner 1990 unter eben diesem Titel, Der christlich orientalische Teppich, publizierten Dissertation in besonderem Maße darauf verlegt, dem armenischen Beitrag zum texti114
len Zweig der Weltkunstgeschichte nachzugehen. Seine Thesen sind interessant, schießen aber gelegentlich weit übers Ziel hinaus, so dass sie in der Fachwelt eher mit Skepsis aufgenommen wurden. 31. Zuordnung: regional und ethnisch. Die Feststellung eines eventuellen armenischen Ursprungs, beispielsweise, bei einem alten Teppich ist eine Sache für Kenner. Im Allgemeinen sind Sammlerinnen und Sammler, so weit können wir Rossetti gern entgegenkommen, jedenfalls daran interessiert, etwas über das Wann, Wo und Durch-Wen der Arbeiten zu erfahren, denen sie möglicherweise aus vorwiegend ästhetischen Gründen Wertschätzung entgegenbringen. Datierungsfragen sind oft nicht leicht zu beantworten. Deshalb soll später in einem eigenen Abschnitt auf sie eingegangen werden. An dieser Stelle ein paar grundsätzliche Anmerkungen zum Wo und Durch-Wen von Teppichen. Neben dem augenfälligen kompositorischen und farblichen Bild einer Arbeit sind für die Klärung von Fragen der regionalen oder ethnischen Zuordnung in vielen Fällen weniger offen zu Tage liegende Faktoren aufschlussreich, wie z. B. die Knüpf- oder Webstruktur. Denn Muster können leicht wandern. Wenn etwa die Kurdin aus einem der Dörfer der westpersischen Provinz Kermanschah, Siedlungsgebiet der Jaff-Kurden, sich auf den Weg nach Norden, zu einer weit weg im Umland des ostanatolischen Elazig lebenden Verwandten, gemacht hat, wenn sie dort einen Teppich gesehen oder am Ende sogar von der Reise mitgebracht hat, der anders als zuhause üblich konzipiert war, dann kann sie sich daran machen, etwas in dieser Art auch einmal selbst auszuprobieren. Schon sind die Grenzen des engen lokalen Musterkanons überschritten. Bei der handwerklichen Durchführung kommt es dagegen nicht so leicht zu stärkeren Abweichungen von den jeweils regional verankerten Üblichkeiten. Allerdings müssen Tapetologen erst einmal zu einigermaßen belastbaren Erkenntnissen darüber
gelangen, welches Bild von Knüpfstruktur etc. eventuell für bestimmte Regionen oder Volksgruppen typisch ist. In manchen Fällen können besondere Umstände brauchbare Ansatzpunkte für die Hypothesenbildung bieten. Wenn sich beispielsweise in einem Teppich der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts eine Datierung nach christlicher Zeitrechnung eingeknüpft findet, weiß man mit ziemlicher Sicherheit, dass es sich um eine armenische Arbeit handelt. Häufen sich die Fälle dieser Art, so kann man nach Gemeinsamkeiten in der Knüpfstruktur und anderen Aspekten schauen. Es gibt, wenn wir uns auf diesen einen Fall der Abklärung eines armenischen Ursprungs als Beispiel beschränken, noch andere, in gleicher Weise auch für ungeschulte Augen erkennbare Indizien. So ist davon auszugehen, dass eine Knüpferin muslimischen Glaubens in einem Teppichmuster nicht ohne Weiteres auffällige Kreuzformen untergebracht hätte. Ich meine hier nicht nur die spezielle Variante des lateinischen Kreuzes mit seinem aus dem Zentrum nach oben verschobenen Querbalken, sondern jede Art von Kreuzformen. Daher deuten umgekehrt solche Motive, wo sie gehäuft auftreten, wiederum auf einen christlichen Ursprung hin. Natürlich lassen sich im Zusammenhang mit derartigen angeblichen Indizien immer skeptische Fragen aufwerfen wie: Was kann denn ein heutiger Westeuropäer ohne Islambezug schon Genaueres wissen über das gedankliche Verhältnis von Angehörigen muslimischer Glaubensgemeinschaften zu Kreuzformen, sagen wir, in der Zeit um 1880? Die Kreuzzüge lagen schließlich sechshundert Jahre zurück. Manchmal wirft jenseits dessen, was sich aus historischer Fachliteratur, Reiseberichten und dergleichen an textilgeschichtlich verwertbaren Details aufsammeln lässt, auch geeignete fiktionale Literatur ein Licht auf die Verhältnisse. Voraussetzung: Man muss davon ausgehen können, dass der Autor oder die Autorin einschlägige
Milieu-Kenntnisse besaß und sie in das Werk hat einfließen lassen. Versuchen wir in diesem Sinne etwa den Roman von der Brücke über den Fluss Drina auszuwerten. Die Brücke über die Drina, das ist der deutsche Titel des 1945 vom späteren Literatur-Nobelpreisträger Ivo Andrić (1892–1975) in serbischer Sprache publizierten historischen Panoramas einer bosnischen Stadt. Diese Stadt, der Name ist hier nicht von Bedeutung, war ehemals Teil des Osmanischen Reiches. Andrić schildert sehr einfühlsam das Miteinander ihrer Bürger: deren Bestreben, quer über die Grenzen der verschiedenen Religionen hinweg in Frieden miteinander zu leben, zu arbeiten und Handel zu treiben. Auch den irgendwann vom Kaiser von Österreich herübergeschickten Soldaten, so erfahren wir, begegnen die »Türken« der Stadt mit dem der Obrigkeit gebührenden Respekt. Und doch, nach der Begegnung gehen sie rasch wieder ihrer Wege und schauen, dass sie die gewisse Betretenheit, die sich eingestellt hat, abschütteln können. Betretenheit weshalb? Andrić bleibt uns die Erklärung nicht schuldig: deshalb, weil bei jedem gemeinen k.u.k.-Soldaten zwei um den Körper geschlagene Patronengurte sich über der Brust trafen und dort – eine Kreuzform bildeten. Der Autor wird mit diesem Detail aus dem Mikrokosmos einer Stadt, in der er als junger Mensch lange Zeit gelebt hatte, etwas für die damalige Zeit Allgemeingültiges getroffen haben. Demnach wird es sich so verhalten, wie ich vorhin sagte. Auch wo wir in einem viel weiter östlich, nicht auf dem Balkan, sondern in Ostanatolien oder im Kaukasus entstandenen Dorfteppich des neunzehnten Jahrhunderts Kreuzformen finden, da ist dieser Befund ein nicht zu vernachlässigendes Indiz dafür, dass eine christlich-armenische Knüpferin oder Weberin das Stück angefertigt haben kann. Dabei sind die Kreuzmotive in aller Regel sehr diskret, als kleine, unauffällige Streuelemente ins Muster eingefügt. Warum hät115
te man auch den guten Nachbarn muslimischen Glaubens unnötig provozieren sollen? Man findet solche Streumotive – sehen Sie genau hin – beispielsweise bei Nr. 52 auf S. 94 in dem ins Zentrum des mittleren Medaillons gestellten, gelbgrundigen Quadrat, das ansonsten die gattungstypische Wirbelform enthält. Trotz allem ist Vorsicht bei der Diagnostik angebracht. Wir sprechen an dieser Stelle von einem Indikator, dem ein gewisser Aussagewert zukommt, aber keine unbedingte Beweiskraft. Die Realitäten stellen sich nicht immer so eindeutig dar wie bei Andrićs sogenannten Türken. Wie käme es sonst dazu, dass ein Gebetsteppich wie Nr. 16, S. 32, mit kleinen Kreuzformen geradezu übersät ist? ⋆
NORTMANN: Sie haben ungewöhnlich viel gesehen und miteinander vergleichen können. An welchen Kennzeichen würden Sie den mutmaßlichen armenischen Ursprung eines Teppichs festmachen? Ist Sicherheit erreichbar? MALTZAHN: In den Dörfern und Städten der süd- und südwestlichen Kaukasusregionen lebten Armenier und turkstämmige Bevölkerungsgruppen zusammen. Ihre Arbeiten voneinander zu unterscheiden, ist in der Rückschau kaum möglich. Quellennachrichten fehlen, auf mündliche Überlieferungen, soweit diese noch erreichbar sind, ist meistens kein Verlass. Bekannt ist, dass viele der Teppiche aus der Stadt Schuscha im heutigen BergKarabagh von Armeniern, die in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts dort die größte Bevölkerungsgruppe waren und Werkstätten betrieben, geknüpft worden sind. Ähnliches ist für andere Regionen anzunehmen, auch für Gebiete im früheren Osmanischen Reich, also hauptsächlich in Ostanatolien. In der Stadt Sivas lebten 1915 überwiegend Armenier, aber können wir deshalb davon ausgehen, dass alle antiken Sivas-Teppiche armenische Arbeiten 116
sind? Es gibt Publikationen über »Armenian Inscribed Rugs«. Die meisten dort abgebildeten Teppiche sind vermutlich armenische Arbeiten. Am oberen Feldende sehen wir eine oft über die gesamte Feldbreite verlaufende armenische Inschrift und Datierung. Die Buchstaben und Zahlen sind immer sehr groß, das scheint ein weiteres Unterscheidungsmerkmal gegenüber islamischen Teppichen mit ihren meistens kleinen Buchstaben und Zahlen zu sein. ⋆ ⋆
32. Gesetz und Abweichung. Wir haben gesehen: Es gibt in der Gegenwart einen Design-Trend hin zu simulierter partieller Zerstörung. Der Trend macht auch vorm Teppichgenre nicht halt. Ist der traditionelle Teppich, erst recht der weitgehend unversehrte traditionelle Teppich, schlicht zu aufgeräumt, zu brav, zu wenig exzentrisch, um eine Erfolgsgeschichte fortzusetzen, die über viele Jahrhunderte nicht in Frage stand? Sie fortzusetzen in einer vielleicht ein wenig verrückt gewordenen Gegenwart? Möglicherweise ist dem so, unerachtet aller Feste der Expressivität, die sich mit bestimmten antiken Arbeiten feiern lassen. Sicher, aus der Perspektive der Knüpferinnen kann es eine Einhegung und eine Begrenzung von Gestaltungskraft bedeutet haben, sich in der Formgebung im Großen und Ganzen auf ein Wiederholungskonzept einzulassen, sich am Ende der Gesetzlichkeit eines Rapportmusters zu unterwerfen. Wir kennen das Phänomen aus der Architektur. Dort wird nicht erwartet, dass in einer längeren Fensterflucht jedes Fenster seine individuelle Gestalt erhält und dadurch aus der womöglich kaum noch erkennbaren Reihe zu tanzen beginnt. Das Gegenteil ist erwünscht, eine ausgeprägte Regelmäßigkeit in der Formgebung, eindeutige Symmetrien, die Herstellung von Prägnanz durch Wiederholung. Daran könnte ein kreativer Geist sich stören. Einzelgänger haben sich für abweichende Ansätze starkgemacht. Friedensreich
Hundertwasser (1928–2000) war für die Architektur einer der bekanntesten Vertreter. Dennoch, die Realisierung repetitiv-uniform angelegter Teilstrukturen ist bei Bauwerken die Norm geblieben. Das hält uns keineswegs davon ab, unter den dieser Norm entsprechenden Fällen immer wieder einige als künstlerisch besonders bedeutsam herauszuheben. Bei der Architektur wird außerdem stets eine Gebrauchsfunktion mitgeliefert. Die Werke sind zum Wohnen, Arbeiten, Unterrichten, Ausstellen, Feiern, Beten usw. bestimmt. Auch das hindert niemanden daran, in geeigneten Fällen das Prädikat »aufregendes Kunstwerk« zu vergeben. Teppiche sind Architekturen – in der Fläche. Sie stellen Farb-Architekturen auf diese Fläche, und das Ganze kann unerachtet aller Wiederholungsmomente ziemlich komplex ausfallen. So wie im Fall des Stern-KasakMusters etwa. Weiter sind Teppiche im ursprünglichen Herstellungszusammenhang nicht nur ästhetische Objekte, sondern sie haben darüber hinaus eine Funktion, manchmal eine sehr handfeste. Denken Sie an die Turkmenen mit ihren Taschen, Türteppichen usw. Das ist alles wie bei der Architektur gehabt. Deshalb sollten konsequenterweise die Maßstäbe, die anzulegen sind, bei Teppichen nicht grundsätzlich anders mit Motiv-Wiederholung und ObjektFunktionalität umgehen, als es bei Werken der Baukunst üblich ist. Zuviel Bravheit, Aufgeräumtheit? Gewiss, beim traditionellen Teppich gehört nicht zuletzt die Rahmung des zentralen Feldes durch eine Bordürenzone zu den kaum jemals aufgegebenen Grundprinzipien der Formgebung. Manchmal ist bei fragmentarischer Erhaltung die gesamte Bordürenzone verlorengegangen. Man kann sich dann anschauen, wie dies den Gesamteindruck beeinflusst – Nr. 61 auf der nächsten Seite ist ein Beispiel, übrigens eines von beachtlicher Farbqualität. Wo die Bordürenzone aber vorliegt, ist mit ihr zweifellos
ein weiteres Moment von Einhegung im Spiel. Normalität oder lieber Exzentrik? Die Normalität stellen Muster mit mehr oder weniger repetitivem Charakter dar. Ausnahmen kommen immerhin vor. Etwa bei den Teppichen mit crazy pattern, Abb. 62, wie die Briten in ihrer oft erfrischend respektlosen, pragmatischen Art dieses exzentrische Muster nennen. Über den ästhetischen Wert solcher Arbeiten kann man geteilter Meinung sein. Außerdem gibt es noch die Sonderform der Musterteppiche – der Wagirehs, mit dem gängigen, aus dem Persischen entlehnten Wort. Für sie gelten aus Gründen einer sehr speziellen Zweckbestimmung ganz andere Regeln als für den Normalteppich. Mehr dazu folgt gleich. Trotz allem, einen Teppich wird man wegen seines Schicht um Schicht zustande gekommenen Aufbaus, bei dem die Schritte nur allmählich und mit Bedacht sowie mit gedanklicher Vorwegnahme des noch Kommenden auszuführen waren, wegen des daraus im Allgemeinen sich ergebenden Grades an Detail-Organisation, an Feinabstimmung der Elemente der Komposition aufeinander immer eher mit einem durchgeplanten Gemälde wie Nr. 63 vergleichen können; und weniger mit einer der Dynamik des action painting nahe stehenden Arbeit wie Nr. 64, beide auf S. 120. Haben nicht beide Auslegungen der bildnerischen Aufgabe ihren Reiz, die planvoll-architektonische und die freihändig-impulsive? Man wird sich dessen vielleicht erst dann richtig bewusst, wenn man sich vorzustellen versucht, es gäbe auf Dauer nur noch das eine von beidem.
117
◀
◀
Abb. 62: Knüpfteppich Seichur, 145 × 108 cm, 19. Jh., Ost-Kaukasus. Seichur ist eine Siedlung in der Schirwan-Region, nahe der Küste des Kaspischen Meeres.
118
Abb. 61: Knüpfteppich Karagös, Fragment, 247 × 159 cm, 19. Jh., West-Persien. Die Karagös sind ein in der Hamadan-Region sesshaft gewordener Stamm ehemaliger Nomaden.
Wagirehs sind teppichgewordene Musterproben. Solche Proben sind dazu da, nachgeahmt zu werden. Auf diese Weise verhelfen sie dem, was durch sie vorgezeigt wird, zur Verbreitung. So lässt sich in dem hier gegebenen Zusammenhang der Gebrauch eines Terminus nachvollziehen, dessen Bedeutungsspektrum ansonsten im modernen Persisch von Kopie und Kopieren bis Ansteckung reicht. Dazu passend bezeichnet die Ausdrucksverbindung wagireh bandi ein Wiederholungsmuster. Mit Wagirehs konnte eine Werkstatt gegenüber Kunden, die einen Teppich in Auftrag geben und dabei im Hinblick auf die Gestaltung individuelle Wünsche äußern wollten, vor Augen führen, welche Muster und Musterelemente sie im Repertoire hatte. Dabei wurden die Motive auf einem Wagireh nicht zu einer nach den üblichen Maßstäben wohlorganisierten oder ›logischen‹ Komposition verbunden, sondern mehr oder weniger desintegriert und oft auch in kaum aufeinander abgestimmten Größenverhältnissen gezeigt. Ein sehr expressives Beispiel ist Nr. 65. Es wird darüber diskutiert, ob die erwähnten crazy pattern-Teppiche nicht ebenfalls Wagirehs waren. Dem mag so sein oder auch nicht, festhalten lässt sich, dass Musterteppiche möglicherweise durch ihren leicht anarchischen Zug für manche Interessenten von heute zu den begehrenswerteren Teppichtypen geworden sind. Jedenfalls erzielen diese Arbeiten am Kunstmarkt nicht selten auffallend hohe Preise. Nr. 65 wurde bei einer im Jahre 1991, noch zu DM-Zeiten, in Wiesbaden durchgeführten Sammlerteppich-Auktion bei einem Preis von 34.000 DM zugeschlagen. Seitdem konnte ich die Marktkarriere des Stücks nicht mehr weiterverfolgen. Sollte es demnach bei dem einen oder anderen Freund des traditionellen Teppichs ein unterschwelliges Verlangen nach dem gewissen Schuss Design-Anarchie geben? Es muss ja nicht gleich Zerstörung sein. Falls das zutrifft: Ob es sehr zahlreiche Interessen-
ten sind oder doch nur der eine oder andere, weiß man nicht so genau. Bei einer Auktion braucht es jedenfalls dafür, dass am Ende für einen Wagireh oder für was auch immer der Hammer bei einem hohen Preis fällt, nur mindestens zwei finanziell genügend potente Bieter, die Interesse an demselben Los haben und sich gegenseitig hochsteigern. Soviel im Vorgriff auf Abschnitt 34, »Auktionsgeschehen«, zur Relativierung des Aussagewerts von Auktionspreisen. Statik oder lieber Dynamik? Fernab von crazy patterns und exzentrischer WagirehÄsthetik haben es Knüpferinnen in der Vergangenheit selbst unter Wahrung der üblichen Gestaltungsprinzipien verstanden, sich Muster mit einer gewissermaßen explosiven Anmutung einfallen zu lassen, Abb. 66 auf S. 122. Auch bekommt man durchaus Wiederholungen ohne erkennbares, starres Gesetz zu sehen, so im Feld von Nr. 67. Dieser Dorfteppich vermittelt durch sein Kolorit eine ausgesprochen fröhliche Stimmung. Der ganz unkonventionellen Darstellung auf dem sattroten Feldgrund scheint eine erzählerische Absicht zugrunde zu liegen. Es ist, als schaute man in Draufsicht auf verschiedene in Grüppchen beisammenstehende Menschen. In den fünf viel größeren, geflügelten Formen, die an Schmetterlinge erinnern, hat man vielleicht hoch über den Menschen dahinziehende Vögel zu sehen, ohne jeden Anspruch an zeichnerische Perfektion dargeboten; Vögel, die von denen unten am Boden, so will es fast scheinen, als Frühlingsboten freudig mit den Blicken verfolgt werden. Das sieht man nicht oft in diesem Stil auf einem orientalischen Teppich. Primitivismus – ist eigentlich ein hässliches Wort. Passender wäre in vielen Fällen: unprätentiöse, ehrliche, von niemandem auf kommerzielle Zwecke hingetrimmte Volkskunst. Nimmt man das Wort in diesem Sinne, so ist die Feldgestaltung von Nr. 67 eine gute Ergänzung zum Thema Primitivismus.
119
◀
Abb. 63: Joachim Ickrath, O. T., 2002, Öl auf Leinwand, 99 × 49 cm.
◀
Abb. 64: B. Michael Momber, Die feindlichen Brüder, 1983, Acryl auf Leinwand, 122 × 190 cm.
120
◀
Abb. 65: Musterteppich Bagscheiesch, 218 × 171 cm, Mitte 19. Jh., Nordwest-Persien. Bagscheiesch ist eine Ortschaft in der Nähe von Heris.
121
◀
◀
Abb. 67: Knüpfteppich Kasak, 19. Jh., Südwest-Kaukasus.
122
232 × 140 cm,
Abb. 66: Knüpfteppich Alpan-Kuba mit ›Explosiv-Muster‹, 282 × 104 cm, 19. Jh., östlicher Kaukasus. Alpan ist ein im Kuba-Bezirk des heutigen Aserbaidschan gelegenes Dorf.
Schematismus oder Spontaneität? Selbst dort, wo bei einem Teppich die vergleichsweise streng durchgeführte Wiederholung von Elementen aus einem beschränkten Motiv-Fundus das regierende Gestaltungsprinzip bleibt, wie es im Fall von Nr. 67 nur bei den Bordüren gilt, wird gern ein noch verfügbarer Freiraum für die spontan wirkende Plazierung von Streumotiven genutzt. Typischerweise sind dies bei kaukasischen Teppichen neben allerlei Sternen, Kästchen, Klammerformen und Ähnlichem stark vereinfachte Pflanzen-, Tier- und Menschendarstellungen. Soviel Individualität darf sein. Sie soll sein. Für das Empfinden heutiger Rezipienten zeichnen derartige Freiheitsspuren die gelungensten dörflichen Arbeiten aus. 33. Handel, Käufe, Preise. Oft wundere ich mich in Privathäusern, mit deren Besitzern ich bekannt bin, beim ersten Betreten darüber, wie wenig moderne Kunst an den Wänden zu sehen ist. Und zwar auch bei Eigentümern, von denen ich weiß, dass sie dafür weder finanziell zu knapp sind noch gegenüber Kunst ein desinteressiertes Verhältnis haben. Noch seltener sehe ich, dies entspricht dann aber der Erwartung, interessante, sammelwürdige Teppiche. Wie kommt es dazu? Das eine hat eventuell damit zu tun, dass selbst kunstsinnigen Menschen und möglicherweise gerade ihnen häufig nicht klar ist, wie und wo sich attraktive Werke auf einem Preisniveau erwerben lassen, das für ein gutes Normaleinkommen akzeptabel ist. Es mag sein, dass mancher sich Kunst eben deshalb, weil er sie sehr schätzt, lieber ein wenig entrückt auf einem Podest vorstellt als in der Betriebsamkeit eines Marktes. In der Folge tritt man nur ungern dem Gedanken an Preis, Angebot, Verhandlung, Bezahlung näher. Das andere, der Teppichmangel, wird seinen Grund, unabhängig von der Käuflichkeits- und Preisfrage, darin haben, dass man erst gar nicht weiß, was es gibt und wo man es zu sehen bekommen könnte.
Malerei und ihr Preisniveau, das ist ein Thema für sich. Immer wieder geht vom Kunstmarkt das Signal hoher, teils aberwitzig hoher Preise für Malerei der Gegenwart und für Klassiker der Moderne aus. Regelmäßig gibt es in den Massenmedien Meldungen von bei Auktionen erzielten Rekordpreisen. Solche Signale können degoutant wirken, vermitteln sie doch den Eindruck: Moderne Kunst sei wohl nur etwas für Leute, bei denen Geld keine Rolle, wirklich überhaupt keine Rolle mehr spielt. Da stellt sich leicht der Gedanke ein, dass die Nachfrage vielleicht von Käufern kommt, die aus Prestigegründen nach teuren Erwerbungen regelrecht gieren; auch um endlich einmal einen Mittelabfluss verzeichnen zu können, den sie bemerken. Auf den renommierten Kunstmessen kann das Publikum zwar an den Ständen der meisten beteiligten Galerien auch ein viel ›normaleres‹ Preisniveau sehen. Doch selbst dort ist die Preisgestaltung im Allgemeinen nicht dazu angetan, einen potentiellen Erstkäufer leicht über die Schwelle zur Kaufentscheidung hinwegzutragen. Was den zweiten Bereich, den der orientalischen textilen Objekte angeht, so habe ich verschiedene Klageworte darüber geäußert, wie bescheiden mit dem Schwinden der Galerien für Teppichantiquitäten inzwischen die Möglichkeiten geworden sind, sich beiläufig und ohne den Aufwand gezielten Suchens über ein anspruchsvolles Angebot zu informieren. Wovon man nicht weiß, dass es existiert, danach übt man auch keine Nachfrage aus. Abhilfe ist in jedem Fall möglich. Im Bereich der Malerei besteht kein Grund dazu, durch Preisrekorde entmutigt zu sein. Es gibt die glänzende erste Reihe, besetzt mit lebenden Künstlerinnen und Künstlern, die es zur Bekanntheit gebracht haben und deren Arbeiten entsprechend teuer gehandelt werden. Dahinter steht aber eine lange Schlange. Ich meine eine Schlange von Leuten, die es zwar künstlerisch auch ganz gut können, die ihr Leben aber abseits des Rampenlichts 123
führen und sich finanziell teils nur mit Mühe durchschlagen. Genauso ist es in der Vergangenheit bei einer beträchtlichen Anzahl von Meistern gewesen, die heute den elitären Status von Klassikern der Moderne genießen. Damals wussten sie nicht, wovon sie das Essen bezahlen sollten, und konnten von den Preisen nur träumen, die ihre Arbeiten später einmal erzielen sollten. Bei denen, die heute vergleichsweise im Verborgenen malen, ist gute Kunst, das muss man unbedingt betonen, oft für geringes Geld zu haben. Und wie erfährt man von diesen Leuten, wie stellt man den Kontakt zu ihnen her? Das ist nicht schwer. Galerien veranstalten im Zusammenhang mit nahezu jeder neuen Ausstellung Vernissagen oder Finissagen oder beides. Dort können Sie in der Regel die ausgestellten Künstlerinnen und Künstler kennenlernen, sich Atelieradressen geben lassen und später in aller Ruhe Atelierbesuche durchführen. Die Künstler freuen sich über Besucher, und Sie bekommen dort eine Menge zu sehen. Wenn Sie etwas gefunden haben, das sie begeistert, können Sie es in vielen Fällen sehr günstig erwerben, sofern der Künstler keiner Galeriebindung unterliegt. Mit einer Galerie im Spiel wird es etwas teurer, weil der Betreiber und die Betreiberin natürlich auch etwas verdienen müssen. Beeindruckende Arbeiten auf Papier bekommen Sie im Atelier oft schon für einige hundert Euro. Großformatige Malerei in Acryl oder Öl ist in vielen Fällen zu Preisen zwischen zweitausend und zehntausend Euro zu haben. In diesem Kostenrahmen, und zwar eher an dessen unterer Grenze, bewegen sich auch alle hier im Buch gezeigten Arbeiten lebender Maler. Wenn Sie so vorgehen, kommt es darauf an, dass Sie Ihr eigenes Geschmacksurteil sprechen lassen. Dass Sie es sich entwickeln lassen und ihm bald vertrauen. Im Atelier sind Sie allein mit dem Künstler oder der Künstlerin und den Arbeiten. Sie können sich nicht einfach wie bei einer Kunst124
messe sagen: Wenn dieses Objekt hier für, sagen wir, vierzigtausend Euro angeboten wird, nämlich bei einer solchen Messe, wo viele mutmaßliche Kenner unterwegs sind, die man doch wohl nicht mit einer abwegigen Preisgestaltung auf den Arm nehmen kann … dann wird es bestimmt auch gute Kunst sein, wird das Geld wert sein. Atelierbesuche also und der Mut zum eigenen Urteil sind ein Weg. Das ist gut, denken Sie vielleicht, und auch schön zu wissen. Aber die Teppiche? Was hat das Künstlermilieu mit alten Teppichen zu tun? Kurze Antwort: Es gibt Parallelen, auch bei der Kaufsituation. Schauen Sie in den nächsten Abschnitt. 34. Auktionsgeschehen. Den Mut zur Eigenständigkeit beim Urteil brauchen Sie ebenso wie im Atelier des Malers und der Malerin auch bei den Teppichen. Ist dies nicht überhaupt das Salz in der Suppe, der Weg aus der Fadheit heraus? Wenn Sie nämlich Sammlerteppiche sehen und eventuell auch kaufen wollen, dann müssen Sie sich heute weitgehend an Auktionshäuser mit entsprechenden Abteilungen halten. Dort kommen keine auf Verkauf trainierten Galeristen auf Sie zu, die darum bemüht sind, Ihnen mehr oder weniger beredt zu versichern, dass das Stück, an dem Sie Interesse zeigen, wirklich gut sei. Man räumt Ihnen im Auktionshaus auch nicht die Möglichkeit ein, das eine oder andere Objekt »unverbindlich« zur Ansicht mit nach Hause zu nehmen. Sie bekommen in den Auktionskatalogen, wo diese ordentlich gemacht sind, faire, sachliche Beschreibungen der angebotenen Objekte und die Angabe eines in Kenntnis der Marktlage angesetzten Schätzpreises. Wobei klar sein muss, dass Schätzpreise keine Festpreise sind. Sie können von dem später ablaufenden Geschehen von Gebot und Überbietung unter Umständen weit überholt werden. Oder ein Schätzpreis wird umgekehrt gar nicht erreicht. Das ist als PreisUnsicherheit noch mehr Salz in der Suppe.
Über die Katalog-Informationen hinaus können Sie an den Besichtigungstagen mündliche Auskünfte von den zuständigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Auktionshauses erhalten. Alles ganz neutral, wohltuend neutral. Ansonsten sind Sie auf Ihren sehr persönlichen Dialog mit den ausgestellten Arbeiten verwiesen. Ob Sie am Ende ein Stück so gut finden, dass sich bei Ihnen ein Gefühl in der Art einstellt, dieses Objekt müsse nun unbedingt Ihres werden, damit sie es zu Hause ständig um sich haben können, das wissen nur Sie selbst. Genauso wie im Atelier des Malers. Wann allerdings reicht es schon im Ernst zur Unbedingtheit? Gut, man will bei der Vorbesichtigung etwas »unbedingt« haben. Aber bis zu welchem Preis denn? Es empfiehlt sich immer, im Hinblick auf die später stattfindende Auktion vorsorglich die Selbstbeobachtung zu aktivieren. Denn das Heben des Arms kann bei einer Versteigerung teuer werden. Seitdem es die Möglichkeit des Online-Bietens gibt, besteht das Armheben, wenn Sie wollen, natürlich auch in der Übermittlung eines elektronischen Signals. Man sollte in jedem Fall wissen, wie weit man preislich zu gehen bereit ist. Das Armheben oder ein auf andere Weise ausgedrücktes Ja genügt übrigens deshalb, weil es der Versteigerer ist, der die Preisschritte auf dem Weg nach oben vorgibt. Er schaut sich bei jedem neu ausgerufenen Betrag um, ob jemand diese Summe zu bieten bereit ist (»nächstes Gebot ist 4.500, bietet das jemand?«), und Sie können Ihre Bereitschaft signalisieren oder nichts tun. Kunstauktionshäuser mit Teppichabteilungen? Ja, so etwas gibt es. Abgesehen von den sehr bekannten, umsatzstarken Häusern mit Firmensitzen in London und New York, Christie’s und Sotheby’s, haben wir in Deutschland eine ganze Anzahl kleinerer und größerer Häuser, die Sammlerteppiche versteigern, z. B. Nagel in Stuttgart oder Rippon Boswell in Wiesbaden und andere. Rippon Boswell ist spezialisiert auf alte Textilien. Es handelt sich um das einzige Auktions-
haus, das ausschließlich Teppiche und Textilien versteigert, vom anatolischen HolbeinTeppich über die aserbaidschanische Pferdedecke bis zum unter Umständen tausend und mehr Jahre alten peruanischen CocaBeutel. Bis vor rund vierzig Jahren haben bei den einschlägigen Auktionshäusern hauptsächlich Galeristen und Händler ihren Bedarf eingekauft. Die Auktionshäuser spielten quasi die Rolle des Großhandels. »Quasi« muss man deshalb sagen, weil so ein Auktionshaus nicht Eigentümer der zur Versteigerung kommenden Ware ist, sondern ein Vermittler zwischen Eigentümern und Käufern. Im Auftrag der tatsächlichen Eigentümer, die im Hintergrund bleiben, bietet das Auktionshaus die von diesen eingelieferten Objekte an. Es übernimmt die Erstellung der Katalogbeschreibungen, das Organisieren der Besichtigungsmöglichkeit, die Kaufabwicklung usw. Parallel zum Rückgang des Einzelhandelsvolumens im Bereich der Teppichantiquitäten sind bei Auktionen zunehmend nicht-kommerzielle Käufer, eben die Sammlerinnen und Sammler selbst, in Erscheinung getreten. Sie bestimmen heute das Marktgeschehen kräftig mit. Die von Rippon Boswell Deutschland in den vergangenen rund vierzig Jahren zunächst am früheren Firmensitz Frankfurt am Main und später in Wiesbaden versteigerten Textilien vermitteln zusammen mit den jeweils erzielten Preisen ein sehr gutes, repräsentatives Bild vom Weltmarkt für Teppichantiquitäten. Es war daher im Hinblick auf das in diesem Buch zu verwendende Bildmaterial eine naheliegende Entscheidung, auf das Archiv von Rippon Boswell zurückzugreifen; auch um den Aufwand der Bildbeschaffung in Grenzen zu halten. Auf dem Höhepunkt des westdeutschen Teppichbooms wurden für neuwertige Ware und erst recht für etwas ältere Stücke Preise in, sagen wir einmal, wirklich erstaunlicher Höhe verlangt. Inzwischen ist der Markt zu vernünftigeren Preisen zurückgekehrt. Diese allgemeine Entwicklung hat 125
sich auch im Marktsegment der Sammlerteppiche preisdämpfend ausgewirkt. Heute können Sie beispielsweise einen schönen, irgendwann in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts hergestellten Kasak in akzeptablem Erhaltungszustand bei einer Auktion, mit etwas Glück, für weniger als viertausend Euro erwerben. Sie haben gemerkt, dass ich gelegentlich zu den abgebildeten Stücken Preise angebe, vorzugsweise dann, wenn ein zeitlich noch nicht allzu weit zurückliegendes Auktionsergebnis bekannt ist. Wie auf dem Kunstmarkt generell gibt es natürlich auch in der speziellen Nische der Teppiche die spektakulären Preise. Das sind Preise in Regionen oberhalb von fünfzigtausend bis zu mehreren hunderttausend Euro, die beispielsweise für ausgesprochene Raritäten erzielt werden können, etwa für museale Teppiche mit einem Alter von drei-, vier- oder fünfhundert Jahren und mehr. Ebenso wird dieses Preisniveau auch bei weniger alten Stücken erreicht, wo es sich um Exemplare der von Liebhabern aus irgendwelchen Gründen zeitweilig oder dauerhaft besonders favorisierten Teppichgruppen handelt; z. B. um ganz bestimmte Typen kaukasischer Dorfteppiche des neunzehnten Jahrhunderts wie die Stern-Kasaks. Spektakuläre Preise kommen also vor. So gehört es sich für ein veritables Segment des Kunstmarkts. Selbst wenn es nicht annähernd die irritierend bis obszön wirkenden dreißig-, vierzig-, sechzig-Millionen-DollarPreise sind wie bei moderner Malerei und den Stars der zeitgenössischen Kunst. Der Kunstmarkt wird immer die preislichen Ausreißer nach oben hervorbringen, die sich mit Vernunft allein nicht erklären lassen. Denn es geht nicht zum geringsten Teil um Leidenschaft, auch bei den Teppichen. Sieht man von Ausreißern nach oben einmal ab, so kann man eigentlich nur feststellen, dass bei Sammlertextilien, die im Zuge von Auktionen zum Verkauf kommen, die Situation für potentielle Erwerber seit einigen Jahren ziemlich günstig ist. Neulinge müs126
sen allerdings für ihre persönliche Kalkulation wissen: Der sogenannte Zuschlags- oder Hammerpreis ist nicht der Endpreis. Zu ihm kommt immer noch das Aufgeld hinzu. Das ist die für das Auktionshaus anfallende Vermittlungsprovision. Der Hammerpreis ist für ein Objekt beispielsweise dann bei fünftausend Euro erreicht, wenn die mit der Versteigerung betraute Person den traditionellen Spruch »fünftausend zum ersten, zum zweiten und« – nach einer kleinen Pause – »zum dritten« aufgesagt hat; wenn sie dabei am Ende ein Hämmerchen oder etwas in dieser Art aufs Pult hat niederfallen lassen, ohne dass zwischendurch jemand die Bereitschaft zu einem höheren Gebot signalisiert hat. Das Signal gibt man im Saal wie erwähnt in der Regel durch Armheben. Die Provisionen: Sie bewegen sich derzeit in Deutschland ziemlich flächendeckend über die Auktionshäuser hinweg bei gut fünfundzwanzig Prozent der Zuschlagssumme. Dazu kommt noch die gesetzliche Mehrwertsteuer auf die Provision, sofern diese nicht bereits in die Provision eingerechnet ist. Unterwegs in diesem Essay hatte ich einmal Anlass, von einem Zuschlag »unter Vorbehalt« zu sprechen. Dies ist folgendermaßen zu verstehen. Vor einer Auktion wird für jedes Objekt zwischen Auktionshaus und einlieferndem Verkäufer ein Mindestpreis vereinbart. Es handelt sich, vom Schätzpreis zu unterscheiden, um das sogenannte »Limit«. Mit dem Limit ist die Maßgabe verbunden: Zu einem Preis unterhalb davon wird nicht verkauft. Es kann dann vorkommen, dass bei der Versteigerung für ein Objekt oder »Los« kein Gebot abgegeben wird, mit dem das Limit erreicht wird. In einem solchen Fall kann das Los, sofern der Limitbetrag nicht allzu weit unterschritten ist, unter Vorbehalt dem Auktionsteilnehmer zugeschlagen werden, von dem das höchste der eigentlich zu niedrigen Gebote kam. Bei Gleichstand müsste übrigens das Los entscheiden – »Los« jetzt im Sinne des Auslosens. Dasselbe Prinzip: tie break durch ein Zu-
fallsverfahren, gilt auch oberhalb des Limitpreises, wenn mehrere Top-Gebote in gleicher Höhe vorliegen und keiner der Bieter sich weiter nach oben bewegen will. Falls der Einlieferer sich in Verhandlungen, die nach Abschluss der Auktion stattfinden, dazu bereit erklärt, das Objekt auch für jenes immerhin höchste, aus seiner Sicht aber nicht wirklich ausreichende Gebot dann doch abzugeben, wird der Vorbehalt aufgehoben. Ein entsprechender Kaufvertrag gilt damit als abgeschlossen. Andernfalls ist der Verkauf des Loses gescheitert. Nun, es war nicht die letzte Auktion … Allerdings ist ein Verkaufsversuch per Auktion auch für die zur Einlieferung schreitende Person nicht gebührenfrei. Das bisher Gesagte betrifft überwiegend die Seite der potentiellen Käufer. Nun werden Sie sich vielleicht fragen: Wer sind denn die Leute, die auf der anderen Seite die Stücke zum Verkauf anbieten, bei denen das Auktionshaus die Rolle des Vermittlers spielt? Hierzu liegt man heute mit der Einschätzung nicht verkehrt, dass antike Textilien kaum noch aus den Ursprungsregionen auf den Kunstmarkt gelangen. Anders sah das z. B. nach der Auflösung der Sowjetunion aus, in einer Phase verstärkter Auswanderung von Menschen aus den Nachfolgestaaten. Damals kamen oft Teppiche aus Familienbesitz zum Verkauf, weil Auswanderer sich auf diese Weise ein Startkapital für ihren Neuanfang in den Zielländern zu verschaffen hofften. Was man jetzt sieht, befindet sich in der Regel schon länger in Sammlerhand. Es beginnt wieder zu zirkulieren, wenn eine Sammlung aufgelöst oder umstrukturiert wird. Wer schon lang dabei ist und ein gutes visuelles Gedächtnis hat, der freut sich gelegentlich, in den Auktionskatalogen oder vor Ort bei der Besichtigung den einen oder anderen alten Teppich-Bekannten nach zehn oder zwanzig Jahren wieder angeboten und ausgestellt zu sehen. Merke, falls du gerade erst damit anfängst: Was du heute bei einer Auktion zie-
hen lassen musstest, weil es möglicherweise für dein Studenten- oder BerufsanfängerBudget noch zu teuer geworden ist, indem ein anderer Bieter dir die Suppe versalzen hat, das kann dir irgendwann später der Zufall wieder vor die Füße spielen, eingeliefert aus Singapur, Sindelfingen oder San Francisco. Leidenschaftliches Sammeln ist eine weltumspannende Angelegenheit. Ein langer Atem ist dabei von Nutzen. Man muss warten können. 35. Transsylvanier & Co.: eine Frage der Dimension? Verrücktheit nach Farben, Leidenschaft bei Teppichen? Jawohl. Ich habe aber auch einräumen müssen, dass dem Teppich möglicherweise vor allem bei jüngeren Menschen der Ruf einer gewissen Bravheit anhaftet. Dies könnte, abgesehen von allem dazu bereits Ausgeführten, noch mit einem anderen, bisher nur am Rande thematisierten Faktor zu tun haben: mit der schlichten Größe. Oder besser gesagt, mit der nicht so großen Größe. Im Allgemeinen ist die Größe von Teppichen angemessen, so könnte man sagen. Sie ist dem Menschen angemessen, erscheint angepasst an dessen Körpergröße, an seinen unmittelbaren physischen Aktionsradius. Das ergibt dann maßvolle Dimensionen auch bei Mustern und Ornamenten. Es sind Verhältnisse, die den Teppich wie geschaffen erscheinen lassen für das kultiviert eingerichtete Wohnzimmer. Von regelrechten Palästen und der elitären Familie der Palastteppiche, mit ihren ganz anderen Abmessungen, sehen wir einmal wegen der unbedeutenden Stückzahlen ab. Gewisse Bilder von Jackson »the dripper« Pollock oder Anselm Kiefer dagegen … Aber es gibt doch auch die kleineren Formate von Lyonel Feininger oder Kasimir Malewitsch, und dort versteht es sich von selbst: Man tritt näher heran, man geht wieder auf Abstand, nähert sich erneut. Beim Teppich dagegen gilt, weil er nun einmal gewöhnlich auf dem Boden verwendet wird, so etwas wie die Konstanz der Rezeptions-Entfernung. Nor127
malerweise wird er von oben herab mit dem Abstand wahrgenommen, den eben der Kopf der aufrecht stehenden Person zum Boden hat. Wie anders wäre vielleicht das Bild, wenn man sich einmal dicht, ganz dicht, ans Objekt heranmachte? Wenn man vielleicht liegend in es eintauchte? Oder umgekehrt: Wenn das Objekt sich vor uns zum blauweiß-roten Riesen aufblähen könnte? Seherfahrungen mit einem TeppichRiesen, das war ein Projekt von Rudolf Stingel im Jahre 2013. Dieses Projekt wirft ein Licht auf die erstaunliche Rolle, die orientalische Teppiche inzwischen im modernen Kunstbetrieb zu spielen beginnen. In dem genannten Jahr stellte der Künstler, um einmal vor einem ganz anderen Hintergrund als üblich eine Auswahl seiner Gemälde zu zeigen, ein ungewohntes Ambiente her. Er fotografierte zunächst einen stark abgenutzten Transsylvanier. Anschließend ließ er die Fotografien in einem geradezu unmäßigen Maßstab auf begehbares Material vergrößern. Dann wurde das Material zerschnitten. Mit den Teilstücken wurde das leergeräumte Innere eines venezianischen Palazzos komplett ausgekleidet, in lückenloser Fügung von den Böden die Wände hinauf bis zu den Decken, durch ganze Zimmerfluchten hindurch. Es muss eine Menge Arbeit gemacht und viel Geld gekostet haben. Aber was ist das bitte, ein »Transsylvanier«, werden Sie vielleicht fragen. Wohl ein Teppich. Handelt es sich wie so oft um eine Herkunftsbezeichnung? Transsylvanier könnten dem Wort nach in Rumänien entstanden sein. Und zwar in den Gegenden, die der Legende nach vom Grafen Dracula unsicher gemacht wurden. Das wäre von Süden aus gesehen in einem Land jenseits des großen Karpatenwaldes, trans silvam, daher der Name der Teppichgruppe? Ja und Nein. Nein ist die Antwort und deutlich daneben die Vermutung, was die Herkunft angeht. Neulinge in Teppich-Angelegenheiten können es nicht wissen: Die Bezeichnung 128
»Transsylvanier« bezieht sich auf eine Teppichgruppe, die ihren Ursprung in Westanatolien hat, und zwar zeitlich überwiegend im siebzehnten Jahrhundert oder früher. Die Region Transsylvanien kommt erst mit den Handelswegen dieser Anatolier ins Spiel, und insofern: Ja, die fraglichen Stücke haben etwas mit der Gegend jenseits der Karpaten zu tun, Näheres dazu folgt gleich. Ein typischer Vertreter der Gruppe, genauer: einer bestimmten Untergruppe davon, ist Nr. 68. Die von Stingel verwendete Vorlage gehört derselben Untergruppe an, dem Typus der »Doppelnischen«Transsylvanier; so bezeichnet wegen der Umrissgestaltung der roten Zentralform, die sich am oberen wie am unteren Feldende nischenartig wölbt. Derartige Teppiche wurden in kleineren Werkstätten verschiedener Städte Westanatoliens in erheblicher Zahl hergestellt und nach Mittel- und Westeuropa gehandelt. Dort scheinen sie im siebzehnten Jahrhundert begehrte Luxusgüter gewesen zu sein, sicher nicht zuletzt ihrer Farbenpracht wegen. In dieser Hinsicht ist Nr. 68 ein sprechendes Beispiel, nämlich aufgrund des ungewöhnlich guten Erhaltungszustandes des Stücks. Der Zustand lässt die ursprüngliche Farbfrische voll zur Geltung kommen. Man könnte meinen, die Farben seien noch feucht, und das nach über dreihundert Jahren. Wenn es noch eines weiteren Belegs bedurfte für die Qualität der Färbungen, die von erfahrenen Färbemeistern mit Naturmitteln erzielt werden konnten, dann ist er hier zu sehen. Die BASF war noch lange kein Thema.
Abb. 68: Transsylvanier-Teppich, 158 × 120 cm, 17. Jh., Westanatolien.
Abb. 69: Palazzo Grassi, Venedig, Installation mit Transsylvanier, von Rudolf Stingel, 2013.
◀
◀
129
Zu den wichtigen Drehscheiben für den Handel mit Erzeugnissen des Osmanischen Reichs in Richtung Westen gehörte damals eine Reihe von Städten im Fürstentum Transsylvanien, auf dem Territorium des heutigen Rumänien gelegen und im Deutschen auch Siebenbürgen genannt. Siebenbürgen hatte einmal selbst zum Osmanischen Reich gehört, genau wie Ivo Andrićs Stadt an der Drina, ist aber zur Zeit des Handels mit Transsylvaniern Teil des Königreichs Ungarn gewesen. Siebenbürger Kaufleute christlich-protestantischen Glaubens, die durch den OstWest-Handel zu Wohlstand gelangt waren, haben damals gern Teppiche der Transsylvanier-Gruppe für die lokalen evangelischen Gemeinden gestiftet. Diese verwendeten die textilen Gaben dann zur Ausstattung ihrer Kirchenräume: als Wandbehänge und Altardecken, oder als Behänge und Auflagen im Gestühl. Für die teppichgeschichtliche Forschung ist dies ein glücklicher Umstand. Dank ihm hat sich eine beträchtliche Zahl der antiken westanatolischen Arbeiten in den Kirchen Siebenbürgens erhalten, mehr als irgendwo sonst; und im Allgemeinen auch in besserem Zustand als irgendwo sonst. Die Transsylvanier sind inzwischen wissenschaftlich gut dokumentiert und kunstgeschichtlich erschlossen. Neben dem frühen Pionierwerk von Emil Schmutzler (1889– 1952), Altorientalische Teppiche in Siebenbürgen, erschienen 1933 in Leipzig, Nachdruck Stuttgart 2010, gehört zu den einschlägigen Publikationen jetzt vor allem: Stefano Ionescu, Antique Ottoman Rugs in Transylvania, Rom 2005. Deutsch: Die Osmanischen Teppiche in Siebenbürgen, Stuttgart 2009. Nr. 68 wirkt an sich, von der attraktiven Farbfrische abgesehen, im Ganzen eher ein wenig unscheinbar. Die Hauptbordüre, aufgebaut aus großformatigen, durchaus markant geformten Kartuschen mit floraler, eckig ausgeführter Innenzeichnung, verweist wie mit ausholender Geste auf ein mäßig großes Innenfeld, in dem dann – ver130
gleichsweise wenig passiert. Vegetabile Elemente, wie gehabt in einem eckigen Stil gezeichnet, formieren sich im Feld zu einem gehorsam einer strengen Symmetrie folgenden, irgendwie nichtssagenden Gruppenbild aus Kleinteilen ohne ausgeprägten Schwerpunkt. Bei allem Respekt vor der altersbedingten Seltenheit und der historischen Zeugenschaft: Diese Teppiche waren zu ihrer Zeit im Wesentlichen kommerzielle Erzeugnisse, eine einträgliche Exportware; ohne die individuelle Note, die so oft den Reiz gelungener Arbeiten dörflichen oder nomadischen Ursprungs ausmacht. Doch was wird selbst aus einem solchen etwas konventionellen Textil, wenn man es mit technischen Reproduktionsmitteln zum Mega-Transsylvanier vergrößert und in Venedig die Wände hochgehen lässt? Begünstigt vom durchweg eckigen Zeichenstil, werden auf einmal Gabelranken zu mechanischen Armen mit anhängenden Greifzangen. Rosetten erscheinen als Zahnräder, Nebenborten wandeln sich zu Transportbändern für denkbare Werkstücke. Und weiter geht es mit den Freiräumen, die wir zwischen je zwei auf der Hauptbordüre stehenden Kartuschen sehen. Sie treten als eigenständige Komplementärformen hervor, werden zu Spitze auf Spitze gegeneinander arbeitenden Lochstanzen, gesteuert über dicht geführte Kabelstränge, in die sich partiell freiliegende Kettfäden, eine Folge von Abnutzung, unversehens transformiert haben. Das alles präsentiert sich wie in einer alten, lange Zeit unter hoher Last gefahrenen Industrieanlage, so weit in die Raumtiefe ausgedehnt, wie der Blick reicht, mit den stets gleichen Aggregaten in unterschiedlicher Konfiguration und Montierung. Und du – hattest eigentlich nur eine GemäldeAusstellung im Palazzo Grassi besichtigen wollen. Findest dich jetzt mitten ins Innere der einschüchternden Anlage gestellt, die offenbar seit einer Weile stillsteht. Die aber jeden Augenblick auf Knopfdruck knarzend und ächzend wieder anlaufen kann. Um dich mit dem unwiderstehlichen Sog ihrer
Mechanik durch den Parcours der Aggregate zu ziehen. Ich werde wohl kein Fan der Doppelnischen-Transsylvanier mehr werden, will in ihrem Design eigentlich auch keine unbewusste Antizipation industrieller Produktionswelten erblicken. Klar ist nur: Stingel hat mit seiner Installation eine atmosphärische Wirkung erzielt, die mich die Nr. 68 und deren Verwandtschaft nie wieder so wahrnehmen lässt, wie ich sie bis dahin gesehen hatte. Die generelle Botschaft lautet einmal mehr, dass gründlich zu betrachten und den Gegenstand der Betrachtung sich sinnlich und gedanklich anzueignen bei einem Teppich, der interessant erscheint, nur heißen kann: aus verschiedenen Distanzen und Blickwinkeln, bei unterschiedlichen Legungen und Hängungen, bei variierenden Lichtverhältnissen und Stimmungen das dargebotene Bild aufnehmen und die Gedanken und Assoziationen frei laufen lassen. Nur so kann der Teppich zeigen, was in ihm steckt. Allerdings, wenn er nun ein ganz anderer ist, als er zu sein vorgibt? 36. Original, Fälschung, Replik. Als am Nachmittag des 27. Mai 2019 in Wiesbaden während der Frühjahrsauktion der Firma Rippon Boswell & Co. das Geschehen zur Losnummer 192 gelangt, überrascht der Auktionator Detlef Maltzahn das Saalpublikum mit der trockenen Mitteilung, dass er diesen Teppich nicht versteigern werde. Wieso das auf einmal? Das Objekt mit der Nummer 192 ist ein verhältnismäßig großformatiger Teppich des Maßes 374 × 184 cm, der im Auktionskatalog als Khotan aus der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts angezeigt ist. Khotan, heute: Hotan, ist eine Oasenstadt am Südrand der Takla-Makan-Wüste, dort, wo der Nordwesten Chinas an Kaschmir grenzt – ein altes Knüpfzentrum im Einzugsbereich der Seidenstraße. Geknüpft wurde dort vor allem von Uiguren, also von Angehörigen jener muslimischen Volksgrup-
pe in der Region Xinjiang, die heute unter Zwangsmaßnahmen des chinesischen Staates leidet. Der Teppich fällt durch ein markantes, im Prinzip aber für die Provenienz Khotan nicht unübliches Muster und durch Farben von einiger Schönheit auf, darüber hinaus durch einen für das angenommene Alter vorzüglichen Erhaltungszustand. Zentrale Elemente des Musters sind drei große Medaillons, die auf einem Grund von intensivem, lichtem Wasserblau jeweils eine eckig ausgeführte Zweigstruktur zeigen, die Granatäpfel trägt. Sie sprießt aus einer kleinen, in der Farbgebung den Früchten angeähnelten Vase empor. Warum die Verweigerung des Auktionators? An sich war doch die Stimmung im Saal wie auch beim Mann vorn am Pult sehr gut und gelöst. Verständlich, nachdem rund eine Stunde zuvor eine absolute Rarität für aufsehenerregende 180.000 Euro zugeschlagen worden war: ein ca. fünfhundert Jahre alter anatolischer Teppich vom sogenannten kleingemusterten Holbein-Typus, im Katalog der Scheibe-Holbein-Teppich genannt, Schätzpreis 24.000 Euro, Zuschlag für ein Vielfaches davon an einen ungarischen Telefonbieter, gegen starke Konkurrenz im Saal. Was Sie über Limit- und Schätzpreise, Zuschläge und Provisionen an Grundwissen mitnehmen sollten, haben Sie im Abschnitt 34, »Auktionsgeschehen«, gefunden. Wichtiger ist die Beobachtung, wenn wir einen Moment bei dem Los selbst verweilen, dass die Bordürengestaltung des Holbein – kurze Rückblende jetzt – für einen der nicht so häufigen Fälle steht, in denen bei einem orientalischen Teppich das ansonsten vorherrschende Prinzip der Flächigkeit ein Stück weit durchbrochen ist; durchbrochen zugunsten der Herstellung eines Eindrucks von räumlicher Tiefe. Davon war schon die Rede, Abschnitt 7, »Exkurs: Verschränkung und Einheit«. Solche gekonnten Spielereien mit der Tiefenillusion, und gekonnt muss man sie hier zweifellos nennen, sind praktisch nur bei Werkstatt-Teppichen denkbar. 131
◀
Abb. 70: Knüpfteppich Pseudo-Khotan, 374 × 184 cm, vermeintlich 19. Jh., in Wirklichkeit neuzeitlich.
132
◀
◀
Abb. 72: Sogenannter Tuduc-Teppich nach einem Original im BrukenthalMuseum in Sibiu (Hermannstadt), 270 × 177 cm, ca. 1930, Rumänien.
Abb. 71: Holbein-Teppich, sog. kleingemusterter Typus, 175 × 125 cm, erste Hälfte 16. Jh., West-Anatolien.
133
Der Scheibe-Holbein mit seiner ausgefeilten Bordüre hat also, zunächst moderat geschätzt, am Ende einen sehr hohen Preis erzielt. An seiner Echtheit bestanden nie Zweifel. Der Khotan dagegen, sagt Maltzahn, ist eine Fälschung. Das habe sich erst jetzt herausgestellt: aufgrund von Hinweisen, die während der Vorbesichtigung von zwei türkischen Restauratoren kamen. Herkunftsort des Teppichs wohl Sultanhane in Zentralantolien, Alter wahrscheinlich kaum mehr als dreißig Jahre. Er könne das Stück, das im Katalog als antikes Original beschrieben war, daher nicht versteigern, es werde zurückgezogen. Eine Fälschung demnach. Für mich wäre es nicht leicht gewesen, sie als solche zu erkennen. Oder freundlicher ausgedrückt: eine Replik, also jedenfalls kein Original aus der ›richtigen‹ Zeit. Kann man denn einen Teppich überhaupt fälschen? Es sind schließlich alles ›echte‹ Teppiche, auch der angebliche Khotan. Gut, bei Gemälden … Wenn ein Gemälde gefälscht wird, bringt der Fälscher abschließend immer noch eine falsche Signatur an, die des Künstlers oder der Künstlerin und damit einer Person, mit welcher er, der Fälscher, eben nicht identisch ist. Dazu kommt noch eine für den Fälschungszweck passende Jahresangabe. Teppiche pflegen aber nicht signiert zu sein? Richtig. Allenfalls eine Datierung ist manchmal eingeknüpft? Ebenfalls richtig. Sie scheinen also gar nicht in dem Sinne als individuelle und individuell zurechenbare Artefakte ausgewiesen zu sein, wie wir das bei Tafelbildern in der abendländischen Maltradition seit der Renaissance als den Normalfall kennen. Daher sagt auf die Frage nach der Möglichkeit von Teppichfälschungen vielleicht der eine Achwo und denkt bei sich: Ein Teppich ist schließlich etwas zum Gebrauch, ja zum Verbrauch Bestimmtes, und es gibt immer viele seiner Art. Ein singuläres Objekt wie ein bestimmter Rembrandt oder ein Picasso, die zu fälschen sich lohnt, das ist er nicht. – Aber sicher gibt’s auch bei Teppi134
chen Fälschungen, könnte ein anderer, mehr positivistisch eingestellter Beobachter entgegnen. Er hält sich einfach an die Urteile, die faktisch geäußert werden. Vielleicht war er bei der Auktion im Mai 2019 im Saal. Vielleicht hat er lange vor der Auktion etwas von der angeblichen Meisterschaft rumänischer Werkstätten im Antiquitäten-Fälschen gelesen und in diesem Zusammenhang etwas über Tuduc-Teppiche erfahren. Er lässt sich vom Sprachgebrauch der Insider leiten. Soll doch dieser Tuduc, Teodor Tuduc, in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen allerhand »Fälschungen« historischer Teppiche, darunter vermeintliche Holbein-Teppiche, in renommierten Museen untergebracht haben. Vielleicht fehlt dem angeblichen Khotan ebenso wie den Tuduc-Erzeugnissen bei gründlicher Betrachtung die »Aura« der Originale? Walter Benjamin (1892–1940) spricht aber in dem Text, mit dem er 1936 den Aura-Begriff für Zwecke der kunstsoziologischen Reflexion erschließt, vom »Kunstwerk im Zeitalter seiner technologischen Reproduzierbarkeit«. Der Pseudo-Khotan ist nicht durch den Einsatz von Technologie entstanden, sondern in traditioneller Handarbeit. Außerdem ist er zweifellos ein Teppich und nicht das Foto eines Teppichs oder ein Ausdruck davon. Fotos etc. sind die Dinge, die Benjamin in erster Linie im Sinn hat, wenn er von Reproduktion spricht. Heute, gut achtzig Jahre später, würde man auch an das Drucken mit 3D-Druckern denken. Zwischen all dem und der Losnummer 192, unserer Nr. 70, scheinen Welten zu liegen. Die eben angedeuteten Möglichkeiten, sich zur Fälschungsfrage zu verhalten, lassen in der Summe vielleicht den Eindruck entstehen, man habe es mit einem verwirrenden Phänomen zu tun. Verwirrung ist in diesem Zusammenhang auch gar kein verkehrtes Wort – wenn man unvorsichtigerweise die Frage nach Wesen und Denkbarkeit von Fälschungen gleich in voller Allgemeinheit zu beantworten versucht. In der Art nämlich, dass mit einem einzigen Schritt alle bekannten Kunstzweige abgedeckt sind. Unter die-
sen Kunstzweigen wäre dann auch ein von den Teppichen so weit entferntes Gebiet wie das der sprachlichen Kunstwerke, vertreten etwa durch hochrangige Romane. In diesem Gebiet ist offensichtlich vieles anders als bei Gemälden oder Teppichen. Gerade die Differenzen sind aufschlussreich. Sie machen es aber auch schwerer, allgemeingültige Konzepte von Werk, Original und Fälschung zu entwickeln. Versuchen wir die Sache daher so anzugehen, dass wir – letztlich immer mit Teppichen im Hinterkopf – zunächst den ganz anderen Bereich gesondert in den Blick nehmen. Ein bereits vorliegender Roman, das sollte man sich als erstes klarmachen, kann grundsätzlich nicht gefälscht werden. Man kann höchstens weitere physische Exemplare davon anfertigen. Das sind heute im Normalfall Druckexemplare oder Dateien auf elektronischen Datenträgern. Tut jemand dies, ohne dazu berechtigt zu sein, so wurden Raubdrucke erzeugt. Ein Raubdruck ist aber keine Roman-Fälschung. Es handelt sich nicht einmal um eine Roman-Ver-fälschung, sofern der Raubdrucker hinreichend sorgfältig gearbeitet und die von ihm benutzte Vorlage textgetreu reproduziert hat. Diese erste Feststellung schließt nun keineswegs die Möglichkeit aus, eine RomanFälschung unter die Leute zu bringen – die dann aber keine Fälschung von etwas ist, das als Roman bereits vorgelegen hat. Der Fall tritt ein, wenn beispielsweise jemand eine selbst verfasste Schrift als einen erst kürzlich irgendwo mit Glück von ihm aufgestöberten, bislang unbekannten Roman eines großen Autors der Vergangenheit ausgibt. Dabei wird einem möglicherweise geringwertigen Text, mit dem keine Vorlage gefälscht wurde, in betrügerischer Absicht eine falsche Entstehungsgeschichte angedichtet. Wir können hier, in sachlicher Anknüpfung an Unterscheidungen des amerikanischen Kunstphilosophen Nelson Goodman (1906–1998), von einer nicht-relationalen oder generischen Fälschung sprechen. Für ein Objekt wird in Täuschungsabsicht die
einschlägige Sorte oder das einschlägige Genus in Anspruch genommen, im Beispiel: das Genus der von jenem großen Autor verfassten Romane. Ein auf Replikation beruhender Bezug zu irgendeinem bestimmten, authentischen Exemplar des Genus besteht nicht. Dagegen wäre die Fälschung einer gegebenen Vorlage, also die Nachahmung von etwas Bestimmtem, individuell Fassbarem, das schon da war, zu dem Zweck, das Nachgeahmte dem Publikum als identisch mit dem Dagewesenen und irgendwann dann leider Verschwundenen unterzuschieben, als relationale Fälschung anzusprechen: Fälschung in Relation zu einem Etwas, das als individueller Ausgangspunkt der Tat fungiert. Zur weiteren Klärung kann ein berüchtigter, zeitlich noch nicht weit zurückliegender Betrugsfall aus der Malerei dienen, der Fall des Wolfgang Fischer alias Wolfgang Beltracchi. Der Mann hat sowohl relationale als auch generische Fälschungen hergestellt. Indem er nämlich teils nach Fotos verschollener Originale malerisch replizierte als auch noch nicht Dagewesenes im Stil von Heinrich Campendonk und anderen neu produzierte. Die sogenannten Tuduc-Teppiche aus der Werkstatt von Teodor Tuduc waren dagegen ausschließlich nicht-relationale Fälschungen. Auch bei den in den 1980er Jahren der Illustrierten Stern teuer verkauften, angeblichen Hitler-Tagebüchern handelte es sich klarerweise um einen Fall nichtrelationaler Fälschung: um ausgedachte Niederschriften mit angedichteter, falscher Entstehungsgeschichte, zu denen es nach allem, was wir wissen, nie ein Original gab. Dass dabei irgendwie Kunst im Spiel gewesen wäre, gehört hier nicht zu den Vergleichsaspekten. Teodor Tuduc (1888–1983) hat es mit seinen Fälschungen nicht nur zu Reichtum, sondern tatsächlich auch zu einer gewissen postmortalen Bekanntheit, wenn nicht sogar Berühmtheit gebracht. Davon zeugt am besten eine Publikation wie Stefano Ionescus 2010 135
in Rom erschienenes Handbook of Fakes by Tuduc. Kein Wunder um die Bekanntheit, nachdem selbst Museen bei Ankäufen für ihre Sammlungen Tuduc auf den Leim gegangen waren. Der Mann hatte sich auf Fälschungen verschiedener antiker Teppichgruppen spezialisiert, darunter die Transsylvanier. Ein mutmaßliches Beispiel ist Nr. 72 auf S. 133. Was in diesem Kontext unter Transsylvaniern zu verstehen ist, wurde im Abschnitt 35 über Stingels venezianische Installation erläutert. Wo Tuduc seine Anschauungsobjekte finden konnte, wenn er sich nicht allein auf Farbabbildungen in einschlägigen Teppichbüchern wie Schmutzlers Werk verlassen wollte, ist damit klar. Die Kirchen Siebenbürgens waren in jener Zeit frei zugänglich. Der Fälscher konnte, wenn er das wollte, ungehindert hineingehen und sich vor den Objekten selbst ein Bild von dem machen, was er wissen musste. Die bei Nr. 72 erkennbaren Abnutzungen sind ebenso wie die Spuren scheinbar unfachmännisch ausgeführter Reparaturen ein Ergebnis absichtsvoller Bearbeitung. Natürlich hat jemand wie Tuduc auch auf das Phänomen der Braun-Korrosion die nötige Aufmerksamkeit verwendet. Die entsprechenden Florpartien wurden in der Regel gezielt auf eine niedrigere Höhe als beim sonstigen Flor heruntergeschnitten. Erstaunlich ist der Preis, den das Stück bei einer Auktion im Jahre 2014, obwohl im Auktionskatalog als Fälschung eingestuft und entsprechend niedrig geschätzt, erzielen konnte: Zuschlag bei rund 33.000 Euro, Schätzpreis war 2000 Euro. – Ein vergleichbarer echter HolbeinTeppich, in deutlich kleinerem Format allerdings, ist der erwähnte Scheibe-Holbein. Ein Teppich ist kein Roman, auch wenn er unter Umständen einiges zu erzählen hat. Er ist nichts vergleichsweise Abstraktes, das wie der Roman zahlreicher physischer Realisierungen fähig wäre – beim Roman vor allem in Gestalt der Druckexemplare verschiedener Ausgaben. Der Teppich ist selbst schon ein physisches Vorkommnis. Als solches kann er natürlich, vor allem falls er 136
nicht der einzige seiner Art ist, durchaus einen abstrakten Typus exemplifizieren. Doch das ist eine andere, tiefer in die philosophische Ontologie hineinreichende Geschichte. Wie auch immer diese letztere, eher philosophische Geschichte zu erzählen wäre: Im Gebiet der Teppiche besteht trotz jener kategorialen Differenz gegenüber dem Roman die Möglichkeit einer generischen Fälschung, in Übereinstimmung mit den Verhältnissen beim literarischen Werk. Auch der Fall des »Khotan« gehört in diese Abteilung. Anders als bei den Romanen gibt es beim Teppich darüber hinaus auch die Möglichkeit der relationalen Fälschung, genauso wie bei Gemälden. Teppiche können nämlich durchaus den Status singulärer Individuen erlangen und dabei auch zu Trägern von so etwas wie Eigennamen werden. Dafür muss ein solches Stück, typischerweise ein Objekt mit beträchtlichem Alter und mit einer daraus resultierenden Seltenheit, nur von maßgeblichen Personen als kunsthistorisch bedeutsam genug eingestuft und beispielsweise für die Sammlung eines Museums aufgekauft worden sein. Wenn das Stück etwa Jagdszenen mit Tieren zeigt und von einem renommierten Museumsdirektor namens X für die Sammlung akquiriert wurde, dann könnte irgendwann als Name etabliert sein: der X-Tierteppich. Man kann sich z. B., wenn man’s gern konkret hat, X gleich Wilhelm von Bode vorstellen und den Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts als Bezugszeit nehmen. Von Bode (1845–1929) war seinerzeit Generaldirektor der Königlichen Museen zu Berlin. Auch eine Islamische Abteilung gehörte zu seinem Verantwortungsbereich. Bei Stücken, denen vielleicht nicht ganz der Rang wie einem fiktiven X-Tierteppich zukommt, sorgt der Markt gern in analoger Weise für eine Identität, wenn sie sich einmal im Besitz eines mehr oder weniger prominenten Sammlers befunden haben. Dann ist etwa vom de Calatchi-Transsylvanier die Rede oder eben vom Scheibe-Holbein. Ro-
bert de Calatchi (1908–2000) war seit den 1960er Jahren ein wichtiger Teppichhändler und -sammler in Paris. Erhard Scheibe (1927–2010) war ein kunstsinniger Wissenschaftstheoretiker, der als Philosophieprofessor an den Universitäten Göttingen und Heidelberg wirkte. Wie der Holbein in Scheibes Besitz gelangte, lässt sich nicht mehr rekonstruieren. Von Scheibe erwarb dessen Schüler Ulrich Brandt (1953–2016), ein kenntnisreicher Sammler, den Teppich. Als einige Jahre nach Brandts frühem Tod das von den Erben eingelieferte Stück zur Versteigerung kam, wurde dessen Existenz bekannt. Die Veröffentlichung im Auktionskatalog war die Erstpublikation. Eine Publikation mit Bild ist in solchen Fällen für die kunsthistorische Forschung von Belang. Sie stellt einen Beitrag zur Erfassung des erhaltenen Gesamtbestandes eines seltenen Teppichtypus dar. Abgesehen davon sind Publikation und eingängige Teppich-Bezeichnungen gleichsam ein Schmiermittel für die rasche Verständigung der Marktteilnehmer über die betreffenden Objekte und deren Wege vor und nach der Namensgebung. Daneben dürfte in vielen Fällen die Absicht von Kunsthändlern und Auktionshäusern hereinspielen, den Marktwert der Stücke zu stabilisieren oder zu steigern: indem man sie aus der Schicht der namenlosen Verwandten ähnlicher Art heraushebt. Doch zurück zu unserem hypothetischen Beispiel. Irgendwann nach der Etablierung des Namens ist der X-Tierteppich, so nehmen wir an, dem Museum abhanden gekommen. In Berlin wäre das für die Endphase des Zweiten Weltkrieges und die Wirren der unmittelbaren Nachkriegszeit eine leider ziemlich realistische Annahme. Tatsächlich werden für die Teppich-Sammlung der Islamischen Abteilung der Berliner Museen unter den Verlusten vierzehn Teppiche als »verschollen« seit dem Kriegsende aufgelistet, neben rund zwanzig im März 1945 ganz oder bis auf kleine und kleinste Reste verbrannten Objekten. Die Angaben finden sich
in Spuhlers Buch über Die Orientteppiche im Museum für Islamische Kunst Berlin. Sollte sich nun, um die begonnene Geschichte weiter auszuspinnen, vom verschwundenen X-Tierteppich eine in der Vorkriegszeit angefertigte Farbabbildung von sehr guter Qualität erhalten haben, dann ist im Prinzip die Situation für einen Versuch von relationaler Fälschung gegeben. Wie beim frühen, relational arbeitenden Beltracchi: Ein Original hat existiert, das Original ist jetzt nicht mehr vorhanden oder jedenfalls nicht mehr auffindbar, es gibt aber noch Detailinformationen über seine Beschaffenheit. Auf der Grundlage dieser Informationen kann ein Fälscher eine Kopie anzufertigen versuchen oder anfertigen lassen. Er nimmt sich die fotografische Vorlage und kombiniert sie mit allgemein zugänglichem Wissen über die Praktiken der Teppichfertigung in der Entstehungszeit des X-Tierteppichs, wie es durch historische Nachrichten und das Studium von Vergleichsstücken zur Verfügung steht. Dann kann man an die Arbeit gehen, Materialbeschaffung, das Anheuern fingerfertiger Leute usw. liegen an. Aber Vorsicht, dass die Zahl der Mitwisser nicht zu groß wird. Der Fälscher hätte einen erheblichen Aufwand zu betreiben, um irgendwann die fertige Kopie als das wiederaufgetauchte Original in den Kunstmarkt einschleusen zu können. Natürlich müssen Fälscher sich dafür auch die Mühe machen, eine halbwegs plausible Phantasiegeschichte zum angeblichen Wiederauftauchen des Originals abzuliefern, in der Art von: im Umland von Moskau eine großzügige Datscha vom russischen Großonkel der Ehefrau geerbt, Objekt beim ersten Besuch dort gleich aufgefallen, Nachforschungen in der Familie angestellt, den Verdacht gehabt wegen der soldatischen Vergangenheit des Großonkels, später in Berlin sich kundig gemacht usw. Dies ist eine theoretische Möglichkeit. Ein realer Fall ist mir nicht bekannt. Das kann man gut verstehen. Die Herstellung einer halbwegs authentisch wirkenden Ko137
pie eines verschwundenen, großformatigen historischen Teppichs hätte immer einen beträchtlichen Arbeitsanfall bedeutet. Und das auch schon in Zeiten, in denen noch nicht unbedingt mit einer aufwendigen naturwissenschaftlich-technischen Analyse des bei einem angeblichen Heimkehrer verwendeten Wollmaterials und seiner Färbungen zu rechnen war. Diesen Aufwand investiert ein kühl kalkulierender Betrüger nicht so leicht. Vor allem dann nicht, wenn er eine von Null verschiedene Wahrscheinlichkeit dafür veranschlagt, dass die Kopie maßgebliche Experten eventuell doch nicht überzeugen wird. Bei einer der handelsüblichen nichtmusealen Teppichantiquitäten, sagen wir, bei einem irgendwann in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstandenen kaukasischen Dorfteppich als dem Original, wäre der Aufwand viel geringer. Aber ein solcher Teppich besitzt in der Regel keine individuelle Prominenz. Daher würde er auch nicht in Sammler- oder Museumskreisen als mutmaßlicher Verlustfall für Aufsehen sorgen, sollte ihn jemand auf nicht-legalen Wegen in seinen Besitz gebracht haben, um sich erstens ausschließlich im Verborgenen daran zu erfreuen; und zweitens mit der Absicht, später noch zusätzlich Geld mit einer Replik zu machen, die flankiert von einer geeigneten Wiederauffindungs-Erzählung in den Markt zu geben wäre. Das in der Malerei gängige Mittel, einer Arbeit eine Identität zu verleihen und ihr so die Wiedererkennbarkeit zu sichern, ist: Signatur in Kombination mit Datierung. Den Teppichknüpferinnen scheint dergleichen nicht eingefallen zu sein. Datierungen kommen vor, wie wir gesehen haben. Auch eingeknüpfte Dedikationsworte sind gar nicht so selten. Namentliche Erwähnungen der Urheberinnen finden wir dagegen bei Arbeiten aus dörflicher oder stammesgesellschaftlicher Herstellung so gut wie nie. Bei Arbeiten aus bestimmten iranischen Manufakturen der jüngeren Zeit, die ein besonders elitäres Selbstbild pflegen, haben gele138
gentlich männliche Knüpfer ihren Namen in das Gewebe der feinsten und mit der komplexesten Musterung versehenen Arbeiten eingetragen. Den Frauen kam es anscheinend nicht in den Sinn, die von ihnen angefertigten Stücke als etwas anzusehen, das irgendwann wegen eines den unmittelbaren Gebrauchswert überstrahlenden ästhetischen Werts zum Sammelobjekt werden könnte. Zu einem Objekt, bei dem dann so mancher Liebhaber gern gewusst hätte: Durch wessen Hände ist es entstanden? Ob es dieselben Hände waren, die auch bei diesem Stück hier oder jenem dort ihre Spur hinterlassen haben? Wie die Dinge liegen, müssen wir uns damit abfinden, dass die schöpferisch tätig gewesenen Individuen sich für uns vollständig im Dunst der Vergangenheit verloren haben – genauso wie bei alter afrikanischer Stammeskunst und vielen anderen auf dem Kunstmarkt gehandelten ArtefaktSorten, denen eine spätere Rezeption als Kunst nicht schon an der Wiege bestimmt war. Dadurch können wir den Urhebern leider auch rückwirkend keine individualisierte Anerkennung mehr entgegenbringen. Was bleibt, ist eine Art von generalisierter Gruppen-Anerkennung, die sich parallel zu entsprechenden Üblichkeiten der Unterscheidung zwischen Original und Replik entwickelt. Um das hier Gemeinte deutlicher zu machen, genügt es im Grunde, eine kleine Geschichte zu erzählen. 37. Herstellungszusammenhang und Aura. Wenn ich mich bei meinen Wien-Besuchen in den 2010er Jahren zu Fuß vom Haus der Sezession in Richtung Staatsoper bewegte, kam ich stets an einem Teppichgeschäft vorbei, dessen Auslage geeignet war, mich in freudige Erregung zu versetzen, jedenfalls beim ersten Mal. Glaubte ich doch beim Blick ins Innere einer unverhofften Fülle alter kaukasischer Dorfteppiche ansichtig zu werden. Viele, ja fast alle mir bekannten Typen schienen vertreten zu sein, noch dazu
durch Exemplare in sehr gutem Erhaltungszustand. So dass sich bei mir für einen Augenblick schwärmerische Gedanken einstellen wollten: Ah, Wien, das ist eben etwas anderes. Weiter nordwestlich, wo du herkommst, da herrscht der Mangel, und es braucht Spezialauktionen, um das wenige noch Vorhandene zu bündeln. Hier liegt die Ware quasi am Wegesrand ausgebreitet, in Hülle und Fülle wie einst im Basar oder beim k.u.k.Hoflieferanten. Als wäre vom Glanz einer mit Luxusgütern verwöhnten Monarchie immer noch etwas am Nachschimmern. Ein orientalischer Duft, ausgesandt vom politisch längst untergegangenen Osmanischen Reich, schien nicht allein in den Gewürzen des Naschmarkts nachzuwirken, sondern auch im Angebot eines eigentlich ganz normal daherkommenden Teppichhauses: weder sonderlich groß noch äußerlich irgendwie prunkvoll zurechtgemacht. Ich trat ein, und schnell wurde klar, dass die Sachlage eine andere war. »Das sind ja gar keine Originale«, brummelte ich enttäuscht halb zu mir selbst, halb gegenüber dem herbeigelaufenen Personal. Man reagierte indigniert. Sie hatten durchaus das Recht dazu, so zu reagieren. Natürlich waren es Originale. Es waren alles in altmodischer Handarbeit angefertigte Einzelstücke, und zwar durchaus schöne, farblich ansprechende Arbeiten. Das Geschäft war spezialisiert auf den Import von Ware, die in Werkstätten der Republik Aserbaidschan laufend neu angefertigt wurde, unter Verwendung von möglicherweise naturgefärbter Wolle in ziemlich guter Qualität. Alles, was man bitteschön verlangen konnte. Wo also war das Problem? Die Ware ist angefertigt nach kaukasischen Vorbildern des 19. Jahrhunderts – hätte man hinzufügen können. Ich bin aber nicht einmal sicher, ob ihnen wirklich klar war, dass in den Werkstätten ihrer Lieferanten entsprechende Vorlagen zur Verfügung gestanden haben mussten, sei es in Form von Abbildungen, sei es als reale Teppiche.
Es gab Grenzen der sprachlichen Verständigung über die Thematik. Möglicherweise kamen sie selbst aus der Gegend dort. Wienerisch klangen die Leute jedenfalls nicht. Selbst wenn sie Bescheid wussten und sich auskannten, hätten sie argumentieren können, und gerade als denkbare Kenner hätten sie’s umso mehr tun können: Machten nicht kaukasische Knüpferinnen um 1870, beispielsweise, genau dasselbe? Indem sie nach alten Vorbildern von, sagen wir, 1830, die ihnen entweder als ungefähre Erinnerungsbilder im Kopf standen oder materialisiert zur Hand waren, den Vorbildern ähnliche, neue Arbeiten anfertigten? Kopie ist Kopie, sollte man meinen. Nein, so einfach ist es nicht. Normalerweise läuft es anders. Es liegt ein bestimmter, zeitlich ausgedehnter Herstellungszusammenhang vor, dem eine Art historischkultureller Homogenität zuzusprechen ist. Vor allem ist dies ein durch Kontinuität geprägter Zusammenhang. Ich meine Kontinuität in dem Sinne, dass von Generation zu Generation so manches weitergegeben wurde: Knüpf- und Webtechniken, Gestaltungs- und Gelungenheitsvorstellungen, Wissen um Materialqualitäten, verschiedene Muster- und Koloritkonzepte, Darstellungsabsichten und Verwendungszwecke. Ein solcher Zusammenhang kann sich wie eine lange, lückenlose Kette über viele Jahrhunderte erstrecken. Er schließt dann alle in diesen Zeiträumen an ihm partizipierenden Individuen ein. Auch ein immer noch Originale und nicht bloß Repliken hervorbringender Herstellungszusammenhang kann allerdings im Laufe der Zeit an Lebendigkeit einbüßen. So bin ich mir nicht sicher, ob jede Knüpferin, die in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts einen Pinwheel-Teppich anfertigte, sich noch darüber im Klaren war, dass sie und inwiefern sie dabei mit Drachendarstellungen zu tun hatte. Die Kette kann abreißen, und es kann eine längere Unterbrechung eintreten. Unter Umständen ist dies schon irreversibel und 139
bedeutet das Ende der Angelegenheit. Für die dörfliche Teppichherstellung im Kaukasus markierte die zunehmende Ausrichtung wirtschaftlicher Aktivitäten der Menschen an den Vorgaben der sowjetischen Systemökonomie von ungefähr 1920 an einen tiefen Einschnitt. Zuvor hatte bereits die in den sechziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts zum Abschluss gelangende russische Eroberung des Kaukasus erhebliche kulturelle Transformationen mit sich gebracht. Es gibt eine literarische Erinnerung an den über eine Dauer von rund dreißig Jahren ausgetragenen Widerstandskampf der kaukasischen Bergvölker. Lew Tolstoj (1828– 1910) hat in seinem im Jahre 1912 postum erschienenen Roman Hadschi Murat über einen damals legendären, im Jahre 1852 getöteten awarischen Kämpfer dieses Namens seine eigene Zeit im Kaukasus, als Soldat der Armee des russischen Zaren, verarbeitet. Der Schriftsteller erinnert sich voller Melancholie, offenbar auch schuldbewusst, an den Selbstbehauptungswillen des einstigen Gegners. Er lässt seinen Roman und die Schilderung des letzten Gefechts enden mit den Worten: »Die Nachtigallen, die während des Schießens geschwiegen hatten, begannen jetzt wieder zu schlagen. Zuerst eine ganz in der Nähe der Gefallenen und dann die anderen weiter drinnen in den Büschen. – An diesen Tod erinnerte mich die zertretene Distel auf dem frischgepflügten Feld.« Die Distel ist die »Tatarendistel«, russisch Tatarnik, wissenschaftlich Onopordum acanthium: eine Pflanze, die auf ihre eigentümliche Weise schön in der Blüte ist, dabei zugleich zäh, stachlig, widerstandsfähig. Tolstoj hat sie mit Bedacht als Symbol gewählt. Das Feld ist bestellt, und dies heißt für den alten, den Blick noch einmal zurückwendenden Schriftsteller: Alles andere Lebendige, Naturwüchsige, das sich dort im Kaukasus frei hatte entfalten können, ist untergepflügt und zerstört. Ein vergleichbar tief gehendes Transformationsgeschehen hat in der zweiten Hälfte des neunzehnten bis ins frühe zwanzigste 140
Jahrhundert hinein zur Zerstörung der kulturellen Basis des turkmenischen Teppichs geführt. In diesem Fall war der entscheidende militärische Faktor die zaristische und später die sowjetische Expansion in weite Landstriche Zentralasiens hinein. Dorthin, wo heute unabhängig gewordene Länder wie Turkmenistan, Usbekistan und Tadschikistan ihre Staatsgebiete haben. Strategisches Ziel war es, die Kontrolle über den Landweg nach Indien zu bekommen. Alles kann auch viel undramatischer ablaufen als in den von Tolstoj geschilderten Kaukasus-Kämpfen. Nämlich überall dort, wo Mechanisierung und Industrialisierung, der Einzug von Chemieprodukten wie Kunststoffen, Kunstfasern und synthetischen Farbstoffen zu einer schleichenden Unterminierung der traditionellen Lebensform größerer sozialer Einheiten führen. Hier gelangt dann irgendwann ein Herstellungszusammenhang ganz sachte an ein Ende, auch ohne die Wirksamkeit machtpolitisch motivierter militärischer Zugriffe. Sobald Nomaden ihren Hausrat in Plastiksäcken zu transportieren beginnen und Kamele und Pferde durch den Traktor mit Anhänger ersetzen, brauchen die Menschen für ihre Transportzwecke nicht länger in mühevoller Handarbeit das herzustellen, was uns heute kunstvoll erscheint: die geknüpften und gewebten, für’s Festzurren auf dem Kamel- oder Pferderücken geeigneten Transporttaschen. Solche Arbeiten wurden in der Regel, wie damals so viele andere textile Erzeugnisse, aufwendig und mit subtilem Farbsinn gestaltet, oft unter Rückgriff auf Materialien von exquisiter Qualität. Es muss in den besten Zeiten der Nomadenkulturen Vorder- und Zentralasiens einen Wettbewerb um Schönheit und Kunstfertigkeit gegeben haben, der sich, unter den Frauen verschiedener Sippen ausgetragen, auch und gerade auf so stark funktionsgebundene Objekte wie Transportbehältnisse erstreckte. Ob Tasche oder Schmuckbehang, Vorratssack oder Brautteppich, ob in einem ursprünglich nomadischen oder einem dörf-
lichen Milieu hergestellt: Immer bilden die durch ein generationenübergreifendes Kontinuum von Herstellungsakten zusammengehaltenen Individuen die virtuelle Gruppe, die später einmal für Fragen der Unterscheidung von Original und Replik einschlägig wird. Bis auf die Differenz von Einzelindividuum und mehr oder weniger großer Gruppe sind die Verhältnisse analog. Ein Ölgemälde ist dann ein Original-Picasso, wenn die Kausalität seiner Entstehung glaubhaft auf das Individuum Pablo Picasso zurückgeführt werden kann. Ein Teppich mit dem typischen Lenkoran-Muster ist genau dann ein Original-Lenkoran, jedenfalls in dem für heutige Sammler maßgeblichen Sinn, wenn er im Umfeld der am Kaspischen Meer gelegenen Stadt Lenkoran von irgendwelchen Individuen angefertigt wurde, die zur einschlägigen Gruppe gehörten. In zeitlicher Hinsicht läuft das auf eine Entstehung in einer Phase vor dem großen Traditionsbruch hinaus. Setzt irgendwann unter veränderten soziokulturellen Bedingungen die an alten Vorbildern orientierte Anfertigung von Stücken, die den Vorlagen mehr oder weniger ähnlich sehen, neu ein, so besteht am Markt zu Recht die Tendenz, die aus dem neu aufgesetzten Herstellungszusammenhang hervorgehenden Arbeiten, wie sie etwa in jenem Wiener Geschäft zu finden waren, als Repliken zu klassifizieren. Trotzdem ist nicht auszuschließen, dass man es dabei vielleicht, sehr vielleicht freilich, mit den Sammlerteppichen von übermorgen zu tun hat. Selbst Fälschung, von der bei diesen im Grunde unschuldigen, gut gemeinten Kopien nicht die Rede sein kann, weder im relationalen noch im generischen Sinn, selbst Fälschung bringt unter Umständen Sammelobjekte hervor. So wie bei den Tuduc-Teppichen gesehen. Repliken als die Sammlerteppiche von übermorgen? Es ist unwahrscheinlich. Aber falls doch, so würde sich bei einer solchen Entwicklung vermutlich eine Praxis der Unterscheidung von Originalen der Herstel-
lungsphase Eins, der Phase Zwei usw. herausbilden, mit deutlichen Differenzen bei den am Markt erzielbaren Preisen. Das Phänomen ist von kunsthandwerklich ambitionierten Möbeln her bekannt, mit der Unterscheidung wirklicher Originale von »Stilmöbeln« aus verschiedenen historischen Perioden. Dass für den Original-Status bei Teppichen nicht allein die richtige zeitliche Verankerung der Entstehungskausalität maßgeblich ist, zeigt u. a. folgende Beobachtung exemplarisch: Auf eine zwar zur richtigen Zeit, nicht aber am richtigen Ort – und damit nicht in der maßgeblichen kulturellen Gruppe – entstandene Arbeit mit Lenkoran-Muster reagiert der Markt mit gedämpftem Interesse, selbst wenn das Stück eine hervorragende Farbqualität aufzubieten hat, Abb. 73 auf der nächsten Seite. Der Teppich ging bei einer im Jahre 1994 durchgeführten Auktion wegen Verfehlung des Limit-Preises unverkauft zurück. An dem restaurierbaren Randschaden rechts oben kann es kaum gelegen haben. Die in Wien und inzwischen auch andernorts angebotenen, jungen aserbaidschanischen Repliken älterer kaukasischer Arbeiten sehen bei genauerem Hinschauen übrigens nicht wirklich so gut aus wie ihre Vorbilder. Der Punkt ist nicht, dass sie irgendwie zu neu wirkten. Nein, es fehlt ihnen unter anderem eine Anmutung von Unbekümmertheit in der Musterausführung, die sich dort entfalten kann, wo bei der Knüpferin zweierlei zusammenkommt: ein Bewusstsein von einer Gestaltungstradition, die es zu wahren gilt, und eine selbstbewusste Vorstellung davon, was als Eigenes, als abweichender Einfall, als Verwirklichung von so etwas wie gestalterischer Autonomie ins Werk eingebracht werden kann.
141
◀
Abb. 73: Knüpfteppich mit Lenkoran-Muster, 312 × 129 cm, erste Hälfte 19. Jh., Nordost-Anatolien.
142
Anders dagegen in einer Repliken-Werkstatt, wenn man so will in einer Werkstatt für ›StilTeppiche‹. Wer sich dort im Wesentlichen als ein Ausführender des Auftrags versteht, ein Vorlagenmuster getreu zu reproduzieren, wer dabei womöglich hier eine Linie an der genau richtigen Stelle enden lässt und dort eine andere kleine Unregelmäßigkeit, einen »Mangel« der Vorlage korrigiert, der wird im besten Fall etwas sehr Ordentliches abliefern. Aber nichts mit der Aura des Authentischen. Einmal mehr spreche ich von Aura, ohne dabei aber irgendeiner Art von Mystifikation Vorschub leisten zu wollen. Im Gegenteil, es besteht beim Benjaminschen Aura-Begriff Anlass dazu, ihn mit einem Quantum Nüchternheit auf seinen vernünftigen Kern zurückzuführen. Der ästhetische Wert, mithin die Gelungenheit, eines Werks auf der einen Seite und dessen Verfügen über die »richtige Aura« andererseits, diese beiden Aspekte sollten begrifflich ein Stück weit voneinander abgekoppelt werden. Im Bereich von Werken der Sprachkunst ist eine vergleichbare Aspekt-Trennung eine Selbstverständlichkeit. Wer beispielsweise einen bestimmten Roman aufgrund von sprachlichen und inhaltlichen Vorzügen schätzt, der braucht dafür niemals ein vom Autor oder der Autorin handsigniertes Exemplar der Erstausgabe in die Hände genommen zu haben; oder gar das RomanAutograph, soweit es überhaupt noch auffindbar ist. Gewiss, bei einer modernen Taschenbuchausgabe eines älteren Werks fehlen so ziemlich alle sinnlichen AuraAspekte, die für den Bibliophilen etwa ein Exemplar der Erstausgabe begehrenswert machen. Der Bibliophile wie der Autographensammler verfolgen aber andere Interessen als der normale Literaturliebhaber. Das handsignierte Exemplar der Erstausgabe und das Autograph sind materielle Objekte, über die der entsprechend disponierte Sammler sich mit dem jeweiligen Autor oder der Autorin in einer direkten Linie physi-
scher Kausalität verbunden fühlen kann, etwa in diesem Sinne: Ich, Leser hier und heute, nehme jetzt das Blatt zwischen die Finger, auf dem schon seine oder ihre Schreibhand auflag. Das findet der normal eingestellte Literaturkenner unter Umständen schrullig, ja fehlgeleitet. Ihm geht es mehr um etwas vergleichsweise Abstraktes. Nämlich um die Abfolge von Wörtern und anderen textkonstitutiven Bestimmungsstücken, die mitsamt ihren semantischen und anderen spracheigentümlichen Aspekten eher zur gedanklichen als zur sinnlichen Verarbeitung bereitsteht. Diese Wortfolge ist jedenfalls auf keine bestimmte physische Realisierung angewiesen, nur irgendeine muss es für die Ermöglichung der Rezeption geben. Sollte im Reich der Teppiche jemals eine Replik hinsichtlich ihrer sinnlichen Qualitäten – das wären in diesem Fall im Wesentlichen optische und haptische Qualitäten – ohne Abstriche das Niveau eines älteren Originals erreichen, so würde man vernünftigerweise den ästhetischen Wert des jüngeren Objekts als originaläquivalent einstufen. Es wäre sozusagen die richtige »perzeptible« Aura in vollem Umfang vorhanden. Dies ist ein Gedankenspiel, wohlgemerkt. Zur konsequenten Durchführung des Gedankenspiels würde es gehören, mit dem »vollen Umfang« ernst zu machen. Auch zeitliche Veränderungen der Objektqualitäten durch Alterung und Umwelteinwirkungen müssten sich in originalanaloger Weise vollziehen. Damit wäre die Messlatte sicherlich sehr hoch gelegt. Man vergleiche: Ein Gemälde, das in Kopierabsicht entstanden ist und bei dem die aufgetragenen Farbschichten chemisch anders altern als beim Original, kann sich selbstverständlich, sobald diese Differenzen die Wahrnehmungsschwelle überschreiten, im allgemeinen Urteil hinsichtlich der Gelungenheit erheblich vom Original unterscheiden. Für die Aura im Vollsinne wären dagegen über die perzeptible Aura hinaus noch weitere Sachverhalte maßgeblich. Solche nämlich, 143
die sich in dem soeben hypothetisch angenommenen Fall von Originaläquivalenz der unmittelbaren Wahrnehmung schlicht entziehen. Es sind Sachverhalte, die Zeit und Umstände der Entstehung des jeweiligen Objekts betreffen und für deren Kenntnis andere Quellen als die direkte sinnliche Objektwahrnehmung mobilisiert worden sind oder erst noch mobilisiert werden müssten. Vieles ist durch Hinsehen allein nicht feststellbar. In der Tat zählt Benjamin zur Aura einer Sache, wie er sie verstanden wissen will, einen großen Bedingungskomplex, den er mit dem knappen Wort von der »geschichtlichen Zeugenschaft« benennt. Das Interesse eines Rezipienten an einer solchen für ein Werk in Betracht kommenden Bezeugungsrolle ist legitim. Man kann darin sogar einen sympathischen Zug sehen, auch wenn vorhin das Wort von der Fehlleitung fiel. Die Fähigkeit, auf ein Artefakt mit historischer Einfühlungsbereitschaft zu reagieren, ist im Allgemeinen etwas Schönes. Für den einfühlsamen Rezipienten mag es bedeutsam sein, sich beispielsweise zu sagen: An diesem alten Dagestan-Teppich haben junge Frauen gearbeitet, deren Körper längst vergangen sind, die aber damals … deren misstrauisch-scheuer Blick damals Lew Tolstoj hätte treffen können, den russischen Fremden, der sich im Kaukasus umsah. Ein jugendlicher Freiwilliger von kaum mehr als zwanzig Jahren in der Armee des russischen Zaren, ein Junge, unternehmungslustig, der sich von der Natur und den Menschen des Berglands, auch von der Volkskunst vielleicht, tief hat beeindrucken lassen. So etwas kann dem Träumer keine neuzeitliche Replik, d. h. keine von ihm als neuzeitlich gewusste Replik, eines alten dagestanischen Originals bieten, und wäre sie in noch so hohem Maße dem Original perzeptuell gleichwertig. Wenn es um die Rezeption alter orientalischer Teppiche geht, dann ist eben auch das Auskosten von so etwas wie raumzeitlichem Fernweh eine Option. Ich selbst bin, so will mir scheinen, ein Sammler dieses eher 144
sentimentalen Typs. Während mir RomanAutographen, über die ich mich in einer unmittelbaren physischen Kausallinie mit den jeweiligen Urhebern verbunden fühlen könnte, ziemlich gleichgültig sind. Die im Kausalzusammenhang eingenommene, ausgezeichnete Position allein ist mir bei einem physischen Objekt wie einem Typoskript, wenn diesem jede nennenswerte sinnlichästhetische Anziehungskraft abgeht, dann doch zu wenig. Bei einer originalen, gelungenen TeppichAntiquität sind beide Aspekte in Kombination vorhanden: die im alten, authentischen Material nachwirkende Kausalität einer ursprünglichen Herstellungssituation und die visuelle Attraktivität des Objekts. Von der Gesamtheit der für den ästhetischen Rang und die Gelungenheit eines Artefakts ausschlaggebenden Eigenschaften sollte man den Aspekt der historischen Zeugenschaft und das damit verknüpfte Emotionalisierungs-Potential aber in jedem Fall begrifflich getrennt halten. Dies geschieht bei Benjamin nicht in der wünschenswerten Deutlichkeit. Vermutlich ist das Defizit durch den Umstand bedingt, dass zu Benjamins Zeit der Gedanke technisch erzeugter, annähernd perfekter Repliken von Werken – im Sinne der Herstellung einer weitgehenden perzeptuellen Äquivalenz mit den Originalen – deutlich weniger realistisch war, als es heute der Fall ist. Was kann schon eine mittelmäßige fotografische Reproduktion, womöglich ein SchwarzWeiß-Foto eines eigentlich in Farbe ausgeführten Kunstwerks, beim Betrachter auslösen? Heute nötigen die Fortschritte bei Replikations-Technologien dazu, nicht nur zwischen perzeptueller Originaladäquatheit und wirklichem Originalstatus zu unterscheiden, sondern auch ganze Kunstzweige danach zu klassifizieren, wie sie sich grundsätzlich zu diesen Werkaspekten verhalten. Einschlägig ist hier die Unterscheidung »autographischer« Künste von »allographischen« Kunstzweigen. Die Ter-
minologie geht auf Goodman zurück. Eine Kunst wird von ihm dann als autographic bezeichnet, wenn es dafür, dass ein Artefakt den Status eines vollgültigen Originalwerks des betreffenden Kunstzweigs beanspruchen kann, jedes Mal erforderlich ist, dass an der Hervorbringung der Künstler oder die Künstlerin selbst entscheidend beteiligt war. Eben dies will der Wortbestandteil »auto-« zum Ausdruck bringen. Das griechische autó(-s) und seine Flexionsformen bedeuten nichts anderes als: selbst. Offenbar ist beispielsweise die Literatur keine in diesem Sinne autographische Kunst. Ein Exemplar einer modernen Druckausgabe von Goethes Faust stellt einen originalen Faust dar, selbst wenn Goethe an der Herstellung allenfalls noch in höchst indirekter Weise beteiligt war, nämlich als erstmaliger Wortverfertiger in einer fernen Vergangenheit. Es sind vielmehr eine Menge anderer Leute kausal vergleichsweise unmittelbar im Spiel gewesen, etwa alle in der Angelegenheit als Herausgeber, im Lektorat und später in der Druckerei tätig gewordenen Personen. Der Kunstzweig ›Literatur‹ heißt dementsprechend bei Goodman allographic, zu griechisch ho állos: der andere. Die Teppicherzeugung stellt, das sollte nach dem bisher Gesagten klar sein, eine autographische Kunst dar. Ein Exemplar der fraglichen Objektsorten ist nur dann ein Original, wenn die Herstellung kausal auf ein Mitglied der maßgeblichen Gruppe zurückgeführt werden kann; auch wenn dieses Mitglied für uns heute nicht mehr als Individuum greifbar ist. An die Stelle des einzelnen Mitglieds kann selbstverständlich eine kleine Gemeinschaft treten, etwa die Gemeinschaft der Angehörigen einer Familie, die bei der Anfertigung des Teppichs zusammengearbeitet haben. Die autographischen Künste sind zugleich diejenigen Kunstzweige, in denen, anders als in der Literatur, relationale Werkfälschungen möglich sind. Manchmal wird der autographische Charakter einer Kunst durch bestimmte Konventionen regelrecht
erzwungen. Einen Fall dieser Art stellt die Künstler-Druckgraphik dar. Diese ist insofern besonders, als es sich nicht um eine Unikatkunst, sondern um eine Multiplikatkunst handelt, wie man sagt. Denn hier existieren in der Regel pro Werk mehrere gleichberechtigte Originale. Das sind sämtliche autorisierten Abzüge von einer Druckplatte. Mehrere Originale eines einzigen Werks? Ja. Aber es geht in der Tat um Autorisierung, nicht um beliebig zustande gekommene Abzüge. Man fordert für den Originalstatus eines Blattes, dass der Künstler oder die Künstlerin selbst und nicht jemand anders den Abzug angefertigt hat, von der Urheberschaft an der Platte einmal ganz abgesehen. Die Blätter sollten auch vom Künstler handsigniert sein, und die Druckauflage ist streng auf eine bestimmte, eher geringe Anzahl von Blättern begrenzt. Teppichkunst ist dagegen klarerweise als eine ebensolche Unikatkunst wie die Malerei einzustufen – auch wenn es häufig vorgekommen sein muss, dass eine Knüpferin mehrere einander sehr ähnliche Teppiche, Taschen oder dergleichen nach einem und demselben in ihrem Kopf stehenden Plan anfertigte. 38. Diachrone Identität. Eine Frage, die mit der Einteilung in Echt und Falsch, in Original und Replik in engem Zusammenhang steht und dabei eine ausgeprägt philosophische Note erst recht nicht verleugnen kann, ist die Persistenzfrage: Unter welchen Bedingungen soll man sagen, dass ein bestimmtes textiles Artefakt, unbeschadet irgendwelcher Veränderungen an seinem materiellen Bestand, als dasselbe Objekt fortexistiert – oder eben »persistiert«, wie die Philosophen sagen? Die Rede ist hier von Veränderungen am materiellen Bestand, die nicht Kleinigkeiten sind wie z. B. ein minimaler Verlust an Fasern bei einer schonenden Reinigung. Gemeint sind Veränderungen, die möglicherweise gegenüber dem Anfangszustand recht weit gehen. Und gemeint ist, wohlgemerkt, 145
nicht lediglich die Nachfolge-Existenz eines Objekts derselben Sorte. Konkretes Beispiel aus einem anderen Bereich, um den Punkt zu verdeutlichen: Wurde bei einem Oldtimer-Fahrzeug, sagen wir, des Herstellers Morris Garages der Originalmotor gegen einen neuen, anders konstruierten Motor mit veränderten Leistungsmerkmalen ausgetauscht, so haben wir zunächst diesen letzteren Fall. Zweifellos ist noch ein Gegenstand der Sorte ›Auto‹ vorhanden. – Ja, ein Auto ist ein ›Selbst‹, falls Sie noch das Ende des vorigen Abschnitts im Sinn haben. Es ist ein Auto-mobil, etwas, das sich von selbst bewegt, jedenfalls fast von selbst. – Nicht so eindeutig ist dagegen die Frage zu beantworten, ob es sich noch immer um denselben alten MG handelt, der zuvor mit ausgeleiertem Originalmotor in die Werkstatt geschoben wurde, d. h. um dieselbe Sache der Sorte ›Auto‹. Es geht also bei der Persistenzfrage um die Bedingungen der Fortexistenz desselben Objekt-Individuums, sei dies ein Auto, sei es ein bestimmter Knüpfteppich. Veränderungen am materiellen Bestand eines Teppichs können Abgänge und Zuwächse sein. Abgänge: Ein über längere Zeiträume hinweg auf dem Boden benutzter Teppich verliert unweigerlich an Wollfasern. Der Flor wird kürzer, wo es sich um einen Knüpfteppich handelt. Unter Umständen wird er in den Partien stärkster Beanspruchung vollständig abgetragen. Andere Faktoren, die innerhalb kürzerer Zeitspannen für erhebliche Verluste bis hin zur Entstehung von Fehlstellen sorgen können, sind: Korrosion, vorzugsweise SchwarzBraun-Korrosion; und natürlich Insektenfraß, wenn man es an einer gewissen Achtsamkeit fehlen lässt, wie sie auch beim Kleiderschrank angezeigt ist. Über Abgänge braucht man sich demnach nicht lang den Kopf zu zerbrechen. Aber Zuwächse? Ja, solche sind ebenfalls möglich, doch eher als absichtliche Veränderungen an der materiellen Substanz. Sind bei einem Knüpfteppich Fehlstellen entstanden, 146
so ist in den meisten Fällen das Grundgewebe, also das netzartige Geflecht aus Kett- und Schussfäden, noch intakt. In der Teppichreparatur erfahrene Knüpferinnen und Knüpfer sind in solchen Fällen dazu in der Lage, in das mehr oder weniger offenliegende und nur noch in geeignete Spannung zu versetzende Grundgewebe neue Knoten aus Wolle in passender Qualität und Farbe einzutragen, um so die fehlenden Musterpartien zu ergänzen. Wenn das gut gemacht wird, sind die Nachknüpfungen von vorn kaum wahrzunehmen, analog für fachgerecht nachgewebte Stellen bei Flachgeweben. Jedenfalls gilt dies bei nicht allzu großem zeitlichen Abstand von der Reparatur. Bei Nr. 74 sind einige Nachknüpfungen allerdings recht deutlich zu erkennen, etwa beim dritten Memling-Göl von unten als hellere Rotpartien. Um Abrasch kann es sich hierbei nicht handeln, sonst zögen die farblich abweichenden, scharf berandeten Partien sich eher in geraden Horizontalbändern über die Musterbreite. Auch auf der Teppich-Rückseite fallen gut gearbeitete Ergänzungen oft nur Kennern schon bei einem raschen Blick ins Auge. Mit der Zeit können sich jedoch die Wolle und die Farben der Nachknüpfungen anders als die Farben der Originalwolle verändern. Das ist eine Frage von Lichteinfluss und sonstigen Umwelteinflüssen wie der Art der mechanischen Beanspruchung. Dann machen sich Nachknüpfungen nach Jahrzehnten oder Jahrhunderten auch einmal deutlicher und mitunter optisch ziemlich störend bemerkbar.
◀
Abb. 74: Knüpfteppich Kasak, 213 × 165 cm, Mitte 19. Jh., Südwest-Kaukasus. – Man nimmt heute an, dass viele der im Kaukasus verbreiteten Muster durch ältere anatolische Vorbilder beeinflusst sind. Bei den Nummern 74 und 75 sind Parallelen im Feldmuster offensichtlich, auch wenn durch Abweichungen bei den Farben und Proportionen zunächst einmal ganz unterschiedliche Bildeindrücke entstehen.
◀
Abb. 75: Knüpfteppich, Fragment, auf Leinwand genäht, 106 × 98 cm, 18. Jh. oder früher, östliche Konya-Region. Konya ist eine Stadt in Zentralanatolien. – Das Stück gehörte ebenso wie Nr. 39 von S. 75 bis zum Verkauf im Herbst 1999 zur Sammlung Kirchheim; mehr über diese Sammlung am Ende von Abschnitt 40.
147
Die Ergänzungen können dem quantitativen Umfang nach erheblich ausfallen. Wenn bei einem sehr alten Stück immer wieder Teilreparaturen stattgefunden haben, ist am Ende eines langen Verlaufs von Nutzung, Ausbesserung, erneuter uneingeschränkter Nutzung usw. vielleicht in der Summe mehr an Nachknüpfungen unterschiedlicher Altersstufen vorhanden als an ursprünglichem Flormaterial. Ich verzichte darauf, Abbildungen entsprechender Stücke zu zeigen. Sie wirken manchmal einfach zu mitgenommen, und zum Thema ›Abnutzung‹ genügt schon Nr. 47, S. 86. Ist in derartigen Fällen der in der Gegenwart vorliegende Teppich immer noch derselbe Teppich wie damals? Derselbe Teppich wie einer, der, sagen wir, zweihundert Jahre zuvor an einem islamischen Festtag in die Moschee von Mudjur, oder Mucur, in Zentralanatolien getragen wurde, um dort als Geschenk zu verbleiben? Vielleicht ist es ein Teppich, der sich seit rund zweihundert Jahren identisch durchgehalten hat und lediglich Veränderungen in einigen seiner Eigenschaften hat hinnehmen müssen. Oder aber es ist, obwohl hier und jetzt zweifellos ein vollständiges Exemplar der Objektsorte ›Teppich‹, nur noch ein Fragment des einst der Moschee gestifteten Stücks. Dies wäre dann ein Fragment, das der heute vorliegende Teppich als einen möglicherweise ziemlich zerklüfteten und unzusammenhängenden Teil von sich sozusagen auf dem Grundgewebe mitführt. Wenn Letzteres zutrifft, wenn es sich objektiv oder nach allgemeinem Konsens so verhielte, dann müsste sich ein Interessent unter Umständen betrogen fühlen, falls er das Objekt im Vertrauen darauf erworben hatte, einen zweihundert Jahre alten Mudjur-Gebetsteppich in seinen Besitz zu bringen. Und falls er dafür einen Betrag ausgegeben hat, dessen Höhe der Seltenheit eines solchen Stücks in annähernd vollständiger Erhaltung entspricht. 148
39. Heraklit. Der erste, der in der abendländischen Geistesgeschichte nach allem, was wir wissen, die Persistenzfrage, oder gleichbedeutend: die Frage nach der diachronen Identität, deutlich als Problem aufgeworfen hat, war Heraklit von Ephesos. Wirksam um 500 vor Christus, gehört Heraklit in die vorsokratische Periode der Philosophie. Er lebte im Osten eines damals sehr weit erstreckten Kulturraums griechischer Prägung. Genauer: Er lebte in jenem Ort Ephesos, der sich heute auf dem Boden der Türkei befindet und dort Efes genannt wird. Wer sich im Laufe eines heißen ägäischen Sommertags an einer bestimmten Stelle eines Flussufers mehrfach zur Erfrischung und Reinigung in den Fluss wirft, der muss davon ausgehen, dass er jedes Mal seinen Körper in neu herangeführtes Wasser taucht. Und er wird es zufrieden sein, davon ausgehen zu können. Mit hoher Wahrscheinlichkeit ist die Befüllung des Flussbettes mit Wasser an der Badestelle von Mal zu Mal eine komplett andere. Dem Badenden wird auch klar sein, dass sich an seinem eigenen materiellen Bestand zwischen zwei Badegängen etwas verändert hat. Zwar nicht annähernd so viel wie am Fluss, aber doch einiges: Durch Ein- und Ausatmen, durch die Aufnahme von Flüssigkeit und Nahrung, durch Stoffwechsel, Schwitzen und Ausscheidung hat es Abgänge und Zuwachs gegeben. Dies genügte Heraklit, um festzuhalten, dass zwei Sichtweisen möglich sind: Identität mit eingebauter, kontinuierlicher Veränderung oder aber numerische Verschiedenheit, Zerlegung in eine Abfolge immer neuer Individuen. Er hielt es zu Recht für angebracht, darüber zu diskutieren, welche Sicht auf die Dinge die bessere, die sachgerechte ist. Sonst müssten die beiden Positionen einfach im Widerspruch nebeneinander stehenbleiben, was nicht befriedigen kann: »In dieselben Ströme steigen wir und steigen wir nicht, wir sind es und sind es nicht.« So der Problemaufweis gemäß Fragment B 49 a, nach der Zählung der Fragmente der Vorsokra-
tiker von Hermann Diels und Walther Kranz in der fünften Auflage von 1934. Aber was ist hier sachgerecht? Vielleicht verhält es sich bei Flüssen auf die eine Weise und wieder ganz anders bei Menschen? Eine kurze Überlegung zeigt, dass die für gewöhnlich bei verschiedenen Arten von Sachen oder Individuen zugrunde gelegten Anforderungen an diachrone Identität in der Tat in hohem Maße sortenabhängig sind. Im Hinblick auf Menschen beispielsweise lässt man Heraklit mit der ihm zugeschriebenen »alles fließt«-Losung im Allgemeinen in Frieden ruhen. Man denkt selbst dann nicht daran, bei irgendwem die Identität in Frage zu stellen, wenn von medizinisch-biologischer Seite glaubhaft versichert wird: Am Organismus finde im Verlaufe von rund zehn Jahren ein kompletter Materieaustausch statt. Offenbar sind für uns, was personale Identität angeht, ganz andere Kontinuitäten maßgeblich als die stoffliche Konstanz. Ähnlich würden wir unter geeigneten Bedingungen eine bereits im Mittelalter begründete Siedlung ohne Weiteres auch dann mit der Stadt identifizieren, die wir heute ungefähr an der gleichen Stelle vorfinden, wenn wir sicher wüssten: Im Zuge von Zerstörungen, Wiederaufbauten, Veränderungen und Erweiterungen ist kaum noch einer der zum ursprünglichen baulichen Bestand gehörenden Steine und Balken an seinem Ort geblieben oder überhaupt noch existent. Und bei Flüssen? Oder bei Teppichen? Es ist eine vielleicht beabsichtigte, vielleicht unabsichtliche Pointe der von Heraklit gewählten Beispiele, dass man bei lebendigen Organismen ebenso wie bei Fließgewässern bestimmte Arten der kontinuierlichen Veränderung für die Fortdauer geradezu fordern muss. Das Wasser muss fließen, wenn es ein Fluss sein soll; also erst recht, wenn es derselbe Fluss sein soll. Der Stoffwechsel, die Zellerneuerung usw. müssen stattfinden, wenn es als etwas Lebendiges gelten soll. Doch was ist beispielsweise mit einem, wie man drastisch zu formulieren pflegt, »zu Tode« restaurierten antiken Möbel? Da
wurde wohl zumindest aus Sicht der Kenner etwas zuviel abgeschliffen und ergänzt. Welche Art von Persistenzbedingungen soll man generell bei sammelwürdigen Artefakten, bei Kunstwerken mit physischer Existenzweise und derartigen Sachen als maßgeblich ansehen? Mehr dazu im nächsten Abschnitt. 40. Persistenz: relativ? Ein Roman hat es hinsichtlich denkbarer Eingriffe in den physischen Bestand vergleichsweise gut. Seine Existenzweise ist im Grunde keine physische. Auch wenn er immer wieder neu zu schaffender, physischer Vorkommnisse bedarf, um zugänglich gehalten zu werden: Er ist mit keinem Exemplar irgendeiner besonderen Druckausgabe identisch und nicht einmal mit dem Autograph, falls es noch vorhanden ist. Deshalb können materielle Veränderungen an irgendeinem dieser physischen Vorkommnisse seine Fortexistenz nicht gefährden; solange noch andere Exemplare da sind, die den Text getreu überliefern. Anders ein Teppich. Er ist weder eine in Worten vollzogene Erzählung noch eine durch ihre Lage definierte Ortschaft und am allerwenigsten ein mit Bewusstsein, Erinnerungsvermögen und Sprache begabtes Wesen, das sich schon vehement zu Wort melden würde, wollte ihm jemand aufgrund materieller Umbrüche die Identität in Frage stellen. Wahrscheinlich ist es ernüchternd, aber man muss es in dieser Ehrlichkeit einräumen: Für Gegenstandsarten, wie sie uns in diesem Buch beschäftigen, gibt es keine objektiv gültigen Persistenzregeln zu entdecken. Nehmen wir nochmals an, vor zweihundert Jahren sei ein bestimmter Knüpfteppich entstanden. Später hat es im Gebrauch Abnutzungen gegeben. Im Zuge von Ausbesserungen sind immer wieder Partien nachgeknüpft worden, bis an die Gegenwart heran. Für eine solche Konstellation lässt sich nicht irgendwie, durch irgendeine besondere Art von Untersuchung, ein gesetzmäßi149
ger Zusammenhang entdecken, der besagen würde: Das, was heute als ein vollständiges Exemplar der Objektsorte Teppich vorliegt, stellt, as a matter of pure fact, nur noch ein Fragment des ehemals existenten Teppichs dar, weil mehr als 57 Prozent des Flormaterials spätere Hinzufügungen sind. Wieso denn ausgerechnet 57 Prozent, könnten Sie fragen. Eben, die Schwelle könnte genauso gut bei 45 oder 78 Prozent angesetzt sein, oder wie auch immer. Menschen können derartige Regeln, soviel Konstruktivismus muss sein, immer nur selber machen. Indem sie nämlich als Marktteilnehmer ein bestimmtes Nachfrageverhalten an den Tag legen und Wertungen vornehmen, die sich am Ende auch in Zahlungsbereitschaften äußern; und die umgekehrt aus Zahlungsbereitschaften ablesbar sind. Unterschiedliche Interessenlagen und Präferenzen ziehen im Allgemeinen unterschiedliche Persistenz-Anforderungen nach sich. Die interessenabhängigen Anforderungen fallen unter Umständen derartig verschieden aus, dass man in der Folge zu neuen Unterscheidungen von Objektsorten übergehen müsste. Und zwar selbst dort, wo man es nach landläufiger Auffassung bloß mit je einer Objektart zu tun hat, wie mit Autos oder mit Teppichen. Man müsste sich dann z. B. daran gewöhnen, dass es neben Fahrzeugen-im-Gebrauch auch Fahrzeuge-im-(annähernden)-Originalzustand gibt, und eventuell noch manches mehr an besonderen Unterarten. Jemand nämlich, der als Schrauber und Schweißer seinen Benz über dreißig und mehr Jahre kontinuierlich fährt und dem, abgesehen von einer milden sentimentalen Komponente, vor allem anderen am Funktionieren des Fahrzeugs gelegen ist, wird auch dann ohne Zögern sagen, dass er immer noch dasselbe Auto wie damals als junger Heißsporn fahre, wenn schon längst der halbe Antriebsstrang, die Mehrzahl der Kotflügel und sämtliche Türschwellen durch neue Aggregate und Bleche ersetzt wurden. Jemand aus der Nachbarschaft, der das Ge150
fährt allmählich mit den Augen eines interessierten Oldtimer-Sammlers zu betrachten beginnt, wird dagegen wesentlich größeren Wert darauf legen, dass möglichst viel werksseitig verbautes Originalmaterial erhalten geblieben ist. Wo der eine die ›Selbigkeit‹ vor allem an eine Kontinuität der Nutzung und des Funktionierens bindet, legt der andere den Akzent auf die Materialkonstanz. Im Prinzip genauso beim Teppich. Wer einen Teppich in vierter Generation vor allem als Gebetsunterlage benutzt – häufig wird das selbst in den Ursprungsregionen nicht vorkommen – , der wird auch angesichts umfangreicher, zum Teil alter und ganz alter Nachknüpfungen und Reparaturen kein Problem darin sehen zu behaupten: Dies ist derselbe Teppich, mit dem schon der Urgroßvater nach Mekka pilgerte. Anders, wenn sich jemand als Sammler statt als religiös Gläubiger und Nachfahre eines Gläubigen für das Objekt interessiert. Verspürt dieser Interessent das Bedürfnis, bei der visuellen und taktilen Kontaktaufnahme mit dem Stück nicht bloß ideell, sondern physisch mit einer lange vergangenen Zeit und deren Produktionsgegebenheiten in Verbindung zu treten, so wird er viel stärker auf materielle Authentizität achten. Sobald eine ökonomisch ins Gewicht fallende Zahl von Teilnehmern am Markt für alte Textilien eine dezidierte Präferenz für Materialkonstanz erkennen lässt, werden sich entsprechende, unvermeidlich mit einer gewissen Vagheit behaftete Begriffe von vollständiger Erhaltung und Fragmentarik einbürgern. Dies geht bis hin zu dem Punkt, dass unter Umständen von Irreführung und Fälschung gesprochen werden muss, wo umfangreiche Nachknüpfungen verschwiegen werden. Die Entwicklung kann aber auch bis zu dem Punkt führen, wo auf Restaurierung und Ergänzung bewusst verzichtet wird und selbst Objekte mit endgültig fragmentarischem Charakter wie Nr. 75 von S. 147 in ihrer Fragmentarik als ästhetische Objekte gewürdigt werden. Schön kaputt müssen sie
sein, so hat einmal ein Sammler zugespitzt seine Präferenz formuliert. Die über ein solches Stück hinweggegangene Zeit wird nicht verschleiert. Man möchte dann allerdings auch gern wissen, wie viel Zeit es denn wirklich war, wenigstens ungefähr. ⋆
NORTMANN: Das Sammeln von stark beschädigten oder nur noch fragmentarisch erhaltenen Teppichen, ohne die Absicht, den schlechten Erhaltungszustand durch Restauration zu verbergen, war keine jederzeit gültige sammlerische Praxis. Wann und wodurch wurde so etwas zu einer anerkannten Art, sich zu den Objekten zu verhalten? MALTZAHN: Ich muss Ihre Aussage dahingehend relativieren, dass die Museen schon zu einem frühen Zeitpunkt auch Fragmente erworben haben. Das geschah immer dann, wenn von einer bestimmten, meistens sehr alten Teppichgruppe kein vollständiges Exemplar oder nur eine sehr kleine Anzahl vollständiger Exemplare erhalten war. Ein Fragment war dann eine sinnvolle Ergänzung des Bestandes. Bei historischen Textilien aus vor- oder frühchristlicher Zeit bestehen die Sammlungen in Museen naturgemäß überwiegend aus Fragmenten. Bei privaten Sammlern verhält es sich anders. Einige werden vom fragmentierten Zustand geradezu angezogen, sie interessieren sich von vornherein nicht für vollständig erhaltene Teppiche. Die besondere Ästhetik der Fragmente macht für sie den Reiz aus. Das ist jedoch ein Sonderfall. Eher typisch ist der Fall eines bekannten Sammlers, der zu Beginn seiner Sammlerkarriere nur bestens erhaltene kaukasische Dorfteppiche kaufte, sich dann aber zu einem großen Kenner entwickelte und, auf der Suche nach den Ursprüngen, sozusagen in der Zeit immer weiter herabstieg. Er entwickelte, auch durch den Kontakt mit führenden Händlern, Museumsleuten und gleichgesinnten Sammlern, ein ausgeprägtes historisches Interesse und strebte den Erwerb von
sehr alten, sehr seltenen und aussagekräftigen Teppichen an. Diese Belegstücke sind fast immer nur als Fragmente überliefert. Ich spreche von Heinrich Kirchheim und seiner berühmten Sammlung »Orient Stars«. ⋆ ⋆
Die Kirchheim-Sammlung wurde in ihrem Bestand, wie er 1993 vorlag, durch einen opulent ausgestatteten, in jenem Jahr erschienenen Bildband dokumentiert: Orient Stars. Eine Teppichsammlung, mit Kirchheim als Herausgeber und namhaften Experten als Autoren. Wir können sicherlich davon ausgehen, dass das, was Kirchheim in puncto Sammeln von Fragmenten vorgemacht hat, sich in den Folgejahren, als seine Kaufentscheidungen durch zwei Ausstellungen sowie die Buchpublikation öffentlich sichtbar geworden waren, auch auf das Verhalten anderer Privatsammler auswirkte. Ähnliches lässt sich für die USA hinsichtlich der Wirkung der Sammlung Christopher Alexander vermuten. Kirchheim selbst ist nach 1993, nicht zuletzt durch seine Begegnung mit der Sammlung Alexander beeinflusst, auf dem einmal eingeschlagenen Weg weitergegangen. Der Sammlungs-Schwerpunkt verlagerte sich auf immer ältere, erwartbar nicht vollständig erhaltene Stücke. Ein zweites Buch dazu, verfasst von Michael Franses, ist im Erscheinen. 41. Altersbestimmung: die Faktoren. Für die Altersbestimmung können bei Teppichen und deren textiler Verwandtschaft – Taschen, Schmuckbändern, Pferdedecken usw. – verschiedene Faktoren herangezogen werden. In der Zusammenschau führen sie in der Regel zu ziemlich verlässlichen Ergebnissen. Wo keine hohe Präzision erreichbar ist, wird man sich bei einem seriösen Vorgehen auf unscharfe Angaben beschränken wie: zweite Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, vor achtzehnhundert und dergleichen, statt mit Phantasie-Datierungen zu operieren. 151
So habe ich es auch in diesem Buch gehalten. Grundlage ist dabei zum einen eigenes Erfahrungswissen, das allerdings oft an Grenzen stößt. Wichtig sind zum anderen Angaben in Auktionskatalogen und Fachliteratur, soweit diese Angaben auf einem teppichkundlichen Expertenwissen beruhen, auf das ich mich glaube verlassen zu dürfen. Eine geringe Restunsicherheit, ein Spielraum für Fehler bleibt – so, wie das nun einmal bei vielen auf Empirie gestützten Wissensansprüchen typischerweise gilt. Gäbe es auch bei den Spezialisten bis hin zu Museumsleuten keinen Spielraum für Datierungsfehler, so hätten Fälschungsversuche nie einen Sinn gehabt. Man kann sich, sage ich, auf mehrere für das Alter potentiell aufschlussreiche Gesichtspunkte zu stützen versuchen. Bei Knüpfteppichen liegt, um einen Anfang zu machen, gar nicht so selten der günstige Fall vor, dass man eingeknüpfte Jahreszahlen findet. Bei Flachgeweben erlebt man das leider kaum einmal. Es ist davon auszugehen, dass mit der Jahreszahl fast immer das Jahr der Fertigstellung des betreffenden Teppichs bezeichnet ist. Die Restunsicherheit, von der eben die Rede war, besteht aber selbst hier. Nämlich deshalb, weil Fälle der Art einzukalkulieren sind, dass eine Knüpferin, sagen wir, aus Anlass des fünfzigsten Geburtstages einer ihr nahe stehenden Person einen Teppich als Geschenk anfertigt. In einem solchen Fall könnte es vorkommen, dass sie das Geburtsjahr der Person einknüpft und nicht das Jahr der Teppich-Fertigstellung. Wenn die auf sonstige Indizien gestützte Erfahrung die vorgefundene Jahreszahl als Angabe zur Entstehungszeit plausibel erscheinen lässt, ist damit zunächst einmal nur, aber immerhin, das Alter des einen Teppich-Individuums mit annähernder Sicherheit festgestellt. Wo dann in einem weiteren Schritt der Vergleich anderer, undatierter Objekte mit einem solchen Referenzobjekt eine hohe Übereinstimmung hinsichtlich der Parameter Stil, Kolorit, Knüpfstruktur und Wollqualität ergibt, kann man von 152
einer ungefähren Übereinstimmung auch im Alter ausgehen. Andere Anhaltspunkte sind mit mündlichen oder schriftlichen Mitteilungen und Dokumenten über den Ankauf und Verkauf von Teppichen gegeben. In manchen Fällen lässt sich auf Teppichdarstellungen in Werken historischer Malerei zurückgreifen. Man kann sich grob an Farb- und Materialveränderungen orientieren, die am Objekt selbst erkennbar sind. Naturwissenschaftliche Methoden zur Altersbestimmung können eingesetzt werden, oder es wird mit stilvergleichenden Analysen operiert. Näheres zu allen diesen Aspekten wird in den nachfolgenden Abschnitten ausgeführt. 42. Kalender: die Unterschiede. Bei den in Teppiche eingeknüpften Jahresangaben hat man sich in der Mehrzahl der Fälle arabischer Ziffern bedient. Damit meine ich an dieser Stelle nicht die uns vertrauten Ziffern 0, 1, 2 usw., die gewöhnlich zur Abhebung von römischen Ziffern ebenfalls als arabische bezeichnet werden. Sondern ich meine tatsächlich die Zahlsymbole, die im Kontext der arabischen Sprache gebräuchlich sind. Von diesen sind die Zahlzeichen 0, 1, 2 … zwar in nachvollziehbarer Weise graphisch abgeleitet, so dass es für normale Zwecke in Ordnung ist, auch sie als »arabisch« zu bezeichnen. Sie sehen aber doch ein bisschen anders aus. Darüber hinaus muss man wissen, dass bei Jahresangaben, die auf Teppichen mit den im engeren Sinne arabischen Ziffern gemacht werden, fast immer der islamische Kalender zugrunde gelegt ist. Angegeben ist also das Jahr der Hedschra. Dies ist das Jahr, das sich ergibt, wenn von demjenigen Jahr an gezählt wird, in dem der Religionsstifter Mohammed Mekka verlassen haben und nach Medina gegangen sein soll. Nach christlicher Zeitrechnung fand diese Hedschra im Jahre 622 nach Christus statt. Für Umrechnungszwecke ist ferner zu berücksichtigen, dass das islamische Mondjahr, sieht man von Feinheiten wie Schaltjahren ab, unge-
fähr elf Tage kürzer ist als das christliche 1 Sonnenjahr, also um ca. 33 kürzer. Die ge1 naue Zahl ist 33,7 . Im Iran wurde die Zeitrechnung unter Schah Reza I. in den 1920er Jahren umgestellt, seitdem gilt auch dort das Sonnenjahr. Für antike Teppiche ist das aber ohne Bedeutung. Die in Nr. 3, S. 16, eingeknüpfte Datierung ergibt, vergrößert und in der untersten Zeile mit den korrespondierenden »arabischen« Ziffern versehen, das Bild:
1
3
0
4
Abb. 76: Detail aus Nr. 3, Datierung, darunter angeordnet moderne arabische, darunter schließlich die uns vertrauten Ziffern. Man kann sich etwa das Zahlzeichen »3« im Wesentlichen dadurch erzeugt denken, dass man das entsprechende arabische Symbol um 90 Grad nach links dreht.
Es handelt sich demnach um das Jahr 1304 nach islamischer Zeitrechnung. Gefragt ist nun nach der Zahl der Jahre nach dem gregorianischen Kalender, die während dieser Zeitspanne von 1304 muslimischen Jahren verstrichen sind. Bezeichnen wir die gesuchte Zahl mit 𝑥. Es müssen weniger Jahre sein, weil sie länger sind. Weil sie ungefähr um 1 1 33 länger sind, sollten es ca. 33 Jahre weniger als 1304 Jahre sein. In der Tat, ist 𝑚 die Anzahl der Tage eines muslimischen und 𝑔 die Anzahl der Tage eines gregorianischen 𝑔 Jahres, so gilt angenähert: 𝑚 = 𝑔 − 33 . Gesucht ist demnach 𝑥 mit: 𝑔 ⋅ 𝑥 = 1304 ⋅ 𝑚 = 𝑔 1304 ⋅ 𝑔 − 1304 ⋅ 33 . Division durch 𝑔 ergibt 1304 𝑥 = 1304 − 33 , und analog für andere muslimische Jahreszahlen. Die Zahl der verstrichenen Jahre nach gregorianischer Zählung erhält man also im gegebenen Fall durch Subtraktion der Zahl 39 von 1304, mit dem Ergebnis 1265. Zu diesem Zwischenergebnis sind noch 622 Jahre
hinzu zu addieren. Der Teppich muss im Jahre 1887 nach christlicher Zeitrechnung entstanden sein. Gelegentlich findet man auf Teppichen auch Jahresangaben in »arabischen« Ziffern. Dies ist dann immer ein ziemlich sicheres Indiz dafür, dass die Arbeit das Werk einer christlichen, vermutlich einer armenischen Knüpferin ist. In seltenen Fällen sieht man eine Dopplung: Jahresangaben, die in beiden Ziffernsystemen vorgenommen wurden. Darin kann man ein Zeichen der friedlichen Koexistenz von christlichen und islamisch geprägten Bevölkerungsanteilen in einer Herstellungsregion sehen. Ein für Datierungsfragen hilfreicher Sonderfall liegt einmal mehr bei den Transsylvaniern vor. Dort finden sich zuweilen, von den Stiftern veranlasst, Dedikationsinschriften mit Jahresangaben aufgestickt. Das Herstellungsjahr wird jeweils nicht viel früher als das Schenkungsjahr gewesen sein. 43. Mitteilungen: mündlich, schriftlich, bildlich. Eine weniger direkte, nicht in der Art wie bei eingearbeiteten Datierungen unmittelbar objektbezogene Quelle von Hypothesen zur Entstehungszeit von Teppichen hat man in den familiären Überlieferungen. Ich meine Überlieferungen zur Herstellung oder zum Erwerb einschlägiger Objekte. Soll ein Textil, das über einen langen Zeitraum in einer Familie als Erbstück in Ehren gehalten wurde, irgendwann doch verkauft werden, so sind bei der Veräußerung Mitteilungen vorstellbar wie, mit etwas Phantasie: Die Großmutter hat immer erzählt, dass ihre Mutter den Teppich in dem Jahr fertiggestellt hat, als in Russland der Zar gekrönt wurde. Welcher Zar war es doch gleich? Hatte sie Alexander den Zweiten im Sinn? Falls dem so ist, wäre das Jahr 1856 gemeint gewesen und damit die Sache nach einigem Hin und Her vor dem Händler geklärt. Oder es handelt sich um innerfamiliär überlieferte Angaben zum ursprünglichen Erwerb eines Objekts, durch den es in die Familie gelangte, vielleicht durch einen Kauf 153
in der Herstellungsregion selbst, während einer Orient-Reise. Beispielsweise wurde im Falle von Nr. 13, S. 26, bei der Einlieferung zu einer Auktion von der Familie mitgeteilt, dass der Teppich im Jahre 1868 für den Betrag von vier Rubeln und zehn Kopeken erstanden wurde. Das wären, nebenbei bemerkt, nach heutigem Umrechnungskurs rund vier Cent oder ein Groschen – für einen Teppich, der bei einer Versteigerung des Jahres 1994 für 46 000 DM zugeschlagen wurde. Man müsste die Kaufkraft eines Groschens ungefähr zur Zeit der Reichsgründung kennen. Nach allem, was man in Erfahrung bringen kann, geht es hier in etwa um den Gegenwert eines halben Pfundes Butter. Allerdings wird der Rubelkurs damals ein deutlich anderer gewesen sein. Das wird zu kompliziert. Aussagekräftiger ist ein zufällig aufgelesener Informationssplitter. In dem bei einer früheren Gelegenheit erwähnten Reisebericht Vom Newastrand nach Samarkand informiert der Autor über den Preis von Vieh bei den Bauern im kaukasischen Hochland: das Schaf für zwei bis drei Rubel. Der Teppich hätte demnach damals den Gegenwert von zwei Schafen gehabt. Was zahlt man heute für zwei lebende Schafe? Genug der Abschweifung … Angaben über einen zeitlich weit zurückliegenden Erwerb besagen nicht alles, was man gern hätte. Sie implizieren aber immerhin, soweit sie glaubhaft sind, dass das jeweilige Objekt nicht später als im Jahr des Kaufs entstanden ist. Durch Vergleich unter stilistischen, koloristischen, strukturellen und materiellen Gesichtspunkten lassen sich wieder Rückschlüsse auf das Alter bzw. das Mindestalter anderer Teppichindividuen ziehen. Klarerweise kann es bei Familienüberlieferungen auch einmal Irrtümer geben oder, unter Umständen, fahrlässige bis bewusste Irreführungen. Auf der sicheren Seite ist man, wenn so, wie es manchmal geschieht, noch alte Kaufbelege beigebracht werden können. In derartigen Fällen ergibt sich dann zweifelsfrei, dass ein Stück, bei154
spielsweise, im Jahre 1908 im Berliner Antiquitätenhandel erworben wurde, oder im Pariser oder Madrider Handel. Wenn das Stück damals bereits als Antiquität galt, wird man von einer Entstehung nicht später als ca. 1860 ausgehen dürfen. Informationen der geschilderten Art sedimentieren sich irgendwann, wenn sie über längere Zeiträume immer wieder im Handel angekommen sind, zu so etwas wie einem gefestigten Händlerwissen. Wo dieses Wissen bei gegebenen Anlässen über Angebotsund Ausstellungskataloge oder andere Publikationsformen verbreitet wird, da steht es irgendwann allen Interessierten zur Verfügung. ›Man‹ weiß dann, dass Teppiche eines bestimmten Typs in der und der Periode entstanden sind und später wohl nicht mehr. Weitere Aufschlüsse, in der Zuverlässigkeit allenfalls noch höher zu veranschlagen, ergeben sich daraus, dass als Erwerber am Markt nicht nur Privatpersonen, Reisende, Händler auftreten, sondern auch Institutionen: etwa Museen, die in der Verfolgung ethnologischer oder kunsthistorischer Interessen alte Textilien kaufen. Museen führen Inventarbücher, in denen für jedes neu aufgenommene Objekt das Datum des Erwerbs verzeichnet ist. Wieder ist damit für ein jedes dieser individuellen Objekte ein terminus ante quem gesetzt, also ein Zeitpunkt, vor dem es entstanden sein muss. Und wieder besteht die Möglichkeit zu einer vorsichtigen Verallgemeinerung der Zeitgrenze auf hinreichend ähnliche Vergleichsstücke. Ähnliches gilt im Fall von Teppichen, die in früher Teppichliteratur publiziert sind. Was beispielsweise von Werner GroteHasenbalg (1888–1959), einem namhaften Berliner Antiquitätenhändler in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, in seinem dreibändigen Werk von 1922, Der Orientteppich. Seine Geschichte und seine Kultur, abgebildet ist und als antik gilt, muss deutlich vor neunzehnhundert entstanden sein. Das gibt einen Datierungshinweis für das abgebildete Exemplar, eventuell auch für die gesamte Teppichgruppe.
Es geht noch ein bisschen weiter. Wir wissen durch alte Handelsdokumente, dass seit dem vierzehnten Jahrhundert über Genua und Venedig Teppichimporte nach Europa stattfanden. Für bestimmte Typen von Teppichen lassen sich aus der Darstellung auf datierten oder datierbaren europäischen Gemälden Informationen der Art ziehen, dass in und vor der Entstehungszeit der Gemälde solche Objekte jedenfalls existierten und durch Handelsbeziehungen in den Westen gelangt sein müssen. Oft sind in diesen Fällen unter Rückgriff auf Maler-Namen Bezeichnungen für historisch fassbare Teppichgruppen geprägt worden wie: Holbein-Teppich, Lotto-Teppich usw. Im ersten der beiden Fälle bezieht man sich auf Hans Holbein den Jüngeren (1497– 1543), im zweiten Fall auf Lorenzo Lotto (ca. 1480–1556). Ein Gemälde Holbeins, das einen Teppich der nach dem Maler benannten Gattung in der Verwendung als Tischdecke belegt, ist das von 1532 datierende Porträt »Der Kaufmann Georg Gisze«. Der Umstand, dass hier wie im Falle einer früher erwähnten Arbeit von Hans Memling die gezeigten Teppiche nicht auf dem Boden zu sehen sind, ist ein Anhaltspunkt dafür, dass solche Erzeugnisse orientalischen Knüpfhandwerks seinerzeit den Status wertvoller Luxusgüter hatten. Man setzte sie nicht ohne Weiteres dem Verschleiß durch Begehen aus. 44. Physis und Physik. Ein wichtiger Gesichtspunkt zur Unterstützung der Datierung von Textilien können altersbedingte Farbveränderungen sein. Von ihnen wissen Kenner aus Erfahrung ungefähr, in welchen Zeitspannen sie in welcher Ausprägung aufzutreten pflegen. Man vergleicht zur Feststellung der Veränderung die Farbwerte der verwendeten Garne, wie sie auf der dem Licht kaum ausgesetzten Unterseite eines Teppichs zu sehen sind, mit den entsprechenden Farben auf der Vorderseite. Die für Teppichfärbungen verwendeten Natur-Farbmittel verblassen im Allgemeinen zwar erstaunlich wenig,
aber die valeurs können sich unter Lichteinfluss durchaus verschieben. Laien wundern sich beispielsweise oft darüber, dass bei der Beschreibung alter turkmenischer Teppiche in Publikationen mit Farbabbildungen von Grüntönen die Rede ist. Die Grüntöne können sie auf den Bildern beim besten Willen nicht finden. Ist da jemand mit partieller Farbenblindheit geschlagen? Nein. Der Grund für die Verwirrung liegt darin, dass die ursprünglich angestrebten und auch wunschgemäß realisierten Grünfärbungen bei turkmenischen Arbeiten auf der Schauseite im Laufe von Jahrzehnten und Jahrhunderten fast ausnahmslos in helle Blautöne übergegangen sind. Oft in ein schönes, intensives Türkisblau, also nicht unbedingt zum ästhetischen Nachteil für diese Arbeiten. Unter Fachleuten wird dann trotzdem von Grüntönen gesprochen, weil man soviel sagen möchte wie: Das, was ursprünglich als Grün vorlag, hat jetzt die und die Qualität. Es hebt sich z. B. – immer noch, wenn auch nicht mehr als Grün – deutlich von dem vorkommenden Dunkelblau ab. Die typische Farbveränderung hat ihre Ursache darin, dass bei einer Erzeugung von Grün durch Überfärbung bereits gelb angefärbter Faser mit Blau immer dann die spätere Durchsetzung des Blauanteils vorprogrammiert war, wenn es sich um eine instabile Gelbfärbung handelte. Weiter ist, was Farbveränderungen betrifft, von einigen frühen synthetischen Färbemitteln wie dem ursprünglich rot aussehenden Fuchsin bekannt, dass sie sich regelmäßig unter Lichteinfluss vergleichsweise schnell in einen anderen Farbton veränderten, im Fall von Fuchsin in einen reizlosen Beigeton. Violettes Mauvein verblasste irgendwann zu einem grauen Ton. Es hat eine Weile gedauert, dann wussten die Färber in den Teppich-Regionen über diese unerwünschten Eigenschaften Bescheid und verzichteten auf den weiteren Gebrauch der Mittel. Daher kann man z. B. bei Teppichen, in denen offensichtlich fuchsingefärbte Gar155
ne Verwendung fanden, die Entstehungszeit ziemlich genau eingrenzen, nämlich auf die Jahre zwischen 1870 und 1890. Ein Hinweisgeber ist auch der Grad der gegebenenfalls feststellbaren Braunkorrosion. Zur Erzielung stabiler, an der Wollfaser gut haftender Dunkelbraun- und Schwarztöne mit natürlichen Färbemitteln wurde dem Farbbad üblicherweise ein bestimmtes eisenhaltiges Salz als Beizmittel beigegeben. Oder es wurde eine entsprechende Beizung vorher durchgeführt. Im Abschnitt 17, »Verrückt nach Farben«, war von diesen Dingen die Rede. Das Salz greift in einem sachten, jahrzehntelangen Verlauf die Fasern an und führt zu allmählicher Zersetzung. Die mögliche Folge bei Knüpfteppichen: niedrigere Florhöhe der Braun-Schwarz-Partien im Vergleich zum Flor der Umgebung, bis hin zum völligen Ausfallen des Flors. Aus dem jeweiligen Korrosionsbefund kann darauf zurückgeschlossen werden, über welchen ungefähren Zeitraum der Korrosionsprozess sich abgespielt haben muss. Ansonsten ist der Erhaltungszustand eines Textils für die Altersfrage nicht unbedingt aussagekräftig. Wurde beispielsweise eine Arbeit, typischerweise eine von besonderer Qualität und Sorgfalt der Ausführung, in der Hersteller-Familie über Generationen hinweg als Erinnerungsstück und textiler Familienschatz gehütet und entsprechend wenig dem Verschleiß ausgesetzt, kann das Stück trotz erheblichem Alter einen nahezu neuwertigen optischen Eindruck vermitteln. Dagegen hat es bei einem stark verschlissenen und damit aus Laiensicht alten Objekt unter Umständen nur dreißig oder vierzig Jahre gebraucht, es in einen solchen Abnutzungszustand zu versetzen. Manchmal wird dem Datierungsproblem mit erheblichem technischen Aufwand zu Leibe gerückt. Das geschieht vor allem bei solchen Stücken, bei denen ein Privatsammler oder ein Museum aus verschiedenen Gründen einerseits ein sehr hohes Alter für möglich hält; während es sich andererseits um einen Typus handelt, 156
für den bis dahin ein solches Alter noch nicht ernsthaft in Erwägung gezogen wurde. Man scheut dann nicht die Kosten, eine unorthodoxe Datierungs-Hypothese durch einen naturwissenschaftlichen Ansatz zu überprüfen. Im besten Fall lässt sich eine endgültige Entscheidung herbeiführen. Das Mittel der Wahl ist in solchen Fällen die seit den 1940er Jahren bekannte Radiokarbon-Datierung. Es handelt sich um die bei organischem Material anwendbare Methode der C-14-Altersanalyse. C-14 ist ein radioaktives Kohlenstoffisotop, das in der Erdatmosphäre in einer ziemlich konstanten, geringen Quantität vorkommt – sehr gering, wir reden an dieser Stelle nicht über den Gesamtkohlenstoff in der Luft und den Treibhauseffekt. Das Isotop wird im Zuge der Photosynthese in Pflanzen eingelagert. Die annähernde Konstanz des atmosphärischen Anteils rührt daher, dass sich Zerfall einerseits und Neubildung von C-14 unter dem Einfluss der kosmischen Strahlung andererseits ungefähr die Waage halten. Von den Pflanzen wandert C-14 in den Körper und dann auch in die Wolle von Schafen, die solche Pflanzen gefressen haben. Am Ende findet sich das Isotop in den Wollgarnen, aus denen Teppiche bestehen. Die C14-Atome zerfallen in bestimmten Zeitintervallen in einem ganz bestimmten Umfang, unter geringfügiger Abgabe von radioaktiver Strahlung. Hier geht es um Halbwertszeiten und diese Dinge. In den Wollfasern läuft, nachdem die Tiere, von denen die Wolle stammt, geschoren wurden und keine weiteren Einlagerungen mehr stattfinden können, nur noch das Zerfallsgeschehen ab. Daher lässt sich aus dem in den Fasern feststellbaren C-14-Restanteil eine probabilistische Information über die Zeit gewinnen, zu der in etwa die Schur und damit auch die Verarbeitung der Wolle stattgefunden haben müssen.
◀
Abb. 78: Knüpfteppich Lenkoran, 257 × 106 cm, südöstl. Kaukasus.
◀
Abb. 77: Knüpfteppich Lenkoran, 287 × 143 cm, südöstlicher Kaukasus; die Frage des Alters im Verhältnis zu Nr. 78 wird im Haupttext erörtert.
157
◀
Abb. 79: Knüpfteppich Seichur, 160 × 112 cm, 19. Jh., Ost-Kaukasus. Bei manchen Bordüren gibt sich trotz aller Stilisierung hinter dem ornamentalen Charakter viel deutlicher als bei Nr. 77 und Nr. 78 eine spezifische Darstellungsabsicht zu erkennen. In diesem Fall will die weißgrundige Bordüre offenbar lodernde Feuer und sich brechende Wellen zeigen. – Feuer und Wasser, Heraklit hätte sich gefreut: Für ihn sind das die Stoffe, aus denen Seelen gemacht werden.
158
Wer hätte nicht gern Sicherheit statt Wahrscheinlichkeit? Der probabilistische Charakter des Verfahrens rührt daher, dass die C-14-Halbwertszeit wegen der Zufallsnatur der individuellen Zerfallsvorgänge nur mit einer Genauigkeit von 5730 ± 40 Jahren zu beziffern ist. Überdies können natürliche Schwankungen bei der Intensität der Höhenstrahlung sowie der Eintrag von Kohlenstoff aus ungewöhnlichen Verbrennungsvorgängen den atmosphärischen C-14-Anteil leicht variieren lassen. Wird in großem Stil Steinkohle verbrannt, so verringert sich der C-14Anteil in der Luft. Wegen des hohen Alters des zu Kohle gewordenen Pflanzenmaterials ist nämlich schon fast alles, was darin ursprünglich an C-14 enthalten war, zerfallen. Durch Kalibrierung unter Rückgriff auf Daten der Dendrochronologie kann der mit solchen Faktoren potentiell einhergehende Datierungsfehler deutlich verkleinert werden. Jedenfalls dort, wo es sich um Zeitspannen handelt, die in die letzten rund zehntausend Jahre fallen. Für Teppiche genügt das. Die ältesten heute bekannten Teppichrelikte sind maximal dreitausendfünfhundert Jahre alt. Ein Beispiel für einen im Prinzip kaufbaren Teppich, bei dem das RadiokarbonVerfahren angewandt wurde, ist Nr. 25 von S. 49. Hier hat die C-14-Analyse, im Jahre 2003 an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich durchgeführt, eine achtzigprozentige Wahrscheinlichkeit für eine Entstehung vor achtzehnhundert erbracht und einen etwas niedrigeren Wert sogar für eine Entstehung vor siebzehnhundert. 45. Stilistik und Stilanalyse. Auf einer ganz anderen als der naturwissenschaftlichtechnischen Ebene bewegen sich stilanalytische Betrachtungen. Sie können von kunsthistorischer Seite beigetragen werden. Solche Betrachtungen liefern, wo es um Datierung geht, für sich allein genommen oft nur ordinale Hypothesen und keine Informationen auf der kardinalen Zeitskala. Das heißt, man gelangt mit diesen Methoden auf
der Grundlage plausibler, empirisch gestützter Hypothesen über allgemeine Gesetzmäßigkeiten der Stilentwicklung zu Aussagen der Art, dass ein bestimmtes Objekt mit hoher Wahrscheinlichkeit später als ein anderes entstanden ist, oder früher oder ungefähr zur gleichen Zeit. Vielleicht haben Sie in diesem Buch bereits genug gesehen, um ein intuitives Stilgefühl zu entwickeln und eine EinzelfallHypothese zu riskieren: Welches der Objekte Nr. 77 und Nr. 78 halten Sie für älter? ⋆
NORTMANN: Wie begründen Sie, mit dem Blick nicht nur des Teppich-Experten, sondern auch des Kunsthistorikers, dass die eine der beiden Nummern viel älter ist als die andere? MALTZAHN: Los 137 in der Auktion im Frühjahr 1992 zeigt das Primärmuster aus großen Palmetten im Wechsel mit Kartuschen in seiner ursprünglichen Gestalt, mit perfekten Proportionen und den charakteristischen Hakenranken als Innenzeichung der Palmetten. Außerdem sind alle Sekundärmotive, die das Hauptmuster zu beiden Seiten begleiten, mit größter Präzision gezeichnet. Die reziproke Zinnenbordüre in Rot und Weiß kommt, aller Erfahrung nach, nur bei den besten Exemplaren der Gruppe vor. Was man auf der Abbildung nicht sehen und somit auch nicht würdigen kann, sind die extrem hohe Knüpfdichte, die stark glänzende, seidige Wolle des Flors und die überragende Qualität der Farben. Im Vergleich dazu ist Los 16 in der Frühjahrsauktion 2007 ein minderwertiges Exemplar, nicht nur in materieller, sondern auch in ästhetischer Hinsicht. Es ist unbezweifelbar recht alt, aber die Knüpferin hat das Hauptmuster in Einzelteile zerlegt und eine Bordüre aus dem Karabagh-Gebiet ausgewählt. Die Farbqualität ist nicht vergleichbar mit dem anderen Lenkoran. Die Frage des Altersunterschiedes ist nicht primär wichtig. Wichtiger ist, dass manche Knüpferinnen 159
wahre Künstler waren und Dinge von überragender Schönheit und Qualität erschufen, während andere eher brave Handwerksarbeiten, im Rahmen der jeweiligen Mustertradition, anfertigten. ⋆ ⋆
Die vom Auktionator im Rückblick auf eine früher von ihm durchgeführte Auktion als Los 137 bezeichnete Arbeit ist hier im Buch die Nr. 77, und Los 16 aus einer anderen Auktion ist unsere Nr. 78. Nummer 77 ist die ältere Arbeit. Das Mittel der Stilanalyse muss mit Kompetenz und Bedacht eingesetzt werden. In den überhitzten Jahren des westdeutschen Teppichbooms hat es an diesen Tugenden bei Händlern gelegentlich gefehlt. Aus Unwissenheit, Wunschdenken oder geschäftlichem Kalkül kam es schon einmal zu Phantasie-Datierungen, die aus heutiger Sicht nicht haltbar sind. Das Alter muss in diesen Fällen nach unten korrigiert werden. Verkaufsförderliche Prädikate wie antik, alt, semi-alt sind oft zu großzügig vergeben worden. Zweckmäßig, weil an einem natürlichen Einschnitt orientiert, ist eine Normierung, an die wir uns in diesem Buch gehalten haben: Man kann Teppiche aus guten Gründen antik nennen, die deutlich vor 1900 entstanden sind. Inwiefern soll sie nur mit Kompetenz und Bedacht zu handhaben sein, die Stilanalyse? Das gilt doch bei fast allem, erst recht gilt es für die naturwissenschaftliche Radiokarbon-Methode! Sicher, aber man mahnt natürlich besonders bei einer vergleichsweise ›weichen‹ Methode, bei der Fahrlässigkeiten leichter möglich scheinen, die epistemischen Tugenden an. Es hat zum Beispiel unter bestimmten Bedingungen nicht viel Sinn, mit einer Hypothese des Inhalts zu arbeiten, dass, sagen wir, sehr alte Hauptteppiche der Ersari-Turkmenen immer annähernd quadratische Abmessungen besäßen. Oder wenn es um die ethnische Zuordnung geht: Bei kurdischen Teppichen seien stets die Konturen der Primärmoti160
ve stark betont. Die Sache ergibt ab dem Punkt nicht mehr viel Sinn, an dem z. B. mit der ersten Hypothese so umgegangen würde, dass jedes einzelne Vorkommnis eines Ersari-Hauptteppichs ohne das genannte Merkmal automatisch als nicht so früh eingestuft wird. Unter solchen Umständen würde sich das Begründungskarussell im Kreis zu drehen beginnen. Jeder erkenntnistheoretisch geschulte Beobachter müsste unruhig werden. Man stelle es sich als eine auf irgendeinen Einzelfall bezogene Argumentationsfigur vor: Die allgemeine Hypothese steht wieder einmal gut bestätigt da, weil dieser hier gegebene Hauptteppich das fragliche Merkmal nicht aufweist – und dazu passend auch kein frühes Exemplar ist. Und warum ist er kein frühes Exemplar? Er besitzt das fragliche Merkmal nicht, und wir wissen ja – die allgemeine Hypothese! – , dass Arbeiten ohne das Merkmal nicht früh sind. Wäre die Vorgehensweise im Prinzip immer von dieser Art, so würde man die Hypothese weitgehend der Möglichkeit einer empirischen Falsifikation entziehen. Es ließe sie letztlich zu einer gehaltlosen Aussage degenerieren. Daher nein, für zeitliche und andere Zuordnungszwecke braucht es besser fundierte Argumentationen, und solche sind auch machbar. Fazit: Altersbestimmungen sind möglich. Viele Aussagen, zu denen man heute gelangen kann, haben den Charakter von Wahrscheinlichkeitsschätzungen. Man sollte, wenn’s darauf ankommt, immer mehrere Indikatoren, so viele wie möglich, in ihren Aussagewerten zusammenlaufen lassen. Ohne Erfahrung, Fingerspitzengefühl und intellektuelle Redlichkeit geht es nicht. Im Übrigen kann man sich an der Schönheit und Ausdruckskraft eines Textils auch erfreuen, ohne ganz genau über dessen Alter Bescheid zu wissen.
Nachwort Bei einem Projekt wie Carpet.art gibt es viele Fäden miteinander zu verknüpfen. Da ist zum einen der Text mit den verschiedenen gedanklichen Strängen, die ihm zugrunde liegen – und die zum Teil in durchaus unterschiedliche thematische Richtungen fortlaufen. Hätte ich mich weniger für den Zusammenhalt interessiert und mich mehr darum kümmern wollen, überall die begonnenen Linien zu verlängern, dann wäre das Konzept eines einzigen Buchs von überschaubarem Umfang wahrscheinlich bald an Grenzen gelangt. Das ist nicht geschehen. Hier und da einfach einen Schnitt zu machen kann die richtige Maßnahme sein. Kann allerdings auch sein, dass sich im Zuge der Lektüre nun umso leichter der Gedanke einstellt, bei den Teppichen kämen nicht bloß eine Menge Aspekte zusammen, sondern darüber hinaus gelte ja wohl: In mancher Hinsicht ist noch reichlich zu tun. Der Eindruck des Unfertigen ist denkbar. Er wäre nicht einmal unerwünscht. Denn es ist wahr, zu sichten und zu entdecken, zu diskutieren und aufzuschreiben, das bleibt weiterhin eine lohnende Aufgabe, wenn es um eine empirisch informierte wie theoretisch fundierte Erschließung der orientalischen Teppichkunst vergangener Jahrhunderte geht. Daran ändern auch viele bei dieser Thematik in den letzten Jahrzehnten ohne Frage erzielte Fortschritte nichts. Die eine Sache war also der Text. Eine andere Sache sind die gezeigten textilen Objekte, denen eine kleine Auswahl von Werken aus der westlichen bildenden Kunst der Moderne und Gegenwart gegenübersteht. Solche visuellen Bezugspunkte sind teils von Beginn des Projekts an als Fixpunkte im Blick gewesen, teils habe ich sie erst später vor dem Hintergrund von bereits verfassten Textpartien ausgesucht: mit der Maßgabe, dass sie sich möglichst gut zur Veranschaulichung von verwendeter Begrifflichkeit oder als Belege für Behauptungen eig-
nen sollten. Anschließend mussten entsprechende Abbildungen beschafft und durch die Art der Anordnung im Buch in den gewünscht aufschlussreichen Zusammenhang untereinander und mit dem Text gebracht werden. Abgesehen davon, dass Kohärenz immer erstrebenswert ist, war die Zielvorstellung einer wechselseitigen Erhellung – von Wort zu Bild und zurück, von Bild zu Bild – jedenfalls dort wirksam, wo etwas für die ästhetische Kommunikation von neuerer Kunst mit deutlich älteren textilen Arbeiten getan werden sollte. Bei der Wahl der Teppiche und verwandten Objekte lag mir unter anderem daran, etwas von der Vielfalt, die immer noch vorhanden ist, zur Geltung kommen zu lassen. Immer noch sage ich deshalb, weil nach wie vor erhaltenswerte alte Teppiche und Textilien verlorengehen, sei es durch Achtlosigkeit und unsachgemäße Behandlung, sei es durch allmählichen Verbrauch bei der Nutzung auf dem Boden. In der Vergangenheit hat es zweifellos enorme Verluste gegeben. Man braucht sich nur die Bilder brennender Städte in Europa während des Zweiten Weltkriegs zu vergegenwärtigen. Natürlich befanden sich unter den damals durch Kriegseinwirkung zerstörten materiellen Werten auch alle möglichen Arten von Teppich-Antiquitäten unterhalb der musealen Ebene: Stücke, die ihren Ort in Privatsammlungen hatten oder einfach bei Liebhabern zur gehobenen Wohnkultur gehörten und die nur ausnahmsweise in Inventaren erfasst waren. Konkret beziffern lassen sich die Verluste unter solchen Voraussetzungen nicht, man kann vielleicht ungefähr den Umfang abschätzen. Eins der Anliegen war demnach: Vielfalt zeigen, trotz der heute von Knappheit bestimmten Situation. Zugleich habe ich eine gewisse Präferenz für kaukasische Dorfteppiche des neunzehnten Jahrhunderts nicht verleugnen können. Wenn man es als Au161
tor vermeiden möchte, ein Sammelsurium zu produzieren, das den Anschein der Zufälligkeit vermittelt, und wenn man erst recht keinen dicken, auf Vollständigkeit abzielenden Typenkatalog im Sinn hat, dann muss man in thematischer Hinsicht Akzente setzen. Die im Buch vorgenommene Akzentuierung passt zur Lage auf dem Kunstmarkt. Dieser verzeichnet seit Jahren einen Trend, der sich vom durchgeplanten, technisch hochstehenden Werkstatt-Teppich ein Stück wegbewegt und stattdessen hin zu spontaner wirkenden Dorf- und Stammesteppichen geht – zu Arbeiten, die in glücklichen Fällen durch Formenvereinfachung und Farbkraft eine besondere Ausdrucksstärke erreichen. In einem Band, wie er nun vorliegt, sind die Abbildungen mindestens so wichtig für das Gelingen wie der Text. Konnten die gezeigten Arbeiten oder einige von ihnen beim Durchblättern von sich aus überzeugen oder neugierig machen, dann hat auch der Text seinen Sinn gehabt; sonst eher nicht. Wegen des besonderen Stellenwerts der Abbildungen ist es mir ein Bedürfnis, an dieser Stelle allen Personen und Unternehmen oder Institutionen zu danken, die Bilder zur Verfügung gestellt, Rechte gewährt, sich um die technische Weiterverarbeitung gekümmert haben. Dank also an Detlef Maltzahn und das Auktionshaus Rippon Boswell & Co. (Wiesbaden), an Stephan Osterritter und die Firma lotsmore Mediendesign (Meisenheim), an Thomas Fehige-Lutz (Coesfeld) und Jörg Pütz (Saarbrücken), das Auktionshaus Henry’s (Mutterstadt), die VG Bild-Kunst (Bonn), an die Künstler und die Künstlerin Dorothea Hölzer-Magar (Köln), Siegfried Brzoska (Wörth), Nikola Dimitrov (Köln und Heusweiler), Joachim Ickrath (Völklingen) und B. Michael Momber (Kassel). D. Maltzahn hat sich über die Öffnung des Bildarchivs seines Hauses hinaus nicht nur als Interview-Partner ansprechen lassen, sondern er hat es auch übernommen, eine 162
frühere Fassung des Texts zu lesen und sie auf sachliche Richtigkeit zu prüfen. Etwaige Irrtümer fallen in meine Verantwortung. Manche der im Buch angestellten Überlegungen sind ohnehin spekulativer Natur. Man sollte sie, dies noch zum Stichwort Unfertigkeit, als Denkanstöße verstehen; und sollte nicht an die Hypothesen, die mit ihnen verknüpft werden, gleich mit der Erwartung herantreten, eine eindeutige Bewertung als richtig oder falsch müsste nach heutigem Sachstand möglich sein. Für Auskünfte in Fragen, die eine Kenntnis orientalischer Sprachen erfordern, habe ich Alexander Merck (Bonn) und Peter Thorau (Saarbrücken) zu danken. Die Satzund Layout-Arbeit wusste ich bei Thomas Fehige-Lutz in den gewohnt guten Händen. Diesmal hatte er gestalterisch und technisch besonders viel zu leisten. Die Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt ist auf meine Ausstattungswünsche bereitwillig eingegangen und hat das Mögliche zu verwirklichen geholfen. Zum Schluss eine persönliche Bemerkung. Für meine fachliche Entwicklung jenseits der Teppiche spielte in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre und darüber hinaus der Einfluss des Wissenschaftsphilosophen Erhard Scheibe eine erhebliche Rolle. Beim Niederschreiben des Texts habe ich deshalb in Abschnitt 36 gern die Gelegenheit wahrgenommen, den Namen dieses außergewöhnlichen, der Öffentlichkeit weitgehend unbekannt gebliebenen Vertreters unseres Fachs noch einmal zu nennen: dort im Zusammenhang mit einem Teppichtypus, den man nicht jeden Tag sieht und zu dem es bei Scheibe eine Verbindung gab. In denselben Kontext gehört Ulrich Brandt. Auch er studierte bei Scheibe, und er war mir seit Studienzeiten ein Freund und Diskussionspartner, ob es um Philosophie, Malerei, Teppiche oder das Leben ging. Leider starb er früh. Beide sind nicht vergessen. Bonn, im Juni 2022 Ulrich Nortmann
Bildnachweise Abb. 1, 3, 4, 13–17, 21, 22, 24, 31–34, 36–40 und 40a, 42, 43 und 43a, 45–51, 53–55, 57, 62, 65–68, 73–78: © Detlef Maltzahn, Rippon Boswell & Co., Wiesbaden 2021. Abb. 2: © Sucession H. Matisse/VG Bild-Kunst, Bonn 2021; für das Foto: The Phillips Collection, Washington, D. C. Abb. 5, 9–12, 18, 20, 25–30, 52, 56, 58, 61, 70–72, 79: Bildquelle Archiv Rippon Boswell & Co., © für die Fotos Stefan Osterritter, lotsmore mediendesign, Meisenheim 2021. Abb. 6: © Dorothea Hölzer-Magar, Köln 2021; Bildquelle: H. Sudho昀昀 (Hg.), Paul Magar. Zu Leben und Werk eines Bonner Malers, Bonn 1990, Abb. 5. Abb. 7: © VG Bild-Kunst, Bonn 2021; Bildquelle: I. F. Walther, Kunst des 20. Jahrhunderts, Köln 2000, S. 287. Abb. 8: © VG Bild-Kunst, Bonn 2022; Foto mit freundl. Genehmigung d. Künstlers, Köln 2021. Abb. 19: © VG Bild-Kunst, Bonn 2022; Foto mit freundl. Genehmigung von Henry’s Auktionshaus AG, Mutterstadt 2021. Abb. 41: © Siegfried Brzoska, Wörth 2021; Foto mit freundl. Genehmigung d. Künstlers. Abb. 44: © für das Cover des WWF-Magazins 1,13 WWF Deutschland, Berlin 2022. Abb. 59: © Kate Rothko-Prizel & Christopher Rothko/VG Bild-Kunst, Bonn 2021; Bildquelle: S. Keller (Hg.), Fondation Beyeler Riehen/Basel, Zürich 2009, S. 87. Abb. 60: © Barnett Newman Foundation/VG Bild-Kunst, Bonn 2021; Bildquelle: wie Abb. 59, hier S. 88. Abb. 63: © VG Bild-Kunst, Bonn 2022; Foto privat, Bonn 2021. Abb. 64: © B. Michael Momber, Kassel 2022; Foto privat, Bonn 2021. Abb. 69: © Rudolf Stingel, für das Foto Stefan Altenburger, Verwendung mit freundl. Genehmigung d. Künstlers und d. Fotografen; Bildquelle: www.yatzer.com/rudolf-stingel-takes-overpalazzo-grassi-venice-italy/slideshow.
163
Personen- und Ortsnamen Die Namen von Orten oder Regionen können zugleich als Wegweiser zu den behandelten Teppichen genutzt werden, soweit diese, wie es bei vielen Teppichgruppen üblich ist, nach tatsächlichen oder wahrscheinlichen Herkunftsorten benannt sind. Achal, 18 Akstafa, 37f Alexander II., 153 Alexander, C., 151 Alpan, 122 Andrić, I., 115f, 130 Ankara, 36 Aristoteles, 24, 108, 110f Athen, 62, 77, 110 Bagscheiesch, 121 Baku, 58 Bausback, F., 107 Beltracchi, W., 135, 137 Benjamin, W., 134, 143f Berlin, 48, 74, 87, 104, 136f, 154 Bode, W., 136 Böhmer, H., 63 Bonn, 102ff Bordjalou, 22ff, 35 Brandt, U., 137 Brzoska, S., 77, 79 Buchara, 107f Budapest, 74 Calatchi, R., 136f Campendonk, H., 135 Chondsoresk, 82, 89, 94 Dagestan, 32, 144 Damaskus, 74 Danto, A., 12 Derbent, 32 Descartes, R., 69 Diels, H., 149 Dimitrov, N., 20f Dresden, 17 Duchamp, M., 12 Elazig, 114 Elea, 110 Ellis, C. G., 74 Ephesos, 148 Fachralo, 57, 60, 114 Feininger, L., 127 Flick, F., 103 Formenton, F., 42 Frankfurt/M., 125
164
Franses, M., 151 Gändschä, siehe auch Gendje, 57f Gantzhorn, V., 114 Gauguin, P., 11, 13, 15, 17, 35, 40, 97, 99 Gendje (Gəncə), 16, 57f, 72 Genua, 155 George, S., 66 Goethe, J. W., 24, 145 Göttingen, 137 Goodman, N., 135, 145 Graf, T., 74 Grote-Hasenbalg, W., 154 Guérin, D., 13 Haack, H., 102 Hamadan, 118 Heidelberg, 137 Heraklit, 148f, 158 Heris, 121 Hermannstadt, 133 Herodot, 62 Holbein, H., d. J., 21–24, 125, 131, 133f, 136f, 155 Hotan, siehe auch Khotan, 131 Hundertwasser, F., 117 Huysmans, J.-K., 54 Ibn Sina, Avicenna, 108 Ickrath, J., 54, 120 Ionescu, S., 130 Istanbul, 74, 107 Izmir, 36 Jerusalem, 74 Kappadokien, 69, 98 Karabagh, 81f, 89, 94, 116, 159 Karakum, 18 Karpaten, 128 Kasak, 16, 22, 24f, 27f, 30, 32f, 35, 44, 57, 60, 80f, 83–87, 89, 91, 93, 95, 117, 122, 126, 147 Kermanschah, 114 Keschan, 18f, 102f Khotan, 131f, 134, 136 Kiefer, A., 127 Kirchheim, E. H., 89, 151 Konya, 147 Kranz, W., 149 Kuba, 42, 78, 122
Kütahya, 36 Kuhn, T., 40 Kyros II., 62 Leipzig, 130 Lemaire, G.-G., 15 Lenkoran, 72, 85, 141f, 157, 159 Leverhulme, 49, 54 London, 39, 74, 107, 125 Lori Pampak, 89, 91, 93, 95 Lotto, L., 23, 155 Ludwigshafen, 66 Magar, P., 20 Malewitsch, K., 127 Maltzahn, D., 39, 46, 107, 116, 131, 134, 151, 159 Mani, 88 Marasali, 101, 109 Marneuli, 22 Masheck, J., 40, 54 Matisse, H., 13, 15, 17, 19, 25, 40 Medina, 152 Mekka, 107, 150, 152 Memling, H., 23f, 146, 155 Moghan, 52 Mohammed, 152 Momber, B. M., 120 Morris, W., 40, 146 Moskau, 137 Mudjur, 108f, 148 München, 102 Muzaffar, 107 New York, 74, 125 Newman, B., 111, 113 Ning Hsia, 68 Nischapur, 24 Noland, K., 20f, 64 Nordmann, A., 31, 55 Pahlewi, R., 104f Pao Tao, 68 Paris, 137 Picasso, P., 134, 141 Platon, 24f, 67, 87f Pollock, J., 127 Proskowetz, M., 30
Schedel, H., 68f Scheibe, E., 131, 134, 136f Schirwan, 37, 72, 87, 101, 118 Schmidt-Rottluff, K., 17 Schmutzler, E., 130 Schuscha, 116 Seichur, 118, 158 Sewan, 27–30, 33, 89, 91, 114 Sibiu, 133 Siebenbürgen, 130, 136 Sivas, 116 Spuhler, F., 87, 137 Stingel, R., 13, 128f, 131, 136 Stuttgart, 125, 130 Sultanhane, 134 Suramskij, 114 Syrakus, 24 Tahiti, 13 Takla-Makan, 131 Talisch, 26f, 46, 52, 72 Teheran, 18 Thompson, J., 55 Tiflis, 16, 22, 58 Tolstoj, L., 32, 140, 144 Transsylvanien, 13, 127–131, 136 Tuduc, T., 133–136, 141 Vasarely, V., 23, 33f Venedig, 128ff, 155 Washington, 74 Weimar, 68 Wien, 30, 74, 138f, 141 Wiesbaden, 21, 27, 96, 119, 125, 131 Witt, J., 103 Xinjiang, 131 Yetkin, S., 74 Zürich, 74, 159
Qazax, siehe auch Kasak, 16 Reza I., 153 Rom, 130, 136 Rossetti, B., 48, 111, 114 Rothko, M., 25, 64, 111, 113
165
Ulrich Nortmann, geb. 1956, war bis 2021 an der Universität Saarbrücken als Professor für Theoretische Philosophie und Wissenschaftstheorie tätig. Er wuchs in Nordhessen auf, studierte und promovierte in Göttingen und lebt in Bonn. Bei der wbg erschien von ihm 2008 Unscharfe Welt? Was Philosophen über Quantenmechanik wissen möchten.
www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-45018-3
Ulrich Nortmann CARPET.ART
Dieses Buch handelt nicht nur von Teppichen und deren Verwandtschaft, wie: Taschen, Kamelbehänge, Pferdedecken usw. Sondern es handelt auch von moderner Kunst. Zugleich ist es ein Buch über Farben und das Färben. Mit alten orientalischen Teppichen lassen sich Feste der Farben feiern, bedeutende Maler wussten darum. Wieso alte Teppiche? Deshalb, weil im Orient seit dem ausgehenden neunzehnten Jahrhundert mit der Verdrängung von natürlichen Färbemitteln durch Chemiefarben eine Transformation in farbästhetischer Hinsicht stattgefunden hat, die keine Verbesserung war. Gut also, dass man heute noch vielfältige Arbeiten aus der vorsynthetischen Ära kennenlernen kann, auch außerhalb von Museen. Es gibt einen Markt für Sammlerteppiche, weltumspannend und doch nur Wenigen bekannt, auf dem solche Arbeiten ausgestellt, gehandelt und diskutiert werden, in kunstgeschichtlicher wie kulturhistorisch-ethnologischer Perspektive.
Ulrich Nortmann
CARPET.ART Ein philosophischer Blick auf Teppiche