"Das Wunder des Verstehens": Ein interdisziplinärer Blick auf ein 'außer-ordentliches' Phänomen 9783495817650, 9783495487938


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Inhalt
Einleitung: »Das Wunder des Verstehens« – Ein interdisziplinärer Blick auf ein ›außer-ordentliches‹ Phänomen
I. Klassische und aktuelle Positionen
Gunter Scholtz: Das Verstehen in der klassischen Hermeneutik
1. Ein vieldeutiges Wort
2. Die Selbstverständlichkeit des Verstehens in der älteren Hermeneutik
3. Verstand und Einbildungskraft
4. Wahrheit oder Autorintention?
5. Die Individualität als Grenze des Verstehens
6. Autorintention oder Sinn des Textes?
7. Das Ganze und die Teile
8. Verstehen und Auslegen
Gudrun Kühne-Bertram: Der Verstehensbegriff Wilhelm Diltheys
1. Voraussetzungen und Merkmale des Verstehens
2. Verstehen, Auslegung und Hermeneutik
3. Zur erkenntnistheoretischen Bedeutung des Verstehens
Käte Meyer-Drawe: Zum Sinn verdammt
1. Zum Sinn verdammt
2. Provokationen durch Edmund Husserls Transzendentalphänomenologie
3. Heideggers Umschrift
4. Merleau-Pontys Konzept des Verstehens
Hans-Ulrich Lessing: Verstehen als Geschehen
I.
II.
III.
Julia Gruevska: »Natürliches Verstehen«
1. Verstehen und Experiment: Philosophie nach Hegel
2. Zur Konzeption eines natürlichen Verstehens
3. Buytendijks Plädoyer für die Konvergenz von experimenteller Tätigkeit und Biophilosophie
Christina Brandt: Eine Hermeneutik der Lebenswissenschaften?
1. Hans Blumenberg und die Molekularbiologie
2. Information, Programm, Struktur: Tendenzen der Entzeitlichung in der Genetik und Molekularbiologie des 20. Jahrhunderts
3. Blumenbergs Hermeneutik der Molekularbiologie im Kontext seiner Metaphorologie
4. Das Kapitel: »Der genetische Code und seine Leser«
5. Ausblick: Blumenbergs Die Lesbarkeit der Welt im Zeitalter des Digitalen
Tobias Schlicht: Kognition und Bewusstsein
1. Hermeneutik vs. Kognitionswissenschaft
2. Kognition und Bewusstsein
3. Zur Kohärenz des Begriffs eines philosophischen Zombies
4. Erweiterte Kognition, erweitertes Bewusstsein?
5. Schluss
Selin Gerlek: Begriffenes Verstehen?
1. Deleuzes Denkweg
1.1 Differenz
1.2 Ereignis
1.3 Werden
2. Begriffenes Verstehen?
II. Systematische Perspektiven
Volker Steenblock: Chancen des Verstehens
1. Zur Mehrdimensionalität kultureller Erfahrung
2. Theorieformate
3. Drei Paradigmata (Theoriefamilien) der Kulturforschung
4. Natur, Gesellschaft und Kultur – Kontinuität oder Negation?
5. Probleme der Emergenz
6. Abschließende Bemerkungen unter Rekurs auf die Kategorie der Geschichte
Sabine Ohlenbusch: Verstehen und Verständnis
1. Einleitung
2. Krafft-Ebings Krankheitskonzepte und deren Grundlagen bei Wilhelm Griesinger
3. Emil Kraepelins naturwissenschaftliche Rhetorik
4. Verständnis und Beschreibung bei Krafft-Ebing in der forensischen Psychiatrie
4.1 Das psychiatrische Gutachten und die vielgesichtige Anthropologie
4.2 Eine Quelle des Verständnisses für die Degeneration: Die Pastoralmacht
Bernhard Irrgang: Kognitives Verhalten als Wurzel des Verstehens und impliziten Wissens
2. Über Geist und Verstehen bei Tieren
3. Ein epistemologisches Zwischenspiel: Das Erschließen des Geistigen im Körperlichen
4. Neurodarwinismus und Evolution des Verhaltens
5. Schluss: Verstehen des Verstehens – einige methodologische Anregungen
Felix Hüttemann: »Ein eigentümlicher Apparat« oder »Wenn es der Wahrheitsfindung dient!«
1. Der Polygraph oder einschreibendes Missverstehen
2. Kleine Geschichte des ›Lügendetektors‹
3. Affective Computing oder: Von kleinen Schwestern
Kevin Liggieri: Verstehen und Gestalten
1. Inter-Face – Zu Konzeptionen von Mensch-Maschine-Interaktion
2. Eine geschichtstheoretische Betrachtung des Interface
2.1 Historische Betrachtung
2.2 Theoretische Betrachtung
3. Bestmögliche Gestaltung von Schnittstellen
4. Asymmetrie und Medialisierung
5. Das Interface als hermeneutisches Symbol
Autorenverzeichnis
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"Das Wunder des Verstehens": Ein interdisziplinärer Blick auf ein 'außer-ordentliches' Phänomen
 9783495817650, 9783495487938

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Hans-Ulrich Lessing Kevin Liggieri (Hg.)

»Das Wunder des Verstehens« Ein interdisziplinärer Blick auf ein ›außer-ordentliches‹ Phänomen

ALBER PHILOSOPHIE

https://doi.org/10.5771/9783495817650

.

B

Hans-Ulrich Lessing Kevin Liggieri (Hg.) »Das Wunder des Verstehens«

ALBER PHILOSOPHIE

A

https://doi.org/10.5771/9783495817650 .

https://doi.org/10.5771/9783495817650 .

Hans-Ulrich Lessing Kevin Liggieri (Hg.)

»Das Wunder des Verstehens« Ein interdisziplinärer Blick auf ein ›außer-ordentliches‹ Phänomen

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495817650 .

Hans-Ulrich Lessing Kevin Liggieri (Eds.) »The Miracle of Understanding« An interdisciplinary look at an ›extraordinary‹ phenomenon

Understanding is not only a basic concept of human life style and life environment, but has also a central meaning in philosophy and the various sciences. The question of the possibility of understanding is also always the question of the subject and object of understanding. Who understands whom or what? Is »understanding« only rational comprehension, recognition of deeper insights and more complex relationships, or does it imply more? Is it really that easy to understand the other, the stranger, but also the text? And if so, how is this understanding structured? The interdisciplinary volume intends to evoke connectivity with the mentioned questions, so that the multi-dimensionality of understanding can be addressed and examined in terms of function, performance and limits of understanding, especially in philosophy, the humanities and natural science.

The Editors: Hans-Ulrich Lessing is Professor of Philosophy at the Ruhr University Bochum, member of the Dilthey Research Centre there and coeditor of the collected works and correspondence of Dilthey. He is the author and publisher of numerous books. Dr. Kevin Liggieri is a Research Associate in Cultural Philosophy at the Ruhr University Bochum. He is the editor of the book »Fröhliche Wissenschaft«. Zur Genealogie des Lachens (English: »Happy Science«. On the genealogy of laughter) published in 2015 by Karl Alber.

https://doi.org/10.5771/9783495817650 .

Hans-Ulrich Lessing Kevin Liggieri (Hg.) »Das Wunder des Verstehens« Ein interdisziplinärer Blick auf ein ›außer-ordentliches‹ Phänomen

Verstehen ist nicht nur ein Grundbegriff menschlicher Lebensführung und Lebenswelt, sondern besitzt auch in der Philosophie und den verschiedenen Wissenschaften eine zentrale Bedeutung. Die Frage nach der Möglichkeit von Verstehen ist dabei immer auch die Frage nach dem Subjekt und Objekt des Verständnisses. Wer versteht wen oder was? Ist »Verstehen« also nur rationales Erfassen, Erkennen tieferer Einsichten und komplexerer Zusammenhänge oder impliziert es mehr? Versteht man den Anderen, den Fremden, aber auch den Text wirklich so einfach? Und wenn ja, wie strukturiert sich dieses Verstehen? Es soll in dem interdisziplinären Band versucht werden, mit den genannten Fragen Anschlussfähigkeit zu evozieren, so dass die Vieldimensionalität des Verstehens thematisiert und nach Funktion, Leistung und Grenzen des Verstehens vor allem in Philosophie, Geistes- und Naturwissenschaft gefragt werden kann.

Die Herausgeber: Hans-Ulrich Lessing ist Professor für Philosophie an der Ruhr-Universität Bochum, Mitglied der dortigen Dilthey-Forschungsstelle und Mitherausgeber der Gesammelten Schriften und des Briefwechsels von Dilthey. Er ist Autor und Herausgeber zahlreicher Bücher. Dr. phil. Kevin Liggieri ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Kulturphilosophie an der Ruhr-Universität Bochum. 2015 gab er im Verlag Karl Alber den Band »Fröhliche Wissenschaft«. Zur Genealogie des Lachens heraus.

https://doi.org/10.5771/9783495817650 .

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2018 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-48793-8 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-81765-0

https://doi.org/10.5771/9783495817650 .

Inhalt

Einleitung: »Das Wunder des Verstehens« – Ein interdisziplinärer Blick auf ein ›außer-ordentliches‹ Phänomen Hans-Ulrich Lessing, Kevin Liggieri

9

I. Klassische und aktuelle Positionen Das Verstehen in der klassischen Hermeneutik . . . . . . . . . Gunter Scholtz

21

Der Verstehensbegriff Wilhelm Diltheys . . . . . . . . . . . . Gudrun Kühne-Bertram

41

Zum Sinn verdammt. Heidegger und Merleau-Ponty zum menschlichen Verstehen . . Käte Meyer-Drawe

63

Verstehen als Geschehen. Zu Hans-Georg Gadamers Hermeneutik der Zugehörigkeit Hans-Ulrich Lessing

80

. .

»Natürliches Verstehen«. Phänomenologie und Erfahrung als Methode im Denken Helmuth Plessners und Frederik Buytendijks . . . . . . . . . . Julia Gruevska Eine Hermeneutik der Lebenswissenschaften? Eine wissenschaftshistorische Relektüre von Hans Blumenbergs »Die Lesbarkeit der Welt« im Zeitalter des Digitalen . . . . . . Christina Brandt

104

126

7 https://doi.org/10.5771/9783495817650 .

Inhalt

Kognition und Bewusstsein Tobias Schlicht

. . . . . . . . . . . . . . . . . . 152

Begriffenes Verstehen? Deleuzes Schnitt durch das Chaos . . . . . . . . . . . . . . . Selin Gerlek

181

II. Systematische Perspektiven Chancen des Verstehens. Die Hermeneutik unter den Theorieformen der Kulturreflexion Volker Steenblock

205

Verstehen und Verständnis. Hermeneutische Operatoren bei Richard von Krafft-Ebing . . . Sabine Ohlenbusch

242

Kognitives Verhalten als Wurzel des Verstehens und impliziten Wissens. Eine hermeneutisch-epistemologische Interpretation Evolutionärer Erkenntnistheorie, kognitiver Ethologie und des Neurodarwinismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bernhard Irrgang »Ein eigentümlicher Apparat« oder »Wenn es der Wahrheitsfindung dient!« Polygraph, Affective Computing und Mensch-MaschineVerstehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Felix Hüttemann Verstehen und Gestalten. Zur produktiven Problematik des Mensch-Maschine-Interface Kevin Liggieri

https://doi.org/10.5771/9783495817650 .

284

. 305

Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

8

267

333

Einleitung: »Das Wunder des Verstehens« – Ein interdisziplinärer Blick auf ein ›außer-ordentliches‹ Phänomen

»[W]iderlegt zu werden, ist […] keine Gefahr, wohl aber, nicht verstanden zu werden.« (Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft) 1

Der Titel unseres Bandes »Das Wunder des Verstehens« bedient sich einer Formulierung, die Hans-Georg Gadamer wiederholt verwendet. Sie findet sich u. a. in Wahrheit und Methode und soll auch zum Ausdruck bringen, dass Verstehen und Verständnis nicht als selbstverständlich angesehen werden dürfen, sondern dass sie vielmehr immer riskant und mit der Möglichkeit des Scheiterns behaftet sind und dass es die Aufgabe der Hermeneutik ist, dieses »Wunder« aufzuklären. 2 Der Begriff »Verstehen« ist vielsinnig und besitzt mehrere Bedeutungsebenen, von denen die vielleicht wichtigsten kurz genannt seien: Er ist erstens ein Grundbegriff unserer sozialen und kulturellen Lebenswelt, denn ohne Verstehen ist keine gelingende Interaktion möglich, da, wie schon Dilthey schrieb, unser Handeln das Verstehen anderer Personen voraussetzt. 3 Wir müssen den Anderen verstehen, seine verbalen Äußerungen, seine Intentionen, seine Handlungen, seine Gesten, seine Mimik, um mit ihm interagieren zu können. Wir müssen aber auch Sinn verstehen: den Sinn von Texten, von Informationen, von Zeichen, von Regeln, von Traditionen, Gesetzen, ForImmanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. In: Werke in sechs Bänden. Hrsg. von Wilhelm Weischedel, Bd. 2. Wiesbaden 1957. B XLIII, S. 40. 2 Hans-Georg Gadamer: Gesammelte Werke Band 1: Hermeneutik I. Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. 6. Aufl. Tübingen 1990, S. 297 und S. 316; vgl. auch Ders.: Vom Zirkel des Verstehens (1959), in: Gesammelte Werke Band 2: Hermeneutik II. Wahrheit und Methode. Ergänzungen, Register. Tübingen 1986, S. 58. 3 Wilhelm Dilthey: Die Entstehung der Hermeneutik (1900). In: Gesammelte Schriften Band V, S. 317. 1

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Hans-Ulrich Lessing / Kevin Liggieri

mularen usw. Und wir müssen auch Anspielungen verstehen sowie Ironie, Parodie und Satire, damit wir uns in unserer kulturellen Umwelt orientieren können. Er ist zweitens der Grundbegriff der Hermeneutik, also der (Kunst-)Lehre des Verstehens oder der Interpretation von Texten. Er ist drittens ein wichtiger wissenschaftstheoretischer oder -philosophischer Begriff, an dem man seit Droysen und Dilthey die Abgrenzung der Geistes- von den Naturwissenschaften festgemacht hat. Verstehen ist – wie Dilthey formuliert hat – die Methode, die die Geisteswissenschaften erfüllt. Es ist – so Dilthey – »das grundlegende Verfahren für alle weiteren Operationen der Geisteswissenschaften« bzw. »Verstehen [ist] grundlegend für die Geisteswissenschaften«. 4 Und andererseits ist Verstehen der Fundamentalbegriff der von ihm postulierten deskriptiven Psychologie. Hier lautet das einschlägige Dilthey-Zitat: »Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir.« 5 Und er ist schließlich – viertens – ein zentraler Begriff der Fundamentalontologie Heideggers, der Verstehen als ein Existential begreift. Verstehen ist demzufolge nicht nur ein Grundbegriff menschlicher Lebensführung und Lebenswelt, sondern besitzt auch in der Philosophie und den verschiedenen Wissenschaften eine zentrale Bedeutung. Während unter dem engeren Begriff von Hermeneutik üblicherweise die (technische) Lehre vom Auslegen oder der Interpretation von Texten verstanden wird, bezeichnet ein weiter Begriff von Hermeneutik die Beschäftigung mit dem philosophischen Problem des Verstehens überhaupt, insbesondere in den Geisteswissenschaften. 6 In diesem Sinne treibt die Frage nach dem Verstehen Philosophen und Wissenschaftler seit jeher um, da sich in diesem Problemkontext verschiedene Fragen des Menschen in Interaktion mit seiner Um- und Mitwelt bündeln. Schaut man auf den alltäglichen Gerbrauch des polysemantischen Begriffs »Verstehen«, wie ein Ausflug in den Duden beweist, so bündeln sich unter dem Lemma des unregelmäßigen Verbes »verstehen« u. a. Definition wie »den Sinn von

Ebd., S. 333. Wilhelm Dilthey: Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie (1894). In: Gesammelte Schriften Band V, S. 144. 6 Vgl. Frithjof Rodi: Dilthey und die Geschichte der Hermeneutik. Unveröffentliches Manuskript. Bochum 2006, S. 1 ff. 4 5

10 https://doi.org/10.5771/9783495817650 .

Einleitung: »Das Wunder des Verstehens«

etwas erfassen«, »etwas begreifen«, »in bestimmter Weise auslegen, deuten, auffassen«, »ein bestimmtes Bild von sich haben«, »sich in jemanden, in jemandes Lage hineinversetzen können«, »Verständnis für jemanden haben«, »jemandes Verhaltensweise, Haltung, Reaktion, Gefühl von dessen Standpunkt gesehen natürlich, konsequent, richtig, normal finden«, »mit jemandem gut auskommen«, »etwas gut können, beherrschen« oder »zu etwas befähigt sein«. 7 Blickt man von diesen sehr allgemeinen Definitionen aus auf die Etymologie des Begriffes »Verstehen«, wie er ausführlich im Historischen Wörterbuch der Philosophie (auf ganzen 18 Seiten!) erläutert wird, so eröffnet sich ein produktiver Kontext, der dem Begriff einen teilweise anderen Rahmen gibt. 8 Philosophisch wurde »Verstehen«, wie angeführt, durch Johann Gustav Droysen und Wilhelm Dilthey auf zentrale Weise als geisteswissenschaftlicher Grunddbegriff akzentuiert. Diese begriffliche Fokussierung zeigt sich ebenfalls in der etymologischen Bandbreite des »Verstehens«. 9 »Verstehen« kommt von mhd. »verstēn« und »verstān«, welche ihrerseits dem Althochdeutschen »firstantān« – neben ›wahnehmen‹, ›auffassen‹ auch ›rings um etwas stehen, etwas umstehen, etwas in der Gewalt haben, beherrschen‹ bedeutete – entlehnt sind. In dieser Begriffsgenealogie zeigt sich ein (räumlich) eingrenzendes und damit beherrschendes Moment. 10 Entgegen dem allgemein gebräuchlichen Begriff des »Verstehens«, der meist im positiven, sogar herrschaftsfreien Sinne Anwendung findet, scheint sich auch eine komplexere Semantik zufinden. Der angeführte Diskurs bedingt demnach das »Verstehen« durch In- und Exklusion. Die Frage nach dem Verstehen zeigt sich somit immer auch als die Frage nach dem Subjekt und Objekt des Verständnisses. Wer versteht wen oder was? Reicht es, wenn man »Verstehen« als rationales Erfassen, Begreifen und Erkennen tieferer Einsichten und komplexeVgl. http://www.duden.de/rechtschreibung/verstehen#Bedeutung. (28. 09. 2017) Karl-Otto Apel: Verstehen. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 11. Hrsg. von Joachim Ritter und Karlfried Gründer und Gottfried Gabriel. Darmstadt 2001, Sp. 918–938. 9 Ebd., Sp. 918 ff. 10 Vgl. Das Wortauskunftssystem zur deutschen Sprache in Geschichte und Gegenwart: https://www.dwds.de/wb/verstehen#et-1 (02. 10. 2017); Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm: Grimm: http://woerterbuchnetz.de/cgi-bin/WB Netz/wbgui_py?sigle=DWB&mode=Vernetzung&hitlist=&patternlist=&lemid=GV 04914#XGV04914 (02. 10. 2017) 7 8

11 https://doi.org/10.5771/9783495817650 .

Hans-Ulrich Lessing / Kevin Liggieri

rer Zusammenhänge definiert oder impliziert es mehr? Verweisen haptische Termini wie ›Be-Greifen‹ und ›Er-Fassen‹ schon auf eine leiblich-körperliche Seite des Verstehens? Versteht man den Anderen, den Fremden, aber auch den Text wirklich so einfach oder ist es eher, wie schon Gadamer anführt, ein »Wunder«? Und wenn ja, wie strukturiert sich dieses ›Wunder des Verstehen‹ ? Neben diesen philosophischen, anthropologischen und methodologischen Fragen zielt der Band auch auf eine topographische Eben: Wo versteht man? An welchem Ort bildet und manifestiert sich das Verstehen? Wie unterscheiden sich der philosophische Kontext von dem psychatrischen und technischen? Wie zeigt sich durch die Hermeneutik auch ein bestimmter Zugriff auf Sprecher- und HörerSubjekte? Es soll im vorliegenden Band versucht werden, mit den genannten Fragen interdisziplinäre Anschlussfähigkeit zu evozieren, so dass die Vieldimensionalität des Verstehens thematisiert und nach Funktion, Leistung und Grenzen des Verstehens vor allem in Philosophie und Einzelwissenschaften gefragt werden kann. Das Ziel des Bandes ist, verschiedene Problematisierungen miteinander in Verbindung zu bringen. Hierfür wurde eine duale Form der Gliederung gewählt. Im ersten Teil werden Untersuchungen zu klassischen und aktuellen Positionen unternommen. Im zweiten Teil liegt der Fokus auf der systematischen Perspektive. Beide Bereiche setzen sich dabei jeweils auf ihre Art mit dem Problemkomplex des Verstehens auseinander. Aufgrund der interdisziplinären Perspektive des Bandes sind strikte Grenzziehungen zwischen den Feldern weder möglich noch gewollt, da gerade Überschneidungen und Interferenzen eine Diskussion über das ›außer-ordentliche‹ Phänomen »Verstehen« anregen sollen. Die Beiträge unseres Bandes wenden sich demzufolge einigen Problemen, die mit dem Begriff »Verstehen« verbunden sind, zu und nähern sich diesem Problemkomplex – allerdings ohne den Anspruch, alle mit dem Verstehen verbundenen Fragen ansprechen oder gar lösen zu können – in historischen und systematischen Untersuchungen. Der einleitende Beitrag »Das Verstehen in der klassischen Hermeneutik« von Gunter Scholtz versucht die Rolle des Verstehens in der allgemeinen Hermeneutik zu klären, wie sie als Kunst- oder Methodenlehre seit dem 17. Jahrhundert die geisteswissenschaftliche Arbeit begleitete. Sie erörterte nicht das ›Wunder des Verstehens‹, sondern wollte Missverständnisse in der Kommunikation überwinden 12 https://doi.org/10.5771/9783495817650 .

Einleitung: »Das Wunder des Verstehens«

helfen. Dabei kam sie zum Ergebnis, dass alles Verstehen an Grenzen gerät, dass dafür aber der Interpret auch Aspekte des Interpretandums aufdecken kann, die dem Autor oder Sprecher verborgen bleiben mussten. Gerade angesichts mancher der neueren philosophischen Hermeneutiken und des postmodernen Angriffs auf alles Verstehen haben die Einsichten jener älteren Tradition ihre große Bedeutung. In Anlehnung dazu wird im Beitrag von Gudrun Kühne-Bertram »Wilhelm Diltheys Begriff des Verstehens« der Begriff des Verstehens in Diltheys Philosophie des Lebens untersucht. Schwerpunktmäßig wird nach Diltheys Unterscheidung von »elementarem« und »höherem« Verstehen (Verstehen i. S. von Vorverständnis und Verstehen als Methode der Hermeneutik und der Geisteswissenschaften), dem Zusammenhang von Ausdruck und Verstehen sowie der erkenntnistheoretischen Bedeutung des Verstehens in Diltheys Theorie des Wissens gefragt. Verschiedene Aspekte der Wirkungsgeschichte des Begriffs, die in der Philosophie der Dilthey-Schule (z. B. Georg Misch) und der hermeneutischen Philosophie der Heidegger-Gadamerschen Tradition erkennbar sind, werden in die Untersuchung eingebunden. Käte Meyer-Drawe unternimmt es in ihrem Beitrag »Zum Sinn verdammt. Heidegger und Merleau-Ponty zum menschlichen Verstehen«, die divergenten Verstehens-Konzeptionen von Heidegger und Merleau-Ponty, die in jeweils unterschiedlicher Weise auf die Herausforderung und Anregung durch Husserls Phänomenologie antworten, herauszuarbeiten und miteinander in eine vergleichende Beziehung zu setzen. Sie stützt sich dabei einerseits auf Heideggers Sein und Zeit und ergänzend auf zwei Vorlesungen von 1919 und 1923 sowie vor allem auf Merleau-Pontys Spätwerk Le visible et L’Invisible, um u. a. auch die bedeutsame Wirkung Husserls auf Merleau-Pontys Philosophie deutlich zu machen. In seinem Aufsatz »Verstehen als Geschehen. Zu Hans-Georg Gadamers Hermeneutik der Zugehörigkeit« unternimmt Hans-Ulrich Lessing den Versuch einer kritischen Analyse von Gadamers philosophischer Hermeneutik, die sich als eine »Überwindung der Hermeneutik des Historismus« begreift. Gestützt auf Heideggers »Hermeneutik der Faktizität« entwickelt Gadamer am Problem des Verstehens der Überlieferung eine Gegenposition zu der von ihm so genannten »traditionellen Hermeneutik«, insbesondere Diltheys, wobei er das Verstehen als ein »Einrücken in das Überlieferungsgeschehen« deutet und die Applikation, d. h. die Konkretisierung des 13 https://doi.org/10.5771/9783495817650 .

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zu verstehenden Textes für die eigene Situation, zu einer wichtigen hermeneutischen Kategorie wird. In Lessings Lektüre werden die zentralen Elemente von Gadamers philosophischer Hermeneutik freigelegt und hinsichtlich ihrer Konsistenz und Fruchtbarkeit überprüft. In der Untersuchung »›Natürliches Verstehen‹. Phänomenologie und Erfahrung als Methode im Denken Helmuth Plessners und Frederik Buytendijks« von Julia Gruevska bildet der Versuch einer phänomenologischen Hermeneutik Helmuth Plessners und Frederik Buytendijks der frühen 1920er Jahre den Ausgangspunkt, die sich aus empirischen Experimenten zoologischer Art ergeben hat. Aus der Beobachtung, dass sich tierische Wahrnehmung identischer Gegenstände zu verändern scheint, sobald ein Impuls auf das Tier einwirkt, ziehen die Autoren in Anlehnung an Max Scheler den Schluss einer psychophysischen und subjekt-objektiven Indifferenz der sinnlichen Qualitäten. Der hermeneutische Gehalt dieser Theorie setzt an einem »vor-wissesnschaftlichen« Punkt an, und evoziert einen Anschluss an einzelwissenschaftliche Disziplinen. Der Beitrag von Christina Brandt »Eine Hermeneutik der Lebenswissenschaften? Eine wissenschaftshistorische Relektüre von Hans Blumenbergs ›Die Lesbarkeit der Welt‹ im Zeitalter des Digitalen« will Blumenbergs Hermeneutik der Molekularbiologie, gerade auch in ihrer Differenz zu anderen zeitgenössischen Diskursen, nachgehen. Dabei wird die Blumenberg’sche historische Epistemologie betrachtet. Um die Spezifik der Deutung Blumenbergs zu verstehen, untersucht Brandt die Geschichte der Genetik seit Beginn des 20. Jahrhunderts und die der Molekularbiologie im Kontext von Kybernetik, skizziert aber auch den Strukturalismus bzw. den beginnenden Poststrukturalismus in den 1960er Jahren. Daran anschließend wird Blumenbergs Analyse der Molekularbiologie im größeren Kontext der Entwicklung seiner Metaphorologie diskutiert. In seinem Aufsatz »Kognition und Bewusstsein in der jüngeren Philosophie des Geistes« nimmt Tobias Schlicht das Verstehen aus der Perspektive der modernen Kognitionswissenschaft und der naturalistisch orientierten analytischen Philosophie des Geistes in den Blick. In diesem Zusammenhang werden zentrale Basisannahmen, die einigen Debatten in der analytischen Philosophie des Geistes sowie der Kognitionswissenschaft zugrunde liegen, einer kritischen Erörterung unterzogen, wobei Tobias Schlicht seine Aufmerksamkeit insbesondere auf die einflussreiche Trennung von Kognition und Be14 https://doi.org/10.5771/9783495817650 .

Einleitung: »Das Wunder des Verstehens«

wusstsein richtet, insofern sie für eine adäquate Theorie des Verstehens folgenreich ist. Im Mittelpunkt dieser Diskussion steht die Prüfung der einschlägigen Thesen von David Chalmers. Der Beitrag »Begriffenes Verstehen – Deleuzes Schnitt durch das Chaos« von Selin Gerlek zeigt, wie »Verstehen« erst auf Grundlage einer skeptischen Betrachtung des Denkens, wie sie bei Gilles Deleuze zu finden ist, thematisch werden kann. Dieser Zugang, der das Denken als Schnitt aus von Außen einwirkenden Kräften begreift, ermöglicht immanenzphilosophisch die Beschreibung des Verstehens als Zeugnis eines Paradoxons: Verstehen muss sich entziehen, d. h., es ist stets verstanden und lässt sich nur in Begriffen protokollieren. Als solches bietet sich ein Verständnis bzw. ein Verstehen als ein singuläres Ereignis dar, dem stets ›zu spät‹ beizukommen ist. Mit Wurzeln in der antiken und biblischen Textexegese vollzieht die Theoriegeschichte der Hermeneutik spätestens ab dem 19. Jahrhundert eine Entwicklung hin zu einer allgemeinen Kulturtheorie. Die Hermeneutik vertritt seither Bildungsprozesse im gesamten Spektrum der Sinngehalte der menschlichen Welt. Sie entspricht als Komplementärmodus den Sinnbildungsleistungen in Kunst, Religion und Weltanschauung und umgekehrt sind diese Kulturerrungenschaften – wie noch ihr Selbstreflexivwerden in der Philosophie – als auf Verstehensleistungen basierend aufzufassen. Der Beitrag von Volker Steenblock, der den zweiten Teil des Bandes (»Systematische Perspektiven«) einleitet, untersucht die Bedeutung der traditionsreichen Hermeneutik für die Kulturphilosophie auf drei Ebenen: als konkrete Verstehensmethode kultureller Verhältnisse, als Metatheorie dieses spezifischen Zugangs zur Kultur (›Verstehen des Verstehens‹) und in einem grundsätzlichen Begriff unter Berücksichtigung ontologischer und erkenntnistheoretischer Hinsichten (›Hermeneutik der Erkenntnis‹ / Verhältnis zu Metaphysik und Transzendentalphilosophie). Sabine Ohlenbusch wendet sich in ihrem Beitrag zu Richard von Krafft-Ebing dem Verstehen aus psychiatrischer Sicht zu. Denn möchte man das Spannungsfeld zwischen Natur- und Geisteswissenschaften mit Dilthey durch die Differenz zwischen Erklären und Verstehen benennen und überträgt diese Unterscheidung auf die Psychiatrie, steht man vor einem methodischen Problem. Es besteht darin, dass die Psychiatrie immer zuerst mit dem Geistesleben befasst ist, aber nach einem stabilen Krankheitsbegriff strebt. Psychische Krankheit kann in den seltensten Fällen gemessen, sondern nur in 15 https://doi.org/10.5771/9783495817650 .

Hans-Ulrich Lessing / Kevin Liggieri

Krankengeschichten aus den Äußerungen der Patienten erfasst werden. Richard von Krafft-Ebing versuchte immer wieder, die Spannung zwischen Erklären und Verstehen für sein Fach fruchtbar zu machen – gerade indem er sie beibehielt. Häufig wird Krafft-Ebing aufgrund seiner Degenerationstheorien zwar eindeutig auf die Seite der Naturwissenschaft gestellt, Ohlenbusch möchte jedoch einige seiner Aussagen hervorheben, die eine vermittelnde Position plausibel machen. Bernhard Irrgang stellt sich in seinem Beitrag »Kognitives Verhalten als Wurzel des Verstehens und impliziten Wissens« die Frage nach der Beobachtbarkeit von Verstehen und möglichen Formen des Experimentes mit Verstehensprozessen. Hierbei darf sich aber nach Irrgang die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Prozess des Verstehens nicht auf Beobachten und Experimentieren beschränken, sondern muss neue Wege suchen, die die Teilnehmerperspektiven (erste und zweite Person-Perspektive) berücksichtigen. Dazu sollen im Beitrag empirisch operierende Disziplinen aus hermeneutischphänomenologischer Perspektive epistemologisch interpretiert werden, um den Realitätsgehalt von Verstehen beurteilen zu können. Hierfür muss das Konzept des Beobachters als Rahmentheorie für das Verstehen von Verstehensprozessen herausgearbeitet werden. Felix Hüttemann setzt sich in seinem Artikel »›Ein eigentümlicher Apparat‹. Menschliche Missverständnisse von der Maschine am Beispiel des ›Lügendetektors‹« mit einem bis heute für viele kontrollgesellschaftliche Belange produktiven Missverstehen von Maschinen auseinander. Am Beispiel des Polygraphen (umgangssprachlich als Lügendetektor bezeichnet) soll aufgezeigt werden, wie durch verschiedene Narrationen eines »Verstehens« bzw. »Analysierens« des Menschen durch die Maschine ein produktives Missverstehen in Form eines »unheimlichen« oder mit Kafka »eigentümlichen« Apparates inauguriert wird. Kevin Liggieri beschäftigt sich abschließend mit dem »Verstehen und Gestalten. Zur produktiven Problematik des Mensch-MaschineInterface«. Hierbei wird das Interface als Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine untersucht, welches nicht nur Informationen durchlässt, sondern diese auch verstehbar überbringt, wodurch sich die Signale transformieren. Das Interface selbst ist somit kein passiver Durchgang/Oberfläche, sondern im etymologischen Sinne als ›Hinführer‹ produktiv. Für den gelingenden ›Dialog‹ zwischen Mensch und Maschine sowie ein damit einhergehendes ›Verstehen‹ 16 https://doi.org/10.5771/9783495817650 .

Einleitung: »Das Wunder des Verstehens«

der abgegeben Information muss jedoch eine bestmögliche Gestaltung der Schnittstelle angestrebt werden. Damit ist das Interface nicht einfach ein Objekt, sondern ein Effekt. Man hat es beim Interface nicht mit einen neutralen Mittler zu tun, sondern selbst mit einem medialen Agenten, der Sinn stiftet und so die Bedingung der Möglichkeit von Kommunikation zwischen zwei unterschiedlichen Systemkomponenten generiert. Der Band enthält die überarbeiteten und erweiterten Vorträge der Bochumer Tagung »Das Wunder des Verstehens« vom 19. 2. 2015, die um einige Beiträge ergänzt wurden. Unser herzlicher Dank gilt vor allem der Bochumer Mercator-Gruppe II »Räume anthropologischen Wissens«, die nicht nur die Tagung vielfältig unterstützt hat, sondern auch durch einen Druckkostenzuschuss die Drucklegung des Bandes möglich gemacht hat. Hans-Ulrich Lessing und Kevin Liggieri

Bochum im März 2018

17 https://doi.org/10.5771/9783495817650 .

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I. Klassische und aktuelle Positionen

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Das Verstehen in der klassischen Hermeneutik Gunter Scholtz

1.

Ein vieldeutiges Wort

Es wäre wirklich ein Wunder, wenn alle sofort verstünden, welchem Thema dieser Tagungsband gilt. Denn bekanntlich ist das Wort verstehen sehr vieldeutig. Wenn man es ins Lateinische, die frühere Gelehrtensprache Europas, zurückübersetzen möchte, muss man je nach Bedeutung und Kontext aus fast 20 Wörtern das geeignetste auswählen. Verstehen konnte um 1800 noch so viel wie verjähren oder durch langes Stehen schadhaft werden heißen, wie man in Adelungs Wörterbuch erfährt, und sich zu etwas verstehen meinte sich entschließen. 1 Inzwischen sind diese Gebrauchsweisen vergessen, aber noch immer kann verstehen bedeuten – ich zitiere wieder Adelung – klare und deutliche Begriffe von etwas haben. Sollte das vorliegende Projekt solchem Verstehen gelten, gehörte es in den Bereich der Erkenntnistheorie, und man könnte dann z. B. Kants Kritik der reinen Vernunft unmöglich ausklammern. Auch weitere alte Verstehensbegriffe sind noch in Gebrauch: Sich-verstehen-mit heißt sich-gutvertragen, sich-verstehen-auf aber bedeutet sich-auskennen-mit, z. B. mit Autos und Pferden oder auch mit Frauen. Adelungs Beispiel lautet nämlich: »Ich verstehe mich aufs Frauenzimmer, kenne es, weiß, wie mit demselben umzugehen ist.« Gelte es, solche Verstehenswunder aufzuklären, bekäme dieser Band wiederum eine andere Ausrichtung. Suchen wir in der Hermeneutik der Zeit vom 17. bis zum 19. Jahrhundert das Verstehen, geht es an erster Stelle immer um das Verstehen von sprachlichen Zeugnissen, von Schriften und Reden, gelegentlich allgemeiner um das Verstehen aller Zeichen, die den Menschen die Kommunikation ermöglichen, und später auch Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart. 4. Thl. Wien 1811, S. 1149–1150.

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um das Verstehen von allem, was Menschen tun und hervorbringen. Aber es handelt sich dann nicht um das Verstehen des menschlichen Lebens, schon gar nicht um das Verstehen und Deuten von Naturphänomenen, von Himmelserscheinungen oder Krankheitssymptomen. Eine interessante Ausnahme finden wir in der Hermeneutik des Wolffianers Georg Friedrich Meier von 1757, der auch ausführlich die Auslegung von »natürlichen Zeichen«, also von Phänomenen der Natur, berücksichtigte. 2 Man erkennt sogleich, warum das keine Zukunft hatte: Meier, für den Metaphysik noch Wissenschaft war, setzte für diese Zeichen Gott als Urheber voraus, 3 aber die modernen Wissenschaften hatten für eine solche Semiotik keine Verwendung. 4 In den älteren hermeneutischen Theorien hatte das deutsche Wort Verstehen immer die Bedeutung von lateinisch intelligere = einsehen, erkennen, und es tauchte in den entsprechenden Lehrbüchern zunächst mehr am Rand auf. Meier hat es in seiner Auslegungslehre noch gänzlich gemieden und nur vom Auslegen gesprochen, wenn er das Erkennen des Sinnes von Zeichen meinte. Deshalb lautet meine These 1: Das Wort Verstehen ist vieldeutig. Besonders ist das Verstehen in der zwischenmenschlichen Kommunikation abzugrenzen vom Verstehen als Begreifen von Naturerscheinungen. Wenn der Arzt den Sinn des Satzes versteht »Hier spüre ich einen stechenden Schmerz«, dann ist das ein prinzipiell anderes Verstehen als wenn er versteht, warum es dem Patienten weh tut.

Georg Friedrich Meier: Versuch einer allgemeinen Auslegungskunst. Halle 1757, Repr. Düsseldorf 1965, §§ 35–83. Für Meier ist im Anschluss an Leibniz die Welt die beste der möglichen Welten, und deshalb ist sie auch ein allgemeiner bezeichnender Zusammenhang. »Folglich kan ein jedweder willkürlicher Theil in dieser Welt ein unmittelbares oder mittelbares, entfernteres oder näheres natürliche Zeichen eines jedweden andern würklichen Theils der Welt seyn.« Ebd., § 35. 3 »Gott ist der Urheber des bezeichnenden Zusammenhangs in dieser Welt, und es ist also ein jedwedes natürliche Zeichen eine Wirkung Gottes, und in Absicht auf Gott ein willkürliches Zeichen« [d. h. ein vorsätzlich hervorgebrachtes] (Ebd., § 38). 4 Meier unterscheidet also noch nicht das Verstehen und Auslegen in der Kultur vom Verstehen der Natur. Die Herausbildung des geisteswissenschaftlichen Verstehensbegriffs zeigt Karl-Otto Apel: Das Verstehen (eine Problemgeschichte als Begriffsgeschichte). In: Archiv für Begriffsgeschichte 1 (1955), S. 142–199. Ders.: Verstehen, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 11. Basel 2001, S. 918–938. Die Hermeneutik des 17. und 18. Jahrhunderts ist hier allerdings noch gar nicht in Betracht gezogen. 2

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2.

Die Selbstverständlichkeit des Verstehens in der älteren Hermeneutik

Die Hermeneutik nahm ihren Ausgang nicht beim Wunder des Verstehens, sondern bei der Erfahrung des Nicht-Verstehens und des Missverstehens. Das war schon in ihren Anfängen bei der Homerund Bibelauslegung so. Man ging ja zur Reflexion des Textverstehens und zur allegorischen Auslegung der alten Literaturen über, weil man überzeugt war, nicht richtig verstanden zu haben, wenn man sich mit dem Wortsinn begnügte. Noch Schleiermacher begann seine Hermeneutik-Fassung, die er zum Druck geben wollte, mit dem Satz: »Die Hermeneutik beruht auf dem Factum des Nichtverstehens der Rede.« 5 Dieses Nichtverstehen mache sich überall dort bemerkbar, wo der Inhalt unbestimmt oder zweideutig erscheine. So ging es in den hermeneutischen Theorien nicht darum, die prinzipielle Möglichkeit des Verstehens aufzuhellen, sondern man wollte Ratschläge geben, wie Verstehenshindernisse beiseite geräumt und das Nichtverstehen aufgehoben oder zumindest eingegrenzt werden kann. Die Frage, ob und wie überhaupt Verständigung möglich ist, fiel in ganz andere Bereiche: in die Metaphysik, die Sprachphilosophie, die Psychologie und Anthropologie. Schon im englischen Empirismus, bei David Hume und Adam Smith, finden wir sehr genaue Beobachtungen zur zwischenmenschlichen Gefühlsübertragung und Gefühlsansteckung, die heute mit den Spiegelneuronen erklärt werden. Aber dergleichen Kenntnisse wurden im 18. Jahrhundert nicht für die Hermeneutik entwickelt, sondern für die Ethik und für die Ästhetik, um die Möglichkeit von Mitleid und Sympathie deutlich zu machen. Auch alle Schriften zum Sprachursprung in jener Zeit boten Theorien über die Möglichkeit des Verstehens, da zur Sprache das Verstehen ebenso gehört wie das Sprechen. Schon als Aristoteles den Menschen ein zoon logon echon nannte, ein Lebewesen mit Sprache und Vernunft, war das Verstehen kein größeres Wunder als dieser logos, das Wunder der Sprache, wie ein bekanntes Buch des Sprachwissenschaftlers Walter Porzig heißt. 6

Friedrich D. E. Schleiermacher: Vorlesungen zur Hermeneutik und Kritik. Hrsg. von W. Virmond unter Mitwirkung von H. Patsch. Kritische Gesamtausgabe (KGA) Bd. II.4. Berlin 2012, S. 73. 6 Walter Porzig: Das Wunder der Sprache. Probleme, Methoden und Ergebnisse der modernen Sprachwissenschaft. München (Bern 1950). Tübingen 91993. 5

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Die Hermeneutik setzte das Sprachverstehen ebenso voraus wie die hinlänglich bekannte und schon in der antiken Rhetorik und Schauspielkunst gezielt eingesetzte Tatsache, dass ebenfalls der Ausdruck der Affekte durch Gestik und Mimik verstanden wird. Für die Erörterung der prinzipiellen Möglichkeit des Verstehens hatte man also andere Disziplinen, die in die Hermeneutik nur hinübergriffen. Auch Schleiermacher erörterte die Sprachentstehung in seiner Psychologie und die Gefühlsübertragung in der Ethik und Ästhetik, nicht in der Hermeneutik. Wenn es aber in jenen Auslegungslehren gelegentlich heißt, die Hermeneutik habe auch die Bedingungen des Verstehens herbeizuschaffen, dann handelt es sich immer um sprachliche, historische, biographische oder literaturgeschichtliche Kenntnisse, die man sich erarbeiten kann, nicht aber um anthropologische oder transzendentale Bedingungen. Man kann für das Verständnis eines Textes eine Fremdsprache lernen oder Wissenschaftsgeschichte studieren, aber man kann sich keine Vernunft, keine Einbildungskraft und keine Fähigkeit zur Mitempfindung zulegen, wenn man dergleichen nicht schon hat. Deshalb lautet meine These 2: Die Hermeneutik wollte Verstehenshindernisse auflösen helfen. Die prinzipielle Möglichkeit des Verstehens von Gedanken und Emotionen setzte sie als Selbstverständlichkeit schon voraus.

3.

Verstand und Einbildungskraft

Die ältere Hermeneutik war Teil einer Kultur, deren leitende und normierende Überzeugungen in Büchern niedergelegt waren und die ihr Wissen und Glauben auch selbst schriftsprachlich mitteilte und weitergab. Die Hermeneutik wollte diese Kommunikation in Gang halten und in reflektierter Weise Hemmnisse beseitigen helfen. Deswegen stand in ihrem Zentrum nicht die Analyse der Übertragung von Emotionen, sondern der Vermittlung von Gedanken oder Vorstellungen, wie sie in der theologischen und juristischen, theoretischen und historischen Literatur begegneten. Die philosophische Hermeneutik war ja zumeist auch der Logik zugeordnet, die dem Wissen dienen wollte. Auch als man überwiegend das Wort verstehen in der Hermeneutik benutzte, galt das eindeutig als eine kognitive Leistung. Friedrich Schlegel und Schleiermacher kennzeichneten das Verstehen mit Begriffen aus der Geometrie, nämlich als Rekonstruktion oder sogar Konstruktion. Auch der Philologe August Boeckh 24 https://doi.org/10.5771/9783495817650 .

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übernahm diesen Rekonstruktionsgedanken und lehrte im 19. Jahrhundert seine Studenten: »Das Verstehen, wovon der Verstand seinen Namen hat, ist wesentlich Verstandesthätigkeit wiewohl auch die Phantasie dabei nothwendig mitwirken muss.« 7 Auch schon die Auslegungstheoretiker der Aufklärung hatten erklärt, dass man neben dem Verstand – wie Meier das 1757 ausdrückte – auch das »Vernunftähnliche« benötige, nämlich z. B. Witz (d. h. Klugheit), das Bezeichnungsvermögen (z. B. Sprachvermögen), die Sinne und die Einbildungskraft. 8 Martin Chladenius betonte das ebenfalls, und er verlangte, dass man auch Gefühle kennt, ja gelegentlich die in einem Text ausgedrückten Gefühle auch selbst fühlen, mitempfinden müsse, wenn man vollkommen verstehen wolle. Denn die poetische Sprache ziele darauf ab, zu bewegen und Freude und Traurigkeit sowie viele andere Gemütszustände zu erwecken. 9 Allerdings galten die philosophischen Auslegungslehren der Aufklärung nie zentral der Lektüre der Dichtung. Was noch im 18. Jahrhundert nur bei der Auslegung von bestimmten Textsorten nötig schien, galt dann um 1800 generell: Friedrich Schlegel und dann systematisch Schleiermacher stellten die Tätigkeit der Einbildungskraft der des Verstandes vollkommen gleich und machten das Verstehen als einen produktiven, kreativen Akt deutlich. Schleiermacher erläuterte ihn an dem bewundernswerten Vorgang des Spracherwerbs der Kinder, die gleichzeitig das Sprechen, das Verstehen und das Denken lernen. 10 Wer schwierigere Texte liest, ist noch immer in einer ähnlichen Lage: Er muss die Sprache und die Denkweise des Verfassers lernen, und zwar aus dessen Schriften, aus dem Interpretandum, und das geht nur mit Hilfe der produktiven Einbildungskraft als einem Vermögen der Intuition oder der Ahnung, der Divination, wie man damals sagte. 11 Hilft der Verstand dem Verstehen vor allem durch Vergleiche, durch Komparation – z. B. des August Boeckh: Enzyklopädie und Methodenlehre der philologischen Wissenschaften. Hrsg. von E. Bratuscheck. Darmstadt 1966, S. 76. 8 Meier: Auslegungskunst, §§ 29, S. 30. 9 Johann Martin Chladenius: Einleitung zur richtigen Auslegung vernünftiger Reden und Schriften. Leipzig 1742, Repr. Düsseldorf 1969, §§ 154, S. 174. 10 Schleiermacher: Über den Begriff der Hermeneutik, mit Bezug auf F. A. Wolfs Andeutungen und Asts Lehrbuch [A. und B.] (1829), KGA I/11, bes. S. 619 f. 11 Die zahlreichen Belege zum Begriff der Divination bei Schleiermacher sind leicht über das Register in der Edition von Kimmerle zugänglich. Schleiermacher: Hermeneutik. Hrsg. von H. Kimmerle. Heidelberg 21974, S. 186. 7

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Wortgebrauches –, so die Einbildungskraft durch Divination, durch das intuitive Erfassen des Gemeinten, z. B. in einem ungewohnten Wortgebrauch. Verstand und Einbildungskraft müssen stets zusammenwirken, soll nicht die Auslegung zur Pedanterie oder zur Phantasterei herunterkommen. 12 Solches divinatorische Vermögen ist bei Schleiermacher nicht nur (wie bei dem Philologen Friedrich August Wolf) gefordert, um in der Textkritik nötige Konjekturen vornehmen zu können, sondern mehr noch, um das Interpretandum, den Text, gerade in seiner Individualität mit allen seinen Nuancen möglichst genau zu verstehen. 1753 hatte Buffon das berühmte Diktum Le style est l’homme meme geprägt. (Der Stil ist der Mensch selbst, der ganze Mensch.) Wollte man also auch den Stil, d. h. die Gedankenführung, die Ausdrucksweise und den »Ton« der Sprachäußerung erfassen, worin sich nicht nur die Vernunft des Verfassers, sondern sein ganzer Charakter mitsamt seinen Gefühlen und seiner Phantasie objektiviert und geäußert hatten, dann durften einem Gefühle und Phantasie nicht fremd sein. Ja, es war am besten, man war dem Verfasser ähnlich, kongenial, wie man sagte. Denn Gleiches wird nur durch Gleiches erkannt, hatte man aus der antiken Philosophie gelernt. Wenn es später bei Dilthey heißt, für das Verstehen werde der ganze Mensch erfordert, so gründet das also auf recht alten Einsichten. Deshalb lautet These 3: Verstehen war in der älteren Hermeneutik an erster Stelle eine Sache des Verstandes. Zugleich aber betonte man daneben mehr und mehr auch die produktive Einbildungskraft, ohne welche kein Verstehen von nicht-trivialen Sprachäußerungen möglich sei. Sie musste vor allem den Stil richtig zu erfassen suchen, denn sowohl die Dialoge Platons als auch die Literatur der Romantik zeigten, wie wichtig es z. B. war, ironische Ausdrucksweisen zu verstehen.

4.

Wahrheit oder Autorintention?

Gleiches wird durch Gleiches erkannt: In der theologischen Hermeneutik wurde deshalb bis ins 18. Jahrhundert zumeist der religiöse Glaube für das Verständnis von Glaubenswahrheiten vorausgesetzt und in der philosophischen Hermeneutik immer die Vernunft für das Verständnis von Aussagen, die aufgrund der Vernunft getroffen 12

Schleiermacher: Begriff der Hermeneutik, S. 633.

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worden waren. In beiden Fällen ging man von der Annahme aus, dass die Texte Wahrheit enthielten, sonst hätte man die ganze Auslegungsprozedur gar nicht in Bewegung gesetzt. Verstehen hieß in der älteren Hermeneutik zunächst: die zur Sprache gebrachte Wahrheit einsehen. Chladenius schrieb 1742 in der Vorrede seiner Auslegungslehre, die Aufgabe der Hermeneutik sei es, die bereits erkannten Wahrheiten zu erhalten. Er fügte hinzu: Der Satz »Die Erde ist rund« sei nur für den verständlich, der diese Aussage erläutert bekam und so die Richtigkeit des Satzes begreife. 13 Demnach hieß verstehen: die Wahrheit der Texte erfassen, das Mitgeteilte richtig finden, zustimmen können. Allerdings geriet diese traditionelle Voraussetzung bei Chladenius mit seiner grundlegenden Maxime in Konflikt, verstehen heiße, aus den Worten eines Sprechers das zu erkennen, was er gedacht hat. 14 Das aber war die Auffassung, die sich in fast allen Interpretationstheorien mehr und mehr durchsetzte. 15 Sie hat die alte Wahrheitsvoraussetzung untergraben und bald verdrängt. Dieser Vorgang ist wenig erstaunlich. Denn mit der Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte, die schon im 18. Jahrhundert große Werke hervorbrachten, traten immer mehr Theorien und Behauptungen ins Bewusstsein, die man unmöglich alle wahr und richtig finden konnte, wenngleich sie sich als irgendwie verstehbar erwiesen, ja verstanden werden mussten, wenn man sie beurteilen wollte. Deshalb beschränkte sich die philosophische Hermeneutik der Aufklärung bald nur auf die Voraussetzung eines vernünftigen Autors. Was nicht vernünftig war, galt als unverständlich, und solches konnte man beiseite schieben. Meier schrieb 1757: »Wenn es also wahrscheinlich und gewiß ist, Chladenius: Auslegung, Vorrede (ohne Paginierung). Das Verstehen wird von Chladenius in plausibler Weise als das Pendant zum Sprechen begriffen: »Es ist aber das Reden, wie bekannt, nichts anders, als eine Handlung, da wir unsere Gedancken durch Worte, die mit dem Munde ausgesprochen werden, andren zu erkennen geben« (ebd., § 1). »Es ist ferner bekannt, daß wir einen, der redet, alsdann verstehen, wenn wir aus seinen Worten erkennen, was er gedacht hat« (ebd., § 2). Aufgrund diesen Zusammenhangs war in der Leibniz-Schule die Hermeneutik als Kunstlehre für das Erkennens von Zeichen das Gegenstück zur Charakteristik, der Kunst der Zeichengebung, während Schleiermacher später gelegentlich die Hermeneutik das Gegenstück zur Rhetorik nannte. 15 1758 weist Johann Christoph Gottsched auf den wichtigen Unterschied zwischen dem Verstehen einer sprachlichen Äußerung und dem Begreifen ihrer Richtigkeit hin (bei Apel: Verstehen, S. 920), eine Trennung, die Chladenius offensichtlich noch nicht vollziehen mochte, da es ihm um das Verständnis des Wahren ging. 13 14

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daß ein Autor seine Rede ohne Verstand herschwatze, oder zusammenschmiere, so muß man es nicht einmal versuchen, ihn auszulegen.« 16 Allerdings wurde die Unterscheidung zwischen dem Vernünftigen und Unvernünftigen schwierig, wenn es Zeugnisse aus ganz fremden Kulturen und auch deren Mythen und Dichtungen zu verstehen galt. Jetzt musste man sich auf fremde Denkweisen einlassen, und man musste das, was man selbst für vernünftig hielt, erst einmal in die Klammer stellen. Stattdessen galt es, die vielfältigen Voraussetzungen zu erarbeiten, welche den Texten zugrunde lagen. Die Auslegungstheoretiker wie Meier hatten die Autoren und die Leser in der Regel noch als Zeitgenossen betrachtet, man sah sie auf derselben Ebene. Aber mit Einsicht in die Verschiedenheit der Epochen und Kulturen – und auch der individuellen Autoren – wurden mehr und mehr die Distanzen bewusst, welche die Verfasser von den Rezipienten trennten. Herder betonte die »Kluft«, welche es zu überwinden gilt, wenn man sich vergangenen Zeitaltern und fremden Kulturen zuwendet. Dieses Bewusstsein der Differenzen ist das, was dann als »historisches Bewusstsein« später eigens zum Forschungsthema gemacht wurde. Im Zeichen dieses neuen Bewusstseins trennte sich das Verstehen von der Zustimmung, vom Einverständnis. Deshalb – das ist meine These 4 – entwickelte sich im Kontext des historischen Bewusstsein die Auffassung, verstehen heißt, den Sinn der Aussagen eines anderen aufgrund seiner Voraussetzungen zu rekonstruieren. Dieses Wort »rekonstruieren« – oder auch »konstruieren« – hatte sich für das Verstehen im Umkreis des sog. deutschen Idealismus eingebürgert. Man markierte damit erstens die Aktivität des Verstandes und der Einbildungskraft, zweitens das Ziel großer Genauigkeit, immer unter der Voraussetzung, dass der Sinn des Textes nicht plan vor Augen liegend in der Wahrnehmung zugänglich ist, und drittens zeigte man mit dem Begriff der Rekonstruktion an, dass man einen Text nach Möglichkeit vom Produktionsakt her verstehen sollte. In seinem Aufsatz über Lessing von 1804 schrieb Friedrich Schlegel: »Es ist nichts schwerer, als das Denken eines andern bis in die feinere Eigentümlichkeit seines Ganzen nachkonstruieren, wahrnehmen und charakterisieren zu können. […] Und doch kann man nur dann sagen, daß man ein Werk, einen Geist verstehe, wenn man

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Meier: Auslegungskunst, § 110.

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den Gang und Gliederbau nachkonstruieren kann.« 17 Anders als die Aufklärung forderte Friedrich Schlegel sogar, man müsse auch die Konfusion eines Autors rekonstruieren, d. h. einsehen, wie und warum er in Konfusion geriet. 18 Schleiermacher dachte ganz ähnlich. Die »niedrige Maxime« der Hermeneutik (nämlich die der Aufklärung) laute: »man hat alles verstanden, was man, ohne auf Widerspruch zu stoßen, wirklich aufgefaßt hat.« Die »höhere Maxime« aber sei: »Man hat nur verstanden, was man in allen seinen Beziehungen und in seinem Zusammenhange nachconstruirt hat.« 19 Oder in anderer, in Kurzfassung: »ich verstehe nichts was ich nicht als nothwendig einsehe und construiren kann.« 20 Dabei heißt »notwendig« jetzt: notwendig aufgrund der individuellen Bedingungen. Um diese zu berücksichtigen, müsse man versuchen, die Entstehung in Erfahrung zu bringen, den Produktionsakt zu rekonstruieren. 21 Die Ausrichtung des Verstehens auf die Gedanken oder die Intention des Autors blieb bis heute erhalten und kann als Erkennungszeichen der traditionellen Hermeneutik gelten. Allerdings wurde diese Ausrichtung inzwischen zum Streitpunkt. Die einen halten die Ausrichtung des Verstehens auf die Autorintention für undurchführbar und proklamieren den Tod des Autors, und zwar auch dann, wenn er noch lebt. Die anderen sagen, dass ohne Rücksicht auf die Intention des Autors jede Interpretation zu einem Picknick werde, zu dem der Autor nur die Schüsseln, der Leser aber das Menü mitbringe. Da die Autoren, welche den Tod des Autors verkünden, selbst immer sehr gern leben und verstanden werden möchten, spricht alles für die Ansicht der zweiten Partei.

5.

Die Individualität als Grenze des Verstehens

Schon im 18. Jahrhundert erkannte man, dass die Schwierigkeiten, die das Verstehen ins Stocken brachten, zwei Hauptquellen hatten: a) Man kannte zu wenig die Sprache, in der die Texte verfasst waren. Wenn man sich mit Texten der griechischen und lateinischen Antike, Friedrich Schlegel: Lessings Gedanken und Meinungen (1804). KA Bd. 3, S. 60. Friedrich Schlegel: Philosophische Fragmente. KA Bd. 18, S. 63, Nr. 434. Vgl. Athenäums-Fragment 401. KA Bd. 2, S. 241. 19 Schleiermacher: Hermeneutik, S. 74 f. 20 Ebd., S. 6. 21 Ebd., S. 65 ff. 17 18

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mit der Bibel oder der fernöstlichen Literatur befasste, bekam man es schließlich mit fremden Sprachen und ihren Dialekten zu tun. b) Man wusste zu wenig über den Autor und seine Zeit. Man kannte nicht hinreichend sein Wissen, seine Erfahrungen, seine individuelle Sprachverwendung, sein kulturelles und soziales Umfeld. Schließlich konnte man ja sein Denken und Wissen nicht wahrnehmen, und zwar niemals. Da zur Erfahrung von Verschiedenheit und Andersartigkeit Leibniz’ Metaphysik schon die grundlegende Erklärung vorgelegt hatte, dass alle Monaden das Universum auf individuelle Weise spiegeln, erörterten Chladenius und Crusius in der Mitte des 18. Jahrhunderts die Verstehensschwierigkeiten mit Hilfe des Leibnizschen Begriffs des »Sehe-Punktes«, den man dann zumeist Standpunkt oder Perspektive nannte. Chladenius definierte in seiner Auslegungslehre: »Diejenigen Umstände unserer Seele, Leibes und unserer ganzen Person, welche machen oder Ursache sind, dass wir uns eine Sache so und nicht anders vorstellen, wollen wir den Sehepunkt nennen.« 22 Crusius führte diese Überlegungen fort. 23 Wenn ein Hörer aufgrund seiner eigenen Sprachgewohnheit eine Rede aus einem ganz anderen Gesichtspunkt wahrnimmt als der Sprecher sie meinte, schlage die Verständigung fehl. Aufgrund solchen Missverstehens können – so Crusius – »die weisesten Reden verkehrten Leuten [d. h. Leuten mit anderen Sprachgewohnheiten] verkehrt vorkommen«. 24 Deshalb muss laut Crusius der Interpret stets versuchen, den Gesichtspunkt des Sprechers oder Verfassers herauszufinden »und sich in den Gedanken in den selbigen zu stellen.« 25 Dieser Gesichtspunkt ist – genau wie bei Chladenius – durch verschiedene Umstände, durch »Individual-Umstände«, bestimmt, von denen Crusius nur Beispiele nennt: das Sprachvermögen des Autors, sein Wissensstand, Ort, Zeit und Situation der Abfassung seiner Schrift, auch seine Affektlage. 26 Freilich müssen nicht immer alle Umstände bekannt sein, zumeist genügt die Kenntnis von einigen

Chladenius: Auslegung, § 309, vgl. § 510. Christian August Crusius: Weg zur Gewißheit und Zuverläßigkeit der menschlichen Erkenntniß. Leipzig 1747, Repr. Hildesheim 1965 (= Chr. A. Crusius: Die philosophischen Hauptwerke. Hrsg. von G. Tonelli, Bd. 3), § 205. 24 Ebd., § 213. 25 Ebd., § 635. 26 Ebd., § 637. 22 23

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wichtigen, um eine »starke Wahrscheinlichkeit« zu erreichen, dass der Sinn eines Textes richtig erfasst wurde. 27 Die Erfahrung von verschiedener Sprachverwendung, Denkweise und Kultur führte also im 18. Jahrhundert immer mehr zur Forderung, sich auf den Standpunkt des Autors oder Sprechers einzulassen, um seine Rede oder seinen Text richtig zu verstehen. Der Forderung von Crusius, man müsse »in Gedanken«, also hypothetisch, den Standpunkt des Autors einzunehmen versuchen, 28 lassen sich ähnliche Formulierungen von Hamann und Herder zur Seite stellen. Bei Schleiermacher heißt es dann, man solle sich bemühen, dass man sich »dem Urheber gleich stellt«; 29 man solle den Text oder die Rede zuerst ebenso gut zu verstehen versuchen, wie ihr Urheber ihn verstand; 30 oder: man müsse »sich selbst gleichsam in den andern verwandeln«. 31 Die möglichst gute Kenntnis des Autors oder Sprechers in seiner Situation war wichtig, um seiner sprachlichen Äußerung – seiner Rede oder Schrift – keinen Sinn zu unterstellen, den er nie hätte äußern können. Gerade das Bemühen um ein möglichst genaues Verstehen als Sinnrekonstruktion von sprachlichen Äußerungen individueller Menschen führte aber auch zur Einsicht, dass das Verstehen immer auch an Grenzen gerät, die nicht auflösbar sind. Schon Crusius betonte, dass man das Denken eines Anderen ja nicht wahrnehmen könne, und schon deshalb erreichten Auslegungen nur mit hoher Wahrscheinlichkeit den gemeinten Sinn. Später schrieb Friedrich Schlegel, alle bedeutenden Werke seien unendlich interpretierbar, und Schleiermacher erklärte das Innere des Menschen für ein Geheimnis, so dass das Verstehen immer auch an Grenzen stoße. Da die Individualität des einen die des anderen ausschlösse, müssten wir uns damit abfinden, dass »das Nichtverstehen sich niemals gänzlich auflösen will.« 32 W. von Humboldt vertrat dieselbe Ansicht. Die Sprachteilnehmer seien als »wahre Individualitäten« verschieden und daraus folge: »Alles Verstehen ist daher immer zugleich ein

27 28 29 30 31 32

Ebd. Ebd., § 635. Schleiermacher: Hermeneutik, S. 129. Ebd., S. 128. Ebd., S. 157. Schleiermacher: Begriff der Hermeneutik, S. 141.

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Nicht-Verstehen, alle Uebereinstimmung in Gedanken und Gefühlen zugleich ein Auseinandergehen.« 33 Für Schlegel, Schleiermacher und dann auch für Humboldt bleibt so in allen Werken, die eine Interpretation herausfordern, immer auch ein unverstandener Rest. Das Verstehen wird in diesen Fällen zu einem unabschließbaren Vorgang der Annäherung. August Boeckh greift den Einwand des antiken Skeptikers Gorgias gegen das Verstehen auf, nämlich »dass der Zuhörer sich bei den Worten nie dasselbe denkt wie der Sprechende, da sie […] verschieden sind.« Boeckh fügt hinzu: man verstehe ja nicht einmal sich selbst immer vollständig, und er schließt: »Wenn also die fremde Individualität nie vollständig verstanden werden kann, so kann die Aufgabe der Hermeneutik nur durch unendliche Approximation d. h. durch allmähliche, Punkt für Punkt vorschreitende, aber nie vollendete Annäherung gelöst werden.« 34

Deshalb lautet meine These 5: Je mehr die Hermeneutik alle Sprachäußerungen berücksichtigte und je mehr von dem Verstehen eine große Genauigkeit der Sinnerfassung verlangt wurde, desto stärker traten die Differenzen zwischen den Individuen und Kulturen ans Licht. Deshalb wurde das Verstehen anspruchsvoller Texte, die Rekonstruktion ihres Sinnes, zu einem Vorgang unendlicher Approximation.

6.

Autorintention oder Sinn des Textes?

Wie schon bei Chladenius und Crusius gezeigt, hatte die Hermeneutik für das Verstehen schwieriger Text schon vielerlei Kenntnisse verlangt: sprachliche, historische, biographische, literarische usw. – Kenntnisse von allem also, was zu Text und Kontext hinzugehört. Schleiermacher und Boeckh reduzierten das zunächst auf Sprache und Autor, da alle anderen Faktoren nur über den Autor und die Sprache in das sprachliche Gebilde hineingelangt sein konnten, und man stellte in Rechnung, dass vielleicht auch mehrere Autoren oder Wilhelm von Humboldt: Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts (1830– 1835). Werke in fünf Bänden. Hrsg. von A. Flitner und K. Giel. Darmstadt 41963, Bd. 3, S. 439; vgl. bes. S. 559. 34 Boeckh: Enzyklopädie, S. 86. 33

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eine ganze Schule die Urheber waren. Zentral war für jene ältere Hermeneutik nur der einleuchtende Gedanke, dass niemals die Sprache allein, die Sprache ohne Sprecher, eine bestimmte Rede hervorbringt, so wie andererseits auch kein Lebewesen ohne Sprache dazu fähig ist. Da jeder Text sowohl ein Produkt der Sprache als auch ein Produkt eines Autors ist, unterschied Schleiermacher auch zwei Interpretationsformen, zwei Annäherungsweisen an das Verständnis eines Textes, die aber immer zu verbinden seien. 35 Das wurde möglich und nötig, da seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, seit Herder und Hamann, der Sprache ein eigenes Gewicht, eine eigene Kraft zugeschrieben wurde. Schleiermacher und wenig später auch Humboldt sprachen von der »Gewalt« der Sprache, die das Denken bestimme, und stellten ihr polar die Kraft des Denkens gegenüber, welche umgekehrt auch die gegebene Sprache in ihre Dienste nehme und modifizieren könne. 36 Schon weil die Sprache als eine eigene Kraft und als prägendes Element aufgefasst wurde, welches die Sprechenden nicht erzeugt und auch nicht gänzlich in ihrer Gewalt haben, enthielten sprachliche Gebilde für jene Autoren auch immer etwas, was allein auf die individuelle Intention eines Sprechers oder Autors nicht zurückgeführt werden kann. Bereits Chladenius war auf die Schwierigkeit gestoßen, dass es ein gewisses Missverhältnis zwischen den Gedanken und der sprachlichen Äußerung des Autors geben kann. Mit der Frage, ob ein implizierter Gedanke, den der Autor gar nicht äußern wollte, auch zum Textsinn hinzugehöre oder nicht, war er aber nicht zurecht gekommen. 37 Um 1800 wird diese Frage durch Friedrich Schlegel und Schleiermacher eindeutig entschieden: Alle Aussagen – ob mündlich oder schriftlich geäußert – enthalten Elemente oder Implikationen, welche dem Autor nicht bewusst waren, und auch diese können und müssen verstanden werden. Deshalb muss das Verstehen jetzt immer zwei Siehe dazu vom Verf.: Die Philosophie Schleiermachers. Darmstadt 1984, S. 145– 152. Ders.: Ethik und Hermeneutik. Schleiermachers Grundlegung der Geisteswissenschaften. Frankfurt/M. 1995, bes. S. 101 ff. 36 Schleiermacher: Über die verschiedenen Methoden des Übersetzens (1813), KGA I/ 11, S. 72. Vgl. Wilhelm von Humboldt: Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues, S. 392. 37 Chladenius: Auslegung, §§ 157 f. Siehe dazu vom Verf.: Das Unverständliche bei Chladenius und Friedrich Schlegel. In: Gudrun Kühne-Bertram und Gunter Scholtz (Hrsg.). Grenzen des Verstehens. Philosophische und humanwissenschaftliche Perspektiven. Göttingen 2002, S. 21 f. 35

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Richtungen verfolgen, und die entsprechende Maxime lautet: Man muss versuchen, den Autor sowohl eben so gut zu verstehen, wie er sich selbst verstand, als auch besser. 38 Dieses Besser-Verstehen bedeutet keine Besserwisserei, sondern trägt der Tatsache Rechnung, dass man erstens beim Reden sich selbst in seinem Denken und Sprechen keineswegs immer ganz durchsichtig ist und dass zweitens die Leser und Hörer aufgrund ihrer Distanz manches wahrnehmen können, was die Sprecher oder Schreiber selbst nicht bemerkten. Gerade weil der Leser nie alles in Erfahrung bringen kann, was der Autor im Sinn hatte, soll er eruieren, was diesem nicht ins Bewusstsein trat. War man mit Kants These einverstanden, dass in der künstlerischen Produktion die Natur dem Genie die Regel vorschreibt (nicht irgendeine Poetik), dann enthielten besonders literarische Werke immer mehr als der Autor bewusst intendiert hatte und als ein Interpret artikulieren kann. Schelling hatte das nachdrücklich in seiner Philosophie der Kunst hervorgehoben. Inzwischen ist es ganz selbstverständlich geworden, dass das literarische Werk sich vom Autor ablöst und die Interpretation sich nicht auf die Autorintention beschränken kann. Ja, diese Auffassung ist jetzt so stark, dass man auch den ersten Aspekt betonen muss, da sonst die Auslegung leicht zur Einlegung wird. Deshalb gibt es inzwischen eine stattliche Literatur zur Rückkehr des Autors. 39 Die hermeneutische Theorie zielte also auf das Verständnis des Textsinnes ab, der aber gleichsam zwei Schichten hat: die Gedanken und die Intentionen des Autors – und die Implikationen seines Textes. Die Ausrichtung auf diese beiden Schichten war und blieb schwierig. Schlegel fasste beide Aspekte mit dem Begriff der Kritik zusammen, Schleiermacher zumeist mit dem Begriff der Hermeneutik. August Boeckh verlangte vom Interpreten, die Intention des Autors immer deutlich von allen Implikationen abzuheben, die ihm unbewusst bleiben mussten. 40 All das, was der Autor unmöglich wissen konnte – Friedrich Schlegel: Athenäums-Fragment 401. KA Bd. 2, S. 241; Über Lessing (1801), KA Bd. 2, S. 100 f. Schleiermacher: Hermeneutik, S. 39, S. 128 u. ö. Ders.: Über den Begriff der Hermeneutik, S. 618; Boeckh: Enzyklopädie, S. 86. Manuel Bauer: Schlegel und Schleiermacher. Frühromantische Kunstkritik und Hermeneutik. Paderborn. München/Wien 2011. 39 Sehr viel Literatur zu dieser Diskussion findet sich bei Matthias Schaffrick und Marcus Willand (Hrsg.). Theorien und Praktiken der Autorschaft. Berlin/Boston 2014. 40 Boeckh: Enzyklopädie, S. 87. 38

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z. B. die Wirkung seiner Arbeit auf die Folgezeit –, übergab Boeckh dem Bereich der Kritik, welche die Hermeneutik ergänzen muss. Das ist die Folge der Maxime, ebenso gut und dann auch besser verstehen zu sollen. Schon Friedrich Schlegel hatte das Besser-Verstehen gelegentlich »kritisieren« genannt. 41 Bei allen jenen Autoren aber ist Interpretation eine Verbindung von Nähe und Distanz: Man soll einen Autor so gut zu verstehen versuchen, dass man ihn sogar nachahmen kann – und man soll von dieser Nähe auch Abstand nehmen, um der Sinnfülle des Textes gerecht zu werden. Daraus ergibt sich These 6: Die Hermeneutik hat seit dem 17. Jahrhundert immer das Ziel verfolgt, das erkennen zu helfen, was der Autor sagen wollte, hat aber seit der Zeit um 1800 dem Verstehen auch die Aufgabe zugewiesen, Aspekte und Sinnimplikationen der Texte zu eruieren, die dem Autor verborgen blieben. Das Verstehen zielt deshalb mehr und auch anderes an als nur die Autorintention.

7.

Das Ganze und die Teile

Während sich die Auslegungstheorien im 18. Jahrhundert noch auf die Auflösung dunkler Stellen konzentrierten, lenkte die hermeneutische Reflexion um 1800 ihre Aufmerksamkeit sogleich auf das Textganze, und der Grund dafür dürfte der folgende sein: Die Geisteswissenschaften nahmen immer mehr fremde, unbekannte Literaturen in den Blick (aus fremden Kulturen oder von Originalgenies, die Neues wagten); und gleichzeitig wurden sie immer anspruchsvoller, sie versuchten, in ihren Interpretationen immer genauer zu sein. Wenn man nicht weiß, worum es geht und zu welchem Bereich ein literarisches Zeugnis gehört – ob es sich um historische, religiöse, poetische, philosophische Literatur handelt –, dann muss man sorgfältig das ganze Dokument studieren, um es überhaupt in seiner ganzen Ausrichtung verstehen zu können. Schleiermacher hat näher beschrieben, wie wir in der Regel einen vorläufigen Begriff vom Ganzen des Textes erlangen können, den wir dann durch die Lektüre korrigieren und konkretisieren. 42 Die Dunkelheit einzelner Stellen resultiere zumeist aus dem ungenügenden Verständnis des ganzen Textes. Friedrich Ast nannte u. W. als erster 1808 das Wechselverhältnis 41 42

Schlegel: Fragmente zur Litteratur und Poesie (1797). KA Bd. 16, S. 168, Nr. 992. Schleiermacher: Begriff der Hermeneutik, S. 625 ff.

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zwischen dem Verstehen des Einzelnen und des Ganzen einen »Zirkel«. 43 Ast konnte sich für die Behauptung des Zirkels als »Grundgesetz alles Verstehens« ältere Gedanken zunutze machen. Denn schon Aristoteles hatte gelehrt, das Ganze sei früher (proteron) als die Teile (so wie der ganze Baum schon in dem Samenkorn angelegt ist, noch ehe sich Wurzeln, Stamm und Zweige entwickeln). Und Kant hatte in der organischen Natur ein Wechselverhältnis von Teil und Ganzem erblickt: In den lebenden Organismen seien die Teile sowohl Mittel als auch Zweck des Ganzen, so dass das eine nicht ohne das andere erkennbar ist. Deshalb lag es für Ast und seine Zeit nahe, im Erfassen dieser Interdependenz von Teilen und Ganzem das Prinzip allen Verstehens und Erkennens zu erblicken, und zwar sowohl von Produkten der Natur als auch des Menschen. Besonders in der Textinterpretation zeigte es sich als richtig, und deshalb wurde der Begriff des »hermeneutischen Zirkels« geläufig. Schleiermacher sprach nur von einem »scheinbaren Kreise« 44. Aber die große Bedeutung der gemeinten Sache demonstrierte er noch ausführlicher als Ast, und alle späteren Interpretationstheorien dieser Ausrichtung nahmen den Gedanken in irgendeiner Weise auf. Inzwischen haben manche Logiker und Wissenschaftstheoretiker heftig gegen den Begriff des hermeneutischen Zirkels protestiert, weil sich durch ein zirkuläres Verfahren kein Wissensfortschritt erzielen lasse. 45 Aber niemand hat zu behaupten gewagt, das Ganze eines Textes ließe sich sehr wohl ohne ein Verständnis der Teile, der Wörter und Sätze, verstehen und alle Teile seien auch immer ohne ihren Kontext, das Textganze, vollkommen verständlich. Aber nur darum ging es, nicht um das Wort Zirkel. Ast dachte sich den Fortgang des Verstehens als eine Spiralbewegung. Das Problem des Prinzips liegt m. E. auch an einer ganz anderen Stelle, nämlich an dem Unterschied zwischen dem Ganzen des Textes und dem Ganzen des Kontextes, der zu beachten sei. Laut Friedrich Ast muss jeder Text des klassischen Altertums im Kontext der gesamten Antike und diese schließlich im Kontext der Universalgeschichte Friedrich Ast: Grundlinien der Grammatik, Hermeneutik und Kritik. Landshut 1808, S. 178. 44 Schleiermacher: Hermeneutik, S. 129. 45 Siehe z. B. Wolfgang Stegmüller: Betrachtungen zum sog. Zirkel des Verstehens und zur sog. Theoriebeladenheit der Beobachtung. In: Axel Bühler (Hrsg.): Hermeneutik. Basistexte zur Einführung in die wissenschaftstheoretischen Grundlagen von Verstehen und Interpretation. München 2003, S. 191–231. 43

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betrachtet werden, die er auch in einem eigenen Buch darstellte. Das war im Einklang mit dem, was er bei Schelling und Friedrich Schlegel gelernt hatte. Auch Schleiermacher war überzeugt, dass für das Verständnis eines bestimmten Werkes Kontextkenntnisse stets sehr wichtig sind und gelegentlich »die größte historische Construction«, d. h. eine geschichtsphilosophische Skizze, nützlich sei. 46 Aber solange wir das Wort im ganzen Satz, den Satz im Kontext des ganzen Kapitels und dieses im Rahmen des ganzen Textes interpretieren, können wir voraussetzen, dass der Zusammenhang des Ganzen uns jeweils durch den Autor vorgegeben ist. Die Einheit des Ganzen der antiken Literatur und schließlich der Weltgeschichte ist hingegen in der Tat – wie Schleiermacher sagt – nur eine Konstruktion des Interpreten, kein Erzeugnis eines Autors. Schleiermacher ist deshalb mit dem Begriff des Ganzen viel vorsichtiger umgegangen als der Philologe Ast. Er gibt zu bedenken, »daß nicht jede zusammenhängende Rede in gleichem Sinn ein Ganzes ist, sondern oft nur eine freie Aneinanderreihung von Einzelheiten«, 47 und erst recht scheint ihm Asts Rede vom einheitlichen »Geist« einer Epoche problematisch. Sein Schüler Boeckh zog dann den Trennungsstrich: Bestimmt der Interpret das Verhältnis eines Werkes zu seinem engeren oder weiteren Kontext, dann gehört sein Verfahren nicht zur Hermeneutik, sondern zum Bereich der Kritik. 48 Auch die Kritik dient dem Verstehen, aber aus einer Perspektive, die der Interpret an das Werk heranträgt. Die Hermeneutik versucht hingegen die Perspektive des Verfassers in Erfahrung zu bringen. Später hat Eric Donald Hirsch diese Unterscheidung von Hermeneutik und Kritik ähnlich aufgenommen. 49 Als These 7 halte ich nur fest: Mit der Erfahrung der Fremdheit von Texten, verbunden mit dem Ziel sehr genauer Interpretationen, setzte sich – gelenkt auch durch philosophische Vorgaben – die Maxime durch, dass das Verständnis des Ganzen und der Teile einer Rede oder Schrift sich wechselseitig bedingen, was dann oft als »hermeneutischer Zirkel« bezeichnet wurde. Problematisch darin ist nicht die logische Struktur, sondern allenfalls der Begriff des Ganzen, dem das Interpretandum wiederum zugehört. Denn dieses Ganze kann

Schleiermacher: Begriff der Hermeneutik, S. 635. Ebd., S. 628. 48 Boeckh: Enzyklopädie, S. 55 ff., 77 f., 170 ff. 49 Eric Donald Hirsch: Validity in Interpretation. Yale Univ. Press 1967. Deutsche Ausgabe: Prinzipien der Interpretation. München 1972. 46 47

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nicht auf einen Verfasser zurückgeführt werden, sondern ist ein Konstrukt des Interpreten.

8.

Verstehen und Auslegen

Während man sich in der Hermeneutik auf das Verstehen der sprachlichen Texte konzentrierte, blieb das eigene Sprechen und Schreiben des Interpreten ganz im Hintergrund. Wenn man wie Meier nur vom auslegen sprach, stand dahinter das lateinische Wort interpretari: Es heißt sowohl verstehen, auffassen, als auch übersetzen, dolmetschen, und Meier legte den Akzent auf das Verstehen und Erkennen. 50 Chladenius differenzierte: Anders als das Verstehen setze das Auslegen immer jemanden voraus, für den man auslegt; 51 auslegen bedeutete für ihn also: selbst reden, in eigener Sprache den Sinn verständlich machen. Deshalb unterschieden andere Autoren die subtilitas intelligendi von der subtilitas explicandi, die Genauigkeit des Verstehens von der Genauigkeit des Auslegens. Schleiermacher und Boeckh konzentrierten sich in ihrer Hermeneutik nur auf das Verstehen, weil das Auslegen als Explikation des Verstandenen schon wieder Reden sei und deshalb selbst zum Objekt des Verstehens werde. 52 Ihnen zufolge versteht man nicht durch das eigene Sprechen, sondern Verstehen heißt bei ihnen Vernehmen, Auffassen. Man muss den Gedanken des Anderen in dessen Sprache verstehen, nicht in der eigenen. Lesen wir ein Buch, sind wir ja auch nicht ständig dabei, es in unsere eigene Sprache zu bringen, auch dann nicht, wenn es fremdsprachlich ist, sondern wir lernen lesend mehr und mehr die Sprache des Buches. Zuweilen erweist sich ja auch etwas als völlig unübersetzbar, wie z. B. ein pun, ein Wortwitz, oder bestimmte Formen der Lyrik. Allerdings ist Schleiermacher gelegentlich auch von seiner Ansicht abgewichen. In seiner Abhandlung über das Übersetzungsproblem heißt es, dass wir zuweilen etwas in unsere eigene Sprache bringen müssen, um es uns deutlich und verstehbar zu ma-

»Auslegen in weitem Verstande (interpretari sensu latiori) heißt die Bedeutung aus dem Zeichen klar erkennen […]«. Meier: Auslegungskunst, § 8. 51 Chladenius: Auslegung, § 169: »Auslegen ist also nichts anders, als iemanden die Begriffe beybringen, welche nöthig sind eine Rede oder Schrifft vollkommen zu verstehen, oder verstehen zu lernen.« 52 Boeckh: Enzyklopädie, S. 80. Schleiermacher: Hermeneutik, S. 38. 50

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chen. 53 Das entspricht zunächst noch immer unserer Erfahrung und unserem Sprachgebrauch. Solange wir Sprachäußerungen verstehen, schweigt unsere eigene Sprache. Wenn aber das Verstehen nicht gelingen will, beginnen wir zu interpretieren und d. h. selbst zu sprechen. Triviale Sätze wie »Leih mir mal den Bleistift« werden verstanden, Hegels Phänomenologie des Geistes aber wird interpretiert. Demnach vollendet sich das Verstehen von schwierigen Texten erst im Auslegen, in der eigenen Rede. Da es aber die Hermeneutik immer mit der Überwindung von Verstehenshindernissen zu tun hat, gehört zu ihrem Geschäft eigentlich auch das eigene Denken und Sprechen stets hinzu. Für Friedrich Ast war das »Erklären« als Darlegung des Verstandenen, also das Auslegen, ein ergänzender Schritt, den die Interpretation zu vollziehen habe. 54 Die Frage nach dem Verhältnis von Verstehen und Auslegen hat eine gewisse Brisanz. An ihr entscheidet sich nämlich, inwieweit sich der Hörer oder Leser bei der Lektüre selbst einmischen darf oder sogar muss. Besonders durch Heidegger ist es üblich geworden zu sagen, das Verstehen vollende sich immer erst im Auslegen, d. h. im eigenen Reden. Aber da wir beim Zuhören ja nicht sogleich selbst reden und da es Gegenbeispiele gibt – ausgelegte Witze sind keine –, zögere ich, dieser generellen Behauptung zuzustimmen. Sicher dürfte nur sein, dass das Besser-Verstehen und die Kritik, wovon die ältere Hermeneutik handelte, immer auch die eigene Sprache verlangten, wenngleich die Autoren das nicht eigens sagten. Übertragen wir den Begriff der Interpretation auf Bereiche, in denen wir gar keine Autorintention unterstellen können, also auf die Natur (wie schon Francis Bacon) oder auf die ganze Welt (wie z. B. Friedrich Nietzsche), dann heißt Interpretieren immer nur und ausschließlich selbst reden, die eigene Sprache gebrauchen, und das Verstehen als Vernehmen der Sprache des Anderen fällt aus. Wir können in solchen Fällen ganz sicher sein, dass wir es nicht mehr mit Hermeneutik im ursprünglichen Sinne zu tun haben, und zwar selbst dann nicht, wenn der sog. hermeneutische Zirkel als richtige Methode behauptet oder in Anspruch genommen wird. These 8 fasst das zusammen: Wenn das Verstehen in der älteren Hermeneutik oft als Auslegung oder Interpretation bezeichnet wird, bedeutet es an erster Stelle

53 54

Schleiermacher: Methoden des Übersetzens, S. 208. Ast: Grundlinien, S. 184.

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immer das Vernehmen und das Auffassen der Gedanken des oder der Anderen, und erst an zweiter Stelle soviel wie »in eigener Sprache auslegen und explizieren«. Fehlt jener erste Aspekt, handelt es sich um eine ganz andere Hermeneutik – oder um gar keine, mag auch immer viel vom Verstehen und Interpretieren die Rede sein.

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Der Verstehensbegriff Wilhelm Diltheys Gudrun Kühne-Bertram

In diesem Beitrag werden Begriff und Funktion des Verstehens in Wilhelm Diltheys Philosophie des Lebens untersucht. Gefragt wird nach den Voraussetzungen, Merkmalen und Grenzen des Verstehens, nach dem Verhältnis von Verstehen und Auslegen sowie nach der erkenntnistheoretischen Bedeutung des Verstehens. Einzelne Aspekte des Begriffs, die in der hermeneutischen Philosophie des frühen 20. Jahrhunderts, insbesondere in der lebensphilosophischen Logik Georg Mischs, eine Rolle spielen, werden in die Untersuchung eingebunden.

1.

Voraussetzungen und Merkmale des Verstehens

Von einem »Wunder des Verstehens« als einem »außerordentlichen Phänomen« 1 hätte Dilthey sicherlich nicht gesprochen, denn er ist davon überzeugt, dass wir uns und unsere Lebenswelt immer schon verstanden haben: »Hier verstehe ich alles.« 2 Immer begleitet uns ein vordiskursives, praktisches Wissen um uns und unsere Welt. D. h. mit Verstehen ist hier zunächst ein Situations- und Handlungsverstehen gemeint, ein normalerweiser ungebrochenes und sich selbstverständlich permanent vollziehendes Verstehen im Umgang mit Menschen und Dingen. Es handelt sich bei diesem ursprünglichen Verstehen um

Auch wenn Hans-Georg Gadamer einmal in seinem Buch Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik (Tübingen 1960, 3., erw. Aufl. Tübingen 1972, S. 294) einmal von dem »Wunder des Verstehens« spricht, so meint er damit gerade nicht ein »außerordentliches« Phänomen. 2 Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften. Bd. XX, S. 100. [Im Folgenden wird aus den Gesammelten Schriften Diltheys mit Angabe der Bandzahl in römischen und der Seitenzahl in arabischen Ziffern zitiert.] 1

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ein Wissen-um, ein Sich-auskennen-mit und Von-einander-wissen. Diese »elementaren Formen des Verstehens« gründen für Dilthey in unserem gemeinschaftlichen Zusammenleben, denn das Verstehen erwächst aus den Interessen und Anforderungen des »praktischen Lebens« (VII, 207). Es gehört zur »Wesensbestimmung des menschlichen Daseins«. 3 Diltheys Schüler Georg Misch bezeichnet es als unsere »primitive Zugangsart zur Welt überhaupt«, und er spricht mit Bezugnahme auf Schelling von einem durch Verstehen erzeugten »werktätigen Wissen«, 4 das wir immer schon besitzen. In Heideggers Fundamentalontologie wird es als »Vorverständnis« 5 bestimmt, welches die »Erschlossenheit« des menschlichen Daseins charakterisiert. 6 Dieses vorgängige Lebensverständnis bzw. elementare oder primäre Verstehen, wie Dilthey es nennt, das in jedem Lebensbezug enthalten ist, bildet den tragenden Boden, auf dem ein Verstehen im engeren Sinne überhaupt erst möglich ist. Denn dieses hat zur Voraussetzung, dass etwas oder jemand aus dem selbstverständlich funktionierenden Lebenszusammenhang herausfällt oder dass etwas Neues auftritt, das in das bestehende Geflecht vorverstandener Bezüge und Sinnzusammenhänge nicht integrierbar ist. Durch Bewusstmachung und Klärung der konkreten Situation muss dann ein Verständnis wiedergewonnen bzw. Neues in bestehende Handlungsund Sinnzusammenhänge eingebunden werden. Denn während normalerweise ein Ausdruck, ob ein Wort, eine Geste, ein Gesichtsausdruck oder eine Handlung von sich aus verständlich ist, verlangen Störungen, Irritationen, Brüche oder Widersprüche nach einer besonderen Anstrengung des Verstehens. Jede »Anstrengung des Verstehenwollens«, so formuliert Hans-Georg Gadamer, beginnt damit,

So formuliert es Otto Friedrich Bollnow in seiner Interpretation der Diltheyschen Philosophie. In: Dilthey. Eine Einführung in seine Philosophie. 3. Aufl. Stuttgart/ Berlin/Köln/Mainz 1955, S. 65. 4 Georg Misch: Der Aufbau der Logik auf dem Boden der Philosophie des Lebens. Göttinger Vorlesungen über Logik und Einleitung in die Theorie des Wissens. Hrsg. von Gudrun Kühne-Bertram und Frithjof Rodi. Freiburg/München 1994, S. 561, 200, 257 f. u. ö. 5 Zum Begriff Vorverständnis bei Heidegger und in der philosophischen Hermeneutik vgl. G. Kühne-Bertram: Vorverständnis. In: Joachim Ritter/Karlfried Gründer/ Gottfried Gabriel (Hgg.). Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 11. Basel 2001, Sp. 1268–1271. 6 Martin Heidegger: Sein und Zeit. 11. Aufl. Tübingen 1967, S. 147. Vgl. Misch: Der Aufbau der Logik, S. 203. 3

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»daß einem etwas, was einem begegnet, befremdlich, herausfordernd, desorientierend entgegentritt«. 7 Bei diesem »höheren« Verstehen, das seinen Platz bereits in unserem alltäglichen Leben hat, besonders aber dann nötig ist, wenn komplexere Zusammenhänge verstanden werden sollen, handelt es sich um bewusste Leistungen, die immer dann nötig sind, wenn Störungen der »naiven Lebenssicherheit« vorliegen, welche es zu beheben gilt. 8 Weil der jeweils erforderliche Aufwand zur Wiederherstellung oder zur Neugewinnung des Verständnisses aber unterschiedlich groß ist, unterscheidet Dilthey verschiedene Grade des Verstehens. (VII, 51) Die höchste Ausprägung erlangt das Verstehen in den Wissenschaften, besonders in den Geisteswissenschaften, in denen es zur methodisch geleiteten Auslegung oder Interpretation entwickelt ist. Ein allgemeines Merkmal allen Verstehens ist seine Angewiesenheit auf einen Ausdruck. Dieser kann eine Gebärde oder Miene, eine Geste oder Handlung, eine mündliche oder schriftliche Äußerung, eine Vergegenwärtigung von Erinnertem oder Imaginiertem oder auch ein von Menschen geschaffenes Gegenständliches sein. Dilthey definiert das Verstehen als einen »Vorgang, in welchem wir aus sinnlich gegebenen Zeichen ein Psychisches, dessen Äußerung sie sind, erkennen«. (V, 318) D. h. verstanden wird ein Seelisches oder Geistiges, das in einer wahrnehmbaren Lebensäußerung verkörpert und objektiviert ist. Prinzipiell gilt damit, dass nur dasjenige, was ausgedrückt oder ausdrückbar ist, verstanden werden kann. Das Verstehen kann sich nur in der Vermittlung über den Ausdruck vollziehen, der seine Voraussetzung bildet. Deshalb nimmt es immer den Weg »von außen nach innen«. (VII, 82) Angeregt durch Husserls Logische Untersuchungen befasst sich Dilthey in seinen letzten Lebensjahren erneut mit dem Verhältnis von Ausdruck und Verstehen, indem er sich mit dem Begriff des Zeichens auseinandersetzt. Er unterscheidet nun zwischen dem Ausdruck als einer Lebensäußerung und einem »künstlichen Zeichen«, das ebenfalls als eine Art des Ausdrucks bestimmt ist: Während bei der Lebensäußerung das »logische Gerüst« des Verstehens in dem »Verhältniß des Ausdrucks zu dem was der Ausdruck meint oder beHans-Georg Gadamer: Hermeneutik II. Wahrheit und Methode. Ergänzungen. Register. Gesammelte Werke. Bd. 2. Tübingen 1993, S. 185. 8 Bollnow: Dilthey, S. 205. 7

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deutet« liegt und der »Akt selbst ein Schluß vom Ausdruck auf das, was er bedeutet, sonach eine Form der Induktion« ist, besteht bei den »künstlichen Zeichen« diese Beziehung zwischen dem Ausdruck und seiner Bedeutung nicht. Es handelt sich hier vielmehr nur um die »Festlegung einer regelmäßigen Beziehung«. Eine Gebärde oder ein Satz kann daher verstanden werden kann, die »Auffassung und Benutzung eines Signals« aber liegt »jenseits der Grenzen des Verstehens im eigentlichen Sinn«. 9 Diese Erweiterung seiner Untersuchung des »Kreises der Formen des Verstehens« führt Dilthey dazu, die »logische Theorie« des Verstehens in die »logische Lehre von den Zeichen oder die Semiotik« einzugliedern. 10 Diltheys Theorie des Verstehens hat ihren Platz in seinem Versuch einer logischen Analyse des Zusammenhangs von Leben und Erkennen, die den Weg des Denkens von der Selbstbesinnung bis hin zur Erkenntnis des menschlichen Lebens und der gesellschaftlich-geschichtlichen Welt aufweisen will. Drei Arten von Lebensäußerungen nennt Dilthey, die in unterschiedlichen Graden fähig sind, »gleichsam in das Innere [dieses Zusammenhangs] aufklärendes Licht zu werfen«: 11 1. Der Ausdruck »im engeren Sinne«: Hier besteht eine »besondere Beziehung zwischen dem Leben, ihm selber und dem Verstehen«. Gerade deshalb hat er das Merkmal der Flüchtigkeit, und ein »objektives Verstehen« dieses »Erlebnisausdrucks« ist kaum möglich. Er tritt in einer bestimmten Situation auf und kann deshalb nur konkret »gedeutet« werden. Lediglich die großen Werke der Literatur, Musik und Kunst sind dieser Flüchtigkeit und Vergänglichkeit des Verstehens enthoben. Sie bedürfen allerdings eines »kunstmäßigen Verstehens«, der Auslegung oder Interpretation. 2. Die Handlung oder Tat: Sie tritt »durch die bloße Macht ihres Beweggrundes oder den Entschluß, die Entscheidung aus der Fülle des Lebens« in einer bestimmten »Einseitigkeit« aus dem »bewegten Innenleben in die Außenwelt« hinaus. Andere Handlungsmöglichkeiten »sind verschwunden, wenn die Tat da ist«. Das Verstehen vollzieht sich hier im Aufsuchen der Beziehung zwischen einer Tat und Aus dem handschriftlichen Nachlass Wilhelm Diltheys, in: Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften Berlin, Dilthey-Nachlass, Fasz. 212, Bl. 251–252. 10 Ebd., Bl. 251 R. 11 Aus dem handschriftlichen Nachlass Wilhelm Diltheys, Fasz. 241, Bl. 376–376 R. – Zum Folgenden vgl. ebd., Bl. 376–382 R sowie GS VII, 205 ff. 9

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den Wirkungen, die sie hervorbringt. Dies ist der Aufgabenbereich besonders des historischen Verstehens, das von den sichtbaren Wirkungen auf die Motive von Handlungen und Ereignissen zurückschließt. 3. Begriffe, Urteile und »Denkgebilde als Bestandteile der Wissenschaft«: Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie keinen Hinweis mehr enthalten auf »die Besonderheit des Lebens, aus dem sie hervorgingen«. Der Ausdruck hat hier keine Beziehung mehr »zum dunklen Hintergrund, zu der Fülle des Seelenlebens«. Sein Vorzug aber besteht darin, dass es sich hier um eine »vollständige Übertragung eines geistigen Gebildes wie durch einen äußeren Transport« in denjenigen handelt, der den Ausdruck vernimmt. Misch nennt diese Art des Ausdrucks später »rein diskursiv«. 12 In ihr ist das Gemeinte vollständig enthalten und eindeutig festgestellt. Derartige sprachliche Ausdrücke bedürfen keiner Verstehensbemühung, und es besteht kein Interpretationsspielraum. Das Verstehen erstreckt sich so auf alle Bereiche menschlichen Denkens, Fühlens und Handelns, und es ist ebenso universal wie der Ausdruck. 13 Verstehen ist, wie Dilthey es im Zuge der Umarbeitung seiner Poetik im Jahre 1907/08 ausdrückt, »korrelativ zu in einem Ausdruck gegeben sein«, und das in einem Ausdruck Enthaltene kann »nur verstanden werden«. 14 Misch formuliert diesen Zusammenhang ganz ähnlich: »Es gehören zueinander: Verständlich sein und in einem Ausdruck gegeben sein«. 15 Er bezeichnet den Ausdruck als eine »Verkörperung des Gedankens« und das Verstehen als dessen »Entkörperung«. 16 Das Sich-Ausdrücken und der Ausdruck verhalten sich zueinander wie Aktion und Reaktion. 17 Dilthey beschreibt den Vorgang des Verstehens desweiteren als ein »in meiner Seele Nachbilden«, (XX, 100) als einen Nachvollzug des im Ausdruck Ausgedrückten. Es handelt sich um die »Transposition« des eigenen Erlebens in das zu Verstehende. (VII, 118) Dilthey bezeichnet das Verstehen deshalb als ein »Wiederfinden des Ich im Du«, (VII, 191) was nicht nur für das Verstehen anderer Personen, Misch: Der Aufbau der Logik, bes. S. 503 ff. Ebd., S. 567. 14 Aus dem handschriftlichen Nachlass Wilhelm Diltheys, Fasz. 241, Bl. 368; vgl. Bl. 370 R–371. 15 Misch: Der Aufbau der Logik, S. 125. 16 Ebd., S. 136. 17 Ebd., S. S. 83. 12 13

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sondern auch für das Verständnis von Kultur und Geschichte gilt. Letztlich erkennt der Mensch in der geisteswissenschaftlichen Erkenntnis immer sich selbst, denn das »Subjekt des Wissens ist hier eins mit seinem Gegenstand«, der auf »allen Stufen seiner Objektivation derselbe« ist. (ebd.) Grundsätzlich möglich ist das Verstehen auf der Basis der »Sympathie mit allen Menschen«, (XX, 100) d. h. auf der Grundlage der von Dilthey vorausgesetzten allgemeinen menschlichen Natur. Eine Konsequenz hieraus, die er auch zieht, besteht darin, dass letztlich »allein der Mensch dem Menschen verständlich ist; alles übrige verstehen wir nur aus der Analogie desselben«. 18 Doch obwohl uns in der menschlichen Welt auf der Basis der »allgemeinen Menschennatur« grundsätzlich alles verstehbar ist, kann dennoch nicht jeder alles unbegrenzt verstehen. Denn aufgrund unserer historischen Gebundenheit kann das Verstehen immer »nur relativ« sein. (XIX, 439) Dilthey hält daher das nihil humanum est me alienum (Terenz) für eine »Illusion«. (XX, 100) Wie die Auslegung, bei der Einfühlsamkeit, Intuition, Divination und Phantasie eine Rolle spielen, (vgl. V, 332) ein Werk der persönlichen Kunst des Interpreten ist, so sind auch die Möglichkeiten des in ihr wirksamen Verstehens nicht von der Individualität des Verstehenden abtrennbar; (vgl. V, 277) es ist abhängig von dem »Reichtum des eigenen Seelenlebens«. (XIX, 439) Hierin liegt eine weitere Voraussetzung des Verstehens. (vgl. VII, 311) Der Erfahrungshintergrund und das Vorwissen des Verstehenden, Sympathie- und Antipathiegefühle und damit zusammenhängend Interesse und Aufmerksamkeit entscheiden über die Möglichkeit, Richtung und Intensität des Verstehens. Das bedeutet zugleich, dass Verstehen dort unmöglich ist, »wo die Analogie unseres Innern aufhört«. (XX, 106) Dilthey definiert das Verstehen desweiteren als einen Vorgang, in dem aus dem in einem Ausdruck Gegebenen ein bestehender Zusammenhang nachgeschaffen wird, wie z. B. aus einer Wortfolge ein sinnvoller Satz. Bekannt sein muss zumindest vage die Bedeutung der einzelnen Bestandteile des Satzes, so dass sich im Horizont der somit schon vorverstandenen Worte das Verständnis des ganzen Satzes vollziehen kann, welches wiederum ein genaueres Bestimmen der einzelnen Teile ermöglicht, um von hier aus erneut den Sinn des Ethica. Aus den Tagebüchern Wilhelm Diltheys (1854–1864). Für die LitteraturGesellschaft in Berlin herausgegeben. Berlin 1915, S. 24.

18

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Der Verstehensbegriff Wilhelm Diltheys

Ganzen zu entwerfen. In den Worten Diltheys heißt dies: Das Verstehen ist der »Fortgang, der vom Auffassen unbestimmt-bestimmter Teile zum Versuch weitergeht, den Sinn des Ganzen zu erfassen, abwechselnd mit dem Versuch, von diesem Sinn aus die Teile fester zu bestimmen«. (VII, 227) »Aus dem Einzelnen das Ganze, aus dem Ganzen doch wieder das Einzelne […] So aus dem Ganzen das Verständnis, während doch das Ganze aus dem Einzelnen.« (V, 334) Diese zirkuläre Struktur, der sog. hermeneutische Zirkel, ist auch nach der Auffassung Mischs aufgrund der besonderen im Erleben und Verstehen gegebenen Art des Wissens unumgänglich. 19 Er macht das »Wesen des Verstehens« aus, und er zeigt zugleich die Produktivität des Verstehensvollzugs an. 20 Dass Dilthey diese unaufhebbare zirkuläre Bewegung als eine Aporie ansieht, (V, 334) ist für Misch ein Indiz dafür, dass sein Lehrer an diesem Punkt »seine eigenste Intention nicht radikal genug durchgeführt« hat. 21 Misch dagegen betont, dass diese zirkuläre Bewegung »prinzipiell Anerkennung in der logischen Theorie des Wissens« beanspruchen müsse. 22 Dass der Verlauf des Denkens im Vorgang des Verstehens nicht »gradlinig« sein kann, sondern vom »Ganzen zum Teil und wieder vom Teil zum Ganzen« 23 geht, hat seinen Grund darin, dass das Verstehen kein rein intellektueller Prozess ist, sondern alle »Gemütskräfte« daran beteiligt sind. (V, 172) Das Verstehen fremder Lebensäußerungen bildet mit dem eigenen Erleben und Erfahren einen wechselseitig aufeinander bezogenen Zusammenhang. Dilthey spricht von einem strukturellen »Wirkungszusammenhang«, und dieser ist in ständiger Wandlung begriffen. (VII, 257) Denn zum einen muss sich der Verstehende selbst in den Verstehensprozess einbringen, und zum anderen bewirkt ein gelungenes Verstehen eine Bewusstseinsveränderung und -erweiterung des Verstehenden. (vgl. VII, 259) Er erfährt immer mehr über sich selbst. Das wachsende Verstehen erweitert deshalb die Selbsterkenntnis, und es eröffnet Perspektiven in Richtung auf neue Anschauungs-, Denk- und Handlungsmöglichkeiten. (vgl. VII, 214) Der Mensch lernt sich daher am besten über den Umweg des Verstehens der geistigen Welt kennen. (VII, 86 f.) 19 20 21 22 23

Misch: Der Aufbau der Logik, S. 500. Ebd., S. 480. Ebd., S. 479 f. Ebd., S. 481; vgl. S. 500. Ebd., S. 481.

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Für Misch, der Diltheys Lehre des Zusammenhangs von Leben, Ausdruck und Verstehen in Richtung auf eine Verstehens- und Auslegungstheorie im Rahmen der Theorie der Geisteswissenschaften weiter auszuarbeiten versucht, ist Verstehen daher immer Aneignung. Erkennbar ist dies an einem Kriterium, das er für ein gelungenes Verstehen angibt, nämlich die Befähigung, das Gemeinte und im Ausdruck objektivierte Geistig-Seelische in neuer Weise artikulieren zu können. Er spricht deshalb mit Arthur Stein von »hermeneutischen Gegenständen«, mit denen es die Geisteswissenschaften vornehmlich zu tun haben. 24 Sie sind auslegend in zweifacher Hinsicht: Zum einen hat sich in ihnen das Leben in bestimmter Weise ausgelegt, und zum anderen bedürfen diese Lebensäußerungen wiederum des Verstehens und der Interpretation. Schon Dilthey äußert, dass der Ausdruck »aus unzugänglichen Tiefen« des Lebens etwas heraushebt, und im Verstehen werden diese Momente und Aspekte des Lebens zugänglich. (VII, 220) Damit ist der Ausdruck »produktivartikulierend« und »aufklärend«, 25 und das Verstehen ist ein ebenso produktiver Nachvollzug dieses Schaffens. Wenn Dilthey das Verstehen als einen Vorgang bezeichnet, »in dem wir aus Zeichen, die von außen gegeben sind, Inneres erkennen« (VII, 309), so darf die Bedeutung des Wortes »Inneres« nicht missverstanden werden. Denn gemeint ist hiermit nicht nur das Verstehen des seelischen Innenlebens eines anderen Menschen. Vielmehr werden im Verstehen einer Lebensäußerung der Sinn und die Bedeutung eines im Ausdruck gefassten und damit in gewisser Weise objektivierten Phänomens oder Sachverhaltes nachvollzogen. Misch definiert das Verstehen deshalb als die »Auffassung dessen, was mit einem Ausdruck gemeint ist«. 26 Da dieses Gemeinte Teil unserer »gemeinsamen geistigen Welt« 27 ist, liegt eine weitere Voraussetzung des Verstehens in der Zugehörigkeit von Verstehendem und zu Verstehendem zu einer beide umfassenden vorverstandenen Lebens- und Ausdruckswelt. Jeder Einzelne lebt in einem ständigen Austausch von Sich-Ausdrücken und Verstehen mit anderen. Die wechselseitigen Ebd., S. 281, 554, 565, 571 f. Vgl. Arthur Stein: Der Begriff des Geistes bei Dilthey. Bern 1913, S. 22, 79, 102, 105. 25 Misch: Der Aufbau der Logik, S. 72, 549. 26 Ebd., S. 566. – In GS VII, S. 205 fasst Dilthey allerdings den Begriff des Ausdrucks weiter. 27 Otto Friedrich Bollnow: Studien zur Hermeneutik. Bd. I. Freiburg/München 1982, S. 107. 24

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Einwirkungen aufeinander und die hierdurch hervorgerufenen Entwicklungen und Veränderungen gelten nicht nur für den Einzelnen und das menschliche Zusammenleben, sondern sie gestalten auch den Umgang mit allem von Menschen Geschaffenem. So besteht in der individuellen Lebensgeschichte wie auch in Gesellschaft und Geschichte überall die Struktur des Verhältnisses zwischen »Ganzem und Teilen«, der generellen »Form des Wirkens in der geschichtlichen Welt«. (VII, 257) »Wie Worte eine Bedeutung haben […] oder Sätze einen Sinn«, so kann auch z. B. aus der »bestimmt-unbestimmten Bedeutung der Teile des Lebens dessen Zusammenhang konstruiert werden«. (VII, 233) Weil sich das Verstehen aber immer nur in einem je bestimmten historischen Erfahrungsraum und in konkreten Lebensbezügen vollzieht, aus denen es nicht heraustreten kann, liegt in der geschichtlichen Gebundenheit zugleich eine Grenze. Wir können immer nur von unserem gegenwärtigen Standpunkt aus verstehen, (VII, 236) und deshalb verstehen wir auch »nur soviel von Vergangenheit, als unserer Gegenwart kongenial ist«. (XX, 110) Wenn Dilthey auch das Verstehen als ein Nachbilden des Ausgedrückten in der eigenen Seele beschreibt, so kann es doch niemals eine ungebrochene Widerspiegelung des Gemeinten sein, das im Ausdruck verkörpert ist. Denn eine »Identität von Seele und Ausdruck«, von Innen und Außen und dementsprechend eine Kongruenz von Ausdruck und Verstehen ist unmöglich. 28 Eine dem widersprechende Auffassung, die Bollnow bei einigen Lebensphilosophen, wie z. B. bei Ludwig Klages und auch bei Dilthey zu erkennen meint, ignoriere, dass es einen innerlichen Bereich des menschlichen Daseins gibt, »der sich grundsätzlich jeder Ausdrückbarkeit entzieht«. 29 So liegt eine letzte unüberwindliche Grenze des Verstehens in dem Faktum unserer eigenen Existenz. Sie ist »jenseits der Möglichkeit eines eigentlichen Verstehens«. 30 »Existenz selbst«, so charakterisiert Karl Jaspers diese Tatsache, ist »unverstehbar«. 31 Das Verstehen könne nur deren Unverstehbarkeit offenbar machen. 32 Auch Dilthey weiß selbstverständlich, dass das Leben im Ganzen angesichts der unaufVgl. ebd., S. 108. Ebd., S. 109. 30 Ebd., S. 112. 31 Karl Jaspers: Philosophie II: Existenzerhellung. 4. Aufl. Berlin/Heidelberg/New York 1973, S. 12. 32 Karl Jaspers: Philosophie I: Philosophische Weltorientierung. 4. Aufl. Berlin/Heidelberg/New York 1973, S. 47. 28 29

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löslichen Geheimnisse von Geburt und Tod etc., die den »Mittelpunkt aller Unverständlichkeiten« bilden, letztlich nicht aufklärbar ist. (VIII, 80) Obwohl uns in der Lebenspraxis »an uns selbst ja alles selbstverständlich ist«, verstehen wir uns daher im Grunde doch nicht. (VII, 225) Denn Gefühle, Erfahrungen, Lebenswerte etc. entziehen sich häufig einer klaren und eindeutigen Ausdrückbarkeit. Sie sind nur schwer sprachlich fassbar und mitteilbar, und sie kommen oft nur in ihren Wirkungen, im Gebaren oder in Taten, zum Ausdruck.

2.

Verstehen, Auslegung und Hermeneutik

Nicht nur das Verstehen, sondern auch das Auslegen sind Bestandteile unseres alltäglichen Lebens. Wie für das Verstehen so gilt auch für das Auslegen, dass es unmöglich wäre, wenn uns die Äußerungen des Lebens »gänzlich fremd wären«, und es wäre unnötig, wenn »in ihnen nichts fremd wäre«. (VII, 225) Dilthey bestimmt es als eine höhere Stufe des Verstehens und charakterisiert die Auslegung als eine »nur kunstmäßige Ausbildung« des Verstehens, welches »sich über das ganze Leben erstreckt«. (V, 329) Bereits Schleiermacher habe das Auslegen vom Verstehen lediglich »wie das laute Reden von dem inneren Reden« unterschieden. (XIV, 724) Die Auslegung oder Interpretation gründet damit im Verstehen, nur ist sie lebensferner und somit abstrakter. In der Auslegung erreicht nach Diltheys Auffassung das Verstehen seine »höchste Vollkommenheit«, sowohl hinsichtlich des Ausschöpfens des Gehaltes des zu Verstehenden als auch hinsichtlich der allgemeinen Gültigkeit der Ergebnisse der Interpretation. (VII, 309) Dass die Begriffe Verstehen und Auslegen für Dilthey in engster Verbindung miteinander stehen und er die Auslegung oder Interpretation als eine nur methodisch geleitete und auf Objektivität und Überprüfbarkeit ausgerichtete Form des Verstehens ansieht, macht schon sein unscharfer terminologischer Gebrauch dieser Begriffe deutlich. Er unterscheidet manchmal beide nicht klar, wenn er z. B. das Verstehen als einen Vorgang definiert, in dem sich »die Interpretation der Sinneserscheinungen an Lebewesen« vollzieht, (VII, 51) oder wenn er die »kunstmäßige Auslegung« als die »Vollendung« von Verstehen und Interpretation bezeichnet, (V, 328) während er

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an anderer Stelle die Begriffe Auslegung und Interpretation synonym verwendet. (VII, 216) Als ein wesentliches Merkmal der Auslegung nennt Dilthey wiederholt ihre Intention auf einen »kontrollierbaren Grad von Objektivität«. Die Voraussetzung hierfür ist, dass die zu verstehenden Lebensausdrücke »dauernd fixiert« sind, um immer wieder auf sie in ihrer fertigen und unveränderlichen Form zurückkommen zu können. (V, 319; VII, 217) Und da das menschliche Denken und Empfinden im Unterschied zu anderen Arten des Ausdrucks am Klarsten und Deutlichsten in der Sprache zum Ausdruck kommt, haben für Dilthey die schriftlich fixierten Lebensäußerungen den Vorrang in der Auslegung. (vgl. V, 319) Die Kunst des »Verstehens und Auslegens« ist der Gegenstand der Hermeneutik. (XIV, 330) Dilthey bezeichnet sie als eine »Wissenschaft« und spricht so von einer »hermeneutischen Wissenschaft« (XIV, 597; V, 320) oder der »allgemeinen Wissenschaft und Kunstlehre des Auslegens«. (V, 329) In seiner Vorlesung über Anthropologie und Psychologie als Erfahrungswissenschaft aus dem Wintersemester 1881/82 definiert Dilthey die Hermeneutik in umfassender Weise als »die Theorie der Auslegung eines gesprochenen oder geschriebenen Ganzen mit den Hilfsmitteln der grammatischen und psychologischen Kenntnis«. (XXI, 379) Doch primär ist ihr Gegenstand »die Auslegung von schriftstellerischen und Kunstwerken«. (XVIII, 109) Dilthey schreibt der Hermeneutik die Aufgabe zu, das Verstehen zu analysieren und die Möglichkeiten und Grenzen des Verstehens aufzuzeigen, um auf dieser Grundlage methodische Regeln für die Auslegung aufzustellen. (vgl. V, 329; XIV, 330) Die zu seiner Zeit bestehende Hermeneutik charakterisiert Dilthey als das Ergebnis einer »philosophischen Verallgemeinerung« der im Einzelnen angewandten Methoden der Auslegung. Schon in seiner Preisschrift über Schleiermachers Hermeneutik nimmt er sich vor nachzuweisen, dass die alte, »bloß summarisch aufzählende Hermeneutik« erst von Schleiermacher durch das Auffinden »hermeneutischer Kategorien« zu einer »wahren Hermeneutik« entwickelt worden sei. 33 Denn Schleiermacher sei der erste gewesen, der von den Ethica. Aus den Tagebüchern Wilhelm Diltheys (1854–1864), S. 51. Dilthey wurde im Februar 1860 der Preis der Schleiermacher-Stiftung in Berlin zuerkannt. Die Preisaufgabe im Jahre 1859 lautete: »Das eigentümliche Verdienst von Schleiermachers Hermeneutik ist durch Vergleichung von älteren Bearbeitungen dieser Wissenschaft,

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bestehenden Auslegungsregeln auf das ihnen zugrundeliegende Verstehen zurückgegangen sei, (V, 327) und er habe als erster eine »allgemeine Hermeneutik« entwickelt. (vgl. V, 328 f.) Dilthey stellt, wie auch Schleiermacher selbst, 34 die Disziplinen der Hermeneutik und der Dialektik in engen Zusammenhang. Schleiermachers Dialektik bezeichnet er als »die erste erkenntnistheoretische Logik«. (XIV, 157) Er charakterisiert sie damit als eine »Grundlegung der realen Wissenschaft«, (ebd.) die nicht die Inhalte des Denkens ausblendet, sondern gerade die Beziehung des Denkens auf das, worauf es sich bezieht, im Blick hat. Das produktive Zusammenwirken von Hermeneutik und Dialektik sieht Schleiermacher in der »vollkommene[n] Wechselwirkung zwischen beidem, die aber nicht unfruchtbare Kreisbewegung ist, sondern die sich immer mehr entwikkelnde und durchsichtig werdende Klarheit im Denken selbst.« 35 Der Grund für dieses Auf-einander-bezogen-Sein von Hermeneutik und Dialektik liegt in der von beiden Denkern angenommenen Einheit von Denken und Sprache, in welcher sich das Gedachte und das Verstehen und Auslegen desselben artikuliert. (XIV, 770; vgl. ebd., 742 f.) So ist für Schleiermacher die Sprache »nur durch das Denken, und umgekehrt«, 36 und ebenso ist für Dilthey das Denken »diesseits und jenseits der Sprache«; es entwickelt sich »durch die Sprache hindurch«. (XXIV, 23, 90) Schleiermacher strebt eine Philosophie an, die »das Wissen des Wissens sein soll«. 37 Verstanden als die »vollkommne Entwikklung des Bewußtseins« 38 soll sie den »innern Zusammenhang alles Wissens« 39 herstellen. Diese Aufgabe kommt der Dialektik als grundlegendem Teil der Philosophie zu. Schleiermacher bestimmt sie als Wissenschaftslehre oder Theorie des Denkens und Erkennens, welche namentlich von Ernesti und Keil ins Licht zu setzen.« Vgl. hierzu: Wilhelm Dilthey: Briefwechsel. Bd. I: 1852–1882. Hrsg. von Gudrun Kühne-Bertram und Hans-Ulrich Lessing. Göttingen 2011, S. 109, Anm. 3 sowie S. 129, Anm. 4. Diltheys »Preisschrift« blieb zu seinen Lebzeiten unveröffentlicht; sie liegt vor in dem XIV. Band der Gesammelten Schriften, S. 595–787. 34 Friedrich Schleiermacher: Dialektik. Aus Schleiermachers handschriftlichem Nachlasse. Hrsg. von Ludwig Jonas. Berlin 1839 (= Friedrich Schleiermacher’s literarischer Nachlaß. Zur Philosophie. Zweiten Bandes zweite Abtheilung), S. 260. 35 Ebd., S. 260 f. (Vorl. 1818). 36 Ebd., S. 261 (Vorl. 1818). 37 Ebd., S. 11, Anm. 38 Vgl. ebd., S. 5. 39 Ebd., S. 2.

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die Entstehung und die Regeln der Produktion des Wissens untersucht, »um das Fundament für einen Wissenschaftsorganismus zu entdecken und um Regeln für die Schlichtung wissenschaftlicher Streitfragen bereitzustellen«. 40 Sie ist das »Organon des Wissens, d. h. der Sitz aller Formeln seiner Construction«. 41 Weil die Dialektik die Grundsätze für die »kunstmäßige Gesprächführung im Gebiet des reinen Denkens« 42 aufzustellen hat, braucht sie zur Ergänzung die Hermeneutik oder Auslegungskunst, welche die Regeln für das Verstehen sprachlicher Zusammenhänge auffindet. 43 Dilthey sieht, anders als Schleiermacher, eine Gemeinsamkeit von Hermeneutik und Dialektik in beider Intention auf die Gewinnung von Wissen. (vgl. XIV, 697) Wie sich die Reflexion über die Erkenntnis der natürlichen und geistigen Welt in dem strukturellen Zusammenhang von Einzelnem und Ganzem in der Dialektik als Wissens- und Wissenschaftslehre aufbaut, so klärt seiner Meinung nach in ähnlicher Weise auch die Hermeneutik den Prozess des Verstehens auf, der sich in der Schaffung eines Zusammenhangs aus den einzelnen Teilen eines Ganzen vollzieht, welche wiederum aus dem gewonnenen Zusammenhang des Ganzen zu genauerem Verständnis kommen. (vgl. XIV, 222; XX, 107) So spiegelt sich die Zirkelstruktur sowohl des Verstehens als auch des Erkennens in der wechselseitigen Angewiesenheit beider Disziplinen aufeinander wider. Dilthey resümiert: »So enden wir auch hier wieder mit der Erkenntnis von der Kreisbewegung im menschlichen Wissen.« (XIV, 206) Über Schleiermacher hinausgehend versucht Dilthey damit die Hermeneutik gegenüber der Dialektik aufzuwerten, indem er im Unterschied zu Schleiermacher auch den Methoden des Verstehens und Auslegens von Kunstwerken »ein Realisieren der Idee des Wissens« zuspricht. (vgl. XIV, 697) 44 Während für Schleiermacher das Wissen

Gunter Scholtz: Die Philosophie Schleiermachers. Darmstadt 1984, S. 106. Schleiermacher: Dialektik, S. 22. 42 Ebd., S. 568. 43 Vgl. ebd., S. 260 (Vorl. 1818). 44 Scholtz legt plausibel dar, dass diese Interpretation Diltheys ihren Grund auch in dem »ungeklärten wissenschaftstheoretischen Problem« hat, »wie bei Schleiermacher das Erkennen und Wissen […] sich zum Verstehen verhält«. Nachweisbar jedenfalls ist, dass das Verstehen und Auslegen als wissenschaftliche Methoden in Schleiermachers Dialektik an keiner Stelle vorkommen. Vgl. Gunter Scholtz: Ethik und Hermeneutik. Schleiermachers Grundlegung der Geisteswissenschaften. Frankfurt a. M. 1995, S. 254; vgl. S. 108. 40 41

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»der Art nach nicht zwiefach, sondern einfach« ist, 45 unterscheidet Dilthey auf dem Boden seines lebensphilosophischen Ausgangspunktes zwei Seiten desselben: Es gibt ein Wissen von der äußeren Welt, dessen Theorie die Dialektik ist, und ein Wissen von der inneren Welt, dessen Theorie die Hermeneutik ist. Deshalb sei auch in der Hermeneutik im »ganzen Umfang der Selbstbesinnung und der hermeneutischen Operationen […] die erkenntnistheoretische Frage primär zu stellen«. (VIII, 175) Damit bildet die Hermeneutik, deren Aufgabe in der Analyse des Verstehens besteht, (vgl. V, 333) einen Hauptbestandteil in Diltheys erkenntnistheoretisch-logisch-methodologischer Begründung der Geisteswissenschaften. (V, 331) Vor diesem Hintergrund fordert er, dass die Hermeneutik in Beziehung treten müsse zu der »allgemeinen erkenntnistheoretischen Aufgabe«. (VII, 218) Ihr obliegt es, die Möglichkeiten einer Erkenntnis der gesellschaftlich-geschichtlichen Welt auszuloten, indem sie die logischen Formen des Verstehens untersucht und den hier »erreichbaren Grad von Allgemeingültigkeit« bestimmt. (VII, 218) Für Dilthey ist somit die »Wissenschaft der Hermeneutik« (XX, 107) ein »Teil der Erkenntnistheorie«, (VI, 311) welcher auf das Erkennen der geistigen Welt gerichtet ist, denn in den Geisteswissenschaften bilden die »Vorgänge von Verständnis und Auslegung« dessen Basis. (V, 317) So fragt Dilthey danach, wie ein »objektives geisteswissenschaftliches Wissen« möglich ist und mit welchen Mitteln. (VII, 121) Denn mit der Methode des Verstehens kann nur Einzelnes als ein Allgemeines erkannt werden. Die Leistung des Verstehens für die geisteswissenschaftliche Erkenntnis besteht in individuellen »Einzelanschauungen«, die »gesättigt von einem Allgemeinen« (XX, 101), etwas Typisches, Regelhaftes oder Charakteristisches in seinen bestimmten Verkörperungen in einem Einzelnen erkennen lassen. Das so in der konkreten Anschauung Erkannte ist allerdings niemals in Definitionen und allgemeinen Sätzen repräsentierbar, sondern in immer nur relativ gültigen Begriffen und Aussagen. Der Wissenschaftscharakter der Geisteswissenschaften hängt deshalb davon ab, ob und bis zu welchem Grad ein »Verständnis des Singulären zur Allgemeingültigkeit erhoben werden kann«. (V, 317)

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Schleiermacher: Dialektik, S. 28.

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3.

Zur erkenntnistheoretischen Bedeutung des Verstehens

Nach Dilthey sind alle Wissenschaften auf »objektive Erkenntnis« (VII, 313) und die Erlangung allgemeingültigen Wissens ausgerichtet, wenn auch eine Erkenntnis »im strengen Verstande« in den Geisteswissenschaften nicht möglich ist. (XX, 326) Die »Logik als Methodenlehre« oder »Wissenschaftslehre« hat für ihn die Rolle einer Vermittlerin der Natur- und Geisteswissenschaften, denn sie gibt die Methoden zur Erkenntnisgewinnung, die in den Naturwissenschaften ausgebildet wurden, an die Geisteswissenschaften weiter. (XVIII, 61) Doch dürfen, so schränkt Dilthey ein, die naturwissenschaftlichen Methoden nicht schlicht auf die Arbeit der Geisteswissenschaften übertragen werden, (XVIII, 78) weil in diesen die Art der Erkenntnis eine andere ist. (XVIII, 63) Dilthey will daher das Verstehen als die vornehmliche Methode der Geisteswissenschaften »in wissenschaftstheoretischer Absicht« analysieren. (VII, 205) Was ihn im Zusammenhang seines Versuchs einer Grundlegung der Geisteswissenschaften interessiert, sind damit erklärtermaßen die »logischen Formen des Verstehens«. (VII, 218) Wie das Erklären so dient auch das »Denkverfahren des Verstehens« (VII, 219) dem Wissenserwerb. Dilthey fragt deshalb danach, inwieweit Erlebtes, das in der Selbstreflexion zu Bewusstsein kommt, logisch begriffen werden kann und in welchem Umfang das Verstehen, mit dem sich die Hermeneutik befasst, möglich und begründbar ist. Sein erklärtes wissenschaftstheoretisches Ziel ist es damit, den hinsichtlich der Allgemeingültigkeit der Erkenntnis aufsteigenden Weg von der Selbstbesinnung über die Hermeneutik zum Naturerkennen zu verfolgen, deren Gemeinsamkeit darin liegt, dass sie letztlich alle das Verhältnis »des Lebens zum Erkennen« zu ihrer Grundlage haben. (VIII, 174) In besonderer Weise gilt dies für die Geisteswissenschaften, die in dem Zusammenhang von Erleben, Ausdruck und Verstehen gründen, der sowohl ihre Basis als auch das Ziel ihrer Erkenntnis bildet. (VII, 71; vgl. VII, 118) Denn in ihnen sind alle Begriffe, Urteile, Schlüsse und Theorien »Abkömmlinge von Erleben und Verstehen«, und »die Fülle des Lebens« klingt selbst in den »abstraktesten Sätzen« dieser Wissenschaften nach. (VII, 119) Geisteswissenschaftliche Erkenntnisse bleiben so immer an den Lebenszusammenhang zurückgebunden, aus dem sie entsprungen sind. Im Verstehen, dessen Gegenstand das Leben in seinen Äußerungen und Objektivationen ist, (vgl. VII, 148) wirken das individuelle Erleben, 55 https://doi.org/10.5771/9783495817650 .

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das Nacherleben fremden Lebens sowie Einsichten in das menschliche Leben im Ganzen und die geschichtliche Welt zusammen. (vgl. VII, 143,146) In den Geisteswissenschaften verstehen wir »immer mehr, als wir wissen«, (XIX, 450) weil uns ihre Objekte vorgängig »von innen verständlich« sind und wir immer schon verstanden haben, um dann »allmählig zu erkennen«. (I, 109) Dilthey setzt damit das Verstehen in einen Zusammenhang mit dem Wissen, das ursprünglich mit dem Erleben und Verstehen verbunden ist. (VII, 18, 25) Indem er allerdings zwei Seiten desselben unterscheidet, das »Wissen als Erkennen« und das »Wissen als Erleben und Verstehen«, (XX, 327) trifft er aber auch eine Unterscheidung zwischen dem Verstehen und dem Erkennen. Er will damit zum Ausdruck bringen, dass unser vorwissenschaftliches Verstehen und Wissen durch »fortschreitende Analysis« zu immer deutlicherem Bewusstsein und schließlich in der geisteswissenschaftlichen Arbeit zu objektiver Erkenntnis gebracht werden kann. Das Verstehen stellt somit gewissermaßen eine Vorstufe des Erkennens dar. Es gewinnt aber eine andere Qualität, wenn Erlebtes und Verstandenes verallgemeinert und in Begriffen, Urteilen und allgemeinen Aussagen gefasst werden. Dann fällt es »unter den Allgemeinbegriff des Erkennens«, das Dilthey als einen Vorgang definiert, in dem ein »allgemeingültiges Wissen angestrebt wird«. (V, 332; vgl. VII, 315 f.) Die Geisteswissenschaften bilden einen »Erkenntniszusammenhang«, der alle historischen und gegenwärtigen Erlebnisse und Erfahrungen umfasst. (vgl. VII, 304) Für alle ihre Operationen ist das Verstehen die »grundlegende« Methode. (V, 333) Deshalb ist eine wichtige Aufgabe in der Fundierung der Geisteswissenschaften, die Dilthey sich vorgenommen hat, die »erkenntnistheoretische, logische und methodische Analysis des Verstehens«. (V, 333) Er bemüht sich deshalb darum, das Verstehen als einen »logischen Vorgang« zu begründen und es damit als eine »Erkenntnisart« (V, 332) zu bestimmen. Dass ihm dies Probleme bereitet, ist ablesbar an seinen uneinheitlichen und zum Teil widersprüchlich anmutenden Definitionen der Begriffe Verstehen und Erkennen, die er einerseits gleichsetzt, andererseits aber unterscheidet. Dilthey hat die Schwierigkeit plausibel zu machen, inwieweit das Verstehen überhaupt eine wissenschaftliche Methode sein kann, mit deren Hilfe die Aufstellung allgemeingültiger Aussagen und damit die Erreichung objektiven Wissens möglich ist. (V, 334) Die Antwort 56 https://doi.org/10.5771/9783495817650 .

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findet er in der Annahme einer allgemeinen menschlichen Natur, die beinhaltet, dass die »Funktionen und Bestandteile […] in allen Individualitäten« dieselben sind. Damit stellt er sicher, dass prinzipiell »in keiner fremden individuellen Äußerung etwas auftreten kann, das nicht auch in der auffassenden Lebendigkeit enthalten wäre«. (V, 334) Das im Nacherleben begründete Verstehen kann also ein intersubjektives, objektives Wissen ermöglichen, während jedes einzelne Erlebnis »immer subjektiv« bleibt und damit begrenzt ist. (VI, 304) Auf dieser Basis versucht Dilthey, bestehende Bedenken gegen den »objektiven Erkenntniswert« der Ergebnisse geisteswissenschaftlicher Arbeit auszuräumen. (VII, 310) Die grundlegende Bedeutung des Verstehens für die Geisteswissenschaften sieht er darin, dass die »geistigen« Erkenntnisobjekte hier überhaupt erst durch das Verstehen konstituiert werden (VII, 85 f.) oder, genauer gesagt, durch den Zusammenhang von Erleben und Verstehen. Desweiteren gibt er an, dass das Verstehen hier durch Regeln der Auslegung, wie die Hermeneutik sie aufstellt, geleitet und damit überprüfbar ist. Diese »hermeneutischen Methoden«, mit deren Hilfe das Verstehen vollzogen wird, werden zudem ergänzt durch die »literarische, philologische und historische Kritik«, mit welcher sie einen Zusammenhang bilden. (V, 336) Da der diskursive Ausdruck in den Geisteswissenschaften Erlebtes und Verstandenes »repräsentiert« (VII, 311) und jede Sprache selbst schon eine »Auslegung der Welt« enthält, ist jedes Wort, jeder Begriff bereits Interpretation. (VI, 306) 46 Deshalb kommt der Hermeneutik in der Fundierung der Geisteswissenschaften, die »zunächst und vor allem Interpretation der Begriffe« ist, (VII, 309) die Aufgabe der Auslegung geisteswissenschaftlicher Begriffe zu. Im Wesentlichen hat sie in Gemeinschaft mit der Erkenntnistheorie, Logik und Methodologie darzulegen, wie ein Wissen vom »Zusammenhang der geschichtlichen Welt« möglich ist, und sie hat die »Mittel zu seiner Verwirklichung aufzufinden«. (VII, 218) Deshalb versucht Dilthey, von den »logischen Formen des Verstehens« ausgehend dessen »erreichbaren Grad von Allgemeingültigkeit« zu bestimmen. (ebd.) Ein Problem erkennt er darin, dass das Verstehen keine reine Denkleistung ist, sondern vielmehr eine solche des komplexen psychischen Strukturzusammenhangs, in welchem das Denken mit dem So äußert sich auch Misch: »Jeder sprachliche Ausdruck ist insofern schon eine Interpretation.« In: Der Aufbau der Logik, S. 219.

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Fühlen und Wollen immer in wechselnden Konstellationen verknüpft ist, so dass in jedem Verstehen ein unvermeidbares »Irrationales« enthalten ist. (ebd.) Aus diesem Grund sieht Dilthey der angestrebten »logischen Behandlung« des Verstehens Grenzen gesetzt, vor allem dann, wenn die Logik, die aus einer Zeit stammt, in welcher Wissenschaft gleichbedeutend mit Naturwissenschaft war, traditionell bestimmt wird als die »Lehre vom diskursiven Denken«. (I, 420) Dilthey dagegen fasst das Denken weiter, nämlich als jede Art von Beziehen, (XVIII, 65; I, 420) so dass die Logik auch das vordiskursive Verstehen, z. B. des mimischen Ausdrucks oder das Verstehen von Handlungen, mit enthalten soll. Seine angestrebte erweiterte Logik oder Theorie des Wissens als philosophischer Selbstreflexion auf die Operationen des Denkens soll alle Denk- und Verstehensprozesse umfassen, die das Ziel haben, gültiges Wissen hervorzubringen. (vgl. VII, 7) Alle Wissenschaften arbeiten mit denselben Methoden der Wissensgewinnung und -sicherung. (vgl. V, 334) In dem »Zusammenwirken von Induktion, Anwendung allgemeiner Wahrheiten auf den besonderen Fall und vergleichendem Verfahren« sieht Dilthey daher auch die »logische Seite« des Verstehens. (V, 330) In den elementaren Formen des Verstehens wird von einzelnen ähnlichen Fällen auf dieselbe bestehende Beziehung zwischen einer Lebensäußerung und ihrer Bedeutung in einem neuen verwandten Fall geschlossen. Wie sich das Verständnis einzelner Lebensäußerungen in Analogieschlüssen vollzieht, so verläuft das Verstehen komplexer Strukturen, wie eines Charakters, in einer Reihe von Analogieschlüssen. Wir schließen aufgrund unseres Wissens von einer regelmäßigen Verbindung von Charaktereigenschaften bei einem bestimmten Typus Mensch darauf, dass beim Vorliegen dieser Verbindung ein erfahrungsgemäß zugehöriger, aber in diesem neuen Fall »noch nicht beobachteter Zug nicht fehlen werde«. Indem in einem Schluss »vom Besonderen zum Besonderen« immer ein Allgemeines oder Typisches enthalten ist, geht hier »in Wirklichkeit der Analogieschluss in den Induktionsschluss mit Anwendung auf einen neuen Fall über«. Beide Schlussarten lassen sich nach Aussage Diltheys im Prozess des Verstehens nur schwer voneinander abgrenzen. (VII, 219 f.) Die Induktion führt hier nicht zur Ableitung eines allgemeinen Gesetzes aus einer Reihe von Einzelfällen, (VII, 220) sondern sie dient der Gewinnung eines Zusammenhangs, der die einzelnen Fälle als Teile zu einem gemeinsamen Ganzen ordnet. (vgl. VII, 225) Es ist ein Verfahren, das sich 58 https://doi.org/10.5771/9783495817650 .

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zwischen der Hypothesenbildung und der Induktion im engeren Sinne bewegt. Im Verstehen wird damit Einzelnes immer zu einem sinnvollen Ganzen zusammengefügt und auf ein Gemeinsames bezogen. Seine angemessene und genaue Bestimmung gewinnt es erst durch den Sinnzusammenhang, in dem es steht. So vollzieht sich im Verstehen die Konstruktion eines Zusammenhangs im Zusammenspiel mit einem näheren »Bestimmen unbestimmt-bestimmter Einzelheiten«. (VII, 220) Graf Paul Yorck von Wartenburg drückt das von Dilthey Gemeinte treffend so aus: Dieser Zusammenhang werde eigentlich gar nicht konstruiert, sondern vielmehr werde das für das Verstehen nötige »Nichtsinnliche ergänzt aus dem eigenen transponirten Zusammenhang«, und zwar an Hand der mit dem Ausdruck gegebenen »Theilstücke«, die selbst wiederum »die Marke des lebendigen Zusammenhangs« tragen. 47 Derartige Induktionen sind nach Dilthey nicht nur in den Geisteswissenschaften anzutreffen, sondern ebenso in den Naturwissenschaften. Als Beispiel nennt er Keplers methodisches Vorgehen bei der Entdeckung der ellipsenförmigen Orbitalbahn des Planeten Mars. (VII, 220) Doch die unterschiedliche Tragweite dieser Art von Induktion macht für Dilthey einen »fundamentalen Unterschied« zwischen beiden Wissenschaftsgruppen deutlich. (XVIII, 24 f.) Während sie in den Naturwissenschaften eine Ausnahme darstellt, ist sie in den Geisteswissenschaften die Regel, und in ihnen kann das Ergebnis eines Induktionsschlusses immer nur den »Charakter von Wahrscheinlichkeit« beanspruchen. (VII, 211) Auch deduktive Verfahren schließt Dilthey in den Geisteswissenschaften nicht aus, hält sie aber für nur begrenzt anwendbar, weil hier ein System wahrer Sätze nicht existiert und nie wird existieren können. (XVIII, 53 f.) Dennoch bemüht er sich intensiv darum, das »logische Problem« der Geisteswissenschaften (XVIII, 63) mit Hilfe einer logischen Analyse des Verstehens einer Lösung näher zu bringen. Einerseits unterscheidet Dilthey, wie bereits gesagt, das Verstehen klar vom Erkennen, (I, 383) andererseits aber beschreibt er es als einen Erkenntnisvorgang, (vgl. V, 318), wobei Erkenntnis generell als die Analyse der Erfahrung bestimmt ist. Das Erkennen vollzieht Wilhelm Dilthey: Briefwechsel. Bd. II: 1882–1895. Hrsg. von Gudrun Kühne-Bertram und Hans-Ulrich Lessing. Göttingen 2015, Brief Graf P. Yorck von Wartenburgs an Dilthey vom 3. November 1895, S. 566.

47

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Gudrun Kühne-Bertram

sich in einer Mischung aus Beschreibungen und Erklärungen. (vgl. XVIII, 65) Erkenntnisse jeglicher Art sind immer in Aussagen gefasst, welche Sachverhalte, Urteile, Regeln oder Sinnzusammenhänge zum Ausdruck bringen. Die Widersprüchlichkeit, dass Dilthey das Verstehen als einen Erkenntnisvorgang bestimmt, es aber auch wieder vom Erkennen unterscheidet, lässt sich aufgrund seines lebensphilosophischen Ausgangspunktes sowie seiner wissenschaftlichen Haltung einsichtig machen: Er versucht den Weg nachzuzeichnen vom weitgehend unreflektierten und vordiskursiven lebensweltlichen Verstehen und den zugehörigen Ausdrucksformen und Wissensarten bis hin zu wissenschaftlichen Aussagen. Man könnte sagen, das Verstehen ist auf dem Weg zum Erkennen. Indem es sich zunehmend von seiner Lebensgebundenheit löst und damit abstrakter wird, gewinnt es zunehmend den Charakter theoretischer Erkenntnis. Wohl wissend, dass das Verstehen niemals zu einer allgemeingültigen Erkenntnis führen kann, bleibt Dilthey dennoch am Ideal wissenschaftlicher Erkenntnis orientiert. Insofern bleibt bei ihm die Bestimmung des Verhältnisses von Verstehen und Erkennen zwiespältig. Wenn auch das Verstehen als eine Art des Erkennens bestimmt wird, weil es wie dieses Wissen erzeugt, unterscheidet es sich doch von einem Erkennen, das der naturwissenschaftlichen Norm entspricht, durch die Art des hervorgebrachten Wissens. Diltheys Schüler Misch versucht dieses Problem zu lösen, indem er eine klare terminologische Unterscheidung zwischen einer »rein theoretischen« und einer »geisteswissenschaftlichen« Erkenntnis trifft. 48 Damit stellt er das Verstehen eindeutig in einen »Gegensatz zum Erkennen der Wissenschaft«. 49 Widersprüchlich sind teilweise auch Diltheys Aussagen zum Verhältnis von Erklären und Verstehen. Auf der einen Seite werden beide klar begrifflich getrennt und das Erklären als Methode den Naturwissenschaften, das Verstehen den Geisteswissenschaften zugeschrieben. (V, 143 f.) Bisweilen aber spricht Dilthey auch von einem »nur gradweisen Unterschied« zwischen dem Erklären einerseits und dem Verstehen und Auslegen andererseits. (V, 336) Beide Methoden trenne »keine feste Grenze«, (ebd.) und sie greifen ineinander. Letztlich könne sogar das Verstehen in eine Erklärung aufgelöst werden, und auch das Erklären könne das Verstehen zu seiner Voraussetzung 48 49

Misch: Der Aufbau der Logik, S. 433, 519, 561. Ebd., S. 75.

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Der Verstehensbegriff Wilhelm Diltheys

haben. (vgl. V, 334) Der Grund für diese begriffliche Uneindeutigkeit liegt darin, dass Dilthey sich darum bemüht, das Verstehen wissenschaftsfähig zu machen. Misch dagegen differenziert deutlicher zwischen dem Verstehen als einem »wissenschaftlichen Terminus« und einem Verstehen im weiten Sinne, welches alles »Auffassen von Sinn und Bedeutung eines Ausdrucks« bezeichnet. 50 Weil sich nach Diltheys Auffassung die Wirklichkeitserkenntnis in allen »logischen Operationen« und so auch im Verstehen immer in der Form von Urteilen ausdrückt, sind beide, das Urteilen und das Verstehen, Bestandteile des Erkenntnisprozesses, so dass Dilthey resümiert: »Urteilen ist dem Verstehen verwandt«. (VIII, 183) Während aber die Naturwissenschaften in der Lage sind, exakte Aussagen über die äußere Wirklichkeit aufzustellen, (vgl. VII, 275) und eindeutige Bestimmungen zu geben, (vgl. VII, 227) ist in den Geisteswissenschaften nur eine Aufhellung von Zusammenhängen der gesellschaftlich-geschichtlichen Welt möglich, denn die durch Verstehen gewonnene Erkenntnis ist immer nur approximativ, letztlich unabschließbar (V, 330; VII, 226 f.) und von nur relativer Gültigkeit. Die Geisteswissenschaften müssen sich mit den Versuchen des Bestimmens als eines nie zu Ende kommenden Prozesses begnügen, weil das menschliche Leben letztlich »unergründlich« und nicht aussagbar ist: Was »in der Totalität unseres Wesens gegeben ist, kann nie ganz in Gedanken aufgelöst werden«, (I, 396) und keine Wissenschaft kann ein individuelles Ganzes »exakt […] erklären«. (XVIII, 68) So ist die menschliche Welt und mit ihr das Verstehen, wie Dilthey einräumen muss, nicht restlos logisch aufzuklären. (VIII, 174) Doch letztlich stoße auch das Naturerkennen an Grenzen, da unser Verstand zwar die Welt wie eine Maschine auseinandernehmen und in Atome zerlegen könne, um zu erkennen, die Welt als ein Ganzes aber aus diesen Atomen nicht ableitbar sei. (I, 371) Während Dilthey mit seiner logischen Analyse des Verstehens das Ziel verfolgt, die »andere Hälfte« unseres Wissens gleichwertig neben dem naturwissenschaftlichen zu etablieren und die Geisteswissenschaften als Wissenschaften zu begründen, versucht sein Schüler Misch in einer veränderten Wissenschaftssituation, gerade die Eigentümlichkeit der Geisteswissenschaften weiter auszuarbeiten. Sein Ziel ist nicht primär die Schaffung einer allgemeinen die Geisteswissenschaften einschließenden Wissenschaftslehre, wie Dilthey sie 50

Ebd., S. 123, 126.

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Gudrun Kühne-Bertram

letztlich anstrebte, sondern vielmehr der Aufbau einer Logik der Geisteswissenschaften, in der er das Verstehen als geisteswissenschaftlicher Methode in Richtung auf eine Lehre vom »evokativen Ausdruck« und der Artikulation des Eindrucks ausarbeitet. 51 Die Hermeneutik bestimmt er auch nicht mehr nur als eine »Theorie der Auslegungskunst« und damit als eine »Methodenlehre der Geisteswissenschaften«, sondern sie umfasst das gesamte »uns umfangende, von uns gelebte Leben, ja auch die Welt, in der wir leben«. So versucht er mit seiner Verstehens- und Ausdruckslehre den »Weg von der Lebensphilosophie zur Logik« zu gehen. 52

Mischs Ausgangspunkt ist hierbei vor allem Johann Gottlieb Fichte, der z. B. in der Bestimmung des Menschen (Berlin 1800, 2. Aufl. Berlin 1838) folgende Aufforderung gibt: »Uebrigens lass du meine Ausdrücke dir seyn, was sie dir seyn können. Sie sollen dich nur leiten, dass du denselben Gedanken innerlich in dir erzeugst, den ich selbst in mir erzeugt habe, nicht aber dir zur Vorschrift dienen, wie du zu reden habest. Hast du den Gedanken einmal fest und klar ergriffen, dann drücke ihn selbst aus, wie du willst, und so mannigfaltig als du willst […]«. (Nachdruck in: Fichtes Werke. Hrsg. von I. H. Fichte. Bd. II: Zur theoretischen Philosophie II. Berlin 1971, S. 213 f.) Vgl. zu diesem Themenkreis auch Frithjof Rodi: Über die Erfahrung von Bedeutsamkeit. Freiburg/München 2015, bes. S. 106–120. 52 Misch: Der Aufbau der Logik, S. 567. 51

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Zum Sinn verdammt Heidegger und Merleau-Ponty zum menschlichen Verstehen* Käte Meyer-Drawe

Zum Andenken an Otto Pöggeler (12. 12. 1928–10. 12. 2014) »Immer mehr wird die Vernunft selbst und ihr ›Seiendes‹ rätselhaft, oder die Vernunft – als die der seienden Welt von sich aus Sinn gebende, und, von der Gegenseite gesehen, Welt – als aus der Vernunft her seiende; bis schließlich das bewußt zutage gekommene Weltproblem der tiefsten Wesensverbundenheit von Vernunft und Seiendem überhaupt, das Rätsel aller Rätsel, zum eigentlichen Thema werden mußte.« (Edmund Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie)

Es ist schwierig, ohne allzu grobe Vereinfachungen das Verstehen im Sinne von Heidegger und Merleau-Ponty darzustellen. Einerseits ist der Begriff des Verstehens selbst sehr vieldeutig. 1 Andererseits vertreten beide Phänomenologen gewichtige und einflussreiche Philoso* Die letzte Fassung des Textes lag im Mai 2015 vor. 1 Zum Begriff des Verstehens als zentrales philosophisches Konzept des 20. Jahrhunderts vgl. Frithjof Rodi: Verstehen. In: Christian Bermes/Ulrich Dierse (Hgg.). Schlüsselbegriffe des 20. Jahrhunderts. Hamburg 2010, S. 419–429. Gunter Scholtz thematisiert in seinem Beitrag in diesem Band unter dem Titel Das Verstehen in der klassischen Hermeneutik die Vielfalt der Bedeutungen. Insbesondere unterscheidet er das Verstehen unter einander in der zwischenmenschlichen Kommunikation und das Verstehen als Begreifen von Naturerscheinungen. Heidegger sieht in seiner Analyse des Mitseins kein Problem des Nicht-Verstehens angesichts einer irritierenden Fremdheit des anderen. Bei ihm prägt der Umgang mit den Dingen das Muster des Verstehens. Dagegen betrachtet Merleau-Ponty die Dimension der Zwischenleiblichkeit als Ermöglichung und Begrenzung des gegenseitigen Verstehens. In der versagten Erfahrung einer Transparenz für sich selbst gründet eine Öffnung zum anderen. Vgl. Käte Meyer-Drawe: Leiblichkeit und Sozialität. Phänomenologische Beiträge zu einer pädagogischen Theorie der Intersubjektivität. München 32001, S. 133 ff. Die vorliegenden Überlegungen konzentrieren sich auf die allgemeine Struktur des Verstehens als gelebten Vollzug, wie es auf je eigene Weise von Heidegger und Merleau-

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phien des letzten Jahrhunderts, die sich im Vollzug ihrer Entfaltung verändern. Dabei kann man wohl bei beiden nicht einfach von Brüchen zwischen einer frühen und einer späten Philosophie sprechen; denn bestimmte Motive bleiben bestimmend, andere werden verworfen, leitende Auffassungen erfahren eine Zuspitzung, werden zurückgewiesen oder bleiben unbeachtet. Im Folgenden soll, was Heidegger anlangt, in erster Hinsicht Sein und Zeit 2 berücksichtigt werden. Dabei finden auch die Vorlesungen Beachtung, in welchen einschlägige Konzepte vorbereitet werden. Es handelt sich insbesondere um die sogenannte Kriegsnotvorlesung aus dem Jahre 1919 zum Thema Die Idee der Philosophie und das Weltanschauungsproblem 3 und die Vorlesung aus dem Sommersemester 1923 mit dem Titel Ontologie (Hermeneutik der Faktizität). 4 Anspielungen auf den 1908 Ponty in Auseinandersetzung mit Husserls transzendentaler Bewusstseinsphänomenologie entfaltet wird. 2 Martin Heidegger: Sein und Zeit. Gesamtausgabe I. Abteilung: Veröffentlichte Schriften 1914–1970. Band 2. Hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann. Frankfurt a. M. 1977. 3 Martin Heidegger: Die Idee der Philosophie und das Weltanschauungsproblem. Kriegsnotsemester 1919. Gesamtausgabe. II. Abteilung: Vorlesungen. Band 56/57. Zur Bestimmung der Philosophie. Hrsg. von Bernd Heimbüchel. Frankfurt a. M. 1987, S. 1–117. 4 Martin Heidegger: Ontologie. (Hermeneutik der Faktizität). Gesamtausgabe. II. Abteilung: Vorlesungen. Band 63. Hrsg. von Käte Bröcker-Oltmanns. Frankfurt a. M. 1988. In ihrer Würdigung anlässlich des achtzigsten Geburtstages von Martin Heidegger hebt Hannah Arendt 1969 die außerordentliche Bedeutung der frühen Veranstaltungen von Heidegger nicht nur für sie selbst hervor. Sie erinnert sich an Heidegger als den »heimlichen König […] im Reich des Denkens«. (Hannah Arendt/ Martin Heidegger: Briefe 1925–1975. Aus den Nachlässen hrsg. von Ursula Ludz. Frankfurt a. M. 42013, S. 182) In ihrem Denktagebuch hält sie selbstkritisch fest, dass sie »in Freiburg in eine Falle gegangen (und nicht geraten)« ist. Vgl. Hannah Arendt: Denktagebuch. 1950–1973. Zwei Bände. Hrsg. von Ursula Ludz und Ingeborg Nordmann in Zusammenarbeit mit dem Hannah-Arendt-Institut, Dresden. München/Zürich 2002, S. 266. Ihre Charakterisierung erhält ihr volles, auch politisches Gewicht, wenn man ihre Deutung von der Einschätzung Heideggers als Fuchs hinzunimmt, auf die er stolz war. (Vgl., Ebd., S. 403 f.) Zur Rolle des Politischen bei Heidegger vgl. auch Otto Pöggeler: Den Führer führen. Heidegger und kein Ende. In: Philosophische Rundschau 32 (1985), S. 26–67 und ders.: Ethik und Politik bei Heidegger. In: Alfred Denker/ Holger Zaborowski (Hgg.). Heidegger und der Nationalsozialismus II. Interpretationen. Freiburg/München 2009, S. 371–381. Ausführliche Studien zu Heideggers Anfängen, seinem Weg in die Phänomenologie und dem Begriffsfeld von »Faktizität« finden sich im Dilthey-Jahrbuch für Philosophie und Geschichte der Geisteswissenschaften. Band 4/1986–87. Vgl. insbesondere Hans-Georg Gadamer: Erinnerungen an Heideggers Anfänge, S. 13–26; Friedrich Hogemann: Heideggers Konzeption der

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geborenen Merleau-Ponty werden wir in dieser Zeit nicht finden können. 5 Umgekehrt gibt dieser bereits in seiner ersten Doktoratsthese La structure du comportement [Die Struktur des Verhaltens], die 1938 abgeschlossen und 1942 erschienen war, einen beiläufigen Hinweis auf Heidegger, ohne allerdings eine Quelle anzugeben. 6 Das ändert sich in der zweiten These, die drei Jahre später unter dem Titel Phénoménologie de la perception [Phänomenologie der Wahrnehmung] 7 erschien. Hier bezieht sich Merleau-Ponty auf Sein und Zeit sowie auf Kant und das Problem der Metaphysik. Die deutsche Übersetzung von Rudolf Boehm erweckt den Eindruck großer Nähe zu Heidegger. Diese Einschätzung muss bei genauer Betrachtung wohl doch zugunsten des erheblichen Einflusses von Edmund Husserl revidiert werden. Seine Distanz zu Heidegger markiert Merleau-Ponty dadurch, dass er vom »être-au-monde« spricht, also einem Zur-Weltsein, das die Hingabe an die Welt als Grundzug menschlicher Existenz festhält und nicht lediglich einen Modus des »In-der-Welt-seins« meint, der als »Verfallenheit« Anlass zur Kritik gibt. 8 In seinem letzten Werk Le visible et L’Invisible [Das Sichtbare und das Unsichtbare] 9 ist Heidegger dagegen sehr gegenwärtig.

Phänomenologie in den Vorlesungen aus dem Wintersemester 1919/20 und dem Sommersemester 1920, S. 54–71 und Theodore Kisiel: Das Entstehen des Begriffsfeldes ›Faktizität‹ im Frühwerk Heideggers, S. 91–120. Vgl. auch Otto Pöggeler: Heidegger in seiner Zeit. München 1999. 5 Am 2. Februar 1972 schreibt Hannah Arendt an Heidegger in einem Brief: »In den letzten Wochen habe ich mich ausgeruht und zum ersten Mal Merleau-Ponty gelesen, den Du wohl kennst. Viel besser und interessanter als Sartre scheint mir. Was denkst Du?« Heidegger beantwortet diese Frage in seinem Brief vom 15. Februar 1972: »Merleau-Ponty war auf dem Weg von Husserl zu Heidegger. Er starb zu früh, acht Tage vor seiner geplanten Reise nach Freiburg. Aber ich kenne seine Arbeiten nicht genügend; es ist auch ein Nachlaßband erschienen. Die Franzosen tun sich schwer mit ihrem eingeborenen Cartesianismus.« (Arendt/Heidegger, Briefe, S, 225 f.) 6 Vgl. Maurice Merleau-Ponty: Die Struktur des Verhaltens. Übers. und eingeführt durch ein Vorwort von Bernhard Waldenfels. Berlin/New York 1976 [Paris 1942], S. 247. 7 Vgl. Maurice Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung. Übers. und eingeführt durch eine Vorrede von Rudolf Boehm. Berlin 1966 [Paris 1945]. 8 Vgl. die Anmerkung von Rudolf Boehm in Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 7. 9 Maurice Merleau-Ponty: Das Sichtbare und das Unsichtbare gefolgt von Arbeitsnotizen. Hrsg. und mit einem Vor- und Nachwort versehen von Claude Lefort. Übers. von Regula Giuliani und Bernhard Waldenfels. München 32004.

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Während Heidegger Husserl persönlich kannte und als Assistent sowie Privatdozent mit ihm gearbeitet hat, konnte sich MerleauPonty nur auf Texte stützen, die allerdings einen erheblichen Einfluss auf sein Denken hatten. Allein schon seine Hommage an Husserl unter dem Titel Der Philosoph und sein Schatten 10 könnte zureichend sein, um die bedeutsame Wirkung Husserls auf Merleau-Pontys Philosophie zu dokumentieren. Merleau-Ponty erkundigt sich 1939 als erster Nichtlöwener im Husserl-Archiv in Leuven nach unpublizierten Manuskripten von Edmund Husserl. 11 Er interessiert sich vor allem für die Ideen II 12 und für Erfahrung und Urteil 13, das in Prag erschienen war und von den nachrückenden Deutschen vernichtet wurde. Nur wenige Ausgaben blieben erhalten. Auf diese konnte sich Ludwig Landgrebe in seiner redigierten Fassung nach dem Krieg stützen. In der Folge studiert Merleau-Ponty die berühmte Krisis-Schrift. Insbesondere interessiert er sich für die Kapitel über die Lebenswelt. Schließlich nimmt er bereits sehr früh Kenntnis von Eugen Finks VI. Cartesianischer Meditation 14. In Paris lernte er die fünf Cartesia-

Maurice Merleau-Ponty: Der Philosoph und sein Schatten. In: Ders.: Das Auge und der Geist. Auf der Grundlage der Übersetzungen von Hans Werner Arndt u. a. neu bearbeitet, kommentiert und mit einer Einleitung hrsg. von Christian Bermes. Hamburg 2003, S. 243–274. 11 Vgl. Käte Meyer-Drawe: Welt-Rätsel. Merleau-Pontys Kritik an Husserls Konzeption des Bewußtseins. In: Ernst Wolfgang Orth/Otto Pöggeler (Hgg.): Die Freiburger Phänomenologie. Phänomenologische Forschungen 30. Freiburg/München 1996, S. 194–221. 12 Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und Phänomenologischen Philosophie. Zweites Buch. Husserliana Band IV. Hrsg. von Marly Biemel. Haag 1952. In Kürze wird Dirk Fonfara vom Husserl-Archiv in Köln eine neue Edition dieser zentralen Schrift sowie der Ideen III auf der Grundlage der Originalmanuskripte von 1912, 1913 und 1915 publizieren, so dass man die Spuren, die Edith Stein bei ihrer Bearbeitung hinterlassen hat, nachvollziehen kann. 13 Edmund Husserl: Erfahrung und Urteil. Untersuchungen zur Genealogie der Logik. Redigiert und hrsg. von Ludwig Landgrebe. Mit Nachwort und Register von Lothar Eley. Hamburg 1972. 14 Eugen Fink: VI. Cartesianische Meditation. Teil 1. Die Idee einer transzendentalen Methodenlehre. Husserliana (Dokumente) Band II/1. Texte aus dem Nachlass Eugen Finks (1932) mit Anmerkungen und Beilagen aus dem Nachlass Edmund Husserls (1933/34). Hrsg. von Hans Ebeling, Jann Holl und Guy van Kerckhoven. Dordrecht/ Boston/London 1988. VI. Cartesianische Meditation. Teil 2. Ergänzungsband. Husserliana (Dokumente) II/2. Texte aus dem Nachlass Eugen Finks (1932) mit Anmerkungen und Beilagen aus dem Nachlass Edmund Husserls (1933/34). Hrsg. von Guy van Kerckhoven. Dordrecht/Boston/London 1988. 10

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Zum Sinn verdammt

nischen Meditationen 15 von Husserl kennen, denen er sein werkbestimmendes Motto entnimmt. Husserl kritisiert hier die voreingenommenen Erklärungen des Beginns des Bewusstseinslebens aus bloßen Daten oder obskuren Ganzheiten, indem er festhält: »Der Anfang ist die reine und sozusagen noch stumme Erfahrung, die nun erst zur Aussprache ihres eigenen Sinnes zu bringen ist.« 16 Bis in seine letzten Aufzeichnungen wird Merleau-Ponty immer wieder versuchen, diesen Satz auszulegen. Die folgenden Darlegungen gliedern sich nach diesen Vorbemerkungen in vier Schritte: 1. soll der Titel »Zum Sinn verdammt« erläutert werden. 2. geht es um die Probleme der Phänomenologie Edmund Husserls, auf welche die Umbildungen von Martin Heidegger und Maurice Merleau-Ponty reagieren. 3. wird Heideggers Umschrift der Phänomenologie des Verstehens in den Blick genommen, um schließlich 4. Merleau-Pontys Umgestaltungen zu umreißen und skizzenhaft Vergleiche anzustellen.

1.

Zum Sinn verdammt

Der Haupttitel, dem die Darlegungen zugeordnet sind, lautet: »Zum Sinn verdammt«. Er spielt auf eine Formulierung Merleau-Pontys aus dem Vorwort zur Phénoménologie de la perception an. Hier heißt es: »Parce que nous sommes au monde, nous sommes condamnés au sens, […].« 17 Rudolf Boehm übersetzt: »Zur Welt seiend, sind wir verurteilt zum Sinn, […].« 18 Das erinnert nicht zufällig an Jean-Paul Sartres Diktum: »So finden wir weder hinter noch vor uns im Lichtreich der Werte Rechtfertigungen oder Entschuldigungen. Wir sind allein, ohne Entschuldigungen. Das möchte ich mit den Worten ausdrücken: der Mensch ist dazu verurteilt, frei zu sein. Verurteilt, weil er sich nicht selbst erschaffen hat, und dennoch frei, weil er, einmal in die Welt geworfen, für all das verantwortlich ist, was er tut.« 19 Edmund Husserl: Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge. Husserliana Band I. Hrsg. von Stephan Strasser. Den Haag 1963. 16 Ebd., S. 77. 17 Maurice Merleau-Ponty: Phénoménologie de la perception. Paris 1945, S. XIV f. 18 Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 16. 19 Jean-Paul Sartre: Der Existentialismus ist ein Humanismus. In: Ders. Der Existentialismus ist ein Humanismus und andere philosophische Essays. 1943–1948. Übers. 15

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Jean-Paul Sartre gesteht Günther Anders später, dass seine berühmte Zuspitzung von der Verdammnis des Menschen zur Freiheit durch dessen, damals noch unter dem Namen Günther Stern publizierten Text La pathologie de la liberté von 1936 beeinflusst wurde. 20 Anders hatte bei Heidegger und Husserl studiert. Seine Promotion schloss er 1924 bei Husserl ab. Er wurde im Verlaufe der Zeit zum erbitterten Gegner von Heidegger. 21 Nach ihm besteht die Pathologie seiner Freiheit beim Menschen darin, dass er zugleich Welt und nicht von dieser Welt ist. Welt ist er in seiner gelebten Leiblichkeit, mit der er geboren ist und welche zugleich seine Bedürftigkeit ausmacht. Nicht von dieser Welt ist er, weil er nicht für seine Welt zugeschnitten ist. Identität und Authentizität sind ihm unmöglich. Er ist weltfremd, und vor allen Dingen sich selbst fremd. 22 Sein Selbst ist provisorisch. Stets findet es sich bereits eingebettet in Voraussetzungen, für die es nicht selbst aufkommt. Im Handeln antworten Menschen auf diese Fremdheit, die sie jedoch nie überwinden werden. Hier nehmen sie ihre eigene Brüchigkeit in die Hand. Das Geschenk der Freiheit ist daher fatal, verdankt es sich doch dem Zufall, als dieser Mensch hier zur Welt gekommen zu sein, sich aber nicht selbst konstituiert zu haben. Man ist verdammt zu seiner kontingenten Existenz und damit zu seiner Freiheit. 23 In der Verdammnis zum Sinn, von der Merleau-Ponty spricht, kommt eine Nötigung zum Ausdruck, die darin besteht, dass uns eine Welt vorausgeht, dass wir auf etwas zurückkommen, was wir nicht uns zu verdanken haben. Wir fädeln uns in eine Genese ein, die ohne uns begonnen hat. Wir übernehmen Situationen, indem wir Stellung beziehen, ihre Artikulationen für uns übernehmen. Auch Hannah von Werner Bökenkamp u. a. Gesammelte Schriften in Einzelausgaben. Philosophische Schriften 4. Reinbek bei Hamburg 2005, S. 145–192, hier: S. 155. 20 Vgl. Elke Schubert: Günther Anders mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek bei Hamburg 1992, S. 33. 21 Günther Anders: Über Heidegger. Hrsg. von Gerhard Oberschlick in Verbindung mit Werner Reimann als Übersetzer. Mit einem Nachwort von Dieter Thomä. München 2001. 22 Günther Anders [Stern]: Pathologie de la liberté. Essai sur la non-identification. In: Recherches philosophiques 6 (1936), S. 22–54, hier: S. 24. Eva D. H. Gerritzen danke ich für ihren Vorschlag einer Übersetzung. 23 Vgl. Anders [Stern]: Pathologie, S. 24. Vgl. auch Käte Meyer-Drawe: Mit »eiserner Inkonsequenz« fürs Überleben – Günther Anders. In: Jahrbuch für Pädagogik 2014. Menschenverbesserung. Transhumanismus. Hrsg. von Martin Dust u. a. Frankfurt a. M./Bern/Bruxelles/New York/Warzawa/Wien 2014, S. 105–119.

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Arendt hat diese Verwobenheit vor Augen, wenn sie vom menschlichen Handeln schreibt: »Da Menschen nicht von Ungefähr in die Welt geworfen, sondern von Menschen in eine schon bestehende Menschenwelt geboren werden, geht das Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten allem einzelnen Handeln und Sprechen voraus, sodaß sowohl die Enthüllung des Neuankömmlings durch das Sprechen wie ein Neuanfang, den das Handeln setzt, wie Fäden sind, die in ein bereits vorgewebtes Muster geschlagen werden und das Gewebe so verändern, wie sie ihrerseits alle Lebensfäden, mit denen sie innerhalb des Gewebes in Berührung kommen, auf einmalige Weise affizieren.« 24

Wie unterschiedlich die Einzelnen auch im Hinblick auf ihre Umbildungen der Husserl’schen Phänomenologie sind, ein Kern ihrer Bedenken betrifft das zentrale Konzept der Intentionalität, das dem transzendentalen Subjekt alle Fäden in die Hand geben soll. Verstehen ist nötig, weil wir niemals unmittelbar bei uns, bei den anderen und unserer Welt sind. Verstehen ist möglich, weil es eine Artikulation des Lebens selbst aufnimmt, seine Geschichte übernimmt und fortführt. 25

2.

Provokationen durch Edmund Husserls Transzendentalphänomenologie

Sowohl Heidegger als auch Merleau-Ponty nehmen, wenn auch mit unterschiedlichen Konsequenzen, Anstoß an der Privilegierung des Bewusstseins durch Edmund Husserl. Husserl bewunderte die Leistungen neuzeitlicher Wissenschaften. Aber gerade vor dem Hintergrund dieser Anerkennung wurde ein Problem drängend, nämlich die Tatsache, dass wir zwar ungeheure Fortschritte im Wissen gemacht haben, dass wir aber immer noch nicht erkennen, wie wir wissen. Ein Grundproblem, das Husserl in der Erkenntnis durch das Bewusstsein bemerkt, liegt darin, dass objektive Erkenntnis nur als subjektive Leistung möglich ist. »Die dem natürlichen Denken selbst-

Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben. München 21981, S. 174. Vgl. Wilhelm Dilthey: Grundlegung der Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und der Geschichte. Ausarbeitungen und Entwürfe zum zweiten Band der Einleitung in die Geisteswissenschaften (ca. 1870–1895). Gesammelte Schriften. XIX. Band. Hrsg. von Helmut Jobach und Frithjof Rodi. Göttingen 1982, S. 345.

24 25

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verständliche Gegebenheit der Erkenntnisobjekte wird zum Rätsel.« 26 Mit diesem Konflikt ist die Notwendigkeit der Reduktion geboren. Sie soll das bloß Selbstverständliche des natürlichen Weltglaubens, aber auch der wissenschaftlichen Objektivität in das Verstandene als eine radikale Erkenntnis überführen. Die Fraglichkeit alles bisher Angenommenen führt zu einer Einklammerung sämtlicher Existenzbehauptungen. In der transzendentalen Epoché wird die Welt zum Phänomen Welt. Der radikal Philosophierende enthält sich jeglichen Urteils über reale Wirklichkeiten und setzt sich frei für ein unbegrenztes Feld idealer Möglichkeiten. Es geht Husserl um eine »Umwendung des wissenschaftlichen Objektivismus […] in einen transzendentalen Subjektivismus«. 27 Dabei handelt es sich nicht um einen Subjektivismus im alltäglichen Verständnis. Gemeint ist ein transzendentales Ego, ein »reines Vollzugs-Ich«, und das, so schreibt er, »bin nicht der Mensch« 28. Die Transzendentalphänomenologie, die hier nur angedeutet werden kann, führt aufs Ganze gesehen in folgende Paradoxien, von denen einige zum Anstoß von Heideggers und Merleau-Pontys Umwandlungen wurden: Husserls Phänomenologie zielt auf Wesensbestimmungen, die von der Zeit unberührt sind. Zugleich soll die Beteiligung des Faktischen an diesen Bestimmungen kenntlich werden. Sie formiert sich als Transzendentalphilosophie, die aus der Inhibierung der Weltthesis gewonnen wird. Zur selben Zeit rehabilitiert sie die Lebenswelt als Boden aller Erkenntnis. Schließlich soll Philosophie als strenge Wissenschaft betrieben werden, die ihre Herkunft aus konkreten Erfahrungen nicht unterschlägt. Diese Paradoxien, die Husserl vor allem in seiner Krisis-Schrift mit transzendentalphänomenologischen Mitteln lösen wollte, sind nicht zu überwinden. Sie sind vielmehr eindrucksvolles Dokument einer radikalen Philosophie, die ein letztes Mal beides vereinen will: die Homogenität der Vernunft und die Vielheit der Erfahrungen. Heidegger richtet seine Aufmerksamkeit zunächst auf die Überschätzung des Bewusstseins und damit auf die Überbewertung des neuzeitlichen Subjekts im Vollzug des Verstehens. Ehe man über die Rolle des Bewusstseins nachsinnt, Edmund Husserl: Die Idee der Phänomenologie. Fünf Vorlesungen. Hrsg. von Walter Biemel. Husserliana Band II. Den Haag 1973, S. 20. 27 Edmund Husserl: Die Krisis der Europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie. Hrsg. von Walter Biemel. Husserliana Band VI. Haag 21976, S. 69. 28 Ebd., S. 45. 26

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sei eine Rehabilitierung der Frage nach dem Sein erforderlich und damit eine Korrektur der Phänomenologie durch eine Hermeneutik der Faktizität. Merleau-Ponty bezweifelt die Reinheit des Bewusstseins angesichts der Herkunft der Reflexion aus der Lebenswelt. »Entweder wird durch die Konstitution die Welt derart durchsichtig, daß nicht mehr einsehbar ist, wieso die Reflexion den Umweg über die Lebenswelt nehmen mußte, oder aber jene Konstitution behält etwas vom Wesen der Lebenswelt und entledigt also nie diese Welt von ihrer Undurchdringlichkeit.« 29

Die Reduktion endet deshalb nach ihm niemals in vollständiger Klarheit, sondern muss unvollständig bleiben.

3.

Heideggers Umschrift 30

Wie so oft ist eine wichtige Station des Rückblicks westlicher Philosophien auf Entwicklungen des Denkens und auf dessen Irrwege René Descartes’ Begründung zweifelsfreier Erkenntnis. Seine besondere Verpflichtung drückte Husserl darin aus, dass er selbst Cartesianische Meditationen angestellt hat. Descartes wirft er jedoch vor, dass er nicht wirklich seine lebensweltlichen Erfahrungen außer Kraft gesetzt, sondern sie in der Gewissheit des Ich bin, indem ich denke genutzt hat. Nach seiner Einschätzung ist das durch die Epoché entweltlichte Cogito lediglich eine Modifikation einer weltlichen Haltung. Erst die transzendentalphänomenologische Reduktion erreiche die Erkenntnis, dass das Bewusstseinsleben reines leistendes Leben sei, das kein Teil der Welt sei und in das keine Faktizität hineinspiele. Es kommt allein auf das sum cogitans an: »ego cogito – cogitata qua cogitata« 31. Rätselhaft bleibt, wie dieses Ego cogito eine Beziehung zum anderen seiner selbst aufnehmen kann. 32 Heidegger richtet einen anderen Vorwurf an Descartes. Er schreibt in Sein und Zeit: »Mit dem ›cogito sum‹ beansprucht Descartes, der Philosophie einen neuen und sicheren Boden beizustellen. Was er aber bei diesem ›radikalen‹ Anfang unbestimmt lässt, ist die Seinsart der res cogitans, ge-

29 30 31 32

Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 417, Anm. 8. Zum Folgenden vgl. auch Meyer-Drawe: Leiblichkeit und Sozialität, S. 97 ff. Husserl: Krisis, S. 79. Vgl., Ebd., S. 82.

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nauer der Seinssinn des ›sum‹.« 33 In Sein und Zeit hält Heidegger dagegen: »Die erste Aussage ist […]: ›sum‹ und zwar in dem Sinne: ich-bin-in-einer-Welt.« 34 In der Folge versteht Heidegger seine »Hermeneutik der Faktizität« als Destruktion verführerischer Ausgelegtheiten und herkömmlicher Verständnisse sowie Einflüsterungen des »man«. In seiner Freiburger Vorlesung im Sommersemester 1923 präzisiert er: »Im Hinblick auf ihren ›Gegenstand‹ zeigt die Hermeneutik als dessen prätendierte Zugangsweise an, daß dieser sein Sein hat als auslegungsfähiger und -bedürftiger, daß es zu dessen Sein gehört, irgendwie in Ausgelegtheit zu sein. Die Hermeneutik hat die Aufgabe, das je eigene Dasein in seinem Seinscharakter diesem Dasein selbst zugänglich zu machen, mitzuteilen, der Selbstentfremdung, mit der das Dasein geschlagen ist, nachzugehen. In der Hermeneutik bildet sich für das Dasein eine Möglichkeit aus, für sich selbst verstehend zu werden und zu sein.« 35

Hiermit distanziert sich Heidegger vom Konzept der Intentionalität, weil dieses Verstehen kein Sich-Verhalten meint, sondern »ein Wie des Daseins selbst« 36. Das Ideal der hermeneutischen Evidenz kann nicht das einer »Wesenseinsicht« sein; denn das Misslingen zählt ursprünglich zu ihr und führt zu einer unvermeidlichen Labilität. 37 Das Verstehen ist darin eingespannt, dass es der Nötigung zur Selbstbekümmerung des Daseins folgt und dass es mit einer unausweichlichen Selbstentfremdung geschlagen ist. »Was ist nun das ›Selbst‹ ?«, fragt Heidegger und fährt fort: »Kommen wir hier nicht doch zu einem Objekt, dem Selbst und seinem Sinn? Wenn wir uns aber den ganzen Prozeß des phänomenologischen Verstehens gegenwärtig halten, können wir nur sagen, das Selbst hat eine gewisse Ausdrucksgestalt. Man darf nicht enttäuscht sein, in der Helligkeit des Bewußteins kein ›Ich‹ zu finden, sondern nur den Rhythmus des Erfahrens selbst. – Das Selbst ist uns im Ausdruck der Situation gegenwärtig. Ich bin mir selbst konkret in einer bestimmten Lebenserfahrung, ich bin in einer Situation.« 38

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Heidegger: Sein und Zeit, S. 33. Ebd., S. 280. Heidegger: Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), S. 15. Ebd. Vgl., Ebd., S. 16. Martin Heidegger: Grundprobleme der Phänomenologie (1919/20). Gesamtaus-

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Heidegger rückt damit in den frühen Freiburger Jahren eine vorprädikative Dimension unserer Erfahrung ins Licht und konzentriert sich auf die »wurzelhafte Wachheit [des Daseins] für sich selbst« 39. In Sein und Zeit verschiebt sich das Interesse auf den allgemeinen Sinn von Sein, zu dem das Dasein den privilegierten Zugang hat. 40 Später kritisiert Heidegger sein Verständnis vom Dasein in Sein und Zeit. Er wirft sich selbst vor, mit der zentralen Rolle des Daseins in der Frage nach dem Sein das Muster neuzeitlicher Subjektivität wiederholt zu haben. Damit fällt auch auf das Verstehen ein Schatten. Es wird als Bemächtigungsgeste diffamiert, die dem Vernehmen, dem Hören in Gelassenheit weichen muss. Dilthey billigte dem Leben selbst eine Artikulation zu. MerleauPonty wird von einer »verschwiegenen Beziehung zur Welt« sprechen, einer »Einweihung in die Welt«, die jede Reflexion schon voraussetzt, »[…], weil Verstehen heißt, einen zunächst im Ding und in der Welt selbst verfangenen Sinn in verfügbare Bedeutungen zu übersetzen.« 41

4.

Merleau-Pontys Konzept des Verstehens

Husserl schwankte zwischen einem starken Vertrauen auf ein sinnkonstituierendes Bewusstsein und dem Erstaunen angesichts des »wunderbare[n] Bewußthaben[s] eines so und so gegebenen Bestimmten oder Bestimmbaren […], das dem Bewußtsein selbst ein Gegenüber, ein prinzipiell Anderes, Irreelles, Transzendentes ist, […].« 42 Seine Phänomenologie bleibt den Leistungen des Bewusstseins treu, aber nicht ohne Irritationen durch das, was anderes als Bewusstsein ist. Merleau-Ponty nimmt in seiner Phänomenologie diesen Konflikt auf. Er legt die gleichsam magische Fähigkeit des Begabe. II. Abteilung: Vorlesungen 1919–1944. Band 58. Hrsg. von Hans-Helmuth Gander. Frankfurt a. M. 1993, S. 258. 39 Heidegger: Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), S. 16. 40 Vgl. Jean Grondin: Hermeneutik. Selbstauslegung und Seinsverstehen. In: Heidegger-Handbuch. Leben – Werk –Wirkung. Unter Mitarbeit von Katrin Meyer und Hans Bernhard Schmid von Dieter Thomä hrsg. Stuttgart/Weimar 2003, S. 47–51, hier: S. 49 f. 41 Merleau-Ponty: Das Sichtbare und das Unsichtbare, S. 57. 42 Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch: Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie. Husserliana Band III. Hrsg. von Walter Biemel. Den Haag 1950, S. 204.

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wusstseins, von etwas affiziert werden zu können, nicht zu den Akten und kämpft mit ihrer bedrückenden Problematik. Er fragt sich: »Wird diese Zerrissenheit der Reflexion, (die aus sich herausgeht, um in sich zurückzukehren) jemals aufhören?« 43 Er sieht das Problem, dass Heideggers Philosophieren auf ein Schweigen zuläuft, weil er »stets einen unmittelbaren Ausdruck des Fundamentalen gesucht hat« 44. Dass die Erfahrung eines Unmittelbaren einem menschenmöglichen Verstehen versagt ist, schärft seinen Blick dafür, dass das Denken als Reflexion eine Rückkehr bedeutet, die auf etwas zurückkommt, das sich längst ereignet hat. »Die Reflexionsphilosophie wird sich […] niemals im Geist, den sie enthüllt, einrichten können, um die Welt von dort aus als ihr Resultat zu erkennen. Gerade weil sie Reflexion ist, Rück-kehr, Rück-gewinnung oder Wieder-aufnahme, kann sie sich nicht vormachen, sie wäre schlichtweg eins mit einem konstitutiven Prinzip, das im Schauspiel der Welt bereits am Werk ist, und sie nähme von diesem Schauspiel aus denselben Weg, den das konstitutive Prinzip in der umgekehrten Richtung verfolgt hätte.« 45

Eine gelebte Öffnung zur Welt wurde im Verlaufe der Geschichte des Verstehens unter dem Druck einer zweifelsfreien Erkenntnis zu einem intellektuellen Akt. Alles spielt sich im Denken ab, in dem sich das Ich selbst entdeckt, weil es seine Wahrnehmungen als Gedanken wiederfindet. Die missliche Lage der Reflexion, nämlich »einen umgekehrten Gang der Konstitution zu beanspruchen und ihn gleichzeitig auszuschließen« 46, zeigt sich erst angesichts ihres angeboren Makels, immer später zu sein als die zugrunde liegenden Erfahrungen, durch die sie aufgrund der »Dichte der Dauer« 47 unüberwindlich getrennt bleibt.

Merleau-Ponty: Das Sichtbare und das Unsichtbare, S. 232. Vgl. Maurice Merleau-Ponty: Vorlesungen I. Schrift für die Kandidatur am Collège de France. Lob der Philosophie. Vorlesungszusammenfassung. Die Humanwissenschaften und die Phänomenologie. Aus dem Französischen übersetzt und eingeführt von Alexandre Métraux. Berlin/New York 1973, S. 117. 45 Merleau-Ponty: Das Sichtbare und das Unsichtbare, S. 69. Vgl. auch Erich Christian Schröder: »Jede Rede ist Schweigen«. Annäherung an Merleau-Ponty’s Hermeneutik der Erfahrung. In: Ingeborg Schüßler/Wolfgang Janke (Hgg.). Sein und Geschichtlichkeit. Karl-Heinz Volkmann-Schluck zum 60. Geburtstag. Frankfurt a. M. 1974, S. 137–162. 46 Merleau-Ponty: Das Sichtbare und das Unsichtbare, S. 69. 47 Vgl. Käte Meyer-Drawe: Die Dichte der Dauer. Phänomenologische Notizen zu den Grenzen des Verstehens bei Merleau-Ponty. In: Gudrun Kühne-Bertram/Gunter 43 44

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Merleau-Ponty zeigt in seiner Analyse von Halluzinationen, dass man diesen nicht gerecht wird, wenn man seine Erfahrungen als bloß fehlgeleitete Urteile oder pure Einbildungen versteht. Der Kranke wird berührt durch eine Welt, die er nicht verwechselt mit dem bloßen Schein, die er vielmehr aus Trümmern aufbaut im Sinne einer symbolischen Landschaft, die uns mitunter sehr fremd ist. Aber nicht nur der Kranke ist ausgeliefert an eine Welt, die ihn ignoriert. »Durch seine Sinnesfelder und durch seinen Leib ist auch der Normale von jener klaffenden Wunde gezeichnet, durch die die Illusion in ihn Eingang findet; auch seine Weltvorstellung ist verletzlich. Wir glauben an das, das wir sehen, vor jeder Verifikation, und die klassischen Wahrnehmungstheorien führen zu Unrecht in die Wahrnehmung selbst intellektuelle Leistungen und eine Kritik der Sinneserzeugnisse ein, auf die wir in Wirklichkeit erst zurückgreifen, wenn die gerade Wahrnehmung in der Zweideutigkeit scheitert.« 48

Es ist dieser Wahrnehmungsglaube, der unser Verstehen zugleich ermöglicht und begrenzt. »Der Normale genießt nicht seine Subjektivität, er flieht sie vielmehr, er ist ein für allemal zur Welt und hat seinen freimütig-naiven Zugang zur Zeit, indessen der Halluzinierende sich des Zur-Welt-seins bedient, um aus der gemeinsamen Welt sich eine private Umwelt herauszulösen, und so beständig an der Transzendenz der Zeit sich stößt.« 49

Um dies nachvollziehen zu können, müssen wir auf das Gegenbild eines sich selbst vollständig transparenten Bewusstseins verzichten, wenn wir also den Keim der Abweichung in uns selbst entdecken, weshalb wir uns niemals vollständig selbst besitzen. Unser Wahrnehmungsglaube begründet unsere gelebte, leibliche Erfahrung, die sich als fungierende nicht allein der Initiative eines Bewusstseinsaktes verdankt. Die Koinzidenz, die sich im cogito vollzieht, ist nach Merleau-Ponty nur eine präsumtive. »Faktisch schiebt sich schon zwischen mich, der ich soeben dies denke, und mich, der ich denke, daß ich dies dachte, die Undurchdringlichkeit der Dauer, und stets kann ich zweifeln, ob dieser schon vorübergegangene Gedanke wirklich dieser war, wie ich ihn gegenwärtig sehe.« 50 Scholtz (Hgg.). Grenzen des Verstehens. Philosophische und humanwissenschaftliche Perspektiven. Göttingen 2002, S. 163–171. 48 Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 394. 49 Ebd. 50 Ebd., S. 396.

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Das Unreflektierte meiner Reflexion ist damit nicht das schlechthin Unverstehbare, weil meine gegenwärtigen Erfahrungen meine Vergangenheit bezeugen. Es gibt keine Verschmelzung von Denken und Sein, auch nicht für den Fall, dass das Ich sein eigenes Sein denkt. Die Zweideutigkeit unserer Existenz mündet nicht in eine »ursprüngliche Integrität«. Sollte es wirklich etwas Unmittelbares geben, »so darf keine Spur unserer Annäherung an ihm haften, soll es das Sein selbst sein, so gibt es keinen Weg, der von uns zu ihm hinführt und so ist es grundsätzlich unzugänglich.« 51 Diese Doppeldeutigkeit, dass wir nämlich Welt und zur Welt sind, bedeutet Ermöglichung und Begrenzung des Verstehens in einem. Auf der einen Seite gehören wir der Welt als leibliche Wesen an, sind also auf gewisse Weise in sie eingeweiht. Auf der anderen Seite bietet sie mit ihrer Opazität unserem Sehen, Denken und Handeln Widerstand, bleibt sie undurchdringlich: Denn »je mehr ich mich dem Ding nähere, desto mehr höre ich auf zu sein; je mehr ich bin, desto weniger gibt es Dinge, sondern es gibt dann nur noch deren Doubletten in meiner ›Dunkelkammer‹.« 52 Merleau-Ponty veranschaulicht dies an der Sprache, die uns gleichzeitig mit den Dingen und uns selbst verbindet, die uns und die Dinge bezeugt, gerade weil sie nicht eine Unmittelbarkeit des Gebens unterbricht, sondern selbst diese Gebung ermöglicht. Da es keine Unmittelbarkeit gibt, ist Sprache nicht trügerisch. Es existiert nichts Authentisches, das sich maskieren könnte. Sprache ist tätig, nämlich als jene Sprache, »die sich selbst nur von innen her und durch die Praxis kennenlernt, sie ist offen für die Dinge, aufgerufen

Merleau-Ponty: Das Sichtbare und das Unsichtbare, S. 162. Immer wieder kommt Merleau-Ponty auf die Problematik des Präreflexiven zurück, zumal er sich wiederholt mit dem Vorwurf auseinandersetzen muss, dass das Unmittelbare als solches nicht zu erreichen und seine Philosophie Dichtung sei. Vgl. Émile Bréhiers Einwände in: Maurice Merleau-Ponty: Das Primat der Wahrnehmung. Hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Lambert Wiesing. Übers. von Jürgen Schröder. Frankfurt a. M. 2003, S. 50 f. Merleau-Ponty hebt hervor, dass das »Unreflektierte erst durch die Reflexion zu existieren beginnt.« (Ebd., S. 59). »Es ist […] das Unreflektierte, das durch die Reflexion verstanden wird. Die sich selbst überlassene Wahrnehmung vergisst sich und kennt ihre eigenen Leistungen nicht.« (Ebd., S. 39). Zu den sprachlichen Herausforderungen an eine solche Philosophie vgl. Soraya de Chadarevian: Die Auflösung der cartesianischen Begriffswelt. Zur literarischen Form bei Merleau-Ponty. In: Gottfried Gabriel/Christiane Schildknecht (Hgg.). Literarische Formen der Philosophie. Stuttgart 1990, S. 166–177. 52 Merleau-Ponty: Das Sichtbare und das Unsichtbare, S. 162. 51

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von den Stimmen des Schweigens und führt einen Artikulationsversuch fort, der das Sein eines jeden Seienden ist.« 53 Jedes Verstehen profitiert von der Lebendigkeit des Vollzugs, der weder eine völlig transparente Welt noch ein unantastbares Bewusstsein kennt. Als leibliche Wesen stehen wir in Beziehung zu unserer Welt, die ihre Existenz nicht nur unserer Initiative verdankt. In der Versagung einer letzten Verschmelzung entspringt unsere Möglichkeit, unsere Welt zu gestalten und sie nicht nur hinzunehmen oder in einem »überfliegenden Denken« 54 zu ignorieren. Unser Wahrnehmen und Sprechen schlägt sich an den Dingen nieder. In dieser Brechung sind sie uns zugänglich. Jenseits dieser Matrix breitet sich die Nacht der Identität aus, die jede Artikulation unmöglich macht. Dass unsere Erfahrung nicht mit den Dingen und nicht mit unserer eigenen Vergangenheit verschmelzen kann, bedeutet keine »schlechte oder verfehlte Wahrheit, sondern eine privative Nicht-Koinzidenz« 55, einen grundsätzlichen Entzug, welcher Sinngebung möglich macht. Um die Welt zu verstehen, darf sie nicht selbstverständlich sein. 56 Bewusstsein von der Welt und Welt selbst bleiben einer vollendeten Synthese beraubt, weil es eines Bruchs mit der Vertrautheit der Welt bedarf, damit ein Bewusstsein von Welt überhaupt entstehen kann. Es handelt sich um eine Ermöglichung durch Privation, was man als Endlichkeitsstruktur unserer Existenz und unseres Verstehens interpretieren kann. Weder in Bezug auf unsere konkrete Existenz noch im Hinblick auf unser Denken können wir Anfang und Ende im strengen Sinne erfahren. Die Dichte der Dauer und der Welt ziehen unserem Verstehen hier unüberwindliche Grenzen, die sich in jede Weise unseres Zur-Welt-seins einzeichnen. Vielleicht ist die Sehnsucht nach der Verschmelzung mit dem Unmittelbaren eine der möglichen Antworten auf diesen Entzug. Stimmt man mit Merleau-Ponty überein, dass sich jedes Verstehen angesichts einer privativen Nicht-Koinzidenz von Denken Ebd., S. 168. Ebd., S. 103. 55 Ebd., S. 165. 56 Heidegger hebt in Sein und Zeit hervor: »Was ist seinem Wesen nach notwendig Thema einer ausdrücklichen Aufweisung? Offenbar solches, was sich zunächst und zumeist gerade nicht zeigt, was gegenüber dem, was sich zunächst und zumeist zeigt, verborgen ist, aber zugleich etwas ist, was wesenhaft zu dem, was sich zunächst und zumeist zeigt, gehört, so zwar, daß es seinen Sinn und Grund ausmacht.« (Heidegger: Sein und Zeit, S. 47) 53 54

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und Welt vollzieht, dann meint Aneignung eine Eroberung, die ihre Spuren hinterlässt und die in der »Einschlürfung des Gegners« 57 gipfeln kann. Eine Überwältigung, die sich selbst als solche nicht durchschaut, wird damit zu dem Emblem eines problematischen Ipsozentrismus, der den Umgang mit dem Fremden nur als Umweg zum herrschenden Ich betrachtet. Als pure Gewalt kann Verstehen aber nur dann bestimmt werden, wenn man ignoriert, dass wir in ihm eine Resonanz auf eine Welt gestalten, die sich meldet, die uns etwas antut, wie Heidegger sagt. 58 Dieser Widerhall zeigt sich in vorbegrifflichen Erfahrungen, wenn wir darauf verzichten, diese lediglich im Sinne von konstitutiven Akten zu betrachten. Es gibt – wie Merleau-Ponty sagt – »ein Band zwischen Fleisch und Idee« 59, das nicht die Koinzidenz des Denkens mit dem Unmittelbaren meint. Dass das Verstehen unserer Welt, des anderen und unserer selbst unvollendet bleiben muss, bedeutet sein Lebenselixier, das gleichzeitig ein Absud aus der Küche des Teufels ist, welcher der Zuversicht, dass die Zeit alle Wunden heilt, entgegenhält, dass es die Zeit ist, die Wunden reißt. »Alles läuft darauf hinaus: eine Theorie der Wahrnehmung und des Verstehens schreiben, die zeigt, daß Verstehen nicht Konstitution in intellektueller Immanenz bedeutet, daß Verstehen bedeutet, etwas durch Koexistenz zu erfassen, lateral, vom Stile her, und dadurch auf einen Schlag an die Ferne dieses Stiles und dieses Kulturapparates heranzureichen.« 60

Merleau-Ponty verabschiedet sich nicht von der Möglichkeit des Verstehens. Im Unterschied zu Heidegger beharrt er auf der Aufgabe des Philosophen, das Schweigen der »sozusagen noch stummen Erfahrung« zu brechen, und zwar im Bewusstsein des gewaltsamen Eingriffs und angesichts der Unmöglichkeit, an den Ort zurückzukehren, wo dieses Schweigen gebrochen wurde. 61 Das Verstehen bleibt als Ini-

Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente 1885–1887. In: Giorgio Colli/Mazzino Montinari (Hgg.): Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden. Band 12. München 1988, S. 313. 58 Martin Heidegger: Phänomenologische Interpretation von Kants Kritik der reinen Vernunft. Gesamtausgabe. II. Abteilung: Vorlesungen 1925–1944. Band 25. Hrsg. von Ingtraud Görland. Frankfurt a. M. 1977, S. 86. 59 Merleau-Ponty: Das Sichtbare und das Unsichtbare, S. 195. 60 Ebd., S. 243. 61 Vgl. Käte Meyer-Drawe: Illusionen von Autonomie. Diesseits von Ohnmacht und Allmacht des Ich. München 22000, S. 73 ff. 57

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tiative wurzellos. 62 Heidegger verwirft in seinem Spätwerk die Möglichkeit des Verstehens als Geste der Bemächtigung, die typisch für das neuzeitliche Subjekt ist. »Der Mensch muß, bevor er spricht, erst vom Sein sich wieder ansprechen lassen auf die Gefahr, daß er unter diesem Anspruch wenig oder selten etwas zu sagen hat« 63 – so lautet seine Forderung. Levinas wird sich diesem Anspruch genauer widmen, indem er seine Aufmerksamkeit auf die Antworten richtet, die auf ihn folgen können und die eine ethische Dimension erschließen. Im Antworten liegt eine Freiheit von Notwendigkeit, die im bloßen Hören keinen Ort hat.

Maurice Merleau-Ponty: Abenteuer der Dialektik. Übers. von Alfred Schmidt und Herbert Schmitt. Frankfurt a. M. 1974 [Paris 1955], S. 166, Anm. 63 Martin Heidegger: Brief über den Humanismus (1946). In: Ders.: Wegmarken. Gesamtausgabe. I. Abteilung: Veröffentlichte Schriften 1914–1970. Band 9. Hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, S. 313–364, hier: S. 319. 62

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Verstehen als Geschehen Zu Hans-Georg Gadamers Hermeneutik der Zugehörigkeit Hans-Ulrich Lessing

Zu den herausragenden Ereignissen der deutschen Philosophie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gehört unbestritten Hans-Georg Gadamers Werk Wahrheit und Methode. 1 Das Buch, das 1960 erschien, erzielte nicht nur im deutschsprachigen Raum größte Beachtung, sondern wurde auch international ein bedeutender Erfolg. Gadamers hermeneutische Theorie löste in den Geisteswissenschaften im engeren Sinn, aber auch in den Sozialwissenschaften eine intensive, kritische Diskussion und eine breite Rezeption aus, was nicht selten zur Folge hatte, dass die Hermeneutik bzw. die hermeneutische Philosophie umstandslos mit Gadamers Ansatz identifiziert wurde – und dies, obwohl tragende Thesen und Begriffe seiner Konzeption, wie die hermeneutische Bedeutung der Vorurteile sowie des Zeitenabstands und der Begriff Wirkungsgeschichte nicht frei von Unklarheiten und Widersprüchen sind und Missverständnisse hervorrufen. 2 In seiner Hermeneutik polemisiert Gadamer gegen die Aufklärung, den Historismus und insbesondere die sogenannte »traditionelle« Hermeneutik Schleiermachers und Diltheys, die sich – so seine Kritik – den Methodenbegriff der modernen Wissenschaften, der Objektivität garantieren soll, zueigen gemacht habe. Dagegen macht er geltend, dass die Forderung, das Verstehen als Methode der Geisteswissenschaften auszuweisen, naiv sei. Sie vergesse nämlich die GeHans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, in: Gesammelte Werke. Band 1: Hermeneutik I, 6. Aufl. Tübingen 1990. Im Folgenden zitiere ich nach dieser Ausgabe mit der Nennung der einfachen Seitenzahl. Die Zitate wurden mit der Einzelausgabe (4. Aufl. 1975) verglichen und ggf. danach korrigiert. 2 Vgl. etwa die scharfe Kritik von Gunter Scholtz: Das Interpretandum in der philosophischen Hermeneutik Gadamers. In: Mirko Wischke/Michael Hofer (Hgg.): Gadamer verstehen / Understanding Gadamer. Darmstadt 2003, S. 13–34; Gadamers philosophische Hermeneutik und die Geisteswissenschaften, in: Divinatio 36 (autumn – winter 2012–2013), S. 7–24. 1

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schichtlichkeit des Verstehens. Mit Heidegger behauptet Gadamer die wesentliche Vorurteilshaftigkeit des Verstehens, die allerdings nicht die Interpretation beeinträchtige, sondern vielmehr die notwendige Bedingung des Verstehens darstelle. Das Thema von Gadamers hermeneutischer Theorie ist das geisteswissenschaftliche Verstehen, und zwar ausschließlich die Interpretation von Texten der eigenen Überlieferung. Aber anders als die von ihm sogenannte »traditionelle« Hermeneutik 3 intendiert Gadamer keine Methodenlehre des Verstehens, sondern vielmehr eine »philosophische« Hermeneutik, 4 die er als philosophische Analyse der sogenannten »hermeneutischen Situation« 5 und als (transzendentale) Reflexion auf die Bedingungen des Verstehens begreift. Gadamer entwickelt seine philosophische Hermeneutik nicht in strikt systematischem Gang, sondern vor allem im Zusammenhang einer Kritik der Hermeneutik Schleiermachers und Diltheys und geradezu als Gegenentwurf zur historistischen Hermeneutik. So spricht Gadamer an einer Stelle von der »Überwindung der Hermeneutik des Historismus, die meine Untersuchungen im ganzen anstreben«. (336, Anm. 275) Gadamers philosophische Hermeneutik gewinnt insbesondere Kontur aus der Kritik der Diltheyschen Hermeneutik. Man muss Gadamer daher aus dieser Gegenstellung zu Dilthey zu verstehen suchen und in ihm vor allem eine Art Gegen-Dilthey erblicken. Denn Dilthey, der einerseits neben Hegel, Yorck von Wartenburg, Husserl und Heidegger und zu den wesentlichen Anregern der philosophischen Hermeneutik wird, ist andererseits der wichtigste Gegenspieler Gadamers. So schreibt er in seinem späten Versuch einer Selbstkritik: »Der Sache nach bin ich von Dilthey und der Frage nach der Begründung der Geisteswissenschaften ausgegangen und habe mich kritisch dagegen abgesetzt.« 6 Und Dilthey bleibt auch noch in »Die traditionelle Hermeneutik hat den Problemhorizont, in den das Verstehen gehört, in unangemessener Weise verengt.« (S. 265) Zur »traditionellen Hermeneutik« vgl. auch S. 264 f. 4 Vgl. S. 280, 307, 314. – Zu Gadamers Unterscheidung von traditioneller und philosophischer Hermeneutik vgl. Frithjof Rodi: Traditionelle und philosophische Hermeneutik. Bemerkungen zu einer problematischen Unterscheidung, in: Ders.: Erkenntnis des Erkannten. Zur Hermeneutik des 19. Und 20. Jahrhunderts. Frankfurt a. M. 1990, S. 89–101. 5 Vgl. S. 305, 307, 308, 311, 401, 476. 6 Hans-Georg Gadamer: Zwischen Phänomenologie und Dialektik – Versuch einer Selbstkritik (1985), in: Ders.: Gesammelte Werke Band II: Hermeneutik II. Wahrheit und Methode. Ergänzungen. Tübingen 1986, S. 3–23; hier: S. 8. 3

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der späteren Philosophie in den Jahrzehnten nach Wahrheit und Methode für Gadamer der »Orientierungspunkt der Kritik«. 7 Der Historismus, so lautet Gadamers Kritik, vernachlässigt in naiver Verkennung die Geschichtlichkeit des Verstehenden und konzipiert eine Methodenlehre, die nach dem Vorbild der Naturwissenschaften eine Objektivität des Verstehens intendiert. Der zu verstehende Text wird somit zu einem Gegenstand der Forschung und Entzifferung, wobei die Gleichzeitigkeit von Interpret und Text vorausgesetzt wird. Mit Heideggers »Hermeneutik der Faktizität« begreift Gadamer dagegen das Verstehen primär als ein Existenzial und nicht als Methode, 8 die eine Herrschaft, eine Überlegenheit über den Text suggeriert. Das geisteswissenschaftliche Verstehen ist nach Gadamer vielmehr ein »Geschehen« (vgl. u. a. 3, 314, 467), das eine »Zugehörigkeit« (vgl. u. a. 266 f., 295, 467) zur Tradition zur Bedingung hat. Die folgende kritische, textnahe Darstellung der philosophischen Hermeneutik Gadamers soll unter besonderer Fokussierung auf diese Leitbegriffe des Geschehens und der Zugehörigkeit unternommen werden.

I. Gadamer bestimmt die »eigentliche hermeneutische Aufgabe« in Bezug auf fixierte Texte. (394, vgl. 396) 9 Das erinnert an Dilthey, der in seinem bekannten Aufsatz Die Entstehung der Hermeneutik (1900) geschrieben hatte, dass »die Kunst des Verstehens ihren Mittelpunkt in der Auslegung oder Interpretation der in der Schrift enthaltenen Hans-Georg Gadamer: Text und Interpretation (1983), in: Ders.: Gesammelte Werke Band II, S. 330–360; hier: S. 334. – Vgl. Hans-Ulrich Lessing: Historische Aufklärung und Geschichtlichkeit. Zur Rezeption von Diltheys Begriffswelt in Gadamers philosophischer Hermeneutik, in: Ders.: Die Autonomie der Geisteswissenschaften. Studien zur Philosophie Wilhelm Diltheys. Erster Band: Dilthey im philosophie- und wissenschaftsgeschichtlichen Kontext. Nordhausen 2015, S. 228–256. 8 »Der Begriff des Verstehens ist nicht mehr ein Methodenbegriff, wie bei Droysen. Verstehen ist auch nicht, wie in Diltheys Versuch einer hermeneutischen Grundlegung der Geisteswissenschaften, eine dem Zug des Lebens zur Idealität erst nachfolgende inverse Operation. Verstehen ist der ursprüngliche Seinscharakter des menschlichen Lebens selber.« (S. 264) 9 Vgl. S. 398: »alles Schriftliche ist […] in bevorzugter Weise Gegenstand der Hermeneutik«. 7

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Reste menschlichen Daseins« habe. 10 Demgemäß ist nach Dilthey die »hermeneutische Wissenschaft« die »Kunstlehre der Auslegung von Schriftdenkmalen«. 11 Gadamer – und Dilthey – schränken folglich die Hermeneutik auf die Interpretation schriftlich fixierter Texte ein, wobei es Gadamer ausschließlich um die Interpretation von Texten der Überlieferung geht. Dabei lässt es Gadamer allerdings offen, was konkret unter »Überlieferung« zu verstehen ist. Überlieferung ist offensichtlich das, was von der Gegenwart durch einen Zeitabstand getrennt ist, also historisch ist, und der Gegenwart, zumindest jenen Gegenwärtigen, die in der Lage sind zu hören, etwas zu sagen hat. Wie Gadamer formuliert, ist »die Seinsart der Überlieferung […] keine sinnlich unmittelbare. Sie ist Sprache, und das Hören, das sie versteht, bezieht ihre Wahrheit in ein eigenes sprachliches Weltverhalten ein, indem es die Texte auslegt.« (467) Texte der Überlieferung sind letztlich »klassische« Texte, wobei der Begriff des Klassischen, der in Gadamers Hermeneutik eine große Bedeutung gewinnt, »nicht eine Qualität [bezeichnet], die bestimmten geschichtlichen Erscheinungen zuzusprechen ist, sondern eine ausgezeichnete Weise des Geschichtlichseins selbst, den geschichtlichen Vorzug der Bewahrung, die – in immer erneuerter Bewährung – ein Wahres sein lässt«. Klassisch ist demnach, »was der historischen Kritik gegenüber standhält, weil seine geschichtliche Herrschaft, die verpflichtende Macht seiner sich überliefernden und bewahrenden Geltung, aller historischen Reflexion schon vorausliegt und sich in ihr durchhält.« (292) Das so definierte Klassische ist – wie Gadamer weiter erläutert – »eine geschichtliche Wirklichkeit, der auch noch das historische Bewußtsein zugehört und untersteht. Was klassisch ist, das ist herausgehoben aus der Differenz der wechselnden Zeit und ihres wandelbaren Geschmacks«. Es ist somit – kurz gesagt – »ein Bewußtsein des Bleibendseins, der unverlierbaren, von allen Zeitumständen unabhängigen Bedeutung, in dem wir etwas ›klassisch‹ nennen – eine Art zeitloser Gegenwart, die für jede Gegenwart Gleichzeitigkeit bedeutet.« Und dieses Klassische ist – wie er ergänzt – »auf eine unmittelbare Weise zugänglich«. (293) Klassisch ist somit, »was sich bewahrt, weil es sich selber bedeutet und sich selber deutet; Wilhelm Dilthey: Die Entstehung der Hermeneutik, in: Gesammelte Schriften. Band V. Hrsg. von Georg Misch. Stuttgart 1957, S. 317–338; hier: S. 319. 11 Ebd., S. 320. 10

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was also derart sagend ist, daß es nicht eine Aussage über ein Verschollenes ist, ein bloßes, selbst noch zu deutendes Zeugnis von etwas, sondern das der jeweiligen Gegenwart etwas so sagt, als sei es eigens ihr gesagt«. (294 f.) Daraus folgt für Gadamer, dass das, was »klassisch« ist, »nicht erst der Überwindung des historischen Abstandes bedürftig [ist] – denn es vollzieht selber in beständiger Vermittlung diese Überwindung. Was klassisch ist, ist daher gewiß ›zeitlos‹, aber diese Zeitlosigkeit ist eine Weise geschichtlichen Seins.« (295) Konkret denkt der klassische Philologe Gadamer wohl vor allem an klassische Texte der Antike und – bezogen auf den deutschen Sprachraum – an Texte der Klassiker der deutschen Literatur, z. B. der Goethezeit oder der Moderne. Die von Gadamer angestrebte Hermeneutik versteht sich nicht als eine Methodenlehre (vgl. 3), sondern als eine dezidiert »philosophische« Hermeneutik. 12 Das heißt, Gadamer versucht, »das hermeneutische Phänomen in seiner vollen Tragweite sichtbar zu machen. Es gilt in ihm eine Erfahrung von Wahrheit anzuerkennen, die nicht nur philosophisch gerechtfertigt werden muß, sondern die selber eine Weise des Philosophierens ist. Die Hermeneutik, die hier entwickelt wird, ist daher nicht etwa eine Methodenlehre der Geisteswissenschaften, sondern der Versuch einer Verständigung über das, was die Geisteswissenschaften über ihr methodisches Selbstbewußtsein hinaus in Wahrheit sind und was sie mit dem Ganzen unserer Welterfahrung verbindet.«

Gadamers Ziel ist somit keine wie immer geartete Kunstlehre des Verstehens, denn eine solche Kunstlehre, wie sie traditionell von den philologischen oder theologischen Hermeneutiken vorgelegt wurde, »würde verkennen, daß angesichts der Wahrheit dessen, was uns in der Überlieferung anspricht, der Formalismus kunstvollen Könnens eine falsche Überlegenheit in Anspruch nähme«. (3) 13 Sein Anspruch ist vielmehr ein philosophischer: »Nicht, was wir tun, nicht, was wir

Vgl. Hans-Georg Gadamer: Selbstdarstellung (1975). In: Ders.: Gesammelte Werke Band II, S. 479–508; hier: S. 494 f. 13 Hans-Georg Gadamer: Vorwort zur 2. Auflage (1965). In: Ders.: Gesammelte Werke Band II, S. 437–448; hier: S. 438: »Eine ›Kunstlehre‹ des Verstehens, wie es die ältere Hermeneutik sein wollte, lag nicht in meiner Absicht. Ich wollte nicht ein System von Kunstregeln entwickeln, die das methodische Verfahren der Geisteswissenschaften zu beschreiben oder gar zu leiten vermöchten. Meine Absicht war auch nicht, die theoretischen Grundlagen der geisteswissenschaftlichen Arbeit zu erforschen, um die gewonnenen Erkenntnisse ins Praktische zu wenden.« 12

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tun sollten, sondern was über unser Wollen und Tun hinaus mit uns geschieht, steht in Frage.« 14 Seinen spezifischen Ansatz begründet Gadamer mit dem Argument, dass das hermeneutische Phänomen »ursprünglich überhaupt kein Methodenproblem [ist]. Es geht in ihm nicht um eine Methode des Verstehens, durch die Texte einer wissenschaftlichen Erkenntnis so unterworfen werden, wie alle sonstigen Erfahrungsgegenstände. Es geht in ihm überhaupt nicht in erster Linie um den Aufbau einer gesicherten Erkenntnis, die dem Methodenideal der Wissenschaft genügt – und doch geht es um Erkenntnis und um Wahrheit auch hier. Im Verstehen der Überlieferung werden nicht nur Texte verstanden, sondern Einsichten erworben und Wahrheiten erkannt.« (1)

Gadamers entscheidender Grundgedanke ist, dass es unangemessen ist, den Texten der so verstandenen Überlieferung, die Wahres zu sagen haben und in die Gegenwart mit einem Anspruch auf Wahrheit hineinsprechen, mit den Methoden der modernen Wissenschaft gegenübertreten zu wollen. Die konkrete Aufgabe der philosophischen Hermeneutik lässt sich nun als Analyse oder Erhellung der hermeneutischen Situation beschreiben, wobei die »hermeneutische Situation« nach Gadamer die Situation ist, »in der wir uns gegenüber der Überlieferung befinden, die wir zu verstehen haben«. (307) 15 Dem Begriff der Situation korrespondiert dem Begriff des Horizontes, denn die Situation stellt einen Standort dar, »der die Möglichkeiten des Sehens beschränkt«, der folglich durch einen jeweiligen Horizont eingegrenzt ist, wobei Gadamer den Horizont als »Gesichtskreis« bezeichnet, »der all das umfaßt und umschließt, was von einem Punkt aus sichtbar ist«, und diese »Gebundenheit« des Verstehens an seine »endliche Bestimmtheit« (307) wird für Gadamers Historismus-Kritik ausschlaggebend. Gegen den »naive[n] Methodologismus der historischen Forschung« (290) macht Gadamer, gestützt auf Heideggers Nachweis und Anerkennung der »wesenhaften Vorurteilshaftigkeit alles Verstehens« (274), geltend, dass die hermeneutische Situation eine SiHans-Georg Gadamer: Vorwort zur 2. Auflage, S. 438. Den Begriff der »hermeneutischen Situation« übernimmt Gadamer vom frühen Heidegger, der ihn im Zusammenhang seiner geplanten Aristoteles-Interpretationen eingeführt hat. Vgl. Martin Heidegger: Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles. (Anzeige der hermeneutischen Situation) (1922). In: Gesamtausgabe. II. Abteilung. Band 62. Hrsg. von Käte Bröcker-Oltmanns. Frankfurt a. M. 2005, S. 341 ff.

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tuation ist, die durch eine Vormeinung bestimmt ist. Und diese, das ist für das Verständnis seiner Konzeption wesentlich, »ist keine bedauerliche Entstellung, die die Reinheit des Verstehens beeinträchtigt, sondern die Bedingung seiner Möglichkeit«. (476) Der Historismus steht – so seine Kritik – auf dem Boden der modernen Aufklärung und teilt deren Vorurteile undurchschaut, und zwar vor allem das »Vorurteil der Aufklärung«, d. h. »das Vorurteil gegen die Vorurteile überhaupt und damit die Entmachtung der Überlieferung«. (275; vgl. 277 ff.) Gadamers Kritik der Diskreditierung der Vorurteile durch die Aufklärung und die moderne Wissenschaft wird damit zu einem entscheidenden »Punkt, an dem der Versuch einer philosophischen Hermeneutik kritisch einzusetzen hat«: »Die Überwindung aller Vorurteile, diese Pauschalforderung der Aufklärung, wird sich selber als ein Vorurteil erweisen, dessen Revision erst den Weg für ein angemessenes Verständnis der Endlichkeit freimacht, die nicht nur unser Menschsein, sondern ebenso unser geschichtliches Bewußtsein beherrscht.« (280)

Gadamers zentrale Kritik am Historismus lautet, dass seine Naivität darin besteht, dass er »im Vertrauen auf die Methodik seines Verfahrens seine eigene Geschichtlichkeit vergißt«. (304) Der Historismus sieht methodisch von sich ab und unterstellt, dass es möglich sei, die eigenen Vorurteile einzuklammern, um so die gewünschte Objektivität der Forschung zu gewährleisten. Ein wirklich historisches Denken muss nach Gadamer aber »die eigene Geschichtlichkeit mitdenken«. (305) Die Reflexion auf die Wirklichkeit der Geschichte, die in jedem Verstehensvorgang am Werk ist, nennt Gadamer das »wirkungsgeschichtliche Bewußtsein« (305) Seine entsprechende Forderung lautet daher: »Das wirkungsgeschichtliche Bewußtsein soll sich bewußt werden, daß in der vermeintlichen Unmittelbarkeit, mit der es sich auf das Werk oder die Überlieferung richtet, diese andere Fragestellung stets, wenn auch unerkannt und entsprechend unkontrolliert, mitspielt.« (305; vgl. 306)

Dies hat weitreichende hermeneutische Konsequenzen: »Wenn wir aus der für unsere hermeneutische Situation im ganzen bestimmenden historischen Distanz eine historische Erscheinung zu verstehen suchen, unterliegen wir immer bereits den Wirkungen der Wir-

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kungsgeschichte. Sie bestimmt im voraus, was sich uns als fragwürdig und als Gegenstand der Forschung zeigt«. (305 f.)

Der Interpret wird damit gewissermaßen zum Spielball anonym wirkender geschichtlicher Kräfte und Mächte, wie Gadamer an einer bezeichnenden Stelle zu erkennen gibt, wenn er auf die »Macht der Geschichte über das endliche menschliche Bewußtsein« verweist, »daß sie sich auch dort durchsetzt, wo man im Glauben an die Methode die eigene Geschichtlichkeit verleugnet«: »In der vermeintlichen Naivität unseres Verstehens, in der wir dem Maßstab der Verständlichkeit folgen, zeigt sich das Andere so sehr vom Eigenen her, daß es gar nicht mehr als Eigenes und Anderes zur Aussage kommt. Der historische Objektivismus, indem er sich auf seine kritische Methodik beruft, verdeckt die wirkungsgeschichtliche Verflechtung, in der das historische Bewußtsein selber steht.« (306)

Aus dieser grundlegenden Einsicht leitet Gadamer die Forderung ab, »sich dieser Wirkungsgeschichte bewußt zu werden«. (306) Wirkungsgeschichtliche Reflexion ist insofern die Erhellung der hermeneutischen Situation. Diese ist nicht vollendbar, »aber die Unvollendbarkeit ist nicht ein Mangel an Reflexion, sondern liegt im Wesen des geschichtlichen Seins, das wir sind. Geschichtlichsein heißt, nie im Sichwissen Aufgehen.« (307) Gegen die romantische Hermeneutik wendet Gadamer ein, dass es ganz abwegig sei, »die Möglichkeit des Verstehens von Texten auf die Voraussetzung der ›Kongenialität‹ zu gründen, die Schöpfer und Interpret eines Werkes vereinigen soll. […] Das Wunder des Verstehens besteht vielmehr darin, daß es keiner Kongenialität bedarf, um das wahrhaft Bedeutsame und das ursprünglich Sinnhafte in der Überlieferung zu erkennen. Wir vermögen uns vielmehr dem überlegenen Anspruch des Textes zu öffnen und der Bedeutung verstehend zu entsprechen, in der er zu uns spricht. Die Hermeneutik im Bereich der Philologie und der historischen Geisteswissenschaften ist überhaupt nicht ›Herrschaftswissen‹, d. h. Aneignung als Besitzergreifung, sondern ordnet sich selbst dem beherrschenden Anspruch des Textes unter.« (316)

Verstehen erstrebt nach Gadamer somit keine Herrschaft über den Sinngehalt des Textes, keine Aneignung von Sinn, sondern unterliegt dem Primat des Textes und ordnet sich seinem überlegenen Wahrheitsanspruch unter. Damit schreibt er die Depotenzierung des Interpreten fort, der den »überlegenen Anspruch des Textes« anzuerken87 https://doi.org/10.5771/9783495817650 .

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nen hat und sich in die Unterordnung unter den Anspruch des Textes zu schicken hat. Gefordert wird von Gadamer eine »Offenheit für die Überlieferung«. Das heißt: »Ich muß die Überlieferung in ihrem Anspruch gelten lassen, nicht im Sinne einer bloßen Anerkennung der Andersheit der Vergangenheit, sondern in der Weise, daß sie mir etwas zu sagen hat.« Das wirkungsgeschichtliche Bewusstsein lässt die Überlieferung »zur Erfahrung werden« und hält sich »für den Wahrheitsanspruch, der in ihr begegnet, offen«. (367) Gegen den »naive[n] Glaube[n] an die Methode und die durch sie erreichbare Objektivität«, wendet Gadamer ein: »Wer die Überlieferung in dieser Weise versteht, der macht sie zum Gegenstand, d. h. aber, er tritt der Überlieferung frei und unbetroffen gegenüber, und indem er alle subjektiven Momente in Bezug zur Überlieferung methodisch ausschaltet, wird er dessen gewiß, was sie enthält.«

Damit aber löst er sich »von dem Fortwirken der Tradition […], in der er selbst seine geschichtliche Wirklichkeit hat«. (364) Den Gedanken der Methode will Gadamer überwinden durch die »Erfahrung der menschlichen Endlichkeit«. Eigentliche Erfahrung ist »Erfahrung der eigenen Geschichtlichkeit« (363), und gegen das Ideal der historischen Aufklärung behauptet Gadamer: »Wer seiner Vorurteilslosigkeit gewiß zu sein meint, indem er sich auf die Objektivität seines Verfahrens stützt und seine eigene geschichtliche Bedingtheit verleugnet, der erfährt die Gewalt der Vorurteile, die ihn unkontrolliert beherrschen, als eine vis a tergo. Wer die ihn beherrschenden Vorurteile nicht wahrhaben will, wird das verkennen, was sich in ihrem Lichte zeigt.«

Das heißt mit anderen Worten, »wer sich aus dem Lebensverhältnis zur Überlieferung herausreflektiert, [zerstört] den wahren Sinn der Überlieferung«. (366) Der Sinn der Überlieferung wird also nicht in einer Distanz zu ihr erfahrbar, sondern nur im unmittelbaren Lebensverhältnis zu ihr. Das bindende Lebensverhältnis zur Überlieferung wird damit zum entscheidenden Grundgedanken der philosophischen Hermeneutik Gadamers, deren Credo in einer starken These zum Ausdruck kommt: »Das historische Bewußtsein, das Überlieferung verstehen will, darf sich nicht auf die methodisch-kritische Arbeitsweise, mit der es an die Quellen herantritt, verlassen, als ob diese es davor bewahre, seine eigenen Urteile und Vorurteile einzumengen. Es muß in 88 https://doi.org/10.5771/9783495817650 .

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Wahrheit die eigene Geschichtlichkeit mitdenken. In Überlieferungen stehen […] schränkt nicht die Freiheit des Erkennens ein, sondern macht sie möglich.« (366 f.) Das In-Überlieferungen-Stehen wird damit zur Bedingung der Möglichkeit von Erkennen und Verstehen. Daher wird für Gadamers Projekt einer philosophischen Hermeneutik der von Yorck von Wartenburg eingeführte und von Heidegger »in voller Radikalität« entfaltete Begriff der »Zugehörigkeit« bedeutsam. 16 Mit dem Begriff der Zugehörigkeit wird laut Gadamer das folgende Problem bezeichnet: »Daß wir nur Historie treiben, sofern wir selber ›geschichtlich‹ sind, bedeutet, daß die Geschichtlichkeit des menschlichen Daseins in ihrer ganzen Bewegtheit des Gewärtigens und Vergessens die Bedingung dafür ist, daß wir Gewesenes überhaupt vergegenwärtigen. Was zunächst nur wie eine Schranke, die den herkömmlichen Begriff von Wissenschaft und Methode beeinträchtigte, oder als eine subjektive Zugangsbedingung der geschichtlichen Erkenntnis erschien, rückt nun in den Mittelpunkt einer grundsätzlichen Fragestellung. ›Zugehörigkeit‹ ist nicht deshalb eine Bedingung für den ursprünglichen Sinn historischen Interesses, weil Themenwahl und Fragestellung außerwissenschaftlichen, subjektiven Motivationen unterliegen […], sondern weil Zugehörigkeit zu Traditionen genau so ursprünglich und wesenhaft zu der geschichtlichen Endlichkeit des Daseins gehört wie sein Entworfensein auf zukünftige Möglichkeiten.« (266)

Die »Zugehörigkeit des Interpreten zu der Überlieferung, mit der er es tun hat« (319), wird damit zur wesentlichen, notwendigen Bedingung des Verstehens. Die Zugehörigkeit des Interpreten zu seinem Gegenstand erhält durch Heideggers Hermeneutik der Faktizität und seine Analyse der »Vorstruktur des Verstehens« 17 – so Gadamer – »nun einen konkret aufweisbaren Sinn, und es ist die Aufgabe der Hermeneutik, die Aufweisung dieses Sinnes zu leisten«. (268; vgl. 270 ff.) Gegen Diltheys »Befangenheit in die traditionelle Erkenntnistheorie«, die er – so Gadamer – nicht zu überwinden vermochte, und

Vgl. Wilhelm Dilthey: Briefwechsel Band II: 1882–1895. Hrsg. von Gudrun Kühne-Bertram und Hans-Ulrich Lessing. Göttingen 2015, S. 558. – Vgl. Fritz Kaufmann: Die Philosophie des Grafen Paul Yorck von Wartenburg. Halle a. d. S. 1928, S. 50–56; Frithjof Rodi: Die Intensität des Lebens. Zur Stellung des Grafen Yorck zwischen Dilthey und Heidegger. In: Ders.: Das strukturierte Ganze, Studien zum Werk von Wilhelm Dilthey. Weilerswist 2003, S. 225–247 17 Vgl. Martin Heidegger: Sein und Zeit, 12., unveränderte Aufl. Tübingen 1972, S. 151 f. und 312 ff. 16

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seinen Ausgangspunkt vom Erlebnis und dem Versuch, von dort aus eine Brücke zu den geschichtlichen Realitäten zu schlagen, argumentiert Gadamer, dass »die großen geschichtlichen Wirklichkeiten, Gesellschaft und Staat, in Wahrheit schon immer vorgängig für jedes ›Erlebnis‹ bestimmend sind. Die Selbstbesinnung und die Autobiographie – Diltheys Ausgangspunkte – sind nichts Primäres und reichen als Basis für das hermeneutische Problem nicht aus, weil durch sie die Geschichte reprivatisiert wird. In Wahrheit gehört die Geschichte nicht uns, sondern wir gehören ihr. Lange bevor wir uns in der Rückbesinnung selber verstehen, verstehen wir uns auf selbstverständliche Weise in Familie, Gesellschaft und Staat, in denen wir leben. 18 Der Fokus der Subjektivität ist ein Zerrspiegel. Die Selbstbesinnung des Individuums ist nur ein Flackern im geschlossenen Stromkreis des geschichtlichen Lebens. Darum sind die Vorurteile des einzelnen weit mehr als seine Urteile die geschichtliche Wirklichkeit seines Seins.« (281)

Folglich postuliert Gadamer die »Vorurteile als Bedingung des Verstehens« (281–295) und unternimmt eine Wiederanerkenung von Autorität und Tradition (vgl. 281–290), die unter der leitenden These steht, dass es »einer grundsätzlichen Rehabilitierung des Begriffes des Vorurteils und einer Anerkennung dessen [bedarf], daß es legitime Vorurteile gibt, wenn man der endlich-geschichtlichen Seinsweise des Menschen gerecht werden will.« (281) Dabei stellt sich nun allerdings die Grundfrage, was ein legitimes Vorurteil ist und was ein legitimes Vorurteil von den vielen unberechtigten, also illegitimen Vorurteilen unterscheidet. (Vgl. 281 f.) Gadamer geht davon aus, dass es berechtigte und für die Erkenntnis produktive Vorurteile gibt und dass Autorität – dies ist gegen die Aufklärung gewandt – auch eine »Wahrheitsquelle« sein kann. (283) In seiner vielkritisierten Wesensanalyse von Autorität stellt Gadamer fest, dass die Autorität von Personen ihren letzten Grund »nicht in einem Akte der Unterwerfung und der Abdikation von Vernunft, sondern in einem Akt der Anerkennung und der Erkenntnis [hat] – der Erkenntnis nämlich, daß der andere einem an Urteil und Einsicht überlegen ist.« Autorität wird folglich nicht eigentlich verliehen, sondern muss erworben sein, wenn sie jemand in Anspruch nehmen will: »Sie beruht auf Anerkennung und insofern auf einer

Diese Einsicht hatte im Übrigen Dilthey durchaus mit seiner Konzeption des »objektiven Geistes« zum Ausdruck gebracht. Vgl. Gesammelte Schriften Band VII. Hrsg. von Bernhard Groethuysen. Stuttgart 1958, S. 146 ff. und 208 ff.

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Handlung der Vernunft selbst, die, ihrer Grenzen inne, anderen bessere Einsicht zutraut.« Gadamer plädiert daher für den »richtig verstandenen Sinn von Autorität« und macht deutlich, dass Autorität »überhaupt nichts mit Gehorsam, sondern mit Erkenntnis zu tun [hat]«. (284) Daher werden die durch Autorität von Fachleuten eingepflanzten Vorurteile zu »sachlichen Vorurteilen«, »denn sie bewirken die gleiche Eingenommenheit für eine Sache, die auf andere Weise, z. B. durch gute Gründe, die die Vernunft geltend macht, zustande kommen kann.« (285) Eine Form der Autorität, die für Gadamers Überlegungen wichtig wird, ist die Tradition: »Das durch Überlieferung und Herkommen Geheiligte hat eine namenlos gewordene Autorität, und unser geschichtliches endliches Sein ist dadurch bestimmt, daß stets auch Autorität des Überkommenen – und nicht nur das aus Gründen Einsichtige – über unser Handeln und Verhalten Gewalt hat.« Tradition heißt – so Gadamer – »ohne Begründung zu gelten«. (285) Bejahte und gepflegte Bewahrung ist – wie er zu zeigen versucht – eine Tat der Vernunft und ein Verhalten der Freiheit. So stellt sich für Gadamer die Frage, »ob in der geisteswissenschaftlichen Hermeneutik das Moment der Tradition nicht grundsätzlich zu seinem Recht gebracht werden muß.« (286) Geisteswissenschaftliche Forschung muss die Art, wie wir uns als geschichtlich Lebende zur Vergangenheit verhalten, berücksichtigen: »In unserem Verhalten zur Vergangenheit, das wir ständig betätigen, ist jedenfalls nicht Abstandnahme und Freiheit vom Überlieferten das eigentliche Anliegen. Wir stehen vielmehr ständig in Überlieferung, und dieses Darinstehen ist kein vergegenständlichendes Verhalten, so daß das, was die Überlieferung sagt, als ein anderes, Fremdes gedacht wäre – es ist immer schon ein Eigenes, Vorbild und Abschreckung, ein Sichwiedererkennen, in dem für unser späteres historisches Nachurteil kaum noch Erkennen, sondern unbefangenste Anverwandlung der Überlieferung zu gewahren ist.« (286 f.)

Aus diesen Überlegungen zieht Gadamer den Schluss, dass sich das Verstehen in den Geisteswissenschaften nicht richtig versteht, »wenn es das Ganze seiner eigenen Geschichtlichkeit auf die Seite der Vorurteile schiebt, von denen man frei werden muß«. (287) Das Verstehen in den Geisteswissenschaften teilt vielmehr mit dem Fortleben der Tradition die »grundlegende Voraussetzung, […] sich von der Überlieferung angesprochen zu sehen«. Und Gadamer gibt zu beden91 https://doi.org/10.5771/9783495817650 .

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ken, dass »für die Gegenstände ihrer Forschung – so gut wie für die Inhalte der Tradition – [gilt], daß dann erst ihre Bedeutung erfahrbar wird«. (287) Daher muss am Anfang der historischen Hermeneutik »die Auflösung des abstrakten Gegensatzes zwischen Tradition und Historie, zwischen Geschichte und Wissen von ihr stehen«: »Die Wirkung der fortlebenden Tradition und die Wirkung der historischen Forschung bilden eine Wirkungseinheit, deren Analyse immer nur ein Geflecht von Wechselwirkungen anzutreffen vermöchte. Wir tun daher gut, das historische Bewußtsein nicht – wie es zunächst scheint – als etwas radikal Neues zu denken, sondern als ein neues Moment innerhalb dessen, was das menschliche Verhältnis zur Vergangenheit von jeher ausmachte. Es gilt, mit anderen Worten, das Moment der Tradition im historischen Verhalten zu erkennen und auf seine hermeneutische Produktivität zu befragen.« (287)

In den Geisteswissenschaften, das zeigt laut Gadamer ein Blick auf die Geschichte der Forschung, ist »trotz aller Methodik ihres Verfahrens ein Einschlag von Tradition wirksam […], der ihr eigentliches Wesen ist und ihre Auszeichnung ausmacht« (287 f.; vgl. 288 f.), und dies mache einen entscheidenden Unterschied zu den Naturwissenschaften aus. Gadamers Forderung, die er durchaus als »Zumutung an das Selbstverständnis der Geisteswissenschaften« begreift, lautet daher, »sich dergestalt im ganzen ihres Tuns von dem Vorbild der Naturwissenschaften abzulösen und die geschichtliche Bewegtheit dessen, womit sie es zu tun hat, nicht nur als eine Beeinträchtigung ihrer Objektivität anzusehen, sondern positiv anzuerkennen«. (290) Denn die geschichtliche Forschung ist »getragen von der geschichtlichen Bewegung, in der das Leben selbst steht, und läßt sich nicht teleologisch von dem Gegenstand her begreifen, dem ihre Forschung gilt«. (289) Beispielhaft für Gadamers positiven Begriff der Tradition ist der schon angesprochene Begriff des Klassischen. Das Verstehen eines klassischen Werks wird neben der historischen Rekonstruktion einer vergangenen Welt, der dieses Werk zugehörte, »immer zugleich ein Bewußtsein der Mitzugehörigkeit dieser Welt enthalten. Dem aber entspricht eine Mitzugehörigkeit des Werkes zu unserer Welt.« (295) Aus seiner Analyse des Begriffs des Klassischen leitet Gadamer eine Frage ab, die für seine philosophische Hermeneutik den weiteren Argumentationsgang vorgibt: »Liegt am Ende solche geschichtliche 92 https://doi.org/10.5771/9783495817650 .

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Vermittlung der Vergangenheit mit der Gegenwart, wie sie den Begriff des Klassischen prägt, allem historischen Verhalten als wirksames Substrat zugrunde?« (295) Gegen die romantische Hermeneutik bis hin zu Dilthey, die »in der Gleichartigkeit der Menschennatur ein ungeschichtliches Substrat für ihre Theorie des Verstehens in Anspruch genommen und damit den kongenial Verstehenden aus aller geschichtlichen Bedingtheit herausgelöst hatte« (295; vgl. 316), bringt Gadamer seine Einsicht zur Geltung, »nicht nur im Geschehen, sondern ebenso noch im Verstehen geschichtliche Bewegtheit zu erkennen«: »Das Verstehen ist selber nicht so sehr als eine Handlung der Subjektivität zu denken, sondern als Einrücken in ein Überlieferungsgeschehen, in dem sich Vergangenheit und Gegenwart beständig vermitteln. Das ist es, was in der hermeneutischen Theorie zur Geltung kommen muß, die viel zu sehr von der Idee eines Verfahrens, einer Methode, beherrscht ist.« (295)

Verstehen ist daher keine geheimnisvolle Kommunion der Seelen, keine Versetzung in die seelische Verfassung des Autors, sondern vielmehr »Teilhabe am gemeinsamen Sinn«. (297) Das Verstehen verläuft zirkelhaft, wobei der Zirkel das Verstehen als »das Ineinanderspiel der Bewegung der Überlieferung und der Bewegung des Interpreten« beschreibt: »Die Antizipation von Sinn, die unser Verständnis eines Textes leitet, ist nicht eine Handlung der Subjektivität, sondern bestimmt sich aus der Gemeinsamkeit, die uns mit der Überlieferung verbindet.« (298) Verstehen heißt nach Gadamer demzufolge primär, sich in der Sache verstehen, und »erst sekundär, die Meinung des anderen als solche abheben und verstehen«. (299) Die Zugehörigkeit zu einer Tradition wird damit zur entscheidenden Bedingung für das Verstehen. Anders gesagt, bleibt die erste aller hermeneutischen Bedingungen »somit das Vorverständnis, das im Zu-tun-haben mit der gleichen Sache entspringt«. (299) Der Sinn der Zugehörigkeit, d. h. das Moment der Tradition im historisch-hermeneutischen Verhalten, erfüllt sich »durch die Gemeinsamkeit grundlegender und tragender Vorurteile«. Das heißt: »Die Hermeneutik muß davon ausgehen, daß wer verstehen will, mit der Sache, die mit der Überlieferung zur Sprache kommt, verbunden ist und an die Tradition Anschluß hat oder Anschluß gewinnt, aus der die Überlieferung spricht.« (300) Es gibt nach Gadamer folglich produktive Vorurteile, die das Verstehen ermöglichen. Diese 93 https://doi.org/10.5771/9783495817650 .

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müssen unterschieden werden von den Vorurteilen, die das Verstehen be- oder verhindern. Die Trennung kann nicht vorgängig erfolgen, sondern muss im Verstehen selbst zum Bewußtsein kommen, und zwar durch den sogenannten »Zeitenabstand«. (vgl. 304) Gegen die These der romantischen Hermeneutik, Verstehen sei ein Besserverstehen, bringt Gadamer zur Geltung, dass Verstehen »in Wahrheit kein Besserverstehen [ist], weder im Sinne der grundsätzlichen Überlegenheit, die das Bewußte über das Unbewußte der Produktion besitzt. Es genügt zu sagen, daß man anders versteht, wenn man überhaupt versteht.« (302) Da die sachliche Wahrheit gemeint ist und nicht die Individualität und ihre Meinung, wird ein Text nicht als bloßer Lebensausdruck verstanden wie in der romantischen Hermeneutik, »sondern wird in seinem Wahrheitsanspruch ernst genommen«. (302) Der Zeitenabstand zwischen Text und Interpret muss Gadamer zufolge in seiner hermeneutischen Bedeutung erkannt werden. Die Zeit ist nun »nicht mehr primär ein Abgrund, der überbrückt werden muß, weil er trennt und fernhält, sondern sie ist in Wahrheit der tragende Grund des Geschehens, in dem das Gegenwärtige wurzelt. Der Zeitenabstand ist daher nicht etwas, was überwunden werden muß. […] in Wahrheit kommt es darauf an, den Abstand der Zeit als eine positive und produktive Möglichkeit des Verstehens zu erkennen. Er ist nicht gähnender Abgrund, sondern ist ausgefüllt durch die Kontinuität des Herkommens und der Tradition, in deren Lichte uns alle Überlieferung sich zeigt.« (302)

In diesem Zusammenhang spricht Gadamer von einer »echten Produktivität des Geschehens« (302) und wendet dies gegen die historische Methode, die voraussetzt, dass etwas erst dann in seiner bleibenden Bedeutung objektiv erkennbar ist, wenn es einem abgeschlossenen Zusammenhang angehört. (Vgl. 303) Dagegen behauptet Gadamer die hermeneutische Produktivität des zeitlichen Abstands, denn dieser – so seine einschlägige These – »läßt den wahren Sinn, der in einer Sache liegt, erst voll herauskommen. Die Ausschöpfung des wahren Sinnes aber, der in einem Text oder in einer künstlerischen Schöpfung gelegen ist, kommt nicht irgendwo zum Abschluß, sondern ist in Wahrheit ein unendlicher Prozeß.« (303) Wirkliches historisches Denken muss also »die eigene Geschichtlichkeit mitdenken«, und der wahre historische Gegenstand ist kein Objekt fortschreitender Forschung, sondern »ein Verhältnis,

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in dem die Wirklichkeit der Geschichte ebenso wie die Wirklichkeit des geschichtlichen Verstehens besteht«. (305) Aus dieser Einsicht zieht Gadamer für eine sachangemessene Hermeneutik die Konsequenz, dass sie »im Verstehen selbst die Wirklichkeit der Geschichte aufzuweisen [hätte]«. Dieses Postulat bezeichnet er als »Wirkungsgeschichte«, und Verstehen ist daher »seinem Wesen nach ein wirkungsgeschichtlicher Vorgang«. (305) Mit diesem Begriff der Wirkungsgeschichte wendet sich Gadamer gegen die Auffassung, man könne sich in einer Unmittelbarkeit auf ein Werk oder die Überlieferung richten, ohne darauf zu reflektieren, dass wir als Verstehende immer schon den Wirkungen der Wirkungsgeschichte unterliegen. Diese weitreichende These, die sich im Übrigen bruchlos einfügt in Gadamers Entmächtigung des Interpretationssubjekts, erscheint aber doch recht fragwürdig, entstehen doch fruchtbare Forschungsansätze nicht zuletzt oft aus einem Abrücken von den »Wirkungen der Wirkungsgeschichte«. Der historische Objektivismus – so Gadamers Kritik – verleugnet die »unwillkürlichen und nicht beliebigen, sondern alles tragenden Voraussetzungen, die sein eigenes Verstehen leiten«. Wirkungsgeschichtliches Bewußtsein dagegen ist die Forderung, »daß man sich selber richtiger verstehen lerne und anerkenne, daß in allem Verstehen, ob man sich dessen ausdrücklich bewußt ist oder nicht, die Wirkung dieser Wirkungsgeschichte am Werke ist«. (306) Damit wird der Begriff der Wirkungsgeschichte, der sich als weitere Grundkategorie der philosophischen Hermeneutik erweist, zu einem Komplementärbegriff zum Begriff der Zugehörigkeit.

II. Gadamers philosophische Hermeneutik will aufzeigen, »wieviel Geschehen in allem Verstehen wirksam ist und wie wenig durch das moderne historische Bewußtsein die Traditionen, in denen wir stehen, entmächtigt sind«. (3) Verstehen ist nach Gadamer ein Sinngeschehen, das – wie er schreibt – als »Einrücken in ein Überlieferungsgeschehen« zu denken ist. (295) 19 Der Interpret hat den Ver»Vom Interpreten aus gesehen, bedeutet Geschehen, daß er nicht als Erkennender sich seinen Gegenstand sucht, mit methodischen Mitteln herausbekommt, was ei-

19

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stehensakt nicht in seiner Hand, ist nicht Herr des Geschehens, sondern unterwirft sich dem Sinnangebot der Überlieferung. Verstehen hat die Zugehörigkeit des Interpreten zur Überlieferung (vgl. 319, 466), das »Darinstehen in einem Überlieferungsgeschehen« zur notwendigen Voraussetzung und muss als ein Geschehen, wenn nicht gar als ein Widerfahrnis verstanden werden: »Zugehörig ist das, was von der Anrede der Überlieferung erreicht wird. Wer so in Überlieferungen steht […], muß auf das hören, was ihn von da erreicht. Die Wahrheit der Überlieferung ist wie die Gegenwart, die den Sinnen unmittelbar offenliegt.« (467)

Verstehen setzt nach Gadamer also keine Kongenialität, sondern allein Zugehörigkeit voraus. Wesentlich ist für Gadamer darüber hinaus der Gedanke, dass das Verstehen von Texten, die uns aus der Überlieferung ansprechen, unter der Voraussetzung geschieht, dass die Texte etwas Wahres zu sagen haben. Texte, die bloß historisch verstanden werden, sehen sich aus diesem Anspruch, Wahres zu sagen, »förmlich herausgedrängt«. (308; vgl. 309) Gegen die Vorstellung der romantischen Hermeneutik, dass es gelte, sich in den jeweiligen historischen Horizont zu versetzen, wobei der eigene Standort ebenfalls als ein geschlossener historischer Horizont gedacht wird, macht Gadamer geltend: »Wie der Einzelne nie ein Einzelner ist, weil er sich immer schon mit anderen versteht, so ist auch der geschlossene Horizont, der eine Kultur einschließen soll, eine Abstraktion. Es macht die geschichtliche Bewegtheit des menschlichen Daseins aus, daß es keine schlechthinnige Standortgebundenheit besitzt und daher auch niemals einen wahrhaft geschlossenen Horizont. Der Horizont ist vielmehr etwas, in das wir hineinwandern und das mit uns wandert.«. (309; vgl. 311) 20

gentlich gemeint ist und wie es eigentlich war, wenn auch leicht behindert und getrübt durch die eigenen Vorurteile. […] Das eigentliche Geschehen ist dadurch aber nur ermöglicht, nämlich daß das Wort, das als Überlieferung auf uns gekommen ist und auf das wir zu hören haben, uns wirklich trifft, als rede es uns an und meine uns selbst.« (S. 465 f.) 20 »Wenn sich unser historisches Bewußtsein in historische Horizonte versetzt, so bedeutet das nicht eine Entrückung in fremde Welten, die nichts mit unserer eigenen verbindet, sondern sie insgesamt bilden den einen großen, von innen her beweglichen Horizont, der über die Grenzen des Gegenwärtigen hinaus die Geschichtstiefe unseres Selbstbewußtseins umfaßt. In Wahrheit ist es also ein einziger Horizont, der all das umfließt, was das geschichtliche Bewußtsein in sich enthält. Die eigene und fremde Vergangenheit, der unser historisches Bewußtsein zugewendet ist, bildet mit an die-

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Historisches Sichversetzen ist daher »weder Einfühlung einer Individualität in eine andere, noch auch Unterwerfung des anderen unter die eigenen Maßstäbe, sondern bedeutet immer die Erhebung zu einer höheren Allgemeinheit, die nicht nur die eigene Partikularität, sondern auch die des anderen überwindet.« (310)

Daher ist Verstehen »immer der Vorgang der Verschmelzung solcher vermeintlich für sich seiender Horizonte«. (311) Der Begriff der »Horizontverschmelzung« wird damit zu einer weiteren fundamentalen Kategorie von Gadamers philosophischer Hermeneutik. Seine entsprechende These lautet, dass im Vollzug des Verstehens »eine wirkliche Horizontverschmelzung [geschieht], die mit dem Entwurf des historischen Horizontes zugleich dessen Aufhebung vollbringt«. (312) Den kontrollierten Vollzug solcher Verschmelzung bezeichnet Gadamer als »die Wachheit des wirkungsgeschichtlichen Bewußtseins«. (312) Damit kann Gadamer auch behaupten, »daß im Verstehen immer so etwas wie ein Anwendung des zu verstehenden Textes auf die gegenwärtige Situation des Interpreten stattfindet«. (313) Das soll heißen, dass der Interpret, der es mit einer Überlieferung zu tun hat, sich dieselbe zu applizieren sucht, was aber nicht bedeutet, »daß der überlieferte Text für ihn als ein Allgemeines gegeben und verstanden und dadurch erst für besondere Anwendungen in Gebrauch genommen würde. Der Interpret will vielmehr gar nichts anderes, als dies Allgemeine – den Text – verstehen, d. h. verstehen, was die Überlieferung sagt, was Sinn und Bedeutung des Textes ausmacht. Um das zu verstehen, darf er aber nicht von sich selbst und der konkreten hermeneutischen Situation, in der er sich befindet, absehen wollen. Er muß den Text auf diese Situation beziehen, wenn er überhaupt verstehen will.« (329)

Die Anwendung des Textes auf die konkrete, eigene Situation ist folglich ein »ebenso integrierender Bestandteil des hermeneutischen Vorgangs […] wie Verstehen und Auslegen« (313), wie Gadamer an den Beispielen der juristischen und theologischen Hermeneutik zu belegen sucht. (Vgl. 314, 330–338) Diese Beispiele lassen Gadamer geradezu als Aufgabe formulieren, »die geisteswissenschaftliche Hermeneutik von der juristischen

sem beweglichen Horizont, aus dem menschliches Leben immer lebt und der es als Herkunft und Überlieferung bestimmt.« (S. 309 f.)

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und theologischen her neu zu bestimmen«. (316; vgl. 334, 344, 346) Seine entsprechende These lautet, »daß auch die historische Hermeneutik eine Leistung der Applikation zu vollbringen hat, weil auch sie der Geltung von Sinn dient, indem sie ausdrücklich und bewußt den Zeitenabstand überbrückt, der den Interpreten vom Texte trennt und die Sinnentfremdung überwindet, die dem Texte widerfahren ist«. (316)

Die Applikation begreift Gadamer als Vermittlung von damals und heute (339, 346) und damit als eine »Konkretisierungsaufgabe«. (340; vgl. 338) Applikation ist somit keine nachträgliche Anwendung, sondern das wirkliche Verständnis selbst. (Vgl. 346) Hinter dieser These steht die Annahme, dass man bestimmten Texten gegenüber nicht die Freiheit hat, sich in historischer Distanz zu verhalten. (Vgl. 338) Allerdings bleibt wiederum offen, an welche konkreten Texte Gadamer denkt. Als das wahrhaft Gemeinsame aller Formen der Hermeneutik kann Gadamer somit herausheben, »daß sich in der Auslegung der zu verstehende Sinn erst konkretisiert und vollendet, daß aber gleichwohl dieses auslegende Tun sich vollständig an den Sinn des Textes gebunden hält. Weder der Jurist noch der Theologe sieht in der Aufgabe der Applikation eine Freiheit gegenüber dem Text.« (338)

Wobei sich hier allerdings die Frage aufdrängt, was unter einem unabhängig vom Interpreten seienden Sinn des Textes zu verstehen ist, den Gadamer hier offensichtlich anzunehmen scheint. Im Konflikt Historiker-Philologe (vgl. 340 ff.) plädiert Gadamer für den Philologen, der die »überlegene Wahrheit«, die aus dichterischer Überlieferung spricht, nicht bloß historisch versteht: »wenn also im Tun des Philologen etwas von Vorbildnahme lebendig geblieben ist, bezieht er seine Texte in Wahrheit nicht bloß auf einen rekonstruierten Adressaten, sondern auch auf sich selbst […]. Er läßt Vorbildliches als Vorbild gelten. In jeder Vorbildnahme liegt aber immer schon ein Verstehen, das nicht mehr dahingestellt läßt, sondern das schon gewählt hat und sich verpflichtet weiß. Daher hat solche Beziehung seiner selbst auf ein Vorbild stets den Charakter der Nachfolge. Wie Nachfolge mehr als bloße Nachahmung ist, so ist auch sein Verstehen eine ständig neue Form der Begegnung und hat selber den Charakter des Geschehens, gerade weil es kein bloßes Dahingestelltseinlassen ist, sondern Applikation einschließt. Der Philologe webt gleichsam weiter an dem großen, uns alle tragenden Geflecht aus Herkommen und Überlieferung.« (343)

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Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass Gadamer hier den theologisch imprägnierten Begriff der »Nachfolge« verwendet, der sich mit den anderen zentralen Kategorien seiner Hermeneutik wie Zugehörigkeit, Einrücken ins Überlieferungsgeschehen, Unterordnung unter den Sinnanspruch des Textes etc. zu einem hermeneutischen Paradigma zusammenschließt, das sich in fundamentaler Weise von der Konzeption der klassischen geisteswissenschaftlichen Hermeneutik abhebt. Die Interpretation eines Textes ist sonach keine rationale, d. h. intersubjektiv nachvollziehbare und vermittelbare Sinnerschließung, sondern im Hören auf die Sage des Textes ereignet sich Verständnis in einer sozusagen irrationalen Kommunion zwischen Leser und Text.

III. Gadamer entwickelt seine philosophische Hermeneutik in striktem Gegensatz zur traditionellen geisteswissenschaftlichen Hermeneutik, insbesondere Diltheys, der er eine unzulässige Übernahme des Methodenbegriffs der modernen Wissenschaft vorwirft. Gadamer erweist sich als entschiedener Gegner des ästhetischen Positivismus im Gefolge der romantischen Hermeneutik (vgl. 312) sowie des historistischen Methodologismus und Objektivismus und weist die Forderung der modernen wissenschaftlichen Methodik in den Geisteswissenschaften nach einer »hermeneutischen Distanz« (340) zum Text mit Entschiedenheit zurück. Bedingung des Verstehens ist nach Gadamer vielmehr die Zugehörigkeit zur Tradition, der der Text entstammt. (Vgl. 266, 319, 334) Was bedeutet, dass derjenige, der versteht, nicht beliebig seinen Blickpunkt wählt, sondern seinen Platz vorgegeben findet. (Vgl. 334) Er ist nicht frei, sondern gebunden durch Vorurteile und die Autorität des Textes, der einen Wahrheitsanspruch erhebt. Der zu verstehende Text, der eine Auslegung fordert, spricht in eine Situation hinein, die durch Vormeinung bestimmt ist. (Vgl. 476) Daher weist Gadamer die Zugehörigkeit, das Darinstehen im Überlieferungsgeschehen (vgl. 314) als notwendige Bedingung des Verstehens aus, und Verstehen ist für ihn keine Handlung der Subjektivität, sondern vielmehr ein Einrücken in ein Überlieferungsgeschehen. (Vgl. 295, 316) Daher hat die Beziehung zum Text den 99 https://doi.org/10.5771/9783495817650 .

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Charakter der Nachfolge. Der Interpret ist nicht souverän, nicht Herr einer Interpretationshandlung, in dem ein Sinn erschlossen wird, sondern vielmehr Teil eines Geschehens (vgl. 3, 314, 476) oder SinnEreignisses, wobei Gadamer das Verstehen als ein Geschehen begreift, in dem sich die Vergangenheit mit der Gegenwart vermittelt, was er mit dem Bild der Horizontverschmelzung zum Ausdruck zu bringen versucht, wodurch die Applikation, d. h. die Konkretisierung für und auf die eigene Situation, zum konstitutiven Bestandteil des Verstehens wird. Gadamer denkt die geisteswissenschaftliche Hermeneutik von »unserem natürlichen Verhalten zur Vergangenheit« her. (287) Das Verstehen in den Geisteswissenschaften teilt mit dem Fortleben der Tradition die grundlegende Voraussetzung, von der Überlieferung einen Anspruch zu erfahren. (Vgl. 287) Das erste, womit Verstehen beginnt, ist, »daß uns etwas anspricht«. Dies ist folglich die »oberste aller hermeneutischen Bedingungen«. (304; vgl. 295, 300) In seiner Hermeneutik opponiert Gadamer gegen die Forderungen nach strenger Wissenschaftlichkeit, methodischem Fortschritt und Rationalität. 21 Die Wahrheit der Interpretation, die er propagiert, ist vielmehr eine – so könnte man sagen – existentielle, also eine Wahrheit, die in die Unmittelbarkeit des eigenen Erlebens und der eigenen Existenz hineinspricht. Aufgegeben wird damit der Gedanke an Wahrheitskriterien der Interpretation. Es gibt nach Gadamer – trotz seiner Rede vom »Sinn des Textes« – kein Besserverstehen, sondern nur ein Andersverstehen und damit auch keine an sich »richtige« Interpretation. Gadamers existentieller Wahrheitsverständnis schließt damit Allgemeingültigkeit oder Verbindlichkeit von Interpretationen aus. Fraglich bleibt allerdings, wie er evident falsche Interpretationen, Mißinterpretationen oder Überinterpretationen von »adäquaten« Interpretationen unterscheiden will. Wenn es keine »falsche« Interpretation, keine Überinterpretation etc. geben kann, fragt sich, ob jede Interpretation eo ipso »richtig«, d. h. angemessen ist. Wie läßt sich Beliebigkeit und subjektive Willkür der Interpretation vermeiden? Auf diese Fragen bleibt Gadamer Antworten schuldig. Vgl. dagegen das Nachwort zur 3. Auflage (1972): »Nun war es freilich ein plattes Mißverständnis, wenn man die Parole ›Wahrheit und Methode‹ mit der Anklage belastete, daß hier die Methodenstrenge der modernen Wissenschaft verkannt werde. Was die Hermeneutik geltend macht, ist etwas ganz anderes, das mit dem strengsten Ethos der Wissenschaft in keinerlei Spannung steht.« Gesammelte Werke Band II: Wahrheit und Methode. Ergänzungen, S. 449–478; hier S. 449; vgl. S. 453 f.

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In Gadamers Hermeneutik kommt der Überlieferung der Primat zu. Der Text erscheint als Medium einer Verkündung oder Offenbarung von Wahrheit, die Nachfolge, d. h. Unterwerfung unter den Wahrheitsanspruch fordert. Der Text ist damit nicht mehr auch Dokument oder Ausdruck einer historischen Situation, sondern besitzt ausschließlich einen unmittelbaren, unabweisbaren Anspruch auf Wahrheit. Gadamer offenbart damit ein sozusagen existentielles Verhältnis zum Text, der den Interpreten anspricht, wobei man sich fragt, was derjenige zu tun hat, der von einem Text nicht angesprochen wird, ihn aber trotzdem verstehen möchte. Kann dieser nur ein bloß »historisches« Verhältnis zum Text, aber kein existentielles Verhältnis entwickeln? Gadamer etabliert mit seiner philosophischen Hermeneutik gegen die sogenannte traditionelle Hermeneutik, deren Hauptaufgabe, wie Dilthey schreibt, darin liegt, »gegenüber dem beständigen Einbruch romantischer Willkür und skeptischer Subjektivität in das Gebiet der Geschichte die Allgemeingültigkeit der Interpretation theoretisch [zu] begründen«, 22 ein neues hermeneutisches Paradigma, das ersichtlich von Heideggers Analyse der Hermeneutik der Faktizität inspiriert ist, die er »für eine geisteswissenschaftliche Hermeneutik fruchtbar zu machen« sucht. (314) Das geisteswissenschaftliche Verstehen ist Gadamer zufolge keine aktive Forschung, Entzifferung oder Aneignung von Sinn, sondern Hinnahme und Teilhabe, d. h. Anerkenntnis von Sinn. Mit diesem neuen hermeneutischen Paradigma bringt Gadamer auch eine andere Haltung zum Text zum Ausdruck. Die klassische Hermeneutik begreift das Verstehen als methodisches Verhalten, dem Text einen Sinn allgemeingültig abzugewinnen. Ihr Ziel ist Freilegung oder Erkenntnis des Sinns. Eine solche Kunstlehre suggeriert Gadamer zufolge eine falsche Souveränität (3) über den Text. Daher plädiert er für eine Hermeneutik des Zuhörens auf den (Wahrheits-)Anspruch des Textes. Der Interpret unterwirft sich dem Sinnanspruch des Textes. Das Ziel der Interpretation ist Anerkennung der Wahrheit und Anwendung auf die konkrete Situation des Interpreten, d. h. Applikation, also Konkretisierung für die Gegenwart. Das Verstehen von Texten der Überlieferung ist nach Gadamer keine Handlung des Subjekts, kein freies 22

Wilhelm Dilthey: Die Entstehung der Hermeneutik, S. 331.

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Verhalten zum Text, sondern ein Geschehen, bei dem der Text den Primat besitzt. Verstehen zielt auf eine Teilhabe am gemeinsamen, durch die Überlieferung vermittelten und gesicherten Sinn, es findet geradezu eine Identifizierung mit dem Textsinn statt; eine historischhermeneutische Distanz zum Text wird als inadäquat zurückgewiesen. Richtig gesehen ist in Gadamers hermeneutischen Entwurf die unaufhebbare Geschichtlichkeit des Interpreten, und richtig ist die Forderung, dass diese Geschichtlichkeit des Interpreten bei der Analyse der hermeneutischen Situation zu berücksichtigen ist und für den Vorgang der Interpretation fruchtbar gemacht werden muss. Allerdings führen die Folgerungen, die Gadamer aus dieser Einsicht zieht, zu problematischen Konsequenzen: Durch den Primat der Überlieferung, das Einrücken in die Überlieferung etc. ist keine kritische Distanz zur Tradition möglich, die als unhintergehbare Bedingung der Möglichkeit von Verstehen postuliert wird. Dies wird deutlich an der Interpretation von historischen Texten, die nicht der Überlieferung angehören, an die Gadamer offenbar denkt. So kann man sich nicht vorstellen, mit Gadamers Kategorien Texte wie Hitlers Mein Kampf interpretieren zu wollen. Gadamer nennt keine Kriterien, die es ermöglichen, »wahre« oder »echte« Überlieferung von »falscher« Überlieferung zu unterscheiden. Die weiteren Grenzen von Gadamers philosophischer Hermeneutik liegen u. a. in der Einschränkung auf Texte der Überlieferung. Er thematisiert weder das Verstehen von Texten, die außerhalb der eigenen Überlieferung angesiedelt sind, noch das Verstehen fremder Traditionen oder das Verstehen zeitgenössischer Texte. Verstehen bleibt auf den Traditionszusammenhang der eigenen Kultur eingeschränkt. Es bleibt ein exklusives intrakulturelles Verstehen, und Gadamers Hermeneutik bietet kein Modell für interkulturelles Verstehen. 23 Außerdem bietet Gadamers philosophische Hermeneutik keine Basis für das psychologische Verstehen, also das Verstehen des Anderen, das Handlungsverstehen, das Verstehen von Kunst oder eine Hermeneutik des nichtsprachlichen Ausdrucks (Plessner), d. h. der leiblichen Expressionen (Gesten, Mimik, Lachen und Weinen). Gadamers Begriff von Verstehen entspricht letztlich der Haltung des Gläubigen zum heiligen Text, der als Medium einer Verkündung oder Offenbarung von Wahrheit fungiert, die Nachfolge fordert. Der 23

Vgl. auch Frithjof Rodi: Die Intensität des Lebens, S. 247.

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Text ist aber auch – unter wissenschaftlicher Perspektive – Dokument oder Ausdruck einer historischen Situation und damit Objekt einer distanzierten, d. h. »wissenschaftlichen« Beschäftigung, bei der der Lebensbezug des Interpreten, d. h. die Lebensunmittelbarkeit, eingeklammert wird. Die Achtung vor der Wahrheit des Textes darf nicht zur Kapitulation vor seinem unbedingten Anspruch auf Wahrheit führen. Eine kritisch-hermeneutische Distanz ist eine unaufgebbare Bedingung eines Verstehens, das mehr sein will als das bloße, kritiklose Vernehmen von Wahrheit. Gadamers Hermeneutik bleibt damit eindimensional; er kann und will seine Einsicht in die geschichtliche Bedingtheit des Interpreten nicht mit den Grundbedingungen »wissenschaftlicher« Interpretation, die auf die Kriterien von Überprüfbarkeit und Intersubjektivität angelegt ist, die doch für die Geisteswissenschaften verbindlich sein sollten, vermitteln. Gadamers antiaufklärerische Hermeneutik versagt somit vor der traditionellen Aufgabe der Hermeneutik, nämlich der adäquaten, intersubjektiv gültigen Freilegung der Sinnintention eines Textes.

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»Natürliches Verstehen« Phänomenologie und Erfahrung als Methode im Denken Helmuth Plessners und Frederik Buytendijks Julia Gruevska

»Jeder Forscher, der sich dessen bewusst ist, daß das Wesen des Lebens mit materiellen Mitteln nicht zu erfassen ist, daß dasjenige, was wir unter dem Skalpell, unter dem Mikroskop, mit Hilfe der physiologischen Experimente zu sehen bekommen, bloße Äußerungen des Lebens darstellt, die wir erst zu interpretieren haben, um das eigentliche Leben zu ergreifen, hat die Grenzen der Naturwissenschaft überschritten und an die Tür der Geisteswissenschaften angeklopft.« (Emanuel Rádl: Die Biologie und die Geisteswissenschaften) 1

1.

Verstehen und Experiment: Philosophie nach Hegel

Philosophiehistorisch betrachtet hat der Ausgang des 19. Jahrhunderts vor allem eines hervorgebracht: Debatten um die Re-Definition der verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen und stärkere Demarkationslinien zwischen ihnen. 2 Die Abspaltung der Psychologie von der Philosophie als eigenständiges universitäres und insbesondere empirisches Fach war nur eines der vielen Produkte, das auf diese Debatten folgte und die Universitäten fachspezifischer ausdifferenzierte. 3 Für den Erkenntnisgewinn hatte diese wissenschaftspolitische

Emanuel Rádl: Die Biologie und die Geisteswissenschaften. In: Festschrift. Hans Driesch zum 60. Geburtstag. Leipzig 1927, S. 131–145, hier: S. 144. 2 Vgl. Helmuth Holzhey und Wolfgang Röd: Die Philosophie des ausgehenden 19. Und des 20. Jahrhunderts 2. Neukantianismus, Idealismus, Realismus, Phänomenologie. München 2004, S. 28 ff. 3 Vgl. hierzu Harald Walach, der als einen wichtigen Gewährsmann zur Förderung dieser Ausdifferenzierung den Philosophen Franz Brentano ausweist und ebenso Wilhelm Wundt als »einer der Gründergestalten der modernen Psychologie«, Harald Walach: Psychologie: Wissenschaftstheorie, philosophische Grundlagen und Geschichte. Stuttgart 2009, S. 177 ff. 1

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Ausdifferenzierung jedoch keineswegs ausschließlich Vorteile. 4 Nicht nur viele Philosophen, sondern auch Psychologen sahen es als verkürzt an, gerade die ›Frage nach dem Menschen‹ und diejenige nach dem ›Leben‹ allein empirischen, quantitativen und experimentellen Methoden zu überlassen. Wollte man Mensch und Leben in ihrer Komplexität verstehen und nicht bloß erklären bräuchte man auch Geisteswissenschaften, die an Subjekte und nicht an Apparate und Messbedingungen gebunden waren. Es war vor allem die Psychologie als Teil der Anthropologie, die Zeugnis davon ablegte, dass die strikten Grenzen der Disziplinen hinterfragt werden mussten und stattdessen insbesondere im Bereich der Verhaltenspsychologie eine Zusammenarbeit unter den Wissenschaften unerlässlich war. Der Psychologe David Katz schreibt daher in dem Artikel »Allgemeine Psychologie« im Handbuch zur Psychologie (1953/60): »Die Wissenschaft, die sich mit dem Studium des Menschen beschäftigt, ist die philosophische Anthropologie, und es ist nicht ihre unwichtigste Aufgabe, den Gesetzen des menschlichen Verhaltens auf die Spur zu kommen. Es liegt somit nahe, die Psychologie zu definieren als denjenigen Teil der Anthropologie, der sich mit dem menschlichen Verhalten beschäftigt.« 5

Bereits für die Lebensphilosophie eines Wilhelm Diltheys oder Henri Bergsons und daran anknüpfend die philosophische Anthropologie Max Schelers und Helmuth Plessners waren solch offene Grenzen zwischen den Disziplinen ebenso unerlässlich wie produktiv. Vor allem Plessner, der parallel zur Philosophie auch Zoologie studierte, führte neben eigenen auch gemeinsame Experimente mit dem niederländischen Physiologen und Tierpsychologen Frederik Jacobus Johannes Buytendijk durch. Buytendijk kann als Paradebeispiel einer disziplinübergreifenden Forschung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts betrachtet werden, da er nicht nur angeregt durch Scheler und Plessner philosophisch-phänomenologische Gedanken aufnahm, sondern auch ganz praktisch ab 1919 zunächst das physiologische Labor der Vrijen Universiteit Amsterdam und 1925 das physiologische Labor der Rijksuniversiteit Groningen leitete, wo auch Plessner während seines Exils in der NS-Zeit beschäftigt war. Seit Vgl. Horst Gundlach: Reine Psychologie, Angewandte Psychologie und die Institutionalisierung der Psychologie. In: Zeitschrift für Psychologie 4 (2004), S. 183–199. 5 David Katz: Allgemeine Psychologie. Gegenstand der Psychologie, ihre Methoden und ihre Einteilung. In: Handbuch der Psychologie. Hrsg. von ders. und Rosa Katz. Basel/Stuttgart 1960, S. 9–25, hier S. 9. 4

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den 1920er Jahren verband Buytendijk und Plessner eine innige Freundschaft, eine enge Zusammenarbeit und ebenso intensiv eine gemeinsame wissenschaftliche Idee. Diese Idee vereinigte Psychologie, Physiologie und Philosophie, genauer: praktisches Experiment und phänomenologische Theorie und mündete (u. a.) in der Konzeption des Modells eines natürlichen Verstehens im Feld der menschlichen Ausdrucks- und Deutungsanalyse, das sowohl die philosophische Anthropologie als auch die allgemeine Psychologie als Disziplinen nachhaltig bestimmen sollte. Da die Forschung zu Helmuth Plessner seit den 1990er Jahren stetig an Konjunktur gewinnt, soll das Hauptaugenmerk der vorliegenden Arbeit auf seinen jahrelangen Weggefährten Buytendijk gelegt werden, der in der Forschungsliteratur stets im Schatten Plessners gesehen wird. 6 Dabei lässt sich gerade an der Arbeit Buytendijks demonstrieren, wie sich Praxis (Experiment) und philosophische Theorie – die beiden Grundpfeiler des natürlichen Verstehens – gegenseitig befruchten und bedingen. Die vorliegende Analyse wird den Fokus auf Buytendijks expliziten Beitrag zur philosophischen Anthropologie legen, wobei die mit Plessner gemeinsam herausgearbeitete Idee zum natürlichen Verstehen anhand der ersten großen gemeinsamen Zusammenarbeit Plessners und Buytendijks, die ihre Manifestation in der Veröffentlichung des Aufsatzes »Die Deutung des mimischen Ausdrucks. Ein Beitrag zur Lehre vom Bewusstsein des anderen Ichs« in der von Plessner herausgegebenen Zeitschrift Philosophischer Anzeiger. Zeitschrift für die Zusammenarbeit von Philosophie und Einzelwissenschaft (1925) fand, 7 sowie sein Begriff von Erfahrung, als wichtiges Konstitut des Zusammenwirkens von Experiment und philosophischem Denken, die zentralen Aspekte markieren. Es wird in der vorliegenden Studie zunächst im Allgemeinen ein Überblick über das »vor-wissenschaftliche« Programm gegeben, das sich vor dem Hintergrund einer ganzheitlichen phänomenologischen Betrachtungsweise um das Konzept eines natürlichen Mit Ausnahme von: Ralf Becker: Der Sinn des Lebens. Helmuth Plessner und F. J. J. Buytendijk lesen im Buch der Natur. In: Zwischen den Kulturen: Plessners »Stufen des Organischen« im zeithistorischen Kontext. Hrsg. von Kristian Köchy und Francesca Michelini. Freiburg/München 2015, S. 65–90. 7 Helmuth Plessner/Frederik J. J. Buytendijk: Die Deutung des mimischen Ausdrucks. Ein Beitrag zur Lehre vom Bewusstsein des anderen Ichs. In: Philosophischer Anzeiger. Zeitschrift für die Zusammenarbeit von Philosophie und Einzelwissenschaft. Hrsg. von Helmuth Plessner, 1. Band. Bonn 1925, S. 72–126. 6

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Verstehens im Untersuchungsfeld der Ausdrucksanalyse bemüht. Im Besonderen wird anschließend ein dezidierter Fokus auf die Methode der beiden Denker gelegt werden, die davon ausgeht, dass sich eine philosophische Anthropologie ebenso praktischen wie theoretischen Analysen unterziehen muss, insofern sie einer anticartesianischen Lebensauffassung folgt, die sich im Schelerschen Sinn als psychophysische Indifferenz ausweist. Diese Theorie und die damit verbundenen praktischen Versuche eruieren gewissermaßen das Buytendijk’sche/Plessner’sche Modell des natürlichen Verstehens. Zuletzt wird Buytendijks Plädoyer – entgegen der Generalkritik einer Beobachterabhängigkeit den Erfahrungsbegriff stark machend – dafür vorgestellt, dass das Experiment in naturphilosophische wie daran angrenzend lebensphilosophische Gedanken Eingang finden muss, was Buytendijk 1927 in seinem bündigen, auch die Wissenschaftspolitik betreffenden Beitrag »Experimentelle Tätigkeit und Biophilosophie« formuliert. 8 Der Anspruch, dass die Philosophie als Wissenschaft primär mit Denkleistungen operiert, statt durch praktische Handlung, obliegt einer Tradition, die von Platon über Descartes zu Kant und schließlich bis zu Hegel reicht. In der Philosophie des deutschsprachigen Raums Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts, 9 welche vornehmlich durch Hegel beeinflusst war, etablierte sich der Gedanke, dass der Wahrheitsbegriff in der Logik verankert sei, worin dieser die absolute Form der Wissenschaft bildet. Die Wahrheit, so Hegel in seiner sogenannten Begriffslogik 1816, findet dabei ihre Vollendung im Begriff, der sie als Totalität auszeichnet. Das Verständnis, das Hegel hier für den Begriff einfordert, speist sich aus seiner Idee einer dialektischen Denkbewegung, die als Ziel die Freiheit des Begriffs sieht. Konträr dazu verhält sich Kants Verständnis vom Begriff, der eine Funktion erfüllt und damit einen instrumentellen Charakter aufweist. Nach Kant gilt es die Dinge, die schon in der Welt sind, zu erkennen. Einer Erkenntnis geht daher eine sinnliche Wahrnehmung voraus: »Hieraus fließt nun unwidersprechlich: daß die reinen Verstandesbegriffe niemals von transzendentalem, sondern jederzeit nur von empirischem GeFrederik J. J. Buytendijk: Experimentelle Tätigkeit und Biophilosophie. In: Festschrift. Hans Driesch zum 60. Geburtstag, 1. Teil: Wissen und Leben. Hrsg. von Hermann Schneider und Werner Schingnitz. Leipzig 1927, S. 77–87. 9 Vgl. Holzhey/Röd: Die Philosophie des ausgehenden 19. Und des 20. Jahrhunderts 2, S. 28. 8

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brauche sein können, und daß die Grundsätze des reinen Verstandes nur in Beziehung auf die allgemeinen Bedingungen einer möglichen Erfahrung, auf Gegenstände der Sinne, niemals aber auf Dinge überhaupt, (ohne Rücksicht auf die Art zu nehmen, wie wir sie anschauen mögen,) bezogen werden können.« 10

Hegel hingegen erklärt die sinnliche Wahrnehmung für nicht relevant, da das Erkennen aus der dialektischen Denkbewegung, im Sinne einer doppelten Negation, hervorgeht. 11 Sein Anliegen ist es, die Philosophie als vollwertige Wissenschaft auf Grundlage der geistigen Parameter und Möglichkeiten zu etablieren, sofern sie mit solchen und nicht mit positivistischen Experimenten operiert. So schreibt Hegel beispielsweise schon 1807: »Die wahre Gestalt, in welcher die Wahrheit existiert, kann allein das wissenschaftliche System derselben sein. […] Daran mitzuarbeiten, daß die Philosophie der Form der Wissenschaft näher komme, – dem Ziele, ihren Namen der Liebe zum Wissen ablegen zu können und wirkliches Wissen zu sein, – ist es, was ich mir vorgesetzt. Die innere Notwendigkeit, daß das Wissen Wissenschaft sei, liegt in seiner Natur, und die befriedigende Erklärung hierüber ist allein die Darstellung der Philosophie selbst.« 12

Die Gegenstimmen, die sich aus den Wissenschaften formierten, allen voran Hermann von Helmholtz, hielten dagegen, »daß der Philosophie nur wieder aufzuhelfen ist, wenn sie sich mit Ernst und Eifer der Untersuchung der Erkenntnissprocesse und der wissenschaftlichen Methode zuwendet.« 13 Dies galt als Reaktion auf die Ansicht der konservativen Schulphilosophie, die von Hegel ausging. Weiterhin konstatiert Helmholtz, »daß die deutsche Universität, welche zuerst das Wagniss unternähme, einen der Philosophie zugewendeten Naturforscher zum Philosophen zu berufen, sich ein dauerndes Verdienst um die deutsche Wissenschaft erwerben könnte.« 14

Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft (1778). Hrsg. von Wilhelm Weischedel. Frankfurt a. M. 1974, S. 274. 11 Vgl. Georg W. F. Hegel: Wissenschaft der Logik. Die Lehre vom Begriff (1816). Hrsg. von Hans-Jürgen Gawoll und mit einer Einleitung von Friedrich Hogemann. Hamburg 2003, S. 13 ff. 12 Georg W. F. Hegel: Phänomenologie des Geistes (1807). Hamburg 2011, S. 6. 13 Hermann von Helmholtz an L. Fick, 1875. Zitiert aus: Leo Königsberger: Hermann Von Helmholtz. Bd. I. Braunschweig 1902, S. 243. 14 Ebd. 10

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Der Tenor, den Helmholtz hier anstimmte, war auch bereits bei einigen Philosophen angeklungen: Philosophen, die einer »konkreten Psychologie« 15 nahe kamen und sich dezidiert mit dem Begriff des »Lebens« beschäftigten, wie Wilhelm Dilthey, Henri Bergson und im Anschluss daran Helmuth Plessner. 16 Plessner als einer der Begründer und wichtigsten Vertreter der philosophischen Anthropologie spricht in seinem anthropologischen Hauptwerk Die Stufen des Organischen und der Mensch vom Leben, als dem »erlösenden Wort« des 20. Jahrhunderts. So wie das erlösende Wort des 19. Jahrhunderts »Entwicklung« war und das des 18. Jahrhunderts »Vernunft«, so charakterisiert sich das 20. Jahrhundert durch den Lebensbegriff, der nicht nur Erlösung sei, sondern gleichsam auch der einzige, der noch, so Plessner durchaus kritisch, »bezaubern« könnte. 17 Die Besinnung auf das Leben als Untersuchungsgegenstand geht dabei mit der Veränderung der Biologie, durch Charles Darwins Evolutionstheorie und Ernst Haeckels Morphologie sowie der Propaganda eines Sozialdarwinismus, einher. 18 Dies evozierte im Gegenzug zunehmend vitalistische Gegenargumente, an denen sich letztlich auch Plessner und Buytendijk kritisch anlehnten. Vor diesem Hintergrund etablierte sich, obwohl nur sehr wenige Philosophen auch als Experimentatoren bekannt sind, vor allem zum fin de siècle eine wissenschaftliche Neigung zur Konvergenz von praktischer und theoretischer Leistung zugunsten einer Annäherung an einen Begriff des Lebens. Aus der ersten gemeinsamen Zusammenarbeit des Biophilosophen Plessner und des an Philosophie interessierten und maßgeblich von Scheler beeinflussten Physiologen Buytendijk, der zu jener Zeit schon internationales Renommee genoss, 19 festigte sich das philosophisch-anthropologische Programm Plessners wie Buytendijks,

Dieser Begriff geht auf Dilthey zurück und beschreibt eine lebens-und alltagsnahe Psychologie. Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften VII, S. 239. 16 Vgl. Matthias Wunsch: Lebensphilosophie und Irrationalismus. Dilthey – Bergson – Plessner. In: Irrationalität. Hrsg. von Christoph Asmuth und Simon Gabriel Neuffer. Würzburg 2015, S. 201–218. 17 Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie. Berlin/New York 1975, S. 3 f. 18 Vgl. Holzhey/Röd: Geschichte der Philosophie, S. 24 f. 19 Zum Einblick in das Leben Buytendijks s. den Nachruf auf Buytendijk: J. J. G. Prick: Levensbericht F. J. J. Buytendijk. In: Jaarboek, Amsterdam 1974, S. 207–229. 15

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das im Ausgang von einer psychophysischen Indifferenz des Lebens denkt. 20 Beide Forscher konzipieren einen Lebensbegriff, der sich entschieden von dem cartesianischen Dualismus einer res cogitans und einer res extensa verabschiedet und der maßgeblich unter dem Einfluss Wilhelm Diltheys steht, der das Leben sowohl aus einer biologischen Sphäre als auch einer geistig-kulturellen Sphäre betrachtet und einen historischen Blickwinkel einschließt. Kühne-Bertram konstatiert für diesen Umstand, dass »[das] Interesse an mathematischen und physiologischen Studien und die Einbindung naturwissenschaftlicher, insbesondere biologischer, physiologischer und psychologischer Erkenntnisse in seine Philosophie […] auch in Diltheys wissenschaftspolitischer Haltung zum Ausdruck [kommt],« 21 und schlägt damit eine Brücke zu Helmholtz, den Dilthey ebenfalls intensiv studiert hatte. 22 Ähnlich wie Dilthey, lehnen Plessner und Buytendijk das Konzept eines Erkenntnissubjekts der cartesianischen Philosophie ab, um zugunsten des menschlichen Lebens zu forschen, das Körper und Geist gleichermaßen umfasst. Dilthey wertet das Erkenntnissubjekt in seiner Philosophie des Lebens an prominenter Stelle folgendermaßen ab: »In den Adern des erkennenden Subjekts, das Locke, Hume und Kant konstruieren, rinnt nicht wirkliches Blut, sondern der verdünnte Saft von Vernunft als bloßer Denktätigkeit.« 23 Insofern es kein richtiges Blut sei, sei es auch keine Beschäftigung mit dem richtigen Leben, das sich eben aus mehreren Konstituten zusammensetzt. Bei Plessner geht es ebenso um die »Theorie des lebendigen Menschen«, 24 wie bei Dilthey, der für seine Forschung feststellte: »Mich führte aber historische wie psychologische Beschäftigung mit Der Begriff »psycho-physische Indifferenz« ist eine Max Scheler-Referenz. Max Scheler: Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik. In: Gesammelte Werke, Bd. 2. Hrsg. von Maria Scheler/Manfred Frings. Bonn 2000, S. 157 f. 21 Gudrun Kühne-Bertram: Zum Verhältnis von Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften in der Philosophie Wilhelm Diltheys. In: Dilthey als Wissenschaftsphilosoph. Hrsg. von Hans-Ulrich Lessing und Christian Damböck. Freiburg 2016, S. 225–248, hier: S. 241. 22 Ebd., S. 240. 23 Wilhelm Dilthey: Einleitung in die Geisteswissenschaften. In: Gesammelte Schriften, Band 1. Göttingen 1970, S. XVIII. 24 Helmuth Plessner: Macht und Menschliche Natur. Ein Versuch zur Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht (1931). In: Gesammelte Schriften, Bd. V, S. 138–229, hier: S. 164. 20

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dem ganzen Menschen dahin« – also nicht nur die Beschäftigung mit der res cogitans – »diesen, in der Mannigfaltigkeit seiner Kräfte, dies wollend fühlend vorstellende Wesen auch der Erklärung der Erkenntnis und ihrer Begriffe (wie Außenwelt, Zeit, Substanz, Ursache) zugrunde zu legen.« 25 Das Leben, das bedeutet, auch Plessner und Buytendijk zufolge, den Menschen als biologisches Lebewesen ebenso wie als geistig-sittliche Existenz zu erfassen. In dieser Hinsicht stehen beide Forscher in der Tradition Diltheys. 26 Denn auch »Diltheys Ziel ist es, […]«, so Kühne-Bertram, »die zwei ›Hälften des Wissens‹, das theoretische und das praktische Wissen, die Naturerkenntnis und die Erkenntnis der geschichtlich-gesellschaftlichen Welt zur Einheit des ›globus intellectualis‹ zusammen zu schließen. Damit soll auch die strikte Entgegensetzung von Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften relativiert werden. Dilthey begründet dieses Streben mit der Aussage, dass es nur eine Erfahrung gibt. Diese habe sich lediglich im Laufe der Wissenschaftsgeschichte in einer ›doppelten Richtung‹ entwickelt: in die äußere Erfahrung als Grundlage der Naturwissenschaften und in die innere Erfahrung als Basis der Geisteswissenschaften. In der wirklichen Erfahrung aber seien beide ungetrennt. Nur durch eine abstrakte isolierende Betrachtung können sie unterschieden werden.« 27

Buytendijk tendiert in seiner Definition von Erfahrung zu einer zwar anders gelenkten Argumentationsrichtung, insofern er selbst aus den sogenannten Erfahrungswissenschaften kommt, gelangt aber, wie im letzten Kapitel der vorliegenden Studie gezeigt werden soll, zu einem ähnlich synergetischen Ergebnis. Der Versuch der Begründung eines Konzepts eines natürlichen Verstehens oder wie es an anderer Stelle auch heißt eines »natürlichen vor- und außerwissenschaftlichen Ausdrucksverstehens«, 28 das als Prinzip für die Frage nach dem Menschen und dessen Bewusstsein Dilthey: Einleitung, S. XVIII. Im Falle Plessners geht die Forschung davon aus, dass er Dilthey vornehmlich über Georg Misch, Diltheys Schwiegersohn und dem Herausgeber seiner nachgelassenen Schriften, rezipierte. Vgl. Jan Beaufort: Die gesellschaftliche Konstitution der Natur: Helmuth Plessners kritisch-phänomenologische Grundlegung einer hermeneutischen Naturphilosophie in »Die Stufen des Organischen und der Mensch«. Würzburg 2000, S. 223, Anm. 30. Zum Einfluss Diltheys auf Plessner und den Rückbezug auf den Lebensbegriff s. auch Ernst Wolfgang Orth: Von der Erkenntnistheorie zur Kulturphilosophie: Studien zu Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen. Würzburg 2004, S. 226 ff. 27 Kühne-Bertram: Zum Verhältnis, S. 242. 28 Plessner/Buytendijk: Deutung des mimischen Ausdrucks, S. 122. 25 26

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nach dem anderen Ich fungieren soll, hat seine Grundpfeiler in der Prämisse der natur- und geisteswissenschaftlichen Gemeinschaftsarbeit, die sich im Phänomen der Erfahrung am eindrücklichsten entäußert. Insofern die Erfahrung für Buytendijk und Plessner, auch wenn sie im Text nicht explizit als solche ausgewiesen wird, auf mehreren Ebenen als eines der wichtigsten Konstitute in ihrer Ausdrucksforschung gelten kann, wird im letzten Kapitel dieser Studie auf die Verbindung und gegenseitige Bedingung des »natürlichen Verstehens« und der »Erfahrung« hingewiesen. Der menschliche Ausdruck wird über die Analyse einer »Schicht des Verhaltens«, die einer psychophysischen Indifferenz obliegt, erklärt. 29 Ihr unterliegt ein phänomenologisches, natürliches Verstehen als methodologischer Ansatz zu Grunde, der als Ziel das Bewusstsein des anderen Ich hat. 30 Diese Theorie eines Fremdverstehens soll in doppelter Weise Einblick schaffen. Zum einen will sie mit der Analyse tierischen Verhaltens die Frage nach einer Tierpsychologie stellen, die eine Lehre des Verstehens animalischen Verhaltens vorausschickt, zum anderen soll aus dieser ersten Aufgabe eine Grundlage für eine allgemeine Psychologie resultieren, also eine Deutungsanalyse für das Verstehen anderer Menschen. Inwiefern eine Deutungsanalyse, die phänomenologisch fundiert ist, Erkenntnisse über das menschliche Verhalten generieren kann, wird von Plessner und Buytendijk anhand zweier Experimente und der kritischen Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Verhaltenspsychologie wie Physiologie herausgearbeitet. »Wenn aber der Nachweis gelang,« so Plessner über das schlechte Gewissen des Physiologen Buytendijks, wenn er philosophierte, »daß die bildhafte Erscheinung des Menschen der physiologischen Funktionsanalyse entzogen ist, weil sie ihr vorausliegt; daß sie in Ausdruck und Deutbarkeit einer Zone zwischenmenschlicher Einvernehmbarkeit angehört, welche nicht das Ergebnis von Auseinandersetzungen zwischen einem Subjekt und einem Objekt sein kann, vielmehr die tragende Schicht für solche wie für ganz andersartige Verhaltensweisen bildet – weshalb wir sie, ohne an den damals noch recht primitiven amerikanischen Behaviorismus zu denken – die Schicht des Verhaltens nannten –, wenn uns, sage ich, dieser Nachweis gelang (und er ist uns gelungen), durfte auch Ihr (BuytenPlessner/Buytendijk: Deutung des mimischen Ausdrucks, S. 78 ff. S. zur weiteren Interpretation und Ausführung des sog. ›Deutungs-Aufsatzes‹ u. a. Björn Sydow: Philosophische Anthropologie der Leidenschaften: Über den Menschen als körperliches Wesen. Berlin 2013, S. 57 ff.

29 30

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dijks) physiologisches Gewissen, eine klare Grenze vor Augen, wieder ruhig sein.« 31

Was bewiesen werden sollte, war, dass der Mensch, ganz vorwissenschaftlich, phänomenologisch wahrgenommen, zunächst in seiner Gestalt und Ganzheit erscheint und wahrgenommen wird. Eine physiologische Funktionsanalyse ist an dieser Stelle weder nötig noch möglich. Der Ausdruck und das entsprechende Verstehen dieses Ausdrucks gehöre zur Sphäre der »zwischenmenschlichen Einvernehmbarkeit«, konstituiert sich also nicht als Resultat einer Subjekt-Objekt-Relation, sondern verhält sich vielmehr als tragende Schicht aller Verhaltensweisen und konstituiert sich als »natürliches Verstehen«. Diese Theorie fordert ein Subjekt ein, das sich nicht nur zu jemandem oder etwas verhält, sondern durch das Verhalten, dem das Verstehen schon – gewissermaßen durch Konvention – implizit ist, dem anderen Ich begegnet. Buytendijks physiologisches Gewissen wird demnach beruhigt, insofern durch diesen Beweis die Berechtigung für die Philosophie als auch für die Physiologie weiterhin Bestand hat, in der Frage nach dem Menschen und explizit im Falle der Ausdrucks- und Deutungsanalyse.

2.

Zur Konzeption eines natürlichen Verstehens

Plessner und Buytendijk lernten sich etwa 1923 bei Max Scheler kennen, wobei Buytendijk Plessners wissenschaftliches Profil als Zoologe und Phänomenologe derart ansprach, 32 dass er ihn umgehend in sein Amsterdamer Laboratorium einlud. 33 Denn der Physiologe war der Meinung, dass »[die] Physiologie […] (biotisches) Leben nicht bloß erklären, sondern auch verstehen [soll].« 34 Der Anspruch des Verstehens ergibt sich hier als direkte Adaption des von Dilthey prominenten und viel zitierten Satzes: »Die Natur erklären wir, das See-

Helmuth Plessner: Unsere Begegnung. In: Rencontre/Encounter/Begegnung. Contributions a une psychologique humaines déidées au professeur Buytendijk. Hrsg. von Frederik J. J. Buytendijk. Utrecht/Antwerpen 1957, S. 331–338, hier: S. 332. 32 Zur philosophischen Inspiration Plessners auf Buytendijk, s. Henk Struyker Boudier: Helmuth Plessner als philosophischer Wegweiser für F. J. J. Buytendijk. In: Man and World 26 (1993), S. 199–207. 33 Plessner: Unsere Begegnung, S. 331. 34 Becker: Der Sinn des Lebens, S. 71. 31

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lenleben verstehen wir.« 35 Dabei fordern Plessner und Buytendijk das Verstehen nicht nur für das Seelenleben ein, sondern ebenso für das biologische, insofern sich das Leben aus beidem konstituiert. Seit der ersten Begegnung bis zu ihrem Tode verband den philosophischen Anthropologen und den Physiologen eine innige Freundschaft und ein geteiltes Forschungsinteresse auf der Grundlage einer biophilosophischen Theorie, die allem Anschein nach, aus der Zusammenarbeit beider Forscher resultierte. Joachim Fischer bezeichnet die Zusammenarbeit der befreundeten Wissenschaftler treffend als »das funktionierende Bündnis Buytendijk-Plessner«. 36 Während Plessners Aufenthalt in Amsterdam entwickelten beide gemeinsam die Idee einer internationalen Zeitschrift, die als solche zwar keine Realisation fand. Doch führte dieser Ideenaustausch zu der von Plessner herausgegebenen vierteljährlich erscheinenden Zeitschrift Philosophischer Anzeiger, die ab 1925 publiziert wurde und nach 4 Jahrgängen 1930 eingestellt werden musste. 37 Buytendijk fungierte hier als Mitherausgeber der ersten Stunde und veröffentlichte neben dem gemeinsamen Artikel mit Plessner noch einen eigenen Text im zweiten Jahrgang der Zeitschrift mit dem Titel »Anschauliche Kennzeichen des Organischen«. 38 Beide Artikel folgten den programmatischen Paradigmen des Anzeigers, der sich als Zeitschrift des Austausches verschiedener Disziplinen mit der Philosophie verstand und die »[echte kritische] Forschung und forschende Kritik« in der Manier der traditionellen Gelehrtenkorrespondenz wiederbeleben sollte. 39 Die Arbeit zur »Deutung des mimischen Ausdrucks«, die als ein Prototyp mit Vorbildcharakter für alle Beiträge der Zeitschrift fungieren sollte, sollte in den zwei Monaten, die Plessner in Amsterdam blieb

Wilhelm Dilthey: Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie (1894). In: Gesammelte Schriften V, 1924, S. 139–240, hier: S. 144. 36 Joachim Fischer: Philosophische Anthropologie. Eine Denkrichtung des 20. Jahrhunderts. Freiburg i. Br. 2009, S. 187. 37 Siehe zu den oberflächlichen Eckdaten der Zeitschrift und zur Einstellung derselben: Carola Dietze: Nachgeholtes Leben. Helmuth Plessner 1892–1985. Göttingen 2006, S. 57 ff. und Joachim Fischer: Philosophische Anthropologie, S. 61 f. 38 Frederik J. J. Buytendijk: Anschauliche Kennzeichen des Organischen. In: Philosophischer Anzeiger. Hrsg. von Helmuth Plessner. II. Jg. 1928, S. 391–402 39 Brief von Helmuth Plessner an Martin Heidegger, der ebenfalls zum Stab der Mitherausgeber gehörte. Wiesbaden, den 22. 12. 24, Signatur: ples.136.335.3, PlessnerNachlass, Rijksuniversiteit Groningen (NL). 35

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»geschafft sein«. 40 Plessner erklärt im Rückblick, dass der DeutungsAufsatz »dann auch ein ermutigendes Echo [bekam]. Für ein altes, in erkenntnis-theoretischen Modellvorstellungen ersticktes Problem zeigten sich neue Lösungsmöglichkeiten. La structure du comportement 41 war in den Mittelpunkt gerückt.« 42 Die Hervorbringung eines neuen Naturverständnisses war eine Innovation unter vielen, die diese Begegnung von Buytendijk und Plessner evoziert hatte. Begegnung, das meinte auch die Begegnung von Philosophie und Physiologie und »die Erkenntnis, dass Lebendiges darin seine Autonomie beweist, einander begegnen zu können.« 43 Die Zusammenarbeit der beiden Forscher führte sie auf neue Pfade: Das phänomenologische, »natürliche« Verstehen im Ausgang einer experimentellen naturwissenschaftlichen Tätigkeit, sollte beide, den Denker und den Praktiker, gleichermaßen nachhaltig in ihren Schriften und Forschungen begleiten. Plessner konstatiert, sie »waren einander begegnet und wussten auch, worin.« 44 Im Begriff der Begegnung deutet sich an, was Buytendijk und Plessner in gewisser Weise unter dem Begriff »natürliches Verstehen« 45 fassen. Es ist hinreichend bekannt, dass der erste Teil des ›DeutungsAufsatzes‹, der das Krötenexperiment als Ausgangspunkt des Forschungskomplexes stellt, aus Buytendijks Feder stammt, 46 die Formulierung des Theorie-Teils aber vornehmlich von Plessner. Mit Blick auf die originalen Korrekturfahnen, wird diese Trennung dadurch deutlich, dass der Handschrift nach zu urteilen, Plessner darauf besteht, dass das Krötenexperiment aus keiner gemeinsamen Forschung der beiden hervorgeht, sondern die Forschungsergebnisse schon 1917 in dem Aufsatz »L’instinct d’alimentation et l’expérience chez les cra-

Helmuth Plessner: Unsere Begegnung, S. 331. Das ist ein direkter Verweis auf den Einfluss Plessners und Buytendijks auf den prominenten französischen Phänomenologen Maurice Merleau-Ponty und dessen 1927 veröffentlichte Schrift: La structure du comportement. Paris 1927. Im Nachlass Buytendijks findet sich eine Erstausgabe mit Widmung des Verfassers und zahlreichen Anmerkungen Buytendijks (vgl. Struyker Boudier: Philosophischer Wegweiser, S. 207, Anm. 32). Der Text wurde erstmals 1976 von Bernhard Waldenfels ins Deutsche übersetzt (Berlin/New York 1976). 42 Helmuth Plessner: Unsere Begegnung, S. 331. 43 Ebd. 44 Ebd. 45 Plessner/Buytendijk: Deutung des mimischen Ausdrucks, S. 121. 46 Plessner: Unsere Begegnung, S. 332. 40 41

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pauds« 47 publiziert worden sind. 48 Neben dem Krötenexperiment, fußt der Deutungsaufsatz auf einem weiteren praktischen Versuch, der einer Studie gleichkommt. Es handelt sich hierbei um eine Befragung von Personen aller Altersstufen, die die Expressionen von Gesichtern auf Fotografien – entnommen aus dem prominenten Bilderkatalog Charles Darwins in The Expression of the Emotions in Man and Animals (1872) – deuteten und ihren jeweiligen Emotionen zuordnen sollten. Anders als Darwin jedoch konstatierte, dass die Bilder eindeutige Emotionen zeigten, beobachteten Buytendijk und Plessner in ihren vielen verschiedenen Tests, dass »[bis] auf die Ausdrucksbilder des Lachens und Weinens […] eigentlich alles variabel [ist].« 49 Plessner selbst gestand in seinen Erinnerungen an die Begegnung mit Buytendijk allerdings auch, dass die Studien nicht unbedingt als Beweislage dienen konnten, »aber sie halfen uns, unsere Gedanken zu ordnen und uns auf das Phänomen des Ausdrucks zu konzentrieren.« 50 Diese Datenerhebung fungierte insofern nicht mehr als Material zur Stützung ihrer These, vielmehr galt sie als »Vehikel für die Besinnung«. 51 Diese Einsicht lässt sich als Meilenstein bewerten, der auch Buytendijks Theorieverständnis einer »Wirkungsmacht durch Erfahrung« nachhaltig beeinflusst hat. 52 Im ersten Kapitel des hier schon oft erwähnten Deutungs-Aufsatzes, der den Titel »Das Problem« trägt, wird zunächst der praktische Tierversuch vorgestellt, den Buytendijk im Jahre 1917 durchgeführt hat. Im Zuge dieser Versuchsreihe, die Buytendijk im Archives néerlandaises de physiologie de l’homme et des animaux Frederik J. J. Buytendijk: L’instinct d’alimentation et l’expérience chez les crapauds. In: Archive néerlandaises de physiologie de l’homme et des animeaux II, 1917, S. 217– 228. (Titel zu Deutsch: »Über den Ernährungsinstinkt und die Erfahrung bei Kröten«) 48 Die erste Fußnote im ›Deutungs-Aufsatz‹ verweist auf diesen Text Buytendijks. Die Korrekturfahne des Aufsatzes liegt im Nachlass Helmuth Plessners: Library University of Groningen. Zaal oude en kostbare werken, PO Box 559, NL-9700 AN Groningen – Netherlands, ples.227.4.1. hier streicht Buytendijk im Typoskript aus dem ersten Satz: »Im Jahre 1917 haben wir über die Wahrnehmung der Nahrung bei niedern Tieren, besonders bei Kröten, Versuche angestellt.«, das »haben wir« und ersetzt er durch ein »hat Buytendijk«. 49 Plessner/Buytendijk: Deutung des mimischen Ausdrucks, S. 123. 50 Plessner: Unsere Begegnung, S. 332. 51 Ebd. 52 Henderikus J. Stam/René van Hezewijk: Phenomenological Psychology in The Netherlands. In: Encyclopedia of the History of Psychological Theories. Hrsg. von Robert W. Rieber. New York 2012, S. 789–795, hier: S. 792. 47

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veröffentlichte, beobachtete Buytendijk unter anderem, dass ein signifikanter Zusammenhang zwischen Instinkt und Erfahrung der Tiere besteht, der unter dem Begriff der »Bedeutung« hervortritt. Im Falle der Untersuchung des Nahrungssuch-Instinktes ergab sich dabei, dass »die Kröte nach einer einzigen Erfahrung ihr Verhalten gegenüber gewissen Nahrungsobjekten abändern kann«, so zum Beispiel, dass »der erfolgreiche Fang eines Insektes […] durch die Kröte […] von einer Änderung in der Bedeutung gewisser erst bedeutungsloser Objekte [begleitet wird].« Buytendijk erklärt diese Tatsachen als »psychomechanisch« und will damit die Hypothese stützen, dass »auch die erfahrungsmäßige Abänderung der reaktiven Handlungen der Tiere auf einer angeborener Eigenschaft der Tierpsyche beruht« und dass »die festgestellten Tatsachen […] im natürlichen Leben der Kröten einen höchst zweckmäßigen biologischen Wert [haben]. 53 Buytendijk und Plessner kommentieren diesen Sachverhalt so: »Die toten Gegenstände machen also einen Bedeutungswandel durch« 54, sie bekommen einen »neuen Erscheinungswert«. 55 Es wird deutlich, dass sich hier eine Schwierigkeit offenbart, insofern sich der beobachtete Sachverhalt nicht ohne weiteres mit den Theorien der exakten Wissenschaften erklären lässt. Denn es wird sicher »durch den Versuch ausgeschlossen, daß irgend eine quantifizierbare einfache Reizqualität die Reaktion des Tieres bestimmt, also nach beliebtem physiologischem Schema Bahnung und Hemmung im Nervensystem, Tropismen 56 und Tropismenumstimmung dafür verantwortlich gemacht werden können.« 57

Auch den Assoziationsmechanismus als Theorie schließen beide Wissenschaftler aus, denn eine Assoziation 58 geht mit »Erscheinung tierischer Gewohnheitsbildung« einher, die nur in Folge einer (gewollten oder ungewollten) Dressur stattfinden kann. 59 »Das Einzige, womit man vielleicht […] noch operieren möchte, wäre die Annahme einer gewissen Prädisposition des Tieres durch Buytendijk, L’instinct d’alimentation, S. 228. Plessner/Buytendijk: Deutung des mimischen Ausdrucks, S. 73. 55 Ebd. 56 Tropismen: Bewegung auf einen Reiz hin. 57 Plessner/Buytendijk: Deutung des mimischen Ausdrucks, S. 73. 58 Ebd.: »Assoziationen werden gestiftet, wenn mit einem bestimmten Reiz ein oder mehrere andere Reize in räumlicher oder zeitlicher Nachbarschaft gegeben sind.« 59 Ebd. 53 54

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den Eindruck von der echten Nahrung«, so Buytendijk und Plessner, denn dieser »Eindruck wird von ähnlichen Eindrücken nach dem Gesetz der Ähnlichkeitsassoziation realisiert und führt den Schluckakt herbei.« 60 Doch wird diese Möglichkeit gleich wieder dementiert, insofern die in diesem Versuch angebliche Ähnlichkeit keine ist. Nicht einmal partielle Gleichheiten lassen sich vorweisen, vielmehr ist die Ähnlichkeit zwischen den nahrhaften und den ›toten‹ Gegenständen in ihrem Gestaltcharakter verankert. 61 »Es bleibt also die Annahme übrig, daß für die beobachtete Reaktion der die Ähnlichkeit bestimmende Gestaltcharakter ursächliche Bedeutung hat.« 62 An dieser Stelle werden zwei für die Abhandlung wichtige Punkte freigelegt: Der Gestaltcharakter und die ursächliche Bedeutung, die zu der beobachteten Reaktion führt. Außerdem wird durch den Ausschluss der zu Beginn des 20. Jahrhunderts gängigen, mechanistischen Prinzipien folgenden Erklärungsmethoden deutlich, dass für die Lösung des beobachteten Problems eine weitere Methode wichtig ist, insofern es überdies um Wahrnehmung und Verstehen geht. Da die Beobachtungen des Experiments von »Bedeutungswandlungen« und »Bedeutungssphären« getragen werden, muss auch mit Methoden, die auf die Analyse von Bedeutungen spezialisiert sind, operiert werden. Die Bedeutung wird durch den Gestaltcharakter vermittelt, der implizit durch die Nahrungsaufnahme transferiert wurde. Der Gestaltcharakter, das sind die allgemeinen Merkmale über die äußerliche Verfassung der Gegenstände. Doch der »Reizwert«, der die Reaktion des Tieres hervorgerufen hat, ist nicht bloß auf den Gestaltcharakter des Objektes zurückzuführen – sondern ebenso auf den »inneren Zustand« des Tieres, der sich durch die Nahrungsaufnahme verändert hat. 63 Ebd. Zur Auseinandersetzung Plessners mit der Gestalttheorie siehe Gerald Hartung: Gestalt und Grenze. Helmuth Plessner und die Gestaltpsychologie. In: Zwischen den Kulturen. Plessners »Stufen des Organischen« im zeithistorischen Kontext. Freiburg 2015, S. 161–192. Gerald Hartung diskutiert in seinem dichten zeit- wie wissenschaftshistorischen Beitrag den Einfluss der Gestaltpsychologie auf Plessners Denken, projiziert allerdings diesen Einfluss direkt auf die Stufen des Organischen und geht nicht darauf ein, dass die Gestalttheorie bereits im Deutungs-Aufsatz, der auch als Vorläufer der Stufen gilt, eine außerordentliche Rolle spielt. Damit wäre Hartungs These und »Verfahren«, »eine Beziehung zwischen Plessners Schriften und denjenigen der Gestaltpsychologie« (S. 161) herzustellen, zusätzlich gestärkt. 62 Plessner/Buytendijk: Deutung des mimischen Ausdrucks, S. 74. 63 Vgl. Ebd. 60 61

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»Dieser Zustand resultiert nicht aus einer Summe angeborener Reaktionsformen«, so Buytendijk und Plessner sich gegen eine mechanistische Auffassung von Reaktions- und Verhaltensweisen richtend, sondern »ä n d e r t sich vielmehr mit dem Alter, der sexuellen Entwicklung, den Jahreszeiten, Tag und Nacht, Hunger und Sättigung usw.« 64 So wird die Sensomotorik und die Rückgebundenheit des Tieres zum Milieu deutlich, die einen ausschlaggebenden Punkt in der biophilosophischen Theorie Buytendijks, aber auch Plessners darstellt. Es ergibt sich daraus die Frage, wie eine solche den Umständen nach veränderliche Abhängigkeit zwischen Rezipient und Objekt möglich sein kann, »da doch nach den üblichen oder sich sofort als einleuchtend aufdrängenden Erklärungsmöglichkeiten der Wahrnehmung gleichbleibenden Objekten gleiche psychische Wirkungen entsprechen sollten.« 65 Und es drängt sich damit auch die Frage auf, ob sich nicht beim Menschen ähnliche Gesetzmäßigkeiten finden, die auf eine solche variable Relation von Menschen zu anderen Menschen bzw. »geistigen Inhalten« finden lassen. 66 Und die Forscher gehen methodenreflektierend noch weiter zu fragen, ob sich ein solches Verhalten, nicht bloß im Laboratorium, sondern ebenso im »vollen Leben« zeige. 67 Der zuletzt ausschlaggebende und zentrale Bezugspunkt für die biophilosophische Theorie Plessners und Buytendijks wird deutlich: Das Leben. Tatsächlich geht es beiden Wissenschaftlern nicht darum, empirische Daten durch Experimente zu sammeln oder abstrakte Theorien aufzustellen, vielmehr geht es ihnen darum, den Menschen im Leben und durch das Leben wahrzunehmen und zu verstehen. Die Antwort auf die Frage fällt kurz und im Grunde genommen selbstevident aus: Es gibt ein solches Benehmen beim Menschen, und jeder kennt es aus der eigenen unmittelbaren Erfahrung: Es kommt bei der »Wahrnehmung des mimischen Ausdrucks des anderen Menschen« vor, wie der Titel des Aufsatzes schon andeutet. 68 Plessner und Buytendijk gehen davon aus, dass die Wahrnehmung und Deutung der Ausdrucksbewegungen beim Menschen auf eine »historische Reaktionsbasis« zurückzuführen ist, die sich aus der frühesten Kindheit entwickelt. Außerdem

64 65 66 67 68

Ebd. Ebd. Vgl. Ebd., S. 75. Vgl. Ebd. Ebd.

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konstituieren sich die Wahrnehmung und das Verständnis des anderen Ichs aus einer »ursprünglichen Fähigkeit«. 69 Eine solche ursprüngliche Fähigkeit ließe sich besonders bei Kleinkindern feststellen und ließe entsprechend die Annahme zu, dass die Fähigkeit, das andere Ich wahrzunehmen und zu verstehen, nicht erst erlernt werden muss. Die Reaktionen von Säuglingen auf andere Menschen lege Zeugnis davon ab. Im letzten Abschnitt des ersten Kapitels ihres Aufsatzes erklären Buytendijk und Plessner ihre methodische Herangehensweise aus ihrem Untersuchungsgegenstand heraus. Der Bereich der Deutung und der des Ausdrucks können keiner einzelwissenschaftlichen Analyse anheimfallen, insofern sie an vielen verschiedenen disziplinären Fragestellungen partizipieren. Als Ausgangspunkt, um am Problem anzusetzen, sehen beide Wissenschaftler deshalb einen vorwissenschaftlichen Punkt geeignet, »der v o r der Auflösung der Tatsachen in sonderwissenschaftliche Probleme einsetzt und in der ungeteilten Erhaltung der reellen Phänomene das tragfähige Fundament für eine Kooperation des philosophischen und einzelwissenschaftlichen Vorgehens erblickt.« 70

An dieser Stelle werden zwei wichtige Dinge explizit: Zunächst wird hier der Aufsatz als Medium eines Prototyps für alle Beiträge, die im fachübergreifenden Philosophischen Anzeiger erscheinen sollen ausgewiesen, und als zweites wird hier der Grundstein einer biophilosophischen Theorie gesetzt, die sich an das Leben gebunden und aus dem Leben heraus als eine Theorie versteht, die an verschiedenen Disziplinen anschließen muss und daher eine dualistische cartesianische Leib-Seele-Dichotomie verwirft. So wie sich Theorie methodisch über Disziplingrenzen subvertiert, so unterläuft sie philosophisch auch die Leib-Seele-Trennung. Der Aufsatz von Buytendijk/Plessner ist daher doppelt geeignet, wissenschaftstheoretisch wie philosophisch eine Verbindung von Experiment und Theorie herauszustellen und diese Verbindung als produktiv für ein natürliches Verstehen des Lebens zu proklamieren. So erforderte der Untersuchungsgegenstand eine phänomenologische Vorgehensweise, insofern an einem Phänomen der Lebenswelt angesetzt wird. Eine schrittweise Annäherung an die wahrgenommenen 69 70

Ebd., S. 76. Ebd., S. 76 f.

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»Natürliches Verstehen«

Phänomene soll dabei für eine »Strukturerhellung« sorgen, die ebenso bis zum »Sinn«, also der Prämisse der Erscheinung, vordringen soll. 71 Für die methodische Herangehensweise bedeutet dies, dass die Phänomene zunächst ermittelt werden müssen, um dann verstanden zu werden: »Das Objekt dieser Untersuchung, die Deutung des menschlichen Ausdrucks, kann uns deshalb selbst zum Modell unseres Vorgehens dienen, indem wir mit der Herausarbeitung des anschaulichen Tatbestandes beginnen, um mit dem Verstehen des Tatbestandes zu enden.« 72

Buytendijk und Plessner identifizieren ihre Methode vor dem Hintergrund der ganzheitlichen Gestaltwahrnehmung als »phänomenologische Bedeutungsanalyse« oder als das »natürliche Verstehen«. 73 Im Gegensatz zum »künstliche[n], szientistische[n] Verstehen«, das sich um die Psychologie und das Wesen des Anderen bemüht, ist das natürliche Verstehen vielmehr oberflächlich und vermag nichts über das Innere des Anderen auszusagen, gleichwohl es das Fundament des künstlichen Verstehens bildet. Möchte man einen wahrhaften Einblick in die Gemütslage des Anderen erlangen, so muss der Ausdruck mindestens in eine Situation gebunden wahrgenommen werden und weitere, wissenschaftliche Deutungsmethoden (bspw. Psychoanalyse, Charakterologie) als Hilfe hinzugezogen werden. Für das natürliche Verstehen jedoch gilt, so Buytendijk und Plessner, dass es drei Prämissen unterliegt: »1. die Gewißheit der Du-Form und der Du-Realität ist gleichursprünglich mit, weil gegensinnig zur Gewißheit der lch-Form, der lchheit und der IchRealität; 2. die Leibhaftigkeit […] oder das psychophysisch indifferente ›Schema‹, wonach Körperbilder von Subjekten für einander und miteinander erst möglich sind; 3. Die Schicht des Verhaltens ist eine Sphäre gegensinnig aufeinander bezogener, subjekt-objektiv, bildhaft-sinnhaft, psychophysisch indifferenter Gestaltcharaktere, in denen das Benehmen sich abspielt.« 74

Dieses wissenschaftstheoretische Konzept, das im Deutungsaufsatz seine Anfänge gefunden hat, soll in den nächsten Kapiteln durch die Analyse des in der Festschrift für Hans Driesch von Buytendijk verfassten Titels »Biophilosophie und experimentelle Tätigkeit«, das sein 71 72 73 74

Ebd., S. 77. Ebd. Ebd., S. 101. Ebd., S. 122.

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Verständnis eines Zusammengangs von Experiment und Philosophie eindrücklich zusammenfasst und in dem er nicht bloß auf eine einfache Theoriekonstruktion eingeht, sondern im Zuge dessen auch die seinerzeitige wissenschaftliche Landschaft reflektiert, analysiert werden.

3.

Buytendijks Plädoyer für die Konvergenz von experimenteller Tätigkeit und Biophilosophie

Im Rahmen seines Beitrags zur Festschrift für Hans Driesch hält Buytendijk ein Plädoyer für den Zusammengang von Experiment und Philosophie im Hinblick auf naturphilosophische Debatten. Dabei nimmt er die Generalkritik an der Phänomenologie zum Anlass einzuräumen, dass zwar »[bei] jeder Wahrnehmung […] wohl eine aktive Betätigung des Subjekts [stattfindet], aber zuletzt ist doch das Objekt, das sich kennbar macht und eben immer mehr ›mitteilt‹, sich in größerer Fülle ›offenbart‹ als der Intensionalität und Emotionalität des Subjekts entspricht.« 75 Damit sei die Gewichtung auf die von der Wissenschaft verlangten Objektivität gelegt, obwohl aus der subjektiven Position des Wissenschaftlers geforscht würde. Der Nachteil, der durch die subjektive Wahrnehmung auf die Forschung übertragen würde, stehe, so Buytendijk, in keinem Verhältnis zur Objektivität. Denn ginge man davon aus, dass jedes philosophische System »viel mehr enthält als durch logische Konstruktion erreicht werden kann und dieses Mehr den eigentlichen Sinngehalt des Systems ausmacht […] so ist doch dieser irrationale Kern, wie ich meine, mehr von dem objektiven Charakter der Erfahrung gegeben wie vom Subjekt, dem sich diese Wirklichkeit geoffenbart hat.« 76

Dementsprechend ist der subjektive Erfahrungswert für Buytendijk ebenso bedeutend wie das objektivitäts-suggerierende naturwissenschaftliche Experiment, insofern es in der Verschränkung dieser beiden Blickwinkel erst tatsächlich zu einem aussagekräftigen Erkenntnisgehalt kommen kann. Denn diese »Wirkungskraft der Erfahrung« ist eben auch der Grund, »warum gerade persönlich durchgeführte

75 76

Buytendijk: Experimentelle Tätigkeit und Biophilosophie, S. 81. Ebd.

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experimentelle Forschung meines Erachtens die richtige Grundlage für die persönliche naturphilosophische Durchdenkung bildet.« 77 Hier verbinden sich Philosophie und Experiment wie schon im ›Deutungs-Aufsatz‹ ganz real: Das Experiment als »Vehikel der Besinnung« auf den Untersuchungsgegenstand funktioniert als Erfahrungsparameter, das durch seine Hingabe dem Untersuchungsgegenstand näher kommt und ihm sich damit seine Objektivität weiter offenbart. Das Experiment, das ist in Buytendijks Sinne dabei nicht nur der empirische Versuch im Labor, sondern umfasst jegliche Naturbeobachtungen im »vollen Leben«. Zusammenfassend lässt sich für Buytendijks Plädoyer konstatieren, dass nicht nur die Kritik an der Phänomenologie nicht greift, sondern im Umkehrschluss ebenso das Experiment für die Naturphilosophie ausschlaggebend ist. Hier wird die Forderung nach einer fachdisziplinären-übergreifenden Methodik deutlich, die an den deutschen bzw. europäischen Universitäten in einer solchen Manier noch keinen Eingang gefunden hat. Buytendijk erklärt: »Diese Vereinigung von experimenteller Betätigung und philosophischer Besinnung [die auch Hans Driesch in seiner Forschung verfolgte, J. G.] ist an unseren Universitäten noch eine seltene Erscheinung, und es wird im Gegenteil noch immer eine scharfe Scheidung gefordert und in verschiedener Weise erhalten.« 78

Was Helmholtz also schon über drei Jahrzehnte zuvor eingefordert hatte, hat sich bis dahin nicht durchsetzen können, gleichwohl sich viele Stimmen in den 1920er Jahren im deutschsprachigen Raum zumindest für eine disziplinenübergreifende Forschung aussprachen. 79 Gerade die zahlreichen biophilosophischen Studien zu jener Zeit legten Zeugnis davon ab, dass eine Tendenz hin zu einer gemeinschaftlichen Arbeit von Philosophie und Naturwissenschaften von Nöten Ebd., S. 82. Ebd., S. 79. 79 Ein Zeugnis für einen solchen Bedarf an der Zusammenarbeit von Philosophie und den Einzelwissenschaften, ist die hier schon erwähnte Zeitschrift: »Der Philosophische Anzeiger«, die sich als eine ›inter- oder transdisziplinäre‹ (beide Begriffe waren zu dieser Zeit nicht geläufig, sondern kamen erst in den 1950er Jahren auf) Zeitschrift versteht und neben Helmuth Plessner als Hauptherausgeber einen beachtlichen Stab von renommierten Professoren als Mitherausgebern vorweisen kann, die diese Idee einer Zeitschrift von der Philosophie in Zusammenarbeit mit den Einzelwissenschaften begrüßten. Nicht nur seitens der Philosophie, sondern auch seitens der Naturwissenschaftler, Juristen, Psychologen etc. 77 78

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war und dass »von den Naturwissenschaftlern Philosophie fast immer wie eine möglichst allen Tatsachen gerecht werdende Hypothese betrachtet« wird – so Buytendijk, der aber im gleichen Satz noch hinzufügt: »sofern man in diesen Kreisen der Philosophie überhaupt einen gewissen Wert zuerkennt« 80. Die Abwertung der Philosophie durch die Wissenschaften, die sich teilweise bis heute hält und in naturalistischen und naturwissenschaftlichen Fachkreisen hartnäckig gehalten hat, traf allerdings nicht auf alle Disziplinen oder Denker von Disziplinen zu. Vor allem im medizinisch-psychiatrischen Raum mit Vertretern wie Abraham Anton Grünbaum, der eine »psychognostische Betrachtung« 81 als produktiven Erlös aus der Arbeit mit der Philosophie zieht, war die »Meinung […] verbreitet, daß die Bildung philosophischer Systeme verständlich zu machen ist aus den Wesensmerkmalen der philosophischen Persönlichkeit, also aus ihrer allgemeinen Lebenshaltung und Einstellung.« 82 Allerdings bietet diese Ansicht wieder Fläche für die bereits erwähnte Kritik einer ›Verunreinigung‹ der Erkenntnis durch die subjektive Färbung der Wahrnehmung. Buytendijk steht dieser Aussage diametral gegenüber, insofern er die Beziehung von Forscher und Gegenstand in einem anderen Licht beschreibt. Denn »[vor] allem ist es wohl sicher, daß jeder Anfang und jede Schwungkraft echter Philosophie von irgendeiner fundamentalen Erfahrung ihren Ausgang nimmt, und daß dieser Inhalt des Denkens dessen Ablauf, Struktur und Richtung bestimmt« 83. Dabei ist vor allem für Buytendijks Theorieverständnis der spezielle Begriff der Erfahrung wichtig. Er wehrt sich gegen die Annahme, dass der Erfahrungswert »rein subjektiv zustande kommt, und damit ein relativ subjektiver Ausgangspunkt jeder Philosophie gegeben wird.« 84 Auch sieht er die Erfahrung nicht als etwas, das diese – in ihrer Façon als den Emotionen zugehörige – Irrationalität wahrnimmt, die einen beträchtlichen Einfluss auf die »Auslese der Erfahrungen« nehmen. 85 Im Gegenteil, die eigene experimentelle Tätigkeit ist der Schlüssel seines Forschungsbildes und konstituiert sich aus der eigenen Erfahrung. Auch Dilthey – so die Interpretation Rodis – spricht, wie schon angemerkt, der Erfahrung eine weitere Qua80 81 82 83 84 85

Buytendijk: Experimentelle Tätigkeit und Biophilosophie, S. 80. Ebd. Ebd. Ebd., S. 81. Ebd. Ebd.

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lität zu: »Vor Allem die Erfahrung der Bedeutsamkeit kann als direkte Umkehrung der Erfahrung von Problematischem verstanden werden.« 86 Für diese »naturphilosophische Durchdenkung« stellt der niederländische Physiologe allerdings die Prämisse, dass davon ausgegangen werden muss, dass eine Philosophie, die ihre Überlegungen auf der Grundlage von Empirie hat, diese Erkenntnisse niemals hinreichend dafür ansieht, als der Wahrheit letzter Schluss zu gelten, auch nicht, »wenn man sich beschränken wolle […] auf sichergestellte, allgemein-anerkannte evidente Tatsachen«. 87 Dafür scheint die persönliche Erfahrung im Umgang mit der Natur, und das definiert Buytendijk als »Experimentieren«, unumgänglich um derselben zu begegnen, mit ihr mitzugehen und sie somit zu verstehen. Buytendijks weiter Experiment-Begriff meint also nicht nur die quantitativen Versuche im Labor, so wäre das Experimentieren bloß einem ausgewählten Kreis von Naturphilosophen vorbehalten, die Zutritt zu einer Forschungsstätte hätten. Vielmehr ist die Beobachtung des natürlichen Geschehens, ihrer Dynamik, das, was der Naturphilosoph »versuchen« kann. Die ausschließliche Rezeption von Aufzeichnungen bereits von anderen Forschern durchgeführter Experimente bietet wenig Aufschluss über die Natur vor allem im Hinblick auf die uns »im vollen Leben« begegnende Natur wie es im Deutungs-Aufsatz heißt: diejenige, die sich uns als Gestalt, Ganzheit und Dynamik offenbart und die wir phänomenologisch und Kraft unseres natürlichen Verstehens als etwas Anderes, Objektives, zu deuten vermögen.

86 87

Frithjof Rodi: Über die Erfahrung von Bedeutsamkeit. Freiburg i. Br. 2015, S. 128. Buytendijk: Experimentelle Tätigkeit und Biophilosophie, S. 82.

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Eine Hermeneutik der Lebenswissenschaften? Eine wissenschaftshistorische Relektüre von Hans Blumenbergs »Die Lesbarkeit der Welt« im Zeitalter des Digitalen Christina Brandt

1.

Hans Blumenberg und die Molekularbiologie

Hans Blumenbergs Die Lesbarkeit der Welt von 1981 behandelt auch die »neue Leselust«, die durch die moderne Genetik in »die Natur hineingelesen« 1 wurde. Das Buch wurde zu einer Zeit veröffentlicht, als sich die Biowissenschaften durch die Entwicklungen neuartiger Gentechnologien inmitten eines radikalen Umbruchs befanden. Tatsächlich stellt Blumenbergs Auseinandersetzung mit der Molekularbiologie, die er im letzten Kapitel seines Buches eingehend thematisiert, eine der ersten umfassenden wissenshistorischen Einordnungen des molekularbiologischen Code-Konzepts dar, die von einem deutschsprachigen Autor aus dem Feld Philosophie vorgenommen wurde. Bereits seit den 1950er Jahren hatte sich ein Wandel des theoretischen Grundgerüsts der Biologie vollzogen: Durch den Aufstieg der Kybernetik hatte sich in der Nachkriegszeit ein neues Paradigma zur Beschreibung von Natur und Gesellschaft etabliert, an dem sich auch die Biologie orientierte: Biologische Lebens- und Vererbungsvorgänge wurden nun als Prozesse der Informationsverarbeitung konzipiert. Im Zentrum molekularbiologischer Modellbildungen standen Begriffe wie ›genetischer Code‹ und ›genetische Informationsübertragung‹, deren zelluläre Abläufe metaphorisch als molekulare Lese- und Schreibprozesse beschrieben wurden. Dieser Siegeszug einer informationswissenschaftlich ausgerichteten Biologie in den 1950er und 1960er Jahren stellte ein theoretisches Feld bereit, das die Entwicklung neuer Praktiken in den 1970er Jahren ermöglichte: die rekombinante DNA-Forschung oder das genetic engineering. In den USA bereits in den 1970er Jahren, aber in Westdeutschland erst an der Wende zu den 1980er Jahren, wurden die neuen Gentechnologien mit ihrem Poten1

Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt. Frankfurt a. M., 3. Aufl. 1993, S. 19.

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Eine Hermeneutik der Lebenswissenschaften?

tial, in der Natur so nicht vorkommende transgene Organismen zu erschaffen, weiträumig von kritischen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen flankiert. In diesen artikulierte sich ein grundlegender gesellschaftlicher Wertewandel in Bezug auf Wissenschaft und Technik: Nicht nur der wissenschaftliche Fortschrittsbegriff stand zur Disposition, sondern die kritische Wahrnehmung von Wissenschaft und Technik schlug insbesondere in der deutschsprachigen Debatte der 1980er Jahre oftmals geradezu ins Dystopische über. Die Veröffentlichung von Die Lesbarkeit der Welt, die, wie Blumenberg selbst ausführte, durch eine Vorlesung zur Metaphorologie im Wintersemester 1978/79 im Kern vorbereitet wurde, 2 fällt also nicht zufällig in diese Phase gesellschaftlicher Kontroversen über Naturwissenschaft und Technik. Aber auch in Bezug auf Blumenbergs eigenes Werk beginnt für einige Interpreten mit diesem Buch ein neuer Abschnitt. Zwar greift Blumenberg in der Lesbarkeit der Welt die Überlegungen zur Metapher, wie er sie seit seinen Paradigmen zu einer Metaphorologie in den 1960er und 1970er Jahren in verschiedenster Form entwickelt hatte, 3 wieder auf. Das Buch wird dabei oft als die erste umfassende Anwendung der in den vorherigen Schriften entwickelten Metapherntheorie gesehen, widmete sich Blumenberg hier doch der umfangreichen Rekonstruktion eines Metaphernfeldes bzw. einer absoluten Metapher im historisch detaillierten Längsschnitt, nämlich der Kontinuität und dem Wandel des abendländischen Topos von der »Lesbarkeit« von Welt und Natur. Zugleich aber dokumentiert das Buch auch eine Wende in Bezug auf diese früheren metaphorologischen Schriften. Wie Thomas Meyer jüngst hervorgehoben hat, deute sich in der Lesbarkeit der Welt die Auflösung einer bei Blumenberg anfangs vor allem an Fragen zur Relation von Begriff und Metapher orientierten Metaphorologie in eine, wie Meyer es formuliert, »metaphorische Anthropologie« an, die dann erst in späteren Studien, gleichwohl ohne Bezug zur Lesbarkeitsmetaphorik weiter entfaltet wurde. 4

Blumenberg: Lesbarkeit der Welt, S. 14. Vgl. Hans Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie. Frankfurt a. M. 1998; Hans Blumenberg: Beobachtungen an Metaphern. In: Archiv für Begriffsgeschichte 15 (1971), S. 161–214; zur Metaphorologie Blumenbergs vgl. Anselm Haverkamp, Dirk Mende (Hgg): Metaphorologie. Zur Praxis von Theorie. Frankfurt a. M. 2009. 4 Thomas Meyer: Lesbarkeit. In: Robert Buch, Daniel Weidner (Hgg.): Blumenberg lesen. Berlin 2014, S. 171–184, hier: S. 171, vgl. auch S. 173. 2 3

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An Arbeiten von Ernst Robert Curtius anknüpfend schreibt Blumenberg die Geschichte der Metapher vom »Buch der Natur«, 5 wobei es ihm nicht lediglich darum geht, darzulegen, wie diese im Laufe der Geschichte verwendet wurde. Vielmehr orientiert sich die Blumenberg’sche Metapherngeschichte an einer anthropologischen Grundfrage. Es geht ihm um die Sinnstiftungen und mehr noch: um die Sinnerwartungen, die mit der Metapher von der Lesbarkeit der Welt und der Natur über die Jahrhunderte hinweg verbunden waren. »Der Wunsch«, so formuliert Blumenberg gleich zu Beginn, »die Welt möge sich in anderer Weise als der der bloßen Wahrnehmung und sogar der exakten Vorhersagbarkeit ihrer Erscheinungen zugänglich erweisen: im Aggregatzustand der ›Lesbarkeit‹ als ein Ganzes von Natur, Leben und Geschichte sinnspendend sich erschließen«, gehöre »zum Inbegriff des Sinnverlangens an die Realität, gerichtet auf ihre vollkommenste und nicht mehr gewaltsame Verfügbarkeit.« 6 Als »Inbegriff des Sinnverlangens«, 7 als Kontrollmittel, sich die Welt verfügbar zu machen, setzt der Topos von der Lesbarkeit kulturhistorisch die Dominanz des Christentums und die Vorstellung, die ganze Welt könne sich in dem einen Buch offenbaren, voraus. Über den historisch-metaphorologischen Ansatz hinausgehend sieht Blumenberg im zugrundeliegenden Bestreben nach Sinn eine anthropologische Grundsituation, deutet sich für ihn darin der Zusammenhang von menschlicher Selbstdeutung und Weltverfügung an. In der Geschichte der Lesbarkeitsmetaphorik artikulieren sich anthropologische Selbst- und Weltdeutungsstrategien sowohl als Reaktion auf die kontingente menschliche Existenz als auch auf die spätestens seit der frühen Neuzeit explodierenden wissenschaftlichen Erkenntnismöglichkeiten und die prinzipielle Grenzenlosigkeit der neu erschlossenen Räume menschlicher Wissensanstrengungen. Die historische Wandlung der Metapher von der Lesbarkeit der Welt fungiert damit als eine Art Seismograph für derartiges Verlangen nach Sinnhaftigkeit, gerade auch in solchen Wirklichkeitsbereichen, in denen dies nicht unbedingt zu erwarten war. Mit der detaillierten historischen Rekonstruktion der Lesbarkeitsmetaphorik über die Jahrhunderte hinweg Robert Curtius: Schrift und Buchmetaphorik in der Weltliteratur. In: Deutsche Vierteljahresschrift 20 (1942), S. 359–411; vgl. dazu Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt, S. 14–15; Franz Josef Wetz: Hans Blumenberg zur Einführung. Hamburg 2004, S. 115–131. 6 Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt, S. 10. 7 Ebd., S. 10. 5

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legt Blumenberg die historisch je spezifischen Problemlagen dieser Sinnsetzungsbestrebungen offen. Aber er verdeutlicht auch, dass sich im kulturellen Topos der Lesbarkeit immer ein, wie Meyer es formuliert, »unabweisbare[r] Selbstanspruch« 8 des Menschen darstellt. Im Missverhältnis von einer grenzenlosen theoretischen Erweiterung der Wissensräume einerseits und andererseits dem Problem, sich diese Räume auch wieder anzueignen, ist dieser Selbstanspruch letztlich der menschlichen Sehnsucht geschuldet, schließlich doch noch im Zentrum dieser Wissensprozesse bestehen bleiben zu können. 9 Blumenberg erörtert die Voraussetzung der Metapher vom Weltenbuch im Christentum (erst der »Kollektivsingular des heiligen Buches« sei die »sprachliche Voraussetzung für alles Spätere: für das Buch als Metapher einer Totalität, sei es die der Natur oder die der Geschichte« 10) und er verfolgt ideengeschichtlich ihre sich wandelnden Bedeutungen vor allem seit der frühen Neuzeit, als mit Einsetzen der empirischen Naturwissenschaften Welterfahrung und Bucherfahrung, »Bücherwelt« und »Weltbuch«, 11 auseinanderfielen und die Geburtsstunde vom »Buch der Natur« als naturwissenschaftliche Leitmetaphorik, etwa in den Schriften Galileis, auszumachen ist. Fluchtpunkt der historischen Darstellung sind die Psychoanalyse und die Molekularbiologie des 20. Jahrhunderts. In den beiden letzten Kapiteln zur »Lesbarmachung der Träume« und zum »genetischen Code und seine Leser« interpretiert Blumenberg Freuds Traumdeutung und die neuen molekularbiologischen Theorie- und Forschungsansätze als Wendungen einer nun nicht mehr metaphysisch verstandenen Metaphorik von der Lesbarkeit der Welt, die gleichwohl mit ihren Bestrebungen »Verschüttetes« zu entschlüsseln oder »Verborgenes« zu entziffern, wie Franz Josef Wetz pointiert ausführt, Sinnerwartungen sogar noch in solchen Bereichen im 20. Jahrhundert zum Ausdruck bringt, wo ein derartiges Verlangen mit dem Bewusstsein darüber verbunden sein mochte, dass sich letztlich dort nichts mehr finden lässt, dass dieses tatsächlich mit Sinn erfüllt. 12 Blumenberg ist nun keineswegs der erste Philosoph, der sich durch die neuen Sprach- und Textmetaphern der Molekularbiologie

Meyer: Lesbarkeit, S. 171 Vgl. ebd. 10 Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt, S. 23. 11 Ebd., S. 17; S. 68 ff. 12 Wetz: Hans Blumenberg zur Einführung, S. 130 8 9

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faszinieren ließ, obwohl er (ebenso wie Hans Jonas, von dem er sich jedoch, wie später noch zu diskutieren sein wird, kritisch absetzte) zu den ersten deutschsprachigen Philosophen gehörte, die sich intensiver mit dem neuen molekularbiologischen Verständnis von Lebensprozessen auseinandersetzten. International hatten aber die neuen Theoreme der Biowissenschaftler bereits seit den 1960er Jahren verschiedenste philosophische Reaktionen hervorgerufen. Der Sprachwissenschaftler Roman Jakobson beispielsweise ging Anfang der 1960er Jahre der Frage nach, inwieweit aus linguistischer Perspektive der strukturell-molekulare Aufbau des genetischen Codes tatsächlich als ein sprachliches Phänomen analysiert werden könne. 13 Vor allem in der französischen Philosophie Mitte der 1960er Jahre, in den Arbeiten von Georges Canguilhem, Michel Foucault oder Jacques Derrida, ist eine große Affinität zu den damals neuen biowissenschaftlichen Modellbildungen festzustellen. Im Gegensatz zu den genannten Ansätzen ist Blumenbergs Auseinandersetzung mit der modernen Molekularbiologie jedoch in einem doppelten Zugang hermeneutisch, ja kann geradezu als ein Gegenentwurf zu (post)strukturalistischen Lesarten gedeutet werden, auch wenn er selbst diese nicht explizit benennt. Zum einen deutet Blumenberg naturwissenschaftliche Begriffsbildung im historisch-hermeneutischen Horizont, zum anderen impliziert er mit seiner geistesgeschichtlichen Lesart des molekularbiologischen Code-Konzepts, dass die Biologie des 20. Jahrhunderts selbst auch hermeneutisch verfährt. Blumenberg befragt die neuen Begriffe der Molekularbiologen nicht in Hinblick auf ihre Anschlussfähigkeit zu weitergehenden Theorien oder gar Philosophien des Lebens, sondern er hinterfragt sie als Rhetorik, als Stellen einer »bestimmten Unbestimmtheit« 14 naturwissenschaftlicher Weltaneignung, die gerade der historischen Auslegung bedürfen, um ihre gegenwärtige Signifikanz verstehen zu können. »Hermeneutik«, so formuliert Blumenberg, »geht auf das, […] was gerade wegen seiner Vieldeutigkeit seine Auslegungen in seine Bedeutung aufnimmt. Sie unterstellt ihrem Gegenstand, sich durch ständig neue Auslegung anzureichern, so daß er seine geschichtliche Wirklichkeit geradezu darin hat, neue Lesarten anzunehmen, neue Interpretationen zu tragen. Nur durch die Zeit und in geschichtlichen Vgl. dazu Lily Kay: Who wrote the book of Life? A History of the Genetic Code. Stanford 2000, S. 304–307. 14 Blumenberg: Lesbarkeit der Welt, S. 16. 13

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Horizonten wird realisiert, was gar nicht auf einmal in simultaner Eindeutigkeit da sein und gehabt werden kann.« 15 Auch die Naturwissenschaften unterliegen dieser Geschichtlichkeit. Durch diese historische Einordnung der biologischen Theoriebildung in eine weitzurückreichende Kulturgeschichte der Buchmetaphorik, in welcher das Buch als Ausdruck einer sinnkonstituierenden Totalität zum Bildspender für die Erfahrbarkeit von Natur wurde, impliziert Blumenberg, dass auch die Biologie des 20. Jahrhunderts nicht anders kann, als sich ihrem Forschungsobjekt noch in hermeneutischer Weise zu nähern, auch wenn sich ihre Sprachwahl von ›Buch‹ und ›Code‹, wie Blumenberg darlegt, letztlich vielleicht auch als irreführend entpuppen könnte. Im Folgenden soll Blumenbergs Hermeneutik der Molekularbiologie, gerade auch in ihrer Differenz zu anderen zeitgenössischen Diskursen, nachgegangen werden. Dabei wird auch die Blumenberg’sche historische Epistemologie zu diskutieren sein, eine Frage, die in der Wissenschaftsgeschichte insbesondere in den letzten Jahren virulent geworden ist. 16 Um die Spezifik der Deutung Blumenbergs zu verstehen, wird im nächsten Abschnitt zunächst historisch etwas weiter ausgeholt und die Geschichte der Genetik seit Beginn des 20. Jahrhunderts und die der Molekularbiologie im Kontext von Kybernetik, aber auch Strukturalismus bzw. dem beginnenden Poststrukturalismus seit den 1960er Jahren skizziert. Daran anschließend wird Blumenbergs Analyse der Molekularbiologie im größeren Kontext der Entwicklung seiner Metaphorologie diskutiert. Es wird mit einem kurzen Ausblick geschlossen, welcher der Frage nach der Aktualität von Blumenbergs Lesbarkeit der Welt im Zeitalter des Digitalen nachgeht.

2.

Information, Programm, Struktur: Tendenzen der Entzeitlichung in der Genetik und Molekularbiologie des 20. Jahrhunderts

Wie die neuere wissenschaftshistorische Forschung hervorgehoben hat, wandelte sich mit dem Aufkommen der Genetik zu Beginn des Blumenberg: Lesbarkeit der Welt, S. 21. Vgl. dazu Cornelius Borck (Hg.): Hans Blumenberg beobachtet. Wissenschaft, Technik und Philosophie. Freiburg i. Br. 2013.

15 16

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20. Jahrhunderts der epistemische Raum, in dem der biologische Begriff des Lebens angesiedelt war, deutlich: Die Evolutionstheorie Darwins hatte darlegt, dass jedes Lebewesen Resultat einer umfangreichen und vielfältigen Geschichte der Natur war und die Theoretiker der Vererbung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatten noch einen zutiefst historischen Ansatz in ihrem Verständnis möglicher Vererbungssubstanzen oder Prozesse der Vererbung. 17 Demgegenüber betonte die neue Generation der Mendel-Genetiker um 1900, dass, wie Hans-Jörg Rheinberger und Staffan Müller-Wille herausstellen, der Genotyp als ein »›ahistorischer Begriff‹« zu fassen sei, der in den Lebewesen das bezeichnete, »was durch die Generationen hindurch identisch erhalten blieb und womit man deshalb auch wie mit Molekülen in der Chemie und mit Atomen in der Physik experimentieren konnte«. 18 Während die im späten 19. Jahrhundert dominanten darwinistischen Sichtweisen historische Kontinuität, Individualität und insbesondere die Fluidität in der Welt des Lebendigen betonten, und Evolution als kontinuierlicher, aber vor allem auch langsam ablaufender Prozess konzipiert wurde, brachte die um 1900 entstehende Genetik geradezu konträre Konzepte hervor: die Vorstellungen eines fixen, d. h. in mittelfristigen Zeitdimensionen betrachtet, unveränderlichen Vererbungstypus (Genotypus) sowie die neue Vorstellung von sprunghaften Änderungen (Mutationen) als Motor der Evolution und damit die Betonung von Diskontinuität. Anstelle des historischen Gewordenseins des biologischen Lebens wurde nun die Gleichzeitigkeit der Kombinatorik von in Populationen frei zirkulierenden basalen Lebenseinheiten – den Genen – hervorgehoben, die nicht mehr in ihrer evolutionären Geschichte, sondern im synchronen Querschnitt betrachtet wurden. Ähnlich wie in der strukturalistischen Wende in anderen Bereichen, etwa der Sprachwissenschaft, ging zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit der Einführung des Genbegriffs eine zeitliche ›Entschälung‹ des Lebensbegriffs einher, eine Herauslösung des biologischen Lebens aus dem historisch gewachsenen Traditionszusammenhang. 19 Die Mitte des 20. Jahrhunderts aufHans-Jörg Rheinberger/Staffan Müller-Wille: Vererbung. Geschichte und Kultur eines biologischen Konzepts. Frankfurt 2009. 18 Ebd., S. 185. 19 Diese Form einer Enthistorisierung ist ein wesentlicher Aspekte, der auch die politische Indienstnahme durch die Eugeniker beförderte. Die Genetik, die sich mit ihrem neuen Vererbungsbegriff von älteren Traditionen absetzte, konnte als eine Wissenschaft verstanden werden, die helfen sollte, die Gesellschaft der Zukunft aufzubauen. 17

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kommende Molekularbiologie setzte konzeptionell diese Tendenzen der Entzeitlichung fort. In ihrer Hochphase in den 1950er und 1960er Jahren (und im Gegensatz zu zeitgleichen Theorieentwicklungen in der Entwicklungsbiologie) kamen die Modellbildungen der Molekularbiologie gänzlich ohne den Parameter der Zeit aus. Die neuen biowissenschaftlichen Forschungsobjekte (die DNA und die damit verbundenen molekularen Mechanismen des Informationstransfers) wurden als a-historische, bzw. überzeitliche Einheiten konzipiert. Besonders deutlich wird dies anhand der Metapher des »genetischen Programms«, die insbesondere von den französischen Molekularbiologen François Jacob und Jacques Monod als ein den »elektronischen Rechenmaschinen entliehenes Modell« 20 in ihren Forschungsarbeiten zur Genregulation verwendet wurde. In Die Logik des Lebenden, Jacobs weit rezipiertem Buch zur Geschichte der Biologie, diskutierte er eingehend die biophilosophischen Implikationen der neuen Konzepte. Mit der Vorstellung des genetischen Programms verschmelzen ihm zufolge, »zwei Begriffe miteinander, die man intuitiv mit den Lebewesen in Verbindung gebracht hatte: Gedächtnis und Projekt.« 21 Im Kontrast zur individuellen Körperlichkeit ist das zugrundeliegende Programm der Generator von sich durch die evolutionäre Geschichte als stabil herausschälenden Informationen: »Das genetische Programm« so Jacob weiter, »besteht aus dem Ineinandergreifen von wesentlich unveränderlichen Elementen. Bedingt durch ihre Struktur ist die genetische Botschaft nicht durch äußere Interventionen beeinflußbar.« 22 Diese Stabilität ergebe sich, weil das Programm, »gewissenhaft, Zeichen für Zeichen, von einer Generation zur anderen kopiert wird.« 23 Der biologische Organismus wird hier zu einer der repetitiven, iterativen Zeitlichkeit der Reproduktionsprozesse untergeordneten Entität. Zukunft (Projekt) und Vergangenheit (Gedächtnis) heben sich im Programm gewissermaßen auf: im genetischen Programm ist die (evolutionäre) Vergangenheit ebenso präsent wie Vgl. dazu: Staffan Müller-Wille/Christina Brandt: From Heredity to Genetics: Political, Medical, and Agro-Industrial Contexts. In: Dies. (Hgg.): Heredity Explored. Between Public Domain and Experimental Science, 1850–1930. Cambridge, MA 2016, S. 3–25. 20 François Jacob: Die Logik des Lebenden. Von der Urzeugung zum Genetischen Code. Frankfurt a. M. (1972) 2002, S. 17. 21 Ebd., S. 10. 22 Ebd., S. 11. 23 Ebd., S. 16.

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die Möglichkeiten zur zukünftigen Ausgestaltung des individuellen Organismus. Das Programm hat zwar eine (evolutionäre) Geschichte, es wurde aber in sich selbst nicht als eine zeitlich dynamische Struktur konzipiert, sondern das Wesen des Programms ist es, eine mehr oder weniger stabile Botschaft umzusetzen, die sich durch die Geschichte hindurchzieht. Die Attraktivität des molekularbiologischen Informationsdiskurses lag nun für manche Philosophen in den 1960er Jahren gerade in dieser strukturalistischen Überzeitlichkeit und Geschichtsvergessenheit. Die Entstehung des molekularbiologischen Paradigmas im historischen Kontext von Kybernetik und Informationswissenschaften ist schon vielfach beschrieben worden. 24 In einer weiter gefassten wissenshistorischen Perspektive muss der Gebrauch des Informationskonzepts in der Biologie in den 1950er und 1960er Jahren jedoch auch im Kontext der Hochphase des Strukturalismus und der beginnenden poststrukturalistischen Hinwendung zur Materialität von Repräsentationsweisen betrachtet werden. Eine radikale strukturalistische Deutung des biowissenschaftlichen Informationsbegriffs, wie sie sich insbesondere in der französischen Diskussion Mitte der 1960er Jahre findet, ließ keinen Raum für einen wie auch immer gearteten biologischen Begriff von ›Bedeutung‹. Der Fokus lag vielmehr auf grundlegenden Strukturprinzipien informationsverarbeitender Systeme, die sich quer durch Gesellschaft und Natur auffinden lassen sollten und die als dem Subjekt vorgängige Strukturen ›Sinn‹ und ›Bedeutung‹ erst konstituieren. 25 Die biowissenschaftlichen Modellbildungen ließen sich auch als Unterstützung für die radikale poststrukturalistische Kritik am Logozentrismus und die damit verbundene Wende zur materiellen Verfasstheit des Signifikanten lesen. Geradezu euphorisch greift beispielsweise Jacques Derrida im ersten Kapitel seiner Grammatologie, welches das Zusammentreffen von Kybernetik und Humanwissenschaft diskutiert und vom »Ende des Buches und de[m] Anfang der Schrift« handelt, die neuen Befunde der Molekularbiologen auf. 26 In diesem Zusammenhang führte er 1967 aus:

Ausführlich: Kay: Who wrote the book of Life?; Evelyn Fox-Keller: Refiguring Life. Metaphors of Twentieth-Century Biology. New York 1995. 25 Vgl. dazu auch die Fernsehdebatte »Vivre et Parler« zwischen R. Jakobson, C. LéviStrauss, François Jacob und Philippe L’Héritier 1967 (Kay: Who wrote the book of Life, S. 309). 26 So der Titel des ersten Kapitels aus Derridas Grammatologie. 24

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»Im Hinblick auf die elementarsten Informationsprozesse in der lebenden Zelle spricht auch der Biologe heute von Schrift und Pro-gramm. Und endlich wird der ganze, vom kybernetischen Programm eingenommene Bereich – ob ihm nun wesensmäßig Grenzen gesetzt sind oder nicht – ein Bereich der Schrift sein.« 27

Ähnlich argumentierte auch Michel Foucault: Mit ihren neuen Theorien, dass nämlich die »Chromosomen bekanntlich in Form eines Codes, einer verschlüsselten Nachricht, sämtliche Informationen, die für die Entwicklung des jeweiligen Lebewesens erforderlich sind, [tragen]«, war die Biologie für ihn nur ein weiteres Beispiel für die überzeitliche Wirkungsweise strukturalistischer Beziehungen in Kultur, Natur und Gesellschaft. Der Strukturalismus von Lévi-Strauss habe verdeutlicht, so Foucault, dass »Sinn wahrscheinlich nur eine Oberflächenerscheinung« sei, während das »eigentliche Tiefenphänomen, von dem wir geprägt sind, das vor uns da ist und uns in Zeit und Raum trägt, das System ist«. 28 Den Angehörigen seiner Generation, so führte der 39-Jährige 1966 aus, gehe »es nicht darum, den Menschen gegen das Wissen und gegen die Technik zu stellen; sie wollen vielmehr zeigen, dass unser Denken, unser Leben und selbst noch die alltäglichsten Formen unseres Daseins Teil derselben systematischen Organisation sind und daher auf denselben Kategorien beruhen wie die wissenschaftliche und technische Welt«. 29

Eine solche Einbindung des Verständnisses des Menschen in größere systematische Organisationen des Wissens und der Technik erfuhr durch die Modellbildungen der Biologie Mitte der 1960er Jahre enormen Auftrieb, war diese doch ebenfalls auf dem Wege, eine wie auch immer geartete, spezifische ›Natur‹ des Menschen in einem umfassenden kybernetischen Begriff vom Leben zum Verschwinden zu bringen. Auch der französische Wissenschaftshistoriker und Philosoph Georges Canguilhem befasste sich Mitte der 1960er Jahre eingehend mit den neuen Theoriebildungen der Molekularbiologie, der er das

Jacques Derrida: Grammatologie. Übers. von Hans-Jörg Rheinberger und Hanns Zischler. Frankfurt a. M. 1996, S. 21. 28 Michael Foucault: Gespräch mit Madeleine Chapsal (1966). In: Michel Foucault: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Hrsg. von Daniel Defert und Francois Ewald. Aus dem Fr. von Michael Bischoff u. a. Frankfurt a. M. 2001, S. 664–670, hier: S. 665. 29 Ebd., S. 670. 27

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Potential zusprach, eine neue »Philosophie des Lebens« 30 bereitzustellen. Und auch bei Canguilhem standen die Begriffe von Information, Nachricht und Code im Mittelpunkt, mit denen er eine linguistische und kommunikationstheoretische Wende in der Biologie sich vollziehen sah, die er als eine Abkehr von der Dominanz mechanistisch-physikalischer Begriffsverwendungen in der Biologie nicht nur begrüßte, sondern die für ihn auch Folgen für die Epistemologie selbst hatte: »Indessen darf man nicht übersehen«, so formulierte er Anfang der 1960er Jahre, »dass die Informationstheorie unteilbar ist und daher ebenso für die Erkenntnis selbst wie für ihre Gegenstände, nämlich Materie oder Leben, Geltung hat. Entsprechend heißt erkennen: sich informieren, sich üben im Entziffern und Dekodieren.« 31 Für Canguilhem stellte die Molekularbiologie mit ihrer grundlegenden Annahme, dass »Leben […] Produktion, Übermittlung und Rezeption von Information« 32 sei, einen neuen, umfassenden Lebensbegriff bereit, der auch auf den Akt des Erkennens zu beziehen war: Der Gegenstand des Erkennens und das Denken selbst wurden in einem neuen informationistischen Lebensbegriff geradezu gleichgesetzt.

»Die zeitgenössische Biologie stellt, auf eine bestimmte Weise gelesen, gewissermaßen eine Philosophie des Lebens dar« (Georges Canguilhem: Le concept et la vie. In: Ders.: Études d’histoire et de philosophie des sciences concernant les vivants et la vie. 7., erw. Aufl. Paris 1994, S. 334–364, zit. nach Astrid Deuber-Mankowsky: Kritik des Anthropozentrismus und die Politik des Lebens bei Canguilhem und Haraway. In: Astrid Deuber-Mankowsky/Christoph F. E. Holzhey (Hgg.): Situiertes Wissen und regionale Epistemologie. Zur Aktualität Georges Canguilhems und Donna Haraways. Wien/Berlin 2013, S. 105–120, hier: S. 115). Zur neueren Einordnung von Canguilhem vgl. die Arbeiten in Deuber-Mankowsky und Holzhey sowie Maria Muhle: Eine Genealogie der Biopolitik. Zum Begriff des Lebens bei Foucault und Canguilhem. München 2013 und Nicolas Rose: Was ist Leben? – Versuch einer Wiederbelebung. In: Martin G. Weiß (Hg.): Bios und Zoë. Die menschliche Natur im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit. Frankfurt a. M. 2009, S. 152–178. Zum Vergleich von Canguilhem und Blumenberg siehe Cornelius Borck: Begriffene Geschichte: Canguilhem, Blumenberg und die Wissenschaften. In: Borck (Hg.): Hans Blumenberg beobachtet, S. 168–195. 31 Georges Canguilhem: Neue Überlegungen zum Normalen und zum Pathologischen (1963–1966). In: Ders.: Das Normale und das Pathologische. Aus dem Frz. von Monika Noll/Rolf Schubert, Berlin 2013, S. 302. 32 Canguilhem: Le concept et la vie, zit. nach Rose: Was ist Leben?, S. 155. 30

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3.

Blumenbergs Hermeneutik der Molekularbiologie im Kontext seiner Metaphorologie

Blumenberg gehörte also keineswegs zu den ersten Philosophen, die sich mit dem »genetischen Code« beschäftigt haben; wohl aber war er einer der ersten, der dies radikal in Hinblick auf die Rhetorik der wissenschaftlichen Sprache und die Metaphorizität des molekularbiologischen Informationsbegriffs unternahm und der sich damit im Vergleich zu den skizzierten Ansätzen der französischen Philosophie der 1960er Jahre auch der Faszination durch die Kybernetik entziehen konnte. Im Gegensatz zur Geschichtslosigkeit der strukturalistischen Deutungen (und auch im Gegensatz zur A-temporalität der molekularbiologischen Modellbildungen selbst) ist sein Interesse an der Biologie ein durch und durch historisches. Mit der wissenschaftshistorischen Verortung der Molekularbiologie in die lange abendländische Geschichte des Metaphernfeldes von der »Lesbarkeit der Natur« lenkt Blumenberg mehr als ein Jahrzehnt nach der ersten philosophischen Rezeptionswelle den Blick auf eine Dimension, die in der molekularbiologischen Euphorie der 1960er Jahre ein blinder Fleck geblieben war: auf den Sachverhalt nämlich, dass auch die moderne Biologie nicht umhin kann, ›biologische Bedeutungen‹ und ›Sinnhaftigkeit‹ von Lebensprozessen zu postulieren, was sich in ihrer Rhetorik verrät, jedoch von den strukturalistischen und kybernetischen Modellen sowie dem molekular-reduktionistischen Ansatz nicht getragen wurde. Blumenberg deutete die Schrift- und Informationsanalogien der Biologie nicht im kybernetisch-materiellen Paradigma des Programms, sondern im geistesgeschichtlichen Paradigma des Buches. Es ist dabei eine Ironie der Geschichte, dass Blumenberg die molekularbiologische Buchmetapher gerade zu einer Zeit in den Vordergrund rückte, als die ersten sogenannten »Gen-« bzw. »DNA-Bibliotheken« technische Formen annahmen, ohne dass Blumenberg selbst hiervon Kenntnis gehabt zu haben scheint. 33 Für ihn erwiesen sich die molekularbiologischen Theorien mit ihrem Rückbezug auf vertraute Erfahrungstypik nicht als ein Aufgriff neuester technischer Entwicklungen, sondern als notwendig anthropomorphe Elemente naturwisDie ersten »Gene Libraries« als Daten- bzw. Sequenzsammlungen entstanden in den USA um 1980er herum. An ihnen verdeutlicht sich, dass die Metaphorik einer ›genetischen Textualität‹ zunehmend von den Biologen selbst wörtlich genommen wurde.

33

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senschaftlicher Welterklärungen, was jedoch auch nicht folgenlos für seinen Interpretationsansatz bleiben sollte. Mit seiner historisch-hermeneutischen Deutung der modernen Biologie lieferte Blumenberg eine geradezu konträre Interpretation der modernen Biologie im Vergleich zu den französischen Ansätzen der 1960er Jahre, deren radikale (post-)strukturalistische Auffassung des biowissenschaftlichen Informationsbegriffs eine umfassende Kybernetisierung und materielle ›Informatisierung‹ von Natur und Gesellschaft zu begrüßen schien. Die größere Distanz, die Blumenberg zu der Euphorie, den ›Codes des Lebens‹ gefunden zu haben, aufweist, liegt nicht nur an dem größeren historischen Abstand, den er Anfang der 1980er Jahre, als Die Lesbarkeit der Welt erschien, zu den biowissenschaftlichen Modellbildungen der 1960er Jahre hatte, sondern es liegt vor allem an dem spezifischen Zugang seiner historischen Epistemologie, die sich erst anhand seiner Metaphorologie und ihrer theoretischen Entwicklung seit den 1960er Jahren erschließt. Wie Petra Gehring jüngst betont hat, ist die Metaphorologie Blumenbergs für einige das »systematischste« Theoriestück der Philosophie Blumenbergs, für andere hingegen habe sie nur einen »methodischen und dienenden Sinn, insofern wir an Metaphern einfach etwas über den Menschen, die Geschichte und die Welt ›lernen‹.« 34 Blumenberg legt dabei keine in sich geschlossene Metapherntheorie im engeren linguistischen oder literaturwissenschaftlichen Sinne vor. In seinen frühen Schriften interessieren ihn vielmehr die erkenntnisleitende Funktion und die historiographische Dimension grundlegender Metaphern in der europäischen Kultur- und Philosophiegeschichte. In den Paradigmen zu einer Metaphorologie von 1960 hatte Blumenberg sich vor allem mit theoriesprachlicher Metaphorik in Hinblick auf ihre lebensweltliche Rückbindung beschäftigt. Hier differenzierte er zwei Arten von Metaphern in der Philosophiegeschichte: Als »Restbestände« können Metaphern »Rudimente auf dem Wege vom Mythos zum Logos« sein. Als solche sind Metaphern aus einer Verlegenheit um den Begriff heraus entstanden und haben einen historisch nur vorläufigen Bestand. 35 Metaphern können aber auch »Grundbestände der philosophischen Sprache sein, ›Übertragungen‹, die sich nicht ins Eigentliche, in die Logizität zurückholen Petra Gehring: Metapher. In: Buch/Weidner (Hgg.): Blumenberg lesen, S. 201–213, hier: S. 201. 35 Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie, S. 10. 34

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lassen.« 36 Diese bezeichnet Blumenberg bekanntlich als »absolute Metaphern«. 37 Solche Metaphernbestände bilden für Blumenberg eine »katalysatorische Sphäre, an der sich zwar ständig die Begriffswelt bereichert, aber ohne diesen fundierenden Bestand dabei umzuwandeln und aufzuzehren.« 38 Bereits in den Paradigmen entwickelte Blumenberg einen hermeneutischen Zugang zur Geschichte einiger absoluter Metaphern, etwa im Bereich von Wahrheitsmetaphorik und Erkenntnispragmatik die Metapher der »mächtigen« bzw. der »nackten Wahrheit«. 39 Über diesen hermeneutischen Zugang zur Metapher und die Frage nach dem Verhältnis von begrifflicher und metaphorischer Welterfassung hinausgehend weist Blumenbergs Metaphorologie aber auch eine zentrale anthropologische Dimension auf, die insbesondere in seinen späteren Schriften deutlicher hervortritt. Metaphorik – wie Rhetorik allgemein – ist für ihn zuallererst auch ein Mittel der Daseinsbewältigung. Zentral ist hierfür die Vorstellung der Distanzgewinnung mittels der Metapher. In Anlehnung an Ernst Cassirer ist die Metapher für Blumenberg eine Rationalitätsform, die sich aus der actio per distans ergibt. Besonders deutlich formuliert Blumenberg dies in Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik von 1971, wo er, im größeren Kontext einer »Zweckmäßigkeit des Unzweckmäßigen« 40 die authentische Leistung rhetorischer Techniken gerade im Moment der Verzögerung sieht. Indem sie das Fremde vertraut erscheinen lässt und sich zugleich vermittelnd zwischen einer bedrohlichen Außenwelt und den Menschen schiebt, kann die Metapher eine beschleunigte Funktionalisierung von Lebens- und Wirklichkeitsbereichen verhindern und damit, im Sinne Arnold Gehlens, eine anthropologische Entlastungsfunktion bereitstellen. Hervorgegangen aus der menschlichen Grundsituation eines Handlungszwanges in Anbetracht einer übermächtigen Wirklichkeit stellt die Metapher für Blumenberg somit zwar einen rhetorischen, aber dennoch existentiellen »Umweg« dar:

Ebd. Ebd. 38 Ebd., S. 11. 39 Ebd., S. 14–76. 40 Blumenberg: Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik. In: Ders.: Wirklichkeiten in denen wir leben. Stuttgart 1993, S. 104–136, hier: S. 123. 36 37

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»Aber, etwas als etwas anderes zu begreifen, unterscheidet sich radikal von dem Verfahren, etwas durch etwas anderes zu begreifen. Der metaphorische Umweg, von dem thematischen Gegenstand weg auf einen anderen zu blicken, der vorgreifend als aufschlußreich vermutet wird, nimmt das Gegebene als das Fremde, das Andere als das vertrauter und handlicher Verfügbare. […] Das animal symbolicum beherrscht die ihm genuin tödliche Wirklichkeit, indem es sie vertreten läßt; es sieht weg von dem, was ihm unheimlich ist, auf das, was ihm vertraut ist. Am deutlichsten wird das dort, wo das Urteil mit seinem Identitätsanspruch überhaupt nicht ans Ziel kommen kann, entweder weil sein Gegenstand das Verfahren überfordert (die ›Welt‹, das ›Leben‹, die ›Geschichte‹, das ›Bewußtsein‹) oder weil der Spielraum für das Verfahren nicht ausreicht, wie in Situationen des Handlungszwanges, in denen rasche Orientierung und drastische Plausibilität vonnöten sind. Die Metapher ist nicht nur ein Kapitel in der Behandlung der rhetorischen Mittel, sie ist signifikantes Element der Rhetorik, an dem ihre Funktion dargestellt und auf ihren anthropologischen Bezug gebracht werden kann.« 41

Das metaphorische Verfahren erscheint hier als Substitution, als Akt einer Ersetzung oder einer Vertretung. Dies aber nicht in einem solchen Sinne, dass es eine ›eigentliche Bedeutung‹ gäbe, die von der metaphorischen, ›uneigentlichen‹ substituiert würde, wie ältere Metaphernauffassungen, die oftmals als ›Substitutionstheorien‹ zusammengefasst werden, konstatieren. Vielmehr ist der »Umweg« bei Blumenberg grundlegend: er wird als eine anthropologische Notwendigkeit gedacht. Rhetorik ist nicht Ersetzung einer ›eigentlichen‹ begrifflichen Bedeutung, sondern Rhetorik als sprachliche Bewältigung der Welt ist selbst grundlegend Substitution, hervorgegangen durch die anthropologische Grundsituation von Evidenzmangel und Handlungszwang. Noch deutlicher formuliert Blumenberg dies, wenn es im Text pointiert heißt: »[d]er menschliche Wirklichkeitsbezug ist indirekt, umständlich, verzögert, selektiv und vor allem ›metaphorisch‹«. 42 Deutlich wird anhand der Zitate, dass die erkenntnisleitende Funktion der Metapher bei Blumenberg nicht allein auf die Bereitstellung einer Analogiebeziehung (etwas als etwas anderes zu begreifen) reduziert wird (wie es beispielsweise in den für die 1960er Jahre prominenten und für die Wissenschaftsgeschichte und die Wissenschaftsphilosophie überaus einflussreichen Metapherntheorien von 41 42

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Max Black und Mary Hesse der Fall war). 43 Während es in den meisten theoretischen Ansätzen, die sich mit der Funktion von Metaphern in den Naturwissenschaften beschäftigen, darum geht, dass sich im Forschungsprozess herausstellen wird, ob die vermutete Analogie zutrifft oder nicht, ob sich also die anfänglich metaphorische Beschreibung in die begriffliche Eindeutigkeit überführen lässt, bleibt bei Blumenberg dem metaphorischen Akt, der ja ein rhetorischer Umweg, eine Ersetzung ist, die innewohnende Differenz stets eigen – und dies hat auch Folgen für die Rolle von Metaphern in den Wissenschaften. Blumenbergs Metaphorologie hebt auch hier nicht nur die epistemologische Funktion von Metaphern hervor, sondern ihre erkenntnisleitende Funktion wird noch von einer weitergehenden, anthropologischen Dimension überlagert: Ihn interessieren Metaphern nicht allein als unhintergehbare Formen auch der wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung, sondern als diejenigen Ausdrucksweisen, in denen sich existentielle und historische Dimensionen menschlicher Zugangsweisen zu Wirklichkeiten mit all ihren Erwartungshaltungen manifestieren. Damit verbunden ist eine Auffassung von Sprache nicht als »ein Instrumentarium zur Mitteilung von Kenntnissen oder Wahrheiten«, sondern als soziales Kommunikationsmedium, das »primär der Herstellung der Verständigung, Zustimmung oder Duldung, auf die der Handelnde angewiesen ist« diene. »Hier wurzelt der consensus als Basis für den Begriff von dem, was ›wirklich‹ ist«. 44 Auch die Wissenschaften können sich einer solchen erst sprachlich konstituierten Wirklichkeitsauffassung nicht entziehen. So deutet Blumenberg in Anthropologische Annäherungen an die Aktualität der Rhetorik, einem Aufsatz, der bisweilen als »Zentraltext für Blumenbergs historische Epistemologie« bezeichnet wird, 45 Thomas Kuhns Paradigma in einer seiner eigenen Metaphorologie kompatiblen Weise als soziales, sprachliches Instrumentarium, nämlich als »nichts anderes als ein consensus, der sich zwar nicht ausschließlich, aber auch über die Rhetorik der Akademien und der Lehrbücher zu stabilisieren vermochte.« 46 Blumenbergs historische Epistemologie ist nicht ohne seine An-

Max Black: Models and Metaphors. Studies in Language and Philosophy. Ithaca/ New York 1962; Mary Hesse: Models and Analogies in Science. Notre Dame 1966. 44 Blumenberg: Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik, S. 108. 45 Borck: Begriffene Geschichte, S. 180. 46 Blumenberg: Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik, S. 112. 43

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thropologie zu verstehen. Seine Analyse von Metaphern als Wissenselemente in Philosophie und Naturwissenschaften ist grundlegend hermeneutisch eingebunden. Sie geht nicht primär der wissenschaftstheoretischen Frage nach der Art der wissenschaftlichen Begriffskonsolidierung nach, sondern sie nimmt die sich wandelnden Semantiken metaphorischer Sinnhorizonte als Ausdruck existentieller Welt- und Naturzugänge in den Blick, in denen sich vor allem anthropologisch fundierte Erwartungshaltungen spiegeln. In diesem Sinne wird Metaphorologie zu einem historischen Verfahren der Freilegung verdeckter »Substruktur[en]«. 47 Nicht auf die Kantische Frage »Was können wir wissen?« ist Blumenbergs Metaphorologie spätestens mit Die Lesbarkeit der Welt ausgerichtet, sondern auf die Frage: »Was war es, was wir wissen wollten?« 48, oder wie er prägnant an gleicher Stelle ausführt: »Welches war die Welt, die man haben zu können glaubte?« 49 Hatte Blumenberg, der ansonsten keineswegs als Wissenschaftskritiker in Erscheinung trat, bereits in Annäherung an die Aktualität der Rhetorik von 1971 den Wahrheitsanspruch naturwissenschaftlicher Axiome zur Disposition gestellt, indem er hervorgehoben hatte, dass der consensus praktischer Annahmen in vielen Bereichen der Wissenschaften »in Ermangelung abschließender Evidenz ihrer Erkenntnisse« zwangsläufig nicht dem »consensus ihrer theoretischen Normen« entspreche, 50 findet sich in späteren Schriften zudem noch ein ernüchternder Unterton. In Ausblick auf eine Theorie der Unbegrifflichkeit von 1979 formuliert Blumenberg diesen Gedanken zum Wahrheitsanspruch der wissenschaftlichen Erkenntnisleistung ähnlich, gleichwohl noch deutlich resignativer: »Wenn wir schon einsehen müssen, daß wir nicht die Wahrheit von der Wissenschaft erwarten dürfen, so wollen wir doch wenigstens wissen, weshalb wir

Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie, S. 13. Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt, S. 9. 49 Ebd., S. 10. 50 Blumenberg: Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik, S. 125. Blumenberg bezieht sich hier kritisch auf den Positivismus: »Es geht nicht nur um das Verhältnis von Wissenschaft und politischen Instanzen, sondern um einen Bereich von Aussagen, die von sehr bedeutender und nicht zu sistierender praktischer Auswirkung sind, aber ihrem theoretischen Status nach vielleicht für immer auf unzureichender Begründung beruhen oder gar erweislich nicht verifizierbar sind. Der positivistische Vorschlag, solche Fragen und Aussagen auszurotten, die keine Anweisung zu ihrer Verifikation enthalten, schließt die Stillegung von Praxis ein, die auf solchen Prämissen beruht, und wird dadurch illusionär« (ebd., S. 126). 47 48

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wissen wollten, was zu wissen nun mit Enttäuschung verbunden ist.« 51 Wissenschaftliche ›Wahrheiten‹ sind historisch kontingente Gebilde. Die »Konsequenz aus der diagnostizierten Unverfügbarkeit der Wahrheit«, so bringt Cornelius Borck die Blumenberg’sche epistemologische Ausgangsposition auf den Punkt, ist die »Aufwertung von Geschichte und Rhetorik«. 52 Hieraus ergibt sich auch die zentrale Stellung der Metapher im Werk Blumenbergs, allerdings lässt sich auch hier eine Wende in der Einschätzung ihrer diskursiven Leistung konstatieren: Spätestens in der Lesbarkeit der Welt findet sich auch eine Art metaphorologische Ernüchterung, geht es doch auch darum, dass die Metapher von der Lesbarkeit, gerade in ihrem Gebrauch in der Molekularbiologie, auch nur suggestiv und irreführend sein kann. »Lesbarkeit dorthin zu projizieren«, so führt Blumenberg im letzten Kapitel der Lesbarkeit der Welt aus, »wo es nichts Hinterlassenes, nichts Aufgegebenes gibt, verrät nichts als die Wehmut, es dort nicht finden zu können, und den Versuch, ein Verhältnis des Als-ob dennoch herzustellen.« 53 Blumenberg selbst spricht an anderer Stelle von einem »Leitfaden zur Nüchternheit«, 54 was in einer merkwürdigen Spannung zu der Positionierung von Metaphorik als eigenständiges Erkenntnisinstrument in Blumenbergs früheren Schriften steht, wo er geradezu emphatisch die diskursive Funktion von Metaphern beschrieben hatte. Man denke etwa an Passagen aus seinen Paradigmen zu einer Metaphorologie wie diese: »[D]ie Metaphorologie sucht an die Substruktur des Denkens heranzukommen, an den Untergrund, die Nährlösung der systematischen Kristallisationen, aber sie will auch faßbar machen, mit welchem ›Mut‹ sich der Geist in seinen Bildern selbst voraus ist und wie sich im Mut zur Vermutung seine Geschichte entwirft.« 55

Blumenberg: Ausblick auf eine Theorie der Unbegrifflichkeit. In: Ders.: Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigmen einer Daseinsmetapher. Frankfurt a. M. 1979, S. 87–106, hier: S. 87. 52 Borck: Begriffene Geschichte, S. 180. 53 Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt, S. 409. 54 Ebd., Über dieses Buch. 55 Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie, S. 13. 51

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4.

Das Kapitel: »Der genetische Code und seine Leser«

Dass Blumenberg einer der ersten deutschsprachigen Philosophen ist, der sich mehr als zwei Jahrzehnte nach ihrem Siegeszug in der Biologie mit der Metapher des ›genetischen Codes‹ eingehender auseinandersetzte, mag nicht verwundern bei dem Theoretiker einer Metaphorologie. Erstaunlicher jedoch sind die Ambivalenzen, die sich in der Art seiner Auseinandersetzung mit dem epistemischen Status der Metapher zeigen, vergleicht man diese mit der Radikalität, mit der Blumenberg in früheren Schriften die grundlegende Funktion von Metaphorik als »authentische Leistungsart der Erfassung von Zusammenhängen« 56 hervorgehoben hat. War die Biologie zu Beginn der 1980er Jahre auf dem Wege, das wörtliche Potential der Metaphorik der genetischen Schrift in den beginnenden Gentechnologien und ihren Techniken des Umschreibens zu entfalten, widmete sich Blumenberg der historischen Rekonstruktion der mit dem Metaphernfeld verbundenen Sinnerwartungen und Sinnkonstruktionen. Die Deutungen in der französischen Philosophie der 1960er Jahre hatten ihren Ausgang beim Informationskonzept genommen und die zeitgleich in der Biologie aufkommende Rhetorik vom ›Buch des Lebens‹ ignoriert. Während bei Georges Canguilhem die neuen biowissenschaftlichen Begriffe zwar in ihrer Geschichtlichkeit betrachtet wurden, aber dennoch in ihrer Begrifflichkeit unhinterfragt blieben, betonte Blumenberg gerade das Unbegriffliche und Imaginäre und fokussierte auf historische Dynamiken der metaphorischen Substitutionen und Suggestionen, die den neuen molekularbiologischen Konzepten inhärent waren. Darin findet sich ein nahezu diametraler historisch-epistemologischer Ausganspunkt in Bezug auf eine anthropologische Gewichtung: Canguilhems Epistemologie löste mit dem Plädoyer für eine neue Philosophie des Lebens einen anthropologischen Fokus geradezu auf. Blumenbergs historische Epistemologie hingegen ist ohne seine Anthropologie nicht zu verstehen. So geht es ihm auch in der Auseinandersetzung mit den molekularbiologischen Code-Konzept nicht lediglich darum, dieses als höchst anthropomorphe Modellbildung auszuweisen. Im Kern seiner Epistemologie geht es vielmehr noch darum, auch in den metaphorischen Sinnsetzungen der Molekularbiologie letztlich den Menschen als Akteur seiner Selbst- und Weltdeutungen auszumachen 56

Blumenberg: Ausblick auf eine Theorie der Unbegrifflichkeit, S. 87.

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und die sich in den Modellen artikulierenden lebensweltlichen Bezüge ins Zentrum der historischen Prozesse zu setzen. Und während in der französischen Auseinandersetzung in den 1960er Jahren der biologische Informationsbegriff unkritisch und affirmativ rezipiert wurde, kommt in Blumenbergs Auseinandersetzung mit der Sprachwahl der Molekularbiologie mehr als ein Jahrzehnt später vor allem eine – und dies mag nun vielleicht nicht mehr überraschen – grundlegende Skepsis gegenüber dem Anspruch des biowissenschaftlichen Metapherngebrauchs zum Ausdruck. Das Kapitel zur Molekularbiologie macht gleich von Anfang an deutlich, dass es Blumenberg um die Justierung der Grenzen der Metaphern von ›Code‹ und ›molekularer Schrift‹ und der durch sie evozierten Erwartungshaltungen geht. 57 Es geht ihm darum, welches Verhältnis die Metapher von der molekularen Lesbarkeit der Natur für den Umgang der Wissenschaftler mit eben dieser Natur impliziert. Mit der Frage nach dem Naturumgang findet sich gewiss eine symptomatische Konstellation für die 1970er Jahre, einem Jahrzehnt, das neue wissenschafts- und technikkritische Diskurse und den Beginn der neueren Umweltbewegung sah – und gerade deshalb scheint Blumenberg sich auch in der Einleitung gegen die Gefahr absichern zu müssen, in den Ruf zu kommen »Wissenschaftskritik« zu betreiben. Er wolle seine Ausführungen »nicht einen Ansatz zur ›Wissenschaftskritik‹ nennen, weil mir jede Verkennung des unüberbietbaren Lebensdienstes der neuzeitlichen Wissenschaft nicht nur fernliegt, sondern ungeheuerlich erscheint, folglich Kokettieren mit deren Verachtung verächtlich ist.« 58 In diesem Zusammenhang setzt sich Blumenberg auch explizit von Hans Jonas´ Sicht der neu entstehenden Gentechnologien ab, der bereits Mitte der 1970er Jahre im eher dystopischen Ton vor dem neuen manipulativen Zugriff der modernen Technik auf die Natur gewarnt hatte. 59 Jürgen Goldstein hat jüngst darauf verwiesen, dass Blumenberg, der sich auch persönlich durchaus für Technik begeistern konnte, in einer Vorlesung 1985 ausführ-

Vgl. Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt, S. 372–373. Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt, S. 11 f. 59 Vgl. Hans Jonas: Biological Engineering – A Preview. In: Ders.: Philosophical Essays. From Ancient Creed to Technological Man. Prentice-Hall, Englewood Cliffs 1974, deutschsprachige Fassung: Hans Jonas: Laßt uns einen Menschen klonieren: Von der Eugenik zur Gentechnologie. In: Ders.:Technik, Medizin und Ethik. Zur Praxis des Prinzips Verantwortung. Frankfurt a. M. 1985, S. 162–203. 57 58

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lich und kritisch auf Jonas´ »Prinzip Verantwortung« 60 Bezug genommen und »[a]usdrücklich […] dem apokalyptischen Szenario, das Jonas ausmalt« widersprochen habe. 61 Während Jonas einen neuen ethischen Imperativ zur Bewahrung von Schöpfung und Natur forderte, zeugen Blumenbergs Schriften zur Technik von der »Legitimität technischer Weltveränderung«. 62 In Ansätzen findet sich diese kritische Perspektive bereits auch in Die Lesbarkeit der Welt. Auf Jonas bezogen diskutiert Blumenberg ausführlich, inwieweit die Metaphorik des genetischen Codes nicht nur von biowissenschaftlichen Manipulationsbestrebungen getragen sein könnte, sondern auch solche Erwartungshaltungen vorantreibt, die die »Natur als den von Gott mit sakrosankter Endgültigkeit niedergeschriebenen Text der Schöpfung« auffassen – womit Blumenberg subtil die Kritik von Jonas damit auszuräumen versucht, dass er auch dessen Position als einen Effekt der semantischen Aktualisierung der »Buch der Natur« Metapher deutet. 63 »Aus der Metaphorik entsteht im Handstreich ein Fachidiom zweiten Grades«, 64 schreibt Blumenberg, um auf Jonas skeptische Sicht überzuleiten. Dessen Kritik, der Gentechnik gehe es um die Erschaffung des Übermenschen, hält Blumenberg entgegen: »Zwischen Sakrileg und nüchterner Abwägung der Chancen und Risiken muß aber unterschieden werden.« 65 Man könnte versucht sein vorschnell zu konstatieren, dass Blumenberg den molekularbiologischen Sprachgebrauch von ›Schrift‹, ›Code‹ und ›Information‹ als absolute Metaphern verhandelt. Es ist aber, so wird bei genauer Lektüre deutlich, für Blumenberg Anfang der 1980er Jahre noch gar nicht ausgemacht, ob die Metaphorik vom ›genetischen Code‹ sich als ein irreduzibles Fundament, als »Untergrund« 66 oder »katalysatorische Sphäre« 67 biowissenschaftlicher Begriffsbildungen oder eben nur als ein metaphorisches Rudiment entpuppen wird. Einerseits sieht Blumenberg in ihr einen metaphoriVgl. Hans Jonas: Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation. Frankfurt a. M. 1979 61 Jürgen Goldstein: Entfesselter Prometheus? Hans Blumenbergs Apologie der neuzeitlichen Technik. In: Borck (Hg): Hans Blumenberg beobachtet, S. 25–46, Zitat S. 44; S. 27. 62 Ebd., S. 28. 63 Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt, S. 398 f. 64 Ebd., S. 398. 65 Ebd., S. 399. 66 Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie, S. 13. 67 Ebd., S. 11. 60

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schen Vorgriff und spricht sie als »absolut[e] Metapher« an. 68 An anderer Stelle aber erscheint sie lediglich als eine »Eselsbrücke der Veranschaulichung«. 69 Unklar bleibt ihr epistemischer Status. Dieser changiert zwischen Irreduzibilität und Vorläufigkeit. Insbesondere am Ende des Kapitels schlägt Blumenbergs metaphorologisch-historischer Blick in eine (normative) Haltung um, die nicht mehr nach Bedeutungskonstitutionen und historischen Erwartungshaltungen der Metapher fragt, sondern die die molekularbiologische Vorstellung der ›genetischen Lesbarkeit‹ lediglich als eine womöglich auch irreführende Zwischenstufe zur Begriffsbildung darstellt, deren metaphorische Suggestionen es gerade auch kritisch zu hinterfragen gilt. Jetzt heißt es: »Metaphern sind rhetorische Elemente, die im Milieu angespannter Problemlagen Virulenz annehmen können. Während das zureichend begründete Argument in einem theoretischen Kontext so etwas wie geronnene Disziplin ist, bedarf das rhetorische Element der Problematisierung gerade im Maße seiner Wirkungsfähigkeit: Hilft es nur hinweg über die Verlegenheiten des Unverstands oder treibt es uns voran in die Verdichtung grundloser Scheinevidenzen? Metaphorologie ist ein Verfahren der Sichtung von notwendigen Wagnissen und unverantwortlichen Suggestionen. In der Biochemie und Genetik kann man beobachten, wie der theoretische Fortschritt die metaphorischen Zwischenkonstruktionen, deren er sich so erfolgreich bedient hat, wieder abbaut, an die Stelle der Lesbarkeit nichts anderes setzt als die Wechselwirkungen stereospezifischer Erkennungseigenschaften von Molekülen […].« 70

In weiten Teilen des Kapitels rekonstruiert Blumenberg eine Geschichte des genetischen Code-Konzepts im engeren Sinne, wobei sich hier ebenfalls eine überraschende Wendung zeigt: das Ausschlagen des Pendels von der organismischen Uhrwerkmetapher zur Metapher vom »Sprachwerk« 71, was ansonsten in der Literatur zumeist mit Erwin Schrödingers hoch spekulativen Gebrauch der Schriftmetapher in seiner 1943 in Dublin gehaltenen Vorlesung What is life angesetzt wird, sieht Blumenberg nicht erst in der Biologie des 20. Jahrhunderts, sondern bereits im 19. Jahrhundert bei Friedrich Miescher in Anstoß gebracht. Hieran zeigt sich aber auch symptomatisch das Defizit der Blumenberg’schen Lektüre der Biologie: Sein 68 69 70 71

Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt, S. 402. Ebd., S. 408. Ebd., S. 405 f. Ebd., S. 396.

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historischer Fokus geht zwar der Erkenntnisleistung der Metapher in Hinblick auf damit einhergehende Sinnpostulate und anthropomorphe Erwartungshaltungen nach und Blumenberg thematisiert eindrücklich, wie seine ambivalente Verortung der genetischen CodeMetapher zwischen metaphorischem Grundbestand oder eben Restbestand einer vielleicht auch fehlschlagenden Begriffsbildung sehr deutlich macht, dass Anfang der 1980er Jahre noch gar nicht absehbar ist, ob dieser metaphorische Erwartungshorizont sich als ein tragfähiger erweisen wird. Aber mit dieser hermeneutischen und historischen Lesart übersieht Blumenberg die grundlegende technische Neuartigkeit des kybernetischen Informationsparadigmas, das ja seit Mitte des 20. Jahrhunderts nicht nur die Biowissenschaften erfasst hatte. So verliert Blumenberg auch kein Wort zum Transfer von Konzepten aus der Informationstheorie und Kybernetik in den Raum der Biologie. Der Begriff der Information erscheint bei Blumenberg selbst nur als eine Substitution für ältere Begriffe aus dem geistesgeschichtlichen Raum der Schrift, was sich auch besonders deutlich in den Notizen Blumenbergs aus dieser Zeit ausmachen lässt. 72

5.

Ausblick: Blumenbergs Die Lesbarkeit der Welt im Zeitalter des Digitalen

Offensichtlich hat Blumenberg jene Bereiche der molekularbiologischen Forschungen der 1970er und 1980er Jahre, in denen sich eine neue Bioinformatik abzeichnete, zeitgenössisch nicht wahrgenomPlastisch vor Augen geführt wird dies auch durch die Notizen zum »Buch der Natur«, die sich in Blumenbergs Zettelkästen in seinem Nachlass im Deutschen Literaturarchiv in Marbach auffinden lassen. Unter dem Kürzel BDN finden sich Notizen zum »genetischen Code«, in denen vor allem vom »Text der Natur« die Rede ist. An einer Stelle streicht Blumenberg das Wort »Text« aus und ersetzt dieses handschriftlich durch »Information.« (Deutsches Literaturarchiv Marbach, Blumenberg, BDN II-155/00488, für den Hinweis auf das Dokument danke ich Kevin Liggieri). Hier gibt es interessante Nähen zur Deutung des molekularbiologischen Informationskonzepts durch den Molekularbiologen Gerhard Schramm, dessen Schrift: »Belebte Materie« (1965) von Blumenberg (der sich in seinem Kapitel mit Ausnahme von E. Chargaff, J. Monod, H. Markl und S. E. Luria ansonsten nicht auf zeitgenössische Biowissenschaftler bezieht) auch explizit zitiert wird (Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt, S. 404). Zu Schramms Einordnung des Informationskonzept in die abendländische Geistesgeschichte vgl. Christina Brandt: Metapher und Experiment. Von der Virusforschung zum genetischen Code. Göttingen 2004 S. 232–256.

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men. Es ist eine interessante historische Koinzidenz, dass seine intensive Beschäftigung mit der Geschichte der Metapher vom »Buch der Natur« genau in jene biologiehistorisch relevante Phase fällt, in der die ersten »Gene Libraries« einfacher biologischer Objekte und Organismen Gestalt annahmen. Hier bezog sich die Metapher der ›Lesbarkeit‹ jedoch zunächst auf ein rein technisches ›Ablesen‹ von DNA-Sequenzen als Werkzeug zur Ermittlung von Strukturen und ging nicht unmittelbar mit einem hermeneutischen Postulat von ›Bedeutungen‹ oder gar innerer Sinnhaftigkeit des Lebendigen einher. Diese frühen DNA-Sammlungen waren erste Vorstufen neuer, computergestützter Ansätze, die dann spätestens seit den 1990er Jahren in Form der im globalen Maßstab betriebenen Großforschungsprogramme zur Sequenzierung des menschlichen Genoms eine in der Biologie bis dahin nicht gekannte Dynamik des Datensammelns entfaltet und die Forschungslandschaft radikal gewandelt haben. Neu entstandene Forschungsbereiche wie die Genomik, Proteomik und Systembiologie verdanken sich diesen Big Data-Ansätzen. Tatschlich wird auch in der Wissenschaftsforschung heutzutage von einer grundlegend neuen Qualität der biowissenschaftlichen Forschung gesprochen, die als »data-driven research« bezeichnet wird. 73 Dem Blumenberg’schen hermeneutischen, ja letztlich geistesgeschichtlichen Zugang blieben derartige Entwicklungen und Eigendynamiken der technischen, materiellen und objekthaften Konstellationen der modernen Wissenschaften jedoch verschlossen. Dies wirft die Frage nach der Anschlussfähigkeit Blumenbergs für neuere Ansätze der Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftsforschung noch einmal auf, war es doch die Analyse der materiellen Praktiken und der technowissenschaftlichen Dimensionen, die hier in den letzten Jahrzehnten im Zentrum standen, also jene Dimensionen moderner Wissenschaften, die bei Blumenberg ein blinder Fleck bleiben. Es ist besonders die anthropologische Zentrierung in Blumenbergs Ansatz, die diese Frage kritisch erscheinen lässt. Zugleich ist diese aber doch auch das Element seines Ansatzes, dass seiner Perspektive heutzutage eine hohe Aktualität verspricht: Blumenbergs historische Epistemologie, wenn man sie so bezeichnen möchte, richtet sich nicht allein auf Fragen nach der Genese und den Dynamiken der Wissensproduktion Vgl. Sabina Leonelli: Introduction: Making sense of data-driven research in the biological and biomedical sciences. In: Studies in History and Philosophy of Biological and Biomedical Sciences 43 (2012), S. 1–3.

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und Wissenschaftsentwicklungen, sondern auch wissenschaftliche Erkenntnisprozesse werden bei ihm im Horizont menschlicher »Selbstvergewisserungsprozesse« 74 hermeneutisch betrachtet und auf ihre anthropologischen Selbstreflexionen hin befragt. Dies ist einer der zentralen, sich durch Blumenbergs Gesamtwerk ziehenden Thematik geschuldet, nämlich der anthropologischen Verunsicherung, die daraus resultiert, dass der Mensch ein »riskantes Lebewesen [ist], das sich selbst mißlingen kann.« 75 Oliver Müller hat hervorgehoben, dass Blumenberg in den 1970er und 1980er Jahren intensiv an einer phänomenologischen Anthropologie gearbeitet hat, auch wenn diese nie in systematischer Form zu Lebzeiten Blumenbergs veröffentlicht wurde. Existenzrisiko und Distanz sind zentrale Denkfiguren der Blumenberg’schen Anthropologie. 76 Die hieraus entstehende »Kontingenzbewältigung im Blick auf die ›Grundlosigkeit‹ unserer Existenz korrespondiert nun«, so Müller, »mit der Überforderung angesichts eines ›Absolutismus der Wirklichkeit‹, den es mit Entlastungsvorgängen zu bewältigen gilt.« 77 Dass letztlich anthropologisch angelegte Kontingenzbewältigungen und Entlastungsvorgänge auch noch in den Naturwissenschaften eine Rolle spielen können, verrät sich für Blumenberg nicht zuletzt in ihren Metaphernbeständen. Im Falle der Aktualität der Metapher von der Lesbarkeit der Natur in der Biologie des 20. und des frühen 21. Jahrhunderts vermag man mit Blumenberg somit zwar nicht die historisch-epistemologischen Dynamiken der Wissensproduktion en détail zu verstehen, wohl aber die kulturhistorisch tief verwurzelten und auch in heutiger Zeit aktuellen Erwartungshaltungen, die diese wissenschaftlich-technischen Prozesse angetrieben haben. Auch die biomedizinische Euphorie über das »Buch des Lebens« der späten 1990er und frühen 2000er Jahre, als die Biowissenschaften die Entschlüsselung des menschlichen Genoms als Schlüssel zum Verständnis der menschliche Existenz in geradezu heilsversprechender Weise medial inszenierten, lässt sich mit Blumenbergs Analysen als kulturhistorisch weit zurückreichendes, überOliver Müller: Phänomenologische Anthropologie. Hans Blumenbergs Lebensprojekt. In: Gerald Hartung, Matthias Herrgen (Hrsg): Interdisziplinäre Anthropologie. Jahrbuch 4/2016, Wiesbaden 2017, S. 325–347, Zitat S. 340. 75 Hans Blumenberg: Beschreibung des Menschen. Aus dem Nachlaß herausgegeben von Manfred Sommer, Frankfurt a. M. 2006, S. 550; vgl. dazu auch Müller: Phänomenologische Anthropologie, S. 340. 76 Müller: Phänomenologische Anthropologie, S. 327–328. 77 Ebd., S. 340. 74

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Eine Hermeneutik der Lebenswissenschaften?

steigertes menschliches Verlangen nach Sinnhaftigkeit und Kontingenzbewältigung verstehen. Und selbst noch die wissenschaftliche Ernüchterung, die sich unmittelbar nach dem Abschluss der Humangenomprojekte einstellte, als deutlich wurde, dass sich diese biomedizinischen Hoffnungen allein durch die gigantische Ansammlung von Daten nicht erfüllten, ist mit Blumenberg als eine damit einhergehende Sinn-Enttäuschung beschreibbar. Die moderne Genomforschung wird damit zu einem Beispiel par excellence für eines der Leitmotive der Blumenberg’schen Metaphorologie, nämlich dass Metaphern »Leitfossilien einer archaischen Schicht des Prozesses der theoretischen Neugierde« sind, in denen sich ausdrückt »weshalb wir wissen wollten, was zu wissen nun mit Enttäuschung verbunden ist«. 78 Im Falle der »Buch der Natur« Metapher, so führte Blumenberg 1979 in Ausblick auf eine Theorie der Unbegrifflichkeit aus, gehe es auch um die Infragestellung von »Gegenwart als Selbstverständlichkeit«, um die »Sistierung von Sinnerwartungen nur noch metaphorisch greifbarer Spezifität, deren ungeglaubte Unerfüllbarkeit die Enttäuschungen schon vorgibt.« 79 Eine solche Diagnose hat gerade in den heutigen Zeiten des Digitalen einen hohen Aktualitätswert. In unseren digitalisierten Wirklichkeitsbereichen, wo die Interaktionen computergenerierter Algorithmen einen unserem Einfluss zunehmend entzogenen neuen Wirklichkeitsraum entstehen lassen, setzt der Mensch sich als Akteur weitestgehend außer Kraft. Umso mehr scheinen wir versucht zu sein, die digitalen Datenströme und die Obsession des technischen Auslesens grenzenloser Datenmengen als ein sinnhaftes Unterfangen zu deuten und in der uns bekannten Erfahrungstypik der Lesbarkeit der Welt verstehen zu wollen. Geschaffen wird damit eine metaphorische Bewältigung, ein Umgang mit einem zwar selbstgenerierten, aber übermächtigen und uns letztlich auch bedrohlich erscheinenden ›Absolutismus der Wirklichkeit‹. Als ein »Verfahren der Sichtung von notwendigen Wagnissen und unverantwortlichen Suggestionen« 80 hätte hier Blumenbergs Metaphorologie eine hohe Aktualität.

78 79 80

Blumenberg: Ausblick auf eine Theorie der Unbegrifflichkeit, S. 87. Ebd., S. 91 f. Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt, S. 405.

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Kognition und Bewusstsein Tobias Schlicht

1.

Hermeneutik vs. Kognitionswissenschaft

Der Versuch, den hermeneutischen Grundbegriff des Verstehens, der Thema dieser Sammlung ist, aus der Perspektive der zeitgenössischen Kognitionswissenschaft und Philosophie des Geistes in den Blick zu nehmen, führt in die seltsame Situation, dass letztere der hermeneutischen Tradition auf den ersten Blick nichts zu sagen hat. Dilthey und andere Vertreter der Hermeneutik haben in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts den prinzipiellen Unterschied, ja schroffen Gegensatz, zwischen Verstehen und Erklären in Bezug auf die Methodik der Geistes- und Naturwissenschaften betont, in der Absicht, für jene eine Logik und Methodenlehre zu entwickeln, zu denen neben der Philosophie auch die Psychologie gezählt wurde. Diese sich als Auslegungskunst 1 begreifende Methodik verlangt nicht nach dem Experiment, sondern nach einer Virtuosität in der Behandlung ihres Gegenstandes: »Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir.« 2 Die analytische Philosophie des Geistes aber hat sich im Laufe des 20. Jahrhunderts mehr und mehr an den Naturwissenschaften orientiert und findet sich nunmehr als nur eine Disziplin neben zahlreichen empirischen Wissenschaften im interdisziplinären Bemühen um ein Verständnis des Geistes. Der methodische Ansatz dieser Kognitionswissenschaft ist dezidiert naturalistisch, d. h. kognitive Fähigkeiten wie Denken, Wahrnehmen, Erinnern, Lernen usw. werden als natürliche Phänomene verstanden, die grundsätzlich mit naturwissenschaftlichen Methoden untersucht und erklärt werden Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften Bd. V: Die geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens. Erste Hälfte: Abhandlungen zur Grundlegung der Geisteswissenschaften. Hrsg. von G. Misch. Stuttgart/Göttingen 1957, S. 317. 2 Ebd., S. 143. 1

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können. 3 Auch das Verstehen selbst soll dann folglich als eine unter anderen kognitiven Fähigkeiten dadurch verständlich gemacht werden, dass es einer naturwissenschaftlichen Erklärung zugeführt wird. Ziel dieses interdisziplinären Zugangs der Kognitionswissenschaft ist die Entwicklung einer »Naturwissenschaft des Denkens und Erkennens«. 4 Das Verstehen in Diltheys Sinn wird dann als eigenständiger, methodischer Zugang entweder ignoriert oder aber als Resultat einer Erklärung aufgefasst. Wir verstehen ein Phänomen dann, wenn wir es mit naturwissenschaftlichen Methoden erklärt haben. Das Verstehen selbst, als kognitive Fähigkeit, muss in ebensolcher Weise naturalistisch erklärt werden. Diesen Anspruch einer naturwissenschaftlich orientierten analytischen Philosophie des Geistes hätte Dilthey wohl vehement zurückgewiesen, spricht er doch mehrfach von der »Verstümmelung« des Geistes durch den Naturalismus. 5 Allerdings kann diese Inkommensurabilität auch auf die unterschiedlichen Ansprüche zurückgeführt werden, wenn man der Hermeneutik das Ziel abspricht, auf die Erkenntnis der »einen wahren« Natur hinter den Phänomenen abzuzielen, insofern sie die Bedingtheit jedes Verständnisses durch das Einfühlungsvermögen des Subjekts behauptet. Demgegenüber geht der Physikalismus davon aus, dass die Naturwissenschaften eine Beschreibung der Welt werden liefern können, wie sie an sich unabhängig von unserem Geist, d. h. unserer Konzeptualisierung derselben, existiert. Putnam kritisiert diesen umstrittenen Anspruch, führt aber auf diese in Aussicht gestellte »natürliche Metaphysik«, d. h. eine Metaphysik innerhalb der Grenzen der Naturwissenschaft, auch die Anziehungskraft des Physikalismus zurück, der nach wie vor die dominierende Position in der zeitgenössischen Philosophie des Geistes darstellt. 6 Sich gegen dieses oppositionelle Verhältnis von hermeneutischer und analytischer Tradition wendend versucht Gallagher zu zeigen, dass die Thesen der Hermeneutik keineswegs im Gegensatz zu denen Vgl. Achim Stephan: Was zeichnet eine moderne Auffassung von Geist aus? In: Logische Analyse und Geschichte der Philosophie 18 (2015), S. 114–128; Achim Stephan/Sven Walter (Hgg.): Handbuch Kognitionswissenschaft. Stuttgart 2013. 4 Francisco J. Varela: Kognitionswissenschaft – Kognitionstechnik. Frankfurt a. M. 1988, S. 32. 5 Dilthey: Die geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens, S. 151, 168 u. ö. 6 Hilary Putnam: Why there isn’t a ready-made world. In: Realism and Reason. Philosophical Papers Vol. III. Cambridge 1983, S. 210. 3

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der Kognitionswissenschaft stünden, sondern vielmehr beide Zugänge zum Geistigen einander ergänzten und voneinander profitieren könnten. 7 Er bezieht sich dabei insbesondere auf Erklärungsansätze zu unserem Verstehen anderer Personen bzw. ihrer geistigen Einstellungen (Absichten, Gefühle usw.). Zudem ist Gallagher auch der Meinung, dass die gegenläufigen Konzepte der hermeneutischen Tradition sinnvoll nutzbar gemacht werden können, um inadäquate Phänomenbeschreibungen in der Kognitionswissenschaft aufzudecken und zu kurieren. In diesem Beitrag werden zentrale Basisannahmen kritisch erörtert, die einigen gegenwärtigen Debatten in der Analytischen Philosophie des Geistes und der Kognitionswissenschaft zugrunde liegen, die leider zu häufig als geschichtsvergessen, ja – feindlich bezeichnet werden muss. 8 Dieser kritische Blick konzentriert sich auf die folgenreiche Trennung von Kognition und Bewusstsein, insofern sie für eine adäquate Theorie des Verstehens folgenreich ist. Konkret soll dazu die von David Chalmers formulierte und in den gegenwärtigen Debatten zu Kognition und Bewusstsein weitgehend anerkannte Differenzierung von Kognition und Bewusstsein einer kritischen Prüfung unterzogen werden (siehe Abschnitt 2). 9 Dies ist zum einen dadurch motiviert, dass die Unterscheidung in Chalmers’ Begrifflichkeit am intensivsten diskutiert wurde, und zum anderen dadurch, dass sie anderen Debatten in der Philosophie des Geistes zugrunde liegt, nämlich (a) der Debatte über die Möglichkeit (philosophischer) Zombies (Abschnitt 3) und (b) der Debatte über den erweiterten Geist (Abschnitt 4). Zu diesen beiden Debatten seien zunächst einige erläuternde Bemerkungen angefügt. (a) Philosophische Zombies sind definiert als physisch-funktionale Doppelgänger von bewussten Menschen, die zwar kognitive Fähigkeiten haben, aber kein bewusstes Erleben. Sind solche Wesen logisch widerspruchsfrei denkbar, so Chalmers, dann sind sie auch metaphysisch (wenn auch nicht nomologisch) möglich. Dann wäre der Physikalismus widerlegt, da diese Position die Möglichkeit solcher Zombies ausschließen müsse. 10 Shaun Gallagher: Hermeneutics and the cognitive sciences. In: Journal of Consciousness Studies 11, 10–11 (2004), S. 162–174. 8 Hans-Johann Glock: Analytic Philosophy and History: a mismatch? In: Mind 117, 468 (2008), S. 867–897. 9 David J. Chalmers: The conscious mind. Oxford 1996. 10 Zum Unterschied zwischen nomologischer, metaphysischer und logischer Möglichkeit sowie einer ausführlichen Diskussion des Zombie-Arguments vgl. Tobias 7

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(b) Chalmers vertritt zudem die Position, dass Kognition in bestimmten Fällen als erweitert angesehen werden könne, wenn nämlich ein externes Werkzeug (oder eine andere Person) die Funktion (bzw. kausale Rolle) eines (z. B.) defizitären Gehirnprozesses übernehmen könnte. 11 Bewusstsein, so Chalmers, könne demgegenüber nicht in dieser Weise erweitert sein, da es womöglich einer so schnellen Verarbeitungsgeschwindigkeit von ›Information‹ bedürfe, so dass de facto nur Gehirnvorgänge dazu imstande seien, Bewusstsein zu realisieren. 12 Insofern Chalmers’ Positionen in diesen Debatten seine strikte begriffliche Unterscheidung zwischen Kognition und Bewusstsein voraussetzen, wird die folgende kritische Diskussion Konsequenzen auch bezüglich dieser beiden Debatten mit sich bringen.

2.

Kognition und Bewusstsein

Der Naturalismus gilt als eine der zentralen Annahmen in der Kognitionswissenschaft: »Mental states and processes are part of the physical world. That means, at a minimum, that the processes that cognitive science postulates must be ones that can be carried out by actual physical mechanisms, and the states that it postulates are ones that physical objects can be in.« 13 Eine naturalistische Auffassung legt sich in der Regel auf eine physikalistische Ontologie fest, d. h. lediglich physikalische Entitäten werden zur Erklärung aller Phänomene akzeptiert, während »physikalisch« im Sinne von »akzeptabel in einer der Naturwissenschaften« zu verstehen ist. 14 Bezüglich der Aussichten einer erfolgreichen Naturalisierung geistiger Fähigkeiten herrscht in der gegenwärtigen DeSchlicht: Erkenntnistheoretischer Dualismus. Das Problem der Erklärungslücke in Geist-Gehirn-Theorien. Paderborn 2007, S. 217 ff. 11 Andy Clark, David J. Chalmers: The Extended Mind. In: Analysis 58 (1998), S. 7– 19. 12 David J. Chalmers: Foreword to Andy Clark’s Supersizing the Mind. In: Supersizing the Mind: Embodiment, Action and Cognitive Extension. Oxford 2008, S. IXXVI. 13 Jerry A. Fodor/Zenon Pylyshyn: Minds without meanings. An essay on the content of concepts. Cambridge, MA 2015, S. 3 f. 14 David Chalmers (The conscious mind) nennt seine Position bezüglich des Verhältnisses von Geist und Gehirn »naturalistischen Dualismus« und meint damit, dass das Bewusstsein als einer der fundamentalen Bausteine der Welt akzeptiert werden müsse, aber nicht auf eine der bekannten physikalischen Größen reduzierbar sei, sondern

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batte allerdings keine Einigkeit. Während es eine große Mehrheit zwar für plausibel hält, dass eine physikalistisch akzeptable Theorie kognitiver Fähigkeiten formuliert werden könne, so werden die Erfolgsaussichten für eine Naturalisierung des Bewusstseins, verstanden als subjektives Erleben, als weniger rosig eingeschätzt. Als aussichtsreichste Methode zur Naturalisierung kognitiver Fähigkeiten gilt gemeinhin das Modell der funktionalistischen Reduktion. 15 Kurz gesagt werden kognitive Fähigkeiten dabei als Funktionen bzw. kausale Rollen aufgefasst, die durch neuronale (oder andere physische) Mechanismen realisiert werden. 16 Dieser Funktionalismus, der unten noch näher erläutert wird, weist die Hypothese zurück, Typen geistiger Phänomene seien mit Typen von Gehirnvorgängen identisch, lässt es aber als »eine kontingente empirische Tatsache« gelten, »dass alle kognitiven Prozesse, die es in der realen Welt gibt, zufällig an das Gehirn gebunden sind«. 17 D. h., kognitive Funktionen werden letztlich von Gehirnvorgängen ausgeführt bzw. realisiert, auch wenn die Möglichkeit nicht ausgeschlossen wird, dass auch andersartige Mechanismen (Computerchips etwa) kognitive Funktionen realisieren könnten. Im Hinblick auf die Naturalisierung gilt es jeweils die konkreten materiellen Mechanismen zu identifizieren, die eine Funktion ausführen. Dieser prinzipiell für durchführbar gehaltenen Naturalisierung der Kognition steht ein Skeptizismus hinsichtlich einer entsprechenden Reduktion des subjektiven Erlebens gegenüber, weil i. d. R. argumentiert wird, dass subjektives Erleben nicht in der mechanistisch verstandenen kausalen Rolle aufgeht, sondern die Subjektivität mit einer spezifischen Qualität wesentlich verknüpft ist. Die Motivation für diese Trennung von Kognition und Bewusstsein findet man historisch schon bei Rorty, der sich angesichts des Leib-Seele-Problems wunderte, was denn Überzeugungen und Schmerzen als geistigen Phänomenen gemein sein soll, außer unserer Weigerung, sie als physische Phänomene anzuerkennen. 18 Die Trenzu der Liste physikalischer Grundbausteine noch hinzukomme. Das meint die Mehrheit der »Naturalisten« jedoch nicht, wenn sie einen Naturalismus verteidigen. 15 Vgl. Jaegwon Kim: Physicalism, or something near enough. Princeton 2005. 16 Vgl. Ned Block: What is functionalism? In: Ned Block (Hg.): Readings in Philosophy of Psychology. Vol. 1. Cambridge 1980, S. 171–184. 17 Fred Adams/Kenneth Aizawa: Die Grenzen der Kognition. In: Joerg Fingerhut/ Rebekka Hufendiek/Markus Wild (Hgg.): Philosophie der Verkörperung. Berlin 2013, S. 229. 18 Richard Rorty: Philosophie und der Spiegel der Natur. Frankfurt a. M. 1979, S. 22.

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nung dokumentiert sich zudem mit anderer Terminologie in der Unterscheidung zwischen propositionalen Einstellungen wie Überzeugungen und Wünschen einerseits und Empfindungen wie Schmerzen oder Sinneseindrücken andererseits. 19 Während jene durch einen repräsentationalen Gehalt (Intentionalität) ausgezeichnet sein sollen, der (meist) in einem »dass-Satz« ausgedrückt werden kann, sollen diese durch qualitative Eigenschaften oder Qualia charakterisiert sein. Die Annahme lautet, man könne alle intentionalen Phänomene losgelöst vom Bewusstsein erklären und auch verstehen, indem man sie als physisch realisierte Funktionen kennzeichnet. In der Konsequenz muss für die Kognitionswissenschaft und große Teile der Philosophie des Geistes auch das Verstehen zu der Menge solcher rein unbewussten kognitiven Funktionen zählen. Dezidiert verteidigt Chalmers diese Trennung von Kognition und Bewusstsein, die in seiner Formulierung bereits kanonisch geworden ist. In der Debatte über das Leib-Seele-Problem vertritt er bezüglich aller kognitiven Fähigkeiten einen strikten Funktionalismus, demzufolge Denken, Wahrnehmen, Gedächtnis, Lernen etc. durch die Angabe neuronaler oder computationaler Mechanismen erklärbar sein sollen. Kognitive Fähigkeiten verursachen daher ihm zufolge lediglich sogenannte »leichte« Probleme: »Die leichten Probleme sind, wie es scheint, für die Standardmethoden der Kognitionswissenschaft unmittelbar empfänglich, sie betreffen Phänomene, die sich mittels computationaler oder neuronaler Mechanismen erklären lassen.« 20 Zu diesen leichten Problemen gehören u. a. »die Fähigkeit, auf Umweltreize zu reagieren, sie zu diskriminieren und zu kategorisieVgl. z. B. David M. Rosenthal: Identity theory. In: Samuel Guttenplan (Hg.): Cambridge Companion to the Philosophy of Mind. Cambridge 1994, S. 349; Ned Block: On a confusion about a function of consciousness. In: Behavioral and Brain Sciences 18 (1995), S. 227–287. Auch Jerry Fodor, dessen Lebenswerk einer Erklärung kognitiver Fähigkeiten auf der Basis einer repräsentationalen Theorie gewidmet ist, scheint von einer solchen Trennung implizit auszugehen, wenn er in seiner ganz eigenen humorigen Art bekennt: »Nobody has the slightest idea how anything material could be conscious. Nobody even knows what it would be like to have the slightest idea about how anything material could be conscious. So much for the philosophy of consciousness.« (Jerry A. Fodor: Can there be a science of mind? In: Times Literary Suppl. 3. Juli 1992, S. 5 ff.) 20 David J. Chalmers: Das schwierige Problem des Bewusstseins. In: Frank Esken/ Hans-Dieter Heckmann (Hgg.): Bewusstsein und Repräsentation. 2. Aufl. Paderborn 1999, S. 222. 19

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ren«, die »Fähigkeit, von mentalen Zuständen berichten zu können«, »die Fähigkeit eines Systems, auf seine eigenen internen Zustände zugreifen zu können«, »der Fokus der Aufmerksamkeit«, »die willkürliche (intentionale) Kontrolle von Verhalten« und andere. Insbesondere stellt ihm zufolge sogar das »Selbstbewusstsein« ein solches leichtes Problem dar. Es könne als »Zugang« zu einem »Selbstmodell« aufgefasst werden, als »Fähigkeit, über uns nachzudenken«. Alle diese kognitiven Funktionen sollen prinzipiell völlig unabhängig und losgelöst von bewusstem Erleben, von phänomenalem Bewusstsein, neurophysiologisch und computerfunktionalistisch erklärbar sein, weil sie in ihrer kausalen, funktionalen Rolle angeblich aufgehen. Von diesen Leistungen nimmt Chalmers das Bewusstsein, verstanden als subjektives phänomenales Erleben, dezidiert aus, da er konzediert, dass zwischen phänomenalem Bewusstsein und Gehirnprozessen eine »Erklärungslücke« 21 bestehe. Beispiele für phänomenales Bewusstsein bietet das subjektive Erleben z. B. von Sinnes- und Empfindungsqualitäten wie Röte und Schmerzhaftigkeit. 22 Laut Nagels berühmter Formel ist es für uns immer irgendwie, dieses oder jenes auf spezifische Weise zu erleben. 23 Das laut Chalmers »schwierige Problem des Bewusstseins« besteht in der Frage, warum irgendein physikalischer Vorgang von subjektivem Erleben begleitet sein, zu solcher Subjektivität führen oder gar mit subjektivem Erleben identisch sein sollte. Daher argumentiert Chalmers letztlich für einen ontologischen Eigenschaftsdualismus, gemäß dem Bewusstsein als irreduzibler Baustein der Natur angesehen wird. Die Trennung von Kognition und Bewusstsein erfolgt bei Chalmers also im Kontext seiner Diskussion der Erfolgsaussichten des Physikalismus in Bezug auf eine Lösung des Leib-Seele-Problems. Was erfordert eine erfolgreiche Naturalisierung, wie der Physikalismus sie anstrebt? Wenn Chalmers von einer Erklärung durch die Angabe »computationaler oder neuronaler Mechanismen« 24 spricht, so meint er eine reduktive Erklärung anhand von physischen Entitäten. Der zeitgenössische Physikalismus nun ist durch eine meta-

Jospeh S. Levine: Purple Haze. Oxford 2001. Chalmers: Das schwierige Problem, S. 223 ff. 23 Thomas Nagel: What is it like to be a bat? In: Philosophical Review 83 (1974), S. 435–450. 24 Chalmers: Das schwierige Problem, S. 222. 21 22

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Kognition und Bewusstsein

physische und eine epistemologische These konstituiert, die besagt, dass »all things that exist in this world are bits of matter and structures aggregated out of bits of matter, all behaving in accordance with laws of physics, and that any phenomenon of the world can be physically explained if it can be explained at all.« 25 Der Anspruch des Physikalisten muss daher laut Chalmers eine reduktive Erklärung aller geistigen Phänomene durch physikalisch akzeptable Phänomene sein. Wie lässt sich eine solche reduktive Erklärung geistiger Phänomene erzielen? Wiederum können wir uns auf Kims Ausführungen zur funktionalen Reduktion am Beispiel des Gens berufen, die auch Chalmers als Maßstab akzeptiert: »To reduce a property, say being a gene, on this model, we must first ›functionalize‹ it; that is, we must define, or redefine, it in terms of the causal task the property is to perform. Thus, being a gene may be defined as being a mechanism that encodes and transmits genetic information. That is the first step. Next, we must find the ›realizers‹ of the functionally defined property – that is, properties in the reduction base domain that perform the specified causal task. It turns out that DNA molecules are the mechanisms that have the task of coding and transmitting genetic information – at least, in terrestrial organisms. Third, we must have an explanatory theory that explains just how the realizers of the property being reduced manage to perform the causal task. In the case of the gene and the DNA molecules, presumably molecular biology is in charge of providing the desired explanations.« 26

Eine reduktive Erklärung darf lediglich auf Entitäten Bezug nehmen, die im Verhältnis zum zu erklärenden Phänomen auf niedrigeren Ebenen liegen. Für geistige Fähigkeiten kommen z. B. Gehirnvorgänge in Frage, jedoch keine anderen geistigen Phänomene, denn dann wäre es keine reduktive Erklärung. Die diversen kognitiven Fähigkeiten stellen nun laut Chalmers deshalb kein schwieriges Problem dar, weil sie prinzipiell funktionalisierbar in Kims Sinne sind, d. h. man kann sie erschöpfend durch die Aufgabe charakterisieren, über die sie definiert sind. Bewusstsein, für das sich (laut Kim und Chalmers) keine derartige reduktive Erklärung angeben lässt, besteht nicht (nur) in der Ausführung einer Funktion, sondern ist zudem wesentlich durch seine spezifische subjektive Erlebnisqualität gekennzeichnet, soll allerdings in der Konsequenz für das Ausführen von kognitiven Funktionen nicht wesentlich sein. Die Ausführung 25 26

Kim: Physicalism, or something near enough, S. 149 f. Ebd., S. 101.

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der geistigen Gehirnfunktionen könnte prinzipiell auch völlig unbewusst ablaufen. 27 Chalmers’ Charakterisierung menschlicher kognitiver Fähigkeiten ist freilich angreifbar. Statt die Rolle des Bewusstseins bei der Ausübung dieser kognitiven Funktionen aufzuklären, behandelt Chalmers es als begriffliche Wahrheit, dass Kognition von Bewusstsein unabhängig sei. 28 Alle kognitiven Leistungen des Menschen sollen hinreichend durch ihre abstrakten kausalen Rollen definiert und prinzipiell ohne bewusstes Erleben ausgeführt werden können, d. h. ohne jegliche Selbstvertrautheit mit sich. So soll – wie aus jener Unterscheidung folgt – z. B. rein physiologisch-funktionalistisch erklärbar sein, dass und wie Subjekte ihrer Vorstellungen introspektiv gewahr sind und auf dieser Basis von ihnen berichten können, allerdings ohne dass sie sich der Vorstellungen als ihrer bewusst sind, denn bewusstes Erleben soll ja dazu nicht erforderlich sein. Dass auch das begriffliche Kategorisieren sinnlicher Anschauungen (Umweltreize) und das Fällen sprachlicher (moralischer oder anderer) Urteile auf der Basis von Wahrnehmungen generell völlig unbewusst und somit anonym vonstattengehen kann, müsste ebenfalls allererst gezeigt werden. Auch Vernunftschlüsse und die damit verbundene unmittelbare intuitive Einsicht in die Wahrheit etwa eines Modus Ponens müssten als völlig unbewusste in ihrer Möglichkeit aufgezeigt werden. Wie sollen z. B. die in solchen Urteilen und Schlüssen vollzogenen synthetischen Einheiten zustande kommen, wenn die darin kategorisierten Sinnesdaten nichts für das urteilende Subjekt sind? Damit sinnvoll synthetisierte Gedankeninhalte verstanden und sprachlich vermittelt werden können, müssen sie vielmehr erstens bereits etwas für das Subjekt sein, das sie äußert und sinnvoll zusammenfügt, d. h. sie müssen ihm bewusst sein; und die Gedankeninhalte müssen zweitens auf jenes Subjekt und dessen Spontaneität des Denkens zurückgeführt werden können, wenn man nicht voraussetzen möchte, dass die Inhalte sich gemäß logischer Regeln von selbst geordnet zusammenfügen. Dazu genügt es nicht, darauf hinzuweisen, dass ein hinreichend programmierter Computer dazu gebracht werden könnte, über Lautsprecher Wortfolgen zu äußern, so lange nicht Chalmers: Das schwierige Problem, S. 227. Diese vermeintliche begriffliche Unabhängigkeit ist wichtig, liegt sie doch dem Zombie-Argument und der These der erweiterten Kognition zugrunde (siehe unten Abschnitte 3 und 4).

27 28

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bewiesen ist, dass das menschliche Denken in dieser Weise dem einer Maschine angeglichen werden darf. Auf diesen letzten Punkt macht insbesondere E. J. Lowe in seiner frühen, aber damals einsamen Kritik an Chalmers’ Unterscheidung aufmerksam; er diskutiert sie im Kontext seiner Untersuchung von Chalmers’ Epiphänomenalismus bezüglich des Bewusstseins: »Believing as he [Chalmers, TS] does that human thought and cognition in general are just a matter of ›information-processing‹, of a sort which could in principle go on in a mindless computer, he is left with the idea that all that is really distinctive about consciousness is its qualitative or phenomenal aspects (the ›what it is like‹, or ›inner feel‹). And then it begins to look like a strange mystery or quirk of evolution that creatures like us should possess this sort of consciousness in addition to all our capacities for thought and understanding – these capacities being, for Chalmers, simply capacities for certain sorts of information-processing and storage. My response is that consciousness has only been put in this queer position by Chalmers (and, to be fair, by many others) because he has mistakenly denied it any role in his account of the nature of human thought and understanding. In short, it is the reductive, and wholly inadequate, information-processing conception of human cognition which is responsible for the misperception that ›consciousness‹ (in the form of ›qualia‹ and the like) occupies what threatens to be a merely epiphenomenal role as a peculiar additional feature of human mentation that is in no way essential to our basic intellectual capacities. […] If […] our capacity for genuine thought and understanding is quite inseparable from our capacity for phenomenal consciousness, then to the extent that Chalmers himself is correct in contending that reductive physicalism offers no prospect for an explanation of phenomenal consciousness, the conclusion ought to be that reductive physicalism, far from being equipped to solve the so-called ›easy‹ problems of consciousness, has in fact nothing very useful to say about any aspect of consciousness.« 29

Lowe weist zu Recht darauf hin, dass gemäß Chalmers’ Funktionalismus alle menschlichen kognitiven Fähigkeiten so charakterisiert werden können, dass ein adäquat programmierter Computer sie in derselben Weise ausführen könnte wie ein Mensch. So dürfen wir demnach z. B. annehmen, dass die Temperaturunterscheidungen eines Thermostaten dem menschlichen Unterscheidungsvermögen von Farben völlig analog sind. Ein Computer soll zudem Informationen in derselben Weise speichern und abrufen können, wie das ein Mensch beim Zugriff auf sein Gedächtnis tut. Dieser Konsequenz Edward J. Lowe: There are no easy problems of consciousness, in: Jonathan Shear (Hg.): Explaining consciousness. The hard problem. Cambridge 1997, S. 121.

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kann man mit zwei Reaktionen begegnen: Entweder betrachtet man sie kritisch als reductio einer inadäquaten funktionalistischen Konzeption der Kognition oder man heißt sie glücklich als philosophische Basis für die Entwicklung künstlicher Intelligenz willkommen. Einer der Gründe, warum Chalmers’ Begriffe der Kognition und des Bewusstseins (beschränkt auf Qualia) unangemessen sind, ist sein Rückgriff auf Shannons Begriff der Information in der Charakterisierung von Kognition als Informationsverarbeitung, was der Hauptgrund für Chalmers’ Einschätzung kognitiver Fähigkeiten als »leichten« Problemen ist: »The concept of information I am concerned with has much in common with the concept discussed by Shannon […]. Here, I will present an adaptation and development of this idea […]. Shannon was not concerned with a semantic notion of information, on which information is always information about something. Rather, he focused on a formal or syntactic notion of information, where the key is the concept of a state selected from an ensemble of possibilities.« 30

So verstanden ist Information gleichbedeutend mit der Reduktion von Unsicherheit. Wenn sich zwei Möglichkeiten auf eine Gewissheit reduzieren lassen, etwa durch das Werfen einer Münze, so ergibt sich ein Wissenszuwachs (bzw. eine Reduktion der Entropie) von 1 Bit an Information. 31 Entsprechend ergeben sich mehr Bits an Information, wenn die Anzahl der Möglichkeiten steigt, z. B. beim Würfeln. Ich möchte einige Probleme dieses Informationsbegriffs im Kontext der Kognition anführen: (a) Das erste Problem betrifft das Fehlen jeglicher semantischen Dimension. Chalmers stimmt explizit mit Shannon überein, dass dieser Informationsbegriff keinen semantischen Aspekt enthält. Das mag für die Beschreibung der Abläufe in einem Digitalcomputer angemessen sein; denn es besteht weitgehende Einigkeit darüber, dass die Bedeutung den Symbolen in einem Computer vom Nutzer zugewiesen wird, den Symbolen jedoch nicht intrinsisch zukommt. Dass dieser Informationsbegriff auch adäquat menschliches Verstehen erklärt, müsste aber demonstriert werden. Intuitiv ist die Annahme plausibel, dass menschliche Akte des Denkens, Wahrnehmens, Urteilens, Erinnerns, Berichtens, Unterscheidens usw. von dem bloß metaphorischen Sinn, in dem Computer solche Akte ausführen können, 30 31

Chalmers: The conscious mind, S. 261. Chris Frith: Making up the mind. Oxford 2007, S. 114.

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verschieden sind. Searles berühmtes Gedankenexperiment des Chinesischen Zimmers demonstriert, dass das beim erfolgreichen Sprechen, Lesen und Schreiben einer Sprache vorhandene Verstehen äußerst verschieden ist von den Schritten, die ein Computer laut Anweisung eines rein syntaktischen Programms ausführen kann, um Sätze in irgendeiner Sprache zu produzieren. 32 Searle unterscheidet (1) die ursprüngliche, mit Kognition verbundene Intentionalität und Semantik geistiger Vorkommnisse, wie etwa des Gedankens »Ich habe Durst«, von (2) der bloß davon abgeleiteten Intentionalität sprachlicher Äußerungen über den Durst sowie (3) der rein metaphorischen, aber nichts mit Kognition gemein habenden Intentionalität, die Zuschreibungen wie »Ich habe einen durstigen Rasen« zukommt. Da die Syntax des Computerprogramms nicht hinreichend ist, um den Symbolfolgen eine spezifische Bedeutung zuzuweisen, kann man dem Computer kein Verständnis unterstellen. Searles Kritiker ebnen in ihren funktionalistischen Modellen solche Unterschiede ein. Konsequent verfolgt Daniel Dennett dieses Programm in Bezug auf menschliche Intelligenz, insofern geistige Zustände mit semantischem Gehalt immer nur im Dienste der Verhaltenserklärung von außen zugeschrieben werden; 33 ob diese Zuschreibungen aber gerade deshalb so erfolgreich sind, weil es tatsächlich im Gehirn der anderen Person solche Zustände gibt, bleibt bei Dennett offen. Eine Autorität der subjektiven Erste-Person-Perspektive gegenüber der Dritte-Person-Perspektive des Zuschreibenden weist Dennett vehement zurück, während Searle sie gerade verteidigt. Searle wurde oft dafür kritisiert, er schmuggle – ohne weitere Argumente – das bewusste Erleben in das Chinesische Zimmer hinein, da er behauptet, dass menschliches Sprachverstehen von der Sprachverarbeitung durch einen Computer verschieden sei, weil die Semantik, d. h. ursprüngliche Intentionalität, von möglichem Bewusstsein abhänge. 34 Aber selbst wenn es zuträfe, dass Searles Einführung des Bewusstseins ohne hinreichende Argumentation erfolgt, John R. Searle: Mind, brains and programs. In: Behavioral and Brain Sciences 3 (1980), S. 417–457. 33 Daniel C. Dennett: Intentionale Systeme, (1971). In: Peter Bieri (Hg.): Analytische Philosophie des Geistes. Königstein/Ts 1981, S. 162–183. 34 Vgl. John R. Searle: Consciousness, explanatory inversion, and cognitive science. In: Behavioral and Brain Sciences 13 (1990), S. 585–642. Searles Argument basiert auf einer Diskussion verschiedener Begriffe des Unbewussten, die er nicht alle als geistige Phänomene akzeptiert. Er argumentiert für das Verbindungsprinzip, demzufolge ein 32

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könnte diese These dennoch zutreffen, da seine Kritiker bisher nicht überzeugend nachweisen konnten, dass menschliches Verstehen tatsächlich anhand der syntaktischen Manipulation von Symbolen durch einen Computer erschöpfend erklärt werden kann. Diese Debatte ist bis heute unabgeschlossen und die Beweislast liegt auf Seiten der Funktionalisten, die die Analogie zwischen Gehirn und Computer schlechthin behaupten, aber bisher nicht nachweisen konnten. Daher müssen Vertreter des Funktionalismus zeigen, dass ihre Analogien zwischen Computern und Menschen (bzw. deren Gehirnen) hinsichtlich kognitiver Fähigkeiten überzeugen können und der Kritik von Philosophen, aber auch von Gehirnforschern standhalten, da auch letztere nicht davon überzeugt sind, dass das Gehirn ein Computer sei. 35 Funktionalisten müssen aufzeigen, dass und warum Searle falsch liegt, wenn er behauptet, dass Kognition Bewusstseinsfähigkeit verlangt, wobei Searle den Vorteil hat, dass bewusste Kognition der paradigmatische Fall von Kognition ist, den wir aus der eigenen Erfahrung kennen; und Chalmers streitet ja auch nicht ab, dass Kognition typischerweise mit bewusstem Erleben einhergeht. 36 Er erwägt zwar bezüglich der Informationstheorie, »it might be possible to extend the current framework so it has a semantic element, by associating some sort of semantic content with each information state, but as it stands the framework is independent of semantic considerations.« 37 Allerdings verfolgt er diesen Pfad nicht weiter, so dass unklar bleibt, was eine solche Anreicherung von Shannons Informationsbegriff um eine semantische Dimension voraussetzen bzw. mit sich bringen würde. Das ist schade, weil die Möglichkeit besteht, dass entweder phänomenales Bewusstsein oder aber mindestens ein bewusstseinsfähiges Lebewesen eine wichtige Voraussetzung für kognitive Fähigkeiten darstellt. An dieser Stelle treffen der klassische Funktionalismus und Searles Biologismus unversöhnlich aufeinander, insofern dieser, aber nicht jener, den biologischen Eigenschaften des unbewusster Gehirnvorgang nur dann als geistig bezeichnet werden sollte, wenn er prinzipiell auch bewusst werden kann (ebd.). 35 Vgl. z. B. Francis H. Crick: Was die Seele wirklich ist. Die naturwissenschaftliche Erforschung des Bewusstseins. Hamburg 1994, S. 36, 221–224; Gerald M. Edelman: Göttliche Luft, vernichtendes Feuer. Wie der Geist im Gehirn entsteht. München 1995, S. 313–326. 36 Chalmers: Das schwierige Problem, S. 242. 37 Ebd., S. 263.

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Gehirns eine zentrale Rolle bezüglich der Kognition zuweist. Da Chalmers nicht ausgeschlossen hat, dass die Position von Searle (Lowe und einigen anderen) 38 zutrifft, ist seine Behauptung ungerechtfertigt, menschliche Kognition in ihrer Vielfalt lasse sich prinzipiell unabhängig vom bewussten Erleben erklären. (b) Dieselbe Kritik trifft die reduktive Analyse intentionaler Handlungen: Ein Subjekt soll Chalmers zufolge dazu in der Lage sein, selbstbestimmt und aufgrund rationaler Überlegungen (deliberately) Handlungen auszuführen, ohne dass die rationalen Überlegungen als solche dem Handlungssubjekt als seine eigenen bewusst sind. Inwiefern aber können Handlungen, zu denen sich Subjekte selbst bestimmen, dadurch, dass sie sich z. B. Normen oder Zwecke handlungsleitend vorsetzen, als völlig anonym und unbewusst ablaufende Vorkommnisse verstanden werden? Wenn Chalmers rein physiologisch-funktionale Erklärungen willentlicher Handlungen für möglich hält, so muss er zunächst beweisen, dass Handlungen in derart physiologisch beschreibbaren Körperbewegungen aufgehen. Allerdings hat schon Nagel darauf hingewiesen, dass dies problematisch ist: »Es scheint in einer Welt neuronaler Impulse, chemischer Reaktionen und der Bewegungen von Muskeln und Knochen für Handeln keinen Platz mehr zu geben. Selbst wenn wir Empfindungen, Wahrnehmungen und Gefühle hinzufügen, erhalten wir kein Wirken oder Tun – sondern lediglich ein Geschehen.« 39

Über die zielgerichtete, also teleologische Dimension des Handelns hinaus entgeht einer mechanistischen Erklärung auch der Umstand, dass sich Handlungssubjekte in ihren rationalen Überlegungen und Entscheidungen ihrer selbst bewusst sind und in ihrem Handeln Gründe als Motivationen für Handlungen als solche erkennen und anerkennen sowie gegeneinander abwägen können. Diese können schwerlich als völlig unbewusste und selbstvergessene Vorgänge verständlich gemacht werden, insofern eine körperliche Bewegung erst zu einer Handlung wird, indem sie durch Gründe motiviert ist. RaDazu zählen zumindest alle Verteidiger von »phänomenaler Intentionalität« bzw. »kognitiver Phänomenologie« wie z. B. David Pitt: The phenomenology of cognition, or what is it like to think that p? In: Philosophy and phenomenological research 69, 1 (2004), S. 1–36; Angela Mendelovici/David Bourget: Naturalizing intentionality: tracking theories vs. phenomenal intentionality theories. In: Philosophy Compass 9, 5 (2014), S. 325–337; Galen Strawson: Real intentionality. In: Phenomenology and the Cognitive Sciences 3, S. 287–313. 39 Thomas Nagel: Der Blick von Nirgendwo. Frankfurt a. M. 1992, S. 192. 38

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tionale Motivation kann nur einem Teilnehmer am öffentlichen Prozess des Gebens und Nehmens von Gründen unterstellt werden, denn ohne bewusste Anerkennung von Handlungsgründen verwandelte sich das »Diskursgeschehen« in ein bloßes »Naturgeschehen«. 40 D. h. bei dieser kognitiven Fähigkeit ist die Rolle des Bewusstseins nicht zu unterschätzen; sie kann nicht als unbewusste Informationsverarbeitung erklärt werden. Die Frage, ob solche kognitiven Leistungen Bewusstsein erfordern, wird von Chalmers nicht erörtert. Er stellt sich den komplizierten Beziehungen zwischen »ursprünglicher« Intentionalität, wie Searle sie nennt, und Bewusstsein nicht, wie er selbst zugibt, 41 auch wenn dies – anders als er glaubt – erforderlich wäre, wie sich bereits anhand dieser knappen Erörterungen zeigt. (c) Was schließlich vernünftiges Schlussfolgern als kognitive Tätigkeit betrifft, kritisiert Nagel den Anspruch materialistischer Ansätze, die Angabe der neuronalen Mechanismen in einer reduktiven Erklärung durch eine evolutionstheoretische Überlegung bezüglich der Zuverlässigkeit neuronal-kognitiver Mechanismen im Allgemeinen abzusichern. Gemäß dem Materialismus sind die in einer reduktiven Erklärung kognitiver Fähigkeiten anzugebenden neuronalen Mechanismen als Produkt der Evolution anzusehen. Sie bekommen aufgrund ihrer zentralen Stellung für den Menschen eine konkrete Funktion zugewiesen; andernfalls müsste man sie (wie es Chalmers tut) als bloße Epiphänomene betrachten. Das Verstehen auf der Basis von Vernunfteinsicht ist nicht nur, wie oben gezeigt, ein genuin bewusster Vorgang, es kann uns auch »über die Erscheinungen hinausführen«, weil die Vernunft »ganz allgemeine Gültigkeit besitzt anstatt nur lokal begrenzte Nützlichkeit«. 42 Nagel sieht im Hinblick auf die Möglichkeit einer evolutionstheoretischen Absicherung einen wichtigen Unterschied zwischen Vernunftgebrauch und Wahrnehmung: »Im Wahrnehmungsfall kann ich erkennen, dass ich vielleicht falsch liege, aber nach Überlegung bin ich auch dann, wenn ich mich selbst für das Erzeugnis einer natürlichen Auslese im Darwinschen Sinne halte, gleichwohl

Jürgen Habermas: Freiheit und Determinismus. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 52 (2004), S. 875. Vgl. auch Robert Brandom: Making it explicit. Cambridge 1994. 41 Chalmers: The conscious mind, S. 24. 42 Thomas Nagel: Geist und Kosmos. Berlin 2013, S. 120. 40

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berechtigt, dem Zeugnis meiner Sinne im Großen und Ganzen Glauben zu schenken, weil das mit der Hypothese übereinstimmt, dass von den Sinnen, die von der Evolution für diese Funktion gestaltet wurden, eine genaue Darstellung der mich umgebenden Welt geliefert wird. […] Im Gegensatz dazu ist es im Fall des Vernunftgebrauchs, wenn er denn elementar genug ist, einzig möglich zu denken, dass ich die Wahrheit direkt erfasst habe. Ich kann nicht von einer logischen Schlussfolgerung zurücktreten und sie mit der Überlegung absichern, dass die Verlässlichkeit meiner logischen Gedankengänge mit der Hypothese übereinstimmt, dass die Evolution sie wegen ihrer Genauigkeit auserlesen hat. Das würde den logischen Anspruch dramatisch schwächen.« 43

Für den Versuch einer naturalistischen Erklärung der Vernunft und ihres apriorischen Gültigkeitspostulats kann, wie Nagel erklärt, ihre evolutionstheoretische Untermauerung keine Rolle spielen. Insofern kann eine dem Chalmersschen Modell entsprechende reduktive Erklärung dieser kognitiven Funktion der Vernunft durch Angabe entsprechender Mechanismen nicht gelingen. (d) In seiner Diskussion der Beziehungen zwischen Hermeneutik und Kognitionswissenschaft macht Gallagher zudem auf Dreyfus’ grundsätzliche, phänomenologisch motivierte Kritik an reduktionistischen Auffassungen des Verstehens aufmerksam: »Computational models, even if not strictly closed or complete in logical terms, are meant to be strict, precise and predictable. The human cognitive system, however, is not designed to work with strict and definitive categories, but with corrigible schemas and flexible prototypes. This suggests an important difference between human understanding and computational models. Here I can appeal to Hubert Dreyfus’s analysis of what computers can and cannot do […] He argues that computers are quite good in contexts that are well-defined, narrowly circumscribed, and rule-governed. A good example of this is playing the game of chess. In contrast, computers are not very good at solving problems in circumstances that are ill-defined, ambiguous and without clear-cut rules to follow.« 44

Worin liegt Gallagher zufolge der Grund für diese Diskrepanz? »In such activities mechanical association is important but meaning and

Ebd., S. 117 f. Wohlgemerkt teile ich hier nur Nagels Kritik an der Erklärungskraft einer materialistisch-evolutionstheoretischen Theorie; ob seine daraus gezogenen metaphysischen Konsequenzen hinsichtlich einer natürlichen Teleologie gerechtfertigt sind, ist fraglich. 44 Gallagher: Hermeneutics and the cognitive sciences, S. 167. Vgl. Hubert Dreyfus: What Computers still can’t do. Cambridge 1992. 43

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context are irrelevant. Such activities can be handled by decision trees, list searches or templates.« 45 Im Falle mathematischer Aufgaben, die ebenfalls von Computern sehr gut bewältigt werden können, sei es der explizite, kontextunabhängige und invariante Charakter der Bedeutungen, der das Lösen solcher Aufgaben ermögliche. »Computational models, however, are inadequate for cases that involve non-formal everyday activities. Ill-defined games (e. g., riddles), openstructured problems that require insight which is not reducible simply to organizing a quantity of information, translation of natural language, recognition of varied or distorted patterns. In such cases there are implicit meanings that are highly context-dependent. These are cases in which there are no clear-cut rules to follow. Dreyfus appeals to the phenomenological tradition, especially Merleau-Ponty and Heidegger, to define such ambiguous, embodied, pragmatically contextualized situations.« 46

Für Gallagher sind die konventionellen Methoden und Modelle der klassischen Kognitionswissenschaft inadäquat, um solche eindeutigen Fälle erfolgreicher Kognition zu erfassen. Es ist bemerkenswert, dass gerade die kognitiven Aufgaben, die Menschen leicht fallen, äußerst schwer zu formalisieren sind, damit Computer sie ausführen könnten. Insofern weist er darauf hin, dass die Kognitionswissenschaft in diesem Punkt von der hermeneutischen Tradition, insbesondere in ihrer phänomenologischen Ausrichtung, profitieren könne, um realistischere Modelle menschlicher Kognition zu entwickeln, die der Rolle personaler, d. h. bewusster Prozesse Rechnung tragen. »To move away from strict and narrowly conceived computational models to the more dynamic models found in neuroscience is a challenge for the cognitive sciences. But if there are forms of cognition or understanding that belong to a realm that is simply not reducible to a sub-personal, computational level, and that involve personal and interpersonal processes, then new models that incorporate the effects of social interaction are required.« 47

Das von Gadamer formulierte hermeneutische Modell des »Gesprächs« stellt für Gallagher ein passenderes Paradigma dar, insofern es die Bedeutung von »second-person human social interaction« 48 hervorhebe, die seines Erachtens zur Erhellung aller Formen von 45 46 47 48

Ebd., S. 167. Ebd. Ebd., S. 168. Ebd., S. 169.

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Kognition wichtig ist, sich aber aufgrund ihrer schlecht prognostizierbaren und in höchstem Maße situierten Dynamik nicht auf subpersonale Berechnungen von abstrakten Informationszuständen reduzieren lässt. Diese Erörterungen der begrifflichen und phänomenfernen Trennung von Kognition und Bewusstsein, die zu reduktiven, aber letztlich inadäquaten Erklärungen kognitiver Fähigkeiten berechtigen soll, sowie der grundsätzlichen Beschränkungen der Leistungsfähigkeit von Computern, haben schwerwiegende Konsequenzen für weitere Argumente und Diskussionen in der Philosophie des Geistes, die von Chalmers angestoßen wurden: zum einen die Debatte über erweiterte Kognition (Abschnitt 4), zum anderen die Debatte über die Möglichkeit von (philosophischen) Zombies (Abschnitt 3).

3.

Zur Kohärenz des Begriffs eines philosophischen Zombies

Auf der Basis dieser Trennung von Kognition und Bewusstsein und vor dem Hintergrund einer bestimmten Auffassung darüber, beansprucht Chalmers nun, den Materialismus widerlegen zu können. Aufgrund der Erklärungslücke zwischen physikalischen Vorgängen und dem subjektiven bewussten Erleben folgert Chalmers eine Erkenntnis über die Existenzweise des Bewusstseins als nicht-physischer, irreduzibler Eigenschaft. Dazu hält er es für ausreichend, sich ein Wesen, einen ›Zombie‹, widerspruchsfrei zu denken, der zwar in physikalisch-funktionaler (und damit auch kognitiver) Hinsicht, und zwar ›Molekül-für-Molekül‹, mit einem normalen Menschen identisch ist, aber im Gegensatz zu diesem keinerlei bewusste Erlebnisse habe: »So let us consider my zombie twin. This creature is molecule for molecule identical to me, and identical in all the low-level properties postulated by a completed physics, but he lacks conscious experience entirely. […] To fix ideas, we can imagine that right now I am gazing out the window, experiencing some nice green sensations from seeing the trees outside, having pleasant taste experiences through munching on a chocolate bar, and feeling a dull sensation in my right shoulder. What is going on in my zombie twin? He is physically identical to me, and we may as well suppose that he is embedded in an identical environment. He will certainly be identical to me functionally: he will be processing the same sort of information, reacting in

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a similar way to inputs, with his internal configurations being modified appropriately and with indistinguishable behaviour resulting. He will be psychologically identical to me […]. He will be perceiving the trees outside, in the functional sense, and tasting the chocolate, in the psychological sense. […] It is just that none of this functioning will be accompanied by any real conscious experience. There will be no phenomenal feel. There is nothing it is like to be a zombie.« 49

Für einen Zombie ist es nicht irgendwie, etwas wahrzunehmen oder zu empfinden – um Nagels Formel zu gebrauchen –, 50 denn er verfügt über keinerlei Selbstvertrautheit mit sich, die seinen Gedanken, Urteilen, Handlungen usw. anhaften könnte und ein spezifisches subjektives Gefühl des ›Von-mir-seins‹ gestattete. Aber wie Chalmers ausdrücklich erklärt, soll der Zombie gleichwohl zu allen sogenannten psychologischen, d. h. kognitiven Funktionen imstande sein, die den ›leichten‹ Problemen der Philosophie des Geistes entsprechen. Es soll also widerspruchsfrei denkbar sein, dass der Zombie u. a. über denselben introspektiven Zugang zu ›seinen‹ mentalen Zuständen verfügt wie wir, dass er daraufhin dieselben sprachlichen Urteile über sein angeblich so reichhaltiges, aber nicht vorhandenes, bewusstes Qualia-Erleben fällt wie wir, und dass er sich auch exakt so verhält wie wir, d. h. auch intentionale zweckgeleitete, rational überlegte Handlungen ausführt, ohne dass er bewusste Erlebnisse hat, ohne dass diese ihm als seine eigenen bewusst sind und ohne dass er sich in alldem seiner selbst bewusst ist. Zombies seien zwar nicht nomologisch möglich, d. h. empirisch in unserer Welt unmöglich, so Chalmers, da sich bewusstes Erleben de facto gemäß unseren Naturgesetzen aus bestimmten Gehirnzuständen ergebe. Aber entscheidend sei, dass der Materialismus bereits durch die logisch widerspruchsfreie Denkbarkeit eines Zombies widerlegt sei. Dies beweise, dass phänomenales Bewusstsein nicht nur nicht funktionalistisch oder physikalistisch erklärbar sei, sondern dass es als völlig andersartige, grundlegende, irreduzible Eigenschaft ontologisch unabhängig von allen physischen Eigenschaften existiere: »The dualism implied here is […] a kind of property dualism: conscious experience involves properties of an individual that are not entailed by the physical properties of that individual, although they may depend lawfully on those properties. Consciousness is a feature of the world over and above 49 50

Chalmers: The conscious mind, S. 94 f. Nagel: What is it like to be a bat?

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the physical features of the world. This is not to say it is a separate ›substance‹ […] All we know is that there are properties of individuals in this world – the phenomenal properties – that are ontologically independent of physical properties.« 51

Materialisten gestehen Chalmers in der Regel zu, dass Zombies in der Weise, wie er sie definiert, logisch widerspruchsfrei denkbar seien. Sie bestehen aber darauf, dass daraus nicht auf einen ontologischen Eigenschaftsdualismus geschlossen werden könne, da Chalmers eine sehr starke Voraussetzung macht, wenn er behauptet, dass das, was logisch widerspruchsfrei denkbar ist, ohne weiteres auch tatsächlich bzw. metaphysisch möglich sei. Dies wird von Materialisten in der Regel bestritten. Von der nomologischen und logischen Möglichkeit müsse noch die metaphysische Möglichkeit als dritte Größe unterschieden werden. Wenn Chalmers darauf besteht, dass die beiden letzteren Mengen von Möglichkeiten zusammenfallen, so heißt das, dass wir allein daraus, wie wir über die Welt denken – durch Reflexion auf unsere Begriffe –, ermitteln können, wie die Welt wirklich beschaffen ist – aber dann diese Beschaffenheit unabhängig davon ist, dass wir sie uns so denken. Zugleich besagt sein Eigenschaftsdualismus, dass es in der Welt wirklich zwei Klassen von Eigenschaften gibt, physische und phänomenale, deren Existenz dann nicht davon abhängen kann, was wir uns widerspruchsfrei denken können. Dann aber kann das, was wir uns logisch widerspruchsfrei denken können, kaum dafür entscheidend sein, wie die Welt wirklich beschaffen ist, wie Staudacher in seiner Kritik an Chalmers hervorhebt. 52 Materialisten betonen gegen Chalmers’ Folgerung, dass der Materialismus keine apriorische These formuliere. Vielmehr besage diese Position, dass es sich empirisch herausstellen könnte, dass Bewusstsein mit einem bestimmten Gehirnzustand identisch sei – analog zur empirischen Entdeckung, dass Wasser H2O ist. Daher könne die widerspruchsfreie Denkbarkeit des Zombies (die sich aus der Erklärungslücke ergebe) im Nachhinein durch empirische Evidenz (der Gehirnforschung) »übertrumpft« werden, wie es Hofmann in seiner Erwiderung auf Chalmers’ Argumentation ausdrückt. 53 ZomChalmers: The conscious mind, S. 125. Alexander Staudacher: Phänomenales Bewußtsein als Problem für den Materialismus. Berlin/New York 2002. 53 Frank Hofmann: Kripkes und Chalmers’ Argumente gegen den Materialismus. In: Philosophia naturalis 40 (2003), S. 55–81. 51 52

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bies seien also nur vermeintlich, d. h. relativ zu unserem jetzigen Kenntnisstand, widerspruchsfrei denkbar. Ob sich schließlich die Identität des Bewusstseins mit bestimmten Gehirnvorgängen herausstellen wird, wie der Materialist in Aussicht stellt, ist dann eine weitere Frage. 54 Wenn nun darüber entschieden werden soll, ob ein Zombie, so wie Chalmers ihn charakterisiert, logisch widerspruchsfrei denkbar ist, dann muss die von Chalmers zugrunde gelegte funktionalistische Charakterisierung kognitiver Fähigkeiten vorausgesetzt und berücksichtigt werden. Ob der reduktionistische Funktionalismus jedoch unser Denken und Handeln überzeugend erklären kann, ist fraglich. Man kann einwenden, dass dem Zombie die kognitiven Fähigkeiten nicht zukommen werden, wenn man ihm – wie Chalmers – bewusstes Erleben völlig abspricht, wenn jene nicht völlig unbewusst und anonym, d. h. selbstlos vollzogen und somit der Informationsverarbeitung einer Maschine angeglichen werden können. Weder die komplexen Gedanken des Zombies über seine (nicht vorhandenen bewussten) Erlebnisse noch deren sprachliche Äußerung in Berichten oder Sprechakten sind gänzlich unbewusst möglich. Dann aber kann der Zombie mangels phänomenalen Bewusstseins auch nicht zu den geistigen Leistungen fähig sein, die Chalmers ihm zuschreibt. Ist er aber zu all jenen geistigen Leistungen in derselben Weise wie wir in der Lage, so ist er mit uns auch phänomenal identisch, d. h. dann kommt ihm auch phänomenales Bewusstsein zu.

4.

Erweiterte Kognition, erweitertes Bewusstsein?

Zusammen mit Andy Clark vertritt Chalmers die Auffassung, dass kognitive Fähigkeiten zwar primär – wie der Funktionalismus fordert – durch Gehirnvorgänge realisiert sind, sich aber über das Gehirn hinaus in den Körper und in die Umgebung, Werkzeuge im Besonderen, erstrecken können. 55 Sie sind beide aber der Ansicht, dass das Bewusstsein auf Gehirnvorgänge angewiesen bleibt. Externe Prozesse sind demzufolge nicht angemessen, um Bewusstsein zu realisieren; aus kontingenten Gründen sind nur Gehirnvorgänge dazu in der Vgl. die ausführliche Auseinandersetzung mit Chalmers’ Argumentation bei Bettina Walde: Metaphysik des Bewusstseins. Paderborn 2002. 55 Clark/Chalmers: The Extended Mind. 54

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Kognition und Bewusstsein

Lage, die hohe Verarbeitungsgeschwindigkeit zur Verfügung zu stellen, die für Bewusstsein erforderlich ist. 56 Diese These, dass sich kognitive Prozesse unter bestimmten Bedingungen in die Umwelt erstrecken können, wird auch als These des erweiterten Geistes bezeichnet. Sie wird in unterschiedlich starken Varianten vertreten. Das von Clark und Chalmers angeführte Argument für diese Position basiert auf der multiplen Realisierbarkeit geistiger Funktionen. Über die von Putnam 57 angeführten Argumente zur mehrfachen Realisierbarkeit geistiger Funktionen hinausgehend schlagen Clark und Chalmers eine doppelte Flexibilität vor: Nicht nur sollte es für eine kognitive Funktion unerheblich sein, was sie realisiert (ein Gehirnvorgang oder ein Computerchip etwa); es sollte auch zweitrangig sein, wo der realisierende Mechanismus sich befindet, im Gehirn oder außerhalb des Gehirns oder gar des Körpers eines Lebewesens. Wheeler hält dies gar für eine zwangsläufige Konsequenz des Funktionalismus: »Fundamentally, the functionalist holds that what makes a systemic state a mental state is the set of causal relations that it bears to systemic inputs, systemic outputs, and other systemic states […] Once we give this more general characterization of the functionalist line, we can allow the borders of the cognitive system to fall somewhere other than the sensorimotor interface of the organic body. And that opens the door to a cognitive system whose boundaries are located partly outside the skin.« 58

In einem vieldiskutierten Beispiel von Clark und Chalmers möchten Otto und Inga sich im Museum treffen. 59 Während aber Inga sich einfach mit Hilfe ihres funktionierenden biologisch realisierten Gedächtnisses die Adresse gemerkt hat, leidet Otto an Alzheimer und kann sich derartige Informationen nicht merken. Daher trägt er stets ein Notizbuch bei sich, in das er alle wichtigen Informationen einträgt, u. a. die Adresse des Museums. Clark und Chalmers argumentieren nun, dass Ottos Blick in sein Notizbuch zu Ingas »Zugriff« auf ihre im Gedächtnis gespeicherte Information äquivalent sei. Aufgrund der Identität der Funktion, die Notizbuch und Gedächtnis ausVgl. Chalmers: Foreword to Andy Clark’s Supersizing the Mind, S. XV. Vgl. Hilary Putnam: Die Natur mentaler Zustände (1967). In: Peter Bieri (Hg.): Analytische Philosophie des Geistes. Königstein/Ts. 1981, S. 123–135. 58 Michael Wheeler: In defense of extended functionalism. In: Richard Menary (Hg.): The Extended Mind. London 2010, S. 249. 59 Clark/Chalmers: The Extended Mind. 56 57

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üben, wäre es chauvinistisch und willkürlich, zwar Ingas Gedächtnis, aber nicht Ottos Notizbuch als konstitutiven Teil des jeweiligen kognitiven Prozesses des Erinnerns anzusehen. Clark und Chalmers vertreten daher einen »aktiven Externalismus« bezüglich der Kognition, da das Notizbuch »Überzeugungen« von Otto enthält, die für ihn handlungsentscheidend sind. Das kann man leicht daran erkennen, dass Otto aufgrund einer Fehlinformation im Notizbuch auch zur falschen Adresse gehen würde. Das Notizbuch betrachten sie als konstitutiven Bestandteil der kognitiven »Schleife«, die sich vom Gehirn aus hinaus in die Umwelt erstreckt. Allerdings gilt das nur für solche Werkzeuge, die bestimmte weitere Bedingungen erfüllen: sie müssen z. B. zuverlässig verfügbar sein, regelmäßig konsultiert werden, usw. D. h. es ist eine angemessene »Kopplung« von kognitivem Subjekt und Werkzeug erforderlich oder auch zwischen zwei kognitiven Subjekten beim Lösen einer gemeinsamen kognitiven Aufgabe, damit man von erweiterter Kognition zu sprechen berechtigt ist. Die angemessene Kopplung führt dann dazu, dass man Subjekt/Werkzeug bzw. Subjekt/Subjekt bezüglich der speziellen kognitiven Aufgabe jeweils als unauflösliches Gesamtsystem ansehen muss. Nur dieses Gesamtsystem bringt erst die kognitive Tätigkeit zustande. Unten wird dieser Begriff der Kopplung eingehender diskutiert. Andere Philosophen gehen noch über diese Position von Clark und Chalmers hinaus und verteidigen die These des erweiterten Geistes sowohl bezüglich der Kognition als auch bezüglich des Bewusstseins. Noë bringt diese radikale Position aus der Perspektive des Enaktivismus folgendermaßen auf den Punkt: »Die Grundthese meines Buches ist, dass wir zur Erklärung des Bewusstseins – also der Tatsache, dass wir denken, fühlen und sich uns eine Welt zeigt – ein größeres System untersuchen müssen, von dem das Gehirn lediglich ein Teil ist. Das Bewusstsein ist nicht etwas, das unser Gehirn allein hervorbringt, sondern es erfordert die Zusammenarbeit von Gehirn, Körper und Welt. Es wird von einem ganzheitlichen Lebewesen im Kontext seiner Umwelt hervorgebracht. […] Gehirne haben keinen Geist, Menschen (und Tiere) hingegen schon.« 60

Alva Noë: Du bist nicht dein Gehirn. München 2009, S. 25. Vgl. auch John K. O’Regan/Alva Noë: A sensorimotor account of vision and visual awareness. In: Behavioral and Brain Sciences 24 (2001), S. 939–1031; Evan Thompson, Diego Cosmelli: Brain in a Vat or Body in a World? Brainbound versus Enactive Views of Experience. In: Philosophical Topics 39 (2011), S. 163–180.

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Kognition und Bewusstsein

Noë lehnt daher auch die Rede von neuronalen Korrelaten des Bewusstseins (also hinreichenden Bedingungen des Bewusstseins im Gehirn) ab, weil er der Meinung ist, dass ein dem Bewusstsein zugrundeliegender Gehirnvorgang nur ein wichtiger Bestandteil eines größeren Mechanismus ist, der über das Gehirn hinaus auch den Körper und bestimmte Faktoren der Umgebung einschließt und eine dynamische Beziehung zwischen diesen Elementen erst Bewusstsein und Kognition ermöglicht. Dem Enaktivismus zufolge gibt es keine bewussten Gehirnzustände, da das Gehirn keine hinreichende Basis für Bewusstsein darstellt, welches vielmehr unter Berücksichtigung der Dynamik und erfolgreichen Kopplung von Gehirn, Körper und Umgebung als Aktivität aufgefasst und erklärt werden müsse. Insofern alle geistigen Leistungen dieser Auffassung zufolge verkörperte Aktivitäten darstellen, die somit auch eingebettet in eine konkrete Umgebung und Situation erfolgen, halten Noë und seine Anhänger den von Chalmers anvisierten reduktiv-funktionalistischen Ansatz bezüglich der Kognition, also eine reduktive Erklärung durch die Angabe neuronaler oder computationaler Mechanismen, für unzulänglich, da hierin die Rolle des Körpers und der Umwelt ausgeblendet werde. Eine dritte Gruppe von Philosophen weist in dieser Debatte schlechthin die Ansicht zurück, Kognition und/oder Bewusstsein sei [en] in irgendeiner Weise in die Umgebung hinein erweitert. Vielmehr befänden sich die Grundlagen kognitiver und bewusster Prozesse lediglich im Gehirn. Adams und Aizawa werfen den Vertretern der These des erweiterten Geistes eine Verwechslung zwischen kausalen und konstitutiven Faktoren der Kognition vor. 61 Sie akzeptieren die These, dass in vielen Fällen Subjekt und Werkzeug oder andere Dinge in der Umgebung auf intime und besondere Weise miteinander gekoppelt sind, verstehen diese Kopplung aber als kausale Interaktion, die von Seiten des Subjekts gesteuert wird. Ansonsten bestünde die Gefahr einer unberechtigten kognitiven Aufladung der Umwelt, wenn etwa im Extremfall die Sonne als Teil meines Wahrnehmungsvorgangs angesehen würde, allein weil sie mir durch ihr Sonnenlicht zu besserem Sehen verhilft. Adams und Aizawa führen in ihrer Kritik ein Merkmal des Kognitiven an, nämlich dass Kognition »mit bestimmten Prozessarten verbunden [sei], die ihrerseits mit nichtabgeleiteten Repräsentatio61

Adams/Aizawa: Die Grenzen der Kognition.

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nen verbunden sind«. 62 Sie geben also zwei prinzipielle Gründe dafür an, warum die These von Clark und Chalmers problematisch ist. Erstens berufen sie sich auf die bereits oben im zweiten Abschnitt erläuterte Unterscheidung zwischen ursprünglicher und abgeleiteter Intentionalität. Nur kognitive Prozesse haben nichtabgeleiteten Gehalt; ihre Repräsentationsfähigkeit leitet sich nicht von Konventionen oder sozialen Praktiken ab, sie liegen diesen vielmehr zugrunde. Adams und Aizawa halten es zwar für logisch möglich, dass kognitive Prozesse auch mit abgeleitetem Gehalt assoziiert sein könnten, es sei aber »eine wahre empirische Verallgemeinerung«, 63 dass es aufgrund des nichtabgeleiteten Gehalts Kognition außerhalb des Gehirns nicht gebe. Zweitens berufen sich Adams und Aizawa auf das Ziel der Kognitionswissenschaft, die kausalen Prozesse und Mechanismen hinter den kognitiven Phänomenen zu bestimmen und vertreten die These, dass es einfach eine kontingente Tatsache sei, dass allein Gehirnvorgänge in der Lage seien, solche kognitiven Phänomene hervorzubringen. Bezogen auf die Analogie von menschlicher Kognition und Symbolverarbeitung in Computern erklären sie: »Der Punkt ist nicht einfach der, dass von Computern und von Menschen ausgeführte Prozesse verschieden sind; er besteht darin, dass die Unterschiede zwischen diesen Prozessen, wenn sie detailliert untersucht werden, so groß sind, dass sie nicht als Prozesse betrachtet werden können, die eine kognitive Art bilden. Die Prozesse, die in gegenwärtigen Schachcomputern vonstatten gehen, gehören nicht derselben Art an wie die des menschlichen Schachspiels.« 64

Wenn diese Prozesse, deren Heterogenität auch von Clark und Chalmers nicht bestritten, jedoch heruntergespielt wird, keine natürliche Art bilden, wird die Kognitionswissenschaft auch keine sie betreffenden kausalen Gesetzmäßigkeiten aufdecken können. Insofern ist die Kritik von Adams und Aizawa an der These des erweiterten Geistes analog zur obigen Kritik an Chalmers’ Kognitionsbegriff. Warum sollte man bezüglich kognitiver Prozesse und dem Bewusstsein nicht in derselben Weise urteilen und entweder beide als gehirnbasiert oder beide als erweitert betrachten? Interessanterweise wenden Clark und Chalmers zur Verteidigung ihrer Mittelposition eine entsprechende Kritik gegen die Vertreter der These, dass sowohl 62 63 64

Ebd., S. 241. Ebd., S. 237. Ebd., S. 241.

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Kognition und Bewusstsein

Kognition als auch Bewusstsein erweitert seien. Sie berufen sich dabei freilich auf die saubere Trennbarkeit von Kognition und Bewusstsein, wie sie oben diskutiert wurde und versuchen zu beweisen, dass »nothing in the arguments for EM (die These der erweiterten Kognition) should incline us to accept ECM (die These des erweiterten Bewusstseins)«. 65 Sie berufen sich dabei auf ein Merkmal des Bewusstseins (analog zum Merkmal des Kognitiven, das Adams und Aizawa gegen sie selbst vorgebracht haben). Und zwar handelt es sich hier um eine Anforderung an die bewusste Verarbeitung von Informationen und den bewussten Zugriff auf solche. Chalmers schreibt: »I think it is unlikely that any everyday process akin to Otto’s interaction with his notebook will yield extended consciousness, at least in our world. Perhaps part of the reason is that the physical basis of consciousness requires direct access to information on an extremely high bandwidth. Perhaps some future extended system, with high-bandwidth sensitivity to environmental information, might be able to do the job. But our low-bandwidth conscious connection to the environment seems to have the wrong form as it stands.« 66

Clark schließt sich dieser Vermutung von Chalmers de facto an. So entsteht die paradoxe Situation, dass Clark und Chalmers zwar das von Adams und Aizawa vorgeschlagene Merkmal des Kognitiven zurückweisen, sich selbst aber auf ein analoges Merkmal des Bewusstseins beziehen, um nicht aus der These der erweiterten Kognition folgerichtig die These des erweiterten Bewusstseins schließen zu müssen. Konsequenter wäre es, wie Karina Vold aufzeigt, für Kognition und Bewusstsein mangels einer prinzipiellen Trennbarkeit in demselben Sinne zu entscheiden, also entweder zu behaupten, beide seien erweiterbar oder weder Kognition noch Bewusstsein seien erweiterbar. 67 Vold argumentiert dafür, dass sowohl Kognition als auch Bewusstsein sich über das Gehirn hinaus in die Umwelt erstrecken könnten. Diese Alternative halte ich aus den von Clark angeführten Gründen allerdings für unbegründet und wenig plausibel. 68 Wenn also aufgrund der Schwierigkeit einer Trennung von Kognition und Andy Clark: Spreading the Joy? Why the Machinery of Consciousness is (Probably) still in the Head. In: Mind 118, 472 (2009), S. 968. 66 Chalmers: Foreword to Andy Clark’s Supersizing the Mind, S. XIV ff. 67 Vgl. Karina Vold: The parity argument for extended consciousness. In: Journal of consciousness studies 22, 3/4 (2015), S. 16–33. 68 Vgl. Clark: Spreading the Joy? 65

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Bewusstsein über beide in derselben Weise geurteilt werden muss, so ist die traditionelle Position von Adams und Aizawa eher plausibel, dass nämlich kognitive und bewusste Vorgänge kontingenter Weise auf Gehirnvorgängen beruhen, ohne dass wir (bisher) anzugeben in der Lage sind, aufgrund welcher Mechanismen genau dem so ist und wie es kommt, dass physikalische Vorgänge subjektives Erleben generieren. 69 Abschließend möchte ich noch auf den Begriff der Kopplung eingehen, der in der Debatte über die Verkörperung und Erweiterung der Kognition von zentraler Bedeutung ist. Wie schon erwähnt, kann laut Clark und Chalmers ein externes Hilfsmittel nur dann als Bestandteil eines kognitiven Prozesses gelten, wenn beide in angemessener Weise zuverlässig und regelmäßig aneinander gekoppelt sind. Der Begriff der Kopplung steht im Mittelpunkt der enaktivistischen Kognitionswissenschaft, die den verkörperten und situierten Charakter geistiger Fähigkeiten hervorhebt; allerdings ist er meist theoretisch unterbestimmt. Die Frage, ob ein Werkzeug (z. B. ein Smartphone oder ein Blindenstock) als kognitive Erweiterung gilt, stellt sich erst angesichts einer erfolgreichen nichtzufälligen Kopplung zwischen kognitivem Akteur und Werkzeug. Hieraus ergibt sich ein weiteres Problem für die von Chalmers vorgeschlagene Trennung von Kognition und Bewusstsein, da eine solche Kopplung nur bewusst vom Akteur herbeigeführt werden kann; sie kann nicht als Resultat eines selbstvergessenen, völlig unbewussten Prozesses aufgefasst werden. Ein Werkzeug oder auch eine andere Person muss bewusst im Dienste einer bestimmten (gemeinsamen) Aufgabe konsultiert werden; die Kopplung zwischen Akteur und Smartphone oder Blindenstock stellt sich genauso wenig von selbst ein wie die Kopplung zweier kognitiver Akteure. Insofern genießen die beiden Elemente der Kopplungsrelation im Falle von Akteur und Werkzeug auch nicht denselben Status, da die Beziehung einseitig bewusst etabliert wird. Insofern allerdings diese bewusste Kopplung immer am Beginn eines kognitiven Prozesses steht, für den sich die Frage der Erweiterung stellt, ist es schwierig, die Position zu vertreten, dass zwar der kognitive Prozess, nicht aber das bewusste Element, sich in die Umwelt erstreckt, da ja ohne Bewusstsein der kognitive Prozess nicht stattfinden würde. Eine Abtrennung des bewussten Elements scheint äußerst artifiziell. Im Hinblick auf die Frage nach den Vehikeln kognitiver Prozesse genießen 69

Levine: Purple Haze.

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Kognition und Bewusstsein

Gehirnvorgänge im Gegensatz zu externen Hilfsmitteln den Vorteil, dass pathologische und neurokognitive Untersuchungen die klare Abhängigkeit (oder auch Supervenienz) der kognitiven Phänomene von funktionierenden Gehirnvorgängen nahelegen und ohne solche Gehirnvorgänge auch die Verwendung von und Kopplung mit Werkzeugen unmöglich wird, während die kognitive Bewältigung von Aufgaben notfalls auch ohne die vermeintlichen kognitiven Erweiterungen, allein mithilfe des Gehirns, möglich ist.

5.

Schluss

Verstehen eines Sachzusammenhangs, einer Sprache oder der Absichten anderer Personen bzw. deren geistiger Zustände im Allgemeinen ist ein kognitiver Vorgang par excellence. In der Kognitionswissenschaft nähern sich zahlreiche Disziplinen diesem Phänomen aus unterschiedlichen Perspektiven. Dabei besteht die Aufgabe der Philosophie vornehmlich in der begrifflichen Klärung und Unterscheidung der Phänomene sowie der Reflexion empirischer Entdeckungen und deren Integration in die Theoriebildung. In diesem Beitrag wurde die sehr einflussreiche Unterscheidung von Kognition und Bewusstsein untersucht, wie sie insbesondere von David Chalmers vorgeschlagen wurde, aber mittlerweile weitgehend als Konsens in der Kognitionswissenschaft und Philosophie des Geistes akzeptiert wird. In ihrer Absicht, eine Naturwissenschaft des Denkens zu etablieren, konstatieren Kognitionswissenschaft und Philosophie des Geistes eine Erklärungslücke zwischen objektiv messbaren Vorgängen in der Natur, speziell Gehirnvorgängen, und dem subjektiven Erleben des Bewusstseins. Ob dieses explanatorische Defizit des Physikalismus ein prinzipielles Problem darstellt oder eine Frage des Forschungsstandes ist, wird kontrovers diskutiert. Gemäß der von Chalmers etablierten Trennung von Kognition und Bewusstsein stellen uns kognitive Fähigkeiten – im Gegensatz zum Bewusstsein – nur vor vermeintlich leichte Probleme. Verstehen wird dann zu einer unbewussten Funktion des Gehirns, die auch prinzipiell von einem künstlichen System ausgeführt werden kann. Im Gegensatz dazu konzipiert die hermeneutisch-phänomenologische Tradition kognitive Fähigkeiten wie Verstehen als genuin bewusste bzw. von bewusstseinsfähigen Wesen ausgeführte mentale Leistungen. Wenn die Argumente in diesem Beitrag überzeugen, so 179 https://doi.org/10.5771/9783495817650 .

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führt die strikte Loslösung der Kognition von der Bewusstseinsfähigkeit, wie Chalmers sie vornimmt, zu verarmten Phänomenbeschreibungen und reduktiven Erklärungsversuchen ohne berechtigte Erfolgsaussichten. Die reduktive Erklärung durch neuronale und computationale Mechanismen muss die semantische und subjektivphänomenologische Dimension des Verstehens ignorieren. Insofern diese aber nicht erfasst wird, scheitert auch der reduktive Erklärungsversuch. Wenn es zutrifft, dass bewusste Subjektivität keine kontingente Eigenschaft kognitiver Prozesse ist, dann gibt es aufgrund der intimen Beziehung von Kognition und Bewusstsein die von Chalmers so genannten leichten Probleme der Philosophie des Geistes nicht; die Aussicht auf eine reduktive Erklärung kognitiver Fähigkeiten steht und fällt mit dem Erfolg einer reduktiven Erklärung des Bewusstseins. In dieser problematischen Trennung von Kognition und Bewusstsein gründen wie gesehen zudem Chalmers’ Argumentation gegen den Physikalismus aufgrund der vermeintlichen Möglichkeit von Zombies sowie seine These, dass zwar kognitive Fähigkeiten, aber nicht das Bewusstsein, erweitert sein könnten. Diese Argumentationen stehen in Frage in genau dem Maße, in dem auch die Trennung von Kognition und Bewusstsein in Frage steht. Aus der logischen Denkbarkeit philosophischer Zombies folgt keineswegs deren reale Möglichkeit; und bezogen auf eine mögliche Erweiterung der Kognition müsste bezüglich des Bewusstseins in derselben Weise geurteilt werden; da aber die Argumente für eine Erweiterung des Bewusstseins nicht überzeugen, wie Clark gezeigt hat, scheinen damit auch die Argumente für eine Erweiterung der Kognition an Überzeugungskraft einzubüßen. 70

Die Arbeit an diesem Beitrag wurde großzügig gefördert durch die VolkswagenStiftung.

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Begriffenes Verstehen? Deleuzes Schnitt durch das Chaos Selin Gerlek

»Wir wollen doch nichts anderes als ein wenig Ordnung, um uns vor dem Chaos zu schützen. Nichts ist schmerzvoller, furchteinflößender als ein sich selbst entgleitendes Denken, als fliehende Gedanken, die, kaum in Ansätzen entworfen, schon wieder verschwinden. […] Wir verlieren fortwährend unsere Gedanken.« (Gilles Deleuze/Felix Guattari: Was ist Philosophie) 1

Gilles Deleuze gilt als ein problematischer Philosoph, der sich dem Verstehen insofern zu entziehen scheint, als er Begriffe präsentiert, die für sich stehend keinerlei Auskunft über deren Sinn zu geben vermögen (prominente Beispiele wären der organlose Körper, das Rhizom, der glatte sowie der gekerbte Raum oder auch die Univozität); frappierend, dass Deleuze jedoch gerade das Bilden von Begriffen als die eigentliche Aufgabe der Philosophie entdeckt. »Begriffenes Verstehen« kann so zuallererst als das Verstehen entlang von Begriffen ausgelegt werden. Nach Deleuze ist dies jedoch lediglich eine Marginalie des Denkens. Es wird zu zeigen sein, dass Deleuze soweit gehen wird, dass man vom Verstehen als Akt allein gar nicht mehr sprechen kann. »Verstehen« zeigt sich vielmehr als unglücklich gewählter Begriff, deren genauere Bezeichnung »verstanden« – in infinitivischer Form gedacht! – zu sein hätte. Kurz gesagt: Deleuze geht von einem Philosophieverständnis aus, in welchem der Verstehensprozess stets nur nachträglich und in Form von geschöpften Begriffen gesehen werden kann. Es geht um ein aus Begriffen sich nährendes Verstehen resp. Verstanden-haben, das im Zentrum einer Umwertung des Denkens steht. Um den Hergang und die Reichweite einer solchen Auffassung Gilles Deleuze/Felix Guattari: Was ist Philosophie? Frankfurt a. M. 1996, S. 238, im Folgenden: WhP.

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transparent zu machen, muss freilich der deleuzesche Denkweg nachgedacht, nachvollzogen werden. Nicht zuletzt durch den Parcours durch dessen Philosophie wird die konstatierte Notwendigkeit deutlich, sich von einer intuitiv richtig scheinenden Idee des Verstehens endgültig zu verabschieden.

1.

Deleuzes Denkweg

Bereits mit der Publikation von Differenz und Wiederholung (1968) 2 – einem Zeugnis seines frühesten Philosophierens – wendet sich Gilles Deleuze gegen ein bestimmtes Selbst- und Weltverständnis, das auf einer ebenso bestimmten Orientierung des Denkens beruht. Entsprechend bekämpft wird dieses ›klassische Bild des Denkens‹ bis in die späten Schriften hinein. Gemeint ist dabei das Denken unter der Voraussetzung eines Sensus communis bzw. nach der Logik der Repräsentation, welches Deleuze bis auf Platon zurückführt und unter anderem dafür verantwortlich macht, dass die Philosophie von einem ›Ich denke‹ ausgeht, ohne dabei dem Denken, das sich gerade nicht in diesem Ich-Bewusstsein erschöpft, Rechnung zu tragen. Die Bedingungen, unter denen gedacht und somit auch philosophiert wird, sind, so Deleuze, jedoch gerade vor-philosophisch und verweisen zugleich auf ein Außen, aus welchem das Denken seine Orientierung gewinnt. Wessen eine so ausgerichtete Philosophie in letzter Konsequenz und in betonter Abgrenzung von repräsentationslogisch ausgerichteten Philosophien daher zur Grundsicherung ihres Unternehmens bedarf, ist einerseits das Zurückweisen jeder Ursprungsphilosophie und andererseits die Konstitution einer Immanenzebene des Denkens, die die vor-philosophischen Bedingungen in ihrer Bedeutung für das Denken im-, sowie expliziert. Im Fall von Deleuze zeigt sich diese Explikation als das Konstatieren eines ›transzendentalen Feldes‹, ›Chaos´‹, ›Unbewussten‹, ›Ungrunds‹ bzw. einer ›Virtualität‹, das bzw. die sonach keine Transzendenzphilosophie einführt, sondern gegenteilig die Immanenzebene des Denkens sinnfällig macht. Mit dieser Öffnung für das transzendentale Feld, aus dem das Denken schöpft, gelingt es zuletzt, das Sinnliche unter Bezug auf zeitliche Größen zu denken. Alle Zitate aus: Gilles Deleuze: Differenz und Wiederholung. Übers. v. Joseph Vogl. München 1992. werden in folgender Weise im Fließtext nachgewiesen: (DW, Seite).

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Zu diesem Zweck widmet Deleuze sein frühes philosophisches Werk, das er selbst mit Differenz und Wiederholung und Logik des Sinns 3 (1969) markiert, der »Beschreibung [dieser] bestimmten Ausübung des Denkens«, 4 die statt das Einheitliche in den Erscheinungen zu beschreiben, jede Erscheinung zuallererst als Zeugnis bzw. ›Effekt‹ zeitlich wirkender Kräfte versteht. Diese Ausrichtung des Denkens – in Differenz und Wiederholung zeigt sie sich als das ›Denken der Differenz(-ierungsprozesse)‹, die mit Logik des Sinns einem ›Denken des Ereignisses‹ weicht –, mündet schließlich mit der durch die Zusammenarbeit mit Félix Guattari eingeleiteten Werkphase in ein Denken, das sich ganz dem Werden zuwendet: Mit der in Tausend Plateaus (1980) 5 versuchten ›Theorie der Mannigfaltigkeiten‹ geht es nunmehr um ›Arten des Werdens‹, die jegliche Beziehung zwischen ›Mensch‹ und ›Welt‹ bestimmen.

1.1 Differenz In seiner ›Thèse principale‹ Differenz und Wiederholung (1968) – dem systematischen neben dem philosophiehistorischen Teil der Habilitation – bezeichnet Deleuze die ›Umkehrung des Platonismus‹ als ›die Aufgabe der modernen Philosophie‹ (vgl. DW, 87). Zusammengenommen mit seiner Bilanz des modernen Denkens, dass nämlich dieses »dem Scheitern der Repräsentation wie dem Verlust der Identität und der Entdeckung all der Kräfte, die unter der Repräsentation des Identischen wirken« (DW, 11), entspringt, wird in dieser Schrift der Grundstein der deleuzeschen Philosophie gelegt. Differenz und Wiederholung unternimmt in einer großangelegten Kritik an der Repräsentationslogik eine systematische Infragestellung des ›klassischen Bilds des Denkens‹ : Einem »naturwüchsigen Denken[], das zum Wahren fähig und geneigt [sei], und zwar unter dem doppelten Aspekt eines guten Willens des Denkenden und einer rechten Natur

Alle Zitate aus: Gilles Deleuze: Logik des Sinns. A. d. Franz. v. Bernhard Dieckmann. 1968 Frankfurt a. M. 1993, S. 312, werden in folgender Weise im Fließtext nachgewiesen: (LS, Seitenzahl). 4 Gilles Deleuze/Claire Parnet: Dialoge, a. d. Franz. übers. v. Bernd Schwibs. Frankfurt a. M. 1980, S. 24. 5 Gilles Deleuze/Felix Guattari: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie II, a. d. Franz. übers. v. Gabriele Ricke u. Ronald Voullié. Berlin 1992. 3

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des Denkens« (DW, 171). Durch sein durch Nietzsche inspiriertes Projekt einer ›Umkehrung des Platonismus‹ markiert er überdies den Anfangspunkt seiner eigenen Philosophie, die als ›Denken der Differenz‹ statt der Konstatierung ›werdeloser Ideen‹, transzendenter Instanzen und Werte eine Immanenzphilosophie begründet, die ohne eine Hierarchisierung der Seienden auszukommen vermag: Mit dem »System des Trugbilds« (DW, 346) sind nach Deleuze die »Bedingungen […] der realen Erfahrung« (DW, 99) zuallererst fassbar und Sittengesetz bzw. Moral können zugunsten einer praktisch orientierten Bejahung der Wiederholung und Differenz sowie der darin möglichen Schöpfung des Neuen verworfen werden. Deleuze beginnt indes seine Analysen mit der Unterscheidung von ›Wiederholung‹ und ›Allgemeinheit‹. Die Repräsentationslogik ermöglicht grundsätzlich die Subsumtion einer Mannigfaltigkeit von Erscheinungen unter einen Begriff, der diese unter dem Aspekt der (qualitativen) Ähnlichkeit und (begrifflichen) Äquivalenz erfasst, miteinander vergleichbar und tauschbar macht. Unter der Ordnung der Begriffe erscheint auf diese Weise alles Seiende als repräsentierbar. Diese rationalisierte Ordnung der Erscheinungen, die schließlich etwa das ›Gute‹ als transzendenten Wert einführen kann, da hierin von einer Objektivität ethischer Beurteilungen ausgegangen wird, welche nur durch eine begrifflich verfahrende Vernunft verbürgt werden kann, schließt dadurch grundsätzlich aus, was nicht unter den Allgemeinbegriff fällt. Dieser Ordnung entziehe sich indes die Differenz. Zwar tritt sie tatsächlich etwa als »reflexiver Begriff« (DW, 57) in der Ordnung der Repräsentation als Vermittlung auf – mit ihr lässt sich ein identitätsstiftender Begriff gewinnen: etwa den einer Gattung, die alles ausschließt, was nicht als gattungsspezifisch gesetzt wird –, allerdings zeige sich die Differenz an sich als etwas anderes. Statt die Erscheinungen in der Erfahrung mit Blick auf bestimmbare Gemeinsamkeiten und ihrer Subordination unter einen Identitätsbegriff wahrzunehmen, gelte es, um zur ›realen Erfahrung‹ zu gelangen, jede Erscheinung als Erfahrung des Einzigartigen, d. h. Singulären, das »eine Differenz in sich schließt« (DW, 98), zu betrachten. Zugrunde gelegt wird sonach ein Differenz-Begriff, der zwar die Identität einer Erscheinung in ihrer einheitlichen Form für sich anerkennt, diese allerdings in einem Sein begründet, welches als stete und immanente Verwirklichung in den Erscheinungen (dem Seienden) als Prozess der Differentiation wirkt, d. h., das Seiende vermittels einer ›Differenzproduktion‹ als kontinuierliche ›Aktualisierung‹ 184 https://doi.org/10.5771/9783495817650 .

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hervorbringt. 6 Neben dieser als begriffslos verstandenen Differenz wird schließlich die ›Wiederholung‹ als Begriff offenbar, der eine Abgrenzung vom Begriff des Allgemeinen ermöglicht, durch welchen statt das Ähnliche und das seiner Zeitlichkeit Beraubte gerade das Singuläre einer Erfahrung (als das, was sich in einer Wiederholung als Sich-Veränderndes zeigt) in den Blick geraten kann. Eine Philosophie, die auf der Differenz gründet und diese in ihrem Wirken thematisiert, muss also das System der Repräsentation zurückweisen und kann ein neues »System« (DW, 346) entwerfen. So geschieht dies bei Deleuze auf dem Weg einer Umkehrung des Platonismus. Historisch betrachtet Deleuze Platon als den Initiator der Repräsentationslogik, wenngleich diese, so Deleuze, erst durch Aristoteles und seine Kategorienlehre etabliert wurde (vgl. DW, 332), und erkennt als das Wesentliche im Platonismus einen Moralismus, den es zu überwinden gelte. Ausgangspunkt der Überlegungen Deleuzes bildet zunächst die platonische Teilung, in welcher es allerdings nicht um eine »Teilung einer bestimmten Gattung in definite Arten« (DW, 88) – wie etwa Künstler in Installationskünstler und Photographen –, d. h. um eine Spezifikation, gehe, sondern vielmehr um eine Selektion, die nach Maßgabe einer ›Stammlinie‹ Unterschiede einführt: »das Reine und Unreine, Gute und Schlechte, Echte und Unechte« (ebd.). Das Prinzip dieser Selektion führt Deleuze entlang der Textpassagen in Platons Werken auf Mythen zurück, die als solche allerdings als ontologischer Maßstab und als Garant der Echtheit fungieren: So ist es etwa in Politikos 7 der in der archaischen Zeit herrschende Kronos, der eine Rangfolge der Bewerber begründet, wonach sich schließlich entscheidet, ob ein Bewerber (Arzt, Kaufmann, Staatsmann, etc.) dem leitenden Maßstab ›Hüter über die Menschen‹ nahekommt oder nicht, eine Prüfung besteht oder nicht, einen Anspruch behaupten kann oder Der Begriff der ›Aktualisierung‹ nimmt eine wichtige Stellung in Differenz und Wiederholung ein; für die vorliegende Fragestellung wird allerdings dieser Begriff weitgehend unbehandelt gelassen. Er steht unterdessen in Bezug zum Begriff der Virtuellen, der als »strikt dem Realobjekt zugehöriger Teil definiert« (DW, 264) wird und in der ›Differenzierung‹ das Aktuelle selbst hervorbringt. Das Virtuelle ist somit das Sein selbst, das sich vermittels Differentiation und Differenzierung ›ausdrückt‹. 7 Alle Zitate aus: Platon: Politkos. In: Ders.: Sämtliche Werk. Bd. 5. I. d. Übers. v. Friedrich Schleiermacher, m. d. Stephanus-Numerierung. Hrsg. v. Walter F. Otto, Ernesto Grassi u. Gert Plamböck. Reinbek bei Hamburg 1989, werden in folgender Weise im Fließtext nachgewiesen: (Politikos, Stephanus-Nummerierung). 6

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nicht (vgl. Politkos, 267d–268c). Diese Einteilung von identitätsstiftendem und maßgebendem Urbild (Kronos) und nacheiferndem Abbild (am ehesten der Staatsmann) lässt Seiendes und Phänomene hierarchisch ordnen und beurteilen. In der Anwendung erscheint das selektierende Prinzip als Grund zu einem Anspruch (etwa die Gerechtigkeit), worin der Gegenstand des Anspruches wiederum eine Qualität (gerecht) bezeichnet, die der Bewerber mehr oder weniger besitzt. Der Zweck der Teilungsmethode besteht somit in der Einführung einer Rangordnung – bzw. ›Selektion der Stammlinie‹ – zwischen den Bewerbern und nicht zwischen ihnen und dem Urbild. Mithilfe dieser Selektion lässt sich so noch eine dritte Gruppe ausmachen, nämlich die, die dem Anspruch gerade nicht genügt: Es sind die Fälscher, d. h. Trugbilder, die einen Anspruch zwar geltend machen, aber, weil sie die zur Partizipation stehende Qualität nur vorgeben zu besitzen, ausscheiden. Die platonische Teilung erweist sich hierin als Prüfung nicht bloß auf den Grad der Echtheit, sondern auf die Echtheit überhaupt. In diese Unterscheidung zwischen Abbild und Trugbild verlegt Deleuze das eigentliche Anliegen Platons: eine »moralische Sicht der Welt« (DW, 166), die durch ihr selektierendes Fundament, d. h. der platonischen Ideenlehre, »aus moralischen Gründen« (DW, 167) Unerwünschtes auszuschließen versteht und so die Unterscheidung von gut/schlecht einführt: Ein ›guter‹ Herrscher wäre demnach der Staatsmann, der dem Hütergott am nächsten steht; wer keinerlei Nähe aufweisen kann, wird als ›schlecht‹ bestimmt und ausgeschlossen. Anders gesagt: Was dem Urbild als »eine Setzung von Identität als Wesen« (DW, 332) unähnlich ist, wird ausgesondert (Trugbild) und die Differenz wird der Macht der Identität und des Ähnlichen untergeordnet. Platon ist indes grundsätzlich der Ansicht, dass der Mensch durch seine Vernunft Erkenntnisse über das wahre Sein, d. h. die Ideen, gewinnen kann, dieses also verstehen kann, indem er in den singulären Erscheinungen der sinnlichen Welt lediglich ihre Teilhabe an den Einheitsformen als den ›werdelosen Ideen‹ erkennt. Ideen im Sinne Platons sind also immaterielle, ewige Urbilder; sie bilden das Reich der Ideen und stehen im Gegensatz zum Reich der Sinne. Ein Problem in diesem Konzept Platons stellen nach Deleuze jene Phänomene dar, die gleichsam von einem »reinen, maßlosen Werden« (LS, 15) zeugen oder die keine festen Qualitäten besitzen und als solche keine der Ideen repräsentieren können, da sie sich jeder Identitätsbegründung entziehen. Dieses sind die Trugbilder. Als ein zentrales 186 https://doi.org/10.5771/9783495817650 .

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Beispiel für das Problem, das Platon in ebendiese Verlegenheit bringt, führt Deleuze den Sophisten an, der in Sophistes 8 zwischen Theaitetos und einem Fremden diskutiert wird (vgl. Sophistes, 259e–261d u. 264c–268d). Theaitetos und der Fremde versuchen den Sophisten zu definieren und verstehen ihn nicht als »Wissenden« (Sophistes, 267e), sondern als einen Nachahmer einer besonderes Art: In einem Vergleich, der den Sophisten in Beziehung setzt zu einer Unterscheidung in der »Nachahmungskunst« (Sophistes, 235a), d. h. derjenigen der »Ebenbildnerei und Trugbildnerei« (Sophistes, 235b), wird der Unterschied in dem Bezug zum Urbild deutlich: Während der Künstler in der Ebenbildnerei nach Maßgabe des Originals auch die Proportionen entsprechend zu übernehmen und somit etwa »das Obere kleiner als recht und das Untere größer« (Sophistes, 236a) darzustellen hätte, gestaltet der Maler seine Objekte gerade so, dass sie zwar aus der Ferne als Ebenbilder erscheinen, in Wirklichkeit allerdings der realen Verhältnisse beraubt Objekte ohne Bezug zu etwas Existierendem gestalten. Diese Kunstwerke werden als Trugbilder bezeichnet, da sie keinen realen Bezug zum Ursprung aufweisen. Auch der Sophist gehöre schließlich in die Einteilung der Trugbildner, da er vorgibt, in seiner Rede etwas vom »wahren Wesen der Dinge« (Sophistes, 134c) zu vermitteln und »scheinbare Kenntnis […] von allen Dingen« (Sophistes, 233c) zu besitzen, ohne dass dies in Wirklichkeit der Fall sein könne (vgl. Sophistes, 233a–235a). In seinem Beruf, der in dem Erteilen von Ratschlägen und in der Weitergabe von Wahrheiten liegt, offenbart der Sophist gerade, dass er nur vorgibt zu wissen: Er produziert sonach Trugbilder. Folglich entzieht er sich jeder Definierbarkeit in Rückbezug auf die Ideen und muss aus der Reihe der Urbilder und Abbilder ausgesondert werden. Doch es bleibt, dass selbst unter alleiniger Vorgabe eines Wissens die Frage erlaubt ist, wie der Sophist tatsächlich vom ›wahren Wissenden‹ zu unterscheiden sei, wenn er doch dasselbe Wissen weiterzugeben imstande ist wie der Wissende (vgl. Sophistes, 235a): »Man erinnere sich an das grandiose Ende des Sophistes: Die Differenz ist verschoben, die Teilung wendet sich gegen sich selbst, arbeitet gegen den Strich und demonstriert durch die fortwährende Vertiefung des Trugbilds Alle Zitate aus: Platon: Sophistes. In: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. 4, n. d. Übers. v. Friedrich Schleiermacher, m. d. Stephanus-Numerierung. Hrsg. v. Walter F. Otto, Ernesto Grassi u. Gert Plamböck. Reinbek bei Hamburg 1962, werden in folgender Weise im Fließtext nachgewiesen: (Sophistes, Stephanus-Nummerierung).

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[…] die Unmöglichkeit, es vom Original oder Urbild zu unterscheiden.« (DW, 97).

An dieser Stelle setzt nun Deleuze mit der Forderung nach einer Umkehrung des Platonismus ein, denn die platonische Teilung kommt ohne die Setzung eines Mythos als Prinzip der Teilung, eines Maßstabes für die Authentizität nicht aus und gelangt dennoch nicht zur klaren Unterscheidung zwischen Trugbild und Abbild bzw. Urbild. Statt die Differenz an sich zu denken bzw. in das Denken einzuführen, wird diese auf einen abwesend bleibenden Grund bezogen und dadurch den »Mächte[n] des Einen, des Analogen, des Ähnlichen« (DW, 87) untergeordnet und bleibt eine rein begriffliche. Die Hierarchisierung unter Annahme einer das Seiende ein- und beurteilenden Begründung, die allerdings selbst unbegründet bleiben muss, wird verworfen, indem bei Deleuze die unterteste Stufe der Hierarchie zur einzigen Instanz erhoben wird: Wenn Seiendes nicht an anderem Seienden gemessen wird, wenn zwischen Trugbild und Abbild nicht mehr unterschieden werden kann, wird alles zum Trugbild und eine Einteilung in gut/schlecht, echt/unecht wird nicht nur unmöglich, sondern wird als scheinhafte entlarvt. Deleuze findet hierin die »Bedingung nicht der möglichen, sondern der realen Erfahrung« (DW, 98): das System des Trugbilds. Während bei Platon das Abbild als »ein mit Ähnlichkeit ausgestattetes Bild« (LS, 315) und das Trugbild als eines ohne Ähnlichkeit definiert wurde, erscheint im System des Trugbilds jede Erscheinung als Erscheinung einer reinen »Unterschiedlichkeit« (ebd.), als auf einer Differenz begründet, die sich in ihrer Mannigfaltigkeit und Veränderlichkeit als Werden ausdrückt, und nicht entsprechend eines Echtheitsgrades hierarchisiert werden kann.

1.2 Ereignis Ein Jahr nach Differenz und Wiederholung legt Deleuze 1969 Logik des Sinns vor und erweitert hierin seinen Ansatz, der das Denken des Sinnlichen, der Differenz und das der zeitlichen Größen in einem Sein begründet, das sich immanent im Seienden ausdrückt, um das Denken des Ereignisses. Indem nunmehr die Trugbilder an die ›Oberfläche‹ steigen und eine an die Stoa angelehnte Unterscheidung zwischen ›Oberfläche‹ und ›Tiefe‹ eingeführt wird, wird zugleich ein ›transzendentales Feld‹ eröffnet, in welchem die in ihm wirkenden 188 https://doi.org/10.5771/9783495817650 .

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›Singularitäten‹ Sinn-Ereignisse ermöglichen, die in das Zentrum eines ethischen Ansatzes gerückt werden: Mit dem Konzept der Gegen-Verwirklichung wird der Mensch qua Sinnstiftung zum Akteur und Mimen der ihm widerfahrenden Ereignisse. Es sind die Stoiker, die, so Deleuze, »zur ersten großen Umkehrung des Platonismus« (LS, 22) ansetzen. Mithilfe ihrer Unterscheidung, durch welche statt einer zwischen Urbild und Abbild bzw. Abbild und Trugbild vielmehr eine zwischen Körpern und ihren unkörperlichen Wirkungen konstatiert wird, gewinnt Deleuze den Ansatz einer Immanenzphilosophie: So unterscheiden die Stoiker einerseits eine Ebene der Körper mit ihren Aktionen und Passionen in der Tiefe, in welcher sie in einer strengen Kausalität und unbedingten Ursachen-Kette stehen, von einer weiteren Ebene, die nunmehr die unkörperlichen Wirkungen der ›Körpermischungen‹ umfasst, welche sich als ›Quasi-Ursache-Kette‹ über den Körpern als deren Oberfläche bilden. 9 Diese Unterscheidung von Oberfläche und Tiefe bedeutet insofern eine Umkehrung des Platonismus, als sie eine über dem Sinnlichen angenommene Ideenwelt sowie Hierarchisierung der Seienden als einfache Wirkung der Körpermischungen und somit ›Nachträglichkeit‹ sinnfällig macht. Diesen Ansatz fortentwickelnd – indem Deleuze die unkörperlichen Wirkungen als Ereignisse begreift – wird eine Immanenzebene als diese Oberfläche denkbar: Sind es die Ereignisse, die unkörperlich auftreten, kann zum einen von einem Ereignis in Beziehung zur körperlichen Ebene gesprochen werden (als solches zeigt es sich zuerst als »Zwischenfall«; LS, 77), zum anderen lässt sich vom unkörperlichen Ereignis sagen, dass es grundsätzlich ›problematisch‹ ist. Das wird augenscheinlich, wenn das Ereignis in seiner Beziehung zur Sprache problematisiert wird. Das Ereignis als Zwischenfall macht sich in genau dem Sinne dem Menschen zugleich bemerkbar und entzieht sich ihm, als es sich zwischen den Körpern und durch diese ereignet, sich jedoch mit den Eigenschaften der Körper nicht zureichend verstehen und versprachlichen lässt. Die Möglichkeit der Bestimmung eines Ereignisses wird vielmehr als ein bestimmter Vorgang offenbar: Es ist das Problematisieren, das sich wesentlich als ›Sinnstiftung‹ zeigt. Um den Vorgang der Sinnstiftung zu explizieDiese Wirkungen stehen nicht in einer unbedingten Kausalitätsbeziehung, sondern können nur ›Quasi-Ursache‹ füreinander sein, da sie in erster Linie als Wirkungen der körperlichen Ursachen hervorgehen.

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ren, verwendet Deleuze wiederum ein Vokabular, das zugleich eine Beschreibung der Immanenzebene ermöglicht: Das ›ideale‹ Ereignis sei eine »Gesamtheit von Singularitäten« (LS, 76) und »ihrem Wesen nach prä-individuell, nicht-persönlich, un-begrifflich« (ebd.). Die Singularitäten erweisen sich somit als die jeweils unwillkürlich, jedoch in einer bestimmten Anordnung anzutreffenden Bestimmungspunkte 10 und Zeugnisse eines Wirkens von Kräften, die das Problematische eines Ereignisses markieren und zu den Bezugspunkten werden, unter denen das Problem ›gelöst‹, d. h. ein Sinn gestiftet und gleichermaßen verstanden, wird. Der Immanenzebene als die Ebene, die durch das Sinnstiften konstruiert wird, obliegt es sonach, eine ›Logik des Sinns‹ zu eröffnen: »Das Ereignis nämlich, das ist der Sinn selbst.« (LS, 41). Der Sinn existiert weder in den Dingen, denn diese sind, was sie sind, und als solche indifferent gegenüber dem einen Sinn, noch als »Ausgedrücktes des Satzes« (LS, 52), da der Sinn eines Satzes nicht mit dem Satz zusammenfällt, sondern, so Deleuze, in ihm vielmehr »insistiert oder subsistiert« (ebd.). Somit ist es der Sinn, der im Zentrum des Problematischen steht, mit welchem eine Immanenzebene entworfen wird und welcher aus einer Wirkung der Singularitäten hervorgeht, die die Bedingungen jedes Sinns und der Immanenzebene sind. Wie eingangs gesehen, entsteht das Ereignis als Wirkung der Aktionen und Passionen der Körper und ist zugleich unabhängig von ihnen, da es von einer ganz anderen Natur ist als die Körperwelt, und kann als Wirkung in eine Kette von Quasi-Ursachen treten. Deleuze führt diese Überlegungen weiter aus und bestimmt die körperliche Ursachen-Seite als das Wirken von »intermolekularen Veränderungen« (LS, 125), die reale Ursachen sind, und die unkörperliche Quasi-Ursachen-Seite als »Variation einer sogenannten Oberflächenspannung« (ebd.), die sich in Abhängigkeit von den Singularitäten konstituiert, jedoch willentlich beeinflusst werden kann. Da das Ereignis zugleich der Sinn ist, der in Beziehung zu den Dingen und Dingzuständen einerseits und den unkörperlichen Wirkungen andererseits gesetzt ist, wohnt diesem ein ganz bestimmtes Potenzial inne:

In einem Vergleich mit Charles Péguys, der im Kontext des Ereignisses von »kritischen Punkten« (Charles Péguy: Clio. Paris 1931, 268; zitiert nach: LS, 77) spricht, die dafür verantwortlich seien, dass ein Ereignis stattfindet, konstatiert Deleuze, dass diese singulären Punkte nicht vorauszusehen oder zu konstruieren, sondern selbst fluktuierend, d. h. nomadisch, sind und sich wandeln können; vgl. LS, 77.

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Der Sinn kann, statt als Wirkung der Körpermischungen einfach zu erscheinen, auf der Ebene der Quasi-Ursachen-Kette gestiftet werden und somit diese ›verzweigen‹. Zwar behielte er dabei auch seinen Bezug auf den Körper und dessen »Zustände des manifestierten Subjekts, auf die bedeuteten Begriffe, Eigenschaften und Klassen« (LS, 127) bei, doch erhielte er seine Unabhängigkeit in der QuasiUrsachen-Verkettung aus einer ›verdoppelten Distanz‹. Mit Rückgriff auf den Begriff der Singularitäten als jene Bestimmungspunkte, die nicht nur das Problematische bestimmten, sondern die zudem »die Genese der Individuen und Personen« (LS, 135) anleiteten, markiert Deleuze hierin ein differenzierteres Problem des Sinns: Subjekt der Sinnproduktion in erster Instanz ist demnach nicht etwa das Bewusstsein oder der Wille. »Es ist diese freie, anonyme und nomadische Singularität, die ebenso die Menschen, die Pflanzen und die Tiere unabhängig von der Materie ihrer Individuation und von den Formen ihrer Personalität durchquert« (LS, 141). Damit wird der Punkt erreicht, an welchem die Subjekt-Objekt-Relation unterlaufen wird, denn diese tritt demnach unter Abhängigkeit der »Verwirklichung von Singularitäten« (LS, 143) in Erscheinung. 11 Deleuze bezeichnet diese als »ontologische[] statische[] Genese« (ebd.) auf einem transzendentalen Feld. Das Sinn-Ereignis tritt somit nicht nur als Wirkung der Körpermischungen, sondern zudem in Abhängigkeit der Singularitäten auf. Derart von der Zufälligkeit der singulären Anordnung (der Singularitäten) abhängig, behauptet Deleuze, dass auf unkörperlicher Ebene die Sinnstiftung trotz oder gerade aufgrund der Singularitäten den »Ort unserer Freiheit und Wirksamkeit« (LS, 100) markiert: »Das leere Feld zirkulieren zu lassen und die prä-individuellen und unpersönlichen Singularitäten zum Sprechen zu bringen, kurz, den Sinn zu produzieren: Darin besteht heute die Aufgabe.« (Ebd.) Unter Annahme eines solchen ›leeren‹ bzw. vielmehr transzendentalen Feldes, 12 Dabei sei die Konstanz eines Individuums nur eine scheinbare; in Wirklichkeit wirkten die Singularitäten fort: In einem Zustand der Individuation ist es demnach der eine Körper, der eine bestimmte Zahl von Singularitäten in einer Kombination verkörpert, aber in der Zeitlichkeit neue Kombinationen erfährt: »Wir erkennen, daß das Singularitätenkontinuum sich vollkommen von den Individuen unterscheidet, die es in wechselnden und komplementären Deutlichkeitsabstufungen umhüllen: Die Singularitäten sind präindividuelle.« (LS, 145) 12 Das transzendentale Feld steht für die Gesamtheit der wirkenden Kräfte und ist die Bedingung des Ereignisses (Vgl. LS, 135). 11

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d. h. eines, das vor jeglicher subjektiver, individueller Erfahrung liegt, sind es schließlich die Ereignisse, die die Wirkungszusammenhänge dynamisieren, sind es die Singularitäten als »topologische Ereignisse« (LS, 137) auf einem »problematischen Feld« (ebd.), die frei und nomadisch verteilt sind, ›die Genese der Individuen und Personen‹ lenken und zugleich verfügbar für die Sinnstiftung sind.

1.3 Werden »Eine Philosophie bedeutete daher für mich so etwas wie eine zweite Periode, die ohne Félix nie angefangen oder zu etwas geworden wäre.« 13 Auf Grundlage dieser rückblickenden Einschätzung seitens Deleuze, die seiner Produktivität in Zusammenarbeit mit Félix Guattari eine höhere Bedeutung beimisst als seiner vorhergehenden eigenen Arbeit, kann nun diese zweite, nunmehr als deleuzoguattarisch zu bezeichnende Philosophie im Kontext der Fragestellung befragt werden. Doch bevor dieser Gang versucht wird, gilt es, kurz die grundlegenden Überlegungen Deleuzes und Guattaris zum Begriff des Werdens in den Blick zu bringen: Insbesondere mit Tausend Plateaus, in welchem »eine Theorie der Mannigfaltigkeiten« versucht wird, 14 werden nicht mehr ›Differenz‹ oder ›Ereignis‹ in den Mittelpunkt des Denkens gerückt, sondern sind es »die Arten des Werdens« (ebd.), die nunmehr jegliche Beziehung zwischen ›Selbst‹ und ›Welt‹ – die selbst zu ›Mannigfaltigkeiten‹ werden – bestimmen. Die Analysen der verschiedenen ›Plateaus‹, d. h. Kapitel, dieses Werkes suchen diejenigen spezifischen Bedingungen herauszustellen, unter denen Beziehungen überhaupt gestiftet werden. 15 In diesem Unternehmen stellt sich schließlich das Werden selbst als dasjenige heraus, das die Untersuchung anleitet. Wenngleich die vers. Arten des Werdens hier nicht thematisch werden können, liefert Was ist Philosophie?, das nach Tausend Plateaus verfasst wurde, gewissermaßen eine Zusammenfassung und Grundlegung dieser Schaffensperiode. Mögen die AusGilles Deleuze: Über die Philosophie. In: Ders.: Unterhandlungen. A. d. Franz. v. Gustav Roßler. Frankfurt a. M. 1993, S. 197–226, hier: S. 199. 14 Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, S. II. 15 Vgl. ebd.: »Die Universalgeschichte der Kontingenz wird hier viel variantenreicher. In jedem einzelnen Fall lautet die Frage immer wieder: ›Wo und wie ist dieses Zusammentreffen zustandegekommen?‹« 13

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führungen bis hierher einen indirekten Erklärungscharakter hinsichtlich Deleuzes Verständnis vom Verstehen und Denken haben, so gelangen Deleuze und Guattari in Was ist Philosophie? nun völlig ohne Umschweife zur Aufgabe der Philosophie, die – wie ersichtlich werden soll – direkt zur Sache des Denkens und Verstehens führt. So wird die Philosophie zunächst als eine »creatio continua von Begriffen« (WPh, 13) verstanden; dabei grenzen Deleuze und Guattari den ›Begriff‹ von einer identitätsstiftenden Begriffsbildung, die zur Klassifikation, Hierarchisierung und Etablierung binärer Strukturen dient, ab und betrachten ihn vielmehr als eine singuläre Stiftung, die in sich eine ›Mannigfaltigkeit von Komponenten‹ bündelt und auf diese Weise aus einer ›unendlichen Bewegung‹ des Denkens ein »fragmentarisches Ganzes« (WPh, 21) schöpft. Obwohl fragmentarisches Ganzes ist der Begriff in ihrem Sinne dennoch nicht geschlossen: Er verweist mithin auf ein Problem, das in ihn eingeschrieben ist, und besitzt eine ›Geschichte‹ : »In einem Begriff befinden sich meist Stücke oder Komponenten aus anderen Begriffen, die anderen Problemen entsprachen und andere Ebenen bedingten. Dies ist zwangsläufig so, weil jeder Begriff einen neuen Schnitt vollzieht, neue Konturen annimmt, von neuem aktiviert und zugeschnitten werden muß.« (WPh, 24)

So der Begriff über sich selbst hinausweist und nicht geschlossen ist, können Deleuze und Guattari schließlich davon sprechen, dass dieser insofern stets über ein Werden verfügt, als er etwa innerhalb eines Textes in Beziehung zu anderen Begriffen treten kann und einen Zuwachs oder einen Verlust an Komponenten (intensiven Ordinaten, Singularitäten) erfährt. Die Konsistenz eines Begriffs besteht somit nur unter der Voraussetzung, dass er – in Werdensprozessen gegründet – mit seinen Komponenten in dieser Weise relativ verstanden wird; angesichts dieser Konsistenz während einer Wandlung, die dem Begriff eigentümlich ist, bezeichnen Deleuze und Guattari die Begriffsschöpfung schließlich als »Heterogenese« (WPh, 27); obschon sie den Begriff als selbstreferentiell auffassen, da er nicht etwas Bestehendes ›abbilden‹ soll, sondern sich und damit gleichzeitig das Auszusagende setzt – mit dem Zuwachs zumal, dass er aufgrund seiner variablen Komponenten, die ›Intensitätszonen‹ markieren, zugleich in einer beweglichen Beziehung zu anderen Begriffen steht. Die Erkenntnis durch einen Begriff oder das Verständnis ist folglich nur aus den Bedingungen, unter denen der Begriff geschöpft wurde, 193 https://doi.org/10.5771/9783495817650 .

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herauszulesen und diese liegen nach Deleuze und Guattari in dem ›Ereignis‹, das ein Begriff ist, mit dem es auf ein Außen verweist, aus dem heraus es wiederum geschöpft wird: »Selbstverständlich ist der Begriff Erkenntnis, allerdings Selbsterkenntnis, und was er erkennt, ist das reine Ereignis, das nicht mit dem Sachverhalt verschmilzt, in dem es sich verkörpert. Stets ein Ereignis aus den Dingen und Wesen freisetzen – das ist die Aufgabe der Philosophie, wenn sie Begriffe, Entitäten erschafft. Das neue Ereignis der Dinge und Wesen entwerfen, ihnen stets ein neues Ereignis bieten: den Raum, die Zeit, die Materie, das Denken, das Mögliche des Ereignisses.« (WPh, 40)

Bereits aus Logik des Sinns bekannt ist die Sinnstiftung als ein Verfahren, um Ereignisse auf eine willentliche Weise ›freizusetzen‹ (oder zu ›gegen-verwirklichen‹), welches uns nun auf die Philosophie angewandt als eine Begriffsstiftung begegnet. Als solche Stiftung verweist der Begriff wie schon der ›Sinn‹ in Logik des Sinns auf ein Außen, d. h. auf Sachverhalte ebenso wie auf das transzendentale Feld, aus welchem das Denken, in Was ist Philosophie? konkretisiert als unendliche Bewegung, Begriffe schöpft. Hierbei kommt insbesondere der Begriff der Immanenz zum Tragen: Der Produktionsprozess von Begriffen vollzieht sich nach Deleuze und Guattari auf einer Ebene, die erstens errichtet werden muss und zweitens mit der Errichtung als ›abstrakte Maschine‹ zu fungieren beginnt. Eine abstrakte Maschine im deleuzoguattarischen Sinne ist stets ihrer Wirksamkeit entsprechend beschreibbar; sie ist das Gegenteil eines ›einteilenden‹ Systems, nach dem sich entsprechend die Komponenten oder Gefüge (Begriffe) verteilen würden, sondern sie geht in ihrer differenziellen Produktivität auf. Mit Blick auf die Immanenzebene ist sie es, die mit dieser zugleich ein Bild des Denkens produziert, d. h. dem Denken ein ›Bild‹ davon vermittelt, was »denken, vom Denken Gebrauch machen, sich im Denken orientieren … bedeutet« (WPh, 44). Grundlegende Annahme hierfür ist, dass Deleuze und Guattari das Denken als ein Denken aus einem ›Ungrund‹ (oder Chaos) heraus verstehen, in welchem fortwährend mannigfache Kräfte wirken. Indem das Denken und die im deleuzoguattarischen Sinne verstandene Begriffsschöpfung einsetzt, errichtet es diese Immanenzebene und damit zugleich jenes ›Bild des Denkens‹, das die Weise bezeichnet, durch welche eine Orientierung im Denken ermöglicht wird. Die Immanenzebene ist also weder mit der Gesamtheit der Begriffe, noch mit einem Bild des Denkens gleichzusetzen, sondern bezeichnet vielmehr 194 https://doi.org/10.5771/9783495817650 .

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die Konsistenz dessen, was aus der Bewegung geschöpft wird, bzw. besagt ein »nicht-begriffliches Verständnis« (WPh, 48), das sich aus dem Denken ebenso wie aus dem »Stoff des Seins« (WPh, 45) nährt, aber ungreifbar bleibt. Hiermit entwerfen Deleuze und Guattari letztlich die Philosophie als eine Form des Denkens, die aus Kräften schöpft, die über das Subjekt hinausweisen, und den jeweiligen Denkenden, d. h. den Philosophen, als eine bestimmte »Fähigkeit des Denkens« (WPh, 73) bestimmt: Als »Subjekt einer Philosophie« (ebd.) bezeichnen sie nicht den Philosophen, sondern die sogenannte »Begriffsperson« (WPh, 72 et pass.), 16 durch welche diese als Werden bestimmt werden kann, da sie die Bewegung aus dem Ungrund vollzieht und in diesem Werden die Bewegung denkt, während der es zu der Schöpfung von Begriffen kommt, die von dieser Bewegung zeugen, sie aufnehmen und aus ihnen das Ereignis freisetzen. Mit diesem letzten Verweis zusammengenommen ergibt sich insgesamt ein neues Bild des Denkens, das Deleuze und Guattari fordern: Der Philosoph, der in seinem Denken eine vor-philosophische Ebene entwirft, aus deren Immanenz heraus Begriffe erfindet und als Begründer kein Subjekt, kein Ich kennt, sondern nur eine Begriffsperson, die entsprechend einem vom Außen herrührenden Bewegtwerden schöpft, wendet sich notwendig einem Werden zu, welches die Begriffsperson vollzieht und von welchem sie mitgerissen wird. Freilich verweist das absolute Außen zugleich auf das Außen, das sich dem Denken als »Beziehung zu dem Territorium und zu Terra, der Erde« (WPh, 97) zeigt. Damit gemeint ist das ›historischen Milieu‹, in das der Mensch gebettet ist, und das im Zentrum eines erweiterten Philosophieverständnisses als Geophilosophie steht. Denn für Deleuze und Guattari sind es gerade die ›Umstände‹, die bestimmte »Individuierungen einer Stunde des Tages, einer Region, eines Klimas, eines Flusses oder Windes, eines Ereignisses« 17 veranlassen, und die nicht in den Begriffen der ›Geschichte‹, sondern nach Deleuze und Guattari einzig in Begriffen des Werdens ausgedrückt werden müssen: »Werden, das ist Geographie, das sind Rich-

Bei der Begriffsperson wird eine Ähnlichkeit zum ›neuen Subjekt‹ in Logik des Sinns sinnfällig, insofern nämlich, als das neue Subjekt im letzteren Text mit den Singularitäten ebenso wie hier mit der Begriffsperson einen nicht Subjekt-zentrischen Akteur markiert. 17 Gilles Deleuze: Gespräch über Tausend Plateaus. In: Ders.: Unterhandlungen. 1972–1990, a. d. Franz. v. Gustav Roßler. Frankfurt a. M. 1993, S. 41–54, hier: S. 42. 16

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tungen und Verläufe, Eingänge und Ausgänge.« 18 Das Denken schöpft somit aus einer Bewegung, die sich stets in einem Milieu vollzieht und durch welche eine Philosophie zu einem Teil der »Universalgeschichte der Kontingenz« wird, 19 in welcher gerade der Geophilosophie die Aufgabe zukomme, solcherart aus dem Nicht-Philosophischen schöpfend dieses Verhältnis schließlich zu explizieren. Geophilosophie bestimme sich somit zuallererst in einer eigentümlichen »Verbindung der Philosophie oder des Begriffs mit dem vorhandenen Milieu« (WPh, 116), durch welche die Geophilosophie schließlich als eine »politische Philosophie« (ebd.) hervorgehe: »Das ist das konstitutive Verhältnis der Philosophie zur Nicht-Philosophie. Das Werden ist immer doppelt, und dieses doppelte Werden konstituiert das zukünftige Volk und die neue Erde. Der Philosoph muß Nicht-Philosoph werden, damit die Nicht-Philosophie zur Erde und zum Volk der Philosophie wird.« (WPh, 127) Eine Geophilosophie habe daher solche Begriffe zu verwenden, die diese Werdensprozesse zum Ausdruck bringen können. Mit etwa ›Deterritorialisierung‹ und ›Reterritorialisierung‹ – Begriffe, die insbesondere in Anti-Ödipus 20 und Tausend Plateaus gebraucht werden – bezeichnen Deleuze und Guattari Prozesse bzw. »Typen von Bewegungen« der Stabilisierung (Reterritorialisierung) oder des Verlassens bzw. Unterlaufens (Deterritorialisierung) bestimmter Strukturen eines Territoriums, 21 die stets von beiden – De- und Reterritorialisierung – dynamisiert werden und durch welche soziopolitische, gesellschaftliche Wandlungen schließlich beschrieben werden könnten. Doch wie weit reicht diese politische Philosophie? – »Natürlich [ist der] Philosoph unfähig, ein Volk zu schaffen, [er kann] es nur herbeirufen, mit all [seinen] Kräften.« (WPh, 128) Und das tut er nach Deleuze und Guattari, indem er das Denken als ›Experimentieren‹ begreift und anwendet, indem er – da die Begriffsschöpfung als Freisetzen eines Ereignisses verstanden werden muss – heterogene Elemente miteinander verbindet und so »das Neue, das Ausgezeichnete, das Interessante« (WPh, 129) sich ereignen lässt. 22 Ein Begriff Deleuze/Parnet: Dialoge, S. 9. Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, S. II. 20 Deleuze/Guattari: Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I, übers. v. Bernd Schwibs. Frankfurt a. M. 1974. 21 Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, S. 705. 22 Vgl. WPh, S. 129: »Denken bedeutet experimentieren, doch das Experiment ist stets das, was sich gerade ereignet – das Neue, das Ausgezeichnete, das Interessante, 18 19

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erscheint derart »voll kritischer, politischer Kraft und Freiheit« 23 und ließe sich innerhalb des Systems, in welchem der Begriff verwendet wird, auch ethisch beurteilen, d. h. ethisch als gut oder schlecht hinsichtlich der Prüfung, ob ein Begriff etwa auf eine fragwürdig gewordene Lebensweise oder auf illegitime Geltungsansprüche mit Alternativen antworten kann: 24 »Auch die Begriffe sind ›Diesheiten‹, Ereignisse. Interessant an derartigen Begriffen […] erscheint, daß sie nur aufgrund ihrer Variablen, des Höchstmaßes an Variablen, das sie gestatten, von Wert und Geltung sind.« 25 Deleuze und Guattari setzen dieses Potenzial des Begriffs und der Philosophie in ihrem Mehrwert als Neues und Ermöglichendes zudem in den Kontext einer Unterscheidung: die zwischen dem ›Aktuellen‹ und dem ›Gegenwärtigen‹, worin ersteres gerade das, was im Begriff ist zu werden, und letzteres einen Ist- und somit früher oder später vergehenden Zustand bezeichnet. Das Aktuelle sei dasjenige, welches »das Jetzt unseres Werdens« (WPh, 130) im Denken aktualisiere, dem Denken seine »aktuellen Pflichten« (WPh, 131) und der Philosophie seinen eigentlichen Gegenstand liefere; am Aktuellen orientiert, bestünde die Aufgabe konkreter somit darin, die »Werdensprozesse in jeder sich ereignenden Gegenwart zu diagnostizieren« (ebd.). Das ›Ereignis einer Gegenwart‹ besitzt nach Deleuze und Guattari jedoch selbst heterogene Komponenten, die sich nicht bezeichnen lassen, sondern über Singularitäten, ihre Wirkkräfte und Interaktionen ›kommunizieren‹ und sich »in einem Sachverhalt, in einem Körper, im Erleben« (WPh, 182) aktualisieren und verwirklichen können, dabei allerdings einen Teil im ›Virtuellen‹ (als das Nicht-Verwirklichte und Unkörperliche, als das Chaos bzw. der Ungrund) behalten, sodass schließlich nur das durch die Begriffsstiftung freigesetzte Ereignis seine Realität ausweisbar macht. 26 Mit Bezug die an die Stelle der Erscheinung der Wahrheit treten und anspruchsvoller als diese sind.« 23 Deleuze: Gespräch über Tausend Plateaus, S. 51. 24 Vgl. ebd.: »Nichts ist absolut gut, alles hängt von der Verwendung und Klugheit im Systemzusammenhang ab. In Tausend Plateaus versuchen wir zu sagen: das Gute ist niemals sicher (beispielsweise genügt ein glatter Raum nicht, um die Einkerbungen und Zwänge zu überwinden, auch nicht ein organloser Körper, um die Organisation zu überwinden)«. 25 Deleuze/Parnet: Dialoge, S. 155. 26 Dabei gilt, dass ›Virtualität‹ und ›Realität‹ nicht in Opposition zueinander stehen; bereits in Differenz und Wiederholung macht Deleuze deutlich, dass sich vielmehr Virtualität und Aktualität unterscheiden, während beiden volle Realität zukommt;

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auf den Begriff von einem Ereignis erweist sich das Virtuelle, das sich in den Sachverhalten und unkörperlichen Ereignissen aktualisiert, als übertragbares Potenzial der Philosophie: »Man aktualisiert oder verwirklicht das Ereignis immer dann, wenn man es wohl oder übel auf einen Sachverhalt verpflichtet, aber man gegen-verwirklicht es immer dann, wenn man von den Sachverhalten abstrahiert, um aus ihnen den Begriff zu gewinnen.« (WPh, 186) Die in Logik des Sinns geforderte Verkörperung des Ereignisses durch einen Mimen wird auch hier heraufbeschworen und auf die Begriffsschöpfung übertragen: Man mimt, um aus dem Ereignis den »lebendigen Begriff freizusetzen« (WPh, 187). So zeigt sich schlussendlich die Philosophie als eine »gigantische Anspielung« (WPh, 186), die mit ihrer Begriffsperson, aber aus dem realen Milieu heraus und also aus der Existenz selbst, Begriffe und somit auch Werte schöpft, stets entsprechend der Immanenzebene: »Wir haben nicht den geringsten Grund zu der Annahme, daß die Existenzweisen transzendenter Werte bedürften, die sie vergleichen, auswählen und entscheiden würden, daß die eine ›besser‹ ist als die andere. Im Gegenteil, es gibt keine anderen als immanente Kriterien, und der Wert einer Lebensmöglichkeit bemißt sich an sich selbst nach den Bewegungen und nach den Intensitäten, die sie auf einer Immanenzebene zeichnet beziehungsweise erschafft; abgelehnt wird, was weder zeichnet noch erschafft. Eine Existenzweise ist gut oder schlecht, vornehm oder gewöhnlich, erfüllt oder leer, unabhängig von Gut und Böse und von allen transzendenten Werten: Es gibt nie ein anderes Kriterium als den Gehalt der Existenz, die Intensivierung des Lebens.« (WPh, 85)

Eine wie hier verstandene Immanenzphilosophie reflektiert grundsätzlich das Denken, Wahrnehmen, Fühlen und Handeln, somit das Leben, indem sie die Bedingungen, unter denen Leben überhaupt möglich ist, einzig als immanente begreift: Blickt man auf Deleuzes Entwicklung von einer Umkehrung des Platonismus bis zum Konzept der Gegen-Verwirklichung zurück, liest sich die oben zitierte Passage als deren Konsequenz. Eine das Seiende entsprechend ›vollkommener‹, werdeloser Ideen einteilende, transzendente Instanz ist unhaltbar geworden, und das Denken – selbst ein Zugang zum Leben, vgl. DW, S. 264: »Das Virtuelle steht nicht dem Realen, sondern bloß dem Aktuellen gegenüber. Das Virtuelle besitzt volle Realität, als Virtuelles. […] Das Virtuelle muß selber als ein strikt dem Realobjekt zugehöriger Teil definiert werden – als ob das Objekt einen seiner Teile im Virtuellen hätte und darin wie in einer objektiven Dimension eingelassen wäre.«

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der hierfür nichts anderes hat als diese Immanenzebene – wird als Kette von Wirkungen und Ereignissen zu jenem Mittel, diesem Umstand das einzig real Mögliche zu entnehmen: jene immanenten Kriterien, die ›gut‹ als das erkennbar werden lassen, was den Gehalt eines Lebens qualitativ bereichern und intensivieren kann. In diesem Kerngedanken einer ethisch ausgerichteten Immanenzphilosophie findet sich jedoch insofern ein über die singuläre Existenzweise hinausweisender Gedanke, als die Immanenzebene nur unter Bezug zu seinem Außen gedacht werden kann. Der Verlust eines Glaubens an eine Ideenwelt (oder Gott) ist der Gewinn der realen Möglichkeiten, die sich aus dem Körperlichen, dem Werden ohne Ursprung und der gestifteten Immanenzebene ergibt. Lesbar wird diese Immanenzphilosophie daher mit ihrem ›geophilosophischen‹ Bezug zum Außen als Weg zum Diagnostizieren und Denken des ›Jetzt unseres Werdens‹. 27 Um den Bogen zurück zu spannen, liegt es gerade an der Philosophie, jene Konzepte bzw. Begriffe zu liefern, die nicht bloß einer Existenzweise, sondern einem ganzen ›künftigen Volk‹ eine ›Intensivierung des Lebens‹ und einen hier nahegelegten qualitativen Zuwachs an Gehalt der Existenz ermöglichen. Der Bezug zum Aktuellen zeigt an, dass eine Geophilosophie im deleuzoguattarischen Sinne im Ansatz als politische Philosophie jedoch insbesondere als eine philosophische Ethik erachtet werden kann, da sie auf das zeitgenössische Milieu reagierend und aus ihrer Mitte heraus Begriffe schöpfend ein Ereignis gegen-verwirklichen kann, um somit womöglich ein Werden zu initiieren, das auch ›ein Volk‹ (und somit die Gesellschaft bzw. den politischen Raum) zur Verwirklichung anstiften kann. Der kleinste Schritt in diesem Unternehmen bildet dabei das auf das Aktuelle ausgerichtete Experimentieren im Denken, das letztlich das, was gemeinhin unter »verstehen« gefasst wird, ablöst, da es nicht unsere Wenigkeit ist, die sich diese denkerische Autonomie zuschreiben kann. Ronald Bogue indes liest aus dem zitierten Absatz zu den immanenten Kriterien (vgl. WPh, 85) nicht einen Bezug zur Geophilosophie und zum Denken als einem Mittel zur Reaktion auf das ›Außen‹, sondern bezieht diesen vielmehr auf den ›Anderen‹, der »never [is] a single other, but always the sign of many possible worlds« (Ronald Bogue: Immanent Ethics. In: Ders.: Deleuze’s Way Essays in Transverse Ethics and Aeshetics. Hampshire 2007, S. 7–15, hier: S. 15) und gelangt zu der These, dass eine Ethik in Deleuzes Sinne den Aspekt eines ›Glaubens an die Welt‹ impliziere, der nur durch den Gedanken an eine ›multiplicit‹ zu legitimieren sei (vgl. ebd., S. 14 f.).

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In einem publizierten Gespräch zwischen Michel Foucault und Gilles Deleuze geht Deleuze indessen explizit auf das Verhältnis von Theorie und Praxis ein: »Keine Theorie kann sich entwickeln, ohne auf eine Mauer zu stoßen, welche nur von der Praxis durchstoßen werden kann.« 28 Den Inhalt einer Theorie betrachtet Deleuze dabei als ein ›Instrumentarium‹ : »Ja, eine Theorie ist ein Instrumentarium: sie hat nicht zu bedeuten, sie hat zu funktionieren. Und zwar nicht für sich selbst. Wenn es niemanden gibt, der sich ihrer bedient – das beginnt schon beim Theoretiker selbst, der damit aufhört, ein solcher zu sein –, so taugt die Theorie eben nichts oder es ist der richtige Moment noch nicht gekommen.« 29 Während zuvor bereits die Rede davon war, dass Deleuze mit Guattari in eine philosophische Periode übergegangen sei, in welcher er erstmals eine Form zu denken auch angewandt habe, 30 spricht Deleuze 1985 in einem Artikel davon, dass die »philosophischen Begriffe […] für den, der sie erfindet oder herausarbeitet, auch Lebensweisen oder Handlungsweisen« 31 seien, die mit dem obigen Zitat zusammengenommen auch bei anderen ihre Anwendung finden können. Begleitet von der Produktion bzw. einem gespannten Netz aus Begriffen wird so letztlich auch das Denken ein anderes.

2.

Begriffenes Verstehen?

Deleuzes Gesamtwerk ist geprägt von der Kampfansage gegen leichtfertige Annahmen wie eine denkerische Autonomie oder Erkennbarkeit ewiger Wahrheiten. In seinem frühen Hauptwerk Differenz und Wiederholung stehen diese exemplarisch für ein platonisches Denken und die Repräsentationslogik. Seine Analysen zu Platon weisen dabei aus, dass letztlich jedwede Behauptung werdeloser Ideen keinen Boden hat; demgegenüber wird deutlich, dass die einzig denkbare Konsequenz in der Annahme einer Omnipräsenz von Trugbildern liegt, Gilles Deleuze/Michel Foucault: Die Intellektuellen und die Macht. Ein Gespräch zwischen Michel Foucault und Gilles Deleuze. In: Dies.: Der Faden ist gerissen. Berlin 1977, S. 86–100, hier: S. 87. 29 Ebd., S. 89. 30 Vgl. Deleuze/Parnet: Dialoge, S. 24. 31 Gilles Deleuze: Die Zonen der Immanenz. In: Ders.: Schizophrenie und Gesellschaft. Texte und Gespräche von 1975 bis 1995. Hrsg. v. Daniel Lapijade, a. d. Franz. v. Eva Moldenhauer. Frankfurt a. M. 2005, S. 250–252, hier: S. 251. 28

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die aus einem Zusammenspiel aus Differenz und Wiederholung bzw. aus einem unendlichen Prozess der Differenzierung hervorgehen. Ein Denken der Trugbilder und ein Denken der Differenz wird dabei zu einem alternativen Bild des Denkens, das den Werdensprozessen gerecht zu werden versucht. In seinem zweiten Hauptwerk Logik des Sinns wendet sich Deleuze insbesondere dem Ereignis zu. Nicht nur kann dies als eine Konsequenz aus einem Denken der Differenz und Differenzierungsprozesse gedacht werden; Ereignisse erscheinen als Brüche unserer Erfahrung und unseres Denkens, die dabei jeweils einen Sinn produzieren. Deleuze denkt den Sinn nicht in Abhängigkeit zu unseren denkerischen Operationen, sondern in Abhängigkeit zu sog. Singularitäten, aus deren Strom heraus Ereignisse als das erscheinen, was wir ansonsten leichtfertig unserer Autonomie zuschreiben würden. Diesem Ausgeliefertsein jedes Denkakts an außerhalb unserer Macht liegende Prozesse stellt er jedoch ein Mittel zur Seite, das schließlich auch in der eigentlichen Schaffensphase Deleuzes mit Guattari nunmehr in den Mittelpunkt gerückt wird: die Gegen-Verwirklichung, die nichts anderes ist als ein Experimentieren mit den Widerfahrnissen, durch welche wir in Anbetracht der realen Gestaltetheit des Seienden zu einem realen Denken und Handeln jenseits von Ressentiments und Knechtschaft Sinn stiften und das Werden und das Ereignishafte des Daseins affirmieren können. Auch der bereits anklingende ethische Gehalt einer solchen Forderung nach einer eigenverantwortlicheren Existenz jenseits eines trügerischen Glaubens an eine absolute Autonomie und Intelligibilität wird jedoch erst mit jener späten Schaffensperiode weiter zugespitzt. So liefert der letzte zu Lebzeiten Deleuzes publizierte Text Was ist Philosophie? erste direkte Ausführungen zu dem, als was »verstehen« letztlich gelten muss. Sofern nämlich das Schöpfen von Begriffen die eigentliche Aufgabe der Philosophie bezeichnet und Begriffe singuläre Ereignisse bzw. singuläre Stiftungen sind, die aus einer ›unendlichen Bewegung des Denkens‹ ein ›fragmentarisches Ganzes‹ schöpfen, wird gleichermaßen deutlich, dass kaum mehr von einem ›Verstehen‹ als bewusstem Akt gesprochen werden kann. Vom Verstehen die Rede kann nur nachträglich und in Zeugenschaft der geschöpften Begriffe bzw. der Begriffsereignisse sein. Zu dieser Nachträglichkeit kommt noch hinzu, dass dieser Begriffsfundus in seiner Produktion eine Ebene des Denkens generiert, die Deleuze und Guattari als abstrakte Maschine bzw. Immanenzebene bezeichnen. Sie fungiert eigenständig und kann nicht einem Subjekt zugewiesen wer201 https://doi.org/10.5771/9783495817650 .

Selin Gerlek

den. Das Denken als diese abstrakte Maschine vermittelt sich mit Errichtung dieser Ebene selbst ein Bild davon, »was denken, vom Denken Gebrauch machen, sich im Denken orientieren […] bedeutet.« (Wph 44) Hier erscheinen Denken und Verstehen letztlich als vorprädikativ und infinit. Radikaler wird diese Auffassung vom Denken und Verstehen noch mit Deleuzes und Guattaris Einführung der Begriffsperson, wenn diese letztlich das Werden des Denkenden bezeichnet: »Ich bin nicht mehr ich, sondern eine Fähigkeit des Denkens, sich zu sehen und sich quer durch eine Ebene zu entwickeln, die mich an mehreren Stellen durchquert.« (Wph 73) »Verstehen« muss schlussendlich als marginaler Prozess in der Sache des Denkens verstanden werden, der höchstens dann zur Sichtbarkeit gelangt, wenn es schon kein Verstehen mehr ist, sondern daraus das Produkt freigesetzt wurde: der verstandene Begriff oder jenes begriffene Verstehen als Verstehen, dessen einziger Zweck die Stiftung von Begriffen ist. Dennoch begreift Deleuze bzw. begreifen Deleuze und Guattari das Denken nicht als vollkommen unabhängig von uns stattfindendes Werden, sondern führt bzw. führen vielmehr das Konzept der Geophilosophie ein, das an Differenz und Wiederholung sowie Logik des Sinns anknüpft: Die uns widerfahrenden Ereignisse bilden als das Nicht-Philosophische das Außen unseres Denkens, ohne das ein Denken nicht möglich ist. Mit diesem Bezug zum Außen als spezifisches historisches Milieu kann das Denken als ein Experimentieren beginnen, indem es heterogene Elemente miteinander verbindet und durch eine grundsätzliche Reflexion auf das Denken, Verstehen und seine Grenzen das eigene Denken als Diagnostizieren des ›Jetzt unseres Werdens‹ begreift. Damit werden Denken und Verstehen mithin als Praxis lesbar, als Arten des Werdens, nicht zuletzt mit einem politischen und ethischen Impetus: eine somit nicht zuletzt selten ausgesprochene Dimension des Verstehens.

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II. Systematische Perspektiven

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Chancen des Verstehens Die Hermeneutik unter den Theorieformen der Kulturreflexion Volker Steenblock

»Wir denken vom Vorrang der Natur. […] Gleichwohl lassen wir uns von der Geistigkeit des Menschen nichts abmarkten.« (Günter Dux: Das Subjekt in der Grenze der Gesellschaft) 1 »Es gibt Kultur, weil der Mensch Zeuge der Wirklichkeit werden kann.« (Ernst Wolfgang Orth im Gespräch) 2 »Wer der historischen Hermeneutik den Anspruch streitig macht, die maßgebliche Methode all derer zu sein, die sich wissenschaftlich mit den Manifestationen des Menschengeistes befassen, muss sich fragen lassen, was er an deren Stelle zu setzen wünscht […] Die in der Hermeneutik schlummernden Energien sind noch längst nicht erschöpft, sie sind sogar unerschöpflich. […] Der Grund ergibt […] sich daraus, dass die Objektwelt der Geisteswissenschaften nie zu einem Ende kommt.« (Manfred Fuhrmann: Bildung. Europas kulturelle Identität) 3

Um die Mitte des 19. Jahrhunderts stellt Johann Gustav Droysen, der große Historiker des »Hellenismus«, in einem Brief eine ihm wenig sympathische Entwicklung fest. »Schon glaubt niemand mehr an die idealen Mächte«, schreibt er: Günter Dux: Das Subjekt in der Grenze der Gesellschaft. In: N. Psarros u. a. (Hgg.): Die Entwicklung sozialer Wirklichkeit. Auseinandersetzungen mit der historischgenetischen Theorie der Gesellschaft. Weilerswist 2003, S. 233–267. – Ich betrachte im Folgenden »Kultur« in einem Spektrum menschlicher Weltgestaltung von den ideellen Sinnbildungen in Religion, Kunst (als Kultur i. e. S.) bis hin zu allen zivilisatorischen Wirkformen des Zusammenlebens und Wirtschaftens. 2 Ernst Wolfgang Orth im Gespräch, Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik, Heft 2 (2017) »Kultur«, S. 55–57. 3 Manfred Fuhrmann: Bildung. Europas kulturelle Identität. Stuttgart 2002, S. 86 f. 1

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»Ad Vocem. Um gegen diese hier überhandnehmende Richtung – unsere weisesten Männer in Jena lehren bereits, dass nur Mikroskop und Waage Wissenschaft seien, dass ihre materialistische Methode die Methode überhaupt sei, wie einst die Hegelschen Schüler mit der Philosophie desselben gleichen sagten […] – um hiergegen anzukommen, werde ich im Sommer ›Methodologie und Enzyklopädie der historischen Wissenschaften‹ lesen«. 4

Aus dieser Vorlesung, die er im Sommersemester 1857 in Jena hält und im Zuge seiner weiteren Lehrtätigkeit in Berlin über einen langen Zeitraum regelmäßig wiederholt, entsteht Droysens »Historik«, in der es bekanntlich heißt: »Unsere Methode ist, forschend zu verstehen«. Wenig später beginnt auch der Philosoph Wilhelm Dilthey, der Naturerklärung gegenüber eine andere Wissenschaft, eine Wissenschaft der Kulturdeutung zu konzipieren. So eindeutig diese seither mit dem Gedanken verknüpft ist, dass wir unsere humane Existenz in letzter Instanz nur in einer hermeneutischen Perspektive ausdrücken können, so vielfältig und komplex erscheint doch die Wissenschaftslandschaft, in der diese Perspektive im Folgenden zu verorten ist. Die Problemstellungen und Frontlinien, die hinter Droysens Bemerkung stehen, lassen sich dabei in unserer Gegenwart unschwer wiedererkennen. Damals wie heute hat dies auch einen populären Widerhall, der dem Didaktiker auffällt: »Gehirn und Geist« gibt es an jedem newspaper stand, Ernst Haeckel erklärt den Erfolg seiner »Welträtsel« (311.–320. Tausend in »Kröners Volksausgabe« 1908, Seite 185) mit dem »Bedürfnis nach Weltanschauung«. Und damals wie heute findet sich das Eigenrecht der kulturellen Bildung von einem offensiven Naturalismus angegangen, dessen ErklärungsJohann Gustav Droysen: Briefwechsel. Bd. 2, hrsg. von J. Hübner. Berlin 1929, S. 54 f. Vgl. auch folgende Bemerkung Droysens: »Schon dringt man auch in das innere seelische Leben des Menschen und der Menschheit ein. Man verfolgt in den Verletzungen dieser, jener Theile des Gehirns die unmittelbar folgenden Störungen bestimmter Seelenthätigkeiten, die sich somit als eben diesen Gehirntheilen zugehörig erweisen. Das Gedächtniß, die Fähigkeit des Combinirens, der Entschluß, die Willenskraft zeigt sich als Function bestimmter Stücke des Gehirns; schon ist die Muthmaßung geäußert, daß das Gewissen, ich glaube, die Zusammenwirkung gewisser Frictionen und Ausschwitzungen sei«. Zitiert nach Mario Wimmer: Die Lagen der Historik. In: Österr. Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 2007, 106–125, S. 118, auch zum Kontext der Droysenschen Vorlesungen. – Ganz ähnlich konstatiert Wilhelm Dilthey im Jahre 1888 in einem Brief an seinen Freund Paul Yorck von Wartenburg: »Die naturalistische Bewegung in der Wissenschaft hat etwas Unaufhaltsames«, Briefwechsel, hrsg. von Gudrun Kühne-Bertram und Hans-Ulrich Lessing Bd. 2. Göttingen 2015, S. 194.

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ansprüche sich über die Natur hinaus auf die Kultur richten. Es geht, wie schon von Droysen gesehen, um den spezifischen Rationalitätsund Wissenschaftscharakter des Umgangs mit einem außerordentlich schwierigen Feld: dem methodisch kaum zu bewältigenden Stoff der menschlichen Angelegenheiten. Droysen, der seine antiken Autoren gut kennt, spricht von der ἀμέθοδος ὕλη der Geschichte. Warum ist die Kultur eine solche Herausforderung für die Theorie? Mit dem Menschen als handelndem Wesen, das fortlaufend unter die Bedingungen seiner eigenen Hervorbringungen gerät, wird nicht nur die Zahl der bei Deutungsversuchen zu berücksichtigenden Faktoren sehr hoch. Es geschieht zudem noch etwas Prinzipielles. Der Mensch kommt seinem Selbstverständnis nach nämlich nun zugleich als Subjekt in Betracht, das sich Ziele setzen kann. Dies hat Konsequenzen für jenen Spiegel der Wissenschaften, der das entscheidende Medium ist, aus dem wir in der Moderne mehr über uns und unsere Welt erfahren können. Denn die Bildung solcher Ziele wird von der Hermeneutik erschlossen. Vielleicht kann man, um dieser Lage näherzutreten und das Verstehen bzw. die Hermeneutik als eigenwertige, unverzichtbare Wissenschaftskultur 5 in ihr zu lokalisieren, im Weiteren – als Strukturierungszugriffe und zum Zwecke einer Übersicht – eine Mehrdimensionalität kultureller Erfahrung (1) und »Theorieformate« (2) unterscheiden und erläutern, um dann drei »Theoriefamilien« der Kulturtheorie (3) vorzustellen. Auf allen diesen Ebenen werden wir die Hermeneutik – erkennbar eine breit aufgestellte Methode und Philosophie – eine gewichtige Rolle spielen sehen, konfrontieren sie aber zugleich mit einem Blick auf natur- wie sozialwissenschaftliche Theoriebildung generell, um die verschiedenen Zugriffsweisen versuchsweise erkenntnis- und wissenschaftstheoretisch einschätzen und untereinander in Beziehung setzen zu können (4). Indem wir Mit Wurzeln in der antiken und biblischen Textexegese vollzieht die Theoriegeschichte der Hermeneutik spätestens ab dem 19. Jahrhundert eine Entwicklung hin zu einer allgemeinen Kulturverstehenstheorie. Die Hermeneutik vertritt seither Bildungsprozesse im gesamten Spektrum der Sinngehalte der kulturellen Welt. Sie entspricht als Komplementärmodus den Sinnbildungsleistungen in Kunst, Religion und Weltanschauung und umgekehrt sind zugleich diese Kulturleistungen – wie noch ihr Selbstreflexivwerden in der Philosophie – als auf Verstehensleistungen basierend aufzufassen, vgl. hierzu Volker Steenblock: Hermes und die Eule der Minerva. Zur Rolle der Hermeneutik in philosophischen Bildungsprozessen. In: Johannes Rohbeck (Hg.): Philosophische Denkrichtungen. Dresden 2001, S. 81–115; Ders., Philosophie und Lebenswelt. Hannover 2012, S. 141–166.

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die Naturbasis der menschlichen Entwicklung ernst nehmen, gelangen wir zur Frage nach der Entstehung der Kultur und auf den schwierigen Begriff der »Emergenz« (5). Am Ende ist auf das Feld der Geschichte als derjenigen Wissenschaft zu einzugehen, die uns den Gang der menschlichen Angelegenheiten vor Augen führt: sie ist sozusagen die Anwältin der empirischen Kulturvielfalt. In ihr muss sich die Frage einer angemessenen Kulturtheorie entscheiden und damit auch die Rolle, welche die Hermeneutik kulturphilosophisch, d. h. in der Deutung des Kulturwesens »Mensch«, spielen kann und muss (6).

1.

Zur Mehrdimensionalität kultureller Erfahrung

Eine Mehrdimensionalität kultureller Erfahrung kann man, blickt man auf die kulturwissenschaftliche Theoriebildung, aufgrund der Einsicht entstehen sehen, dass ein Gegenstandswissen über eine Objektwelt (wie es die Naturwissenschaften realisieren und wie es seit ihrem Austritt aus der Moralphilosophie auch die Ökonomie als »soziale Physik« tendenziell prägt) zum Verständnis der angesprochenen ἀμέθοδος ὕλη offenbar nicht ausreicht. Damit ist nicht gemeint, dass die Naturwissenschaften Grenzen hätten, welche bestimmte Zonen in der Welt für Übernatürliches frei ließen, sondern es ist ein Empfinden von Grenzen zu konstatieren, die sie als objektivierende Wissenschaften haben. Diese Grenzen werden dort wahrnehmbar, wo es um das geht, was nicht wie ein Ding behandelt werden kann. Nicht-dinghafte Erfahrungen machen wir alle in unseren Kulturvollzügen selbst, zum Beispiel insofern diese von Wertsetzungen bestimmt werden. Diese erscheinen uns nicht in einem pragmatischen Verständnis verschieden gemäß dem Argument, es sei halt wegen der Entfernung der Zuständigkeitsgebiete einfach nicht tunlich, kulturelle Phänomene auf Zugriffsweisen der Physik zurückführen zu wollen. Sondern sie erscheinen verschieden in dem Sinne, dass die Erzeugung kultureller Sphären sich durch eine Verknüpfung von Bedeutung mit all dem Materiellen und Medialen konstituiert, in dem diese Bedeutung Ausdruck finden kann. So lässt sich die (diskursive, kritische) Berücksichtigung eines Normativen aus dem Selbstverständnis einer Untersuchung menschlichen Lebens – nämlich als Perspektive auf sein Gelingen – offenbar nur schwerlich heraushalten (siehe »Positivismusstreit«). Mit der Ästhetik kommt für uns im Metier der Geistes208 https://doi.org/10.5771/9783495817650 .

Chancen des Verstehens

wissenschaften zudem offenbar eine weitere Dimension ins Spiel, denn auch der offene Horizont eines Performativ-Kreativen und Fiktionalen ist nicht gegenstandswissenschaftlich reduzierbar. Indem z. B. die »starken« Bilder der Kunst Sinn erzeugen, geschieht über die Produktion von etwas, das wir als Objekt einordnen können, hinaus ein »Zuwachs an Sein« (Gottfried Boehm). Und es wird überhaupt, je mehr es eigentlich um den Menschen geht, über alle naturhafte Funktionalität (auch über eine quasinaturhafte ökonomische Funktionalität) hinaus jener Perspektivenwechsel möglich, den wir als Vernunftwesen notwendig vornehmen, die für sich moralische, ästhetische und Sinnziele definieren können. Im Bildungsbegriff Wilhelm von Humboldts wird deutlich, dass wir uns nicht zuletzt selbst ein solches Ziel sind. Bildung definiert einen überzeugenden »Ort« für jene »Chance« (Ernst Wolfgang Orth), die der Naturprozess uns offenbar einräumt: für die Qualität jenes Transzendierens der Ebene des bloß Faktischen, welche die Kultur kennzeichnet. Wir selbst und die Welt sind uns Aufgabenstellungen, in denen sich unsere menschliche Existenz allererst erschließt und die aus uns mehr als Gegenstände macht. Bildung erscheint dabei auf qualitativ neuer Stufe als die Dynamik und Leistung eines Bewusstseins, das Probleme in einem existentiellen Sinne haben kann. Nur weil wir bei allen Wahrnehmungen zugleich unserer Existenz selbst als nicht ersetzbarer Referenzinstanz gegenwärtig sind, vermögen wir zu Zeugen (Orth) von Wirklichkeit zu werden. Volker Gerhardt hat im Anschluss an Dieter Henrich und an »Fichtes ursprüngliche Einsicht« von einer reflexiven Vorgängigkeit des Geistes gesprochen: Es ist nichts anderes als das menschliche Selbstbewusstsein, das die Natur erst denken muss, selbst wenn es sich alsdann in einem törichten Akt der Selbstverleugnung restlos in sie zu überführen versucht. Und es ist gut möglich unser als ein Ganzes empfundenes Ichsein, dem in einem nächsten Schritt das Verlangen nach einem analog strukturierten Gegenüber, ja: einem personalen, welterklärenden Göttlichen geradezu entspringen mag. 6 Zu dem Ältesten, was wir neben Faustkeilen und all den Erfindungen zum Zwecke seiner Subsistenzsicherung vom Menschen hervorgebracht finden, gehören Mythos und Religion. Damit wird in einem grundsätzlichen Sinne nach Maßgabe ihrer Autoren und Theoretiker Hermeneutik nötig. Denn wir können Dieter Henrich: Denken und Selbstsein. Berlin 2016, S. 46, grundsätzlich S. 23 ff.; Volker Gerhardt: Der Sinn des Sinns, Versuch über das Göttliche. München 2014.

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Volker Steenblock

uns nicht vollständig in eine Welt hinein einordnen, in der wir nur ein beliebiges Ding als ihr Bestandteil wären. Der Mensch erfährt sich in der Welt nicht als den selbstverständlichen Meister des Sinns, doch als dessen unhintergehbaren Bezugspunkt (Emil Angehrn). Aus der »echte[n] neue[n] Wesenstatsache« (so einst bereits Max Scheler) der »Qualia« des Bewusstseins erwachen dann zusammen mit der dem Menschen möglichen Intentionalität und geistigen Schöpferkraft im Medium von Symbol und Sprache kulturelle Sinngehalte. Weil wir die Welt als uns betreffend erleben, können wir eine dieser Bedeutsamkeit entsprechende Wirklichkeit, d. i. Kultur, erzeugen. Diese besteht aus den in allen Kulturen und Epochen Generation um Generation sich anreichernden Bedeutungswelten von Moral und Sitte, Kunst und Religion, schließlich Wissenschaft und Philosophie. Dass wir in einem sinnhaft fortzuschreibenden Modus leben (Dilthey), ist gegenüber den Gesetzmäßigkeiten von Naturprozessen etwas grundsätzlich Neues (auch wenn ohne deren Basis nicht Denkbares); es folgt ihnen gegenüber eigenen Regeln. Dieses Neue tritt in einem mit Emotionen verbundenen Modus auf, einer »qualitativen Färbung« (Max Weber) 7 unseres Erlebens und mit Relevanzen und Wertbezügen, welche sich mit dem Denken verbinden und übrigens, wie die philosophische Anthropologie uns lehrt, nicht adäquat einzuschätzen sind, ohne unter den vielen Beziehungsformen des Menschen zur Welt auch seine Leiblichkeit und natürlich-kontingente Herkunft als Säuger und Primat einzubeziehen. 8 Aus Trieb und Gefühl, die uns mit den höheren Tieren verbinden, rührt gleichsam »der Dampf, der bis in die lichtesten Höhen geistiger Tätigkeit alles treibt« (noch einmal Scheler). »Expressivität« (Norbert Meuter) und »Artikulation« (Matthias Jung) erzeugen die Orientierungsmuster und Bedeutungsgewebe, ohne deren Wirklichkeit und Existenz kulturelle Systeme weder unsere Identität prägen könnten, noch unser Dasein Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre (1922), 4. Aufl. hrsg. von J. Winckelmann. Tübingen 1973 (= WL), S. 173, herausgehobenes Folgezitat S. 180 f. – Max Scheler: Die Stellung des Menschen im Kosmos (1928). Bonn 1975, S. 41, 12. 8 Joachim Fischer hat dargelegt, dass der von vielen Kulturtheoretikern von Vico bis hin zu Hans Blumenberg bemerkte poetische Ursprung sprachlicher Weltrepräsentation sich ex analogia hominis in einer Metaphorologie ausdrückt, in der die menschliche Körperlichkeit eine wesentliche Matrix des Imaginären bildet. Vgl. Fischer: Das Imaginäre, Kreative, Schöpferische. In: Jörn Bohr/Matthias Wunsch (Hgg.): Kulturanthropologie als Philosophie des Schöpferischen. Nordhausen 2015, S. 17–34. 7

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zu strukturieren, tragen (und damit auch immer zu begrenzen) vermöchten, noch unserem Wollen Möglichkeitsräume eröffnen und Handlungsoptionen schaffen könnten. Die Grammatik von Sinn, die dabei erreicht wird, ist eine andere als die von bloßer Gegenständlichkeit. Es gilt mit Max Weber: »Transzendentale Voraussetzung jeder Kulturwissenschaft ist, […] dass wir Kulturmenschen sind, begabt mit der Fähigkeit und dem Willen, bewusst zur Welt Stellung zu nehmen und ihr einen Sinn zu verleihen. Welches immer dieser Sinn sein mag, er wird dazu führen, dass wir im Leben bestimmte Erscheinungen des menschlichen Zusammenseins aus ihm heraus beurteilen, zu ihnen als bedeutsam (positiv oder negativ) Stellung nehmen. Welches immer der Inhalt dieser Stellungnahme sei, – diese Erscheinungen haben für uns Kulturbedeutung«. Solche uns Menschen offenbar erfahrbaren Dimensionen gewinnen für die Diskurse von Kulturphilosophie und Kulturwissenschaften entscheidende Bedeutung. Sie ließen sich, wenn man dies veranschaulichen wollte, gleichsam in einem Koordinatensystem anordnen, in dem sie – oftmals ineinander verschränkt – mehrstrahlig über der Ebene objektwissenschaftlicher Gegenständlichkeit aufsteigen und deren Horizont überschreiten: eine normative Dimension (Ethik), eine ästhetisch-expressive Dimension und eine Dimension des bewertenden Bewusstseins und seiner Deutungen (Religion, Metaphysik, »Weltanschauung« im Sinne Diltheys). Grundsätzlich: Die Moralia, Aesthetica und Weltdeutungen stehen jenem Trugbild gegenüber quer, dass eine Kulturtheorie sich der konstitutiven Arbeit in ihren jeweiligen Eigenlogiken entledigen und sie wie etwas Abgeleitetes, auf eine (»eindimensionale«) Objektebene bzw. entsprechende Wissenschaftsmethode Rückführbares behandeln könnte, deren bloßer Niederschlag dann nur wäre, was werthaft, ästhetisch bedeutsam, sinnhaft usw. erscheint (obwohl es Attitüden gibt, denen solche Einebnungen erkennbar zugrundeliegen). So, wie alle Kulturen für sich die Prinzipienfragen menschlichen Selbst- und Weltverhältnisses in ihren Wert-, Kunst und Sinnsystemen repräsentieren, gibt es auch unter den mit Kulturdeutung befassten Texten und Arbeiten ihrer Designanmutung und ihrem Rationalitätsverständnis nach solche, die normativ oder ästhetisch (bzw. ästhetisierend) oder religiös bzw. weltanschaulich auftreten. Indem aber Kultur in letzter Hinsicht eine Vision menschlichen Lebens in den Modi seiner Sinnbildung beinhaltet – mit dem Optimismus eines Ernst Cassirer gar die Perspektive auf eine nötige eigentliche Humanisierung des Menschen – höbe der 211 https://doi.org/10.5771/9783495817650 .

Volker Steenblock

Kulturbegriff sich auf, wenn man ihn einer eindimensionalen objektwissenschaftlichen Reduktion unterwürfe. Jeder Schritt über die Alleinansprüche eines Naturalismus hinaus erzeugt demnach eine Mehrdimensionalität der Perspektiven, die wir für eine Theorie der Kultur unverkürzt in Anspruch nehmen müssen. Die Hermeneutik vertritt eine Kulturforschung, die dieser Mehrdimensionalität gerecht werden kann. Eine übergroße Fülle einschlägiger Arbeiten aus Literaturwissenschaft, Kunstgeschichte, Philosophie, Theologie und Geschichte beweist dies. Kultur in diesem Verständnis ist das Spektrum der vorbenannten uns möglichen Weisen der Sinnbildung durch Symbolisierung (ob andere möglich sind, sei dahingestellt), die in ihrer Gesamtheit jene Deutungswelten erschaffen, in der wir uns als Menschen allererst zu orientieren vermögen. In einem finden diese Dimensionen übrigens auch wieder zusammen: sie konstituieren jene Bildungsprozesse, in denen zum Ausdruck kommt, was den Menschen zum Menschen macht und jene Kultur Gestalt gewinnt, die man schaffen und wertschätzen kann.

2.

Theorieformate

Welche weiteren Faktoren könnten neben der vorbenannten Mehrdimensionalität kultureller Erfahrung und Reflexion aus heutiger Sicht für die von Droysen konstatierten Besonderheiten und Schwierigkeiten in der Kulturdeutung verantwortlich sein? Eine zweite Reihe von Gründen liegt wohl in den unterschiedlichen Anlageformen der Zugriffe, in denen kulturelle Verhältnisse verhandelt werden: man könnte sie als das extrem zerklüftete Feld von »Theorieformaten« ansprechen. Blicken wir auf die Kultur, kommen mit Vorläufern vor allem ab dem 19. Jahrhundert die Geistes-, aber eben auch die Sozial- und selbst die Naturwissenschaften ins Spiel und zudem noch manche Forschungsformate, die sich auf diese Einteilungsversuche nicht festlegen lassen möchten. Indem all diese Zugriffe durchaus keine gleichartigen empirisch-theoretischen Gebilde darstellen, müssen zusätzlich als ihre Metareflexion auch (Erkenntnis-)Philosophie und Wissenschaftstheorie eine Rolle spielen usw. Kurz: Die Kulturreflexion hat mit einem Wechselverhältnis disziplinärer Identitäten und mit stark divergierenden Vorstellungen ihrer Selbsteinschätzung zu rechnen. Um diese Theorieformate etwas näher zu bestimmen, möchte 212 https://doi.org/10.5771/9783495817650 .

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ich in einem nachgeordneten Unterteilungsschritt von drei einfachen Aspekten ausgehen: (a) von den grundsätzlichen Gegenstandsvorstellungen (bzw. Auffassungen ihrer Gegenstands-Reichweite) von Theorien, (b) von ihren paradigmatischen methodischen Arbeitsformen und (c) von Einschätzungen ihrer Dignität, damit meine ich vor allem erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Behauptungen, die sie über ihren eigenen Geltungsstatus aufstellen. Allerdings ist vorweg zu bemerken, dass diese Hinsichten zugleich untrennbar miteinander zusammenhängen. »Kultur« ist eng verbunden mit einer lebensorientierungsbezogenen Reflexionsebene, die man als die von »Weltbildern« bezeichnen könnte. Nicht nur treten viele Sinnbildungen in der Kultur mit »weltanschaulichen« Ansprüchen auf, vielmehr schlägt dieses Anliegen bis auf die wissenschaftliche Betrachtung der Kultur durch. Indem nämlich der Mensch nur als Kulturwesen Welt hat und erzeugt, geht es ihm auch um nichts weniger als darum, wie er sich zu dem in ein Verhältnis setzt, was ihm als das Ganze, dessen Teil er ist, erscheint. Hiermit wird, was Gegenstand sein kann, sozusagen maximal umfassend bestimmt. Man kann dies in einer Weise auffassen, dass es sich gleichsam um das erkennende Subjekt herum ordnet. Oder man gewinnt ein Bild der Welt, dessen Objektivitätsanmutung eine solche Kraft entwickelt, dass der Mensch als Subjekt sich ihm seinerseits einzuordnen gedrängt sieht. Letzteres kann bedeuten, dass er vor den eigenen verblüfften Augen zu einer Marionette selbstreproduzierender DNA schrumpft, auf einem Planeten unter sehr vielen anderen, in einer Galaxie unter Myriaden, womöglich in einem Universum unter unzählbaren anderen, denen er allesamt vollständig gleichgültig ist. Ein »View from Nowhere« (Thomas Nagel) bedient das Bild eines Weltganzen, in dem der Mensch, der es erschafft, nur noch als internes Objekt vorkommt, nicht mehr aber als dessen Erzeuger. Mit dem Menschengeist ist auch, was immer Träger von Erkenntnis sein mag (klassisch das erkennende Subjekt), in die eine Welt = Natur eingeordnet. Diese Welt gibt es aber allenfalls als ein Paradox, welches das kulturerzeugende Orientierungsinteresse, das eine bisherige Religion und Metaphysik gespeist hat, wie ex negativo weiter bedient: Besser ein Teilchen in einem Universum ohne Sinn, das sich als von geisteswissenschaftlicher Ideologie befreit und »aufgeklärt« empfindet, als überhaupt kein »Weltbild«. Bekanntlich kann aber auch der Geist in einer großen Tradition von Plotin bis Hegel sich aufschwingen, das ontologisch Erste zu sein bzw. mit der Vorstellung aufzutreten, dass 213 https://doi.org/10.5771/9783495817650 .

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ein ideeller »Weltgrund […] sich im Menschen […] erfasst und verwirklicht«. 9 Blickt man auf beide Großperspektiven, so muss man offenbar hinsichtlich des Horizontes kultureller Selbst- und Weltdeutung nicht nur über das Verhältnis der Wissenschaftskulturen, deren Konflikt das Eingangszitat von Droysen anschaulich macht, sondern über das ganzer Philosophien zueinander nachdenken. Ich meine dies in jenem Sinne, in dem Wilhelm Dilthey als Kulturtheoretiker zugleich eine »Philosophie der Philosophie« thematisiert (übrigens im Wesentlichen bereits mit den hier benannten Optionen). 10 (a) Werden auf der Ebene der Theorieformate als erstes Fragen gleichsam des Gegenstandes relevant, so kann eine diesbezüglich angesetzte Theorienreichweite also vom Anspruch auf völlige Erklärung der Welt als eines »Ganzen« über Thematisierungen »mittelfristiger« (z. B. gesellschaftlicher oder geistesgeschichtlicher Prozesse) bis hin zu flaneuresken, auf kurze Themenstrecken angelegten Einzeluntersuchungen sich erstrecken. Wer im Denkhorizont »Natur« die Hominisation als solche im Blick hat (wie etwa »Darwinizing Culture«-Ansätze), wird eine notorische Tendenz zum Universalisieren entwickeln. Er kann eine übergeordnete Prozessqualität benennen, die auch noch in die spezifisch menschliche Geschichte hinein-

Dies formuliert Max Scheler: Die Stellung des Menschen im Kosmos, S. 102 als Auffassung Hegels und kritisiert zugleich den »Irrtum […], dass diese Welt, in der wir leben, von Hause aus und konstant so geordnet sei, dass die höheren Seinsformen nicht nur an Sinn und Wert, sondern […] auch an Kraft und Macht zunehmen, je höher sie sind« (ebd., S. 72). – Zu Konzeptionen von Absolutem, Geist und Transzendenz als Alternative zum Naturalismus vgl. den Überblick und das bereits aus dem Titel sprechende Plädoyer von Jens Halfwassen: Die Unverwüstlichkeit der Metaphysik. In: Philosophische Rundschau 57 (2010), S. 97–124. Vgl. auch Tobias Schlicht (Hg.): Zweck und Natur. München 2011, S. 14, 23 ff. 10 Vgl. Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften, 26 Bde. und 4 Briefbände. Leipzig usw., später Göttingen 1914 ff.; ab Bd. XVIII hrsg. von Frithjof Rodi, Hans-Ulrich Lessing, Gundrun Kühne-Bertram u. a., Bd. VIII, S. 100 ff., 107 ff., 112 ff. – Dilthey hätte wohl manchen Grund zu schmunzeln, könnte er noch lesen, wie Vittorio Hösle in der Herausgeber-Einleitung von: Idealismus heute. Darmstadt 2015, dem Naturalismus (»Geistiges mag zwar existieren, aber es gilt als wesentlich ohnmächtig«) einen Konstruktivismus als »Erbe des subjektiven Idealismus« entgegensetzt, um dann für einen objektiven Idealismus zu plädieren. – Pointe der Diltheyschen philosophischen Metabetrachtung: Welche Sichtweise man einnimmt, ist das Ergebnis avanciertester Deutungsbemühungen im Rahmen der Kultur i. e. S. selbst, auch dort noch, wo ein scheinbar selbsterklärender Naturalismus propagiert wird, der als Aussage über die Welt doch in der Kultur, in der sie erfolgt, auf eigentümliche Weise die Stelle einer Sinndeutung vertritt. 9

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wirkt bzw. sie mit umfasst. Der Naturalismus definiert sich geradezu dadurch, dass er groß denkt über die Reichweite naturwissenschaftlicher Theoriebildung. Bei allem Widerspruch in der Sache hierzu gibt es in einem Denkhorizont »Gesellschaft« von Marx bis zur Weltsystemtheorie und von Max Weber über Norbert Elias’ Lehre vom Zivilisationsprozess bis zu den Modernisierungstheorien seit den 1960er Jahren 11 im Anspruch gar nicht so sehr unähnliche, kaum weniger umfassend angelegter Großtheorien. Und für die »klassische« Geschichtsphilosophie, die im Allgemeinen idealistisch in den Denkhorizonten von »Geist« und »Sinn« operiert, gilt dies erst recht. Je mehr der Blick die wimmelnden Einzelverhältnisse zusammenzufassen sucht, je abstrahierender die Theoriebildung die großen Linien ihrer Gegenstandauffassung verfolgt, um so deutlicher werden ihr die wesentlichen Strukturen eines Ganzen sichtbar, das sie in orientierendem Überblick erfassen möchte. All diese Großthesen unterliegen freilich der Kritik: der offensive Naturalismus z. B. durch eine differenzierende Wissenschaftstheorie und -geschichte, die Markrosoziologie durch Verteidiger der Eigenrechte der Kulturen, der »klassische« Idealismus durch Historismus und (einzel)hermeneutisch orientierte Kulturwissenschaften. Vor allem aber rutschen diese Großtheorien, einmal auf einen Weg hin zu den konkreten Vorgängen geraten, tendenziell in eine Variantenforschung jeweiliger Konstellationsräume und Pfadabhängigkeiten hinein. Sie sind ja wissenschaftliche Abstraktionen von den konkreten Einzelverhältnissen der menschlichen Bedürfnis- und Lebensdynamiken. Diese Dynamiken aber bewirken, dass der Kultur eine Pluralität eigen ist, die sich gerade in jeweiligen Gesellschaften/ Kulturkreisen ausprägt. Kultur ist deswegen je anders, auch wenn sie in ihrer Leistung als »soziale Sinnagentur« (Ernst Wolfgang Orth) im Grundsatz zugleich immer dieselbe ist. Schaut man hierauf, wird das Talcott Parsons: Evolutionary Universals in Society. In: American Sociological Revue 29 (1964), S. 393–357. – Johannes Berger: Modernisierung / Modernisierungstheorie. In: St. Gosepath u. a. (Hgg.): Handbuch der politischen Philosophie und Sozialphilosophie. Berlin 2008, S. 836–842. – In seiner kritischen Durchmusterung kultureller und sozioökonomischer Entwicklungstheorien hat Klaus Eder so schön bemerkt, dass der Prozess der Modernisierung die Modernisierungstheoretiker von Lewis Henry Morgan über Durkheim und Marx, Weber und Parsons bis Habermas leider immer wieder enttäuscht hat, siehe: Kulturelle Evolution und Epochenschwellen. Richtungsbestimmungen und Periodisierungen kultureller Entwicklungen. In: Jörn Rüsen (Hg.): Handbuch der Kulturwissenschaften, Bd. 1. Stuttgart/Weimar 2004, S. 417–430, hier: S. 423.

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Ganze flexibel und das Leben äußert sich, je genauer man hinsieht, in immer wieder neuen Gestaltungen, von denen die Bücherlisten einschlägiger Verlage sowie die Studienprogramme kultur- und medienwissenschaftlicher Fachbereiche voll sind. Diese Dispersion bildet den entgegengesetzten Pol einer Dialektik, die bereits in der Spannung zwischen humanistischer Menschheitsperspektive und dem Recht der Einzelkulturen beginnt, wie sie in dem Werk ein und desselben klassischen Theoretikers (nämlich Johann Gottfried Herders) aufbricht. Einschlägig ist hier ferner der Zwiespalt zwischen Evolutionismus einer- und Differenz- bzw. Einzelforschung andererseits in der Ethnologie. Hierhin gehört es auch, wenn eine akteurnahe ethnographische Feldforschung die Autorität ihres Gegenstandes nicht dem Ordnungsanspruch modernisierungstheoretischer Makrosoziologie opfern mag. Hierhin gehört es in einem Modus ideenpolitischer Radikalisierung, wenn Samuel Huntington auf die Konflikte bestimmter globaler Großkulturen untereinander verweist, die im scheinbar glatten Strom der Modernisierung auffällige Wirbel erzeugen. Hierhin gehört es schließlich, (theorie-)politisch ganz anders, wenn die Postcolonial Studies die Modernisierungstheorien zu Komplizen genau der machtförmigen Zivilisationsprozesse erklären, deren Fortschrittstheorie sie geben. In solcher Dialektik gibt es kein Mittleres als Lösung. Man kann vielmehr diesen Schluss daraus ziehen: Wer auf Generalisierungen über die Kultur aus ist, muss sich immer auch mit dem mikroanalytischen Blick auf das Einzelne konfrontieren lassen, bis dorthin, wo die Kulturwissenschaft zur Nomadin in den fluktuierenden Netzen der Bedeutungsbildung gerät, 12 als Wanderin in Dissonanzen und »irritierenden Impulsen« unterwegs ist, wo ihr Theorieformat »vagabundierende Praxis« wird. (b) Als ein nächster Punkt ergibt sich die Frage einer Formulierung grundsätzlich angemessener methodischer Arbeitsformate. Es ist offensichtlich, dass just die Paradigmatik experimenteller und systemischer Kausalerklärung, auf die der eingangs zitierte Droysen bereits anspielt, einen Referenzrahmen auch der Beschäftigung mit kulturellen Phänomenbeständen bis heute darstellt. Dies begegnet nicht erst in den Feldern tatsächlicher wissenschaftlicher Forschung, deren Einzelphänomene auf diese Weise angesteuert werden. Es sind vielmehr deterministische Gesamtunterstellungen, die ein Ausgreifen in So eine von Dirk Rustemeyer aufgegriffene Metaphorik, vgl. Diagramme. Weilerswist 2009, S. 51, 58.

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die Sphäre der Kultur zu erfordern scheinen. Wenn es nur Natur gibt und diese kausal geschlossen ist, muss sich die Kultur wie den Gegenstandsvorstellungen auch dem wissenschaftlichen Theorieformat einordnen, das diesen Gegenstand untersucht. Dem widerspricht der Grundsatz, »forschend zu verstehen«, der in der Auseinandersetzung mit der in unserem ersten Hauptpunkt aufgerufenen Mehrdimensionalität der Wirklichkeit in Norm, Ästhetik und Sinn entstanden ist und der zugleich die Interessen einer Philosophie vertritt, die mehr sein möchte als eine Pressesprecherin der Rationalitätsvorstellungen der Naturwissenschaften. Die Hermeneutik ist sowohl eine konkrete Wissenschaftsmethode (zuzuordnen im Folgenden dem im Abschnitt 3 (a) Behandelten), wie sie zugleich (ähnlich der philosophisch und sozialwissenschaftlich lange diskutierten Dialektik) auf der »höheren« Ebene grundsätzlicher Paradigmatik anzusiedeln wäre, die jetzt Thema ist. Sie steht dann dafür, dass empirisch-quantitative Zugriffe mitnichten die Welt vollständig erklären, sondern dass sie gerade dem nicht angemessen sind, was uns als Menschen am meisten ausmacht und am ehesten interessiert: eben der Kultur. Wie die Sphäre der Kultur überhaupt vorgestellt wird, hängt von diesen grundsätzlichen Zugriffsweisen ab. Hinter der eklatanten Unterschiedlichkeit steht, dass die naturalistische ein Kontinuum von Gesetzmäßigkeiten untersuchen möchte und Erklärbarkeit hier mit Vorhersagbarkeit einhergehen soll, während die hermeneutische sich auf lebensweltliche Orientierung und eine konstruktive Zukunft hin offen verstehen kann: eine deterministische wäre keine Kultur. Indem – wie schon von Droysen und Dilthey – hierauf zu beharren ist, bleibt die Kontinuität in der Frontstellung zweier (C. P. Snow) oder von drei (W. Lepenies unter Beifügung der Soziologie) »Kulturen« bzw. diskursiven Eigenwelten seither schlicht verblüffend, auch wenn sie je zeitgebunden wahrgenommen werden. (c) Schließlich werden Fragen relevant, die ich als Probleme der Dignität der Theoriekonstruktionen bezeichnen möchte: es geht um deren Ort und Ausgangspunkt, um epistemische Annahmen, um Geltungsansprüche. Wenn etwa die Reichweite einer Theorie gemäß (a), wie skizziert, sehr umfassend angenommen wird, wenn die Gewichtung eines bestimmten Methodenparadigmas gemäß (b) bis zur Konkurrenzlosigkeit hochgeschraubt wird, dann mögen auch die Gegenstandsbestimmungen bzw. deren ontologische Behauptungen so stark werden, dass sie alle erkenntnistheoretischen Ausgangsvor217 https://doi.org/10.5771/9783495817650 .

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behalte aufheben und in ihren Objektbereich einordnen. Man vermeint dann, die Welt im Letzten aufzufinden; in der Selbsteinholung ihrer Konstruktivität durch materiale Forschung ist ein maximaler objektivistischer Dignitätsanspruch qua Detranszendentalisierung erreicht. Naturalistische Erkenntnislehren sind ein Beispiel dafür, dass theoriestrategisch über die Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis im Gegenstandsbereich der eigenen Theorie entschieden werden soll. Dies macht einen unabhängigen Theoriezugriff philosophischer Erkenntnisreflexion überflüssig. Obwohl es sich ihrem eigenen Anspruch nach um erfahrungswissenschaftliche Theorien handelt, gewinnt ihre weltbildähnliche Hochrechnung mit dem Schritt von einem methodologischen zu einem weltanschaulichen Naturalismus einen derartigen »ontologischen Schwung«, dass dieser die Theorie gleichsam zementiert, während er die Eigentätigkeit des theoriebildenden (und des handelnden) Subjekts zu verschlingen droht. Dieses wird dem szientifisch wie selbstevident erzeugten Kontinuum als ein Gegenstand eingeordnet. Das Erkennen wird selbst zum Naturvorgang, als könne es »von nirgendwo her« beschrieben werden. Aber es beschreibt doch immer irgendjemand: Die Welt gibt es nicht unabhängig vom erkennenden Subjekt. Dies müssen sich auch die Sozial- und Geisteswissenschaften sagen lassen. Hinter der Grammatik von Sinnkonstitution und Sinnverstehen liegt ebenfalls bereits ein Entwicklungsprozess (sind also die Konstrukteure, wie man gesagt hat, selbst konstruiert), nur aus der Sicht dieser Wissenschaften, wie sich versteht, ein kultureller. Mit ihm geraten seine Erzeuger über kurz oder lang unter die Bedingungen ihrer eigenen Hervorbringungen. Die einzelnen Menschen sterben, aber die Ideen, die sie dabei im Kopf haben, denen sie unterliegen und die sie eine Zeitlang transportieren, dauern fort (bzw. auch, in der deutschen kulturtheoretischen Tradition eher implizit mit thematisiert, die zivilisatorischen und sozioökonomischen Kräfte, deren Träger sie sind). Wiederum kann nun von Hegel bis zum Traditionalismus Hans-Georg Gadamers ein objektives (Sinn-)Geschehen in dem Maße in den Vordergrund rücken, in dem die Feststellung gelten können soll, dass ihren Erzeugern die kulturelle Welt nicht zu ihrer Beliebigkeit überlassen ist, auch wenn sie es sind, die diese Welt hervorbringen. 13 13

Die genannten Hinsichten kombinieren möchte Jürgen Habermas, wenn er die

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Dem Bestimmungsversuch eines Anker- bzw. Fixpunktes der Theorie muss eine »weltanschaulich« eindeutige Lösung versagt bleiben, wenn es Kultur gibt: insofern diese ein zugleich offenes wie kontinuierliches Projekt ist, ist sie nicht an einem der Pole zu befestigen. Wir können offenbar weder schlicht naturalistisch noch überhaupt objektivistisch, aber auch nicht weltlos transzendentalphilosophisch argumentieren. Als weltreflektierende konkrete Subjekte balancieren wir in unserem Orientierungs- und Bildungsbemühen immer schon zwischen dem Objektbereich und seiner Konstitution. Nun hat man die Hermeneutik auf der Theorieebene, die wir jetzt verhandeln, als ein drittes Paradigma in Überwindung der Transzendentalphilosophie als Epistemologie angesprochen, welche ihrerseits die Metaphysik abgelöst hat. Die Hermeneutik beerbt beide in bestimmter Hinsicht, indem sie damit rechnet, dass auch die Erkenntnis der historischen Welt ihrerseits historisch, d. h. durch die Geistesentwicklung als objektiven Progress bestimmt ist, sie den Erkenntnisstandpunkt jedoch nicht einfach an das objektive Geschehen als diesen Standpunkt vollständig erklärendes ausliefert. Aufschlussreich diskutiert wird dies bei Ernst Wolfgang Orth. Hier begegnet uns die Hermeneutik, indem Orth auf Ernst Cassirers Begriff einer Hermeneutik der Erkenntnis verweist: »Der Mensch ist Subjekt, das der Welt (so oder so wissend) gegenübersteht. Aber er ist auch (ebenfalls so oder so wissend) in der Welt. Vor allem wird der Mensch (als Welt erschließendes Subjekt) erst in einem selbst-bildenden Prozess […]. Die Wissenschaften, welche die Welt […] erforschen, sind selbst Produkte einer sich bewegenden Kultur […]. Die Erforschung der geschichtlichen Entfaltung von Mentalitäten und Lebensweisen, wozu die Wissenschaften gehören (kurz: der Kultur) fordert als Pendant die Erforschung der Subjektivität und ihrer Strukturen, die in eben dieser Kulturgeschichte ihre Verwirklichung gefunden haben«.

Mit Dilthey und Cassirer ließe sich vielleicht in einer solchen Kippfigur der epistemologische Status der Kulturreflexion bestimmen. Eine »Hermeneutik der Erkenntnis« (ECN 1, 165) ginge von der Unhintergehbarkeit unseres Erlebens und bewussten Weltzugangs aus »welterzeugende Spontaneität vom erkennenden transzendentalen Subjekt auf eine in der Welt existierende Sprachgemeinschaft« verlagert, die sich zugleich mit Michael Tomasello an die »kommunikative Vergesellschaftung von individuellen Exemplaren einer hochentwickelten Spezies von Schimpansen« naturgeschichtlich anschließen lasse. Vgl. Smail Rapic (Hg.): Habermas und der Historische Materialismus. Freiburg 2014, S. 396 f.

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und schritte zu den Medien, Stellvertretungen und Repräsentationen voran, in denen wir kulturell uns auszudrücken versuchen. Dieser Erkenntnishermeneutik wäre es eigen, dass sie versucht, mit irreduziblen Posten wie denen des Zugangs zur Welt versus Welterklärung dieses Zugangs umzugehen und diese doch auf eine produktive Reflexion zu lenken: »Indem wir die Welt konstituieren, ›wird etwas aus uns‹« (Orth). 14

3.

Drei Paradigmata (Theoriefamilien) der Kulturforschung

Um diese versuchsweise rubrizierend skizzierte Problematik der im Felde der Kulturbetrachtung vorfindbaren Mehrdimensionalität (siehe Abschnitt 1) und Theorieformatierung (Abschnitt 2) nun konkreter anzugehen, lässt sie sich vielleicht in einem dritten Schritt anhand von Selbstbehauptungsansprüchen wissenschaftlicher Großsysteme weiter untersuchen, von Theoriefamilien. Hiermit meine ich eine wissenschaftsgeschichtliche Präzisierung, welche gängige Hauptlinien der Theoriebildung verfolgt, wie sie sich bis hin zur Gegenwartsdiskussion konstatieren lassen. Diese Konkretisierung setzt die vorbenannten Ebenen der Theoriedimensionen und Theorieformate voraus und bewegt sich gleichsam in deren Rastern. Im Wesentlichen, dies ist schon öfter bemerkt worden, kann man davon ausgehen, dass die Kultur in den Bahnen dreier solcher Theoriefamilien thematisiert Ernst Wolfgang Orth: Die Wissenschaftskonzeption bei Dilthey und Cassirer. In: Christian Dambök/Hans-Ulrich Lessing (Hgg.): Dilthey als Wissenschaftsphilosoph. Freiburg 2016, S. 199–209, hier: S. 208, Pendant von mir hervorgehoben. – Mit Edmund Husserl besteht die »Paradoxie der Subjektivität« (siehe Husserliana VI, 2, S. 182 ff.) darin, dass sie als constituens aller constituta der Welt vorausliegt, in der sie zugleich wissenschaftlich analysierbar vorkommt. – »Das konkrete Subjekt ist Zentrum seiner Welt, unbeschadet dessen, dass es sich in einer Welt befindet. Diese Zentralitätsstruktur löst sich nicht auf, wenn es sich selbst zum Gegenstand naturwissenschaftlicher Forschung konstituiert. Dass es einen Wissenden gibt, ist notwendige Bedingung dafür, dass es Wissen einschließlich naturwissenschaftlichen Wissens vom Wissenden gibt. Das konkrete Dasein ist geltungsfundierend, selbst wenn man versucht, das Geltungsfundament zu zerstören, denn dann ist es Subjekt der Zerstörung. Das konkrete Subjekt kann sich weder weg-denken noch weg-machen. […] Wir sind dazu verurteilt, da zu sein […]«, so Carl Friedrich Gethmann: Was bleibt vom fundamentum inconcussum angesichts der modernen Naturwissenschaften vom Menschen? In: Michael Quante (Hg.): Geschichte – Gesellschaft – Geltung. XXIII. Deutscher Kongress für Philosophie 2014 an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Hamburg 2016, S. 3–28, hier: S. 25.

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wird, zwischen denen seit dem 19. Jahrhundert bis heute ein traditionsreiches Wetteifern um die Vormachtstellung zu beobachten ist. Greifen wir hinführend einfach zwei aktuellere Beispiele heraus: Der Begründer der »Cultural Studies«, Stuart Hall, las »German idealism« und »Hegelian idealism«, als er, wie er bekundet, eine Korrektur zu Marxens Ökonomismus suchte. Dagegen nehmen die soziobiologischen Hardliner Edward O. Wilson und Charles Lumsden zwei ihren Auffassungen kontrastierende Paradigmata kritisch ins Visier: die mit Marx auch für sie sprichwörtlich verbundene Auffassung, eine letztinstanzliche »social existence« der Menschen bestimme ihr Bewusstsein und sei historisch veränderbar, ohne die Evolutionsbiologie um Erlaubnis zu fragen und die idealistische/kulturalistische Überzeugung: »Meaning is beyond the reach of evolutionary models«. 15 Es sind demnach drei Paradigmata, die uns gleich in dieser kleinen Stichprobe begegnen: Ein erstes denkt von Geist und Sinn aus. Es gibt jedoch auch Theorien, die bei der Vergesellschaftung des Menschen und den Eigendynamiken seiner ökonomischen Reproduktion ansetzen, in einem Spektrum intern wiederum rivalisierender Traditionen vor allem seit Marx und Max Weber. Und es gibt Theorien, die im Rahmen der erreichten Standards und der Forschungsprogramme der Naturerkenntnis argumentieren, vor allem des Darwinismus. Natürlich finden sich hinter dieser vereinfachten Gegenüberstellung verschiedenste Verschränkungen. Auffallend ist dennoch, dass diese drei unterschiedlichen Theorie-Großfamilien ebenso deutlich wissenschaftsgeschichtlich identifizierbar sind, wie sie zugleich immer noch erstaunlich selten im Kontext diskutiert werden: Zu den Idiosynkrasien spezifischer Wissenschaftskulturen mag erkennbar der Gestus gehören, gegenüber dem eigenen erklärenden Konzept die jeweils anderen Sichtweisen auszublenden. Dabei schließen die Zuständigkeitsbereiche dieser Theorien aneinander nicht einfach aus, sondern beinhalten fast notwendig Implikate den Gegenstandsfeldern anderer Theoriestämme gegenüber. Theorien mit sozialwissenschaftlichem Schwerpunkt ebenso wie idealistische sagen implizit und explizit etwas über die Natur und ihre Erkenntnis; manch naturalistiStuart Hall: Cultural Studies and its Theoretical Legacies. In: Lawrence Grossberg (Ed.): Cultural Studies. New York /London 1992, S. 277–286, hier: S. 279 f.; Edward O. Wilson/Charles Lumsden: Promethean Fire. Reflections on the Origins of Mind. Cambridge, Mass. 1983, S. 169, 173.

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sche Theorie, sei es im Anschluss an den Darwinismus, sei es als Forschung zu neuronalen Prozessen, sagt etwas über die Kultur (oder, wie im Fall Daniel Dennett, was sie dafür hält). (a) Dem Deutungshorizont Sinn steht philosophisch der »kontinentale« Idealismus Pate, dessen Anwälte, wie vorstehend bereits angedeutet, bis heute mit Kants Transzendentalismus einer Reduktion des sich seiner selbst vergewissernden Vernunftsubjektes auf bloße Natur widerstreiten. Als eigentlicher Ahnherr der Sinnparadigmatik gilt – insbesondere bei ihren internen kulturwissenschaftlichen Kritikern – Hegel, der in großem Zug nicht nur die Sphäre der Kultur gedanklich entwickelt hat, sondern auch das, was die Welt im Ganzen und im Prinzip ist: Sie besteht aus Gestalten des Geistes, die adäquat intellektuell anzuschauen sind. Dem entspringt die Annahme letzter Wirklichkeit als Prozess eines zu sich selbst kommenden Absoluten, bekanntlich nach Marx die Mystifikation der Idee zum Demiurgen, welcher mit Recht der »Verfaulungsprozess des absoluten Geistes«, der »Verwesungsprozess des Hegelschen Systems« auf dem Fuße gefolgt sei. 16 Hegels Einfluss auf den eingangs genannten Droysen im Kontext der »idealen« oder »sittlichen Mächte« als Hauptphänomenen von Kultur und Gesellschaft ist einschlägig. Die zugleich im Historismus von Droysen über Dilthey bis Cassirer erfolgte Modifikation solcher dignitätstheoretischer Grundannahmen ist es freilich auch. Die Reflexion der Kultur schließt an den Idealismus ebenso an, wie sie ihn zugleich von Anfang an und ihres eigenen Anliegens wegen kritisieren und transformieren muss. Sie entwickelt auf seiner Basis die Vorstellung von einem »geradezu unüberbietbaren Anspruch des Menschen auf Sinnbildung« (Friedrich Jaeger). 17 Spätestens seit dem 19. Jahrhundert und seit Johann Gottfried Herder besteht der traditionell in den Geisteswissenschaften vertretene Kulturbegriff dabei unter mehr oder weniger expliziter Hintansetzung anderer Perspektiven auf dem grundsätzlichen und wirkungsfähigen Stellenwert kreativ »offener« menschlich-sinnerzeugender Praxis: Kultur ist geistige Genesis und schöpferische Bedeutungssetzung. Sie wird als

Karl Marx: Die Frühschriften, hrsg. von S. Landshut. Stuttgart 1971, S. 342 f. – Karl Marx/Friedrich Engels: Werke (MEW). Berlin 1956 ff., Bd. 23, S. 27. 17 Friedrich Jaeger: Vorwort, Kultur, Moderne, Neuzeit. In: ders. (Hg.): Enzyklopädie der Neuzeit, 16 Bde. Stuttgart 2005–2012, Bd. 1, S. VII-XXIV; Bd. 7, S. 253–281; Bd. 9, S. 158–191; Bd. 10, S. 651–654. 16

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Welt von Wertsetzungen, ästhetischen Ausdrucksformen und Sinnverwirklichungen geschaffen, denen die Intentionen von Subjekten zugrunde liegen. Hinsichtlich dieses grundlegenden Menschenvermögens hat der Philosoph Ernst Cassirer von einem »animal symbolicum« gesprochen. 18 Der Begriff eines Homo symbolicus muss demnach von einer semantischen Autonomie (Michael Hampe) des Menschen und der von ihm gesetzten Sinnimpulse in der Entwicklung einer Eigensphäre ausgehen, die sich von naturalen Bedingtheiten emanzipiert hat, ja: geradezu ihnen entgegen definiert wird: biologisch-evolutionäre Erklärungsmuster gelten für diese Wissenschaftsparadigmatik als irrelevant; weder auf ökonomische noch auf soziologische Erklärungen findet Kultur sich rückführbar. Die Fragerichtung wird schlicht entgegen gesetzt: Behauptet der reduktionistische Naturalismus Bestimmungsfaktoren, so sucht die idealistische Kulturtheorie eines Ernst Cassirer Befreiungsvorgänge. Hier liegt das fundamentum in re des nicht ohne begründete Differenzierungen immer wieder kritisch angegangenen, aber eben auch nicht ohne gute Gründe historisch entwickelten Gegensatzes von Natur- und Geisteswissenschaften. 19 Cassirer: Essay on Man, dt. Versuch über den Menschen. Hamburg 1996, S. 51. Obwohl verstärkt und neu seit den 1980er Jahren im cultural turn die menschlichen Angelegenheiten kulturell verstanden werden, flaggt sich das Spektrum der Einzelarbeiten in den Literatur- und Medienwissenschaften seit Jahrzehnten zugleich in Moden- und Methodenpolitiken bzw. »humanwissenschaftlichen Aufregungen« (Jörn Rüsen) jeweilig aus. Der Tradition von Hermeneutik und Verstehen gesellen sich als Alternativen Zugriffe zu, die ihren Schwung aus der Gegenformatierung zu einem (imaginierten) »Sinn« gewinnen wollen, der zerfallen muss. Diese Alternativen sehen sich als innovative Formate der Sonderbildung von der kulturkonstitutiven Dimension des Ästhetischen auch zur eigenen Form aufgerufen: manche Literaturwissenschaft zur eigentheoretischen Unternehmung, wenn nicht Inszenierung, die eine oder andere kunstgeschichtliche Untersuchung zur »postkolonialen« Demonstration, eine avancierte Medienwissenschaft zum medialen Ereignis. Man möchte die These vertreten, dass ihre Partikularisierung und »Ent-Disziplinierung« (Ernst Wolfgang Orth) die Autonomie (Hans-Ulrich Lessing) und Kohärenz der Geistes- bzw. Kulturwissenschaften gegenwärtig ähnlich in Frage stellt wie die eingangs beschriebenen Plausibilitätsgewinne des Naturalismus. Ein Referenzprofil einschlägiger Theoretiker von Vico zu Dilthey sowie eine Trias der Paradigmata von Hermeneutik, Philologie und Historismus müssen demgegenüber in Bezug auf Kulturwissenschaften, die ihren Wissenschaftscharakter ausweisen können wollen, als unverzichtbar erscheinen, vgl. Volker Steenblock: Theorie der Kulturellen Bildung. Zur Philosophie und Didaktik der Geisteswissenschaften. München 1999, zu den genannten disziplinprägenden Autoren S. 21–64, zu den genannten Paradigmata S. 65–82, zur Hermeneutik insbesondere S. 82–91, zur Zurückweisung der Hermeneutikkritik S. 91–101.

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Der Modus des Sinnhaften öffnet und erfüllt sich in Bildung und Kultur (nicht jedoch unbedingt gutartig »sinnvoll« im umgangssprachlichen Begriff). Wenn nicht um eine Inkarnation des Sinns in die Welt, so geht es hier doch um etwas, das – und dies ist die Pointe: – als humanes Projekt mitvollzogen werden muss (und nicht lediglich szientifisch objektiviert werden kann). Dabei sind die Verhältnisse immer komplex vielstufig. Sinndeutungen, wie wir sie erzeugen, entstehen aus unserem Anliegen, ein anderes Qualitatives, Bewusstes als ein uns Adaptables zu verstehen. Wenn wir etwas nicht verstehen, erscheint es uns im Allgemeinen als sinnlos und wird in uns nicht wirksam, streben wir doch danach, unser Interesse und unsere persönliche Bedeutungszuschreibung möglichst mit Einsichten objektiver Relevanz in Einklang zu bringen. Es erfolgt eine gewisse Mimesis, ein (Sich-)Ähnlichmachen und zugleich eine Erweiterung des eigenen Ausgangspunktes. Nicht erst der »Dekonstruktion« und manch langer emphatischer Traktate über das »Fremde« hat es bedurft, um zu sehen, dass dabei stets auch Erfahrungen von etwas als neu, als irritierend und provozierend gemacht und verarbeitet werden. Dies erst Unverständliche kann entweder im Zuge immer neuen Zugriffs in neuen Horizonten schließlich doch angenommen oder in Variationen wirksam werden, oder es bleibt eine Kontrastfolie, zu der unser Eigenes einen bewussten Gegenentwurf darstellt (und auch so kann es bildend wirken), so vielfältig und komplex, wie wir Menschen eben sein können. Die Akteure sind Schöpfer des Sinns und fast sofort auch seine Interpreten und (affirmierenden wie kritischen) Kommentatoren in dem hermeneutischen Lebensraum, den die Kultur uns bietet. Diese wird betrachtet als eine reflexiv-dynamisch fortschreitende Sphäre von Deutungen, und noch die Geisteswissenschaften sind als geregelte Metainterinterpretation Teil dieses Prozesses. Letztere konstituieren sich in Anerkenntnis dieses Mediums der von den Individuen intentional erzeugten und sie zugleich als Personen tragenden und bildenden Kultur als sinnhafte Wirklichkeit. Dabei gilt, dass der Einzelne nicht lediglich jeweiliges Subjekt, sondern zugleich immer schon Teil eines überindividuellen Sinnsystems, ja: vieler übergeordneter Symbolstrukturen ist. Dies umfasst auch die Erklärung der NaVgl. ebd. auch zu Optionen einer Hermeneutik der Naturwissenschaften S. 279–306 und zu den Kulturwissenschaften als »Orten« zivilisatorischer Gegenwartsreflexion S. 307–320.

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tur, denn die Menschen gewinnen ihre Selbstbilder nicht ohne das Wissen, mit dessen Hilfe sie sich in der Welt behaupten. Dieser prozessualen, sich anreichernden Eigenqualität der fortlaufenden Vermittlungen der kulturellen Welt entspricht bei Droysen ihre Deutung als Medium des Geistes. Er benennt sie mit einer dem Aristoteles entlehnten Begrifflichkeit als ἐπίδοσις εἰς αὑτό. 20 Die »Systeme der Kultur« (Dilthey) bzw. »symbolischen Formen« Mythos, Religion, Kunst und Wissenschaft (Cassirer) prägt in Tradition und Traditionskritik ein Modus, der als eine nicht abreißende, in sich selbst sich steigernde Kette von Relevanzzuweisungen und Formungen des Geistigen prozediert. Den Individuen gegenüber sind diese, wiederum mit Dilthey, eine Sphäre ihrer »Gemeinsamkeit«, die sie trägt, prägt und ihre kulturellen Möglichkeiten so bedingt, dass sie diese Artefakte und Ideen, Praxisformen und Institutionen verstehend einholen und zugleich übersteigen können. Die Geistesund Kulturgeschichte ist – als gegenüber der Natur besondere Wirklichkeitsform – substanziell eigenständige Entwicklung im reproduktiven wie produktiven Verstehen von Sinngestaltungen, wie sie sich in menschliche Praktiken einlagern. Sinn schreibt sich ebenso wie ins Bewusstsein und in die Symbolsysteme ein in die Körper und in die Lebensverhältnisse. Er materialisiert sich in Artefakten aller Art, mit denen der Erdball mittlerweile überzogen ist. Im Umgang mit ihnen kann das Theorieprogramm der Hermeneutik als Methodeninbegriff des Deutungshorizontes »Sinn« einen angemessenen Zugriff auf Kulturvollzüge ausweisen. Die Ansätze, die Anreicherungen traditionsgespeister Lebensmuster und Sinnbildungen in ihren geschichtlichen Kontinuitäten und Transformationen zu rekonstruieren, reichen vom Begriff der Erinnerung als »Paradigma der Kulturwissenschaften« (Jan Assmann) über eine Analyse aller medialen Formen (Rituale, Denkmäler), in denen Kulturen gemeinsame Droysens Kritik, die gesetzeswissenschaftliche Sicht habe für die sich in fortschreitenden Sinnformungen steigernde Kontinuität des Geistigen »kein Organ«, ist von offenbarer Aktualität. Es tut der grundsätzlichen Berechtigung seiner Formel zur Bezeichnung der Prozesse durchgearbeiteter Selbstexplikation des Menschengeistes keinen Abbruch, zugleich festzustellen, dass Droysen ein überzogenes normatives und teleologisches Vertrauen in diese für ihn eigentliche Wirkebene der Geschichte entwickelt. Er kennt nicht das Misstrauen eines Marx gegenüber dem objektiven Geist. Vgl. die luzide Darstellung bei Helmut Hühn: Epídosis eis hautó – Zur morphologischen Geschichtsbetrachtung bei Johann Gustav Droysen. In: J. Maatsch (Hg.): Morphologie und Moderne. Goethes ›anschauliches Denken‹ in den Geistes- und Kulturwissenschaften seit 1800. Berlin 2014, S. 111–130, 125, 127.

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Erfahrungsräume als ihnen nötige konnektive Strukturen ausbilden, bis zu den historiographischen Narrationsweisen, wie Jörn Rüsen sie typologisiert hat. Ihnen allen geht es um solche Vorgänge, in denen wir einen Sachverhalt nicht gegenständlich feststellen, sondern seine Bedeutsamkeit »produktiv-objektivierend« mitvollziehen, indem diese verstehbar gemacht und immer zugleich (mit-)konstituiert wird. 21 (b) Deutungshorizont Gesellschaft. Vor allem seit dem 19. Jahrhundert werden die Zustände unter den Menschen auf einer Ebene erklärt, affirmiert und kritisiert, auf der es um Ordnungen des Zusammenlebens, um Staaten, Herrschaftsverhältnisse, Klassen, gesellschaftliche Modernisierung usw. und auch um den Markt geht, der für eine Mainstreamökonomie an die Stelle idealistischer Geschichtsdeutung tritt: Nicht der Sinn erschließt und ordnet die Welt, sondern Macht und Markt tun dies, nicht die Hermeneutik erscheint als Theorie der Moderne, sondern (seit Emile Durkheim) Soziologie und (seit Adam Smith) Ökonomie. Für Karl Marx gestaltet und verändert sich das Verhältnis zwischen den Menschen im Sinne einer Eigendynamik, die im etablierten Kapitalismus von Geld und Profit bis in die scheinautonomen kulturellen Sinnbildungen hineinwirkt (bekanntermaßen aber die Perspektive ihrer Aufhebung enthalten sollte). So anders demgegenüber die großen Modernisierungstheorien auch ausgerichtet sind: auch hier laufen die (hermeneutisch als primäre in ihrem Eigenprogress festgestellten) kulturellen Sinnbildungen als einheitsstiftendes und funktionsstabilisierendes (Talcott Parsons) »Gedächtnis« der Gesellschaft mit der sozialen Entwicklung gleichsam als ihre sekundäre Innenseite mit, auf der die Zivilisationsentwicklung im Bewusstsein ankommen und fortgebildet werden kann. Kurz: In den Blick rücken Homo sociologicus und Homo oeconomicus. Das Soziale wird schlicht dadurch etabliert, dass wir uns in den Plural gesetzt finden und in eine Interaktion untereinander eintreten Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 1992, siehe Vorwort, S. 11. – Jörn Rüsen: Historik. Köln 2013; ders.: Kultur macht Sinn. Köln 2006. – Zitat von Frithjof Rodi: Über die Erfahrung von Bedeutsamkeit. Freiburg 2015, S. 15. – Gunter Scholtz: Zwischen Wissenschaftsanspruch und Orientierungsbedürfnis. Zu Grundlage und Wandel der Geisteswissenschaften. Frankfurt 1991; Hans-Ulrich Lessing: Die Autonomie der Geisteswissenschaften, 2 Bde. Nordhausen 2015. – Emil Angehrn: Wege des Verstehens. Würzburg 2008, S. 7, vgl. auch Ders.: Sinn und Nicht-Sinn: Das Verstehen des Menschen. Tübingen 2010.

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müssen (Politik), auch wirtschaftlicher Art (Ökonomie). Es scheint eine uns dabei als je Einzelnen unumgängliche Selbstbehauptung zu sein, die offenbar Dynamiken wie folgt in Gang setzt: Was man selbst nicht tut, sobald es politisch oder szientifisch-technisch an Einflussund Vorteilsnahme in den Möglichkeitsbereich rückt, werden andere tun. Durch die Individuen hindurch und von ihnen getragen, erheben sich über sie hinausgreifende selbstvollziehende (soziale, politische, ökonomische) Prozesse, mittels derer neue zivilisatorische Strukturen in die Welt kommen. Diese Machtwirkungen und -rechtfertigungen haben ohne Zweifel eine hundertausendfache intentionale und ideelle Seite. Manche Theoretiker setzen etwa ein menschliches Machtbegehren (»Kampf um Anerkennung«) an. Und doch sind solche Entwicklungen nicht lediglich intentional bzw. sie scheinen alle individuelle Handlungsmacht oder normative kollektive Verhandelbarkeit zu überrollen. Ebenso bauen solche Machtwirkungen sicherlich auf evolutionären Naturbedingen auf, ja: sie prozedieren vielleicht in quasi naturhafter Art, 22 aber schlicht Natur sind sie doch auch nicht. Sondern sie erheben sich augenscheinlich wie aus sich selbst heraus mit einer gleichsam aus verdichteter Hominideninteraktion stammenden Kraft. (c) Deutungshorizont Natur. Die moderne Physik und Evolutionstheorie haben sich in einer Austreibung teleologischer Kategorien aus dem naturwissenschaftlichen Denken etabliert. Die glänzenden Erfolge und das Renommee ihrer Forschungsprogramme nähren spätestens mit Darwin die Vorstellung, auch die Kultur könne von der Natur aus oder wenigstens in Übernahme der Paradigmata ihrer Erforschung verstanden werden. Dies gilt bereits für einen Materialismus in den Wissenschaften des 19. Jahrhunderts, auf den Kulturtheoretiker wie Droysen, Dilthey und Cassirer in kritischem Rückgriff auf Kant und Hegel reagiert haben. Gegenwärtig argumentieren – untereinander durchaus differierend – vor allem Vertreter der Soziobiologie (in Deutschland z. B. Eckart Voland), der biologischen Anthropologie / Paläoanthropologie / Primatologie, der evolutionären Psychologie und der »philosophy of mind« naturalistisch (wobei die

Für unsere »zweite Natur« mag mit einer Bemerkung Adornos aus der »Negativen Dialektik« gelten: Die Naturgesetzlichkeit der Gesellschaft ist Ideologie, real aber ist sie als Bewegungsgesetz der bewusstlosen Gesellschaft. Vgl. Norbert Rath: »Zweite Natur«. In: Ralf Konersmann (Hg.): Handbuch Kulturphilosophie. Stuttgart 2012, S. 350–365, hier: S. 364.

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Initiative sich von der Physik auf die Biologie verlagert). Homo biologicus bzw. homo naturalis gerät in der Tradition Rudolf Carnaps in eine gewisse koalitionäre Verbindung mit einer Überwindungsrhetorik der Analytischen Philosophie dem »metaphysischen« Geist gegenüber. In manchen ihrer Formen findet sich dieser, der bei Hegel nahezu alles war, auf »Mentales« reduziert und zum Oberflächenschaum einer naturhaft gedachten Welt degradiert. Bereits die Grundqualität unseres Erlebens schrumpft tendenziell zu einer Art von halluzinativem Nebeneffekt von Natur und wird zu nichts als dem Ergebnis neuronaler Prozesse bzw. einfach für mit ihnen identisch erklärt. Physik und Biologie erscheinen als einzig angemessene Beschreibung der Welt. Als Welt wiederum gelten das grundsätzlich »geistlose« Universum und das Kontinuum der Naturgeschichte, welchem die Kultur gleichsam einsortiert wird. Die Materie und ihre Gesetzlichkeiten sind ein Letztinstanzliches, in das hinein die auftretende menschliche Reflexion sich einzufügen hat. Wer derart im Sinne der Natur weiterfragt, dem muss alles zu Natur werden, insbesondere die Kultur zu deren linearer Verlängerung oder gar Teilmenge. Es gibt keine »anthropologische Differenz« in dem Sinne, dass zivilisatorisch oder kulturell unabhängig von der Naturerklärung seines Entstehens etwas über den Menschen wissenschaftlich gesagt werden könnte, das er neu täte. Vielmehr sagt umgekehrt letztere bereits alles szientifisch Legitime über den Menschen aus. Der Naturalismus kennt und definiert diese eine relevante Ebene, er sieht folgerichtig nicht erst in der Gesellschaftlichkeit der Menschen ein eigenständiges Paradigma begründet. Dieser Naturalismus impliziert ferner die Nichtanerkenntnis oder zumindest Herunterstufung eines eigenen, hermeneutisch aufzufassenden Prozessmodus ideeller Kultur, indem auch dieser noch als Fähigkeit, Situationen im Rahmen eines mentalen Modells zu verarbeiten, auf einer ultimativen Ebene erklärbar werden soll. Zur evolutionären Inrechnungstellung schnurren kulturelle Sinnentwürfe dann auf ein »set of mental representations entertained by members of a particular group that makes that group different from others« zusammen. 23 Schon Darwins Gradualismus in der Einschätzung kultureller Phänomene sah vielzitiert in der »difference in mind« zwischen dem Menschen und den höheren Tieren »certainPascal Boyer: Human Cognition and Cultural Evolution. In: H. L. Moore (Ed.): Anthropological Theory Today. Cambridge 2000, S. 206–233, hier: S. 206. – Charles Darwin: Descent of Man (1871), Works, Volume 21. London 1989, S. 130.

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ly one of degree, not of kind«. Zu den mehr oder weniger bewussten Hintergrundannahmen gehört entsprechend eine reduktionistische (wenn nötig »eliminative«) Eindimensionalität der Welt. Der Ethnologe Clifford Geertz führt uns ironisch eine Reihung vor Augen, die zeigt, was passiert, wenn man so an die Kultur herangeht: »Strip off the motley forms of culture and one finds the structural and functional regularities of social organisation. Peel off these in turn and one finds the underlying psychological factors – ›basic needs‹ or what-have you – that support and make them possible. Peel off psychological factors and one is left with the biological foundations – anatomical, physiological, neurological – of the whole edifice of human life«. 24

Wie dieser Spott bereits andeutet, müssen naturalistische Theorien im Feld der Kulturforschung mit Einwänden rechnen, auch wenn sich ihnen einige Geisteswissenschaftler anschließen, die zur Betrachtung von Religion, Kunst, Literatur usw. evolutionistische Kategorien in dieses in seinen Modeströmungen so variable Wissenschaftsfeld eintragen. In die Kritik gerät z. B. eine Reduktion auf den fokussierenden Bezugspunkt »mind« oder gar »Gehirn«. Homo cerebralis (Michael Hagner) fehlt die eigentliche Kulturdimension des Sinns in seiner historisch prozedierenden Qualität. 25 Auch der zum Neuro-Reduktionismus ergänzend passende, übergreifende Gesichtspunkt »Evolution« hilft hier nicht weiter, sondern vergrößert den Abstand naturalisierender Theorie von der Kultur noch. Wie schon bei Darwin selbst »rücken«, indem man Tieren die Fähigkeit zur Begriffsbildung zuschreibt, menschliche Spezifika nur scheinbar in eine bessere Erklärungsreichweite. Denn was einen Begriff kulturell ausmacht, ist seine Fortprägung und Anreicherung im Verlauf der Geschichte, was ihm daher gerecht wird, ist eine historische Hermeneutik. Ganz analog setzt sich, wer Kultur und Tradition auf tierische »Traditionsbildungen« des Verhaltens oder des rudimentären Werkzeugumgangs einebnen will, dem Vorwurf aus, deren adäquaten Begriff zu Clifford Geertz: The Interpretation of Cultures (1973). New York 2000, S. 37. Solange die Prämisse lautet, kulturelle lediglich als quantitativ gesteigerte »natürliche informationsverarbeitende Prozesse« betrachten zu können, wird man dies auch von aktuellen Weiterungen in der restriktiven Welt der Kognitionsforschung sagen müssen, siehe Matthias Jung: »Zweite-Person-Neurowissenschaft« zwischen Naturalismus und Normativität. Kommentar zu K. Vogeley / L. Schilbach / A. Newen: Soziale Kognition. In: Gerald Hartung (Hg.): Jahrbuch Interdisziplinäre Anthropologie 2013, S. 59–64.

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verlieren. 26 Hier sind auch die »brains cause minds«-Theorien zu nennen (inclusive ihrer kompatibilistischen Pseudovarianten), denen zufolge unsere lebensweltlich handlungsbestimmenden Gründe nur die »Erlebnisform« (Habermas) neurobiologisch feststellbarer Vorgänge sind, über deren Erforschung irgendwann einmal eine Kausalerklärung der Geistes aus seiner Hirnbasis erfolgen kann. Wenn in Verfolgung solcher Reduktionsprogramme plausibilisierende Allianzen zwischen Evolutionsbiologie und Kognitionswissenschaften gebildet werden, scheinen hier gleich beide Seiten sozioökonomischen Prozessen und den in der Theorieform der Hermeneutik zu deutenden sinnhaft-symbolischen Kulturbildungen gegenüber ein regelrechtes Wahrnehmungsdefizit einzubringen. Diese chronische Unterschätzung mag auch die zum Teil widersprüchlichen und einlinigen Spekulationen erklären, auf welche Evolutionsbiologen verfallen, wenn sie sich dem Bereich der Kultur zuwenden. Sie demonstrieren die Mühen, die es macht, wenn man die soziale und kulturelle Welt wie etwas beschreiben möchte, das es qua Eigenrecht eigentlich gar nicht gibt.

4.

Natur, Gesellschaft und Kultur – Kontinuität oder Negation?

In einschlägigen Diskussionszusammenhängen schlägt, wie wir sehen, das Pendel zwischen Idealismus, Soziologismus und Materialismus heftig hin und her. Dies zeigt insbesondere die Frage nach dem Ursprung der Kultur, die systematisch das Konfliktfeld zwischen einem Primat der Natur, einem der Gesellschaft und einem des Geistes provoziert, welch letzterer ja, wie Idealisten und Kulturalisten gern betonen, alle Naturvorstellungen erst hervorbringt. 27 Die Entwicklung von Kulturgehalten als »Meme« nach dem Muster der Evolution analog zu Genen erklären zu wollen, stellt das naturalismuskompatible Gegenstück zur Hermeneutik dar, siehe Gerhard Schurz: Evolution in Natur und Kultur. Heidelberg 2010, S. 189 ff.; Begriffe wie »soziale Evolution« und »kulturelle Evolution« zeigen meist Reduktionsprogramme an. – Hinsichtlich bestimmter Wortführung in der Psychologie bestätigt sich bis heute der bereits von Max Weber notierte Eindruck einer systematischen Unterbietung (kultur-)reflexiver Ansprüche, vgl. Wolfgang Prinz: Philosophie nervt. Eine Polemik. In: P. Spät (Hg.): Zur Zukunft der Philosophie des Geistes. Paderborn 2008, S. 238–247. 27 Für letzthinnige Kulturalisten kann die Natur als Widerpart, besserenfalls Material des Geistes erscheinen, sofern sie nicht auch schon als dessen Ausdrucksform auf 26

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Schwierigerweise verbleibt die Frage nach der Kultur wohl in diesem Spannungsfeld. Eine von idealistischer/kulturalistischer Seite implizierte völlige Auflösung der Natur/Kultur-Dichotomie zu letzterer hin (in Variante auch bei Judith Butler) überzeugt gegenwärtig genauso wenig wie die inzwischen hochmodische und praktisch täglich zu lesende Versicherung, der Mensch werde in Überwindung dieser Dichotomie sich und seine Welt künftig vollständig gemäß einem szientistischen Naturparadigma begreifen können. Wir haben dagegen – Günter Dux bringt dies, siehe Eingangsmotto, treffend zum Ausdruck – gute Gründe, anzunehmen, dass Kultur etwas ist, das Natur übersteigt und ihre Bedingungen in eine qualitativ neue Dimension aufhebt, andererseits können wir vernünftigerweise in Kenntnis der Naturwissenschaften im Vollzug unserer kulturellen Selbstverortung nicht davon ausgehen, dass unsere geistige Existenz nicht durch solche Naturprozesse hervorgebracht und auch mit geformt sei. Hieraus folgt, dass wir als die Wesen, die wir sind, als des Sehens, der Liebe und des Lachens fähige, in unserem emotionalen Weltverhältnis tierisch vorgeprägte Wesen, seit Jahrmillionen geformt werden und sozusagen das Gesamt einer von der Evolution aus der Vergangenheit in die Gegenwart vorangeschobenen Funktions- und Empfindungseinheit sind, deren Zukunft mit den gewordenen Strukturen weiter gestaltet werden muss, die uns nach wie vor mit ausmachen und prägen. 28 Will man trotz dieser auseinanderstehenden Wissenschaftsperspektiven zu einem mit dem Stand der philosophischen Reflexion und der Wissenschaften vermittelten, nicht lediglich additiven bzw. in den jeweiligen Wissenschaftssystemen verstreut liegen bleibenden, sonprinzipieller Ebene vollständig idealistisch eingeholt worden ist. Auch so herum gilt: Wer nur nach Kultur fragt, dem wird alles zur Kultur. 28 Vgl. Wolfgang Welsch: Homo Mundanus. Weilerswist 2012, S. 731 ff. – Ein wichtiger Kreuzungspunkt solcher Verhältnisse ist der menschliche Körper selbst, z. B. in kulturübergreifenden Grundemotionen wie Angst und Ekel, die evolutionär aus der Gefahren- und Infektionsabwehr stammen sollen; auch sonst sind allzuviele Ähnlichkeiten in den Bedürfnissen, Hoffnungen wie Verbrechen und Torheiten der Kulturen schwerlich zu übersehen. Entsprechend gut belegbaren sozialen »Universalien« und grundlegenden Eigenschaften des menschlichen Geistes liegen erkennbar anthropologische Konstanten zugrunde, siehe Christoph Antweiler: Was ist den Menschen gemeinsam? Über Kultur und Kulturen. Darmstadt 2007. Ohne solche Gemeinsamkeiten gäbe es mit Welsch und Antweiler für die Leistungen kultureller Hermeneutik gar keine Grundlage. Wofür man sich schämt, ist immer auch kulturell jeweilig, dass man sich schämt, ist menschlich.

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dern integrativen Verständnis des Kulturwesens »Mensch« gelangen, wird evident, dass es gerade wegen ihrer Widersprüche nötig ist, die Perspektiven der Theoriefamilien in ein Gespräch zu bringen, welches die weltanschaulichen Extrapolationen auf der Ebene der Theorieformate – so interessant sie sind – zunächst einmal zurückstellt. Das gilt, selbst wenn ein solches Gespräch in letzter Instanz ohne Verweise auf die Ebene der in den vorhergehenden Abschnitten angesprochenen Theoriedimensionen und Theorieformate gar nicht zu führen sein dürfte. Geht man für ein solches Gespräch von einer Anerkennung der Eigenparadigmatiken von Gesellschaft und Kultur aus, ohne die Naturerwachsenheit der Kultur zu leugnen, so führt dies in ein grundsätzliches Problemfeld, das kein Geringerer als Ernst Cassirer in Konfrontation mit dem Darwinismus bereits formuliert hat. In seinen Vorarbeiten zum Essay on Man notiert er: »Der Schnitt ist unverkennbar – wenngleich man aus ihm keinen ›hiatus‹, keinen unüberbückbaren metaphysischen ›Abgrund‹ zwischen den Menschen u[nd] den übrigen Naturwesen zu machen braucht – / In der Reihe der Existenz herrscht völlige Kontinuität zwischen den Menschen u(nd) den übrigen Naturwesen – / u[nd] doch ist der Mensch – dank der Gabe der symbol[ischen] Formen – etwas »wesenhaft« anderes – / er unterscheidet sich durch seine Essenz – / Dies ausführen […]«. 29

Die Daseinsweise mythischer Bilder, religiöser Ideen etc. ist, sagt dies, von einer anderen Art als die von Naturformen. Die uns Menschen mögliche Selbständigkeit der geistigen Bewegung, die alle biologischen Begriffsraster übersteigt, bedeutet den Übergang in einen anderen Modus, auf den Cassirer den Begriff der μετάβασις εἰς ἄλλο γένος angewandt hat, um die geradezu dramatische Wende hin zur Entstehung jenes reflexiv-sinnhaften Welt-Verarbeitungsmodus zu beschreiben, dessen wir fähig sind: eben der Kultur. 30 Cassirer: (Disposition) Anthropologie, in: Ernst Cassirers Papers, Beinecke Rare Book and Manuscript Library, Gen Mss 98, Box 36, folder 695, Bl. 10–11. Zitiert nach Gerald Hartung: Critical Monism. In: Birgit Recki (Hg.): Philosophie der Kultur/Kultur des Philosophierens. Ernst Cassirer im 20. und 21. Jahrhundert. Hamburg 2012, S. 359–375, hier: S. 371. 30 Diese Bezeichnung deutet die aristotelische Begriffsverwendung, die eigentlich einen logischen Fehler meint, bewusst um. Siehe Ernst Wolfgang Orth: Anfang und Ende der Kultur. Eine philosophische Problemskizze im Anschluss an Ernst Cassirer. In: Volker Steenblock/Hans-Ulrich Lessing (Hgg.): Vom Ursprung der Kultur. Freiburg 2014, S. 226–241, hier: S. 233. 29

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5.

Probleme der Emergenz

An der Zeitstelle der Moderne ergeben sich mit Etablierung naturwissenschaftlich informierter Gesellschaften erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Fragen dergestalt, dass ein Hervorgang der Kultur aus einer Natur schwer abweisbar wird, welcher Geist nicht mehr ihrerseits präsupponiert werden kann (Günter Dux). In der Konsequenz treten Modelle auf, die eine Emergenz der Kultur aus der Natur anzusetzen suchen. Emergenz ist, wie der Literaturtheoretiker Wolfgang Iser in seinen letzten kulturreflexiven Überlegungen formuliert hat, befasst »mit den Modalitäten, wie etwas in die Welt kommt«, »das es bisher nicht gab«. Iser sucht diese Emergenz als Inbegriff einer »sich selbst organisierenden Transformation« über Rückkopplungsschleifen aufzufassen, »die als Prägung menschlicher Plastizität den Urheber dieser Künstlichkeit seinen Ordnungsmustern« aussetzen. Emergenz, ein oft in Bezug auf die Naturwissenschaften diskutiertes Konzept, ist mit Iser nicht nur »auch«, sondern gerade ein Modus von Kultur, Literatur und Kunst, dabei entgegen dem »hegelschen Typ der Geschichtsphilosophie« (Hans-Ulrich Gumbrecht im Vorwort) »offen« als etwas, dessen Signatur »alle Ursprungssetzungen bzw. Grundannahmen als obsolet erscheinen« lässt. 31 Die Vorstellung eines »starken« Emergenzbegriffes mutet in etwa so an: Doch, unser Bewusstsein ist evolutionär geworden und existiert auf der materialen Basis der Natur. Aber: Gesellschaft und Kultur etablieren sich als reduktiv nicht erklärbares, qualitativ Neues, das nach eigener Logik funktioniert. Grundsätzlich mag sich ein Übergang von einer »Wirklichkeitsebene« zu einer anderen dadurch markieren, dass auf der Höhe einer ersten Ebene möglicher Organisationgrade und Systemeigenschaften bestimmte Erscheinungen »auftauchen« (der Begriff wäre zu schwach gefasst, würde er trotz einer gewissen Suggestion des deutschen Wortes eine wie auch Wolfgang Iser: Emergenz. Konstanz 2013, S. 36 f., 43, 63, 230. – Eine Zeitlang konnte bekanntlich die Theorie der Selbstorganisation »Vom Urknall bis zum menschlichen Geist« alles erklären. – In der vielfältigen Diskussion wissenschaftstheoretisch-gegenstandstheoretischer Fragen im fluktuierenden Begriffsfeld der »Emergenz« sind die Grenzziehungen freilich umstritten. Vgl. Achim Stephan: Emergenz. Münster 2016 sowie das Gespräch mit Stephan: Am Schnittpunkt von Natur und Kultur: Emergenz und Kognitionswissenschaft. In: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik, Heft 2 (2017) »Kultur«, S. 47–50.

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immer beschaffene Präexistenz dieser Erscheinungen implizieren), die es auf der Ebene »darunter« noch nicht gab und die sich mit den Mitteln der bezüglich dieser »unteren« (basalen, für die Folgeebene grundlegenden, dem hier genannten Betrachtungsgang nach primären) Ebene zuständigen Wissenschaft nicht plausibel verstehen lassen. Dabei dürften die auf der »unteren« Ebene/Primärebene gültigen Gesetzmäßigkeiten und Wirkungskräfte auf der »oberen« Ebene nicht schlicht verschwinden, sie erscheinen aber für den »neuen« Phänomenbereich als nicht mehr eigentlich relevant. Epistemologisch formuliert: Es sind bestimmte im Laufe der Theoriegeschichte entwickelte, den neu auftauchenden Erscheinungen offenbar angemessene Zugriffsweisen, die für die Wissenschaft der »neuen Ebene« kennzeichnend werden. Das Neue ist nicht »mehr« vom Alten, sondern etwas Anderes als dieses. Allerdings holt uns in dieser Stufenfolge erkennbar das Problem ein, dass bestimmte zu jeweiligen Ebenen vertretene paradigmatische Wissenschaftsverständnisse – etwa mit Naturgesetz-Begriffen 32 von deterministischen Implikationen – in einem Primatanspruch eine wirkliche Eigenwirksamkeit der Folgestufen und damit deren Existenz in diesem sukzessiven Verhältnis tendenziell ausschließen bzw. paradigmatischen Wissenschaftsverständnissen, wie sie sich originär etwa den Stufen des Sozialen und der Kultur zuordnen lassen, widersprechen können. Schwerlich aber ist der Übergang zur Kultur wie das Durchziehen einer Linie wiederum in den (Kausalitäts-)Kategorien zu fassen, die der Beschreibung der Natur dienen (es würde ja nur wieder Natur dabei herauskommen). Eine bruchlose »Fortführung« der Naturgeschichte im Sinne naturwissenschaftlicher Kategorien seit Darwin findet sich entsprechend mit Einwänden konfrontiert, die den umfassenden Anspruch eines Naturalismus zu dementieren suchen: Die Spezifiken des Sozial- und Kulturwesens Mensch können nicht wirklich im Ausgang von naturanalogen Kategorien beschrieben werden, geradezu umgekehrt gehen undurchschaute, wissenschaftlich nicht angemessen verarbeitete kulturelle Deutungsenergien gerade in jenem Naturalismus ein, der dieses versucht. Zu konstatieren, so dieser Verdacht, ist eine Inanspruchnahme kultureller Impulse für die eigene Theoriebildung, ja, mehr: ein oft genug para-geisteswissenschaftliches Theoretisieren, Dass auch die Zugriffsweisen der Naturwissenschaften eine kulturelle Herkunft haben, betont Michael Hampe: Eine kleine Geschichte des Naturgesetzbegriffs. Frankfurt 2007.

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Übersteigern und Interpolieren auch dorthin, wo sich mit exakten Forschungsständen gar nicht wirklich belastbar etwas aussagen lässt. Kann man also von einer Emergenz der Kultur sprechen? Die historisch-genetische Theorie der Kultur von Günter Dux vermutet die Eigendynamik geistig-sozialer Lebensformen durchaus nicht bereits im Genom eingelagert. Mit der Emergenz argumentiert auch Wolfgang Welsch, wenn er das Zusammenspiel von biologischen Vorgaben und kultureller Fortführung in einer besonderen »protokulturellen« Phase der Menschwerdung von vor ca. 2,5 Millionen bis vor ca. 40.000 Jahren zu bestimmen sucht, also bis in die Zeit des »Take off« der Kultur, welcher die Ko-Evolution mit der Biologie weitestgehend hinter sich lässt, der ersten Statuetten und Höhlenmalereien. 33 Ebenfalls in Emergenzperspektive tritt Jürgen Habermas mit der Vorstellung auf, die »weltentwerfenden Praktiken«, die uns Menschen als Kulturwesen im »Raum der Gründe« ausmachen, seien nicht einfach »selber noch als etwas in der Welt Vorkommendes« zu denken. Habermas’ Anliegen ist es erkennbar, unserer im individuellen Erleben unbestreitbaren Evidenz eines in allen unseren Handlungen performativ mitlaufenden Freiheitsbewusstseins (das von einem Determinismus entmächtigt würde) ebenso gerecht zu werden wie andererseits auch dem Anliegen des kohärenten Bildes einer Welt, die uns als Naturwesen einschließt (»schwacher Naturalismus«). Es gebe nämlich auch zur anderen Seite hin wenig Plausibilität für eine »Ansiedlung« der symbolischen Ausdrucksformen des menschlichen Geistes an einem intelligiblen »Nicht-Ort« jenseits des in Raum und Zeit zu fassenden innerweltlichen Geschehens, aus dem es vom »transzendentalen Himmel« fiele. Ein »heuristischer« Ausblick gilt darum der Emergenz der qualitativ neuen reflexiven Komplexität der Sphäre der Kultur, welche dem Geist die Möglichkeit eröffnen würde, sich gleichsam so »einzuholen«, dass er sich als ein Eigenes wie auch noch als das Produkt einer naturgeschichtlichen Genese nachvollziehen und verstehen kann. Dem dient die Hypothese, dass eine gleichursprüngliche komplementäre Verschränkung beider Per-

Siehe den Beitrag von Günter Dux sowie das Gespräch mit ihm in dem erwähnten Band: Vom Ursprung der Kultur, S. 15–53 sowie ebendort Welsch, S. 95–116. – Alle hier zu nennenden Autoren beanspruchen übrigens in ihren Arbeiten das gesamte argumentative Spektrum dessen, was im Vorherigen als Bereich der Theoriedimensionen und-formate angesprochen wurde.

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spektiven »anthropologisch tief sitzend« gleichzeitig mit der kulturellen Lebensform selbst evolutionär entstanden sein könnte. Durch die besondere Hilfsbedürftigkeit des menschlichen Neugeborenen und seine lange Aufzuchtperiode habe die Notwendigkeit einer bewussten Binnenperspektive und deren Übertragung auf den Anderen als intentionalen Aktor tiefer in die Ausbildung kognitiver Fähigkeiten eingegriffen als bei allen anderen Primaten. Diese Intersubjektivität des Verstehens ermöglicht qua Traditionsbildung eine Objektivität des Wissens und damit eminent beschleunigende kulturelle Lernprozesse, die sich von der natürlichen Evolution abkoppeln. Plausibel werde, weiter mit Habermas, die »Umstellung eines noch in sich befangenen Primatenbewusstseins in die Öffentlichkeit einer gemeinsam interpretierten Welt«, welche »etwas von der Relevanz der Umstellung auf eine neue, symbolisch vermittelte Form der Interaktion erahnen lässt« – mithin die kulturell entscheidende Rolle der Sprache. Eine »Detranszendentalisierung des erkennenden Subjekts« soll das endliche Subjekt in der Welt vorfinden, ohne dass dieses seine welterzeugende Spontaneität schlicht verliert. Von diesem Übergangsfeld sagt Habermas: »Heute können wir aus der physischen Anthropologie, der Entwicklungspsychologie und der vergleichenden Ontogenese von Kindern und Schimpansen, aus Biologie und Neurologie, Sprachforschung, Kulturgeschichte und Archäologie nur verstreute Evidenzen zusammensuchen, um von der Entstehung soziokultureller Lebensformen die eine oder andere Geschichte zu erzählen. Ob solche Erzählungen eines Tages durch eine Theorie ersetzt werden können, und wie diese Theorie aussehen könnte, ist eine offene Frage«. 34

Die Vorstellung einer Emergenz schwankt, wie dies alles zeigt, zwischen der Erwartung eines plausiblen Anschlusses des Geistigen an eine hinreichend komplex organisierte Materie einerseits und der starken Vermutung andererseits, menschliches Bewusstsein, Intentionalität und Kultur als etwas zu begreifen, dessen Eigenschaften nicht auf die Eigenschaften der sie tragenden Einheiten niedrigerer Komplexität zurückzuführen sind, sondern einer eigenständigen Erklärungsebene bedürfen. In Zusammenhängen, in denen viele Fak-

Jürgen Habermas: Nachmetaphysisches Denken II. Berlin 2012, S. 52, 87; Ders. Probleme der Willensfreiheit. Tobias Müller/Thomas M. Schmidt (Hgg.): Ich denke, also bin ich Ich? Göttingen 2011, S. 129–143, hier: S. 141.

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toren wirksam werden, schlösse dies eine Verschränkung unterschiedlicher Faktoren nicht aus. Dies führt zu meinem letzten Punkt.

6.

Abschließende Bemerkungen unter Rekurs auf die Kategorie der Geschichte

Die philosophische Diskussion wird prinzipiell geführt – das ist ihr disziplinäres Kennzeichen –, aber gar nicht selten auch mit einem hiervon vielleicht noch einmal zu unterscheidenden Unterton des Letzthinnigen (um nicht zu sagen: in jenem eingangs bereits angesprochenen »weltanschaulichen« Horizont). Dies ist ein auffallender Zug auch mancher naturalistischer Theoriebildung, in der über naturwissenschaftliche Forschung hinaus ein weltanschauliches Element der Philosophie, wenn auch verleugnet, zu kulturellen Aussagen drängt. Hätte dies vollständigen Erfolg, würde es nichts weniger als eine Eliminierung gerade derjenigen Kulturwissenschaften als selbständige bedeuten, zu deren Selbstverständnis es seit dem 19. und 20. Jahrhundert ihrerseits gehört, dem Korsett der geistmetaphysischen Konstruktion entschlüpft zu sein. Wenn wir nun, ein letztes Mal an Droysen anknüpfend, die Geschichte als einschlägige solche Einzelwissenschaft herausgreifen, dann spiegelt selbstverständlich auch sie auf ihre Weise die Prinzipienebene der vorbenannten Debatten. Zugleich jedoch hat sie ein starkes Selbstverständnis als Würdigung der Einzelphänomene. »Le fait historique est, par essence, irréductible a l’ordre: le hazard est le fondement de l’histoire«, 35 hat Raymond Aron gesagt und Johannes Rohbeck hat darauf hingewiesen, dass solche Formulierungen gern dort zitiert werden, wo gegen die Modernisierungstheorie und überhaupt gegen »große Theorie« angegangen wird, welche die Kontingenz, weil nicht theoriefähig, zu eliminieren trachtet. De singularibus non est scientia. Auf die Fülle jener Kulturprozesse zu blicken, die man zusammenfassend die Geschichte des Menschen nennt, könnte nun aber bedeuten, den God’s Eye-View oder View from Nowhere der großen Theorieformate zu verlassen, ohne deren weltanschaulich interessanRaymond Aron: Introduction à la philosophie de l’histoire. Paris 1938, S. 20. Vgl. Johannes Rohbeck: Aufklärung und Geschichte. Berlin 2010, S. 212; zur kulturellen Evolution ebd., S 139–162, bes. S. 147.

35

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te Rahmenkonzepte einfach auszublenden. Gehen wir also nicht von einer Ebene des Prinzipiellen aus, dann lässt ein Moratorium weltanschaulicher Hochrechnungen unverstellt auf das immens vielgestaltige Feld blicken, um das es uns mit Bezug zu der Rolle der Hermeneutik geht: das der Kultur. Ich meine dies nicht in dem Sinne, dass es nun heißen müsste: Es bleibe eben nur Homo heterogenus übrig und die faktische Kulturentwicklung sei abseits aller Großtheorien zu verstehen. Oder: die Geschichte als Wissenschaft beackere also das Variationsfeld all der Kontingenzen, welche die Wirkzonen der im Zurückliegenden angesprochenen Theorien nach heutigem Forschungsstand noch offen lassen. Oder: ein purer Theorieneklektizismus könne helfen. Oder, anders herum: es könne eine »große Synthese« der aufgeführten Paradigmata in der Kulturerforschung geben. All dies wäre nicht die richtige Schlussfolgerung. Es muss ein zentrales Erkenntnisinteresse bleiben, Linien durch die Komplexität der menschlichen Verhältnisse hindurch angeben zu können, um diese Verhältnisse nicht auf bloße Kontingenzpunkte schrumpfen zu lassen. Das ist das Recht der Theorie. Indem diese aber ihren Status sozusagen in einer erkenntnistheoretisch aufgeklärten Form mitreflektieren muss, gilt es, die bisher in versuchsweiser Sortierung aufgeführten Erklärungsebenen und Anregungspotentiale diskursiv zusammenzuführen. Allen angesprochenen Versuchen, den anscheinend methodisch nicht zu bewältigenden Stoff der Kultur, Droysens ἀμέθοδος ὕλη der Geschichte, auf bestimmte Hauptlinien und orientierende Einschätzungshinsichten zu bringen, d. h. als wissenschaftsfähig aufzuweisen, ist dann eines am Ende gemeinsam: dass sie sich in einem expliziten Wettbewerb an der Vielgestaltigkeit ihres Gegenstandes beweisen müssen. Gegenüber bestreitbaren Unifikationen können ihre unterschiedlichen Zugriffe als Darstellungen von Rahmenbedingungen und/oder in spezifischen Bereichen und/oder in bestimmten Hinsichten bzw. Aspekten eines kulturellen Phänomens zum Tragen kommen. Faktisch arbeiten längst Vertreter aus allen Theoriefamilien zusammen, ohne die Gesamtparadigmatiken und weltanschaulichen Hochrechnungen übernehmen zu müssen, die ihnen von einigen Theoretikern, wie wir gesehen haben, in den Rucksack gepackt werden. Der Mensch bleibt ein Natur- und Sozialwesen auch in den Gestaltungen der von ihm selbst hervorgebrachten kulturellen Welt. Hiernach wären nicht im Ausnahme-, sondern im Regelfall Naturdispositionen, gesellschaftliche Strukturen und Kulturbedeutungen 238 https://doi.org/10.5771/9783495817650 .

Chancen des Verstehens

im Phänomenbestand der Geschichte zutiefst ineinander verwoben, nicht als eine Art von Osmoserelation von Schichten, sondern als gemeinsame Produzenten einer Dynamik: die eine Ausdrucksform des Menschen allesamt tragend, in einer anderen einander auch entgegenwirkend. Der Versuch, die Dimension der Kultur an die der Natur anzuschließen, ohne sie als deren bloße Fortsetzung zu verstehen, ist immer wieder unternommen worden. Dynamiken des Wirtschaftens, religiöse und weltanschauliche Ideen mögen jeweils eigenen Logiken und Zwängen folgen. Sie könnten sich in Interaktionen und Interferenzen, Summierungen und Antithesen, Rückkoppelungen und Aufgipfelungen zu komplexen, mehrdimensionalen Gebilden verschränken und ineinanderwirken und sie dürften so die vielfältigen Arten und Weisen, in denen unter jeweiligen Umständen Menschen die Gebilde und die Verwerfungen der Kultur in jeweiligen spezifischen Verläufen und Ausprägungen hervortreiben, erzeugen. Zweifellos hat Matthias Jung als Ergebnis einer umfangreichen Aufarbeitung einschlägiger Theoriebildung 36 Recht, wenn er darauf besteht, dass dies am Ende ein Wesen Mensch ergibt und kein Konglomerat von »Ebenen« oder »Stockwerken«. Ziel dieses Überblicks war es lediglich, die ins Spiel kommenden Ebenen wissenschaftsmethodologisch wahrzunehmen, zu unterscheiden und in kulturphilosophischer Absicht in ein Verhältnis zu setzen. Wenn wir Kultur und Bildung als Kategorien einer gemäß dem Gesamtspektrum der vorstehend diskutierten Hinsichten kontextuell informierten hermeneutischen Reflexion verstehen, 37 brauchen wir das Wunder des Verstehens keineswegs zu mystifizieren, sondern können es als Projekt und eigentliche humane Perspektive begreifen, ohne andere Aspekte zu vernachlässigen. Wenn sich im Zurückliegenden versuchsweise als Strukturierungszugriffe und zum Zwecke einer Übersicht »Theoriedimensionen«, »Theorieformate« und »Theoriefamilien« unterscheiden ließen, und wenn sich auf allen drei Ebenen in der Auseinandersetzung mit konkurrierenden Konzepten auf das Reflexionsspektrum der Hermeneutik rekurrieren ließ, dann ist dies deswegen wichtig, weil Matthias Jung: Der bewusste Ausdruck. Anthropologie der Artikulation. Berlin 2009. 37 Darum auch verschmilzt eine historische Orientierung die empirische Erfahrung der Vergangenheit mit jeweiligem notwendig normativem Zukunftsentwurf: weil sie in der je gegenwärtigen Lebenswelt selbst noch Teil kultureller Sinnbildung ist; vgl. Jörn Rüsen: Historik. Köln 2013, S. 270 ff., 285 ff. 36

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nur so jene Bildungsprozesse richtig verstanden werden können, die unsere Kultur ausmachen. Die Hermeneutik muss sozusagen auch in allen Ligen spielen: Sie kann grundsätzlich als Kontrahentin einer ausschließlich naturwissenschaftlichen Deutung der Welt und Anwältin der Mehrdimensionalität kultureller Erfahrung erscheinen, wenn man bedenkt, dass ihre interpretativen Bemühungen ja generell ästhetischen, normativen wie Sinnverhältnissen gelten. Man kann mit der Hermeneutik zugleich eine Paradigmatik beim Versuch verbinden, Reichweiten und Dignität von Kulturtheorien einzuschätzen. Und schließlich ist die Hermeneutik vor allem eine konkrete Wissenschaftsmethode, die im Einzelnen herausarbeitet, wie der Mensch seine Kulturerrungenschaften hervorbringt. Hermeneutik tut not, denn die Dimensionen der Kultur, die spektakuläre Fülle und Vielfalt ihrer Erscheinungsformen, die Homo creator erzeugt, ja die Sinnüberschüsse, die sich in den imaginierten, kontrafaktischen und modellhaften Welten aufbauen, die er hervorbringt und bewohnt, finden sich mit dem Wissenschaftsverständnis des Naturalismus im Ganzen durchaus nicht erklärt. Im Naturwesen Mensch sind die Möglichkeiten des Kulturwesens nicht einfach enthalten. Es tut einem höchsten Respekt gegenüber der Leistung des Biologen Darwin keinerlei Abbruch, wenn für ein Verständnis der Kultur weder seine eigenen Erklärungsansätze noch die pseudodarwinistische »Mem«-Theorie noch eine Reduktion gemäß den oft spekulativ anmutenden und nicht selten widersprüchlichen Erklärungsversuchen von Soziobiologie und evolutionärer Psychologie als überzeugende Gesamtansätze zu akzeptieren sind. Mit dem menschlichen Bewusstsein tritt eine Größe im Reich der Natur auf, die sich der Natur zugleich überhebt. Wiewohl vorformatiert durch Naturdispositionen und in Kontexten der von uns selbst freigesetzten Eigendynamiken sozialen Zusammenlebens und der Ökonomie agierend, kommen wir nun als instanzliche Wesen, als »Zeugen der Wirklichkeit« ins Spiel, die eine Welt-, auch Endlichkeits- und Todeserfahrung zu verarbeiten haben. Indem wir deutende, bewertende, gestaltende Wesen sind, vermögen wir unsere humane Existenz vor allem in einer Sinnperspektive auszudrücken. Pointe dieser Perspektive ist, dass, wer Zugang zu ihr gewinnen möchte, sie als humanes Projekt mitvollziehen muss – und sie nicht lediglich szientifisch objektivieren kann. Es geht hier gerade nicht um quantitativ erfassbare, von außen beschreibbare Phänomene, sondern um qualitative Fragen, die die kulturelle Vollzugswirklichkeit eines Referenzsubjektes betreffen, 240 https://doi.org/10.5771/9783495817650 .

Chancen des Verstehens

das sich selbst als bewusste Instanz wahrnehmen kann. Wir sind die einzigen uns bekannten Wesen, die eine kulturelle Wirklichkeit hervorbringen können; unser reflektiertes Handeln in ihr muss sich mit unseren naturalen und sozialen Beschaffenheiten ergeben und sie zugleich zu entwickeln suchen. Die Philosophie ist in diesem Bemühen der »Ort«, an dem ein bewusster Begriff der Kultur von sich selbst entstehen kann.

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Verstehen und Verständnis Hermeneutische Operatoren bei Richard von Krafft-Ebing Sabine Ohlenbusch

1.

Einleitung

Möchte man das Spannungsfeld zwischen Natur- und Geisteswissenschaften mit Dilthey benennen durch die Differenz zwischen Erklären und Verstehen und überträgt diese Unterscheidung auf die Psychiatrie, steht man vor einem methodischen Problem. Es besteht darin, dass die Psychiatrie immer zuerst mit dem individuellen Geistesleben befasst ist, aber nach einem stabilen Krankheitsbegriff strebt. Psychische Krankheit kann in den seltensten Fällen gemessen, sondern muss aus den Äußerungen und Handlungen der Patienten erfasst werden. Ursachen und Wirkungen können deshalb zunächst nur behauptet und ausschließlich über die Beobachtung von Häufigkeiten bewiesen werden. Mit diesem Problem rang die Psychiatrie (falls sie nicht noch heute damit ringt) noch in besonderem Maße, als sie als medizinisches Fach schon weitgehend an den Universitäten etabliert war, sich aber noch im Machtgefüge der Fakultäten beweisen musste. In diesem Zeitraum, der 1906 mit der Einführung der Psychiatrie als medizinisches Pflichtfach endete, versuchte Richard von Krafft-Ebing immer wieder, die Spannung zwischen Erklären und Verstehen für sein Fach fruchtbar zu machen – gerade indem er sie beibehielt. Häufig wird Krafft-Ebing aufgrund seiner Degenerationstheorien zwar eindeutig auf die Seite der Naturwissenschaft gestellt, ich möchte jedoch einige seiner Aussagen hervorheben, die eine vermittelnde Position plausibel machen. Die verschiedenen Ansätze in der Psychiatrie des ausgehenden 19. Jahrhunderts wurden früh registriert: Karl Jaspers trifft rückblickend die Unterscheidung zwischen »Schilderern« – Irrenärzte, die in Anstalten die Vielfalt psychiatrischer Fälle beobachten und aufzeichnen – und naturwissenschaftlich-experimentell orientierten »Analytikern«. Letztere versuchen, ein geschlossenes System zu erstellen. Jaspers selbst räumt ein, dass 242 https://doi.org/10.5771/9783495817650 .

Verstehen und Verständnis

Krafft-Ebing nur bedingt in eine der Kategorien passt. Im Vergleich zwischen Heinrich Schüle und Krafft-Ebing stellt er fest, ersterer gehe nicht systematisch bei seinen Krankheitsbildern vor, sondern erstelle »eine sich in Details liebevoll versenkende Schilderung symptomatologischer Krankheitsbilder.« Krafft-Ebing bezeichnet er als »nüchterner, gewandter.« 1 In der Abgrenzung zu zwei Psychiatern, die heute berühmter sind als Krafft-Ebing, möchte ich diese feinen Nuancen sichtbar machen. Es handelt sich um Wilhelm Griesinger und Emil Kraepelin. Anschließend wird dieser Beitrag am Beispiel der forensischen Psychiatrie Richard von Krafft-Ebings zeigen, welche professionellen Strategien dem Verständnis als Konzept bei ihm zugrunde liegen. Die Entwicklung der Psychiatrie verlief im späten 19. Jahrhundert unabhängig von der Entstehung der Experimentalpsychologie zum Beispiel durch Wilhelm Wundt. Dieser war primär daran interessiert, die Psyche in ihrem physiologischen, also gesunden Zustand experimentell zu untersuchen. Das stark an den Naturwissenschaften angelehnte Verfahren versuchte Emil Kraepelin auf psychische Krankheiten zu übertragen. 2 Hierzu versuchte er in frühen Forschungen, die Krankheitsbilder in unterschiedliche Elemente zu segmentieren und diese getrennt zu erforschen. Später gibt er diese Forschungspraktiken weitgehend auf, behält aber die starke Orientierung an naturwissenschaftlichen Begriffen in der Rhetorik seines Lehrbuches bei. Der herkömmliche Ansatz in der klinischen Psychiatrie hingegen beobachtete die auftretenden Krankheiten als Abweichungen von einem postulierten Gesundheitszustand, die den Kern des narrativ festgehaltenen Krankheitsbildes darstellten. Auch Krafft-Ebing nutzt die Aufzeichnung von Beobachtungen in Krankengeschichten als Forschungsmethode sowie als Wissensspeicher. Wilhelm Dilthey setzt sich ebenfalls zur gleichen Zeit mit einer naturwissenschaftlich und einer geistenswissenschaftlich angelegten Psychologie auseinander. In seinem Vortrag Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie in den Sitzungen der philosoKarl Jaspers: Allgemeine Psychopathologie: Für Studierende, Ärzte und Psychologen. Berlin/Heidelberg 1948, S. 445. 2 Vgl. Volker Roelcke: Unterwegs zur Psychiatrie als Wissenschaft: Das Projekt einer ›Irrenstatistik‹ und Emil Kraepelins Neuformulierung der psychiatrischen Klassifikation. In: Eric Engstrom/Ders. (Hgg.): Psychiatrie im 19. Jahrhundert. Forschungen zur Geschichte von psychiatrischen Institutionen, Debatten und Praktiken im deutschen Sprachraum. Basel 2003, S. 169–188. 1

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phisch-historischen Klasse der königlich preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin am 22. Februar und am 6. Juni 1894 entwirft er die zwei Grundlegungen für die Seelenkunde in Anlehnung an seine oben erwähnte Dichotomie. An die Stelle des Verstehens tritt für die geisteswissenschaftlich orientierte Psychologie allerdings das Begriffspaar Beschreiben und Zergliedern. Im Gegensatz zur erklärenden oder constructiven Vorgehensweise, »welche mit Hypothesen nach Analogie des Naturerkennens wirthschaftet«, 3 will er »die mächtige Wirklichkeit des Lebens, wie die grossen Schriftsteller und Dichter sie aufzufassen bestrebt waren und sind« umfassen. 4 Dies zielt auf Erzählungen ab, ähnlich wie bei Krafft-Ebings Krankengeschichten. Es geht ihm hier wiederum nicht um die Erklärung psychischer Krankheiten, sondern ihn treiben generellere Überlegungen auf der Suche nach Grundlagen für den Umgang mit dem Bewusstsein des Menschen an. Die Verbindung der Operatoren beschreiben und zergliedern ist als Absage an die Konstruktion und Affirmation der Analyse psychischer Vorgänge zu deuten. 5 »Gewiss können Analysis und Synthesis, ihnen eingeordnet Induction und Deduction, auch innerhalb der Psychologie nicht auseinandergerissen werden. Sie bedingen einander in dem Lebensprocess der Erkentniss nach Goethe’s schönem Wort, wie sich Einathmen und Ausathmen bedingen. Wenn ich die Wahrnehmung oder die Erinnerung in ihre Factoren zergliedert habe, so erprobe ich dann die Tragweite meines Ergebnisses, indem ich die Verbindung dieser Factoren in’s Spiel setze.« 6

Damit wendet er sich zunächst vor allem gegen eine einseitige Betrachtungsweise. Die Ganzheitlichkeit der Betrachtung ist für sein Konzept der Psychologie grundlegend. Die Psychologie darf das Übergreifen der verschiedenen »Zwecksysteme, wie Wirthschaftsleben, Recht, Kunst und Religion« 7 einer hoch entwickelten Gesellschaft nie aus den Augen verlieren, welche die Geisteswissenschaften je für sich analysieren. Daraus folgt die Besonderheit, dass Dilthey die Psy-

Wilhelm Dilthey: Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie. In: Sitzungsberichte der königlich preussischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, 7. Juni 1894, Ausgabe XXVI, Sitzung der philosophisch-historischen Classe. 1 (1895), S. 1309–1407, hier: S. 1315. 4 Ebd., S. 1326. 5 Ebd., S. 1339. 6 Ebd. 7 Ebd., S. 1326 f. 3

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chologie weniger als eigenständiges Fach und viel eher als Grundlage für verschiedene Geisteswissenschaften sieht: »Es ist so, und keine Absperrung der Fächer kann es hindern; wie die Systeme der Kultur, Wirthschaft, Recht, Religion, Kunst und Wissenschaft, wie die äussere Organisation der Gesellschaft in den Verbänden der Familie, der Gemeinden, der Kirche, des Staates aus dem lebendigen Zusammenhang der Menschenseele hervorgegangen sind, so können sie schliesslich auch nur aus diesem verstanden werden. Psychische Thatsachen bilden ihren wichtigsten Bestandtheil, ohne psychische Analyse können sie also nicht eingesehen werden. Sie enthalten Zusammenhang in sich, weil Seelenleben ein Zusammenhang ist.« 8

Der Begriff Psychologie hatte in der Philosophie bereits eine lange Tradition. Seit dem 17. Jahrhundert bezeichnete er zum Beispiel in der Philosophie des Rationalismus das Gegenstück zum mechanistisch gedachten Körper. 9 Diese Trennung hatte sich aus dem ontologischen Dualismus René Descartes’ entwickelt. Bereits damals waren diese Überlegungen schwerlich von der Frage nach dem Sitz des Bewusstseins in einem Seelenorgan zu trennen, die medizinische Forscher und Philosophen jeweils unterschiedlich bewerteten. Hier spiegelt sich bereits das Diskussionspotential wider, das sich auch zwischen Dilthey und dem experimentellen Psychologen Hermann Ebbinghaus ergab. 10 Für den vorliegenden Artikel ist wichtig hervorzuheben, dass Dilthey sich nicht vorrangig mit der Frage nach der Körperlichkeit beschäftigt. Für ihn steht die geisteswissenschaftliche Psychologie einem allgemeineren Begriff der Naturwissenschaften gegenüber, der durch ihre Forschungsmethoden bestimmt ist (Naturerkennen). Die Hilfskonstruktion, diesen Dualismus auch auf alle medizinischen Fächer am Ende des 19. Jahrhunderts außer der Psychiatrie zu übertragen, scheint mir deshalb zulässig, weil dieses Konstrukt zu den Ebd., S. 1317 f. Vgl. Christian Wolff: Philosophia Rationalis Sive Logica: Methodo Scientifica Pertractata Et Ad Usum Scientiarum Atque Vitae Aptata. Praemittitur Discursus Praeliminaris De Philosophia In Genere. Halle/Saale 1732. Von dieser rationalen Philosophie suchten sich die Experimentalseelenkundler als Naturwissenschaftler abzusetzen, Dilthey rechnete diese philosophische Richtung allerdings der naturwissenschaftlichen Psychologie zu. 10 Mark Galliker: Das geisteswissenschaftliche Forschungsprogramm der Psychologie. Diltheys ›Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie‹ sowie die Antwort von Ebbinghaus. In: Gunter Scholtz (Hg.): Diltheys Werk und die Wissenschaften. Neue Aspekte. Göttingen 2013, S. 193–208. 8 9

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gängigen Unterscheidungen innerhalb der Medizin zählte. So wurde insbesondere Krafft-Ebing in seiner Laufbahn als Professor der Psychiatrie daran gemessen, dass er nicht die neuroanatomische Richtung mit naturwissenschaftlicher Methodik vertrat, sondern ältere, ganzheitliche Grundsätze der Anstaltspsychiatrie verinnerlicht hatte, welche den Krankheiten eher verstehend denn erklärend gegenüberstanden. 11

2.

Krafft-Ebings Krankheitskonzepte und deren Grundlagen bei Wilhelm Griesinger

Krafft-Ebing reflektierte seine Überlegungen zu Erklären und Verstehen nicht als wissenschaftsphilosophische Annahmen, wollte sich primär auch der Medizin näher stellen als den Geisteswissenschaften. Als Professor der Psychiatrie in Graz und später in Wien verfasste er 1879 das Lehrbuch der Psychiatrie auf klinischer Grundlage für Studirende und Ärzte. Das große Referenzwerk vor ihm war Wilhelm Griesingers Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende von 1845. Zwischen Griesingers erster Auflage und seiner zweiten 1861 lagen immerhin 16 Jahre, weitere 18 vergingen bis zu Krafft-Ebings Lehrbuch. Albert Moll schrieb später, »dass es damals kaum ein brauchbareres Lehrbuch gab, als das von Krafft-Ebing«. 12 Von der Rezeption wurde vor allem die Ordnung der psychischen Krankheiten hervorgehoben, die erstmals eine große Bandbreite der Erscheinungen abdeckte. Der wichtigste Teil an dem Lehrbuch war also das Inhaltsverzeichnis bzw. die Gliederung, welche die Krankheitskategorien enthält. Das Lob ging so weit, dass Rezensionen die Gliederung abdrucken, um den Lesern ihre Neuheit vor Augen zu führen. Die Krankheitskategorien in Krafft-Ebings klinischem Lehrbuch sind grob in Psychoneurosen, Entartungen, neurologische Erkrankungen mit psychischen Äußerungen und Entwicklungsstörungen aufgeteilt. Damit ist er sehr viel detaillierter als Griesinger in seiner zweiten Auflage von 1861. Im ersten Kapitel beschreibt Krafft-Ebing deren Vgl. Sabine Ohlenbusch: Wissen in Fällen. Richard von Krafft-Ebings kasuistische Schreibpraktiken. Dissertation Bochum 2016. 12 Albert Moll: »Krafft-Ebing †«. [Nachruf] In: Wiener medizinische Presse 7 (1903), S. 14 f. 11

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Unterscheidung aus ätiologischen Überlegungen der allgemeinen medizinischen Krankheitslehre heraus, bindet die Psychiatrie also an dieselben Regeln wie die restliche Medizin. Er versucht jedoch, diese bereits von Griesinger 1845 vorgenommene Grundthese, dass psychische Erkrankungen Krankheiten des Gehirns seien, einen Schritt früher anzusetzen. Griesinger teilte die Geisteskrankheiten in seinem Teil zur Formenlehre der Geisteskrankheiten lediglich nach ihrer Symptomatik in Depressions-, Exaltations- und Schwächezustände ein. Deren Ursachen sieht er in Prädisposition, psychischen Reaktionen auf Ereignisse (»Gemüthsbewegungen«), somatischen Krankheiten wie Fieber oder Nervenleiden sowie gemischten Phänomenen wie Trunksucht und Armut. Auch Griesinger betonte mit der individuellen Disposition die erbliche Komponente der Geisteskrankheiten, die nach der Tuberkulose die größte Familienprävalenz überhaupt böten. Krafft-Ebing wiederum verschiebt den Fokus von der (stillschweigend akzeptierten) Prämisse, dass Geisteskrankheiten Erkrankungen des Gehirns seien, die lediglich über ihre Symptome identifiziert werden könnten, auf die Entstehung der Symptome, deren Gruppierung und Klassifikation. Er nutzt die Grundlagen, die Griesinger gelegt hat, erweitert aber die Formenlehre entscheidend weiter, indem er die oben genannten, ätiologisch erzeugten Kategorien auf die erste Ebene setzt und weitere Krankheitsbilder hinzufügt. Die Rhetorik in Krafft-Ebings klinischem Lehrbuch ist allerdings geprägt von einer bemerkenswerten Vagheit gegenüber der Erklärbarkeit psychischer Störungen. So legt er eine gewisse Demut ob der Rätselhaftigkeit des menschlichen Körpers an den Tag: »Wir kennen die anatomischen Vorgänge, deren klinischer Ausdruck die Phänomene des Irreseins sind, überhaupt zu wenig, geschweige die anatomischen Unterschiede, welche die verschiedenen Krankheiten bedingen, wenn auch einzelne in neuerer Zeit immer häufiger identische Befunde sich ergeben.« 13

Die anatomische Untersuchung psychischer Krankheiten ist für Krafft-Ebing nicht ergründbar und zeigt als von ihm als denkstilgemäß dargestelltes Nicht-Wissen die Grenzen der Erklärbarkeit geistiger Krankheit auf. Damit stellt er sich explizit in die Tradition des Richard von Krafft-Ebing: Lehrbuch der Psychiatrie auf klinischer Grundlage für practische Ärzte und Studirende. 1. Auflage, Band 2: Klinische Kasuistik. Stuttgart 1879, S. 1 f.

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Ausspruchs Ignoramus et ignorabimus des Physiologen Emil Du Bois-Reymond, der sich u. a. eben auf das auf ewig unklare Verhältnis von Bewusstseinszuständen zu ihren materiellen Bedingungen bezieht. 14 Mit dieser Frage steht die Psychiatrie also quer zur naturwissenschaftlichen Methode des Erklärens. Auch auf Ebene der Krankheitsentstehung komme die psychiatrische Forschung nicht zu befriedigenden Ergebnissen, da eine klare Zuordnung der Ursachen psychischer Krankheit nicht möglich sei: »Das Irresein ist eben, seltene Fälle ausgenommen, der Effekt des Zusammenwirkens einer Mehrheit von Ursachen, deren Einzelwürdigung schwierig, deren Wirkungsweise vielfach unklar, deren klinischer Ausdruck vieldeutig ist und durch Interferenzwirkungen ein undeutlicher wird. Bei aller Anerkennung bezüglicher Bestrebungen […] muss auf die Durchführung einer ätiologischen Classification der Geistesstörungen zur Zeit verzichtet werden, wenn auch die klinische Würdigung des Einzelfalls die ätiologische Frage immer wesentlich mit berücksichtigen muss.« 15

Dies ist eine andere Form des Nicht-Wissens. Im Sinne einer specified ignorance 16 steckt es die Ziele für die Forschung fest, die erstrebenswert sind. Krafft-Ebing siedelt diese Ziele im Bereich des Möglichen an, auch wenn ihre vollständige Erfüllung eine Utopie bleibt. Die Teleologie der wissenschaftlichen Erkenntnis scheint auf das nicht zu erreichende Ideal der vollständigen Erfassung der psychischen Krankheiten gerichtet. Seine Erwartung ist, dass »gewisse ursächlich besonders bedeutsame Faktoren, wie z. B. Erblichkeit, constitutionelle Verhältnisse, einer ganzen Gruppe wenn auch noch so verschiedener Krankheitsbilder gemeinsame Züge bezüglich der Symptome und des Verlaufs aufdrücken werden.« 17 Diese grobe Klassifikation von Krankheitsbildern, die sich im speziellen Teil seines klinischen Lehrbuchs ankündigt, ist das Grundgerüst, das er aus seinem Wissen und dem anderer Psychiater formt und auf das sich die Psychiatrie stützen kann. Vgl. Dietrich von Engelhardt: Das Ignorabimus Du Bois-Reymonds in Medizin und Psychiatrie. In: Kurt Bayertz/Myriam Gerhard/Walter Jaeschke (Hgg.): Weltanschauung, Philosophie und Naturwissenschaft im 19. Jahrhundert. Band 3: Der Ignorabimus-Streit. Hamburg 2007, S. 98–116. 15 Krafft-Ebing: Lehrbuch der Psychiatrie 1879, S. 2. 16 Vgl. Robert K. Merton: Three fragments from a sociologist’s notebooks: Establishing the Phenomenon, Specified Ignorance, and Strategic Research Materials. In: Annual Review of Sociology 13 (1987), S. 1–28. 17 Krafft-Ebing: Lehrbuch der Psychiatrie 1879, 2. 14

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Erklären kann die Psychiatrie laut Krafft-Ebing also nicht. Stattdessen gebraucht er einen anderen Begriff, nicht des Verstehens, sondern des Verständnisses: »Die in der specifischen physiologischen Dignität des afficirten Organs begründete Eigenartigkeit der psychopathischen Phänomene wird unserem Verständniss noch näher gebracht und verliert dadurch viel an ihrer Fremdartigkeit, wenn wir es versuchen, jene in Analogie mit anderweitigen, unserer Anschauungsweise verständlicheren Erscheinungen gestörter Nervenfunktion zu bringen, sie in die uns geläufige Sprache zu übersetzen. So sind wir bis zu einem gewissen Grad berechtigt, von einer psychischen Hyperästhesie und Anästhesie, von psychischem Krampf und Lähmung, von vermindertem und gesteigertem Leitungswiderstand, von gesteigerter und darniederliegender psychischer Reflexerregbarkeit zu sprechen. Aber noch eine weitere und wichtige Quelle des Verständnisses eröffnet sich uns unter der Annahme, dass Irresein eine Krankheit ist. Krankheit ist Leben unter abnormen Bedingungen, Krankheit und Gesundheit sind nicht unbedingte Gegensätze. Die psychopathischen Vorgänge können somit nicht grundverschieden sein von denen des physiologischen Lebens, es müssen sich werthvolle Analogien und Uebergänge zwischen beiden Lebensgebieten ergeben.« 18

Krafft-Ebing schlägt also vor, sich nicht davon stören zu lassen, dass die Gehirne psychisch Kranker keine in ihrer Struktur sichtbaren Spuren der Krankheit bieten. Die gedanklichen Vorgänge, die zum Verständnis führen, sind Analogien und Übersetzungen, also durchaus Methoden des Verstehens. Beide Begriffe sind wichtige Operatoren der Philologie. Für die Forschungspraxis allerdings will er das Grundproblem der fehlenden Erklärbarkeiten mit Mitteln der Empirie und der Statistik umgehen – die quer zu natur- wie auch geisteswissenschaftlichen Methoden stehen. Er macht keine Aussagen darüber, ob dieses Wissen jemals erreicht werden kann, deutet aber an, dass über den Vergleich ähnlicher Fälle physische Bedingungen für Geisteskrankheit deduziert werden könnten, ohne wirklich zu wissen, was sich auf pathologischer Ebene dahinter verbirgt. Krafft-Ebings Blick auf das Seelenleben offenbart an dieser Stelle ganzheitliche Aspekte, die den stigmatisierenden Anteil psychischer Krankheit für seine Patienten auszulöschen suchen. Außerdem macht er so darauf aufmerksam, dass das Spektrum psychischer Krankheiten nicht auf die Art und Weise eindeutig zu erfassen ist,

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Krafft-Ebing: Lehrbuch der Psychiatrie 1888, S. 29.

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nach der sich die Krankheitsbilder in anderen medizinischen Fächern darstellen. Ähnlich konzipiert Wilhelm Dilthey den Zusammenhang als Grundlage jeglicher psychologischer Erfahrung: »Denn in der inneren Erfahrung sind auch die Vorgänge des Erwirkens, die Verbindungen der Functionen als einzelner Glieder des Seelenlebens zu einem Ganzen gegeben. Der erlebte Zusammenhang ist hier das Erste, das Distinguiren der einzelnen Glieder desselben ist das Nachkommende. Dies bedingt eine sehr grosse Verschiedenheit der Methoden, vermittelst deren wir Seelenleben, Historie und Gesellschaft studiren von denen, durch welche die Naturerkenntniss herbeigeführt worden ist. Für die Frage, welche hier erörtert wird, ergiebt sich aus dem angegebenen Unterschied, dass Hypothesen innerhalb der Psychologie keineswegs dieselbe Rolle spielen als innerhalb des Naturerkennens. In diesem vollzieht sich aller Zusammenhang durch Hypothesenbildung, in der Psychologie ist gerade der Zusammenhang ursprünglich und beständig im Erleben gegeben; Leben ist überall nur als Zusammenhang da. Die Psychologie bedarf also keiner durch Schlüsse gewonnenen untergelegten Begriffe, um überhaupt einen durchgreifenden Zusammenhang unter den grossen Gruppen der seelischen Thatsachen herzustellen.« 19

Zu beachten bleibt hier aber, dass Krafft-Ebing durch seine Argumentation die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Medizin für die Psychiatrie mit ganzheitlichen Aspekten zu erweitern sucht. Dilthey hingegen stellt eine Dichotomie dar, die in seiner Schrift nicht aufzulösen ist. Dennoch bedienen sich beide strukturell derselben Kategorien. Krafft-Ebing geht davon aus, sich in einem beobachtend-deskriptiven Prozess zu befinden, der wie in anderen medizinischen Fächern zu stabilen Krankheitsbildern führen soll. Hierfür braucht er Methoden, die über die naturwissenschaftlichen hinausgehen. Bereits in seiner Vorliebe für die Krankengeschichte als Instrument der Forschung und der Popularisierung lässt sich dies erkennen. 20 Dennoch bleibt Krafft-Ebing über die Nervenheilkunde experimentellen Verfahren verbunden – für die psychiatrische Diagnostik scheinen sie ihm aber wertlos. Die ätiologischen Faktoren, die in Richtung einer Einteilung nach erblicher Belastung weisen, stellen für ihn erste ordnende Momente dar. Sie stärken seine große Kategorie der Entartungen.

19 20

Dilthey: Ideen, S. 1314. Vgl. Ohlenbusch: Wissen in Fällen.

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3.

Emil Kraepelins naturwissenschaftliche Rhetorik

Der rhetorische Umgang mit den unbekannten Ursachen und unklaren körperlichen Zusammenhängen bei psychischen Krankheiten unterscheidet Krafft-Ebing von seinem jüngeren Kollegen Emil Kraepelin, dessen Lehrbuch für die deutsche Psychiatrie zu wesentlicher Bedeutung aufsteigt. Kraepelins Zugang zur Psychologie liegt in der Experimentalpsychologie Wilhelm Wundts, die er auf die Psychopathologie ausweiten will, um »durch eine wissenschaftliche Psychologie eine exakte Analyse der psychischen Elementarerscheinungen und eine fest begründete Kenntniss der fundamentalen psychischen Funktionen« zu erlangen und so die Einzelheiten der geistigen Störungen zu erfassen. 21 Auch bei ihm spielt die eigene Beobachtung eine entscheidende Rolle, da er wie Krafft-Ebing feststellt, dass Ätiologie und Pathologie keine gangbaren Alternativen darstellen. 22 Während Krafft-Ebing aber lediglich Krankheitsbilder klassifizieren will, kündigt Kraepelin eine eingehende Untersuchung dieser an. Um nicht, wie die meisten Psychiater vor ihm, ein subjektives Psychologiekonstrukt »ohne Tradition« 23 zu entwickeln, das nur einen weiteren einzelnen Versuch der Theoretisierung darstellt, orientiert er sich an der Forschung Wilhelm Wundts. Dies schließt die Lücke zwischen den experimentellen Methoden der Naturwissenschaften und der subjektiven Beobachtungen der Psychiatrie: »Es ergiebt sich somit zur Vervollständigung der rein klinischen Beobachtung und der einfachen Aufzeichnung der krankhaften Symptome noch die Nothwendigkeit eines analytischen Studiums derselben. Diejenige Wissenschaft, welche uns die Mittel an die Hand giebt, diesen dritten Weg einzuschlagen, ist die experimentelle Psychologie. Sie lehrt uns, mit Hülfe des Experimentes zunächst die einfachsten psychischen Vorgänge in ihren qualitativen und quantitativen Beziehungen, wie in ihrem zeitlichen Verlaufe gesondert zu studiren, und sie wird auch, so wenig sie bisher von den Irrenärzten kultivirt worden ist, der Psychopathologie neue, reiche Quellen der Erkenntniss zu eröffnen im Stande sein.« 24

Mit dieser Rhetorik, die eine empirische, schrittweise Erforschung der großen Rätsel der Psyche verspricht, statt wie Krafft-Ebing diesen 21 22 23 24

Emil Kraepelin: Compendium der Psychiatrie. Leipzig 1883, S. 12. Vgl Roelcke: Unterwegs zur Psychiatrie als Wissenschaft, S. 186. Kraepelin: Compendium, S. 13. Ebd.

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bescheiden und ratlos gegenüber zu stehen, positioniert Kraepelin sein Lehrbuch sehr günstig in der Medizin. Seine Methodik ist für Naturwissenschaftler nachvollziehbar; er stellt in Aussicht, psychische Phänomene erklärbar zu machen. Seine Anschlüsse an die »Problemformulierung in Kategorien« der Bakteriologie und Physiologie passen sein Wissen an den vorherrschenden Denkstil an, wie Volker Roelcke darstellt. Für sein Lehrbuch spielen seine Krankengeschichten mit steigender Auflagenzahl eine immer größere Rolle, er betont gerade hier, dass er keine individuellen Fälle, sondern »künstliche ›Bilder‹ vermeintlich real-existierender Typen« 25 verwendet. Dennoch finden sich dort sehr wohl Elemente individueller Fallerzählungen, wie Yvonne Wübben nachweist. Der Aufbau seines Lehrbuches orientiert sich wie Krafft-Ebings an der Einteilung nach Allgemeiner und Spezieller Pathologie. Strukturell beeinflusst seine Methodik sein Lehrbuch also wenig. Auch methodisch musste Kraepelin seinen empiristischen Zugang aufgeben, da sich in der Praxis die psychischen Krankheiten nicht in Einzelteile zerlegt untersuchen ließen. Folgt man der Einschätzung, dass der Unterschied zwischen Krafft-Ebing und Kraepelin vor allem in der Rhetorik und weniger in der Methodik liegt, stellt sich die Frage, warum Krafft-Ebing die augenscheinlich sehr viel schwächere Position bezieht. Dazu möchte ich wiederum eine Stelle zitieren, die nahe legt, dass er den Geltungsanspruch für die Psychiatrie als Pathologie des menschlichen Geistes alles andere als bescheiden stellt: »Die Psychologie als Wissenschaft des menschlichen Geistes vermag wichtige Erkenntnissquellen aus der Pathologie desselben zu schöpfen, gleichwie die Pathologie überhaupt eine solche für die Physiologie ist. Jedenfalls ist die Psychiatrie ein integrirendes Wissensgebiet für den allseitige Bildung anstrebenden Naturforscher und Arzt und unerlässlich für seine umfassende Geistes- und Herzensbildung, sicher ein wichtiges Förderungsmittel für eine höhere philosophische Weltanschauung. Auch im Alltagsleben bringt ihr Studium Früchte, indem sie das Verständniss krankhaft veranlagter, geistig abnormer Persönlichkeiten, deren so viele in der Gesellschaft sich herumtreiben, fördert.« 26 Yvonne Wübben: Mikrotom der Klinik. Der Aufstieg des Lehrbuchs in der Psychiatrie (um 1890). In: Dies./Carsten Zelle (Hgg.): Krankheit schreiben. Aufzeichnungsverfahren in Medizin und Literatur. Göttingen 2013, S. 149–175, hier: S. 166. 26 Richard von Krafft-Ebing: Lehrbuch der Psychiatrie auf klinischer Grundlage für praktische Ärzte und Studirende. 3. umgearbeitete Auflage. Stuttgart 1888, S. 25. 25

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Verstehen und Verständnis

Krafft-Ebing sieht im Verständnis also eine Verbindung zu dem, was Dilthey unter Verstehen fasst: nämlich die »Gemeinsamkeit menschlichen Wesens« zu verstehen, und zwar »sofern menschliche Zustände erlebt werden, sofern sie in Lebensäußerungen zum Ausdruck gelangen und sofern diese Ausdrücke verstanden werden.« 27 Dies grenzt die Psychiatrie von anderen medizinischen Fächern ab und stellt sie nach seiner Auffassung auf eine höhere Stufe. Das Verständnis für seine Art der Psychiatrie von Seiten der Mediziner stärkt er damit eher nicht. Abzuwägen bleibt hier nur, ob Krafft-Ebings Rhetorik nicht konsequenter ist, da die Spannung in der psychiatrischen Methodik bis heute nicht aufgelöst ist.

4.

Verständnis und Beschreibung bei Krafft-Ebing in der forensischen Psychiatrie

Neben der klinischen Psychiatrie beschäftigten Krafft-Ebing außerhalb der Universität häufig als Gerichtsgutachter Fälle, in denen die Zurechnungsfähigkeit des Angeklagten fragwürdig schien. Die Textform, in der die forensischen Psychiater über die (Un-)Zurechnungsfähigkeit verhandelten, war bereits damals das gerichtliche Gutachten. Als besondere Form der Krankengeschichte blieb es stets das Instrument, mit dem sie in die gerichtliche Praxis eingreifen konnten. Diese Eingriffe laufen bei Krafft-Ebing wie auch in einer Tradition seit dem 18. Jahrhundert in die Richtung, statt des juristischen Blicks auf die Tat ein medizinisches Verständnis der Täterpsyche zur Grundlage eines Urteils zu machen.

4.1 Das psychiatrische Gutachten und die vielgesichtige Anthropologie Leser bzw. Hörer des Gutachtens waren in erster Linie Juristen in der Gerichtspraxis. Sprache und Argumentationsmuster orientieren sich in diesen Texten deshalb häufig an der juristischen Sprache, z. B. in Plädoyers oder in der Beweisführung. Kern ist allerdings immer die Wilhelm Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. In: Abhandlungen der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Philosophisch- Historische Klasse, Jg. 1910. Berlin 1910, S. 1–123, hier: S. 11.

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Untersuchung des Angeklagten, seine Vorgeschichte und die medizinische Beurteilung. Im Gerichtssaal waren die Gutachten die einzigen Texte des psychiatrischen Einflusses. Aber Krafft-Ebing setzte einen weiteren Text oder vielmehr ein Textgefüge ein, mit dem er die psychiatrische Position unter Juristen populär zu machen suchte: sein Lehrbuch der gerichtlichen Psychopathologie. In diesem Lehrbuch brachte er Krankengeschichten mit forensischem Hintergrund an, unter anderem auch von Krafft-Ebing verfasste Gutachten. In ihnen finden sich vielfältige Werturteile und Zuspitzungen, die ein psychiatrisches Verständnis für die Krankheit der Angeklagten beim Leser aufrufen sollten. Das Lehrbuch lässt sich mit dem zeitgenössischen Projekt der Kriminalanthropologie in Verbindung bringen, welches das Strafrecht revolutionieren wollte. Um den Nervenarzt Cesare Lombroso sammelte sich eine Gruppe von Forschern, die das Verbrechen naturwissenschaftlich begreifen wollte und sich deshalb auch Positive Schule der Kriminologie nannte. Mit Lombrosos Konzept des geborenen Verbrechers, der bestimmte psychische und physische Merkmale in sich vereint, tritt eine degenerationstheoretische Dimension hinzu, die spezifisch kriminologische Züge trägt. Interessant ist vor allem, wie Lombrosos Theorien in Deutschland rezipiert werden und welche Schlüsse aus ihnen gezogen werden. Im Vorwort zur deutschen Übersetzung des Uomo delinquente schreibt Arthur von Kirchenheim: »Keine Wissenschaft ist so auf dem Boden der Scholastik geblieben, wie die Jurisprudenz: auf dem Gebiete des Strafrechts aber wird dies am meisten empfunden. […] In solche Bewegungen trat weitere erzeugend Lombroso’s Werk ein. Durchaus neue Gesichtskreise werden der Strafrechtspflege eröffnet. Keine dialectischen Spitzfindigkeiten, sondern Erforschung der Thatsachen, das schreibt Lombroso auf sein Banner. Ihn fesseln nicht abstracte Theorien von Delict und Strafe, mit einem Worte nicht das Verbrechen, sondern der Verbrecher; Ziel aller seiner Studien ist die Erkenntniss der Eigenart des Menschen, welcher Strafthaten begeht, die Erforschung der Ursachen, welche ihn treiben, die Aufsuchung der Mittel, die ihn zügeln.« 28

Die Kriminalanthropologie steht der deduktiven, sich auf hergebrachte Texte berufenden Jurisprudenz gegenüber, denn sie legt ihr Arthur von Kirchenheim: Zur Einführung. In: Cesare Lombroso: Der Verbrecher in anthropologischer, ärztlicher und juristischer Beziehung. In deutscher Bearbeitung von Dr. M. O. Fraenkel. Hamburg 1887, S. III-XIII, hier: S. V.

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Verstehen und Verständnis

Augenmerk auf den verbrecherischen Menschen. Hier spielen psychische und physische Voraussetzungen gleichermaßen eine Rolle. Lombroso stellt eine Typologie auf, nach der 40 % der Verbrecher bestimmte körperliche Merkmale (Schädelform, Körperbau …) in Kombination mit psychischer Degeneration an den Tag legten. Diese waren als Atavismen konzipiert, als genetische Rückentwicklungen sowie als Rückschläge in der Adaption von Verhaltensweisen, die bereits durch die Zivilisation überwunden worden seien. Auch wenn eine starre Typisierung nicht in Krafft-Ebings Interesse für die Psychopathologie liegen konnte, machten die degenerationstheoretischen Elemente und die disziplinäre Stoßrichtung der Lombroso-Rezeption – gegen eine gesetzesgeleitete Rechtsprechung, für größeren Einfluss der täterbezogenen psychiatrischen Gutachter – die Kriminalanthropologie durchaus anschlussfähig für KrafftEbing. Er fordert in der zweiten Auflage seines forensischen Lehrbuches die auch im Verbrecher als notwendig dargelegte Veränderung des Rechtssystemsdurch die gerichtliche Psychopathologie: »Aber nicht bloss als Leuchte in den vielfach so dunklen Fragen nach der Zurechnungsfähigkeit des Einzelnen hat die gerichtliche Psychopathologie eine Bedeutung – viel wichtiger ist sie als Erkenntnissquelle für den Fortschritt der Rechtswissenschaft überhaupt, deren Neugestaltung aus metaphysischen Anschauungen und starrem Formalismus in der naturwissenschaftlichen anthropologischen Auffassungsweise der geistigen Vorgänge des Menschen, wie sie die gerichtliche Psychopathologie vertritt, werthvolle Bausteine findet.« 29

Die Anthropologie wird an eine naturwissenschaftliche Methodik geknüpft und eingebettet in einen rechtspolitischen Zusammenhang. Gegen das metaphysische Konzept der Willensfreiheit, das immer noch die Grundlage für das Strafrecht bildete, mobilisiert die forensische Psychiatrie eine empirische Fallmasse, die den freien Willen in Frage stellt. Hier befindet sich Krafft-Ebing auf dem Boden der erklärenden Psychologie, welche Dilthey als hypothesengeleitet ablehnen würde. Doch das Konzept der Anthropologie innerhalb der Medizin war nicht so eindeutig. Der Begriff entwickelte sich historisch aus einer ersten psychosomatischen Betrachtung, welche wiederum Körper und Psyche in ihrem unlösbaren Verhältnis ganzheitlich betrachRichard von Krafft-Ebing: Lehrbuch der gerichtlichen Psychopathologie. Mit Berücksichtigung der Gesetzgebung von Österreich, Deutschland und Frankreich. Zweite umgearbeitete Auflage. Stuttgart 1881, S. 7.

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tete. So geht Krafft-Ebing in seinen Forderungen weiter als die von Lombroso geprägte Kriminalanthropologie. Billigt jener die Todesstrafe für geborene Verbrecher, ist Krafft-Ebing ein erklärter Gegner dieser Bestrafungspraxis. Sein weiteres Anliegen ist es, die moralische Stigmatisierung von Seiten der Gesellschaft von den Straftätern zu lösen, die an psychiatrisch festzustellenden Krankheiten leiden – zu Gunsten der forensischen Psychiatrie: »Unzählige Unglückliche, die der heutige beschränkte richterliche Standpunkt und die öffentliche Meinung noch als Verbrecher und lasterhafte Menschen auffassen, wird eine spätere Zeit in ihrer wahren Natur erkennen und an ihnen Vieles, was Wissenschaft und Rechtspflege verschuldet haben, gut zu machen haben. […] Ohne Zweifel wird das anthropologische Studium des Verbrechers seine Früchte tragen und zur Gewinnung festerer Grundlagen für die Frage der Zurechnungsfähigkeit überhaupt, wie auch der Art und Weise des Strafvollzugs beitragen. Die Zeit wird kommen, wo unsre Anschauungen von heute über gewisse Verbrecher und die Strafe in ihrer ethischen und rechtlichen Begründung, besonders da wo sie als Todesstrafe erscheint, unhaltbar werden.« 30

Stand in diesem Zusammenhang in der ersten Auflage des Lehrbuchs der gerichtlichen Psychopathologie lediglich ein Verweis auf Morels Degenerationstheorie, tritt in der zweiten Auflage der Hinweis auf die Kriminalanthropologie hinzu. Hier scheint eine wichtige Grundhaltung Krafft-Ebings durch, die sich auf seinen Umgang mit psychischer Devianz im Allgemeinen erstreckt. Eben weil er das pathologische, abweichende Verhalten als Problem einer degenerativen Vererbung denkt, kann der Betroffene nichts für seine Taten und sein Schicksal. Diese Denkfigur findet sich ebenso im eben erwähnten Unglücklichen wie auch in den Stiefkindern der Natur aus dem Vorwort zur Psychopathia sexualis, die unter der Marginalisierung ihrer sexuellen Präferenz leiden. Dieser Mitleidsdiskurs appelliert auf einer gefühlslastigen, ›humanitären‹ Ebene an das Strafrechtssystem. Genau an dieser Stelle wird Krafft-Ebings Vertrauen in die Krankengeschichte, hier in das psychiatrische Gutachten wichtig. Beide sind Instrumente eines deskriptiven Verfahrens, da sie lediglich eine bestehende Abweichung erzählend beschreiben, in verschiedene Faktoren gliedern und abschließend analysieren, um eine Beurteilung abzugeben. Damit bewegt sich Krafft-Ebings Version der Anthropologie wiederum innerhalb der Kategorien der ganzheitlichen An30

Ebd., S. 8.

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thropologie der Dilthey’schen beschreibenden und zergliedernden Psychologie. Spätestens seit dem 18. Jahrhundert spielten Gerichtsmediziner und Amtsärzte ihre Menschen-Kenntnisse gegen die verkürzende Tatorientierung der Gerichtspraxis aus. Die Erfahrungsseelenkunde und die Kriminalerzählung der Spätaufklärung mit allen gegenseitigen Verflechtungen spitzte diese kritische Einflussnahme auf die Seele des Kriminellen, seine Geschichte und Dispositionen zu. 31 Der Vorwurf bestand darin, dass Rechtsprechung in ihren Narrationen lediglich den Tathergang zu rekonstruieren suche und dabei keine Untersuchungen über den ›unglücklichen‹ Täter einflössen. Dass Krafft-Ebing ein Jahrhundert später denselben, stark wertenden Begriff einsetzt, ist kein Zufall. Das Wissen über den Kriminellen als Menschen könne lediglich von außen, d. h. durch medizinisch-psychologische Gutachten hinzugeholt werden. Diese beiden Wissensfelder, die sich früher in einem ganz anderen Sinne als anthropologisch bezeichnet hatten, kämpften darum, ihre Geschichten über den Menschen erzählen zu können, sei es als Biografie oder Krankengeschichte. Die Verfechter, wie zum Beispiel Friedrich Schiller in seiner Erzählung Der Verbrecher aus Infamie, warben vor allem darum, dass die Praxis, Gutachten einzuholen, vor Gericht institutionalisiert werde. Im vorpreußischen Vielstaatenverband Deutschland war dies bereits durch uneinheitliche Rechtssysteme schwierig in der Umsetzung. Im späten 19. Jahrhundert galt dies als erreicht, allerdings suchte vor allem die forensische Psychiatrie nun, das erreichte Territorium auszubauen, indem Psychiater wie Krafft-Ebing die früheren grundlegenden Gedanken aufgriffen und innerhalb der Überlegungen zur Degeneration neu verorteten. Ihnen fehlte die Trennung zwischen Moral und Recht bei der Verurteilung eines Verbrechers weiterhin, was ebenso auf den fehlenden Einfluss der medizinisch-anthropologischen Maßgaben im öffentlichen und rechtssprechenden Bewusstsein zurückgeführt wurde. Natürlich konnte dies in ihren Augen nur

Vgl. Carsten Zelle: ›Die Geschichte bestehet in einer Erzählung‹. Poetik der medizinischen Fallerzählung bei Andreas Elias Büchner (1701–1769). In: Zeitschrift für Germanistik. N.F. 19 (2009), S. 301–316; Nicolas Pethes: Vom Einzelfall zur Menschheit. Die Fallgeschichte als Medium der Wissenschaftspopularisierung zwischen Recht, Medizin und Literatur. In: Gereon Blaseio/Hedwig Pompe/Jens Ruchatz (Hgg.): Popularisierung und Popularität. Köln 2005. S. 63–92.

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durch eine Ausweitung des Einflussgebietes der gerichtlichen Psychiatrie erreicht werden. Das anthropologische Moment im Zusammenhang mit Entartung war für Krafft-Ebing schon vor Lombroso die hereditäre Verbreitung. Sie steht als Argument dafür, dass es neben den erworbenen Geisteskrankheiten sogenannte Geistesstörungen gebe, die erblich seien. Geisteskrankheiten waren vor Gericht für den Beweis der Schuldunfähigkeit zum Zeitpunkt der Tat zugelassen, da bei ihnen ein Beginn, ein Verlauf mit Symptomen wie Wahnideen oder Sinnestäuschungen und unter Umständen sogar ein Endpunkt festgestellt werden konnte. Für die Entartungen gilt all dies nicht. Letztlich ist dies also als Strategie zu werten, den Machtbereich der forensischen Gutachter um eine neue Art der psychischen Krankheit zu erweitern, die bei der Erklärung von Unzurechnungsfähigkeit gültig wäre. Denn die Entartung sei nicht von Nichtmedizinern einschätzbar und bedeute eine logische Rückentwicklung eines Individuums auf einen genetisch festgelegten Höhepunkt hin: »Da wo keine veranlassende Ursache [für das Verbrechen, Anm. SO] auffindbar ist, besteht immer eine mächtige Disposition oder gar eine angeborene Krankheit. Hier verbreitet dann gerade die Anamnese in ihrer anthropologischen und klinisch-ätiologischen Forschungsrichtung Licht, indem sie das zweifelhafte Krankheitsbild als die Höheentwicklung einer meist erblich belasteten, von Kindsbeinen auf defekten, abnorm angelegten Persönlichkeit (Imbecillität, moral. Irresein, originäre Verrücktheit) nachweist und in der Regel neben funktionellen auch anatomische De-generationszeichen auffindet (s. u. psychische Entartungen).« 32

Aus heutiger Sicht ist der Degenerationsdiskurs schwierig zu bewerten, da die Psychiatrie viele neurologische Krankheiten (wie Epilepsie) und genetisch festgelegte Beeinträchtigungen (wie Kretinismus/ angeborene Hypothyreose) mit umfasste, ohne sie von psychogenen Krankheiten oder sexuell abweichenden Vorlieben abzugrenzen. Also übertrug sie das Konzept der Degeneration von offensichtlich somatisch bedingten und erblichen Krankheitsbildern auf andere in ihrem Definitionskreis. Die Entartung war bei Weitem nicht die einzig mögliche Ursache für Irresein und/oder Verbrechen, allerdings die wichtigste. In den Krankengeschichten spiegelt sich der Degenerationsgedanke vor allem durch eine gewissenhafte psychiatrische Familien32

Krafft-Ebing: Lehrbuch der gerichtlichen Psychopathologie 1881, S. 31.

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anamnese im Großteil der Fälle wider. Teilweise über mehrere Zeilen hinweg werden die teilweise entfernten Verwandten aufgezählt, bei denen Geisteskrankheit in irgendeiner Form auftrat. Auch Besonderheiten der Schädelform und sonstige physiognomische Kennzeichen werden oft genannt. Ebenso werden die in frühester Kindheit erkennbaren Wesenszüge dargelegt, implizierend, dass diese als angeboren aufgefasst werden können. Alle diese Faktoren tragen dazu bei, dass der Straftäter genauer beschrieben wird, dass er zur plastischen Hauptfigur der Krankengeschichten innerhalb der Gutachten wird. Dadurch werden die Erzählungen nicht nur komplexer, sondern das besondere anthropologische Wissen um den Täter als Menschen wird aufgenommen, verwahrt und vor allem als Verfahrens- und Erzählpraxis populär gemacht. Konsequent nutzt Krafft-Ebing auch im Bereich der forensischen Psychiatrie die erzählte Beobachtung als Forschungsinstrument der naturwissenschaftlichen Untersuchungen am Menschen. Darüber hinaus zeigt er durch die genannten Elemente der Erzählungen, dass er die anthropologische Forschungslogik annimmt: In den Krankengeschichten stehen die unglücklichen Täter im Mittelpunkt.

4.2 Eine Quelle des Verständnisses für die Degeneration: Die Pastoralmacht Als Grundlage für Krafft-Ebings Werben um Verständnis für den unglücklichen Verbrecher lässt sich ein Machttypus Michel Foucaults anführen, das den Mitleidsgestus in Richard von Krafft-Ebings forensischem Lehrbuch in der Deutung auf die Machtaspirationen der psychiatrischen Gutachter vor Gericht auf den Punkt bringt: die Pastoralmacht. Entwickelt im Zusammenhang mit der Gouvernementalität in den späten Vorlesungen Foucaults am Collège de France 1977/78, beschreibt die Pastoralmacht eine Machtform der modernen abendländischen Staatsführung, welche die Aufgabenbereiche übernimmt, die im Mittelalter von kirchlichen Institutionen getragen wurden. Zentrale Figuren dieser alten, religiösen Macht waren Pfarrer und Mönche. Sie übernahmen in ihrer Anbindung an Klöster als Zentren des Wissens eine Vielzahl von Funktionen für ihre Gemeinden, die von Erziehung, Heilung verschiedenster Krankheiten bis zur Seelsorge inklusive der Normierung psychischer Zustände und Exorzismen zu deren Wiederherstellung reichte. Mit der fortschreitenden Säku259 https://doi.org/10.5771/9783495817650 .

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larisierung des Wissens in der Neuzeit übernahmen verschiedene Berufsgruppen diese Aufgaben und teilten sie unter sich auf, hierzu zählen das Feld der Pädagogik und die Lehrberufe, das allgemeine Gesundheitswesen mit den Ärzten, die häufig auch amtliche Funktionen erfüllten, und besonders die Psychiatrie. All diesen Berufen ist gemein, dass sie sich der Sorge um die ihnen zugeordneten Gruppen verschreiben. Ihre Macht baut darauf, dass sie sich in diesen Bereichen auf ihr Fachwissen berufen können, aufgrund dessen sie beanspruchen, den Menschen besser zu kennen als der Mensch sich selbst. Dabei ist die Pastoralmacht eine zentrale Figur der gouvernemental organisierten Gesellschaft, die erstens die Prinzipien des Zusammenlebens festlegt und zweitens eine Spannung zwischen Gemeinschaft und Individuum in sich aufnimnmt. Diese Spannung wird ebenso zum sozialen Prinzip: »Das Pastorat gab also im Christentum die Veranlassung zu einem dichten, komplizierten, straffen institutionellen Geflecht, einem institutionellen Geflecht, das in der Tat und mit Recht den Anspruch erhob, auf die gesamte Kirche koextensibel zu sein, und sich also auf die Christenheit, auf die gesamte Gemeinschaft des Christentums zugleich erstreckte. […] Schließlich und vor allem der […] Unterschied, und darauf möchte ich bestehen, wonach das Pastorat im Christentum die Veranlassung gegeben hat zu einer regelrechten Kunst des Führens [conduire], Lenkens [diriger], Leitens [mener], Anleitens [guider, Hervorh. original], des ln-die-Hand-Nehmens, des Menschen-Manipulierens, zu einer Kunst des Ihnen-Schritt-für-SchrittFolgens und des Sie-Schritt-für-Schritt-Antreibens, einer Kunst, die diese Funktion hat, sich der Menschen ihr ganzes Leben lang und bei jedem Schritt ihrer Existenz kollektiv und individuell anzunehmen.« 33

Gerade für Mediziner und besonders für Psychiater ist die individuelle und die kollektive Untersuchung und Anleitung ihrer Patienten wichtig. Dabei ist die allmähliche Loslösung der Psychiatrie von christlich-philosophischen Glaubenssätzen und Praktiken trotz der Beibehaltung der Struktur und Organisation innerhalb der Gesellschaft, also die Säkularisierung der Machttechniken für das 19. Jahrhundert gut nachvollziehbar. Eric Engstrom hebt dies für die Entwicklung der medizinischen Psychiatrie in Deutschland hervor:

Michel Foucault: Geschichte der Gouvernementalität I: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Vorlesung am Collège de France 1977–1978. Frankfurt a. M. 2004, S. 241.

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»What in Germany at the end of the eighteenth century had commonly fallen within the purview of priests, jailors, philosophers, and officers of correction, lay by 1900 largely within the jurisdiction of the medical profession. In other words, whereas at the end of the eighteenth century physiscians’ claims to speak with authority on the issue of madness enjoyed little more recognition than those of other educated citizens (especially clerics), by the close of the nineteenth century their jurisdiction was far more generally accepted.« 34

Die romantische bzw. anthropologisch orientierte Psychiatrie des frühen 19. Jahrhunderts bemühte sich noch, die Gesamtheit der menschlichen Seele zu heilen. 35 Erst die neuropathologisch orientierten Psychiater von Theodor Meynert bis zu Paul Wernicke kappten diese Wurzeln, vernachlässigten jedoch ihre therapeutischen Aufgaben als Ärzte und somit ihre pastorale Funktion. Zur gleichen Zeit gab es aber auch klinische Psychiater wie Richard von Krafft-Ebing, die den somatischen Ansatz mit der Klassifizierung und Behandlung von psychischen Krankheiten verbanden und so die pastoralen BeEngstrom und Roelcke: Die ›alte Psychiatrie‹ ? Zur Geschichte und Aktualität der Psychiatrie im 19. Jahrhundert. In: Dies. (Hgg.): Psychiatrie im 19. Jahrhundert, S. 9– 25, hier: S. 23. 35 Dies jedoch bereits in der bewussten Ablösung von den kirchlichen Institutionen. So ereifert sich Heinrich Damerow über den Umgang Geistlicher mit geisteskranken Verbrechern: »Und wenn dann endlich während dieser verzweiflungsvollen irdischen Straf- und Leidenszeit noch der Geistliche, bei Verkennung des Menschen und seiner Seelenkrankheit und desshalb auch der ächt-christlichen Seelsorge, mit der Bibel in der Hand zu dem armen mühseligen und beladenen ›Mitchristen‹ in die Zelle tritt, nicht als Evangelist der Alles in sich zusammenfassenden Nächstenliebe, sondern als zelotisch befangener Sündenrichter, welcher den ›verstockten Sünder‹ (den verkannten Kranken) mit den Qualen der Hölle bedroht, und ihm ausser seiner vielleicht lebenslänglichen Strafe diesseits, noch die ewige jenseits verkündet, wenn er sich nicht bekehrt (d. h. wenn er nicht gesund wird) – ja dann bräche Erd’ und Himmel über den Unglücklichen zusammen und schlüge ihn in Trümmer, wenn der Mensch auf Erden nicht krank, und wenn nicht ein Gott im Himmel wäre! – Wahrlich, hier bedarf die ›innere Mission‹ noch gar sehr in sich einer innern Mission, der Mission zur Ausbreitung und Beförderung der Menschen- und Selbsterkenntniss, der anthropologischen Mission. […] Sie [die Theologen] sind nicht immer die gerechten Richter, die rechten menschlich-christlichen Seelsorger, wenn sie nicht den Menschen als eine Einheit von Leib, Seele und Geist, nicht die Seele als den Ausdruck der Einheit von Leib und Geist im Menschen hinnieden festhalten, sondern statt des realen Ganzen nur einen idealen Theil für wahr nehmen und dies Eine, dies Höchste, […] nur in einseitiger Richtung bis zum Auf- und Untergehen in Sünden-Theorie auffassen.« [Hervorh. original] (Heinrich Damerow: Sefeloge. Eine Wahnsinns-Studie. Halle 1853, S. 203–205). 34

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gründungs- und Argumentationsmuster wieder aufleben ließen. Mit Foucault gesprochen bemühten sie sich um das Heil ihrer Patienten. Die Pastoralmacht ist in sich allerdings nicht der Heilsbringer, sondern eher der Vermittler gegenüber dem Heil. »Der christliche Pastor handelt in einer subtilen Ökonomie von Verdienst und Verfehlung, einer Ökonomie, die eine kleinteilige Analyse der Transfermechanismen, der lnversionsprozeduren, der Unterstützungsfunktionen zwischen entgegengesetzten Elementen voraussetzt, kurz: eine detaillierte Ökonomie von Verdiensten und Verfehlungen, über die schließlich Gott entscheiden wird. Denn auch dies ist ein grundlegendes Element: daß nämlich diese Ökonomie von Verdiensten und Verfehlungen, die der Pastor in einem fort zu verwalten hat, am Ende auf keinerlei sichere und definitive Weise weder das Heil des Pastors noch das der Schafe garantiert.« 36

Ebenso kann der Psychiater die Heilung seiner Patienten nicht garantieren, er kann lediglich Verhaltensregeln und Therapien aufstellen, deren Befolgung vor psychischen Krankheiten schützen soll. Da die Kranken aber erklärtermaßen keine Schuld an ihren Leiden tragen, kann er die Nichtbefolgung nicht bestrafen oder kritisieren, sondern nur beklagen. Doch selbst wenn der Lebenswandel eines Menschen aus psychiatrischer Sicht der geistigen Gesundheit förderlich ist, kann er dennoch erkranken. Ebenso unsicher ist die Heilung. Doch es wird als einzige Möglichkeit angesehen, dem Rat des Psychiaters zu folgen. Daraus ergibt sich eine Abhängigkeit des Patienten seinem Arzt gegenüber. Der Gehorsam, der vom Patienten eingefordert wird, ist allerdings grundverschieden von der Befolgung allgemeingültiger Gesetze. Der Pastor ist – und hier zieht Foucault selbst die Parallele zum Arztberuf – mit dem Einzelfall betraut, den er in Beziehung zu allgemeinen Normen bewerten, dessen er sich aber eben auch individuell annehmen muss. »Man erkennt […], daß der Pastor nicht der Mann des Gesetzes ist, ebenso in dem sehr frühen und allgegenwärtigen Vergleich mit dem Arzt. Der Pastor ist weder grundsätzlich noch zuerst ein Richter, er ist im wesentlichen ein Arzt, der sich jeder Seele und der Krankheit jeder Seele anzunehmen hat. […] Mit Bezug auf dieses Thema, daß der Pastor also sehr viel mehr als der Mann des Gesetzes derjenige ist, der jeden Fall je nach dem versorgt, was ihn auszeichnet, denke ich, daß es darüber hinaus dem christlichen Pastorat eigen ist – und dies findet sich wohl nirgendwo sonst –, daß die

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Foucault: Geschichte der Gouvernementalität I, S. 252.

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Beziehung des Schafes zu demjenigen, der es lenkt, eine Beziehung integraler Abhängigkeit ist.« 37

Als integrale Abhängigkeit sieht Foucault erstens die Unterwerfung eines Individuums unter ein anderes Individuum, die als Zweierbeziehung das erste Prinzip des Funktionierens der Pastoralmacht darstellt: »Und derjenige, der gelenkt wird, muß im Inneren dieser individuellen Beziehung selbst, und zwar weil es eine individuelle Beziehung ist, [diese] anerkennen und gehorchen.« 38 Erkennt der Patient die Autorität des Arztes nicht an und achtet seine Ratschläge und Verschreibungen nicht, kann der Arzt ihm nicht helfen. Die Pastoralmacht in der Psychiatrie manifestiert sich also in der Asymmetrie des Verhältnisses zwischen Arzt und Patient. Sie ist der Ort, an dem die Medizin mit einer Art säkularisierten christlichen Ethos unterfüttert wird. Sie verleiht dem Arzt seine Aura als ›Halbgott in Weiß‹, schafft das Vertrauensverhältnis zwischen ihm und seinem Patienten. Allerdings hat dies auch Verpflichtungen zur Folge wie Schweigepflicht, den hippokratischen Eid oder die Selbstaufopferung des Mediziners im Dienste der Kranken in Nachtdiensten und Hausbesuchen. Dieses Bild überträgt sich aber aus der ärztlichen Behandlungspraxis fort in andere Bereiche, da es die Außenwirkung und das Selbstbild des Arztes bestimmt. So lässt sich ein pastorales Auftreten von Medizinern auch gegenüber anderen Disziplinen und Berufsbildern feststellen. Das Beispiel an dieser Stelle soll das Aufeinandertreffen sein von juristischer und medizinischer Logik in der forensischen Psychiatrie. In Krafft-Ebings forensischem Lehrbuch unterstützt die pastorale Haltung die Argumentation, nach der die Schuldfähigkeit der Straftäter generell von psychiatrischen Gutachtern überprüft werden solle. »Gegenüber der Häufigkeit mit welcher eine solche krankhafte erbliche Belastung sich bei vor den Schranken des Gerichts Stehenden findet, erscheint es gerechtfertigt, zu fordern, dass der Untersuchungsrichter schon durch seine Instruktion angewiesen wäre, die Frage nach den Gesundheitsverhältnissen der Ascendenz zu stellen und falls sich Geisteskrankheit, Trunksucht oder schwere Nervenkrankheiten bei derselben finden, eine Expertise durch einen ärztlichen Sachverständigen anstellen zu lassen […]. Nicht minder sollte der Untersuchungsrichter seine Aufmerksamkeit auf etwa beim In37 38

Ebd., S. 254 f. Ebd., S. 255.

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culpaten früher dagewesene Geistesstörung, Epilepsie, Hysterie und andere Nervenkrankheiten, Kopfverletzungen und schwere Krankheiten überhaupt richten. Diese anthropologische Seite des Vorlebens wird in unverantwortlicher Weise von den Gerichtspersonen vernachlässigt, während man mit peinlicher Genauigkeit den socialen ethischen Beziehungen des Individuums, namentlich seinem Leumund nachforscht.« 39

Verantwortlich kann Krafft-Ebing zufolge nämlich lediglich der psychiatrische Sachverständige begutachten. Die Familienanamnese und die Vorgeschichte erfordern die genaue Beschreibung und Analyse der Krankengeschichte. Ihre Untersuchung der verschiedenen Faktoren des »anthropologischen Vorlebens« – zum Beispiel Alkoholismus, welcher Implikationen für den sozialen, wirtschaftlichen, körperlichen und geistigen Zustand des Kranken nach sich zieht – vollführt eine Zergliederung, wie sie Dilthey für die Handhabung des gesamten Seelenlebens vorschlägt. Auffallend betont Krafft-Ebing hier den Unterschied zwischen psychologischer und anthropologischer Herangehensweise. Dies betrachtet aber nur einen sehr spezifischen Begriff der Psychologie, welcher sich in seiner Einseitigkeit gegen Krafft-Ebings Degenerationstheorie mit ganzheitlicher Verankerung stellt. Denn sein Konzept der Degeneration solle als Grund für Unzurechnungsfähigkeit anerkannt werden – demzufolge der Angeklagte allerdings in breit aufgestellter, »anthropologischer«, nicht in streng »psychologischer« Weise untersucht werden müsse. 40 An dieser Stelle wird die Situation kompliziert, denn nun muss Krafft-Ebings kriminalanthropologische Sichtweise sich auch noch innerhalb der eigenen Disziplin, nämlich gegenüber der Tradition der psychologisch orientierten Psychikern durchsetzen. In Nachfolge des Animismus im 18. Jahrhundert und der romantischen Psychiatrie schlossen sie biologische Ursachen wie Veranlagung aus der Genese des Irreseins aus. Dies (und die resultierende Uneinigkeit mit Somatikern) führe jedoch laut Krafft-Ebing zu einer prekären Lage der Psychiatrie innerhalb der Medizin und vor allem nach außen hin: »So erscheint die ganze Krankheit als ein Zerrbild der ganzen Persönlichkeit. Die forensische Bedeutung dieser Zustände ist eine grosse. Leider ist ihre ärztliche Erforschung, Dank vorwiegend psychologischer Untersuchungsweise, noch nicht zu einer wünschenswerthen Klarheit gediehen. 39 40

Krafft-Ebing: Lehrbuch der gerichtlichen Psychopathologie 1875, S. 26 f. Vgl. ebd., S. 146.

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Verstehen und Verständnis

Vor den Schranken des Gerichts macht sich diese Unsicherheit in peinlicher Weise fühlbar.« 41

Damit fordert Krafft-Ebing für sein Fach jene Sicherheit und Klarheit, die sich auch Wilhelm Dilthey für die Psychologie wünscht, die aber ihr erklärender Ansatz aufgrund ihrer Hypothesenhaftigkeit nicht gewähren kann. 42 Der somatische Zugang bedeutet für KrafftEbing nicht, dass er seine Krankheitstheorien auf die Untersuchung der körperlichen Ursachen – sprich: der Hirnpathologie – beschränkte. Doch sein ganzheitliches Verständnis für den Kranken und die Krankheiten bettete er in einen aus heutiger Sicht zweifelhaften Erklärungsversuch ein. Die Degeneration bietet für ihn sogar eine neue Möglichkeit der Ganzheitlichkeit: Es geht um Krankheiten bei Personen, nicht um isolierte Phänomene. Letztere waren aber einfacher für Außenstehende als Krankheiten zu akzeptieren. Und genau hier muss der Psychiater aus seiner überlegenen Perspektive Sorge tragen, dass auch die Einschätzung der Entscheidungsträger richtig erfolgte. »Zur Schwierigkeit der ärztlichen Beurtheilung des Anomalen solcher Zustände, die eine zusammenfassende Kenntniss des ganzen Vorlebens, aller früheren Entwicklungs- und Lebenszustände voraussetzt, kommt die Verlegenheit der Laien, welche zwar das Anomale der ganzen Persönlichkeit und ihrer Handlungen herausfühlen, aber an ihr das nicht finden, was ihr ›gesunder Menschenverstand‹ als unerlässlich zur Annahme von Irresein fordert, während doch andererseits jene Persönlichkeit alle Attribute in sich vereinigt, die zur Charakteristik eines unsittlichen leidenschaftlichen Charakters gehören. […] Wo die Entartung temporär oder dauernd in wirkliches Irresein übergegangen ist, wird die Aufhebung der Zurechnungsfähigkeit keinem Zweifel begegnen und nur Gefahr bestehen, dass aus dem luciden und proteusartigen Krankheitsbild der nichtsachverständige ›Sachverständige‹ Simulation herausdiagnosticirt.« 43

Durch den Einsatz der Anführungszeichen markiert Krafft-Ebing die Fehler in der üblichen Vorgehensweise bei psychiatrischen Gerichtsgutachten, bricht sie in Ironie und distanziert sich von ihnen. Er meidet die explizite Anrede psychiatrischer Laien und allgemeinmedizinischer Gutachter, denn direktere Konfrontation bedeutete auch Kritik an seinen Lesern, für die er das Lehrbuch der gerichtlichen Psychopathologie intendiert: Juristen und Allgemeinmediziner. Den41 42 43

Ebd., S. 154. Vgl. Dilthey: Ideen, S. 1317. Krafft-Ebing: Lehrbuch der gerichtlichen Psychopathologie 1875, S. 154.

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Sabine Ohlenbusch

noch erhebt er in seiner Kritik klaren Anspruch auf Vorrang seiner Expertise vor den Ansichten der Laien. Seine pastorale Machtposition ist dabei sein stärkstes Argument: Wenn Psychiater nicht mit Gutachten betraut werden, kann den nicht zurechnungsfähigen Straftätern Unrecht widerfahren. Es müsse den Fachleuten gerade auf dem Gebiet der degenerativen psychischen Erkrankungen gewährt werden, für die Kranken Sorge zu tragen. Doch dieser Impuls geht noch weiter. Die Arbeit der Gutachter soll den Machtbereich der Psychiatrie weiter in Richtung der Justizpraxis ausdehnen. In diesem Zusammenhang zitiert Krafft-Ebing Bénédict Morel, der ausdrücklich Gesetzesänderungen zugunsten der Einholung psychiatrischer Gutachten auch in Fällen degenerativer Erkrankungen fordert: »[J]e ne mets pas un instant en doute que les lois qui règlent la pénalité chez tous les peuples civilisés ne soient destinées un jour à subir des modifications dont l’honneur reviendra aux médecins qui auront appris à mieux faire connaitre les nombreuses modifications que l’hérédité imprime à l’organisation.« 44

Die Degenerationstheorie stellt also für Morel ebenso wie für KrafftEbing einen Ansatz des ganzheitlichen Verständnisses für die Verbrecherpsyche dar – entgegen der rein juristischen Praxis. Das Gerichtsgutachten ist hierfür das Medium, das im Anschluss an Diltheys beschreibende und zergliedernde Psychologie der Vielschichtigkeit des Phänomens Verbrechen Rechnung trägt. Denn die Degeneration war nie nur ein medizinisches bzw. psychiatrisches Konzept, sozialhygienische und ökonomische Anteile brachten es aus heutiger Sicht in ihrer Verquickung in Verruf. Im 19. Jahrhundert aber sicherte das Konzept der Pastoralmacht die grundlegende Autorität des psychiatrischen Gutachters aus seinem ärztlichen Gestus heraus. In der Konfrontation mit dem Richter kommt hier das Verständnis als Fachwissen zum Tragen, das nur der Gutachter liefern kann.

Bénédict-Augustin Morel: Traité des maladies mentales. Paris 1860. S. 544. Zitiert in: Krafft-Ebing: Lehrbuch der gerichtlichen Psychopathologie 1875, S. 155.

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Kognitives Verhalten als Wurzel des Verstehens und impliziten Wissens Eine hermeneutisch-epistemologische Interpretation Evolutionärer Erkenntnistheorie, kognitiver Ethologie und des Neurodarwinismus Bernhard Irrgang Mit dem Verstehen haben wir ein Problem. Die meisten Menschen glauben aufgrund von Selbsterfahrung aus der Teilnehmerperspektive, dass sie in der Lage sind zu verstehen. Wenn man sich aber wissenschaftlich mit dem Phänomen des Verstehens beschäftigen will, reicht diese Zugangsweise nicht aus. Also stellt sich die Frage nach der Beobachtbarkeit von Verstehen und möglichen Formen des Experimentes mit Verstehensprozessen aus der dritten Person-Perspektive. Jeder Professor aus der Teilnehmerperspektive geht davon aus, dass er Verstehensprozesse bei Prüflingen in mündlicher wie schriftlicher Form erfassen und beurteilen kann. Diese Sicherheit beruht auf der Fähigkeit als Experte für Prüfungsleistungen, die Art der Sprachverwendung eines anderen (Menschen) beurteilen zu können. Diese Sicherheit ist aber keineswegs wissenschaftlich überprüft, sondern beruht auf der Unterstellung oder Zuschreibung, dass der andere Mensch über ähnliche Sprachkompetenz verfügt wie man selbst. Das Verstehen selbst kann man also nicht beobachten, sondern nur aus dem Verhalten des anderen erschließen. Das Verstehen wollen von Verstehen bringt also eine verzwickte methodische Situation. Zum Verstehen von Verstehen ist daher mehr erforderlich als nur zu beobachten und experimentieren, sondern auch zu erschließen. Verstehen scheint also ein höchst komplexer Prozess kognitiven Verhaltens zu sein, der Inhalte des Erkannten oder sogar Sinn erschließt, der auf mehreren Ebenen stattfindet und der ohne die eigene Teilnehmerperspektive einzunehmen nicht durchführbar zu sein. Dann darf sich aber die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Prozess des Verstehens nicht auf Beobachten und Experimentieren beschränken, sondern muss neue Wege suchen, die Teilnehmerper-

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Bernhard Irrgang

spektiven (erste und zweite Person-Perspektive 1) berücksichtigt. Dazu wollen wir empirisch operierende Disziplinen aus hermeneutischphänomenologischer Perspektive epistemologisch interpretieren, um den Realitätsgehalt von Verstehen beurteilen zu können, denn dass Verstehensprozesse Wirkungen erzeugen können lässt sich sogar beobachten oder zumindest aus kognitiven Verhaltenweisen heraus erschließen. Um dabei erfolgreich sein zu können, muss das Konzept des Beobachters als Rahmentheorie für das Verstehen von Verstehensprozessen herausgearbeitet werden. Um dies möglichst vorurteilsfrei (also gewissermaßen wissenschaftlich) durchführen zu können, müssen wir Beobachterkonzepte bei Tieren, normalen Menschen und Wissenschaftlern auf ihre Ansätze zur Erhellung von Verstehensprozessen untersuchen.

1.

Über Geist und Verstehen bei Tieren

Im Zusammenhang mit der Beobachtung kognitiven Verhaltens und möglicher Verstehensprozesse sollten wir daher diskutieren, ob und in welcher Form von einem Geiste der Tiere die Rede sein kann. In der allgemeinen Diskussion über den Geist der Tiere geht man davon aus, dass die Zuschreibung eines Geistes möglich ist, wenn wir den Tieren phänomenales Bewusstsein, intentionale Zustände, Sprache und logisches Denken zuschreiben können. Je nach Standpunkt könnte man fordern, dass nur eins dieser Kriterien (Minimalforderung) oder alle vier (Maximalforderung) erfüllt sein müssten. Die Innenwelt anderer Lebewesen ist uns prinzipiell unzugänglich. Dies ist ein grundsätzliches methodologisches Problem, das auf eine kognitive Begrenztheit unsererseits verweist. Zudem scheint es nicht so einfach zu sein, Kriterien von außen für Innenwelten anzuwenden. Im Hinblick auf Tiere könnte angesichts mangelnder Fähigkeit zu kreativem Zeichengebrauch von einer eigentlichen Sprachbeherrschung nicht gesprochen werden. Ob wir den Primaten eine Sprache zu schreiben oder nicht, hängt davon ab, wie wir den Umgang mit Zeichen im Lichte unserer eigenen Auffassungen von Sprache und erfolgreicher Sprachverwendung bewerten. Es wäre vermessen zu glauben, es gebe Bernhard Irrgang: Gehirn und leiblicher Geist. Phänomenologisch-hermeneutische Philosophie des Geistes. Stuttgart 2007; Bernhard Irrgang: Der Leib des Menschen. Grundriss einer phänomenologisch-hermeneutischen Anthropologie. Stuttgart 2009.

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so etwas wie interpretationsneutrale Beobachtungen und allgemein akzeptierte Kriterien, die es uns erlauben, ein für alle Mal festzustellen, ob Tiere einen Geist haben. Offensichtlich sind zudem die Tiere keine homogene Gruppe. Es lässt sich vielmehr eine Bandbreite verschiedenster Lebewesen beobachten, über ganz unterschiedliche Fähigkeiten verfügen und Verhalten von unterschiedlicher Komplexität zeigen. Letztlich ist die Frage, ob hoch entwickelte Säugetiere einen Geist haben oder nicht, eine empirische Frage, die sich nur mithilfe empirischer Methoden beantworten lässt. Wenn es hier überhaupt eine philosophische Aufgabe gibt, so liegt sie im Bereich der praktischen Philosophie und stellt sich angesichts der Resultate der empirischen Forschung. 2 Die frühneuzeitliche Tierdebatte wurde durch Michel de Montaigne (1533–1592) in seiner Apologie für Raimond Sebond eröffnet, und zwar mit der Frage, ob wir Tieren einen Geist zubilligen sollten oder nicht. Unsere kognitive Beschränktheit sollte allerdings nicht der Grund dafür sein, dass wir Tieren grundsätzlich Geist absprechen. Sobald Sprache in pragmatischer Hinsicht betrachtet wird, ist es durchaus möglich, Tieren eine Sprache zuzuschreiben. 3 Sein Gegenspieler wurde René Descartes mit seiner Tier-Maschinen-These. Er wies darauf hin, dass Tieren ein kreativer Sprachgebrauch nicht zuzuschreiben sei. In diesem Punkt ist die Diskussion wohl nicht erheblich weiter gekommen. Auch die empirischen Befunde sind weiterhin kontrovers. 4 So ist die Aufgabe der kognitiven Ethologie keineswegs zu Ende gebracht. Sie muss zunächst gegen die Behavioristen argumentieren. Diese stellen ihre Verhaltensexperimente mit Ratten und Tauben meist in künstliche Umgebungen, z. B. in Käfigen. Sie können damit ein Lernen am Erfolg experimentell überprüfen. Sowohl die behaviouristischen Verhaltenserklärungen als auch die neurophysiologischen Erklärungen der Affenlaute entsprechen Descartes’ Analyse des Verhaltens einer dressierten Elster, die ihrer Herrin Guten Tag sagen kann. Die Lautäußerung der Elster, so Descartes, sei ihr durch eine Konditionierung beigebracht worden. Die Grundidee besteht nun darin, dass der Geist nicht dank eines generellen Mecha-

Dominik Perler/Markus Wild: Der Geist der Tiere – Eine Einführung. In: Dies. (Hgg.). Der Geist der Tiere. Philosophische Texte zu einer aktuellen Diskussion. Frankfurt a. M. 2005, S: 10–76, hier: S. 12–19. 3 Vgl. ebd., S. 29–35. 4 Vgl. ebd., S. 41–43. 2

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nismus (etwa demjenigen der Assoziation oder des Reiz-ReaktionMusters) alle möglichen kognitiven Aufgaben zu bewältigen vermag, sondern aus vielen autonomen in sich geschlossenen, spezialisierten System besteht, das für die kompetente schnelle Bewältigung spezialisierter Aufgaben zuständig ist, wie beispielsweise der visuellen Wahrnehmung der Gesichtserkennung oder Spracherwerbs. 5 Die neuere tierpsychologische Diskussion setzt allerdings ihr bei Darwin und dem von ihm propagierten evolutionsbiologischen Gradualismus an, welcher den Unterschied in den kognitiven Kompetenzen zwischen Tier und Mensch durch eine Vielzahl kleinerer evolutionärer Schritte aneinandergereiht und zusammengenommen erblickt. Vor allem Griffin hat die These vom Geist der Tiere vehement vertreten. Allerdings muss sich die kognitive Ethologie vor Anthropomorphismen hüten. Außerdem sind Verhaltensbeobachtungen nicht unbedingt einfach und schließlich das mentale Vokabular selber problematisch. Jedenfalls verfügen Tiere über eine Art Wissen ihrer physischen und sozialen Umwelt, zum Beispiel in Dominanzverhältnissen. Gedanken lesen ist eine besondere kognitive Fähigkeit, so besonders, dass einige Psychologen dies für ein Kriterium halten, das uns von anderen Tieren unterscheidet. Allerdings bleibt es die Frage, ob es dieses eine unterscheidende Kriterium überhaupt gibt. Die meisten Verhaltensforscher betrachten kognitive Evolution gradualistisch. 6 Auch die Theorie der sozialen Intelligenz möchte beweisen, dass Tiere mit höherer sozialer Kompetenz, also gewisse Arten, schlussfolgern, die allerdings nicht zahlreich sind. Außerdem gibt es bereits im Bereich der Vögel Warntöne für spezifische Gefahrenquellen, sprich Raubvögel. In Feldstudien sind Tiere als Prüfstein für Gruppen-Modelle heranzuziehen, in denen wir ökologische und soziale Herausforderungen untersuchen, denen bestimmte Tierarten ausgesetzt sind. Deren Bewältigungsstrategien sind zu beobachten und Hypothesen zu den mentalen kognitiven Strukturen zu entwickeln, die diese bestimmte Tierart ausgebildet haben muss, um diese Herausforderungen zu bewältigen. 7 Descartes’ Auffassung war, Sprache sei das einzige Anzeichen für das Vorhandensein von Gedanken. Dabei ist anzunehmen, dass ein Beobachter unter günstigen Bedingungen sagen kann, was für 5 6 7

Vgl. ebd., S. 45–47. Vgl. ebd., S. 54–61. Vgl. ebd., S. 62–69.

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Überzeugungen, Wünsche und Absichten ein Handelnder hat. Wenn ein Geschöpf allerdings nicht sprechen kann, ist es unklar, ob die Intentionalitätsbehauptung bei der Beschreibung der dem anderen zugeschriebenen Überzeugungen aufrechterhalten werden kann. In ähnlicher Weise kann man sich fragen, ob es ohne ein Sprechen eine angemessene Grundlage für die Zuschreibung allgemeiner Überzeugungen geben kann, die erforderlich sind, um irgendeinen Gedankensinn zu unterstellen. Einfach zu behaupten, dass ein Beobachter unter günstigen Bedingungen sagen kann, was jemand anderes denkt, bedeutet nicht, den Verifikationismus zu übernehmen, auch nicht in Bezug auf Gedanken. Die Annahme der Beobachtbarkeit läuft auch nicht auf einen Behaviorismus hinaus. Propositionale Einstellungen können nämlich auch von einem Beobachter entdeckt werden, der lediglich das Verhalten als Zeuge miterlebt, ohne dass Einstellungen in irgend einer Weise auf das Verhalten reduzierbar wären. Es gibt begriffliche Bindungen zwischen den Einstellungen und dem Verhalten, ausreichend, um konkrete Schlüsse auf die Einstellungen zu ermöglichen. 8 Die Pointe beim Begriff der Überzeugung besteht vor allem darin, dass es sich um den Begriff vom Zustand eines Organismus handelt, der wahr oder falsch sein kann, korrekt oder unkorrekt. Eine Überzeugung zu haben heißt demnach noch nicht, einen Begriff von objektiver Wahrheit zu haben. Die Schlussfolgerung aus diesen Betrachtungen lautet, dass Rationalität ein soziales Merkmal ist. Nur Kommunikationspartner haben sie. 9 Also stellt sich die nächste Frage: Können Tiere ohne Sprache Gedanken haben? Möglicherweise können ihre Gedanken einfach sein, nämlich solche, die mit ihrem nichtsprachlichen Verhalten ausgedrückt werden können. 10 Wenn wir also Gedanken bei Tieren unterstellen, so spricht viel dafür, dass der Besitz dieser Gedanken auf etwas Einfacheres hinausläuft als beim Menschen. Bei Tieren findet sich ein Abklatsch von Gedanken. Sie können Klassifikationen anwenden, aber es fehlt ihnen das gedankliche Umfeld, das bei sprachlichen Lebewesen zur Verfügung steht. Gedankenzuschreibungen an Tiere verwenden einen zu reichen Begriffsapparat

Vgl. Donald Davidson: Rationale Lebewesen. In: Perler/Wild (Hgg.): Der Geist der Tiere, S. 117–131, hier: S. 123 f. 9 Vgl. ebd., S. 129–131. 10 Vgl. Hans-Johann Glock: Begriffliche Probleme und das Problem des Begrifflichen. In: Perler/Wild (Hgg.): Der Geist der Tiere, S. 152–190, hier: S. 157–160. 8

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auf einem Gebiet, auf dem viele logische Beziehungen diesen Apparat kennzeichnen, die bei Tieren einfach nicht einschlägig sind. 11 Sicher ist, dass Tiere lernen und einen internen Zustand haben, der etwas über die externe Umwelt des Vogels aussagt, und eine Rolle im darauffolgenden Verhalten des Tieres spielt, weil er etwas bedeutet. Tieren muss so etwas wie eine Art Fähigkeit zur Repräsentation zugeschrieben werden. 12 Eine weitere interessante Frage ist diejenige, ob sprachlose Tiere über eine Theorie des Geistes verfügen. 13 Nichtmenschliche Lebewesen sind fähig, die Welt im Hinblick auf Gegenstände und Ereignisse, die für ihr Überleben relevant sind, zu kategorisieren. Sie sind zudem in der Lage, eine große Anzahl von Episoden aus ihren vergangenen Erfahrungen in der Erinnerung zu speichern. Auf diese Weise können Sie Zustände der Welt in einem gewissen Maße voraussagen und eine geistige Landkarte ihres Territoriums konstruieren, um ihre Nahrungssuche auf informierte Weise zu steuern. Säugetiere, Schlangen und Vögel können auf Grundlage ihrer Wahrnehmung von unterschiedlichen Gegenständen und Ereignissen Repräsentationen bilden. Die großen Primaten repräsentieren die körperliche Welt ähnlich wie menschliche Subjekte, die keine wissenschaftliche Ausbildung erhalten und von ihrer Gruppe keine so genannte naive geistige Theorie übernommen haben. Menschenaffen repräsentieren geistige Information, aber keineswegs auf dieselbe Weise wie Menschen. Daher können sie keine Theorie über geistige Zustände wie wir bilden, und sie können nicht in einem einzigen Denkakt die Repräsentation von etwas Tatsächlichem mit einer Repräsentation einer nur möglichen oder vollkommen eingebildeten Situation verbinden. Sie repräsentieren geistige Information nicht als eine geistige, sondern als eine verhaltensleitende Information. 14 Was für das Verständnis eines anderen gilt, trifft auch auf die Selbstrepräsentation zu. Es hat sich herausgestellt, dass große Affen fähig sind, auf sich selbst Bezug zu nehmen, wenn ihnen die Verwendung von Symbolen beigebracht worden ist. Im Unterschied zu den kleinen Affen gelingt es den meisten erwachsenen Schimpansen und

Vgl. ebd., S. 186. Vgl. Joëlle Proust: Das intentionale Tier. In: Perler/Wild (Hgg.): Der Geist der Tiere, S. 223–243, hier: S. 222–224. 13 Vgl. ebd., S. 239. 14 Vgl. ebd., S. 242. 11 12

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Orang-Utans, sich im Spiegel zu erkennen. Daraus kann man aber nicht schließen, dass nichtmenschlichen Primaten einen Sinn von persönlicher Identität haben, der unserem nahekommt. Da sie nicht über geistige Begriffe in dem uns Menschen vertrauten Sinne verfügen und unfähig sind, mithilfe geistiger Dispositionen Inferenzen zu bilden, und da sie zudem der Aufgabe entbunden sind, eine sozial akzeptierte Biografie wie wir Menschen zu konstruieren und zu erzählen, verfügen die nichtmenschlichen Primaten zweifellos über ihre eigene Art Weise, ihre Artgenossen zu kategorisieren. Dies erfolgt auf der Grundlage ihrer körperlichen und verhaltensleitenden Merkmale sowie ihrer Dispositionen (Stellung in der Gruppe, Aggression usw.). Doch es gilt, daran zu erinnern, dass diese Fähigkeit, Artgenossen individuell zu unterscheiden, bei vielen sozialen Arten vorkommt, auch bei Hühnern. 15 Auch beim Zweck-Mittel-Denken geschah eine Evolution. So gibt es unterschiedliche Grade der begrifflichen Abstraktionsfähigkeit im Hinblick auf Sprache und Denken bei Tieren. Schließlich kann auch ein zufälliges Denken bei Tieren angenommen werden. Affen können gewisse Sprechakte vollziehen. 16 Es gibt eine grundsätzliche Kritik an der Erforschung der Affensprache. Sie veranschaulicht höchstwahrscheinlich gravierende Unterschiede zwischen objektiv-wissenschaftlicher Forschung und gewissen Formen von Sprachforschung. Für gewöhnlich wird Alltagssprache in einem sehr emotionalen Kontext gelernt, und affektive Aspekte der Kommunikation können auch zwischen kompetenten Sprechern kaum vollkommen von aseptisch-semantischen Aspekten in wissenschaftlicher Perspektive abgetrennt werden. 17 Insofern wird auf dieser Ebene schwerlich völlige wissenschaftliche Objektivität erreichbar sein. In gewisser Weise kann man auch von der Evolution der Referenz oder der sprachlichen Bedeutung sprechen. Es gibt aber mindestens drei Arten der sprachlichen Referenz, nämlich mimetische, stellvertretende und begriffliche Referenz. 18 Insofern ist vor allen Dingen auch der Übergang von Verhaltenslesen zum Gedankenlesen bei OrVgl. ebd., S. 242 f. Vgl. John Dupre: Gespräche mit Affen. Reflexionen über die wissenschaftliche Erforschung der Sprache. In: Perler/Wild (Hgg.): Der Geist der Tiere, S. 295–322, hier: S. 297. 17 Vgl. ebd., S. 305. 18 Vgl. Colin Allen/Eric Saidel: Die Evolution der Referenz. In: Perler/Wild (Hgg.): Der Geist der Tiere, S. 323–356, hier: S. 343 f. 15 16

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ganismen interessant. Verhaltenslesen und Gedankenlesen setzen unterschiedliche Stufen des Verstehens voraus. Das Lesen der Motive anderer ist ein plausibler Ausgangspunkt für den Einsatz anderer als Informationsspeicher. 19 Ein solches Vermögen impliziert den Vorteil von wechselseitiger Kontrolle zwischen den einzelnen Informationskanälen und konkreter auf das Sozialverhalten angewendet von Kommunikationsteilnehmern. So kann Repräsentation auf verschiedenen Ebenen erfolgen. 20 Also hängt die Reaktionsbandbreite eines Gedankenlesers von folgendem ab: (1) vom Spektrum der anderen Merkmale des Akteurs, die der Gedankenleser verfolgt, und (2) vom Ausmaß, in dem seine Reaktion nicht nur vom anderen Akteur, sondern auch vom Rest der Welt abhängig ist: Auswirkung von Anhängern der einen oder anderen Partei, der physischen Geographie der Interaktion, der Wert einer Ressource (in Konfliktsituationen) und ähnliches sind relevant für die Bandbreite des Outputs. (3) Wie das Beispiel der visuellen Aufmerksamkeit zeigt, kann die Bandbreite der Reaktion auch von der Fähigkeit abhängen, Interaktionen zu initiieren. 21 Die Fähigkeit zur Repräsentation von Fremdpsychischen ist nicht an den Besitz einer Theorie über die Verknüpfungen zwischen Überzeugungen und Präferenzenverhalten gebunden. Was würde zeigen, dass ein Lebewesen so etwas wie eine Theorie des Geistes hat? Es wurde diskutiert, dass Rollentausch, Perspektivenübernahme und ähnliche Experimente diagnostische Tests für eine Theorie des Geistes sein können. 22 Die Frage »wie ist das Erlebnis eines Tieres?« muss im Lichte der dem Tier eigenen Physiologie seines eigenen Verhaltens beantwortet werden. Der Schlüssel zum Fortschritt auf dem Weg der Innenweltheterophänomenologie besteht im Eingestehen dessen, dass das Tiererleben auf dem Wege der Innenweltanalyse nicht einfach eine blasse Imitation unserer eigenen Erlebnisse ist. 23 Sie ist allerdings auch nicht identisch mit der menschlichen durch Begriffssprache präzisierten Innenwelt, Subjektivität genannt. Vgl. Kim Sterenly: Primatenwelten. In: Perler/Wild (Hgg.): Der Geist der Tiere, S. 357–388, hier: S. 361. 20 Vgl. ebd., S. 369. 21 Vgl. ebd., S. 375. 22 Vgl. ebd., S. 378. 23 Vgl. Daisie Radner: Die Heterophänomenologie: Wie wir etwas über die Vögel und die Bienen lernen. In: Perler/Wild (Hgg.): Der Geist der Tiere, S. 408–426, hier: S. 426. 19

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2.

Ein epistemologisches Zwischenspiel: Das Erschließen des Geistigen im Körperlichen

Das Erschließen des Geistigen im Körperlichen (also auch von Verstehensprozessen, die an den Wurzeln des Geistigen stehen, welche in der menschlichen Kultur und nicht zuletzt in der Wissenschaft ihren bisherigen Höhepunkt in der biologischen und kulturellen Evolution erreicht hat) könnte mithilfe einer paradoxal naturalisierenden Interpretationsposition gelingen. 24 Das Abstrakte hat der menschliche Geist von Sternen oder dem Kosmos abgelesen, von Welthorizonten oder dem Kalender, d. h. aus Rhythmen oder Ordnungen individueller oder überindividueller Art. Genauer bestimmt handelt es sich zwei Seiten einer schöpferisch-kreativen Materie in den beiden Dimensionen prozessierender Energie und geistigem Erfassen der prozessierenden Natur. Aus dieser Verbindung entsteht Kultur, die Verstehen im Sinne eines menschlichen-leiblichen Geistes 25 voraussetzt zunächst als (1) Materiale Überlebenskultur, (2) Erzählkultur mit mimischem Ausdruck, Gesten und Zeichensprache, Musik, Tanz und Verbalsprache, (3) Kultur der Technoscience und des Wissens, (4) Lehre vom Numinosen und der Macht des Religiösen, (5) Kultur des sich orientieren Könnens (Kosmos, Welthorizont) und Reflexion. Gemäß meiner Interpretation ist Pychisches und Geistiges nicht identisch mit Gehirnprozessen, aber ein Produkt derselben, mit denen dieselben ›Umgehen-Können‹ realisieren. Sinn ist also kein direkt auf Gehirnprozesse reduzierbares Phänomen, obwohl Gehirnprozesse kognitives Verhalten genauso ermöglichen wie GehenKönnen. Verstehen setzt ›Umgehen-Können‹ voraus und umgekehrt. Aus Verstehen erwächst verständnisvolles Verstehen und geplantes Handeln-Können. Kultur beruht vor allem auf dem menschlichen Gedächtnis, der menschlichen Verbalsprache und der Abstraktheit und Verallgemeinerungsfähigkeit der Gedanken. Die Kybernetik schreibt aufgrund ihrer Beobachtertheorie letztlich allen Arten von Beobachtern (OrgaVgl. Bernhard Irrgang: Skeptisch-kritische Epistemologie, kontextbezogene Selbstorganisation des Verstehens und positional-perspektivische Metahermeneutik. In: Michael Funk (Hg.): Transdisziplinär und Interkulturell: Technikphilosophie nach dem Zeitalter philosophischer Kleinstaaterei. Würzburg 2015, S. 463–531. 25 Vgl. Irrgang: Gehirn und leiblicher Geist. Phänomenologisch-hermeneutische Philosophie des Geistes. Stuttgart 2007; Irrgang: Der Leib des Menschen. Grundriss einer phänomenologisch-hermeneutischen Anthropologie. Stuttgart 2009. 24

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nismen, Robotern, Maschinen, Menschen) ab einem bestimmten Komplexitätsgrad (evolutionär gedacht) Bewusstsein, Selbstbewusstsein nur im Sinne von Wissen zu. Die Kybernetik ist also das Nivellierungsmodell, die Hermeneutik das Differenzierungsmodell, das beim Menschen verschiedene Ebenen nicht nur des Beobachtens, sondern auch des ›Umgehen-Könnens‹ unterscheidet, die nicht von evolutionären Kontinuität ausgeht, sondern von Entwicklungsbrüchen und mehreren unterschiedlichen (grundsätzlich unterschiedlichen) Ebenen der Subjektivität. Tiere bleiben auf der Ebene der Wahrnehmung vererbter bzw. erlernbare Verhaltensweisen (die beobachtbar sind). Das menschliche ›Umgehen-Können‹ geht über das Beobachtbare hinaus in Bereiche, die sich nur erschließen lassen. Für das ›Erschließen-Können‹ brauchen wir Modelle (Sprache und Gedanken, also spezifische Gedächtnisformen). Das kybernetische Modell des Beobachters ist einfach nicht ausreichend für eine Epistemologie der menschlichen Erkenntnis, sondern nur von Vorstufen von ihr, kann aber mithilfe des Emergenzbegriffs in weitere Bereiche der Reflexion ausgedehnt werden. Kybernetik ist damit ein Instrument der Modellbildung, wobei die Modelle selbst Organismen, Roboter und Menschen unterscheiden können. Sie gelten für alle Arten von Intelligenzen. Hermeneutik bietet eine Epistemologie der Modellbildung selbst, Phänomenologie eine material-leibliche Theorie des Beobachtens. Formale Modellbildung ist aus sich heraus nicht verständlich, sondern bedarf der Interpretation, zum Beispiel durch eine hermeneutisch-phänomenologische Epistemologie. 26 Wir haben einen doppelten epistemischen Zugang zur Realität, den aus der ersten Person Perspektive und der zweiten Person-Perspektive (sowohl im Vollzugs- wie im Resultatmodus) und den aus der dritten Person-Perspektive des Commonsense und des wissenschaftlichen Wissens, ebenfalls aus der Vollzugs- und der ResultatPerspektive. Die Vollzugs-Perspektive ist die der Kognition, die Resultat-Perspektive eine Gedächtnisleistung. Wir dürfen den einen Aspekt nicht gegen den anderen ausspielen wollen, weil beide ihre grundsätzliche Berechtigung haben. Sie leisten zur Lebensbewältigung genauso wie zur kulturellen Rechtfertigung von Wissen einen wesentlichen Beitrag. Kognition ist ein Anpassungsfaktor und daher zentral für ein Verständnis von Evolution. Evo-Devo erarbeitet geraVgl. Irrgang: Skeptisch-kritische Epistemologie, kontextbezogene Selbstorganisation des Verstehens und positional-perspektivische Metahermeneutik.

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de auf der Basis der Modellierung komplexer dynamischer Systeme Bildung eine neue Synthese von Evolutionstheorie und embryonaler Entwicklungsbiologie, welche auch eine Neuinterpretation kognitiver Verhaltensweisen erlaubt. Sie lässt neben einer gradualistischen Grundinterpretation von Evolution und auch Sprünge in der Entwicklung zu. Eine Wissenschaftsforschung mit kybernetisch-systemtheoretischer Ausrichtung auf epistemologischer und nicht auf soziologischer Basis wäre für die Rahmen-Konstruktion und Hintergrundkonstitution für eine kritische Hermeneutik geeignet. Die von der Skepsis entlehnte Tropen-Struktur der Rahmenbildung hermeneutischer Epistemologie wird zum Reflexionsmodus oszillierende Spekulation weiter entwickelt, indem die wechselseitige Implikation und gleichzeitigen Kritik der Interpretation ermöglichenden HorizonteInterpretation im Schweben erhält und zu ständiger Revision von Interpretation auffordert, da entwicklungsbedingt sich Phänomene ständig verändern. Die Kybernetik der Selbstorganisation und chaotischer Entwicklung, von einem Beobachterstandpunkt modelliert, und die Interpretation des Beobachterstandpunktes auf der Basis einer perspektivisch sich entfaltenden Subjektivität menschlich-leiblicher Subjekt ergeben im Widerstreit wechselseitiger Kritik das Methodenarsenal einer kritischen Hermeneutik. Kybernetik modelliert Subjektivität als Beobachterstandpunkt mathematisch funktional, Hermeneutik als leiblich-methodologische Epistemologie (hermeneutisch und phänomenologisch). Kybernetik wird dadurch von einem leeren Modell ohne Realitätsbezug (Turing-Maschinen sind kein realitätsangemessenes Modell von Menschen) zur Handhabung mit Realitätsbezug transformiert. Und Hermeneutik wie Phänomenologie erhalten ein Instrument zur skeptischen Einklammerung einer überbordenden ersten Person-Perspektive. 27

3.

Neurodarwinismus und Evolution des Verhaltens

Der Neurodarwinismus beschäftigt sich mit der Evolution der Kognition und des sich kognitiv Verhalten-Könnens. Es geht um die Evolution der Sinneszellen, der zentralen Nervensysteme und Gehirne. Es geht aber auch um die Evolution des Bewegungsapparates in den unterschiedlichen Medien Wasser, Land und Luft. Einen Schub in der 27

Ebd.

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Bernhard Irrgang

Entwicklung der Kognition und von Gehirnen leistete die räuberische Lebensweise als neue Form der Ernährung, nicht mehr auf der Basis von Fotosynthese, sondern auf Kosten von anderen Lebewesen, im Kambrium vor ca. 550 Millionen Jahren. Zur Steuerung der Sensomotorik musste das Gehirn Gedächtniskompetenzen aufbauen, die Verstehen ermöglichen. Ohne Gedächtnis lassen sich Zusammenhänge nicht erkennen. So entwickelte sich im Leben das Erleben. Der Neurodarwinismus versteht das sich Verhalten-Können als Anpassungsleistung, die deutlich schneller vonstattengeht als genetische Fixierung von physiologischen wie ethologischen Merkmalen oder Eigenschaften. Die Evolution des kognitiven sich VerhaltenKönnens oder später des Verstehens entwickelt sich aus kognitiven Kompetenzen in Stufen des Sich-Erinnern-Könnens, als Formen des Gedächtnisses, als Kommunikationsformen und schließlich als Sozialverhalten sowohl bei Tieren wie bei Menschen, die bei Menschen auch Formen der Kulturentwicklung einschließt. Evolution aber bedeutet immer wieder auch Katastrophen, so dass durch die Menschheitsgeschichte die Evolution des Neurodarwinismus in den superschnellen Bereich gerät. Dabei sind für die Menschheitsentwicklung insbesondere der Klimawandel und der aufrechte Gang von erheblicher Bedeutung. Man hat Kultur als Aufhebung der Anpassung interpretiert. Dies scheint mir nicht richtig sein, da es sich eher um indirekte Anpassung handelt. Gehirne dienen in erster Linie der Erzeugung von Sinneswahrnehmung und Verhaltensweisen. »Das Verhalten ist die Gesamtheit der Aktivitäten eines Organismus, die das Verhältnis zu seiner Umwelt betreffen.« 28 »Eine eigene Methodologie für Verhaltens-Untersuchungen an Tieren beginnt sich seit Ende des 19. Jahrhunderts herauszubilden. Diese baut auf Beobachtungen unter kontrollierten Bedingungen und Experimenten auf. Einen ersten Überblick gibt C. Lloyd Morgan in seinem grundlegenden Werk Animal Behaviour (1900). In seiner Definition des Verhaltens-Begriffs betont Lloyd Morgan den Umweltbezug von Verhalten und seine Auslösung durch externe Reize.« 29 »Geläufig ist es im 18. und 19. Jahrhundert, konstante Verhaltensmuster bei Tieren (und deren Auslösung) als In-

Georg Toepfer: Historisches Wörterbuch der Biologie. Geschichte und Theorie der biologischen Grundbegriffe; Bd. I, II, III. Darmstadt 2011, Bd. III, S. 653. 29 Ebd., S. 654. 28

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Kognitives Verhalten als Wurzel des Verstehens und impliziten Wissens

stinkte zu bezeichnen.« 30 Charakteristisch für die Kybernetik ist es, Verhalten unter den Gesichtspunkten der Regulation zu betrachten. Auf der anderen Seite kann man Verhalten unter dem Begriff der Fähigkeiten und Kompetenzen betrachten. Einer der Ausgangspunkte für das Verständnis von Verhalten war der Reflex-Begriff im 18. Jahrhundert und die Reflexphysiologie im 19. Jahrhundert. Eine terminologische Unterscheidung zwischen Verhalten und Handeln etabliert sich erst spät und hat sich bis in die Gegenwart nicht durchgesetzt. Sie scheint auch erst im Bereich der Anthropologie Sinn zu machen und daher im Bereich der Ethologie nicht angebracht. Der am weitesten verbreitete Terminus in diesem Zusammenhang ist im Englischen seit den 1720 er Jahren verbreitete Ausdruck Instinkthandlung. 31 Die Reizbarkeit bzw. Erregbarkeit ist an die muskuläre Struktur des Organismus gebunden. Reize gelten als spezifisch biologische Phänomene. Der Reizbegriff dient im 18. und 19. Jahrhundert dazu, schwer operationalisierbare Begriffe wie den der Seele aus dem biologischen Begriffsapparat herauszuhalten. Festgehalten wird mit dem Reizbegriff aber an einem Modell der Verhaltensauslösung, das nicht einfach eine mechanische Wirkung postuliert, sondern dem einzelnen Organismus eine entscheidende Rolle im Prozess der Initiation eines Verhaltens zuschreibt. So werden ein angeborener Auslösemechanismus wie etwa ein Suchbild postuliert, aber auch das Modell des Schlüsselreizes, der eine Wahrnehmung provoziert. Wahrnehmung und Gedächtnisleistung erzeugen die Basis für ›UmgehenKönnen‹ und beim Menschen für Umgangswissen. Zwischen dem ›Umgehen-Können‹ und dem Umgangswissen konstituiert sich ein Verstehen und ermöglicht ein Handeln-Können als Weiterentwicklung eines kognitiven und sensomotorischen sich Verhalten-Könnens vor dem Hintergrund leiblichen menschlichen Selbstbewusstseins und Sprachbewusstseins. Durch das Handeln-Können kommen ethische wie epistemische Normativität ins Spiel. Verstehen ist letztendlich das Resultat einer Kognitionshandlung, indem es über Beobachtbares hinausgeht, keine reine Beobachtung. Initiator des Neurodarwinismus war Gerald Edelmann. Er sucht einen Zugang zum Neurodarwinismus durch eine Verbindung von Evolutionstheorie und Konzeptualisierung der Embryonalentwicklung einerseits, von kleinkindlicher Lernentwicklung zu einer Theo30 31

Ebd., S. 657. Ebd., S. 676.

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Bernhard Irrgang

rie mentaler Phänomene, welche die erste, die zweite und die dritte Person-Perspektive zu integrieren versucht. Edelmanns und Tononis Antworten basieren auf der Annahme, dass Bewusstsein sich aus der materiellen Ordnung gewisser Organismen ergibt und betonen ausdrücklich, dass das Gehirn allein zur Entstehung von Bewusstsein nicht ausreicht, denn sie sind davon überzeugt, dass die höhere Hirnfunktionen Interaktionen sowohl mit der Welt als auch mit anderen Menschen unabdingbar voraussetzen. 32 Dabei ist von Bedeutung, wie subjektive Erlebnisqualitäten entstehen. Keine noch so umfangreiche Beschreibung, so ausführlich sie auch ausfallen mag, wird je imstande sein, subjektive Erfahrung vollständig darzustellen. Der neurale Darwinismus versucht die Entstehung von Geist zu erklären. Der Neurodarwinismus setzt eine Theorie voraus, die Evolution, Entwicklung, Struktur und Funktion des Gehirns auf der Basis selektiver Prinzipien zu erklären sucht. Die Theorie der Selektion neuronaler Gruppen besteht aus drei Hauptaussagen: (1) Entwicklungsselektion: Von einem sehr frühen embryonalen Stadium an wird die weitere Etablierung von Kontakten auf synaptischer Ebene in hohem Maße durch somatische Selektion geleistet. Diese Verästelungen garantieren eine außerordentlich hohe Variabilität im Hinblick auf die möglichen Verknüpfungsmuster bei diesen speziellen Wesen und schaffen sich ein riesiges und vielfältiges Repertoire an neuronalen Schaltkreisen. Die Folge davon ist, dass die Neuronen innerhalb einer Gruppe enger miteinander verknüpft sind als Neuronen aus verschiedenen Gruppen. (2) Erfahrungsselektion: Überlappt wird diese frühe Phase durch einen Prozess der synaptischen Selektion innerhalb des Repertoires einzelner neuronaler Gruppen, die auf Verhaltenserfahrungen zurückzuführen ist und das ganze Leben hindurch stattfindet. (3) Reentry: Zur Korrelation zwischen selektiven Ereignissen innerhalb verschiedener Karten des Gehirns kommt es durch den dynamischen Prozess des Reentry. Reentrante Wechselwirkungen machen es einem Tier mit einem hochvariablen, einzigartigen Nervensystem möglich, auch ohne die Hilfe eines Homunkulus oder eines Computerprogramms eine nicht mit Begriffen belegte Welt in Objekte und Ereignisse unterzuteilen. Dieser Prozess führt zur Synchro-

Gerald Edelmann/Giulio Tononi: Gehirn und Geist. Wie aus Materie Bewusstsein entsteht. Übers. von S. Kuhlmann-Krieg. München 2004 (1. Aufl. 2000), S. 7 f.

32

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nisation der Aktivität neuronaler Gruppen in verschiedenen Hirnkarten und verbindet diese zu Schaltkreisen, die einen zeitlich kohärenten Output entstehen lassen. Das Phänomen des Reentry bildet somit den zentralen Mechanismus zur räumlichen und zeitlichen Koordination verschiedener sensorischer und motorischer Ereignisse. 33 Der Neurodarwinismus versucht, die Selbstorganisation biologisch-neuronaler Entwicklung als Grundlage für Kognitions- und Reaktionsverhalten gegenüber Außeneinflüssen viel radikaler zu denken und konzeptualisieren als es dies das traditionelle Naturalisierungsparadigma erlaubte. Naturalisierung ist so zu verstehen, dass Emergenz zu völlig neuen, qualitativ unterschiedlichen Systemeigenschaften führt bis hin zu dem Punkt, dass biologische Evolution zu menschlicher Praxis mit moralischer Zurechenbarkeit und kultureller Entwicklung führt (kulturalistische Naturalisierung), dass zwischen dem Affen und dem Menschen ein radikaler evolutionärer Sprung stattgefunden hat, letztlich dass biologische Evolution nicht allein auf kumulativem kleinen Fortschreiten beruht, sondern revolutionäre Phase einschließt, die zu massiv nicht prognostizierbaren Ergebnissen führen kann. Diese Theorie neuronaler Gruppenselektion (TNGS) oder eines neuralen Darwinismus besteht aus drei Hauptbestandteilen: (1) der Wahl des Entwicklungsschemas, (2) einer experimentellen Selektion, (3) dem Reentry. Eine der beeindruckendsten Konsequenzen dieses Prozesses der Reentry ist die Entstehung (Emergenz) von weit verbreiteten Interaktionen zwischen verschiedenen Gruppen aktiver Neuronen, die gemäß einer ganzen Reihe von Einteilungskriterien über das ganze Gehirn verteilt sind. Die daraus entstehende räumlich-zeitliche Korrelation von Aktivitätsmustern von weitgehend unabhängigen Neuronengruppen an der Basis als das integrierende Element von Wahrnehmung und sensomotorischen Ereignissen ist die Basis für eine Integration, die die globale Kohärenz genauso wie den vereinigenden Charakter dieser Prozesse ausmacht. Die Integration resultiert aus den Eigentümlichkeiten der Konnektivität zwischen Neuronen und ihren dynamischen Interaktionen. Neuronen im Gehirn sind voneinander getrennt nur durch eine relativ schmale Anzahl von synaptischen Schritten. Darüber hinaus verknüpfen Pfade und Querverbindungen funktional getrennte neuronale Gruppen oft

33

Ebd., S. 115–117.

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wechselseitig. Diese Reziprozität bietet den zweiten Gesichtspunkt für die Eigenschaft des Reentry. 34

4.

Schluss: Verstehen des Verstehens – einige methodologische Anregungen

Ohne eine Art des Erlebens, welche Verhalten erst ermöglicht, ist die Selbstorganisation mobiler Lebensformen nicht verstehbar oder denkbar, weder kausal noch konditional. Erlebbarkeit aber setzt gemäß unseren Kenntnissen ein Gehirn voraus. Eine räuberische Lebensform und damit ökologische Schemata im Sinne des RäuberBeute-Verhältnisses ist ohne Gehirn nicht möglich. Die kambrische Explosion setzte genau diesen Evolutionssprung voraus. Er ermöglichte Gehirne, die Sinneszellen zu integrieren vermochten und Speicherungskapazitäten schafften, welche letztendlich kognitives Verhalten und damit den Ansatzpunkt für Verstehensprozesse schufen. Während die Evolutionäre Erkenntnistheorie die Evolution kognitiven Verhalten von Menschen aus zu rekonstruieren versuchte, geht der Neurodarwinismus den umgekehrten Weg. Mit der gebotenen skeptischen Vorsicht beide Wege zu integrieren, könnte die Aufgabe und den Ausgangspunkt einer kritischen Hermeneutik formulieren. Die Frage nach den Verstehensmöglichkeiten von Verstehen hat offenbar weitreichendere Auswirkungen. Der Beobachterstandpunkt kann als mathematischer Punkt interpretiert werden, wie derzeit in der naturwissenschaftlichen, insbesondere der physikalischen Modellbildung. Naturwissenschaftliche Modellbildung setzt philosophische Epistemologie voraus und umgekehrt. Ihre Methodik ist selbstverständlich unterschiedlich und setzt andere Ebenen des Verstehens voraus als die jeweils andere Disziplin. Wir können Verstehensprozesse aus kognitiven und verbalsprachlichen Verhaltensweisen heraus erschließen, wenn wir die erste und zweite Person-Perspektive aus der wissenschaftlichen Modellbildung nicht völlig ausschließen. Dies wird von der Sache des Geistigen und seiner Realität gefordert, denn der Geist ist als Geist nicht beobachtbar, sondern nur die beobachtbare Realität als Auswirkung geistiger Prozesse, also der

Gerald Edelmann: Building a picture of the brain. In: Ders./Jean-Pierre Changeux (Hgg.): The brain. New Brunswik/London 2001, S. 37–69, hier: S. 46–49.

34

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menschliche Leib in seinem Verhaltensrepertoire wie seiner Handlungskompetenz. Mit den herkömmlichen Methoden der Neurowissenschaften lässt sich noch nicht einmal das kognitive Verhalten von Tieren verstehen. Dies ist und bleibt schwierig, da wir hier nicht über eine Sichtweise aus der ersten und zweiten Person-Perspektive verfügen.

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»Ein eigentümlicher Apparat« oder »Wenn es der Wahrheitsfindung dient!« Polygraph, Affective Computing und Mensch-Maschine-Verstehen Felix Hüttemann

»Das Mißverstehen verstellte mir die Welt. Jedoch auf gute Art […].« (Walter Benjamin: Die Mummerehlen)

»›Es ist ein eigentümlicher Apparat‹«, sagte der Offizier zu dem Forschungsreisenden und überblickte mit einem gewissermaßen bewundernden Blick den ihm doch wohlbekannten Apparat.« 1 Nicht nur in Franz Kafkas Erzählung In der Strafkolonie sehen wir uns mit eigentümlichen oder auch herausfordernden ›Apparaten‹ konfrontiert. Wenn man so will, steht hinter unserer heutigen Mensch-Maschine-Interaktion vermehrt die Frage nach dem Verstehen. Nur von welchem Begriff von Verstehen kann man im Zusammenhang eines ubiquitären Netzwerks des Menschen mit der Technik sprechen? Ich möchte mich dem Problembereich des maschinischen Verstehens mittels zweier Diskursfelder annähern. Im Grunde soll an dieser Stelle eine medienphilosophische Auseinandersetzung mit dem traditionsreichen Feld des Verstehens einmal vice versa vom Objekt ausgehend angegangen werden. Beginnen möchte ich damit ein – so soll es an dieser Stelle zuerst mal genannt werden – produktives Missverstehen anhand des polygraphischen Vernehmungsverfahrens – oder umgangssprachlich formuliert – des Lügendetektortests zu umreißen. In einem zweiten Schritt soll sich dem momentan sehr virulenten Thema des Affective Computings als einer Form des Verstehens der Maschine jenseits des bloßen mathematischen Feldes angenähert werden. Was passiert, wenn der Computer unsere ›Gefühle lesen‹ 2 kann? Wird damit für Franz Kafka: In der Strafkolonie. In: Frank Kafka: Die Erzählungen. Frankfurt a. M. 2005, S. 164–198, hier: S. 164. 2 Ob das dort Gemessene wirklich unsere ›Gefühle‹ sind und nicht bloß Biodaten, 1

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»Ein eigentümlicher Apparat« oder »Wenn es der Wahrheitsfindung dient!«

die Maschine eine Form des Verstehens (vielleicht sogar) des Menschen erreicht? Vielleicht indem es unsere Affekte, insofern biophysiologische Daten unsere Affekte adäquat darstellen, misst, sammelt und verarbeitet? Wird damit Verstehen zu einer Form der Überwachung und Kontrolle? Ich werde zuerst die Problematik des produktiven Missverstehens am Beispiel des Polygraphen erläutern, um daraufhin die Brücke zu schlagen zu einem kontrollgesellschaftlich viel relevanteren und gleichzeitig ubiquitäreren Dispositiv, dem Affective Computing.

1.

Der Polygraph oder einschreibendes Missverstehen

Ein Polygraph 3 oder Viel- bzw. Mehrkanalschreiber hat nicht nur im Wortsinne, sondern auch im eigentlichen Aufbau und Verfahren mit – wie auch immer gearteten – Codierungen von Wahrheit und Lüge so viel zu tun wie die Schönheit mit der »unvermutete[n] Begegnung einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf dem Seziertisch!« 4 Der maschinische Aufbau ist eine Ansammlung von Messinstrumenten, die nichts Anderes tun als »mehrere physiopsychologische Variablen« 5 aufzuzeichnen. Gemessen werden: »Atemtätigkeit, Blutdruck, elektrische Leitfähigkeit der Haut und vasomotorische Aktivität (gemessen als Blutfülle in den Kapillaren der Haut über eine Fingerkuppe).« 6 Hierbei handelt es sich zuerst einmal um einen analogen oder mittlerweile auch digitalen Medienverbund, der verschiedene Biodaten in Form eines oder mehrerer Graphen inskribiert.

dazu komme ich unten. Vgl. zum sog. Gefühle lesen: Paul Ekman: Gefühle lesen. Wie Sie Emotionen erkennen und richtig interpretieren. Heidelberg. 2011. 2. Aufl. 3 In Deutschland existiert ein juristisches Verwertungsverbot für polygraphische Untersuchungen. In Israel oder auch in vielen Bundestaaten der USA jedoch hat sich diese Methode weitestgehend durchgesetzt, sowohl in juristischen wie auch in Bereichen der ›Sicherheit‹ sowie in Teilen der ›Mitarbeiterbefragung‹ in bestimmten Berufszweigen. 4 Vgl. Lautréamont (eig. Isidore Lucien Ducasse): Die Gesänge des Maldoror. Reinbek. 2010 2. Aufl., S. 223. 5 Vgl. Holm Putzke, Jörg Scheinfeld, Gisela Klein, Udo Undeutsch: Polygraphische Untersuchungen im Strafprozess. Neues zur faktischen Validität und normativen Zulässigkeit des Beschuldigten eingeführten Sachverständigenbeweises. In: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft, 121, Heft 3, 2009, S. 604–644, hier: S. 611. 6 Vgl. ebd.

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Abb. 1: Der Polygraph in Darstellung des U.S. Patentamts 7 By U.S. Patent 4,333,084 [Public domain].

2.

Kleine Geschichte des ›Lügendetektors‹

Die Idee, Wahrheit und Lüge durch die psychophysiologischen Reaktionen des Körpers abzulesen geht unter anderem auf Carl-Gustav Jungs und auch Hugo Münsterbergs Forschungen zurück. Einer der ersten ›erfolgreichen‹ Tests des Polygraphen als eines funktionierenden Lügendetektors wurde in den USA im frühen zwanzigsten Jahrhundert durch John Larson, einem »Arzt in Polzeiuniform«, 8 in den 1920ern an der Universität Berkley unternommen. Im Frauenschlafsaal der Unversität mehrten sich die Diebstähle, woraufhin der polygraphischen Befragung durch Larson seitens der Universitätsleitung zugestimmt wurde. »Er begann seine Kontrolle mit Margaret Taylor, der ein Diamantring abhanden gekommen war. Dann befragte er Helen Graham, deren Blutdruck bedrohlich anstieg, bis sie von ihrem Stuhl aufsprang und das Papier des Lügendetektors zerfetzte. DaraufVgl. Public domian unter: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Polygraaf. PNG (Aufruf 09. 01. 2016). 8 Vgl. Ken Adler: »Der heisse Stuhl«, NZZ-Folio, the monthly magazine of the daily newspaper Neue Zürcher Zeitung, Zürich (August 2006): S. 26–31. Unter: http:// kenalder.com/liedetectors/Alder.DerHeisseStuhl.NZZ.8.06–1.pdf, S. 1–6, hier: S. 3. (Aufruf 10. 01. 16) 7

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hin wurde Graham von der Polizei beschattet und des Diebstahls beschuldigt. Schliesslich legte sie ein Geständnis ab.« 9 Ein weiterer Popularistor der Lügendetektion war Larsons Kollege Leonarde Keeler, der in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren in der ›Gangsterstadt‹ Chigaco mit Hilfe des Polygraphen gegen die grassierende Korruption vorzugehen versuchte.

Abb. 2: Leonarde Keeler testet seinen ›Lie-detector‹ an einem Zeugen. USA 1937. 10

Woher kommt nun im Weiteren das Verständnis dieses mehrkanalschreibenden Apparates als eines Lügendetektors? Im Allgemeinen hängt es mit der Interaktion des Menschen mit der Maschine zusammen und, wie auch nicht zu verschweigen, mit der Frage nach der Anerkennung der Maschine durch den Menschen: »No novel technology can succeed unless someone believes the claims made on its behalf. But, in the case of the lie detector, something additional was Vgl. Ebd. Im Nachhinein stellte sich im Übrigen heraus, dass Helen Graham unschuldig war und ›lediglich‹ unter Wahnvorstellungen litt. Sie zog das Geständnis später zurück. 10 Public domain unter: Agence de presse Meurisseþ [Public domain] via Wikimedia commons: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/8/8e/Leonarde_Keeler _1937.jpg (Aufruf 07. 01. 2016.). 9

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required. There, the claims made on behalf of the technology, were themselves integral to the operation of the technology. As several of its proponents acknowledged, the lie detector would not ›work‹ (that is, determine the fates of its human subjects) unless its subjects believed it ›worked‹ (that is, distinguished true utterances from false ones). […] The machinery for catching liars, then, is an illuminating example of technology’s dependence on the social imaginary. As such, it may serve as an ideal probe into the American popular imagination.« 11

Die Akzeptanz des Polygraphen bzw. dessen Implementierung in die kontrollgesellschaftlichen Befragungen wurde – die Nutzung des Polygraphen, in den Staaten war von Anfang an auch auf den privatwirtschaftlichen Sektor ausgedehnt – durch massive Evokation seiner Wirksamkeit erreicht. Es wurde ein dezidiert-maschinischer Wahrheits- und Verstehens-Diskurs geführt, der zur Folge hat, dass das polygraphische Verfahren trotz massiver und berechtigter Kritik bis heute durchgeführt wird: »Ende der 1990er Jahre wurden alljährlich fast zwei Millionen Amerikaner im Rahmen von polizeilichen Ermittlungen, firmeninterner Überwachung oder nationalen Sicherheitsüberprüfungen an einen Lügendetektor angeschlossen.« 12

Im deutschsprachigem Raum sieht das freilich ganz anders aus, und ich werde das Für und Wider dieser Befragungen nicht weiter diskutieren, sondern nur andeuten, dass dieser Diskurs auch in Deutschland geführt wurde, jedoch mit anderen Ergebnissen, insofern, als dass der Bundesgerichtshof am 16. Februar 1954 den Einsatz von Polygraphen bei Ermittlungen und im Strafverfahren, selbst bei Zustimmen des Delinquenten, verboten hat. 13 In einem deutschsprachigen psychologischen Handbuch der 1970er Jahre findet man trotz aller etwaigen Verwertungsverbote folgenden Eintrag, der alledem zum Trotz auf ein vermeintliches Wahrheitsversprechen des Polygraphen verweist:

Vgl. Ken Adler: A Social History of Untruth: Lie Detection and Trust in TwentiethCentury America. In: Representations 80, Fall 2002. The regents of the university of california. Berkely 2002, S. 1–33, hier: S. 2. 12 Vgl. Ken Adler: »Der heisse Stuhl«, S. 1. 13 Vgl. http://archiv.jura.uni-saarland.de/Entscheidungen/pressem98/BGH/strafrecht/ luegende.html (Aufruf: 23. 01. 16). Das Urteil wurde in einer erneuten Untersuchung am 17. 12. 1998 nochmals bestätigt. 11

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»Lügendetektor: Verwertung der Aenderung des elektrischen Haut-widerstandes bei Emotion (›psychogalvanische Reaktion‹Veraguths) dank Schwitzen, des vegetativen Atmungs- und Herzrhythmus usw. bei Erwähnung krimineller Tatbestände, die nur der Täter kennen kann.« 14

Im Weiteren geht es jetzt auf der philosophischen Ebene auf Spurensuche nach dem mensch-maschinischen Verstehen. Inwiefern wird eine Fähigkeit der Analyse oder eben auch des Verstehens durch die Maschine suggeriert? Wodurch ist der Mensch bereit, ein ›Verstehen‹ der Maschine vorauszusetzen? Es liegt vor allem am Verfahren der Befragung selbst, was diesen Eindruck erwecken kann bzw. was zur Akzeptanz dieses ›Verstehens‹ beiträgt. Zu Beginn einer solchen polygraphisch-gestützten Befragung kann beim Verfahren des so genannten Kontrollwissens- oder Vergleichsfragentests 15 nach der Kopplung der Detektionsmedien mit der Testperson eine Art Probelauf durchgeführt werden. Es ist medial betrachtet fast schon eine Vorführung oder cum grano salis die Präsentation eines kleinen Zaubertricks: »Dazu wird der Proband gebeten, eine der Zahlen von 22 bis 26 auszuwählen und diese Zahl, ohne dass der Untersucher die Möglichkeit der Kenntnisnahme hat, zu notieren. […] Zuerst werden die Zahlen 22 bis 26 der Reihe nach abgefragt, wobei der Proband immer mit ›Nein‹ antworten soll […]. Beim Zweiten Durchgang werden die Zahlen in unterschiedlicher Reihe abgefragt, wobei der Proband wiederum stets mit ›Nein‹ antworten soll. Im dritten Durchgang soll der Proband die Fragen wahrheitsgemäß beantworten. […] In der Regel kennt der Untersucher die notierte Zahl nämlich bereits nach den ersten beiden Durchgängen.« 16

Das weitere Verfahren des Kontrollwissenstests ist gemeinhin aus Film und TV bekannt. 17 Ein typischer Ablauf eines solchen Prozederes sähe in etwa so aus: Hans M. Sutermeister: Grundbegriffe der Psychologie von heute. Basel 1976, S. 410. Gemeinfrei unter: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Grundbegriffe_ der_Psychologie_von_heute.pdf?uselang=de (Aufruf: 11. 12. 15.) 15 Ein anderer Test ist der so genannte Tatwissenstest. Dieser wird in den meisten Fällen nicht mehr verwendet und in der Regel, wie vor allem in den USA, durch den Kontrollfragentest ersetzt. Denn besteht bereits durch Medien oder Hörensagen nähere Kenntnis des Befragten über die Tat, kann der Test nicht mehr als aussagekräftig gewertet werden, da in diesem Test genau genommen Wissen abgeprüft werden soll, das nur der Täter und hoffentlich auch die jeweiligen Ermittlungsbehörden haben. 16 Vgl. Putzke u. a.: Polygraphische Untersuchungen im Strafprozess, S. 614. 17 Beispielsweise zu sehen in: Hannibal Rising (USA 2007), Meet The Parents (USA 2000, dt. Titel: Meine Braut ihr Vater und ich) mit einem unschlagbar lakonischen 14

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1. 2.

3. 4. 5. 6. 7.

»Ist Ihr Name … ? Bezüglich … (Angabe der aufzuklärenden Begebenheit) – haben Sie die Absicht, alle diesbezüglichen Fragen wahrheitsgemäß zu beantworten? Glauben Sie mir, daß ich Ihnen nur Fragen stellen werde, die wir zuvor vereinbart haben? Haben Sie vor Ihrem 19. Lebensjahr jemals irgendetwas gestohlen? Haben Sie den btr. Ring genommen? Haben Sie während der Schulzeit irgendeinen Gegenstand von Wert entwendet? Haben Sie den btr. Ring aus der Schublade entwendet? […]« 18

Der Proband beantwortet die Fragen mit Ja oder Nein, und die jeweiligen Ausschläge des Polygraphen werden entweder einem digitalen oder analogen Trägermedium eingeschrieben. Die Gretchenfrage, die hierbei im Raum steht, ist natürlich diejenige, ob man dem psychophysiologischen Korrelationismus, dem diese Untersuchung zu Grunde liegt, zu folgen gewillt ist. Bezeichnenderweise ist die Faszination für den Polygraphen und sein Wahrheitsversprechen ungebrochen vor allem in den Vereinigten Staaten, in dem die Maschine sogar mit der American Polygraph Association (APA) eine eigene Lobby besitzt, die sich auch nicht zu schade zu sein scheint, mit Artikeln wie diesem für den Polygraphen und seiner auszubauenden Verwendung in ihrer Internetpräsenz (Stand Januar 2016) zu werben: »63 sex offenders back in jail after lie detector tests.« 19 Nebenbei: Die dementsprechende Gegenorganisation Antipolygraph.org gibt eine dezidierte Anleitung zur Manipulation einer polygraphischen Befragung. Ebenso werden Handbücher zu polygraphischen Verhörstrategien verschiedener Strafvermittlungsbehörden zum Download angeboten. 20 Robert de Niro als Ex-CIA Agent, der seinen Schwiegersohn in spe einem solchen Test unterzieht. Oder in der vom TV-Sender Showtime produzierten Serie Homeland (USA seit 2011), in der die CIA und die Frage des Antiterrorismus eine zentrale Rolle einnimmt. 18 Vgl. Udo Undeutsch: Die psychophysiologische Täterschaftsermittlung. In: Friedrich Lösel (Hg.): Kriminalpsychologie. Weinheim 1983, S. 191–206. Zitiert nach: Max Steller: Psychophysiologische Täterschaftsbeurteilung. (»Lügendetektion«, »Polygraphie«). In: Ders./Renate Volbert (Hgg.): Psychologie im Strafverfahren. Ein Handbuch. Göttingen 1997, S. 89–104, hier: S. 95. 19 Vgl. http://www.telegraph.co.uk/news/uknews/crime/11818068/63-sex-offendersback-in-jail-after-lie-detector-tests.html, (Aufruf 10. 01. 16). 20 Für den Fall der Fälle, Download der Anleitung unter: https://antipolygraph.org/ pubs.shtml (Aufruf 10. 01. 16).

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Man könnte selbstredend auch aus phänomenologischer Perspektive vom Leib-Körper-Problem ausgehend das Verfahren noch tiefergehender problematisieren. Beide kritischen Perspektiven, die Kritik am Korrelationismus und der Blickstand der Phänomenologie, werden hier zu Gunsten einer Frage nach dem maschinischen Verstehen nur peripher angedeutet. Was ich hier deutlich machen will, ist vor allem, dass dieser Medienverbund Polygraph als Medium der Befragung trotz und wider aller Einwände auf eine ›merk-würdige‹ Weise funktioniert! Aber anders als in der oben beschriebenen bzw. intendierten Art. Dies führt zurück zur Ausgangsbeobachtung, die mit Kafkas In der Strafkolonie eingeleitet wurde. Dieser eigentümliche Apparat Poly-graph kann, wenn man so will, über einen Diskurs des Verstehens seine kontrollgesellschaftliche Relevanz aufzeigen. Der Verstehens-Prozess des Menschen durch die Maschine läuft letztlich über ein produktives Missverstehen, was nichts Anderes zu sein scheint als eine implizite Humanisierung der Maschine. Dies führt den gesuchten Verstehens-Prozess auf eine grundsätzlichere Ebene der Relation von Mensch und technischem Objekt. »In allen Urteilen, die über die Maschine gefällt werden, liegt eine implizite Humanisierung der Maschine, deren tiefe Quelle dieser Rollenwechsel ist; der Mensch hatte so sehr gelernt, technisches Wesen zu sein, dass er glaubt, das konkret gewordene technische Wesen schicke sich an, missbräuchlich die Rolle des Menschen zu spielen.« 21

Führt man sich nochmals das geschilderte Einführungsprozedere des Kontrollfragentests vor Augen erscheint letztlich dem Apparat nicht nur eine Gedächtnisspur, wie noch zu zeigen, sondern auch eine Mikrophysik der Macht, 22 eingeschrieben zu sein. Haben wir es damit nicht auch mit einer Mikrophysik des human-maschinischen Verstehens zu tun? Aus Macht resultiert – dies ist durch Foucaults Analysen bewusst geworden – Wissen; das heißt, »daß die Macht Wissen hervorbringt (und nicht bloß fördert, anwendet, ausnutzt); daß Macht und Wissen einander unmittelbar einschließen; daß es keine Machtbeziehungen gibt, ohne daß sich ein entsprechendes Wissensfeld konstituiert […].« 23

Gilbert Simondon: Die Existenzweise technischer Objekte. Zürich 2012, S. 75. Vgl. Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a. M. 1994, S. 38 und passim. 23 Vgl. Ebd., S. 39. 21 22

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Die Präsentation des Polygraphen während der Befragung ist in gewisser Hinsicht ein Spektakel. Man könnte es mit Guy Debord »als konkrete Verkehrung des Lebens, die eigenständige Bewegung des Unlebendigen«, 24 verstehen. Der einführend angedeutete Zaubertrick des Zahlenerkennens, geht im Übrigen in abgeänderter Form schon auf Leonarde Keeler zurück, der im wahrsten Sinne des Wortes mit Kartentricks die maschinische Befragung inszenierte: »Eine seiner beliebtesten Methoden war der ›Kartentrick‹, bei dem er die Probanden erst eine bestimmte Spielkarte auswählen und dann bei jeder aufgedeckten Karte bestreiten liess […]. Auf Grundlage der Lügendetektoraufzeichnung identifizierte Keeler dann die richtige Karte. […] [I]ndem es die Probanden davon überzeugte, dass Keeler Lügen aufdecken konnte, verstärkte es ihre Furcht, bei einer Lüge ertappt zu werden, und erhöhte damit wiederum die Wahrscheinlichkeit, dass sie aufgrund ihrer Aufregung auch tatsächlich ertappt wurden. In Wirklichkeit beruhte der Kartentrick jedoch auf einem Betrug an den Probanden: Keeler benötigte den Lügendetektor gar nicht, er hatte die Karten gezinkt!« 25

Im Grunde steht damit die Präsentation dieses Medienverbunds – verstanden als eine Form von Medienzauber – in ähnlicher Funktion wie dem Delinquenten in der mittelalterlich-inquisitorischen Befragung die (Folter-) Instrumente zu zeigen: »[D]ie Wahrheit [wird] insgesamt mittels zweier Methoden ermittelt […]: durch die von der Gerichtsautorität geheim geführte Untersuchung und durch den vom Angeklagten selbst formell vollzogenen Akt. Der Körper des Angeklagten, ein sprechender und wenn nötig leidender Körper gewährleistet die Verzahnung dieser beiden Mechanismen. […] Von da aus läßt sich das Funktionieren der Folter als Wahrheitsmarter bestimmen.« 26

Der Körper wird sowohl im ersten Fall – der guten alten mittelalterlichen Folter –, wie auch im anderen Fall des Polygraphen, ebenso im noch anzusprechenden Affective Computing zum Wahrheits-Interface. Der Körper ist die Schnittstelle, an der zwischen Maschine und Mensch das Verstehen inauguriert wird. Wenngleich die Rolle des Schmerzes als Kommunikationsverstärker immerhin im Wechsel der Souveränität, kurz gesprochen, von der ›Macht, die sagt‹ zur sublimeren ›Macht, die fragt‹ in den Hintergrund gerückt ist. Der programmatische Satz Ernst Jüngers scheint im Zusammenhang mit 24 25 26

Vgl. Guy Debord: Die Gesellschaft des Spektakels. Berlin 1996, S. 13. Vgl. Adler, »Der heisse Stuhl«, S. 4. Vgl. Ebd., S. 54.

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dem Mensch-Maschine-Interface des Verstehens, zugegeben etwas zynisch betrachtet, nicht mehr zur Wahrheitsfindung beizutragen: »Der Schmerz gehört zu jenen Schlüsseln, mit denen man nicht nur das Innerste, sondern zugleich die Welt erschließt.« 27 Denn Schmerz ist als Leitmedium der körperlichen Kommunikation in diesem Sinne obsolet. Die verwertbaren Biodaten (Schmerzen sind natürlich weit mehr als das), die im Weiteren zählen, sind ganz andere und erreichen bei weitem nicht mehr jene ontologische Tragweite, die etwa Jünger dem Schmerz zugewiesen hatte. Resultiert aus Wissen gleichzeitig ein Verstehen? Und wäre es zu unorthodox zu fragen, ob damit die Maschine Wissen, also Verständnis, vom Menschen hat? Der Technik ist immer schon qua ihrer Existenz Wissen eingeschrieben. Der Medienphilosoph Bernard Stiegler macht dies in Rekurs auf den Anthropologen André LeroiGourhan 28 und den Psychologen und Mechanologen Gilbert Simondon deutlich. Stiegler behauptet in einer dezidierten Gegenposition zu Platon die primordiale technische Verfasstheit des Gedächtnisses. Der Mensch als Wesen der Exteriorisierung 29 entäußert sein Wissen in die (technischen) Objekte, und somit erweist sich das Gedächtnis bzw. das Wissen als immer schon hypomnesisch. »Das menschliche Gedächtnis ist untrennbar mit Technik verbunden, insofern es epiphylogenetisch ist. Ich nenne es so, weil das dritte Gedächtnis [das genetische als ein erstes und das neuronale als ein zweites Gedächtnis (F. H.)] das Produkt individueller Erfahrung, die man epigenetisch nennt, und zugleich ein phylogenetischer Träger ist. Es schafft Akkumulation des menschlichen Wissens ein wahres kulturelles, intergenerationelles Phylum […].« 30

Ernst Jünger: Über den Schmerz. In: Ernst Jünger: Sämtliche Werke. Zweite Abteilung. Essays I. Bd. 7. Betrachtungen zur Zeit. Stuttgart 2002. 2. Aufl., S. 145–191, hier: S. 145. 28 André Leroi-Gourhan: Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst. Frankfurt a. M. 1988. 29 Stieglers Philosophie der Exteriorisierung habe ich an anderer Stelle ausführlicher dargestellt und in den Kontext einer Objekt-orientierten Philosophie des Posthumanismus gestellt. Vgl. Felix Hüttemann: Der Horror der Ersetzbarkeit. Die Unheimlichkeit des Medialen und die falsche Angst vor den Objekten. In: Felix Hüttemann, Kevin Liggieri (Hgg.): Die Grenze Mensch. Diskurse des Transhumanismus. Bielefeld (im Erscheinen). 30 Vgl. Bernard Stiegler: Denken bis an die Grenzen der Maschine. Zürich/Berlin 2009, S. 53. 27

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Oder nochmals auf den Punkt gebracht: »Es bewirkt [das dritte Gedächtnis (F. H.)], dass ein beliebiges Objekt, sei es handwerklich oder industriell hergestellt, die Bedingung seiner Herstellung speichert, deren Exteriorisierung es selbst ist. Das Objekt ist eine Gedächtnisspur und darin immer hypomnesisch.« 31

Bei Leroi-Gourhan findet ebenso eine dreistufige Unterscheidung von Gedächtnistypen statt, die im Speziellen als maschinisches Gedächtnis apostrophierte Variante ist hierbei für die Betrachtung unseres Polygraphen von besonderem Interesse: »Das Gedächtnis von Maschinen entwickelt sich aufgrund von Erfahrung im Kanal eines vorgegebenen Programms, eines von der menschlichen Sprache abgezogenen Codes, den der Mensch in der Maschine eingibt. […] In funktioneller Perspektive lassen sich drei Formen des Gedächtnisses als verschieden, aber vergleichbar betrachten. Das ererbte Gehirn des Menschen existiert bereits vorgängig in der ethnischen Gruppe […]. Aber das Tier lässt seine Erfahrung auf einer begrenzten und im voraus bestimmten Klaviatur spielen, während der Mensch über eine breite Klaviatur verfügt und von der Gesellschaft Programmfolgen erhält, die er aufnimmt und weiterspinnt. So gesehen nimmt das Maschinengedächtnis eine Zwischenposition ein, denn das Elektronengehirn besitzt nur eine enge Klaviatur, erhält aber eine Ausbildung in Gestalt eingegebener Programme.« 32

Diese materiell-technische Gedächtnisspur zum einen, so wie die angedeutete implizite Humanisierung der Maschine in der MenschMaschinen Interaktion zum anderen, fördern ein kontrollgesellschaftlich produktives Missverstehen, insofern der Befragte, der als Kopplungsstelle für den Polygraphen fungierende humane Faktor, in ein Spektakel als »die Behauptung des Scheins und die Behauptung jedes menschlichen [und nicht-menschlichen (F. H.)], d. h. gesellschaftlichen Lebens als eines bloßen Scheins« 33 eingebunden wird. In ihrer Suggestion eines maschinischen Verstehens gingen die von Keeler angeleiteten Polizisten in einigen Fällen bizarrer Weise soweit, »dass die Polizei sogar mit einer leeren Schachtel anstelle eines Lügendetektors Geständnisse erwirkte.« 34 Die Maschine erscheint hier – wer hätte es gedacht – mehr als nur im metaphorischen Sinne als Black-Box. Die Suggestivkraft eines apostrophierten Verstehens der 31 32 33 34

Bernard Stiegler: Hypermaterialität und Psychomacht. Zürich 2010, S. 46. Leroi-Gourhan: Hand und Wort, S. 322. Debord: Die Gesellschaft des Spektakels, S. 16. Adler: »Der heisse Stuhl«, S. 5.

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Maschine spielt gerade im doppelten Wortsinne damit, ein Medium zu sein. »Medien verkörpern vielmehr in sich ein grundlegendes Paradox: Medien und mediale Vermittlung sind jene Momente, in denen mit dem kommuniziert oder Kontakt aufgenommen wird, was per definitionem absolut unzugänglich ist.« 35

3.

Affective Computing oder: Von kleinen Schwestern

Nachdem ich mich einem Verstehens-Spektakel der Maschine als eines produktiven Missverstehens angenähert habe, soll jetzt zu einem virulenteren und weitreichenderen physiologischen Verstehen der Maschine übergegangen werden. Der Polygraph suggerierte lediglich ein Verstehen bzw. die Unterscheidung von Wahrheit und Lüge. Im Fall des Affective Computings allerdings ist nicht unberechtigt von einem affective turn in den Wissenschaften gesprochen worden. 36 Die MIT-Professorin Rosalind Picard prognostizierte bereits 1995, dass wir auf eine Form von perzeptiver Computerisierung zusteuern. Sie bezeichnete diesen Zusammenhang als Affective Computing. 37 »It is my hope and expectation that research in affective computing, by using computers to recognize and synthesize emotions, can assist scientists in getting closer to the answers […].« 38 Bevor die Betrachtung tiefer in das Feld des Affective Computing einsteigt, muss aufgezeigt werden, dass in diesem Diskurs die Begriffe Affekt und Emotion, teilweise auch Gefühl, im Großteil synonym gebraucht werden. Das ist sicherlich, gerade aus philosophischer Perspektive, stark zu problematisieren, es werden jedoch um den Sachverhalt der affektiven Computerisierung aufzuzeigen, beide Begriffe im Wei-

Eugene Thacker: Vermittlung und Antivermittlung. In: Erich Hörl (Hg.): Die technologische Bedingung. Beiträge zur Beschreibung der technischen Welt. Berlin. 2011, S. 306–332, hier: S. 308. 36 Anna Tuschling: Gesichter der Werbung, Gesichter der Wissenschaft. Benettons Beitrag zur Globalisierung des faszialen Affekts. In: GFM (Hg.): ZFM. Zeitschrift für Medienwissenschaft 9. Werbung. Zürich/Berlin 02 (2013), S 31–42, hier: S. 42. Vgl. auch: Marie-Luise Angerer: Vom Begehren nach dem Affekt. Zürich/Berlin 2007. 37 Vgl. Rosalind Picard: Affective Computing. M.I.T. media Laboratory perceptual Computing Section Technical Report No. 321. Revised November 26, 1995, Submitted for publication. Vgl. unter: http://affect.media.mit.edu/pdfs/95.picard.pdf (Aufruf 11. 01. 16). 38 Vgl. ebd. S. 1–26, hier: S. 1. 35

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teren so verwendet, wie er in der Literatur auftaucht, also im weitesten Sinne synonym. Was ist das Ziel, auf welches das Affective Computing zusteuert? Unter anderen etwa dasjenige, das die Medienphilosophin Marie-Luise Angerer andeutet: »In Aussicht gestellt wird die auf die User_innen abgestimmte Generierung eines affektiven Agenten, der über das permanente Registrieren von affektiven Parametern (Mimik, Körperhaltung und –bewegungen, Stimmlage, Bio-daten) und über den Einsatz affektiver Interfaces einer Art Double oder Komplementärpersönlichkeit zur Erfüllung der individuellen Glücksorientierung installiert.« 39

Im vorherigen Abschnitt deutete sich bereits der Körper als ein Wahrheits-Interface an. Im Folgenden rekurriert das Affective Computing, neben den bereits angedeuteten Parametern bzw. Bio-Daten (Blutdruck, Körpertemperatur etc.), ebenso auf Stimmmuster, Körperhaltung und vor allem auf die Muskelbewegungen bzw. Ausdrücke des Gesichtes. In Zentrum steht nicht zuletzt der fasziale Affekt. Für den zu betrachtenden Zusammenhang prägnant bedeutet dies: »Psychologische Forschungen etablieren das menschliche Antlitz als verlässliches, d. h. standardisiertes und künftig auch technisch adaptierbares Interface zwischen Innenleben und Umwelt – mit inzwischen erheblichem Nutzen für die Entwicklung emotional-intelligenter Objekte der Digitaltechnik und als wichtige Grundlage zur Algorithmenbildung im Affective Computing.« 40 Das Gesicht ist Sender im Kommunikationsschema und gleichzeitig die neue Schnittstelle für das Verstehen von Maschine und Mensch. »Im Interface-Design bekommt die Wende hin zum Affekt und weg von der Kognition eine ganz eigene Dynamik.« 41 Algorithmen zur Gesichtsmustererkennung gehen letztlich in der Grundidee auf Forschungen Charles Darwins zurück, wie er sie in seinem Werk The Expressions of the Emotions in Man and Animals von 1872 beschrieb. Eine Standardisierung der menschlichen Expression vollzog in den 1960er Jahren der amerikanische Psychologe Silvan Tomkins mit seiner Affekttheorie, die unter anderem besagt, dass Affekte universell genetisch codiert seiMarie-Luise Angerer, Bernd Bösel: Capture All, Oder: Who’s afraid of a pleasing little sister? In: GFM (Hg.): ZFM. Zeitschrift für Medienwissenschaft. 13 Überwachung und Kontrolle. 02 (2015), S. 48–56, hier: S. 48 f. 40 Tuschling: Gesichter der Werbung, S. 32. 41 Ebd., S. 42. 39

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en. 42 In dessen Fortsetzung machte sein Schüler Paul Ekman mit dem stark kybernetisch beeinflussten Facial Action Coding System (FACS) die Universalität der Affekte für die medial-technische Analyse auswertbar. Für Ekman in Rekurs auf Tomkins gibt es 7 universelle Basisemotionen (Trauer, Zorn, Überraschung, Angst, Ekel, Verachtung und Freude), die mit einer jeweilig einzigartigen und bei jedem Menschen gleich stattfindenden Kombination von Gesichtsmuskeln ihre mimische Expression finden. 43 »Mit der Zentralstellung des Gesichts und damit der Sichtbarkeit von Affekten legte Tomkins den Grundstein für die später von seinem Schüler Paul Ekman entwickelte, nun mediengestützte Forschung zur Erkennung von Gesichtsausdrücken und ihrer Operationalisierung.« 44 Paul Ekman, der heute einem breitem Publikum durch die von ihm und seiner Arbeit inspirierte TV-Serie Lie to me des Senders FOX bekannt wurde, 45 veräußert als Unternehmer sein Know-how (spätestens sehr erfolgreich seit der Bush-Administration) für Antiterror, Gegenspionage und Überwachung, vor allem mit Schulungen von Sicherheitspersonal (beispielsweise an Flughäfen).

Abb. 3: Photographie aus dem FACS (Es zeigt Ekman selbst). 46 Vgl. dazu Silvan Tomkins: Affect Imagery Consciousness: Volume I, The Positive Affects. London 1962, Vol. II 1963, Vol. III 1991., Vol. IV (zusammen mit Bertram P. Karon.) New York 1992. 43 Vgl. Ekman: Gefühle lesen, S. 82. 44 Angerer/Bösel: Capture All, S. 52. 45 Die Kriminal-Serie wurde von 2009 bis 2011 ausgestrahlt. Die zentrale Figur des von Tim Roth verkörperten Dr. Cal Lightman basiert auf Ekman. In der Serie wird wesentlich auf das FACS zurückgegriffen. 46 Entnommen aus: Ekman, Gefühle lesen, S. 287. 42

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Er beschreibt sein FACS folgendermaßen: »Im Jahre 1978 wurde unsere Methode zur Messung von Gesichtsbewegungen, das Facial Action Coding System, kurz FACS veröffentlicht; heute wird es von vielen hundert Wissenschaftlern auf der ganzen Welt zur Messung von Gesichtsbewegungen verwendet, und Computerwissenschaftler sind emsig bemüht, dieses Messverfahren zu automatisieren und zu beschleunigen. Tausende von Fotographien habe ich mit Hilfe des FACS seither analysiert, Zehntausende gefilmter oder auf Video gebannter Gesichtsausdrücke, und jede einzelne Muskelbewegung eines jeden Gesichtsausdrucks vermessen.« 47

Nach dieser kurzen Rückkopplung des Affective Computing an die fazialen Affekte geht es wieder zurück zur Frage eines neuartigen Verstehens der Maschine: Die prominent am MIT entstandene Media Laboratory Perceptual Computing Section hat mit Rosalind Picard und ihrer ehemaligen Doktorandin Rana el Kaliouby im Bereich des Affective Computing zwei erfolgreiche Unternehmerinnen hervorgebracht. Kalioubys Firma Affectiva, welche ursprünglich von Rosalind Picard gegründet wurde, die aber aus unbekannten Gründen inzwischen aus der Firma ausgestiegen ist, erarbeitet Gesichts- und Emotionserkennungssoftware vor allem für die Zielgruppen-gerichtete Werbung. 48 Affectiva selbst gibt sein Unternehmensziel wie folgt an: »We understand the importance of emotions in every aspect of life. It shapes our experiences, our interactions and our decisions. In an increasingly technology-driven world, emotion is either absent or oversimplified. Our mission is to bring emotional intelligence to the digital world. When we digitize emotion it can enrich our technology, for work, play and life.« 49

Ihr Veraufscredo sieht freilich noch etwas anders aus, als bloß das digitale Zeitalter emotional aufzustocken: »What if you could make experiences better by knowing your audience’s emotional reaction?« 50 Affectiva gibt an, am 23. 01. 2016 genau 3,289,274 Gesichter analysiert und das heißt auch gespeichert, zu haben. Gleiche Fakten lassen sich auch für die Konkurrenzfirma Realeyes festhalten. Deren Werbespruch ist im Hinblick einer kontrollgesellschaftlichen Perspektive noch aussagekräftiger: »Know exactly what your audience 47 48 49 50

Ebd., S. 19 f. Ebenso natürlich auch für den Sicherheitssektor. http://www.affectiva.com/company/about-us/ (Aufruf 23. 01. 16). http://www.affectiva.com/ (Aufruf 23. 01. 16).

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is feeling. Measure people’s emotions from any webcam.« 51 Realeyes, wie auch Affectiva beziehen sich mit ihrer Emotionsmessung dezidiert auf Ekmans Forschung. 52 Handelspartner von Realeyes im Hinblick auf ihre Werbestrategien sind so unterschiedliche Firmen wie Heineken, Volkswagen, Audi, LG, und andere. Man erinnert sich vielleicht an die Volkswagenwerbung The Force, mit einem als Darth Vader verkleideten Jungen? 53 Diese äußerst erfolgreiche, d. h. hoch frequentierte und angeklickte, Werbung wurde (wie verschiedene andere Werbungen) mittels der so genannten EmotionAll Software von Realeyes ausgewertet. »Our EmotionAll score, based on engagement, attention, retention and impact metrics, lies at the heart of our investigation. The correlation between high emotional performance and high social performance was very clear – ads with a high EmotionAll score garnered significantly more views and engendered more social actions than lower scoring videos.« 54

Im Zeitalter von Big Data erweist sich das Verstehen von Emotionen durch Technologie als ein immenser Markt mit riesigem Wachstumspotenzial. »Dass Picard selbst mit der Gründung der Firma Affectiva inzwischen erste ausgereifte Anwendungen vermarktet – aktuell das ›Affdex‹ genannte Programm […] stellt zudem die gegenwärtige Verflechtung von Technowissenschaft und Ökonomie unter Beweis.« 55

Die Algorithmen zur Erkennung von Gesichtsmustern, Körpertemperatur, Stimmlage usw. sind wesentliche Bestandteile eines neuen Verstehensprozesses. Wenn ich im Zusammenhang mit dem Polygraphen von einer Form produktiven Missverstehens oder Suggestion gesprochen habe, so tritt dem Betrachter mit dem Affective Computing eine weitaus problematischere Suche nach dem Verstehen von Mensch und Maschine gegenüber. Zurecht muss die Frage gestellt werden, welche Form des Verstehens durch das Sammeln, Verarbeiten und Speichern von Affekten und Biodaten überhaupt er-

https://www.realeyesit.com/ (Aufruf 23. 01. 16). https://www.realeyesit.com/emotions (Aufruf 23. 01. 16). Vgl. dazu auch diesen Zusammenhang bei Affectiva: Angerer/Bösel: Capture All, S. 53. Fußnote 33. 53 Falls nicht Video unter: https://www.realeyesit.com/case-study-automotive (Aufruf 23. 01. 16). 54 https://www.realeyesit.com/case-study-automotive (Aufruf 23. 01. 16). 55 Angerer/Bösel: Capture All, S. 53. 51 52

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reicht werden kann. Den weiteren Beobachtungen soll ein Beispielszenario vorangestellt sein: Sie sitzen in ihrem PKW und sind nach der Arbeit auf dem Weg nach Hause. Sie fahren mit erhöhter Geschwindigkeit. Sie hatten einen vollen ereignisreichen Arbeitstag, der mit einer äußerst ärgerlichen und kränkenden Auseinandersetzung für Sie endete. Sie sind aufgebracht oder gar zornig. 56 Ihr Blutdruck ist angestiegen, Ihre Herzfrequenz ist erhöht, Ihre Hände am Lenkrad werden heiß und kalt. Sie schwitzen. Ihr neues mit perzeptiver Computerisierung ausgestattetes Auto beginnt mit Messungen der Herzfrequenz mittels der eingebauten Sensoren, beispielsweise im Lenkrad. Im Sitz wird vielleicht Ihre Körpertemperatur gemessen. In der digitalen Tachometeranzeige ist eine Kamera zur Aufnahme ihrer Mimik verbaut, die Ihre Gesichtsbewegungen konstant mit der gespeicherten Affektdatenbank abgleicht. Ihr Auto ›versteht‹ ihren Zorn. Natürlich weiß es nichts über die Ursache, nichts darüber, ob er gerechtfertigt ist oder ungerechtfertigt. Aber es reagiert. Es hat eine Form der Empathie. Ihre bevorzugte Musik wird eingeschaltet oder etwa leiser geregelt, möglicherweise wechselt ›das Radio‹ auch zu einem langsameren Stück. Das Licht der verschiedenen Anzeigen wechselt langsam von Rot zu Blau. Die Temperatur im Auto passt sich an. Sie beruhigen sich zusehends. Sie drosseln die Geschwindigkeit. Ihr Auto passt die intelligente Umgebung so an, dass sich Ihr Affekthaushalt wieder auf ein genormtes Niveau einpegelt. Emotionale Normierung, Überwachung und Kontrolle stehen mit diesem affektiven Verstehen als neue Sachverhalte auf einer kontrollgesellschaftlichen Agenda. Was hier nach Zukunftsmusik klingt, ist kein unwahrscheinliches Szenario, sondern Telos und passendes Beispiel dafür, was man, Marie-Luise Angerer folgend, als ein Dispositiv des Affekts beschreiben kann. 57 Auf ihre kontrollgesellschaftliche Relevanz zugespitzt, zitiert Angerer die kaum überzeugenden Beschwichtigungsversuche Picards im Zusammenhang einer affective surveillance: »Picard stellDie Emotion des Zorns [im Weiteren auch im Sinne von Ekmans Basisemotion anger] hat natürlich eine lange Kulturgeschichte: Von Homers Zorn des Achill, Senecas de ira, bis zum heiligen Zorn des christlichen Gottes. Dies führe ich hier nicht weiter aus (Hier muss kurz der Zorn von der Wut abgegrenzt werden, da Wut ein noch höheres Erregungsniveau besitzt als Zorn. Zorn ist, wenn man so will, etwas distanzierter). 57 Vgl. Angerer/Bösel, Capture All, S. 56. Vgl. auch dies.: Vom Begehren nach dem Affekt. Zürich/Berlin 2007. 56

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te jedenfalls ihre Vision in voller Überzeugung als geradezu antithetisch zu Orwells Big Brother hin: ›Within the family metaphor, the closest image of an affective system ist not one of a powerful big brother, but of a pleasing little sister.‹« 58 Dass kleine Schwestern jedoch auch dazu fähig sind, ärgerlich zu werden bis hin dazu, großes Unheil anzurichten, muss man wohl weder Einzelkindern noch MITProfessorinnen erklären. Wie hanebüchen diese Metapher als Vergleich bzw. Absatzbewegung zum Big Brother auch daherkommt, verweist Marie-Luise Angerer zu recht auf den viel problematischen Diskurshorizont, den Picard mit der Genderspezifik der Schwester in den technischen Zusammenhang hier reimplementiert: »Zuschreibungen von Frauen als helfenden Kräften, von Frauen als unsichtbaren Zuarbeiterinnen, von Frauen als von Natur aus gefühlvolleren Menschen sowie harm- und anspruchslose Lebensbegleiterinnen, jedoch gleichzeitig auch als technische Verführerinnen.« 59

Picard reiht sich damit ein in eine Diskurstradition von E. T. A. Hoffmanns Der Sandmann über Fitz Langs Metropolis, worauf auch Angerer zurecht verweist. 60 Viel virulenter und zugespitzter sind jedoch Beispiele wie Auguste Villiers de l’Isle-Adams symbolistischer Roman L’Ève future von 1886. 61 In diesem entwirft ein fiktiver Thomas Edison einem suizidgefährdeten Freund eine Maschinen-Frau mit allen daraufhin entstehenden Problematiken. Der Roman der literarischen Dekadenz um 1900 ist ein früher Klassiker der ScienceFiction. Er wurde massiv aufgrund seiner Misogynie kritisiert und reihte sich ein in den Diskurs um die (weibliche) Hysterie am Ende des 19. Jahrhunderts. Die Philosophin Rosi Braidotti fasst diesen techno-sexuellen Komplex von fataler Weiblichkeitsimagination wie folgt zusammen: »Das technische Objekt und das Artefakt sind beide künstlich und gehören damit zum Bereich des Unnatürlichen. Ihre Unnatürlichkeit ist gerade der gemeinsame Nenner zwischen Maschinerie und der perversen, weil unfruchtbaren Sexualität der ›femme fatale‹ in Werken wie L’Inhumaine oder Metropolis [oder Éve future (F. H.)]. Weibliche Sexualität wird in dieses Ebd., S. 54. Das Picard Zitat findet sich in: Rosalind W. Picard: Affective Computing. Cambridge 1997, S. 124. 59 Ebd., S. 54. 60 Vgl. Ebd. Fußnote 39. 61 Vgl. die deutsche Ausgabe: Auguste Villiers de L’Isle-Adam: Die künftige Eva. München 2004. 58

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inhumane Skript als bedrohliche, aber auch unwiderstehliche Faszination eingeschrieben – durch die Techno-Evas der vielfältigen Verführungen, die den Weg zu verunsicherten Zukünften weisen.« 62

Nebenbei angemerkt, ist dieser Topos der technischen Frau als Verführerin noch längst nicht von gestern, wie der 2015 erschienene Film Ex Machina verdeutlicht. 63 Die Handlung ist schnell zusammengefasst: Der junge Programmierer Caleb gewinnt in der firmeninternen Lotterie. Der Preis ist die Möglichkeit, eine Woche beim Konzernchef und Computergenie Nathan zu verbringen. Dieser lebt abgeschieden in einem voll computerisierten High-Tech Refugium. Diese Woche stellt sich jedoch schnell weniger als Ferienspaß, sondern viel mehr als von langer Hand geplantes wissenschaftliches Experiment heraus. Caleb soll als Prüfer oder Testobjekt, dies bleibt bewusst im Laufe des Films im Unklaren, in einem Turing-Test mitwirken und die von Nathan entwickelte vermeintliche erste wahre Künstliche Intelligenz Ava auf eben ihre Intelligenz sowie, und hier wird es interessant, Emotionalität testen. 64 Natürlich steckt die künstliche Intelligenz Ava in einem Roboter mit dem Antlitz einer jungen, attraktiven Frau, die vor allem mittels affektiver Computerisierung, also mittels Emotionserkennung, ihr Gegenüber mit ganz klaren sexuellen Codierungen, letztendlich dazu manipulieren kann, sie (oder es?) aus dem Versuchslabor zu befreien. Selbstredend ist der Ansatz des Filmes nicht neu. Die sexualisierte (weibliche) Maschine ist auch nicht nur in der filmischen Darstellung im höchsten Sinne problematisch. Die Frage von menschlich und nicht-menschlich und die Konsequenzen eines Grenzübertritts in diesem Sinne kennen wir ebenso spätestens seit Mary Shelley. Jedoch, ich füge diesen Abschnitt zu Ex Machina hier ein, da der Turing-Test innerhalb dieses Filmes im Grunde um die Frage der Emotionalität und nicht um die Frage von Intelligenz oder gar von Bewusstsein kreist. Was passiert, wenn wir Emotionalität in Computer implementieren, skizziert Oswald Wiener im Zusammenhang mit dem Turing-Test, wie folgt: »Der Einzelne sähe sich Wesen gegenüber, die seinen Verstehensmöglichkeiten als Personen erscheinen, aber gerade deswegen in allen Belangen Rosi Braidotti: Posthumanismus. Frankfurt a. M. 2014, S. 111. Regie und Drehbuch: Alex Garland. GB 2015. 64 Ein so genannter Empathie-Test spielt schon in Philip K. Dicks Roman Träumen Androiden von elektrischen Schafen? (Unter dem Titel »Blade Runner« prominent verfilmt) eine Rolle. 62 63

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überlegen sind, weil sie keine Personen sind. Wir würden unserer inneren Orientiertheit verlustig gehen, der emotionalen Projektion; was wir für das wertvollste an uns halten, die Inhaltlichkeit unseres Bewußtseins, das Sinnhafte des Denkens, müßten wir als bloßem Transportmechanismus vom Unbewußten ins Formale ansehen: für ein Provisorium.« 65

Emotionalität, als das vermeintliche menschliche Alleinstellungsmerkmal zum Gegenüber der Maschine ist dabei, seine anthropozentrischen Hürden in Richtung Maschine zu überschreiten. Nochmals zurück zum Turing Test. Dieser Test, der in einer recht abgewandelten Form in Ex Machina eine Rolle spielt, da die Testperson Caleb schon weiß, dass er einen Roboter testet, besteht in seiner Grundformation aus drei Testteilnehmern mit festgelegten Rollen. 66 Zwei, eine Maschine und ein Mensch, sind dem (menschlichen) Tester unbekannt. Der Tester befragt beide. Kann der Tester nicht entscheiden, wer Mensch und wer Maschine ist, gilt der Test als bestanden. Selbstredend ist der Turing-Test in seiner rudimentären Form kritisiert worden, da er, so etwa der Einwand John Searles, nicht teste, ob es sich um Bewusstsein handle. 67 In einer nicht-abgewandelten, also nicht an die heutigen technologischen Bedingungen angepassten, ursprünglich von Alan Turing so implementierten Form, tritt dieser Test in der Frage von Emotionalität der Computer seiner eigenen Obsoleszenz gegenüber. Es müssen hiermit andere Standards des maschinischen Verstehens, das zwar trotz aller Perzeptivität letztlich immer noch ein rechnendes ist, gesucht werden, das sich an der Frage einer Empathie des Computers orientiert. Das wird sicherlich eine nächste spannende Aufgabe im Zusammenhang mit dem Affective Computing sein: Wie wird sich das Verhältnis von Mensch und Maschine angesichts einer verstehenden-empathischen Maschine verändern? In Form des Affective Computings steht uns ein Dispositiv gegenüber, welches dem Menschen in der Verzahnung von suggeriertem Verstehen und einer ganz eigenen Form an affektorientierter Technowissenschaft gegenübertritt. »Gerade an den digitalen Medien und insbesondere an den Affekt- und Psychotechnologien zeigt sich Oswald Wiener: Turing Test. In: Schriften zur Erkenntnistheorie. Computerkultur Band X. Wien/New York 1996, S. 69–95, hier: S. 71. 66 Das ist gerade (bei aller Kritik am Film) der Charme des Plots, dass hierbei nicht klar ist, wer welche Rolle inne hat. Vom Konzernchef Nathan über Caleb und Ava wechseln die Rollen von Tester, Maschine und Mensch geradezu hybrid. 67 Vgl. das Gedankenexperiment des so genannten Chinesischen Zimmers. John Searle: The Rediscovery of the Mind. Cambridge 1992. 65

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die lustvolle Produktivität [der Macht (nach Foucault) F. H.] in sinnfälliger Weise.« 68 Die Frage ist hiermit nicht mehr, ob der Mensch den Aufbau und die Funktionsweise einer Maschine versteht, sondern die Frage stellt sich genau umgekehrt: Ist die Implementierung von (menschlichen) Biodaten in die Maschine in Form des Affective Computings der Anfang davon, dem Verstehen die Kategorie einer anthropologischen Grundkonstante zu nehmen? In einer Zeit, in der über eine flächendeckende Installation von Gesichtserkennungssoftware samt Emotionserkennung auf öffentlichen Plätzen, Flughäfen und Bahnhöfen diskutiert wird, tritt dem Menschen das herausfordernde und eigentümliche Mensch-Maschine-Verstehen nicht mehr in Apparaten vor Augen, sondern in der Weise einer Form von Environmentalisierung (Umgebung-Werden) des Affective-Computings. Das Außen, die Umgebungen, Räume und Plätze selbst werden zu Verstehens-Interfaces des menschlichen Innen, der Emotionen, Affekte und Gefühle, sodass der Schnittstelle Gesicht die wohl größte Identifikations- und Überwachungsfunktion bevorsteht seit der Entdeckung des Fingerabdrucks oder der DNAAnalyse.

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Verstehen und Gestalten Zur produktiven Problematik des Mensch-Maschine-Interface Kevin Liggieri

»Many new types of machines will appear as soon as a new philosophy of design is developed. These Machines, and the products they make, will be unlike anything we have today.« (Eric Leaver/John Brown, Machines Without Men, 1946) 1

1.

Inter-Face – Zu Konzeptionen von Mensch-MaschineInteraktion

Ein Großteil einflussreicher Technikkritiker, Technikbefürworter und Technikphilosophen betrachtete lange Zeit die ›Technik-an-sich‹ und traf dabei oft höchst differenzierte, kritische oder mit Blick auf den Menschen reflektiert-ethische Aussagen über die Technik. Die klassische Beschreibung des Forschungsobjektes »Technik« reichte dabei schematisiert von einer »Organprojektion« (Ernst Kapp), über eine »Symbolische Form« (Ernst Cassirer) bis zum »Gestell« (Martin Heidegger). 2 Das philosophisch und gesellschaftlich produktive Denken Eric Leaver/John Brown: Machines Without Men. In: Fortune Magazine 5 (1946), S. 165, S. 192, S. 194, S. 196, S. 199 f., S. 203 f., hier: S. 199. Vgl. ebenso Martina Heßler: Kulturgeschichte der Technik. Frankfurt a. M./New York 2012, S. 60. 2 Zum Überblick über verschiedene technikphilosophische Ansätze siehe nur als Auswahl: Peter Fischer (Hg.): Technikphilosophie. Von der Antike bis zur Gegenwart. Leipzig 1996; Christoph Hubig/Aloys Huning/Günther Ropohl (Hgg.): Nachdenken über Technik. Die Klassiker der Technikphilosophie. Berlin 2001; Thomas Zoglauer (Hg.): Technikphilosophie. Freiburg a. Br. 2000; Alfred Nordmann: Technikphilosophie zur Einführung. Hamburg 2008. Aus der Fülle an Einzeldarstellung besonders: Christoph Hubig: Die Kunst des Möglichen I. Technikphilosophie als Reflexion der Medialität. Bielefeld 2006; Ders.: Die Kunst des Möglichen II. Grundlinien einer Philosophie der Technik. Ethik der Technik als Provisorische Moral. Bielefeld 2007; Ders.: Die Kunst des Möglichen III. Grundlinien einer Philosophie der Technik. Macht der Technik. Bielefeld 2015; Bernhard Irrgang: Philosophie der Technik. 3 Bände. Paderborn u. a. 2001–2002. 1

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in der Fokussierung auf ›Technik‹ im Umgang mit dem Menschen bietet jedoch auch eine Kehrseite, die den Blick auf ein zentrales Problem zu verstellen scheint: Das Zwischenglied. Der Mensch trifft als Anwender nicht ›selbstverständlich‹ auf wie auch immer materialisierte Technik (z. B. Computer, Smartphone, Auto aber auch Artefakte wie den Hammer). Ganz im Gegenteil zeigt die Technik sich dem Menschen nur dann in ›einfacher‹ oder besser bedienungsgerechter bzw. philosophisch ausgedrückt ›zuhandener‹ Form, wenn ihr eine bestimmte Form gegeben wurde. 3 Diese Form, die der Mensch wahrnimmt und mit der er umgeht – welche er verstehen kann –, ist wiederum ein äußerer, dem Menschen zugewandter Teil der Technik: Das gestaltete Interface. 4 Um den selbst schon metaphysisch aufgeladenen Begriff der »Technik« zu erden, soll daher im Folgenden konkret auf dieses anthropophile ›Außen‹ der Technik geschaut werden. Das Interface bildet seinem Namensgeber dem Ingenieur und Bruder Lord Kelvins, James Thomson, zufolge ein Gebilde zwischen dynamischen Begrenzungen, welches erst durch die einsetzende Differenzierung Liquidität und Bewegung ermöglicht: »[It is] as if the fluid everywhere possesses an expansive tendency, so that pressure must everywhere be received by the fluid on one side of a dividing surface (or as I call it interface) from the fluid, or solid, on the other side, to prevent the fluid from expanding indefinitely, or to balance its expansive force.« 5

Für Thomson definiert und separiert das Interface 1869 somit Bereiche des ungleichen Energievertriebs zwischen einer Flüssigkeit in Bewegung und einem statischen Objekt. Diese Macht der Trennung so-

Martin Heidegger: Sein und Zeit. 19. Auflage. Tübingen 2006, S. 71. Dass dieses Interface im alltäglichen Umgang ein Außen der Technik und damit eine bestimmte Oberfläche darstellt, kann hier nur angedeutet werden. Siehe dazu Till Heilmann: Die Oberflächlichkeit des Digitalen, in: Christina Lechtermann u. a. (Hgg.): Das Wissen der Oberfläche. Epistemologie des Horizontalen und Strategien der Benachbarung. Berlin/Zürich 2015; Margarete Pratschke: Gestaltexperimente unterm Bilderhimmel. Das Psychologische Institut im Berliner Stadtschloss und die Avantgarde. Paderborn 2016; Dies., Interaktion mit Bildern. Digitale Bildgeschichte am Beispiel grafischer Benutzeroberflächen. In: Horst Bredekamp u. a. (Hgg.): Das Technische Bild. Kompendium zu einer Stilgeschichte technischer Bilder. Berlin 2008, S. 68–81. 5 James Thomson: Notes and Queries – On Gases, Lquids, Fluids: Unpublished notes bearing on [chemist and physicist Thomas] Andrew’s experiments, (10. Mai 1869), in: Ders. Collected Papers in Physics and Engineering, Cambridge 1912, S. 327. 3 4

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wie des Zusammenfügens, welches nur im Tun Wirklichkeit beansprucht, wohnt auch modernen digitalen Interfaces inne. Allgemein betrachtet sind Interfaces – um bei diesem Begriff zu bleiben – vielseitig. Es können zum einen Ein- und Ausgabesysteme in allen Varianten sein (Bankautomaten, Computerbildschirme, Telefontastaturen, etc.). So verstanden bilden sie ein Netzwerk von »bedeutenden Flächen«, 6 die für den User bestenfalls intuitiv-verständlich und benutzerfreundlich sein sollen. Zum anderen sind es aber auch Durchgänge, die durch Kontrolle und Macht Zugänge ge- oder verwehren. Wenn unser Handeln, nach Wilhelm Dilthey das Verstehen anderer Personen voraussetzt und das vieldeutige »Verstehen« ein Parameter geisteswissenschaftlicher Zugangsweisen darstellt 7, dann sind Schnittstellen allgemein und provokativ gesprochen dazu da, eine kommunikative Interaktion, ein Verstehen (im informationstechnischen Sinne) und eine Handlung zweier sich fremder Systeme überhaupt erst zu ermöglichen. 8 Das Interface, welches mit Blick auf ein ›Verstehen‹ geisteswissenschaftlich fundiert wäre, kann dabei die angesprochene Bedieneinheit zwischen Mensch und Maschine sein oder eine Maschine-Maschine-Kommunikationsschnittstelle zwischen zwei unterschiedlichen Kommunikationsstandards, die ihre Daten (z. B. bits im digitalen Fall) auf verschiedene Weise verpacken/ Villém Flusser: Für eine Philosophie der Fotografie. Göttingen 1983, S. 8. Zu Unterscheidung von Eingabe- (meist haptisch, kinästhetisch) und Ausgabe-Schnittstellen (meist optisch) siehe Heike Weber: Stecken, Drehen, Drücken: Interfaces von Alltagstechniken und ihre Bediengesten. In: Technikgeschichte 76 (2009), S. 233–254, hier: S. 235–236. 7 Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften Bd. V: Die geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens. Erste Hälfte: Abhandlungen zur Grundlegung der Geisteswissenschaften. Hrsg. von G. Misch. Stuttgart/Göttingen 1957, S. 317. Zur historischen Einordnung der Hermeneutik und des vieldeutigen Begriffes »Verstehen« siehe Gunther Scholtz im vorliegenden Band. 8 Ein Verstehen samt seinen hermeneutischen Theorien wird daher erst dann notwendig, wenn man eben nicht von selbst versteht, wenn es Verstehenshindernisse gibt. Das ist deutlich bei Mensch und Maschine der Fall (siehe Scholtz’ These 2: »Die Hermeneutik wollte Verstehenshindernisse auflösen helfen. Die prinzipielle Möglichkeit des Verstehens von Gedanken und Emotionen setzte sie als Selbstverständlichkeit schon voraus«). Zu diesen, wie Gadamer es nennt, »befremdlich[en]«, »herausfordernd[en]«, »desorientierend[en]« Verstehenshindernissen als konstitutives Element des Verstehens und einer Hermeneutik (Hans-Georg Gadamer: Hermeneutik II. Wahrheit und Methode. Ergänzungen. Register. Gesammelte Werke. Bd. 2. Tübingen 1993, S. 185) auch Hans-Ulrich Lessing, Gudrun Kühne-Bertram und Käte MeyerDrawe im vorliegenden Band. 6

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anordnen/strukturieren und so nicht vom anderen Standard interpretiert werden können. 9 Man denke für die Hauptaufgabe eines Interfaces vereinfacht an das Beispiel eines menschlichen Übersetzers zwischen zwei Menschen, die nicht dieselbe Sprache sprechen. 10 Die moderne Bedeutung des »Interface« (u. a. als Surface) umfasst in einer engeren designspezifischen Bedeutung Icons, die auf der Oberfläche der Bildschirme angeordnet sind. Diese Definition verweist zwar, wie der Designwissenschaftler Klaus Krippendorff ausführt, auf eine wichtige Form von »Lesbarkeit«, vernachlässigt aber die erwähnte und für Interfaces ebenfalls relevante Interaktivität, bei der der User auf die Eindrücke reagiert, sowie die Dynamik, die aus dieser Reaktion resultiert. 11 Das oft im Deutschen gebrauchte Wort »Schnittstelle« betont im Unterschied zum englischen ›Zwischengesicht‹ (Inter-face) die räumliche Stelle, an der sich Mensch und Maschine trennen bzw. verbinden. Mit der deutschen »Schnitt-Stelle« wird damit aber, folgt man Krippendorff, nicht nur Dynamik und Interaktivität ausgeschlossen, sondern eben auch das produktive »Dazwischen-Sein« eines »Interfacere« ausgeklammert. 12 Auf dieses produktive ›Zwischensein‹ sowie dessen anthropophile Gestaltung muss philosophisch und historisch ein differenzierter Fokus gelegt werden. Will man so weit gehen wie der Kulturwissenschaftler Brandon Hookway, dass eine Theorie des Interface immer auch eine Theorie der Kultur abbildet, da »culture […] an enacted reconciliation of human beings with the social, biological, material, technological, and other realism [ist]«, und das Interface damit »a cultural moment as much as it does a specific relationVgl. Wulf R. Halbach: Interfaces. Medien- und kommunikationstheoretische Elemente einer Interface-Theorie. München 1994, S. 168, allgemein Hans Dieter Hellige (Hg.): Mensch-Computer-Interface. Zur Geschichte und Zukunft der Computerbedienung. Bielefeld 2008; Wie Bernhard Irrgang richtig anmerkt, ist die vorliegende Auslegung von ›Verstehen‹ und ›Hermeneutik‹ im Unterschied zur klassischen Texthermeneutik und Handlungshermeneutik instrumental-technologisch grundiert (vgl. Irrgang im vorliegenden Band). Nichtdestotrotz liegen auch diesen technologischen Interaktionen text- und handlungshermeneutische Bedingungen zu Grunde, da die technischen Artefakte über ihre Ein- und Ausgabeschnittstellen definiert werden, die wiederum nicht selten mit Text- und Handlungsanweisungen operieren. 10 Für Anregungen zur informationstechnologischen Seite des Interfaces danke ich Alexander M. Müller. 11 Klaus Krippendorff: Die semantische Wende. Eine neue Grundlage für Design. Basel 2013, S. 112. 12 Ebd., S. 112. 9

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ship between human users and technological artifact« beschreibt, 13 dann werden verschiedene technikphilosophische Problematisierungen virulent. Wie kann ein Verstehen und Verwenden der Technik mittels Interface aussehen? Was und wie vermittelt ein Interface, wenn wir, wie die Technikhistorikerin Heike Weber es ausdrückt, »Knöpfe [drücken], […] Schalter [drehen] oder […] auf Screens [schauen]«? 14 Und was für ein Menschen- und Maschinenbild verbirgt sich hinter diesem Mensch-Maschine-Interface? Hierfür soll im ersten Schritt eine historische und systematische Beschreibung des Interfaces bei Mensch-Maschine-Interaktionen vorgenommen werden, darauf aufbauend muss sich die epistemologische Frage nach der besonderen Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine (sowie der Akzeptanz technischer Artefakte) gestellt werden. Dabei gilt der Satz ›Schnittstellen erzeugen Interaktion‹ immer wechselseitig. 15 Es muss berücksichtigt werden, dass gerade im heutigen Technikgebrauch (vom heimischen Computer bis zur vernetzen betrieblichen Arbeitsmaschine in der Industrie 4.0) das Interface als Leitbegriff für eine bestmögliche Gestaltung beim Zusammenwirken von Mensch und Maschine durch Anpassung der Maschine an den Menschen hinsichtlich Leistung, Zuverlässigkeit und Wirtschaftlichkeit Wichtigkeit erlangt. Das Forschungsprogramm des Bundesministeriums für Bildung und Forschung von 2015 – mit dem sprechenden Titel »Technik zum Menschen bringen« – zielt beispielsweise demonstrativ auf solche Mensch-Maschine-Interaktionen ab, die sich (mit Blick auf politische, soziale und finanzielle Förderung) nicht gerade subtil anthropophil aufstellen. So wird im Programm des BMBF ganz gezielt auf ein »Hand in Hand« von Mensch und Technik eingegangen 16, bei der eine »verantwortungsvolle« Technik 17 nicht nur dem Menschen ›dienen‹ und ihn demzufolge in den »Mittelpunkt« 18 rücken, sondern gerade

Brandon Hookway: Interface. Cambridge 2014, S. 15. Weber: Stecken, Drehen, Drücken, S. 237. 15 Vgl. Lasse Scherffig: Feedback: Vom Unding zur Sache. In: Georg Trogemann (Hgg.): Code und Material: Exkursionen ins Undingliche. Wien/New York 2010, S. 64–86. 16 BMBF: Technik zum Menschen bringen. Forschungsprogramm zur Mensch-Technik-Interaktion. Bonn 2015, S. 5. 17 Ebd., S. 6. 18 Ebd., S. 7. 13 14

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auch die »Akzeptanz« sowie das »Vertrauen« durch »ethische Reflexion« und Design mehren soll. 19 Bei diesen Forschungsvorhaben soll der Mensch als Maßstab gerade nicht aufgeben werden, sondern die Technik ›menschenfreundlich‹ gestaltet werden 20. Dieses geschieht durch Interface-Konstruktionen. Vor allem für die Gegenwart ergibt sich durch einen epistemologischen Blick auf die Bedeutung und Gestaltung des Interfaces ein ungeahntes Potential in der Interaktion von Mensch und Technik in Bezugnahme auf Technikphilosophie und -geschichte. Neben der Frage, welche Problematisierungsdiskurse sich bei dieser zu gestaltenden sinnfälligen Interaktion zwischen Mensch und Maschine ergeben und wie sich dabei akzeptable Interfaces (in den 1920er Jahren noch Hebel, Griffe oder Knöpfe, einfache visuelle und akustische Signale) gestalten lassen, muss ebenso nach der Rolle des technischen Objekts gefragt werden, dessen sozialer Status sich durch optimierende Schnittstellen immer mehr modifiziert. Im Allgemeinen geht es der vorliegenden Untersuchung darum, zu verstehen und zu zeigen, wie eine verständliche Interaktion mit der Maschine möglich gemacht wird. Im Besonderen soll dieser Frage anhand von historischen sowie systematischen Diskursen nachgegangen werden – oder wie es der Philosoph Lewis Mumford schon 1934 forciert formuliert: »Die Maschine selbst stellt keine Forderungen und weckt auch keine Hoffnungen. Es ist der menschliche Geist, der Forderungen stellt und Versprechen hält. Um die Maschine untertan zu machen und sie für menschliche Zwecke einzusetzen, muss man sie zuerst verstehen und dann anpassen. Bislang haben wir die Maschine willkommen geheißen, ohne sie wirklich voll zu verstehen.« 21

Ebd., S. 6. Hinter dieser humanistischen Rhetorik steht neben der geisteswissenschaftlichen Tradition auch eine Verkaufs- und Öffentlichkeitsstrategie. 21 Lewis Mumford: Technics and Civilization. London 1934, S. 6 [Übersetzt von K. L.]. 19 20

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2.

Eine geschichtstheoretische Betrachtung des Interface

2.1 Historische Betrachtung Am Vorabend des 1. Weltkrieges sprach der Psychologe Hugo Münsterberg in sozialdarwinistischen Termini davon, dass »[k]eine Maschine, mit der der Mensch arbeiten soll, […] den Kampf ums technische Dasein überleben [kann], wenn sie dem Nerven- und Muskelsystem und den Möglichkeiten der Wahrnehmung, der Aufmerksamkeit, des Gedächtnisses und des Willens geübter Individuen nicht in gewissem Maße angepaßt ist. Die industrielle Technik hat sich mit ihren ruhelosen Verbesserungen dieser Forderung untergeordnet.« 22

Der 1. Weltkrieg nötigte dann auch viele unausgebildete Arbeiter Maschinen zu bedienen, die sie nicht kannten (Dreher, Hobler, Fräser, Kranfahrer, etc.). Daraus resultierte 1917 die Frage des Ingenieurs Carl Waningers nach den Gründen, warum sich so viele Arbeiter im Umgang mit Maschinen »vertun«. 23 Waninger kam ähnlich wie Münsterberg zu der praktischen Erkenntnis, dass scheinbar die meisten Maschinen nicht an das »technische Gefühl« der Menschen angepasst waren, wobei dem Ingenieur hier überwiegend der gebräuchliche »Drehsinn« vorschwebte. 24 Um das Problem zu lösen, sah er eine »sinnfällig[e]« Anordnung vor, worunter er beispielsweise die »einfachst[e] Verbindung« zwischen »Steuer« und Steuerrad« verstand. 25 Waninger hatte die Hoffnung, durch Gestaltungstechniken Maschinen benutzerfreundlicher, verständlicher und damit effizienter zu konstruieren. Der von ihm verwendete Terminus der »Sinnfälligkeit« meinte demzufolge ein »In-den-Sinn-Fallen« des richtigen Zusammenhanges. Dieses ›Fallen‹ sollte unterbewusst vor sich gehen und entlastete, wenn man im Terminus der Psychotechniker und Ingenieure der 1910er und 20er Jahre bleiben möchte, das reflektierende Bewusstsein. Man handelte zweckentsprechend, musste darüber aber nicht nachdenken. 26 Was war nun genau damit gemeint? Hugo Münsterberg: Grundzüge der Psychotechnik. Leipzig 1914, S. 380. Carl Waninger: Die Sinnfälligkeit der Bewegung in der Technik. In: Werkstattstechnik 11 (1917), S. 157–159, hier: S. 157. 24 Ebd. 25 Ebd. 26 Fritz Giese: Methoden der Wirtschaftspsychologie. In: Emil Abderhalden (Hgg.): Handbuch der biologischen Arbeitsmethoden, Abteilung VI, Teil C, Band 2. Berlin u. Wien 1927, S. 119–744, hier: S. 600. 22 23

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Der Arbeiter sollte durch eine ihm (psychologisch und physiologisch) angepasste Technik instinktiv mit dem Körper denken. Die Sinnfälligkeit bezog sich dabei, dem Psychotechniker Fritz Giese zufolge, auf verschiedene Formen, wie traditionelle Assoziationen, Gewohnheit, physiologische Bewegungserleichterung oder Instinktbewegung. Auf diese verschiedenen Arten einer menschlich-technischen Vermittlung soll kurz eingegangen werden, da sie nicht nur von einem instinktiven Technikgebrauch, sondern ebenso von einer anthropophilen Technikgestaltung ausgingen, die in ihrer Semantik auch heute noch beim Interface-Design relevant ist. Der Grundgedanke lautete: Die Technik soll und kann die »reaktiven Bewegungen« des Menschen durch passende Konstruktion fördern. 27 Blickt man auf ein Beispiel fernab aller mechanischen Konstruktionen, in dem der Betriebsingenieur Karl August Tramm 1921 einen »natürlich« geformten Hammergriff anführt, den ein Kesselschmied 21 Jahre benutzte, zeigt sich deutlich eine menschliche ›Formung‹ der Technik. So hatte sich der Hammerstil nach Tramm »natürlicher« Weise an die Hand des Menschen angepasst (Abb. 1). 28 Der Mensch selbst formte aktiv im Griff des Hammers eine naturgemäße, sinnfällige Schnittstelle.

Abb. 1: Kräfteangriffspunkt am Hammergriff. Quelle: Karl August Tramm: Psychotechnik und Taylor-System. Bd. 1. Berlin u. Heidelberg 1921, S. 50.

Bei diesen ›angepassten‹ Griffstellungen wird in Verbindung zu einer praktischen Interaktion eine Handhabung deutlich, die Martin Heidegger fast zu gleichen Zeit (1927) in Sein und Zeit als Zuhandenheit beschreibt: Ebd., S. 601. Karl August Tramm: Psychotechnik und Taylor-System. Bd. 1. Berlin u. Heidelberg 1921, S. 181–182.

27 28

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»Je weniger das Hammerding nur begafft wird, je zugreifender es gebraucht wird, um so ursprünglicher wird das Verhältnis zu ihm, um so unverhüllter begegnet es all das was es ist, als Zeug. Das Hämmern selbst entdeckt die spezifische ›Handlichkeit‹ des Hammers. Die Seinsart von Zeug, in der es sich von ihm selbst her offenbart; nennen wir die Zuhandenheit.« 29

Bei komplexeren Maschinen und technischen Artefakten ist eine Zuhandenheit jedoch nicht einfach so gegeben, schon gar nicht, wenn sie sich »von […] selbst her offenbart«, da dabei meistens ein aufwändiger – allerdings verborgener – Konstruktionsprozess vorauszugehen hat. Ein aussagekräftiges Beispiel für die menschliche Bezogenheit sowie die gelungene Zuhandenheit der Schnittstelle stellt ein Kraftfahrer dar, der gleichzeitig bremsen und ausweichen soll. Die Bedienung der Geräte (Lenkrad, Kupplung, Handbremse, Fußbremse) erweist sich als komplexer als im ersten Moment gedacht, da bei der Handlung die »Sinnfälligkeit« wirkmächtig wird. Mit der linken Hand muss der Fahrer das Steuer drehen, mit der rechten Hand die Handbremse anziehen, mit dem linken Fuß muss er die Kupplung drücken und mit dem rechten Fuß die Bremse treten. 30 Was im Fahrmanöver selbst weniger problematisch, weil intuitiv abläuft, zeigt seine Schwierigkeit, wenn eines der angeführten Bedienelemente nicht so ›selbstverständlich‹ funktioniert. Kann der Fahrer sich nicht so einfach ›in den Sinn fallen‹ lassen, so fällt er aus. Es kommt aufgrund eines Missverstehens der technischen Artefakte – einer fehlenden Zuhandenheit – zum Un-fall. Den Psychotechnikern der 1920er Jahre, die in solchen Fällen genauer auf die Handhabungen der Geräte achteten, wurde schnell klar, dass die Handbremse »rückwärts« gezogen werden musste, einmal aus Gründen der Kraftaufwendung, zum anderen – und das scheint interessant – aus Traditionsgründen eines Pferdeanziehens. 31 Demnach wurden von Giese AnalogieHeidegger: Sein und Zeit, S. 69. Vgl. zu dieser ›Handlichkeit‹ von Geräten auch Weber: Stecken, Drehen, Drücken, S. 233–254. 30 Giese: Methoden der Wirtschaftspsychologie, S. 601–602. Diese ›intuitiven‹ Griffe mussten in bestimmten Maße eingeübt werden, darauf verweisen Karl August Tramm: Die rationale Ausbildung des Fahrpersonals für Straßenbahnen auf psychotechnischer Grundlage. In: Praktische Psychologie 1 (1919), S. 18–33, hier: S. 20 f. und Walther Moede: Die psychotechnische Arbeitsstudie. In: Richtlinien für die Praxis. Praktische Psychologie 1 (1920), S. 135–146, 180–184, hier: S. 182. 31 Giese: Methoden der Wirtschaftspsychologie, S. 602. Gleichzeitig, und darauf verweist ebenfalls schon Dilthey, liegen die Grenzen des Verstehens dort »wo die Ana29

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schlüsse angeführt, um Bewegungsabläufe effizienter zu gestalten. Diese Gestaltung von traditionellen Assoziationen ermöglicht und generiert Anschlussfähigkeit und damit ein praktisches Verstehen bzw. Verhalten mit Technik. Akzeptanz und Interaktion wird durch Annektierung bekannter, folglich schon verinnerlichter Handlungsweisen erreicht. Grundzüge dieser skeuomorphischen Mediatisierung werden auch im modernen Umgang mit digitaler Technik als Designparadigma angewandt. 32 Sie haben sich im Umgang mit technischen Artefakten bewährt. Wo der Arbeiter in den 1920er Jahren seinen Hammer zwangsläufig noch selbst sinnfällig gestalten musste, da bietet sich heute das technische Artefakt dem Gebraucher selbst durch seine Gestaltung zur Verwendung an. Die so betitelte »Affordance« (deutsch oft: Angebots- oder Aufforderungscharakter) eines Artefakts bestimmt seine Gebrauchsmöglichkeiten und ist als relational zu verstehen, da es den User (ähnlich wie Heideggers Zuhandenheit) auf bestimmte Weise zu einer Handlung stimuliert. 33 Das Objekt versteht sich dabei von selbst. Die Wissensordnungen nach 1960 nahmen die angeführte Sinnfälligkeit unter neuen informationstheoretischen Paradigmen wieder auf und strebten u. a. in der anthropotechnischen Ergonomie einen logie unseres Innern aufhört« (Dilthey: Gesammelte Schriften. Bd. XX, S. 106), wie Kühne-Bertram in ihrem Beitrag im vorliegenden Band ausführt. 32 Diese schematischen Beispiele aus den 1920er Jahren zeigen, dass das Interface viel eher als eine zuhandene Schere zudenken ist als ein Text (vgl. Krippendorff: Die semantische Wende, S. 116). Wo der Text schon von Beginn an für verschiedene Leser geschrieben wurde, ist die Schere für nur einen Nutzer bestimmt und lässt wenig Interpretationsraum oder Nachdenken zu. 33 Den Begriff der »Affordance« prägte 1977 der Wahrnehmungspsychologe James J. Gibson. Gibson ging davon aus, dass der Mensch keine Reize wahrnimmt, sondern nur Objekte, mit denen er irgendeine Art von Handlung verbinden kann. Verschiedene Gegenstände haben dabei verschiedene Bedeutung für den Menschen. Dieses Wahrnehmungsmodell einer »Affordance« wurde dann vom Professor für Kognitionswissenschaften und Informatik, Don Norman, in seinem Buch The Psychology of Everyday Things (1988) in Modelle der Usability und des User-Interface-Designs übersetzt. Bei der Affordance im Interface-Design ist zu beachten, dass die vorhandene Affordance mit der wahrgenommenen Affordance übereinstimmen muss, sonst missversteht der Anwender die technische Aufforderung (vgl. James J. Gibson: The Ecological Approach to Visual Perception. Boston 1979; David Norman: The Psychology of Everyday Things. New York 1988). Zur Affordance genauer Nicole Zillien: Die (Wieder-)Entdeckung der Medien – Das Affordanzkonzept in der Mediensoziologie. In: Sociologia Internationalis 46 (2008), S. 161–181.

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gemeinsamen Code für Menschen und Maschinen als Handlungsaktanten an. 34 Wenn es schon bei dem Brems- und Gaspedal sowie bei dem Hammer Komplikationen gab, dann scheint es im digitalen Zeitalter umso problematischer bzw. sogar gefährlicher zu sein, mit technischen Artefakten zu interagieren. Wie wird beispielsweise ein ungeübter Anwender mit der Komplexität einer Email fertig, die ihm folgendes vorgibt: »Betätigen Sie RETURN, um einen Absatz zu beenden, STRG-D, um einen Brief zu beenden, Q für das Beenden des E-Mail-Subsystems, und logout zum Beenden der Sitzung.« 35 Nicht nur die beschreibende Syntax mit ihren Fachtermini, sondern auch die Abbildungen auf Tastatur und Desktop können den User verunsichern. Er versteht schlicht nicht mehr, wie er in Interaktion mit der Maschine treten kann. Hier kommt die Sinnfälligkeit oder bzw. die gestaltete Schnittstelle hermeneutisch zum Tragen, die durch »Reduktion der Willkürlichkeit von Tasteneingaben«, durch »die Verwendung von konsistenten Befehlsmustern« oder aber »aussagekräftigen Befehlsnamen und Etiketten auf den Tasten« den Menschen und seine Denkleistung entlastet und damit einen ›natürlichen‹ Umgang, ein Verstehen mit der Maschine wie ›selbstverständlich‹ ermöglichen soll. 36 Durch Komplexitätsreduktion wird eine Kommunikation zwischen Mensch und Maschine ermöglicht.

2.2 Theoretische Betrachtung Die historisch angeführten Beispiele verdeutlichen, dass das Interface sich sinnfällig darauf einstellen muss, zwei Kommunikationspartner aufeinander treffen zu lassen, die von ihrer Grundausstattung verschiedenen sind. So ist der Mensch mit Flexibilität im Verstehen und in der Reaktion begabt, die Maschine dagegen wurde programmiert und eingestellt. 37 Da Mensch und Maschine demzufolge nicht gleich Vgl. Kevin Liggieri: ›Alles regeln, was regelbar ist.‹ Die Geburt der Kybernetik aus dem Geiste der Ordnung. Zur Problematisierung einer totalen Berechenbarkeit. In: Markus Wierschem u. a. (Hgg.): Patterns of (Dis-)Order. Beiträge zur Kulturgeschichte der Un/Ordnung. Münster/Wien 2017, S. 223–242. 35 Ben Shneiderman: User Interface Design. Bonn 2002, S. 90. 36 Ebd. Vgl. erneut zu dieser Verunsicherung des Verstehens als zentrales Element der Hermeneutik Kühne-Bertram und Meyer-Drawe im vorliegenden Band. 37 Inwieweit der Mensch seine zwischenmenschlichen Kommunikationsmuster in Form einer Personifizierung auf die Maschine überträgt, kann hier nur angedeutet 34

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sind (selbst, wenn Technikoptimisten sowie Transhumanisten dieses gerne lautstark proklamieren), muss eine Konstruktionsleistung erbracht werden, und jede Konstruktion muss mit dem Verstehen des Endanwenders (Alter, Geschlecht, körperliche Fähigkeiten, Ausbildung, kulturellen sowie ethnischen Hintergrund, Vorkenntnisse, Motivation, Ziele und Persönlichkeit) beginnen, denn wo »immer Design etwas mit Gebrauch zu tun hat, geht es um Interfaces.« 38 Im Unterschied zur teilweise zu starken Hybridisierung von Mensch und Maschine der Kybernetik in den 1940–1960er Jahren, die oft Maschinen vielmehr als Selbst anstatt von selbst agieren lassen wollte, erkennt die erwähnte technikwissenschaftliche Anthropotechnik (Ergonomie) die Verschiedenheit der beiden Entitäten Mensch und Maschine und eröffnete so um 1960 den Diskurs einer komplexen Schnittstellengestaltung, bei der es mehr um visuelle, akustische sowie interaktive Informationswechsel ging, als nur um sinnfällig-haptische. Bei dieser Mensch-Maschine-Interaktion darf allerdings weder die Maschine zu anthropomorph noch der Mensch als Maschine zu reduktionistisch gesehen werden. Vielmehr muss man beide – und das zeigt das Konzept des Interface – von der wechselseitigen Interaktion herdenken, die Wissen über den Menschen wie auch über die Maschine im Gestaltungsprozess vereint. 39 Dabei können, so der Informatiker Ben Shneiderman, psychologische Experimente zu einem »tieferen Verstehen« über die Prinzipien der

bleiben. Ebenso müsste genauer betrachtet werden, wie der Mensch durch das technische Medium mit anderen Menschen interagiert. Dieses wäre jedoch eine weitere (teilweise soziologische) Fragestellung. Vgl. Frank Hartmann: Interface. Manifestation der Medienmoderne. In: Gerhard Schweppenhäuser (Hg.): Handbuch der Medienphilosophie. Darmstadt 2018, S. 162–173. 38 Krippendorff: Die semantische Wende, S. 112; Shneiderman: User Interface Design, S. 92. 39 Dass der Mensch in diesem ›Wissen‹ selbst in bestimmter Weise normiert wird (Größe, Gewicht, Geschlecht, Alter, etc.) und dieses ebenfalls mit verschiedenen Problemen einhergeht, kann hier nur angedeutet bleiben. Diese Form einer Anthropomorphisierung geschieht allerdings mit Abstrichen, da es immer auch psychophysische Eigenschaften des Menschen gibt, die sich mathematisch-rationalen Zugängen verwehren und nicht als ›Wissen/Daten‹ in die Maschine eingespeist werden können, dazu auch Käte Meyer-Drawe: Mein Leib als Schildwache. Merleau-Pontys Kritik am kybernetischen Mythos. In: Regula Giuliani (Hg.): Merleau-Ponty und die Kulturwissenschaften. München 2000. S. 227–242; Martina Heßler: Der Mensch als Leib. Menschenbilder in einer technischen Kultur. In: Jörg Sternagel/Fabian Goppelsröder (Hgg.): Techniken des Leibes. Weilerswist 2016, S. 217–236.

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menschlichen Interaktion mit Maschinen führen. 40 Im zielgerichteten, effizienten Gestaltungsprozess einer Software-Ergonomie wird daher meist auf ein Wissen über Psychologie und Physiologie zurückgegriffen. 41 In diesem psycho-physischen Wissen zeigt sich die Erkenntnis – die auch schon die Hermeneutik hatte –, dass Menschen sich individuell unterscheiden und ein Interface darauf Rücksicht nehmen muss. 42 Dieses Wissen und Verständnis vom jeweiligen User wird in Studien und Untersuchungen während des Konstruktionsprozesses in die Maschine integriert (rapid prototyping). Die Maschine wird, provokant gesagt, anthropologisiert. 43 Dabei ist eine zentrale Eigenschaft von Interfaces, dass sie die »sensomotorische Koordination« des Menschen sowie das »Reaktionsvermögen« des technischen Artefaktes zu einem »dynamisch geschlossenen System« vereinen. 44 In den Schnittstellen materialisiert sich dabei eine hermeneutische Verbindung zwischen Mensch und Technologie, die im Verstehensprozess aufeinander angewiesen sind. Der euphemistische Begriff, der häufig bei diesem Prozess Verwendung findet, ist Benutzerfreundlichkeit. In diesem Terminus deutet sich in seiner emphatischen Form (›Freundlichkeit‹) ein interaktives Verstehen sowie ein reibungsloser, fehlerfreier Gebrauch an. Moderne Technologie und ihre Schnittstellen scheinen eine Interaktion nicht nur einfacher zu generieren, sondern regen durch ihre Variabilität, Interaktivität sowie ihre multisensorische Involviertheit zum Gebrauch an (»Affordance«) und bereiten in diesem Gebrauch noch ›Freude‹. 45 Die Technik bietet damit einen emotionalen Aufforderungscharakter. Genau Shneiderman: User Interface Design, S. 44. Ebd., S. 31. 42 Scholtz spricht zurecht in seinem Abschnitt 5. des in diesem Band abgedruckten Textes von der »Individualität als Grenze des Verstehens«, da man oft zu wenig über den Autor, den man verstehen wollte, und seine Zeit, wusste. Was waren seine Erfahrungen? Seine individuellen Sprachverwendungen oder sein kulturelles und soziales Umfeld? Zu diesen Grenzen des Verstehens bzw. zur »Unverstehbarkeit« (u. a. der umfangreichen menschlichen »Existenz« samt Gefühlen und Erfahrungen) auch Kühne-Bertram im vorliegenden Band. 43 Ein Designer muss den User verstehen und auf ihn hinzuarbeiten: »Kenne deinen Benutzer« (Shneiderman: User Interface Design, S. 91). Diese Form eines selbstbezogenen Verstehens zeigt sich ebenfalls in der klassischen Hermeneutik, da sich der Mensch nach Kühne-Bertram in der geisteswissenschaftlichen Erkenntnis eigentlich immer selbst erkennt. 44 Krippendorff: Die semantische Wende, S. 111. 45 Ebd. 40 41

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diese Form einer positiv konnotierten ›Menschenbezogenheit‹ von Technologie konnte ihre gesellschaftliche sowie generationenübergreifende Verbreitung erst mitermöglichen. Konstitutiv für viele moderne technische Artefakte ist dabei, dass sie als Black-Box keinen Blick hinter oder in die Technologie (bspw. in die Hard- bzw. Software eines Computers oder Smartphones) bieten. Sie machen die Artefakte undurchsichtig, ermöglichen kein Verstehen, was in den Maschinen ›vor sich geht‹. Vielmehr wird eine bestimmte (auch emotional aufgeladene) Interaktion zugänglich gemacht, die sich nicht mehr in rein »funktionalen Details begreifen lässt.« 46 Wo in den 1970er Jahren meist nur ausgebildete Experten mit Großrechnern interagieren konnten, zeigt sich beim Übergang zur ›Informationsgesellschaft‹ die Gestaltung von Interfaces als »prototypischen Artefakt des postindustriellen Zeitalters« bedeutsam, da hierdurch »benutzerrelevant [e] Merkmale von Computern ohne Spezialausbildung visuell verständlich und handhabbar« gemacht wurden. 47 Pointiert: Auge und Hand des ›Durchschnittsmenschen‹ wurde es möglich, mit dem neuen technischen Artefakt umzugehen und diese damit, wie schon den Hammer oder die sinnfällige Maschine, in den eigenen Handlungskreis zu integrieren. Die moderne Schnittstelle definiert und annulliert demnach Differenzen, indem sie zwei Bereiche trennt und wieder verbindet. Sie stellt hierbei eine besondere Ausformung der technologischen Entwicklung dar, weil sie den Menschen weder schlicht prothetisch kompensiert (traditionelle Organprojektion der Technik, Mängelwesen) noch ihn einfach in der Maschine verschwinden lässt (trans- und posthumane Tendenzen). 48 Man sollte das Interface daher abstrakt als technologische Relation verstehen, die die Zugangsweise ermöglicht, wie Menschen mit Maschinen und vice versa umgehen, und Ebd. Ebd. Dazu auch Max Stadler: Der Geist des Users. Oder: Vom Ende des Bool’schen Traums. In: Nach Feierabend 2013, S. 55–78; Ders.: Der User. In: Alban Frei/Hannes Mangold (Hgg.): Das Personal der Postmoderne. Inventur einer Epoche. Bielefeld 2015, S. 75–90. Vgl. Weber, die davon spricht, dass vor 1970 eher Ergonomie und Arbeitswissenschaft sich mit der Problematik der Schnittstellen-Gestaltung systematisch beschäftigt hatten (mit dem Fokus auf Militär- und Weltraumtechniken). Erst seit den 1970er Jahren fanden auch Haushalts- und Unterhaltungsgeräte Berücksichtigung, »wobei vorerst Fragen der Bedienung durch körperlich Eingeschränkte und der Sicherheit im Vordergrund standen« (Weber: Stecken, Drehen, Drücken, S. 236). 48 Vgl. Felix Hüttemann/Kevin Liggieri (Hgg.): Die Grenze »Mensch«. Diskurse des Transhumanismus. Bielefeld (im Erscheinen). 46 47

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diese wie auch sich selbst definieren. Die ›definitio‹, die als ›Abgrenzung‹ lesbar ist, wird allerdings von der Schnittstelle evoziert wie subvertiert, womit die statisch gedachten Größen ›Mensch/Maschine‹ bzw. ›Subjekt/Objekt‹ ins Wanken geraten und ihre definitorische Zuschreibung nur in der prozessualen Relation des Interfaces besitzen. Nur in diesem fluiden Raum werden Mensch und Maschine zu Handlungsträgern sowie Subjekten der Interaktion. Die Frage nach Macht- und Handlungsverhältnissen stellt sich in dieser Konstellation neu, da durch das Interface einseitig dichotome Machtstrukturen aufgrund von Subjekt-Objekt-Auflösung zerfallen. In diesem Verständnis kann man dem Kommunikationswissenschaftler Flusser folgen, dass, »[w]o es kein Objekt gibt (und daher kein Subjekt), […] die Macht machtlos [ist].« 49 Gibt es somit eine Machtverlagerung in das ›Zwischenstadium‹ des Interfaces? Das Durchgangsstadium der Schnittstelle bleibt, wie erwähnt, als epistemisches Ding selbst nicht einsehbar für den Akteur, da hier etwas ›zwischen‹ (inter) zwei Systemkomponenten ›getan‹ (facere) wird, welches einer Black-Box anheimfällt. Die Technik verlagert sich immer mehr in ein nur schwer einsehbares Gehäuse. 50 Zur Erläuterung bemühe man hier ein anthropomorphes Bild: Das Interface ist ein Gesicht, welches sich uns auf dem ersten Blick zwar lesbar zeigt, am Ende aber – wie unser eigenes Gesicht – immer entzogen und unzugänglich ist. Denn »[…] gewisse Körperteile kann ich nur in eigentümlicher Verkürzung sehen, und andere (z. B. der Kopf) sind überhaupt für mich unsichtbar. Derselbe Leib, der mir als Mittel aller Wahrnehmungen dient, steht mir bei der Wahrnehmung seiner selbst im Wege und ist ein merkwürdig unvollkommen konstituiertes Ding.« 51 Auch das Interface ist für den User das »Mittel aller Wahrnehmungen«. 52 Es selbst jedoch invisibilisiert sich, löst sich als reines Vilém Flusser: Vom Subjekt zum Projekt. Frankfurt a. M. 1998, S. 145. Vgl. Weber: Stecken, Drehen, Drücken, S. 241, die dieses treffend am Beispiel des Radios und der Waschmaschine zeigt. 51 Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Zweites Buch. Hrsg. von Marly Biemel. Haag 1952, S. 159. 52 Diese Entwicklung setzte Weber zufolge ab den 1980er Jahren durch eine Miniaturisierung von Technik ein, so dass auch für die Designer ein benutzerfreundliches, evidentes Schnittstellendesign immer wichtiger wurde (Weber: Stecken, Drehen, Drücken, S. 236). Immer mehr Technik wurde demnach in die ästhetisierten Gehäuse gelegt und damit unsichtbar für den einfachen Bediener (ebd., S. 237). Dazu auch Bernhard E. Bürdek: Design. Geschichte, Theorie und Praxis der Produktgestaltung. Köln 1991, S. 304–305. 49 50

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Medium, Kanal und Übermittler auf. Es zeigt sich nur als Drittes, welches zwischen Mensch und Maschine scheinbar neutral Informationen prozessiert, an beiden Bereichen partizipiert und damit ›Dialoge‹ evoziert. Was meint hier aber Dialog? Wer versteht wen bzw. wer redet mit wen? Und wie verläuft dieses Verstehen? Wenn Dilthey in seiner deskriptiven Psychologie, davon spricht, dass wir die »Natur erklären« und »das Seelenleben verstehen«, 53 so scheint eine klare Aussage über den Dialog mit Blick auf eine Mensch-Maschine-Interaktion, welche durch ein Interface vermittelt ist, recht problematisch. Obwohl der Dialog mit der Maschine keine menschlichen Gesprächskompetenzen (als Form eines bestimmten über-rationalen, emotionalen Verständnisses) aufweist und auch auf Irritationen immer noch schwer reagieren kann (vgl. Turing-Test), scheint eine bestimmte Art des Dialoges dennoch möglich. Definiert man in diesem Sinne nach Lewandowski den Dialog als partnerbezogenes Gespräch, bei dem »thematisch« oder »situativ« bestimmte, »intentional gesteuerte« Äußerungen an ein Gegenüber gerichtet oder beantwortet werden, 54 so ist das Ziel des Dialoges nicht unbedingt nur die Reduktion von Komplexität oder Empathiebekundung, sondern auch die Wissenserweiterung. 55 Diese Wissenserweiterung kann im Austausch mit der Maschine oder aber vermittelt durch die Maschine erfolgen. Dabei muss für den reibungslosen Dialog (im Sinne eines gemeinsamen Codes und nicht grundlos als διάλογος / ein ›Fließen‹ von Nachrichten übersetzbar) der Mensch wie die Maschine aneinander angepasst werden. Nachrichten und Informationen müssen so codiert und decodiert werden, dass sie für Empfänger und Sender beidseitig lesbar werden. Damit ist das Interface metaphorisch vergleichbar mit dem Götterboten Hermes, der als mythologischer Nachrichtenübermittler die Beschlüsse von Zeus an die Menschen überbringt und übersetzt Dilthey: Gesammelte Schriften Bd. V: Die geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens, S. 144. 54 Thies Wittig: Der Dialog zwischen Mensch und Maschine. In: Wilfried Heindrichs/ Gerhard Charles Rump (Hgg.): Dialoge. Beiträge zur Interaktions- und Diskursanalyse. Hildesheim 1979, S. 86–98, hier: S. 92. Dazu genauer Theodor Lewandowski: Linguistisches Wörterbuch. Heidelberg 1972. 55 Auch für Dilthey war die »Wissenschaft der Hermeneutik« (Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften. Bd. XX, S. 107) ein »Teil der Erkenntnistheorie« (ebd., Bd. VI, S. 311), dazu Kühne-Bertrams Text im vorliegenden Band, Abschnitt 3. »Zur erkenntnistheoretischen Bedeutung des Verstehens«. 53

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aber auch stiehlt. 56 Hermes symbolisiert als Gott der Wege den heiligen Kanal zwischen unsterblichen Göttern und dem sterblichen Menschen. Schon hier erkennt man die problematische Aufgabe eines Datenverkehrs, der von zwei vollkommen unterschiedlichen Systemen ausgeht. Die übermittelten Botschaften sind folglich keine bloßen Mitteilungen, sondern erfordern Einsicht und Verständnis: Hermeneutik – klassisch verstanden als vermittelnde »Kunst« einen »andern richtig zu verstehen«. 57 Die Nachrichten müssen für die Gegenseite verständlich und lesbar gemacht werden. Das hermeneutische Interface ist folglich das (de-)codierbare Tableau, auf dem Information erst verstehbar gemacht wird. Kommunikation (lat. Communicatio: Mitteilung, aber noch mehr communicare: gemeinsam machen, vereinigen) als Verbindung, Zusammenhang oder Verständigung ist damit stets, wie schon das Interface, wechselseitig zu denken, da eine Wechselwirkung zwischen mindestens zwei Systemen (hier Mensch/ Maschine), die aktiv am Prozess beteiligt sind, stattfindet. Diesen menschlichen Anteil am Interface zu verstehen, bildet die Herausforderung eines Verstehens zweiter Ordnung, mit dem sich das Usercentered Design befasst. 58 Jede Information muss dabei für eine Übertragbarkeit oberhalb des »reinen Zufalls wie dem weißen Rauschen« 59 liegen und ist – nach der ›Mutter aller Informationstheorien‹ von Shannon/Weaver – das Entgegennehmen einer Nachricht von einem Sender, der den gleichen Zeichensatz zur Informationsübertragung benutzt wie der Empfänger. 60 Für eine gelungene Kommunikation muss auf beiden Seiten die Information sinnvoll eingeordnet und interpretiert werden. Die Basis hierfür liefert jedoch erst das akzeptable und zu akzeptierende Interface. Hermes ist der Dieb, der Gegenstände (hier: Informationen) verschwinden lassen kann. Für diesen Hinweis danke ich Käte Meyer-Drawe. 57 Friedrich Schleiermacher: Hermeneutik und Kritik (1838). In: Ders.: Hermeneutik und Kritik. Hrsg. von Manfred Frank. Frankfurt a. M. 1977, S. 69–306, hier: S. 75. Hermeneutik wurde nach Dilthey verstanden als die Kunst des »Verstehens und Auslegens« (Dilthey: Gesammelte Schriften, Bd. XIV, S. 330). Zur problematischen Beziehungen dieser beiden Termini bei Dilthey siehe Kühne-Bertram im vorliegenden Band. 58 Vgl. Krippendorff: Die semantische Wende, S. 114, 186. 59 Gilbert Simondon: Die Existenzweise technischer Objekte. Zürich 2012, S. 124. 60 Vgl. Claude Shannon: A Mathematical Theory of Communication. In: Reprinted with corrections from The Bell System Technical Journal 27 (1948), S. 379–423, S. 623–656. 56

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Die zentrale Frage, die schon seit dem Ende des 19. Jahrhunderts immer mehr in den Fokus rückt, bündelt sich besonders in der Sinnfälligkeit in den 1920er Jahren sowie in der (Software-)Ergonomie nach 1960: Wofür muss der Mensch, wofür die Maschine eingesetzt werden und wie gestaltet man die Schnittstelle im Gesamtsystem möglichst effektiv? Wie gelingt es, zwei scheinbar vollkommen unterschiedlichen Entitäten so miteinander zu kommunizieren, dass es zur optimalen Schnittstelle zwischen Effizienzsteigerung, Akzeptanz technischer Artefakte und Benutzungsfreundlichkeit kommt? Schaut man auf diese kommunikativen Hindernisse, die mit selbstregulierten und informationsverarbeitenden Maschinen aufkommen, so stellt sich die Frage nach einer gemeinsamen Sprache sowie nach Vereinbarkeiten zwischen Menschen und Maschinen verschärft. Der Kybernetiker Karl Steinbuch verwies mit Hinblick auf diese Problematik 1968 darauf, dass die »Grundlagen für das Zurechtfinden in der zukünftigen […] Welt«, »eine Erziehung [bietet], die auf Logik, Semantik und Kybernetik aufgebaut ist.« 61 Der Mensch müsse sich durch kybernetische Pädagogik auf die Maschine ›einstellen‹, um ihre Verfahrensweisen lesen und in einen reziproken Austausch mit ihr einsteigen zu können. Diese kybernetische Annahme, dass der Mensch sich als komplexe Funktionsmechanik nicht prinzipiell von Maschinen unterscheidet, wird in den 1960er Jahren, wie angedeutet, als problematisch oder zumindest verbesserungswürdig betrachtet. Der Mensch wird nicht mehr schlicht als Rechen- oder Denkmaschine gesehen, bei der Zahl und Organismus überlappen und damit eine Physiologie des Berechenbaren bilden. Es kann hier nicht weiter ausgeführt werden, dass Mechanisierung und Kybernetisierung, im Allgemeinen die technologisierte Steuerbarkeit des Menschen, im Hinblick auf eine reibungslose Integration in den ›Regelkreis‹ bei der veränderten Mensch-Maschine-Stellung defizitär bleiben musste. 62 Es sollte aber deutlich werden, dass das Interface im Unterschied zum materialistischen Blick der Kybernetik zwischen einer zu einseitigen Anpassung des Menschen an die Maschine und

Karl Steinbuch: Falsch programmiert. Über das Versagen unserer Gesellschaft in der Gegenwart und vor der Zukunft und was eigentlich geschehen müßte. Stuttgart 1968, S. 146. 62 Vgl. Michael Hagner/Erich Hörl: Überlegungen zur kybernetischen Transformation des Humanen. In: Dies. (Hgg.): Die Transformation des Humanen. Beiträge zur Kulturgeschichte der Kybernetik. Frankfurt a. M. 2008, S. 7–37. 61

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einer einseitigen Anpassung der Maschine an den Menschen agiert. 63 Damit ist das Interface als dritter, scheinbar externer Vermittler mehr in den epistemischen und praktischen Prozessen involviert, als es auf den ersten Blick scheint. Will man mit dem Philosoph Michael Serres argumentieren, so ist das Interface zusammengefasst eine Art Parasit, dessen anwesende Abwesenheit erst den Dialog möglich macht. Ähnlich wie der Parasit ist auch das Interface ein Mittler, den man notwendigerweise für jede technisch-vermittelte Intersubjektivität einschließt, um ihn auszuschließen: »Es gibt ein Drittes vor dem Zweiten; es gibt einen Dritten vor dem anderen. […] Ich muss durch eine Mitte hindurch bevor ich ans Ende gelange. Es gibt stets ein Medium, eine Mitte, ein Vermittelndes.« 64

3.

Bestmögliche Gestaltung von Schnittstellen

Das Interface wirkt im Verborgenen oder besser im Selbstverständlichen. 65 Dieser intuitiven Selbstverständlichkeit geht jedoch ein aufwändiger und komplexer Prozess voran, der die problematische Verbindung zwischen Mensch und Maschine einfach – und das meint in diesem Kontext natürlich – aussehen lassen will. Die scheinbare Unmöglichkeit (das Wunder), den Anderen zu verstehen, wird beim Mensch-Maschine-Dialog nochmals auf eine höhere Stufe gehoben, da hier zwei vollkommen unterschiedliche Systeme miteinander kommunizieren müssen. Diese Unmöglichkeit wird jedoch vom Interface nicht eingestanden. Vielmehr wird versucht, diese kommunikative Unmöglichkeit bestmöglich zu kompensieren, da eine Schnittstelle umso effizienter ist, je weniger sie auffällt. Diese Unauffälligkeit komplexer Technologie, mit der die Menschen umgehen, ohne sie zu verstehen, zeigt sich in der »alltägliche[n] Illusion«, durch Rainer Bernotat: Das Forschungsinstitut für Anthropotechnik – Aufgaben, Methoden und Entwicklung. In: Rainer Bernotat/Klaus-Peter Gärtner/Heino Widdel (Hgg.): Spektrum der Anthropotechnik. Beiträge zur Anpassung technischer Systeme an menschliche Leistungsbereiche. Meckenheim 1987, S. 7–21. 64 Michel Serres: Der Parasit. Die fünf Sinne. Eine Philosophie der Gemenge und Gemische. Frankfurt a. M. 1993, S. 97. 65 Zur Designleistung des ›Unsichtbar-machens‹ siehe Susanne König: Design als Störfaktor. In: Thomas Pöpper (Hgg.): Dinge im Kontext. Artefakt, Handhabung und Handlungsästhetik zwischen Mittelalter und Gegenwart. Berlin/Boston 2015, S. 118– 132. 63

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die der Mensch wie selbstverständlich mit seinen Artefakten interagiert: Funktion verläuft ohne Verständnis. 66 Um diese »Illusion« und Verborgenheit der Technik beizubehalten, greift der Konstrukteur auf reine (normierte) Daten des Benutzers zurück. Ergonomische Mensch-Maschine-Systeme werden daher zwischen einem Designer- und Anwender-Verstehen konzipiert, indem man Konzepte und Methoden benutzerzentriert entwickelt, diese prototypisch realisiert und sie unter Beteiligung der Nutzer in Feld- sowie Laborstudien evaluiert (vgl. Abb. 2).

Verstehen der Designer des Verstehens der Benutzer Bedeutungen beruft sich metonymisch auf

entfalten sich zu antizipieren

acht rurs

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n repa Disk

Wahrnehmung

st+n

fordert heraus

Unterbrechung

antizipieren Interface

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at

äußere Ursachen

Artefakt interne Dynamiken

Abb. 2: (Un-)unterbrochene Benutzerinterfaces im Verstehen des Designers, aus: Krippendorff: Die semantische Wende, S. 119. Markus Dahm: Grundlagen der Mensch-Computer-Interaktion. München 2006, S. 315. Zwar stammte schon für Dilthey, so Kühne-Bertram in ihrem Text im vorliegenden Band, das Verstehen aus den Anforderungen des »praktischen Lebens« (Dilthey: Gesammelte Schriften, Bd. VII, S. 207), Technik und der Umgang mit ihr ist aber in der Moderne zu einem und vielleicht dem wichtigsten Aspekt des »praktischen Lebens« geworden.

66

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Die zu entwickelnde und in modernen Geräten vorhandene Gebrauchstauglichkeit (Wahrnehmung, Handlung) muss, wie die Abbildung zeigt, in die Entwicklungsphase integriert werden, da sie nicht im Nachhinein hinzugefügt werden kann. Daher wird der antizipierte Anwender und sein »Verstehen« als Modell schon im Gestaltungsprozess einzubinden versucht. 67 Der Benutzer bleibt im Modus dieses rapid prototyping zwar scheinbar im Zentrum und arbeitet in zahlreichen Experimenten an der Entwicklung mit, ist jedoch praktisch nur in Form abstrakter Datenmenge vorhanden. Der Ingenieur Jeronimo Dzaack formuliert diese Herangehensweise in seiner Analyse kognitiver Benutzermodelle für die Evaluation von Mensch-Maschine-Systemen folgendermaßen: »Die Entwicklung und Gestaltung von Schnittstellen für Mensch-Maschine-Systeme erfordern, neben der Kenntnis der Aufgabe und der Arbeitsumgebung, auch eine Vorstellung über die kognitiven Anforderungen an zukünftige Benutzer. Ein Grund dafür liegt in der zunehmenden Informationsdichte und dem ansteigenden Automatisierungsgrad von technischen Systemen. Daraus ergibt sich die Frage, welche Art von Schnittstelle die kognitiven Prozesse bei der Interaktion am besten unterstützt und wie diese prospektiv gestaltet werden kann.« 68

Diese für Interface gebräuchliche Benutzermodellierung macht den Menschen auf der einen Seite für das Interface als Vermittler lesbar, somit in bestimmten Maße mit seiner psychophysischen Individualität berechenbar, auf der anderen Seite optimiert es aber auch die Interaktion mit der Maschine (als Eingabe durch bzw. Ausgabe an den Menschen), da die Maschine mögliche Optionen des Menschen eher voraussagen und analysieren bzw. sich dazu verhalten kann. In der Entwicklung von Mensch-Maschine-Interaktionen stellen folglich die Gestaltung, die Analyse sowie die Optimierung der Benutzungsoberflächen wichtige Aufgaben dar. Das Ziel hierbei ist eine adäquate Unterstützung der Entwicklungs- und Entscheidungsprozesse, da eine erhöhte Automatisierung sowie Komplexität technischer Systeme eine Verlagerung der HandVgl. EN ISO 13407: Benutzer-orientierte Gestaltung interaktiver Systeme. Die EN ISO 13407 wurde im November 2000 als DIN veröffentlicht. Ab Januar 2011 ist als Ersatz für diese Norm die EN ISO 9241–210 im Bereich Ergonomie in Kraft getreten. Der wichtige Aspekt einer Rationalisierung sowie Ökonomisierung des Interfaces kann in diesem Beitrag jedoch nicht explizit Betrachtung finden. 68 Jeronimo Dzaack: Analyse kognitiver Benutzermodelle für die Evaluation von Mensch-Maschine-Systemen. Dissertation. Düsseldorf 2008, S. III. 67

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lungsebene menschlicher Tätigkeiten zur Folge hat. In der Industrie modifizierte sich durch diesen Prozess das Werkzeug zum Denkzeug und der Operateur wurde im Diskurs einer ergonomischen Effektivität zum Überwacher und Vermittler, der nur noch in kritischen Fällen eingreift. Für genau diese kritischen Kausalitäten muss jedoch die Schnittstelle optimal gestaltet sein. In diesem Sinne stellen moderne Interfaces eine Vielzahl von graphischen Anzeigen und sinnfälligen Interaktionselementen zur Verfügung, die den User bei seiner Aufgabenbearbeitung unterstützen. Diese Unterstützung ist allerdings zweischneidig, da sie den Menschen zwar ergänzt, aber zugleich aus dem System mangels fehlendem Prozesswissen exkludiert (Out-ofthe-loop-Problem). Der User muss das technische Gerät nicht verstehen, um es zu bedienen. Die Aufgabe der Informationsverarbeitung und -sichtbarmachung stellt dazu noch hohe Anforderung an die menschliche Kognition, da der Mensch nur eine bestimmte Zahl unterschiedlicher Signale selektiv wahrnehmen und verarbeiten kann. Das Ermöglichen eines Verstehens und Aufnehmens (der Informationen) ist dabei die zentrale Aufgabe des Interfaces, welches Signale nach ihrer Wichtigkeit anordnen und ausgeben muss. Der menschliche Wahrnehmungsapparat (z. B. visuelle Informationsaufnahme und -verarbeitung) ist folglich stark vom Interface sowie dessen übersichtlicher Gestaltung abhängig. 69 Im Folgenden soll der Problemstellung entsprechend nur auf die zu gestaltenden Elemente des technischen Systems eingegangen werden, da diese im engeren Sinne die Interaktion zwischen Mensch und Maschine ermöglichen. Bei der humantechnischen Interaktion wird neben der übenden Anpassung, die der Mensch den Maschinen entgegenbringt, auch die Maschine auf die Berücksichtigung der menschlichen Leistungsfähigkeiten und -grenzen ›eingestellt‹. Dabei stellt die sichere und verlässliche Handhabung zentrale Faktoren dar. Die Schnittstelle und damit die Bedienelemente werden einem User-centered design unterstellt, wobei in der Entwicklung iterativ-inkrementell vorgegangen wird. Dieser Skeuomorphismus eines Usability Engineering der Geräte arbeitet u. a. mit Metaphern und Visualisierung zu bekannten lebensweltlichen Aktivitäten (bspw. am Computer: Schreibtisch-Metapher, Papierseite, Diskette als SpeicherVgl. zum Erfolg der Benutzeroberfläche Michael Friedewald: Die fortwährende Konstruktion des Computernutzers. Leitbilder in der Geschichte der Mensch-Computer-Interaktion. In: Technikgeschichte 70 (2003), S. 255–276, hier: S. 271.

69

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Symbol, etc.). 70 Durch diese Benutzbarkeit wird nicht nur die Handhabung des technischen Artefaktes einfacher, sicherer und zuverlässiger, auch die Akzeptanz und das menschliche Vertrauen in die Maschine wächst: Es entstehen adaptive Mensch-Maschine-Systeme.

4.

Asymmetrie und Medialisierung

Wissenschaftshistorisch betrachtet wurde der ›Mensch‹ meist noch in den 1950er Jahren mit seiner sensomotorischen Koordination als Regler von Anzeigen und Bedienelementen (Sinnfälligkeit) gedeutet. 71 In den 1970er Jahren kamen vermehrt Überwachungsfunktionen hinzu, die sich in den 1980er Jahren (auch durch die Fortschritte der Mikroelektronik und damit Miniaturisierung von Technik) zu einer Stellung als Dialogpartner bezüglich Schnittstellengestaltung, Dass das Gegenmodell eines Flach-Designs nicht so gut ankam, beweist die große Kritik am Windows-8-Design mit seinen flachen Kacheln. Die Kritik war so vehement, dass Windows wieder ihr altes sinnfälliges Design anbieten musste (vgl. dazu Richard Waters: Microsoft prepares rethink on Windows 8 flagship software. In: Financial Times, https://next.ft.com/content/330c8b8e-b66b-11e2–93ba-00144feabdc0 #axzz2SxQtAYte, 25. 07. 2017). Bob O’Donnell vom International Data Corporation formuliert das Problem des ›Neuen‹ und ›Unbekannten‹ treffend: »Einige Entscheidungen von Microsoft waren im Rückblick falsch – insbesondere die, das Booten im Desktop-Modus nicht anzubieten und den Start-Button wegzulassen. Diese beiden Punkte werden immer wieder erwähnt. Wir haben Nachforschungen angestellt – das fehlt den Leuten« (vgl. Florian Kalenda: Microsoft jammert über »extreme« Kritik an Windows 8, http://www.zdnet.de/88154643/microsoft-jammert-uber-extreme-kritik -an-windows-8/, 25. 07. 2017). Die Schreibtischmetapher und andere bekannte Assoziationen können aber auch als Problem für eine bessere Bedienungsentwicklung gesehen werden, da sich die User so sehr an diese alten Metaphern eines Schreibtischs etc. gewöhnt haben, dass sie nicht mehr offen sind für bessere Alternativen. Die Schreibtischmetapher, die eigentlich die Manager und Wissenschaftler ansprechen sollte, die keine Erfahrung mit dem PC, dafür aber mit dem Schreibtisch hatten, ist nun an User geraten, die ganz andere Berufsgruppen bilden. »Wie sich«, so Friedewald, »das Auto vom Vorbild der Kutsche lösten musste, um ein eigenes Profil zu gewinnen, muss sich die Mensch-Computer-Schnittstelle von dem anfangs hilfreichen, nun aber eher hemmenden Vorbild des Schreibtischs befreien« (Friedewald: Die fortwährende Konstruktion des Computernutzers, S. 272). Vgl. dazu auch Pratschke: Interaktion mit Bildern. Digitale Bildgeschichte am Beispiel grafischer Benutzeroberflächen, S. 73. 71 Vgl. Kevin Liggieri: Der Mensch in der technischen Umwelt. Ergonomische Konstruktionen des Fliegercockpits im Human Engineering der 1940–1960er Jahre. In: Julia Gruevska (Hg.): Studien zur Interdisziplinären Anthropologie. Themenheft: Körper und Räume. Berlin (im Erscheinen). 70

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Fehlervermeidung und Anforderungssimulation erweiterten. 72 Der Mensch, der mit der Maschine interagierte, hatte sich, wenn man dieses vereinfachte Schema vorerst beibehalten möchte, vom Handwerker, Regler über den Überwacher bis zum heutigen interaktiven Problemlöser und kognitiven Partner autonomer Agenten und semantischer Technologien ebenso verändert wie die Maschine. Dabei kam es durch die Miniaturisierung auch zu einer »Entsinnlichung zwischen der Betätigung eines Bedienelements […] und dessen Wirkungsweise.« 73 Wollte man in bestimmten Maße diese ›Sinnlichkeit‹ reintegrieren, musste sie nun über das Design der Schnittstelle laufen. Durch das Interface und dessen reibungslose Verbesserung der Mensch-Maschine-Schnittstelle sowie durch das (arbeits- und datenaufwendige) selbsterzeugte ›Verschwinden‹ dieses ›heiligen‹ Verbindungskanals als Medium kamen sich Mensch und Maschine notwendigerweise immer näher. Subjekt und Objekt wurden nicht nur durch das Interface bestmöglich verbunden, sie wurden immer mehr in ihren Handlungen voneinander abhängig. Folgt man Ernst Cassirers Ausführungen in Form und Technik (1930) so ist das Medium, die Ver-Mittlung, die zum Denken gehört, auch in der technischen Form vorhanden. Wenn so verstanden »[a]lles Denken […] seiner reinen logischen Form nach mittelbar [ist]« und damit »auf die Entdeckung und Gewinnung von Mittelgliedern angewiesen« zu sein scheint, 74 dann ist auch das Interface philosophisch bzw. erkenntnistheoretisch bedeutsam. 75 Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass bei der MenschMaschine-Interaktion die anthropologischen wie technischen Grenzen subvertiert werden und es zu hybriden Quasi-Objekten (Mensch-Maschine-Systemen) kommt. »Dieses Quasi-Objekt ist«, Vgl. zu diesen kurz anzitierten Gestaltungskriterien von Schnittstellen den Überblick über die Stationen der Mensch-Maschine-Schnittstellen, die von Sheridan gegeben werden (Thomas B. Sheridan: Supervisory control. In: Gavriel Salvendy (Hgg.): Handbook of human factors. New York 1997, S. 1295–1327). 73 Stefan Gauß: Photo-Audio-Video. in: Holger Luczak/Walter Volpert (Hgg.): Handbuch Arbeitswissenschaft. Stuttgart 1997, S. 1032–1036, hier: S. 1032, zit. nach Weber: Stecken, Drehen, Drücken, S. 248 ff. 74 Ernst Cassirer: Form und Technik. In: Ders.: Aufsätze und kleine Schriften (1927– 1931). Text und Anmerkungen bearbeitet von Tobias Berben. Hamburg 2004, S. 139– 183, hier: S. 158. 75 Ebd., S. 158: »Das Werkzeug erfüllt die gleiche Funktion […] in der gegenständlichen Sphäre: Es ist gleichsam der in gegenständlicher Anschauung, nicht im bloßen Denken erfaßte ›terminus medius‹« [Hervorhebung vom Autor]. 72

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folgt man Serres, »kein Objekt, und es ist dennoch eines, denn es ist kein Subjekt […]; es ist zugleich auch ein Quasi-Subjekt, weil es Subjekte markiert oder bezeichnet.« 76 Obwohl das vom Interface produzierte Mensch-Maschine-System in diesem ontologischen Zwischenstadium handelt, kommt es bei den technischen Quasi-Objekten nicht zu einer naiven Hybridisierung zwischen Mensch und Maschine, sondern eher zu einer Relation der Gleichheit und des reziproken Austauschs, wobei Mensch und Maschine als gleichwertige Handlungsaktanten (nicht Entitäten!) entworfen werden, denn, so eine Weisheit der Hermeneutik- und Kommunikations-Theorien, ›Gleiches wird durch Gleiches erkannt‹. 77 Mit immer effektiver und optimaler gestaltenden Interfaces vollzieht sich eine wortwörtliche Medialisierung im Zuge des Usability Engineering, da das Medium zwar die vorhandene Differenz zwischen den beiden konträren Akteuren (Mensch/Maschine) keineswegs einebnet, jedoch durch Anpassung und Gestaltung die Interaktion von beiden störungsfrei (scheinbar ›von selbst‹ und vielleicht sogar ›als Selbst‹) geschehen lässt. Damit wird keine Verschmelzung ermöglicht, sondern gerade die Herausstellung einer »asymmetrische[n] Beziehung zwischen der menschlichen Handlungskompetenz« (zielgerichtetes, kreatives, spontanes, nicht-lineares Denken und Handeln) und den technischen Artefakten, die zwar von Menschen hergestellt wurden, sich aber von ihnen existentiell unterscheiden. 78 Der ›menschliche Faktor‹ macht damit das Interface erst dynamisch – weil lebendig: »Es sind die Benutzer, die den Verlauf ihres Interfaces wesentlich bestimmen, während eine Maschine ihn nur ermöglichen, erschweren oder begrenzen kann.« 79 In der ausgeführten Analyse wurde das Interface als Medium beschrieben, welches Dinge »lesbar, hörbar, sichtbar, wahrnehmbar [macht], all das aber mit der Tendenz, sich selbst und [seine] konstitutive Beteiligung an diesen Sinnlichkeiten zu löschen und also gleichsam unwahrnehmbar, anästhetisch zu werden«. 80 Als dieses Medium verstanden, haben das Interface und die technischen sowie Serres: Der Parasit, S. 346. Vgl. dazu Scholtz im vorliegenden Band Abschnitt 4 »Wahrheit oder Autorintention?«. 78 Krippendorff: Die semantische Wende, S. 114. 79 Ebd., S. 114. 80 Claus Pias u. a. (Hgg.): Kursbuch Medienkultur. Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard. Stuttgart 2000, S. 10. 76 77

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menschlichen Systeme, die an ihm partizipieren, nicht allein eine »technische Aufgabe«, sondern ebenso eine »soziale Beziehung«, da die »Systementwickler die Bedingungen setzen, unter denen die Benutzer zu handeln haben« – wie Peter Brödner in der Zeitschrift Wechselwirkung schon 1987 herausstellte. 81 Durch ermöglichte Effektivität und Effizienz stellt sich beim User Zufriedenheit und damit Akzeptanz (Identifikation mit dem Objekt, Abbau von ›Fremdheit‹ des technischen Artefaktes) ein. Folglich wird durch Usability Engineering das technische Objekt nicht mehr als Fremdheit und Andersheit wahrgenommen und bekommt neben seinem Aktantenstatus (als Handlungsträger) auch noch Subjektstatus (als Emotionsträger) zugesprochen. 82 In diesem Sinne nähert sich das Mensch-MaschineVerstehen einem – nach Dilthey verstandenen – »Wiederfinden des Ich im Du« 83 zumindest an, da technische Artefakte in bestimmter Weise auch unsere Gefühle betreffen. 84

5.

Das Interface als hermeneutisches Symbol

Das Interface als »andauernde und sich intrinsisch motivierende Interaktio[n] zwischen Menschen und ihren Artefakten« kann, wie die vorliegende Untersuchung dargestellt hat, als Medium, Mitte und Vermittler beschrieben werden, welcher in einem Zwischenraum agiert.« 85 Dabei lässt es nicht nur einfach Informationen durch, sondern über-bringt diese hermeneutisch, wodurch sich die übermittelten Signale transformieren. Das Interface selbst ist kein passiver

Peter Brödner: Technik. Sachzwang oder Gestaltungsgegenstand. In: Wechselwirkung 35 (1987), S. 7–11, hier: S. 9. Dazu auch Hubig: Kunst des Möglichen. Bd. II, S. 210–211. 82 Vgl. Rahel Ziethen: Glaube, Hoffnung, Apple … – Über die Ästhetisierung von Benutzeroberflächen und die Bereitschaft, seinen Computer zu lieben. In: Jan Röhnert (Hgg.): Technische Beschleunigung – Ästhetische Verlangsamung? Köln 2015, S. 101–120. 83 Dilthey: Gesammelte Schriften, Bd. VII, S. 191. 84 Vgl. hierzu Meyer-Drawe: »Mein Leib als Schildwache.« Merleau-Pontys Kritik am kybernetischen Mythos, S. 230; wie auch Philipp Zitzlsperger: Das Kraftwerk der Dinge. Vom Verhältnis zwischen Mensch und Artefakt. In: Thomas Pöpper (Hgg.): Dinge im Kontext. Artefakt, Handhabung und Handlungsästhetik zwischen Mittelalter und Gegenwart. Berlin/Boston 2015, S. 57–72, hier: 57 85 Krippendorff: Die semantische Wende, S. 112. 81

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Verstehen und Gestalten

Durchgang/Oberfläche, sondern im etymologischen Sinne als ›Hinführer‹ produktiv: Es ist ein »fruchtbare[r] Nexus.« 86 Für einen Rückbezug zum Anfang könnte man konstatieren, dass die klassische Technikphilosophie ebendeswegen das Interface außer Acht ließ und damit eher auf die Metaebene einer Technik-ansich oder aber auf Techniken (wie Computer, Smartphone, etc.) fokussierte, weil das Interface sich (von seiner Funktion her) entziehen musste. »Die Tücke des Objekts« liegt somit weniger darin, dass es sich uns offensiv verweigert, als mehr darin, dass der Blick der Reflexion durch gute Schnittstellengestaltung bewusst vom ›Dazwischen‹ abgelenkt wird. 87 Denn das Interface bietet durch ein benutzerfreundliches Design eine vertraute – nicht mehr ›un-heimliche‹ – Oberfläche an. »Ein benutzerfreundlicher Computer läßt mich vergessen, daß ich es mit einem Rechner zu tun habe; sein InterfaceDesign schirmt mich ab gegen die Technologie des Digitalen.« 88 Obwohl Bolz zurecht fragt, ob es sich hier um ein Verstehen oder ein Funktionieren handelt, muss man die Begriffe wie ›Funktion/Gebrauch‹ und ›Verstehen‹ (und damit nach Dilthey auch Natur- und Geisteswissenschaft 89) vielleicht weiter und weniger als Gegensatzpaare fassen, wenn man über Mensch-Maschine-Kommunikation spricht: Understanding is doing. Wie weit diese perfekt gestaltete Schnittstelle nun negativ konnotiert eine »Vertrautheitsselbsttäuschung« 90 oder doch das hermeneutische Medium zur Verständigung mit etwas ›Fremden‹ ist, bleibt oft der Kompetenz des jeweiligen Users sowie der sinnfälligem Konstruktion überlassen. Um am Ende nochmals den Gedanken des Kulturwissenschaftlers Hookways aufzugreifen, kann man formulieren, dass auf der einen Seite die autonome Benutzung eines Interfaces gleichbedeutend mit der Partizipation an Kultur ist, da Schnittstellen eben unseFrançois Dagonet: Faces, Surfaces, Interfaces. Paris 1982, S. 49. Vgl. zum Terminus »Tücke des Objekts« Friedrich Theodor Vischer: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft (1879). In: Friedrich Theodor Fischer: Dichterische Werke. 5. Bd. Leipzig 1917, Bd. 1, S. 23. 88 Norbert Bolz: Das ABC der Medien. München 2007, S. 108. 89 Dilthey selbst sah, so Kühne-Bertram, damit Verstehen (Geisteswissenschaft) und Erkennen (Naturwissenschaft) anders als sein Schüler Georg Misch nicht als totale Gegensätze. Vielmehr orientierte er sich am wissenschaftlichen Erkennen. So war bei ihm »das Verstehen […] auf dem Weg zum Erkennen« (vgl. Kühne-Bertram im vorliegenden Band Abschnitt 3. »Zur erkenntnistheoretischen Bedeutung des Verstehens«, dazu auch Irrgang im vorliegenden Band). 90 Helmut Schelsky: Auf der Suche nach Wirklichkeit. Düsseldorf 1965, S. 400. 86 87

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Kevin Liggieri

ren Umgang mit Technik prägen. 91 Auf der anderen Seite allerdings ist das User-Subjekt immer auch Unter-Worfenes (subicere). Es ist abhängig vom Output der Benutzeroberfläche, die das Interface ihm bereitstellt. Damit ist das Interface jedoch nicht einfach ein Objekt, sondern ein Effekt: Die Relation geht den Entitäten voraus. Der User erfährt seine Subjektivierung erst durch diesen prozessualen Effekt eines Hindurch-Schreitens und Benutzens. Erst hierdurch wird er User und Akteur. Wir haben es beim Interface nicht mit einem harmlos neutralen Mittler zu tun, sondern selbst mit einem verborgenen Agenten, der Sinn stiftet und so die Bedingung der Möglichkeit von Kommunikation zwischen zwei unterschiedlichen Systemkomponenten generiert. Wenn »Symbol« vom griechischen »symballein« »zusammenbringen, zusammentragen, vergleichen« stammt und somit auch Getrenntes miteinander in eine Interaktion stellt, dann bildet das Interface ein zentrales Symbol der modernen Informationsgesellschaft.

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Vgl. Weber: Stecken, Drehen, Drücken, S. 234.

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Christina Brandt, Prof. Dr., studierte Biologie und Germanistik in Göttingen. 2002 Promotion im Fach Wissenschaftsgeschichte an der TU Braunschweig. Von 2001 bis 2003 war sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Literaturforschung in Berlin im Forschungsprojekt »Literaturforschung und die Geschichte des Wissens und der Wissenschaften« tätig. 2003–2010 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin und Forschungsgruppenleiterin am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin und arbeitete zur Geschichte der Biologie im 20. Jahrhundert. Seit 2011 Professorin für »Geschichte der Lebenswissenschaften und philosophische Anthropologie« am Institut für Philosophie I und »Centre for Anthropological Knowledge in Scientific and Technological Cultures« (CAST), Ruhr-Universität Bochum. Felix Hüttemann, M.A., studierte Germanistik und Philosophie an der Ruhr-Universität Bochum und schloss seinen Master of Arts im Winter 2013/14 ab. Von Oktober 2014 bis Oktober 2016 war er Doktorand und Stipendiat der Mercator Research Group 2 »Spaces of Anthropological Knowledge«, Ruhr Universität Bochum. Seit Oktober 2016 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter (Promotion) am DFG-Graduiertenkolleg »Das Dokumentarische. Exzess und Entzug«, Ruhr-Universität Bochum. In seinem Promotionsprojekt forscht er zum Thema des Dandys und dessen Medienformierungen. Im Vordergrund steht dabei die Betrachtung des Dandyismus als medienästhetischen Komplex zur Analyse smarter Technologie. Selin Gerlek, M.A., Studium der Philosophie und Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft. Abschlussarbeit: Gilles Deleuze: Ethik und Werden. Seit 2013 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Philosophie an der FernUniversität in Hagen. Die Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich Phänomenologie, französi333 https://doi.org/10.5771/9783495817650 .

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sche und deutsche Philosophie des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart, Philosophische Anthropologie, Praktische Philosophie, insbesondere Sozial- philosophie und Ethik. Julia Gruevska, M.A., Studium der Philosophie, Germanistik und Theaterwissenschaft an der Bergischen Universität Wuppertal (B.A.) und der Ruhr-Universität Bochum (M.A.). Allgemeines Forschungsinteresse gilt dem Begriff des Lebens im Bereich Philosophie, Psychologie und Physiologie im ausgehenden 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts; philosophische Anthropologie mit explizitem Blick auf den Einfluss praktischer Experimente auf den philosophischen sowie psychologischen Diskurs und vice versa (v. a. im Umkreis Frederik Buytendijks). Besonderes Interesse kommt dabei der wissenschaftshistorischen wie -politischen Aufarbeitung von (inter)nationalen und (inter)disziplinären Denk-, Personen- und Wissenschaftsnetzwerken in den 1920er und 1930er Jahren zu. Bernhard Irrgang, Prof. Dr., Studium der Philosophie, katholischen Theologie, Germanistik und Indologie Universität Würzburg. Seit 1993 ist er Professor für Technikphilosophie an der TU Dresden. Er lehrt Technikphilosophie, Technikethik und angewandte Ethik. Seine internationale Lehre erfolgt mit Schwerpunkten in Süd-, Südost und Ostasien, Südamerika und den USA über Kulturtheorie der Technik, Technologie- und Kulturtransfer, Technoscience und Technoresearch, hypermoderne Technologie, Neurophilosophie und Anthropologie; Grenzfragen Biologie/Philosophie. Gudrun Kühne-Bertram, Dr., 1971–1974 Studium an der Pädagogischen Hochschule in Göttingen; 1974 Erste Lehrerprüfung; 1977 Zweite Lehrerprüfung; 1977–1982 Studium der Philosophie, Pädagogik und ev. Theologie an der Ruhr-Universität Bochum; 1982 Magisterprüfung; 1982–1985 Stipendiatin der Stiftung Volkswagenwerk; Promotion mit einer Arbeit über die Geschichte der Lebensphilosophie, Bochum 1986; langjährige Mitarbeiterin der Bochumer Dilthey-Forschungsstelle. Ihre Forschungen konzentrieren sich auf die lebenshermeneutischen Theorien des Wissens von Dilthey, Misch und Graf Paul Yorck von Wartenburg. Zahlreiche einschlägige Publikationen und Editionen.

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Hans-Ulrich Lessing, apl. Prof. Dr., Studium der Fächer Philosophie, Sozialwissenschaft und Germanistik an der Ruhr-Universität Bochum; 1981 Promotion mit einer Arbeit zur »Idee einer Kritik der historischen Vernunft. Wilhelm Diltheys erkenntnistheoretisch-logischmethodologische Grundlegung der Geisteswissenschaften«; 1995 Habilitation zum Thema »Hermeneutik der Sinne. Eine Untersuchung zu Helmuth Plessners Projekt einer ›Ästhesiologie des Geistes‹«. Seit 2001 apl. Professor an der Ruhr-Universität Bochum, Dilthey-Forschungsstelle, im Institut für Philosophie I. Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich Philosophische Anthropologie (insbes. Plessner), Kulturphilosophie, hermeneutische Philosophie, Philosophie der Geisteswissenschaften (insbes. Dilthey). Kevin Liggieri, Dr., studierte Germanistik und Philosophie an der Ruhr-Universität Bochum und schloss seinen Master of Arts im Sommer 2013 ab. In seinem Promotionsprojekt beschäftigte sich Kevin Liggieri mit Optimierungen der Episteme »Mensch« im Zeitraum des frühen bis mittleren 20. Jahrhunderts. Leitgedanke hierbei ist die Begrifflichkeit der »Anthropotechnik« in Kultur- sowie Biowissenschaften. Forschungsinteressen sind Wissenschafts- und Technikgeschichte, Technikphilosophie, Begriffsgeschichte und Theorie der Anthropotechnik, Philosophische Anthropologie, Kulturphilosophie. Käte Meyer-Drawe, Prof. (i. R.), 1. und 2. Staatsexamen für das Lehramt an Grund- und Hauptschulen. Promotion in Bielefeld (1977); Habilitation in Bochum (1983). Von 1984 bis 2014 Professorin für Allgemeine Pädagogik am Institut für Erziehungswissenschaft der Ruhr-Universität Bochum. Ordentliches Mitglied der NordrheinWestfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste. Wissenschaftliche Schwerpunkte in Forschung und Lehre: Selbst- und Weltdeutungen unter dem Einfluss moderner Technologien; Maschinenbilder in der Pädagogik; die Bedeutung der Leiblichkeit für Bildung, Erziehung und Lernen; Comeniologische Studien; Erarbeitung eines zeitgemäßen Subjektkonzepts; eine pädagogische Theorie des Lernens.

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Sabine Ohlenbusch, Dr. des., schloss Ende 2010 ihren Master of Arts in Neuerer deutscher Literatur nach Studien in Kulturwissenschaften und Literaturwissenschaft in Hildesheim, Marseille und Berlin ab. Von 2011 bis 2017 arbeitete sie in der Mercator Forschergruppe »Räume anthropologischen Wissens« an ihrem Promotionsprojekt zu den kasuistischen Schreibpraktiken Richard von Krafft-Ebings in dessen Nachlass, Lehrbüchern und Gutachten. Ihre Forschungsinteressen umfassen Wissen und Literatur, Wissenschaftsgeschichte, Kategorienbildung der klinischen Psychiatrie sowie Literaturtheorie. Tobias Schlicht, Prof. Dr., Studium der Philosophie, Germanistik und Geschichte; 2005 Promotion in Köln. Von 2010 bis 2014 Junior-Professor für Philosophie, mit dem Fokus auf Bewusstsein und Kognition, sowie Leiter der Nachwuchsforschergruppe für Intentionalität. Seit 2014 Lichtenberg-Professor an der Ruhr-Universität Bochum. Forschungsschwerpunkte Bewusstsein, Situierte Kognition, Soziale Kognition sowie Kants theoretische Philosophie. Gunter Scholtz, Prof. em. Dr., Studium der Philosophie, Germanistik, Ev. Theologie u. a. an den Universitäten Münster und Tübingen. Erste Philologische Staatsprüfung: Münster 1968, Promotion: Münster 1970, Habilitation: Bochum 1979; seit 1991 Professur für »Geschichte und Theorie der Geisteswissenschaften« (Stiftungsprofessur, Startfinanzierung: VW-Stiftung), Ruhr-Universität Bochum. Seine Forschungen gelten den Geisteswissenschaften sowie der Geschichts-, Religions- und Kunstphilosophie. Ein weiterer Schwerpunkt seiner Arbeit ist die Begriffsgeschichte. Volker Steenblock, Prof. Dr., Studium der Philosophie, Geschichte und Germanistik, Erstes (1984) und Zweites Staatsexamen (1987), Promotion (1990), Habilitation (1997). Seit 2004 Professor für Philosophie unter besonderer Berücksichtigung der Philosophiedidaktik und der Kulturphilosophie an der Ruhr-Universität Bochum. Arbeitsund Interessenschwerpunkte u. a. Kulturphilosophie und verwandte Bereiche (Theorie der Geisteswissenschaften, Geschichtsphilosophie; vgl. auch Dilthey-Forschungsstelle); Philosophie der Bildung; Philosophiedidaktik.

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