Konfession und Konflikt: Religiöse Pluralisierung in Sachsen im 18. und 19. Jahrhundert 3402129442, 9783402129449

Die Konversion des Kurfürsten Friedrich Augusts I. – besser bekannt als August der Starke – zum Katholizismus 1697 war d

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German Pages 344 Year 2012

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Title
Inhalt
Vorwort
Ulrich Rosseaux / Gerhard Poppe: Einleitung
I. Rahmenbedingungen und Konfliktfelder im 18. Jahrhundert
Gerd Schwerhoff: Konfessionskonflikte um 1700 zwischen instrumenteller Religionspolitik und konfessioneller Mobilisierung
Dagmar Freist: Religionssicherheiten und Gefahren für das „Seelenheil“
Mathis Leibetseder: Betrübtes Dresden – wütendes Dresden. Konfessionelle Identität und städtischer Konflikt in der kursächsischen Residenzstadt (1726)
Lutz Bannert: Protestanten im Zwist. Die Herrnhuter Brüdergemeine und die konfessionelle Ordnung der Oberlausitz 1722–1765
Stefan Dornheim: Stabilität durch Tradition? Der lutherische Pfarrstand in Sachsen zwischen Einheit und Differenz
II. Konfessionelle Pluralisierung und Kultur
Gerhard Poppe: Repräsentation und Kontemplation. Gottesdienstliches Leben am sächsischen Hof im 18. und frühen 19. Jahrhundert
Kornél Magvas: Franz Benda (1709–1786) und Johann Gottlieb Naumann (1741–1801). Zwei protestantische Musiker im Dienste des sächsischen Hofes
Ulrich Rosseaux: Der Kampf der Steine. Die Frauenkirche und die katholische Hofkirche in Dresden
III. Vergleichsebenen
Frank Metasch: Zwischen Freiwilligkeit und Zwang – konfessioneller Pluralismus in Schlesien
Klaus Wolf: Zwischen Konkurrenzdruck und Konfliktgefahr. Reichsstädtische Konfessionspolitiken im Zeitalter der Aufklärung
Alois Schmid: „Pietas Bavarica“. Hof und Kirche im Kurfürstentum Bayern
IV. Rahmenbedingungen und Konfliktfelder im 19. Jahrhundert
Winfried Müller: Nach der Aufklärung – die These vom 19. Jahrhundert als zweitem konfessionellen Zeitalter
Josef Matzerath: Hof und Konfession
Stefan Gerber: „Jesuitische Umtriebe“. Tradition und Aktualität eines konfessionellen Topos im Sachsen des 19. Jahrhunderts
Wolfgang Flügel: Lutherische Urängste im Königreich Sachsen zwischen Wiener Kongress und Verfassung
Silke Marburg: Johann der Ultramontane und Johann der Kirchliche. Das konfessionelle Image eines Fürsten der katholischen Diaspora im 19. Jahrhundert
Swen Steinberg: Zwischen Konflikt und Konsens. Christliche Gemeinsinnsvorstellungen in sächsischen Unternehmenskonzepten des 19. Jahrhunderts
Die Autorinnen und Autoren
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Konfession und Konflikt: Religiöse Pluralisierung in Sachsen im 18. und 19. Jahrhundert
 3402129442, 9783402129449

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Die Beiträge behandeln die mit diesen Problemen einher gehenden Fragen ebenso wie die kulturellen Aspekte der religiösen Pluralisierung in Sachsen im 18. und 19. Jahrhundert. Sie setzen dabei in dreierlei Hinsicht neue Akzente: Erstens wird ein in der sächsischen Landesgeschichte vernachlässigtes Thema erstmals systematisch in den Blick genommen. Zweitens eröffnen die Beiträge neue Perspektiven auf die Epoche als Ganzes: Gilt doch das 18. Jahrhundert als Zeit einer aufgeklärten Toleranz, in dem konfessionskulturelle Konflikte kaum noch eine Rolle spielten, und auch für das 19. Jahrhundert ist die gesellschaftliche Bedeutung des Religiösen in der Geschichtswissenschaft durchaus umstritten. Drittens schließlich bietet die Analyse der historischen Konflikte zwischen einer dominierenden Mehrheitsgesellschaft und einer durch konfessionskulturelle Andersartigkeit definierten Minderheit Anknüpfungspunkte an soziale Auseinandersetzungen der Gegenwart. Insofern sind die in diesem Buch versammelten Studien nicht nur als geschichtswissenschaftliche Untersuchungen zu verstehen, sondern auch als Beiträge zu einer historisch fundierten Analyse kulturell-religiöser Minderheitenkonflikte.

ISBN 978-3-402-12944-9

Rosseaux/Poppe (Hg.) Konfession und Konflikt

Die Konversion des Kurfürsten Friedrich Augusts I. – besser bekannt als „August der Starke“ – zum Katholizismus 1697 war der Auftakt für einen langfristigen religiösen Pluralisierungsprozess in Sachsen. Im Laufe des 18. Jahrhunderts entstand eine vor allem in den beiden städtischen Zentren Dresden und Leipzig wahrnehmbare katholische Minderheit. Sachsen wurde somit zum Schauplatz eines in dieser Form einzigartigen gesellschaftlichen Experiments: Eine seit der Reformationszeit – also seit mehr als 150 Jahren – lutherisch durchkonfessionalisierte, religiös homogene Bevölkerung wurde mit der Wiederkehr des überwunden geglaubten konfessionellen Widerparts konfrontiert. Dies verursachte zahlreiche Probleme: Der rechtliche Status der Katholiken blieb lange heftig umstritten, Konversionen zum Katholizismus bzw. die auf lutherischer Seite weit verbreitete Angst davor erregten die Gemüter. Hinzu kamen ungeklärte Fragen bei Eheschließungen, Taufen und Begräbnissen, die in eine Vielzahl von Alltagskonflikten mündeten.

Ulrich Rosseaux/Gerhard Poppe (Hg.)

Konfession und Konflikt Religiöse Pluralisierung in Sachsen im 18. und 19. Jahrhundert

Rosseaux/Poppe (Hg.) Konfession und Konflikt

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Ulrich Rosseaux Gerhard Poppe (Hg.)

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Gefördert mit den Mitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft im Rahmen des Sonderforschungsbereichs 804 „Transzendenz und Gemeinsinn“ der Technischen Universität Dresden.

© 2012 Aschendorff Verlag GmbH & Co. KG, Münster Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf fotomechanischem oder ähnlichem Wege und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Die Vergütungsansprüche des § 54, Abs. 2, UrhG werden durch die Verwertungsgesellschaft Wort wahrgenommen. Druck: Aschendorff Druckzentrum GmbH & Co. KG, Münster

Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier ISBN 978-3-402-12944-9

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Inhalt

Vorwort ....................................................................................................................

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Ulrich Rosseaux/Gerhard Poppe Einleitung .................................................................................................................

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I.

Rahmenbedingungen und Konfliktfelder im 18. Jahrhundert

Gerd Schwerhoff Konfessionskonflikte um 1700 zwischen instrumenteller Religionspolitik und konfessioneller Mobilisierung ........................................................................

17

Dagmar Freist Religionssicherheiten und Gefahren für das „Seelenheil“ Religiös-politische Befindlichkeiten in Kursachsen seit dem Übertritt Augusts des Starken zum Katholizismus ................................

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Mathis Leibetseder Betrübtes Dresden – wütendes Dresden Konfessionelle Identität und städtischer Konflikt in der kursächsischen Residenzstadt (1726) ............................................

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Lutz Bannert Protestanten im Zwist Die Herrnhuter Brüdergemeine und die konfessionelle Ordnung der Oberlausitz 1722–1765 ....................................................................

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Stefan Dornheim Stabilität durch Tradition? Der lutherische Pfarrstand in Sachsen zwischen Einheit und Differenz ............ 107

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Inhalt

II. Konfessionelle Pluralisierung und Kultur Gerhard Poppe Repräsentation und Kontemplation Gottesdienstliches Leben am sächsischen Hof im 18. und frühen 19. Jahrhundert ........................................................................ 127 Kornèl Magvas Franz Benda (1709–1786) und Johann Gottlieb Naumann (1741–1801) Zwei protestantische Musiker im Dienste des sächsischen Hofes ......................... 141 Ulrich Rosseaux Der Kampf der Steine Die Frauenkirche und die katholische Hofkirche in Dresden ............................. 153

III. Vergleichsebenen Frank Metasch Zwischen Freiwilligkeit und Zwang – konfessioneller Pluralismus in Schlesien ............................................................... 167 Klaus Wolf Zwischen Konkurrenzdruck und Konfliktgefahr Reichsstädtische Konfessionspolitiken im Zeitalter der Aufklärung .................... 185 Alois Schmid „Pietas Bavarica“ Hof und Kirche im Kurfürstentum Bayern ........................................................... 205

IV. Rahmenbedingungen und Konfliktfelder im 19. Jahrhundert Winfried Müller Nach der Aufklärung – die These vom 19. Jahrhundert als zweitem konfessionellen Zeitalter .................................................................... 221

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Inhalt

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Josef Matzerath Hof und Konfession ............................................................................................... 233 Stefan Gerber „Jesuitische Umtriebe“ Tradition und Aktualität eines konfessionellen Topos im Sachsen des 19. Jahrhunderts ............................................................................. 251 Wolfgang Flügel Lutherische Urängste im Königreich Sachsen zwischen Wiener Kongress und Verfassung ......................................................... 273 Silke Marburg Johann der Ultramontane und Johann der Kirchliche Das konfessionelle Image eines Fürsten der katholischen Diaspora im 19. Jahrhundert ..................................................... 303 Swen Steinberg Zwischen Konflikt und Konsens Christliche Gemeinsinnsvorstellungen in sächsischen Unternehmenskonzepten des 19. Jahrhunderts ................................. 327

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Vorwort Der vorliegende Sammelband präsentiert die Beiträge der Tagung „Konfession und Konflikt. Religiöse Pluralisierung in Sachsen im 18. und 19. Jahrhundert“, die vom 11. bis 13. März 2010 in Dresden stattgefunden hat und als Kooperationsprojekt zwischen dem Teilprojekt G „Gemeinsinnsdiskurse und religiöse Prägung zwischen Spätaufklärung und Vormärz (ca. 1770 bis ca. 1848)“ des Sonderforschungsbereichs 804 „Transzendenz und Gemeinsinn“ an der Technischen Universität Dresden und der Katholischen Akademie des Bistums Dresden-Meißen entwickelt und im Haus der Kathedrale durchgeführt wurde. Hinzu kommt mit dem Text von Frank Metasch ein Aufsatz, der nachträglich eingeworben werden konnte. In einer Stadt wie Dresden, in der konfessionelle Unterschiede nicht nur bis heute in den Alltag hinein spürbar sind, sondern in Gestalt der verschiedenen Kirchen auch das Stadtbild prägen, war abzusehen, daß sich das Interesse an dieser Tagung nicht auf Fachhistoriker beschränken würde. Tatsächlich folgte ein größeres kultur- und kirchenhistorisch interessiertes Auditorium den Ausführungen der Referenten an einem ausgesprochen geschichtsträchtigen Ort. Auch von seiten der Kirchenleitungen fand diese Tagung Beachtung. Der Bischof des Bistums Dresden-Meißen, Joachim Reinelt, begrüßte als Hausherr zu Beginn Referenten und Zuhörer, während Oberlandeskirchenrat Dr. Christoph Münchow als Vertreter der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Sachsens in seinem Grußwort daran erinnerte, daß im zweiten Stock des ehemaligen Kanzleihauses einst das (evangelisch-lutherische) Oberkonsistorium seinen Sitz hatte. Auch der Rektor der Technischen Universität Dresden, Prof. Hermann Kokenge, war bei der Eröffnung anwesend und sprach ein Grußwort. Zum Gesamtrahmen der Tagung gehörte auch ein öffentlicher Vortrag von Staatsminister a. D. Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Hans Maier (München) am Abend des ersten Tages zum Thema „Hast du das richtige Gesangbuch? Die Konfession in der deutschen Verfassungsgeschichte“. Ein besonders intensives Beispiel für die kulturelle Bedeutung konfessioneller Unterschiede bot schließlich ein Konzert am Abend des zweiten Tages in der Dreikönigskirche, dessen Programmkonzept direkt im Zusammenhang mit der Tagung entstanden war. Angesichts der Tatsache, daß sich in Dresden im 18. Jahrhundert katholische und protestantische Kirchenmusik auf überaus hohem Niveau so direkt wie kaum in einer anderen europäischen Stadt gegenüberstanden, kamen Werke dieser Zeit sowohl aus dem Repertoire der Katholischen Hofkirche als auch aus den protestantischen Kirchen der Altstadt zur Aufführung. Es erklangen – gemäß der Kirchenjahreszeit der Tagung – von den Hofkapellmeistern Johann Adolf Hasse (1699-1783) das Miserere c-moll, von Johann Gottlieb Naumann (1741-1801) das Miserere Es-Dur, von Joseph Schuster (1748-1812) das Stabat Mater sowie von dem Kantor der Kreuzschule Gottfried August Homilius (1714-1785) die Kantaten zum Sonntag Septuagesimae Vergebliche Rechnung gewinnsüchtger Knechte HoWV II. 44 und zum Sonntag Reminiscere Ich bitte, mir wird nichts gegeben HoWV II.56. Bei den zuletzt genannten Werken handelte es

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Vorwort

sich um die ersten Wiederaufführungen in neuerer Zeit. Namhafte Solisten musizierten gemeinsam mit dem Sächsischen Vocalensemble und dem Dresdner Barockorchester unter Leitung von Matthias Jung. Für ihre Unterstützung bei der Vorbereitung und Durchführung sei in diesem Zusammenhang dem Sprecher des SFB 804, Herrn Professor Hans Vorländer, dem Leiter des Teilprojekte G, Herrn Prof. Dr. Winfried Müller, und dem Direktor der Katholischen Akademie, Pater Clemens Maaß SJ, sehr herzlich gedankt. Ein besonderer Dank gilt den Musikern, aber auch Herrn Dr Uwe Wolf für die Herstellung des Aufführungsmaterial zu den beiden Homilius-Kantaten sowie den Förderern des Konzertes, allen voran der Mitteldeutsche(n) Barockmusik in Sachsen, SachsenAnhalt und Thüringen e. V. und ihrer Geschäftsführerin, Frau Dr. Christina Siegfried. Weiterhin gilt unser Dank den studentischen Hilfskräften Sylvia Drebinger, Marco Iwanzek, Jan Kaczmarek, Thomas Lehmann, Torsten Schwenke und Markus Sachse , die mit Geschick und Tatkraft an der Durchführung der Tagung mitgewirkt haben. Gleiches gilt für Maria Minker, die Geschäftsführerin der Katholischen Akademie des Bistums Dresden-Meißen. Ein besonderes Dankeschön geht an Frau Müller für die kompetente Mithilfe bei der redaktionellen Bearbeitung der Beiträge. Friedrichsdorf/Ts. und Dresden, im Januar 2012 Ulrich Rosseaux und Gerhard Poppe

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Einleitung Ulrich Rosseaux/Gerhard Poppe

Die Geschichte ist voll von Themen, die in ihren Umrissen zwar als bekannt gelten, die aber dennoch – oder vielleicht auch: deshalb – noch nicht wirklich systematisch untersucht worden sind. Der vorliegende Sammelband ist einem solchen Gebiet gewidmet: dem allmählichen Aufbrechen der religiösen Homogenität in Sachsen im Laufe des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts.1 Noch um 1690 präsentierte sich Kursachsen als rein evangelisch-lutherisches Land vornehmlich orthodoxer Prägung. Nur in der Oberlausitz gab es eine kleine katholische Minderheit, deren Existenz der spezifischen frühneuzeitlichen Konfessionsentwicklung dieses Gebietes geschuldet war. In der Mitte des 19. Jahrhunderts hingegen hatte sich die religiöse Landschaft in Sachsen spürbar pluralisiert: Zwar bildeten die Lutheraner mit etwas mehr als 90 Prozent immer noch die dominierende Mehrheit. Diese aber stellte keinen homogenen Block mehr dar, sondern war durch vielfältige Binnendifferenzierungen geprägt. Daneben gab es nun auch Anhänger der Reformierten, jüdische Gemeinden in Leipzig und Dresden und vor allem eine katholische Minderheit in ganz Sachsen. Letztere war unter den seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert neu entstandenen religiösen Minoritäten die größte, älteste und wichtigste. Sie verdankte ihre Entstehung einer der spektakulärsten Fürstenkonversionen der Frühen Neuzeit: dem 1697 erfolgten Übertritt des bis dahin lutherischen Kurfürsten von Sachsen, Friedrich Augusts I. – besser bekannt als August der Starke – zur katholischen Kirche. Zwar war diese Konversion aus rein politischen Motiven unternommen worden: Sie bildete die notwendige Voraussetzung für die letztlich auch erfolgreiche Kandidatur Friedrichs Augusts bei der Wahl zum polnischen König im Sommer 1697. Gleichwohl hatte sie – anders als es der König und Kurfürst anfangs selber in seinen öffentlichen Religionsmandaten glauben machen wollte – mittel- und langfristig erhebliche Folgen für die konfessionelle Landschaft in Sachsen selbst. Die Rückkehr des Katholizismus in das Mutterland der Reformation schuf eine Situation, wie es sie zeitgenössisch kein zweites Mal gab. Eine seit mehr als 150 Jahren lutherisch durchkonfessionalisierte und homogenisierte Bevölkerung sah sich mit der Wiederkehr des überwunden geglaubten konfessionellen Widerparts konfrontiert. Das rief alle Abwehrmechanismen und Abscheuroutinen wach, die der frühneuzeitliche deutsche Protestantismus zu bieten hatte. Diese ohnehin schon schwierige Lage verkomplizierte sich zusätzlich durch das Nebeneinander von konkurrierenden und widerstreitenden Rechtsansprüchen. Die evangelische Seite – politisch vertreten durch die kursächsischen Landstände und 1

Da die in der Einleitung angesprochenen Themengebiete in den nachfolgenden Beiträgen ausführlich analysiert werden, wird hier – um eine unnötige Dopplung zu vermeiden – auf Fußnoten mit Literaturhinweisen verzichtet.

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kirchlich repräsentiert durch die lutherische Landeskirche mit dem Dresdner Oberkonsistorium an der Spitze – berief sich auf die Normaljahrsregelung des Westfälischen Friedens. Letztere besagte, daß die konfessionellen Besitzstände in den Territorien des Reiches auf dem Stand des 1. Januar 1624 zu fixieren waren. Für Sachsen hieß dies, daß es sich um ein rein evangelisch-lutherisches Territorium handelte. Zusammen mit den Religionsmandaten Augusts des Starken wurde diese Bestimmung evangelischerseits sehr restriktiv interpretiert. Demnach sei die lutherische Landeskirche die einzig zulässige kirchliche Institution und allein ihre Geistlichen befugt, religiöse Handlungen vorzunehmen. Katholische Geistliche seien allenfalls am kurfürstlichen Hof zu dulden, dürften aber keineswegs außerhalb dieser eng umgrenzten Sphäre in Erscheinung treten. Die durch August den Starken nach Sachsen gerufenen Jesuiten scherten sich allerdings nicht um die Rechtsposition der evangelischen Seite. Sie beriefen sich vielmehr auf jene Kompetenzen, die ihnen der König und Kurfürst zugesichert hatte. Demnach war die katholische Religionsausübung in den dafür vorgesehenen Räumlichkeiten und in Privatwohnungen frei und ungehindert möglich. Die einzige Restriktion bestand darin, daß die katholischen Geistlichen im öffentlichen Raum nicht als solche erkennbar sein durften. Diese offenkundig unvereinbaren Rechtspositionen mündeten in eine Vielzahl von Konflikten: Lutherische Zwangstaufen von Kindern katholischer Eltern, die mit dem alleinigen Parochialrecht der evangelischen Kirche begründet wurden, Streitigkeiten um Eheschließungen durch die Jesuiten, mitunter gewaltsame Störungen katholischer Begräbnisse, lutherische Ängste und Befürchtungen vor jesuitischer Missionstätigkeit und möglichen Konversionen zum katholischen Glauben und, und, und – diese Liste ließe sich unschwer verlängern. Hinzu kam die Rivalität auf kulturellem Gebiet: Aus dem für die liturgischen Bedürfnisse der katholischen Gottesdienste neu geschaffenen Kapellknabenchor entwickelte sich im Laufe der Zeit ein eigene Institution, außerdem entstand eine katholische Lateinschule – das spätere St. Benno-Gymnasium –, die in Konkurrenz zum evangelischen städtischen Kreuzgymnasium und dem Kreuzchor traten. Eine besonders augenfällige Manifestation dieser konfessionskulturellen Rivalität waren die beiden prestigeträchtigen Kirchenneubauten der evangelischen Frauenkirche und der katholischen Hofkirche. Im ausgehenden 18. Jahrhundert scheinen die konfessionellen Pluralisierungskonflikte zeitweise eine geringere Rolle gespielt zu haben, ehe sie dann sie dann nach 1815 erneut Teil der gesellschaftlichen und politischen Agenda wurden. Dazu sei an dieser Stelle nur knapp und exemplarisch auf die Auseinandersetzungen in Dresden im Kontext des 300-jährigen Jubiläums der Confessio Augustana 1830 und an den sogenannten Leipziger Zwischenfall des Jahres 1845 erinnert. Beide Male hatten konfessionell grundierte Konflikte – 1830 eine vermeintliche Geringschätzung des evangelischen Jubiläums und 1845 der Protest gegen den als konservativ-katholisch geltenden Prinzen und späteren König Johann von Sachsen – den Anlass zu Unruhen gegeben. Im Gesamtkontext des SFB 804 „Transzendenz und Gemeinsinn“ nimmt die in diesem Buch vorherrschende Perspektive, die aus konkurrierenden religiösen Tran-

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Einleitung

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szendenzbezügen resultierenden Konflikte und Auseinandersetzungen in den Mittelpunkt zu stellen, eine – wenngleich reizvolle – Minderheitenposition ein. Steht doch bei der Mehrheit der Teilprojekte die wenigstens als Hypothese angenommene Eigenschaft von Transzendenzrekursen im Vordergrund, sozialen Zusammenhalt und Gemeinsinn stiften oder doch zumindest befördern zu können. Gerade die Analyse von konfessionellen Konflikten jedoch eröffnet Einsichten nicht allein in die Phänomenologie und die Mechanismen der Streitigkeiten selbst. Vielmehr werden in den Auseinandersetzungen die Reichweite und Grenzen von religiös unterfütterten Gemeinsinnskonzepten sichtbar. Im Streit zeigt sich besonders deutlich, was eine Gesellschaft zusammenhält und wo, wie und warum sie in Segmente zerfällt. Auch deshalb reicht – trotz der Fokussierung auf den konfessionellen Pluralisierungsprozess in Sachsen im 18. und 19. Jahrhundert – die Bedeutung der Untersuchungen über die Landesgeschichte im engeren Sinne deutlich hinaus. Denn die am sächsischen Beispiel verhandelte Thematik gehört insgesamt nicht zu den von der Forschung bevorzugt untersuchten Gebieten. Konfessionelle Konflikte stellen zwar ein vielfach variiertes Thema in den Forschungen zur Geschichte der Frühen Neuzeit dar. Der chronologische Schwerpunkt liegt dabei aber sehr eindeutig auf der Zeit zwischen 1517 und 1648. Die Periode nach dem Westfälischen Frieden ist demgegenüber in dieser Hinsicht erst in Ansätzen erforscht. Gerade das 18. Jahrhundert wird gemeinhin in nicht selten sehr pauschaler Form als Säkulum der aufgeklärten Toleranz wahrgenommen, in dem – angeblich zumindest – kein Platz mehr für konfessionellen Dissens gewesen sei. Insofern können die Tagung und der aus ihr hervorgegangene Sammelband als exploratives Pionierunternehmen verstanden werden, das wenig untersuchten Facetten der deutschen Geschichte gewidmet ist. Hinzu kommt, daß die strukturellen Parallelen und Analogien zwischen den konfessionskulturell grundierten Konflikten im Sachsen des 18. und 19. Jahrhunderts und ganz aktuellen gesellschaftlichen Problemlagen und Auseinandersetzungen zu offensichtlich sind, um nicht angesprochen zu werden: So durfte beispielsweise die Mitte des 18. Jahrhunderts neu erbaute katholische Hofkirche in Dresden keine Glocken haben. Auf diese Weise sollte die Existenz einer katholischen Gemeinde wenn schon nicht mehr unsichtbar, so doch wenigstens unhörbar bleiben. Von hier aus lässt sich leicht eine Linie ziehen zu Konflikten der Gegenwart um den Bau von Moscheen und die Lautstärke muslimischer Gebetsrufe, um nur zwei Beispiele zu nennen. Damals ging es – wie heute auch – um das Verhältnis zwischen einer Mehrheitsgesellschaft und einer religiös-kulturell andersartigen Minderheit. In diesem Sinne verstehen sich die in diesem Buch zusammengefassten Untersuchungen auch als Beiträge zu einer historisch vergleichenden Analyse sozial-kultureller Pluralisierungsprozesse.

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I. Rahmenbedingungen und Konfliktfelder im 18. Jahrhundert

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Konfessionskonflikte um 1700 zwischen instrumenteller Religionspolitik und konfessioneller Mobilisierung Gerd Schwerhoff

I. Historiographie Zwischen der Epoche der „Konfessionalisierung“ und derjenigen der „Aufklärung“ erstreckt sich auf der Landkarte historiographischer Konzeptualisierungen in kultur- und religionsgeschichtlicher Perspektive ein Niemandsland.1 In Bezug auf das Tagungsthema „Pluralisierung und Konflikt“ könnte man die Geschichtsschreibung – sehr grob! – in zwei Lager einteilen, nämlich eines, das vor allem die Pluralisierung, und ein anderes, wesentlich kleineres, das vornehmlich den Konflikt in den Vordergrund stellt. Der Epoche eignet damit eine Janusköpfigkeit, die von Paul Münch nicht ohne Grund als Emblem für seine Darstellung des 17. Jahrhunderts in Anspruch genommen wurde.2 Wer die Pluralisierung betont, greift in der Regel auf das „Reichsgrundgesetz“ (Georg Schmidt) des Westfälischen Friedens von 1648 zurück. Seine Bestimmungen bildeten schließlich das rechtliche Fundament für ein neues Zeitalter religiöser Toleranz. Sie legten die prinzipielle Gleichrangigkeit von katholischem, lutherischem und reformiertem Bekenntnis fest und verpflichteten alle Reichsstände zur „gestuften Duldung“3 der beiden anderen Bekenntnisse. Zwar drangen die Protestanten mit ihrem Prinzip der libertas conscientiae nicht durch; bestätigt wurde vielmehr das bereits im Augsburger Religionsfrieden fixierte ius reformandi der Territorien, das nun auch auf die Reichsritterschaft und Reichsstädte ausgeweitet wurde (IPO V § 28f.).4 Allerdings wurde dieses Prinzip durch die Normaljahresregelung durchbrochen, nach der sich das ius reformandi nicht auf Untertanen erstreckte, die ihre konfessionelle Überzeugung bereits 1624 öffentlich oder privat ausgeübt hatten 1

2 3 4

Gegenüber dem Vortragstext vom 12. März 2010 wurden die empirischen Beispiele etwas ausführlicher dargestellt und die notwendigsten Fußnoten eingefügt. Im Übrigen aber wurde der thesenhafte und an manchen Stellen bewusst zuspitzende Charakter der Darstellung beibehalten. Vgl. Münch, Paul, Das Jahrhundert des Zwiespalts. Deutsche Geschichte 1600–1700, Stuttgart 1999. Schmidt, Georg, Der Westfälische Friede als Grundgesetz des komplementären ReichsStaats, in: Bußmann, Klaus/Schilling, Heinz (Hrsg.), 1648 – Krieg und Frieden in Europa ( Ausstellungskatalog, Textbd. 1), München 1998, S. 447–454. Die Bestimmungen des Osnabrücker Friedensvertrags (Instrumentum Pacis Osnabrugensis), [im Folgenden: IPO] folgen dem Text bei Buschmann, Arno (Bearb.), Kaiser und Reich. Verfassungsgeschichte des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation vom Beginn des 12. Jahrhunderts bis zum Jahre 1806 in Dokumenten, 2. Teil, BadenBaden 1994, S. 11–116.

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(IPO V §31). Aber auch alle anderen Untertanen sollten „gedultet werden / vnd mit freyem Gewissen in jhren Häusern / ausser Inquisition oder turbirung / privatim jhrer devotion abwarten“ dürfen (IPO V § 34). Freilich steht diese Duldungsvision in einem gewissen Spannungsverhältnis zur direkt anschließenden Bestätigung des ius emigrandi bzw. des landesherrlichen Rechts auf Ausweisung andersgläubiger Untertanen, die nicht von der Normaljahresregelung geschützt waren. Der Text des Vertrages formuliert dieses Recht jedoch als ultima ratio,5 indem er eine Abzugsfrist von mindestens drei Jahren festlegt (IPO V 37) und Zwangsenteignungen verbietet: Es solle dem Abziehenden frei stehen, „entweder bey behaltenen oder vereusserten Gütern abzuziehen / das Behaltene durch die Diener zu verwalten / vnnd so offt es die Sache erfordert / sein Gut zu besichtigen / Rechtfertigungen zu vollführen / oder Schulden einzutreiben / frey vnd ohne Geleitsbrieffe / sich dahin zu verfügen“ (IPO V 36). Die Entkopplung der Religionsausübung von der Konfession des Herrschers wird auch durch die Tatsache unterstrichen, dass die Untertanen von der Pflicht befreit werden, zukünftige Bekenntniswechsel der Fürsten nachzuvollziehen (IPO VII). All das galt allerdings nicht für die Erblande: Dort beanspruchten die Habsburger ein ius reformandi illimitatum – Grundlage für viele der später zu diskutierenden Ausweisungsmaßnahmen. Das Alte Reich kann mit diesen Bestimmungen gewissermaßen als Vorreiter einer Pluralisierung gesehen werden, die europaweit nach 1680 ihren gedanklichen Durchbruch erlebte, einer Epoche, die Paul Hazard in seiner klassischen Studie als „la crise de la conscience Européenne“ charakterisiert hat. Bannerträger des Aufbaus neuer philosophischer Systeme, die Antworten auf diese Krise zu geben versuchten, waren – was die Religionsfrage anbetraf – etwa Pierre Bayle mit seinen fast unvergleichlich scharf formulierten Schriften oder, pragmatischer, John Locke mit seinem „Letter Concerning Toleration“ (1689). Auch wenn es sich gerade bei diesen beiden um Vorreiter und keineswegs um repräsentative Exponenten ihrer Zeit handelt, so verkörpern sie doch die zukunftsweisenden Elemente der Epoche, mit denen sich die Historiographie besonders gerne beschäftigt hat. Um es in die Worte Hazards am Beginn seines Werkes zu kleiden: „Welch ein Kontrast! Welch unvermittelter Übergang! Hierarchie, Disziplin, eine von der Autorität gesicherte Ordnung, Dogmen, die das Leben mit fester Hand regeln, das liebten die Menschen des 17. Jahrhunderts. Zwang, Autorität, Dogmen, das hassen die Menschen des 18. Jahrhunderts, ihre unmittelbaren Nachfolger. Die ersteren sind christlich, die letzteren antichristlich; die ersteren glauben an das göttliche Recht, die anderen an das Naturrecht; die einen fühlen sich wohl in einer Gesellschaft, die in höchst ungleiche Klassen aufgespalten ist, die anderen träumen von nichts als Gleichheit.“6 Gewiss würde heute kein Historiker mehr mit derartiger verdichtender Emphase den Geist einer neuen Zeit beschwören, aber die Blickrichtung ist oft gleich geblieben, nämlich 5 6

Ziekow, Jan, Über Freizügigkeit und Aufenthalt. Paradigmatische Überlegungen zum grundrechtlichen Freiheitsschutz in historischer und verfassungsrechtlicher Perspektive, Tübingen 1997, S. 87. Hazard, Paul, Die Krise des europäischen Geistes, Hamburg 1939, S. 21.

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auf die zukunftsweisenden Aspekte der Zeit konzentriert. Suchen wir ein zeitgenössisches Manifest für die religiöse Pluralisierung jenseits der großen Philosophen, so stoßen wir z. B. auf die ganz praktischen Randbemerkungen jenes Philosophen auf dem Königsthron vom Juni 1740, dass in seinem Königreich alle Religionen „tolleriert“ und „ein jeder nach seiner Fasson selich“ werden müssten. Oder in einer anderen Wendung: ,,Alle Religionen seindt Gleich und guht, wan nuhr die leute, so sie profesieren, Ehrlige leute seindt, und wen Türken und Heihden kämen und wollten das Land pöpliren, so wollen wir sie Mosqueen und Kirchen bauen“.7 Die Existenz religiöser Konflikte wird in dieser Perspektive nicht geleugnet, aber eben auch nicht nachhaltig betont. Dabei gäbe es durchaus Anlass, dies zu tun, denn in die Krisen- und Wendezeit der 1680er Jahre fällt auch das Menetekel des Edikts von Fontainebleau. Zwar hatte Ludwig XIV. bereits seit einer ganzen Reihe von Jahren repressive Maßnahmen gegen die französischen Protestanten ergriffen, von Kirchenschließungen über Berufsverbote bis hin zu regionalen Vertreibungen, aber dennoch kam der Widerruf des Toleranzedikts von Nantes im Jahr 1685 für die meisten Betroffenen überraschend. „Die protestantischen Gotteshäuser mussten zerstört werden, protestantische Gottesdienste wurden generell, auch in privaten Kreisen, verboten, die Pastoren wurden, sofern sie nicht innerhalb von kürzester Frist konvertierten, ausgewiesen.“ Alle einfachen Hugenotten mussten zum katholischen Glauben übertreten, wobei die Auswanderung bei härtester Strafandrohung – für Männer die Galeere, für Frauen das Gefängnis – verboten war und die Vermögenseinziehung drohte.8 Von den ca. 900.000 Hugenotten ging eine runde Viertelmillion dennoch in die Fremde, der Rest wählte die innere Emigration und bekehrte sich äußerlich. Dass der Kampf und die tatsächliche Durchsetzung des Prinzips „un roi, une loi, une foi“ noch lange nicht gewonnen war, zeigen die sich anschließenden Wellen der inneren Mission und die Tatsache, dass die Gefängnisse für Jahrzehnte mit rückfälligen Konvertiten überfüllt waren,9 ebenso wie der Kamisardenaufstand in den Cevennen 1702. Die Koinzidenz zwischen dem großangelegten Versuch der definitiven Lösung des Ketzerproblems durch den französischen König und den ersten entschlossenen Plädoyers für religiöse Toleranz war übrigens nicht zufällig. Pierre Bayles philosophischer Kommentar zum „Compelle intrare“ als dem locus classicus katholischer Ketzerverfolgung im Lukasevangelium bildete 1687 eine direkte Antwort auf das Edikt von Nantes. Das hier aufscheinende Spannungsverhältnis lässt sich kaum einfach auf einen Gegensatz zwischen ‚teutscher Libertät‘ und französischem Absolutismus verkürzen. Denn auch in der deutschen Historiographie hat sich Widerspruch gegen das vermeintliche Masternarrativ von der beginnenden Aufklärung erhoben. In seiner Dissertation von 1995 übte Jürgen Luh dezidierte Kritik an einer Geschichtsschrei7 8 9

Bardong, Otto (Hrsg.), Friedrich der Große, Darmstadt 1982, S. 542. Duchhardt, Heinz, Die Konfessionspolitik Ludwigs XIV. und die Aufhebung des Edikts von Nantes, in: Ders. (Hrsg.), Der Exodus der Hugenotten, Köln 1985, S. 30–52, hier S. 40. Vgl. ebd., S. 45.

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bung, die sich vor allem für neu aufkommende Entwicklungen interessiere und nicht für die weiterwirkenden alten Kräfte. Es sei der falsche Eindruck entstanden, als sei religiöse Duldung nach 1648 die Regel gewesen. Luh will die „retardierenden Momente“ stärker in den Blick nehmen und – durchaus bewusst „einseitig“ – das Fortbestehen des Gegensatzes zwischen Katholiken und Protestanten beleuchten. Der „rückständige“ Konfessionalismus sei eine starke (nach der Darstellung Luhs eigentlich die dominante) Strömung der Epoche gewesen.10 Seine Landkarte eines konfessionell zerklüfteten Reiches entwirft Luh vor allem auf Grundlage von Religionsbeschwerden der beiden Lager gegeneinander: Gravamina wegen neuer Kirchenbauten, wegen Streitigkeiten um simultane Kirchennutzung, wegen der Erziehung von Kindern in gemischtkonfessionellen Ehen, wegen Prozessionen, Feiertagen oder religiösen Schmähschriften und schließlich wegen Vertreibungen.11 Die Brüchigkeit des religiösen Status quo habe sich nicht nur in diesen Kleinigkeiten gezeigt, sondern auch in einem wechselseitigen Bedrohungsgefühl der Bekenntnisse. Während die geistlichen Fürsten sich bis zum Ende des Ancien Régime durch protestantische Säkularisationspläne herausgefordert sahen, fühlten sich die Protestanten durch die Konversionen protestantischer Fürsten zum Katholizismus fundamental bedroht. Nicht nur von Heinz Duchhardt ist Luhs Darstellung heftig kritisiert worden: Es handele sich um ein „ärgerliches, weil absolut einseitiges“ Buch, das das Konfliktlösungspotenzial des Reichssystems nach 1648 nicht zur Kenntnis nehme und die Konflikte lediglich aufliste, sie aber nicht in den historischen Kontext stelle.12 Die Kritik ist sicher berechtigt, aber auch nach Abzug aller Monita bleibt doch das Beharren auf einer Konfliktperspektive prinzipiell fruchtbar. Und völlig isoliert ist Luh mit seiner Position nicht. Bereits einige Jahre zuvor hatte Dieter Stievermann auf die immer noch „erhebliche Konfessionsproblematik im 18. Jahrhundert“ hingewiesen, die in dieser Zeit sogar „Phasen besonderer Virulenz“ erlebt habe, so dass man die traditionelle Epochengrenze um 1650 für das sog. „konfessionelle Zeitalter“ in Frage stellen könnte.13 Eine neuere Synthese zum frühneuzeitlichen Religionskonflikt aus der Feder eines englischen Wissenschaftlers nimmt eine ähnliche Sicht ein. Auch Benjamin Kaplan hat sich in seinem Buch „Divided by Faith“ zum Ziel gesetzt, gegen die Meistererzählung von dem Sieg der Aufklärung über den Konfessionalismus der vorigen Epoche anzuschreiben. Sein eigentliches Anliegen dabei ist es zu zeigen, dass es nicht die großen Toleranzbewegungen waren, die den konfessionellen Gegensatz allmählich entschärften, sondern eine über Jahrhunderte wachsende soziale Praxis der friedlichen Koexistenz, der gegenseitigen Duldung und der wachsenden

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Luh, Jürgen, Unheiliges Römisches Reich. Der konfessionelle Gegensatz zwischen 1648 und 1806, Potsdam 1995, S. 12. Vgl. ebd., S. 27ff. So Duchhardt in seiner Rezension über Luh in: Historisches Jahrbuch 117 (1997), S. 244–266. Stievermann, Dieter, Politik und Konfession im 18. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Historische Forschung 11 (1991), S. 177–199, hier S. 178.

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religiösen Pluralisierung.14 In der Konsequenz dieser Interpretation liegt es nun, die Bedeutung des Umbruchs am Ende des 17. Jahrhunderts herunterzuspielen und das große Maß an bleibender religiöser Unduldsamkeit zu betonen, das in der Phase zwischen 1650 und 1785 geherrscht habe. Damit mag das eingangs angedeutete Niemandsland ein wenig besser konturiert sein. Es handelt sich, um präzise zu sein, nicht in erster Linie um eine empirische terra incognita, wenngleich einige bedenkliche Forschungslücken nicht zu übersehen sind. Vor allem fehlt es an Begriffen und Konzepten, um die Phase zwischen konfessionellem Zeitalter und der Ära der Hoch- und Spätaufklärung angemessen historisch einordnen zu können. Angesichts der fortdauernden „Virulenz des Konfessionsproblems“ im 18. Jahrhundert15 verbietet es sich, dieses Problem als voraufklärerischen Restbestand beiseitezuschieben. Andererseits kann es auch kaum befriedigen, einfach eine zeitliche Perpetuierung der Konfessionalisierung zu postulieren, wie es gelegentlich anklingt.16 Im Folgenden möchte ich einige Religionskonflikte des frühen 18. Jahrhunderts kurz Revue passieren lassen, um danach einige systematische Charakteristika herauszupräparieren. Diese Überlegungen, das sei vorweg konzediert, werden kein neues geschichtswissenschaftliches Paradigma für die Zeit um 1700 aus der Taufe heben. Aber sie können doch immerhin einige grobe Orientierungspunkte zur Vermessung der angesprochenen terra incognita beibringen.

II. Exemplarische Konflikte Aus der Fülle von kleineren Konflikten über Kirchenbauten und simultane Nutzung, Schmähschriften und religiöse Diskriminierung greife ich willkürlich den Komplex der umstrittenen Nutzung von Gesandtschaftskapellen heraus. In der Reichsstadt Köln begann im Januar 1708 der preußische Gesandte von Diest in seinem Haus einen reformierten Gottesdienst zu halten. Der Rat der strikt katholischen Metropole am Niederrhein verbot nicht nur seinen Einwohnern den Besuch, sondern drängte auf Abstellung der in seinen Augen üblen religiösen Praxis, damit nicht „unter dem Prätext eines ewigen Residenten“ gegen den Willen der Stadtobrigkeit der Protestantismus eingeführt werde.17 Der Kaiser unterstützte diese Haltung, während der 14

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Kaplan, Benjamin J., Divided by faith. Religious conflict and the practice of toleration in early modern Europe, Cambridge/Mass. 2007, S. 11. Er setzt dabei „toleration“ von „tolerance“ ab und optiert für „toleration“ gegen „confessional coexistence“ oder „religious pluralism“. Müller, Winfried, Die Aufklärung, München 2002, S. 9. Zur Problematisierung des Endpunktes ‚1648‘ im Konfessionalisierungsprozess z.  B. Schnabel-Schüle, Helga, Vierzig Jahre Konfessionalisierungsforschung – eine Standortbestimmung, in: Frieß, Peer/Kießling, Rolf (Hrsg.), Konfession und Regio, Konstanz 1999, S. 23–40, hier S. 24ff. Meister, Alois, Der preussische Residentenstreit in Köln. Ein Versuch zur Einführung des reformierten Gottesdienstes, in: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 70 (1901), S. 1–30, hier S. 4; neben dieser älteren Arbeit vgl. Hatje, Frank, Reprä-

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preußische König scharf reagierte, indem er Repressalien gegen katholische Kirchen in seinem Herrschaftsbereich androhte. Im März und April gab es bedrohliche Tumulte vor dem Haus des Residenten – Jugendliche und Studenten mögen tatsächlich die Mehrheit darunter gestellt haben, wenn auch die Versicherung des Rates, eigentliche Bürger seien nicht darunter gewesen, sehr nach einer Schutzbehauptung klingt. Beim zweiten Mal nun warfen die Unruhestifter von Diest die Fenster ein, wodurch ein darauf befindliches preußisches Wappen beschädigt wurde. Das brachte das Fass zum Überlaufen. Der König von Preußen setzte nicht nur seine Drohungen gegen die katholischen Kirchen in die Tat um, sondern begann einen regelrechten Handelskrieg mit der Stadt Köln. Die sich anschließenden, sehr aufwendigen und aufreibenden Verhandlungen zwischen den Beteiligten klärten das vergiftete Klima nur langsam. Ein vom Niederrheinisch-Westfälischen Kreis vermittelter Vergleich vom Januar 1709 wurde vom päpstlichen Nuntius für unwirksam erklärt und vom Kaiser verboten; zu einer wirklichen Lösung kam es bis zum Abzug der preußischen Truppen 1715 nicht. ‚Natürlich, Köln!‘, so könnte man sagen. Die einzige bedeutende katholisch gebliebene Reichsstadt war und ist für ihre religiöse Intransigenz berüchtigt. Nehmen wir also lieber das weltoffene, schon in der Frühen Neuzeit geradezu multikulturelle Hamburg. Am 10. September 1719 kam es nach dem Hauptgottesdienst der Hamburger Michaeliskirche zu einem Streit „erwachsener Jungen Lutherischer und Catholischer Religion“18 mit Steinwürfen und Handgreiflichkeiten. Im Anschluss daran stürmte eine Menge von Protestanten das gegenüber der Kirche St. Michael gelegene Haus der kaiserlichen Gesandtschaft, drang in die darin befindliche Kapelle ein, verwüstete Haus und Garten und trug die erbeuteten gottesdienstlichen Geräte, Ornate und Paramente in einer karnevalsähnlichen Prozession durch die Stadt davon. Erst später postierten sich hamburgische Dragoner vor dem Gesandtschaftshaus, griffen aber nicht ein, als die Volksmenge, mit Bauwerkzeugen bewaffnet, zurückkehrte, um das Haus komplett niederzulegen. Der Vorfall zog schwers-

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sentationen der Staatsgewalt. Herrschaftsstrukturen und Selbstdarstellung in Hamburg 1700–1900, Basel/Frankfurt am Main 1997, S. 75ff.; jetzt Bellingradt, Daniel, „Lateinische Zeddel“ in der Reichsstadt Köln (1708). Signale, Diskurse und Dynamiken im öffentlichen urbanen Raum der Frühen Neuzeit, in: Geschichte in Köln 56 (2009), S. 207–237. Eine vor dem Abschluss stehende rechtshistorische Dissertation von Kathrin Kober (Universität Bonn) wird den Kölner Residentenstreit ausführlich darstellen. Ich danke Frau Kober sehr herzlich für den Einblick in ihr Manuskript. Vgl. insgesamt Hatje, Frank, Zwischen Repräsentation und Konfession. Konflikte um Bedeutung, Nutzung und Architektur eines hamburgischen Stadtpalais im 18. Jahrhundert, in: Rau, Susanne/Schwerhoff, Gerd (Hrsg.), Zwischen Gotteshaus und Taverne. Öffentliche Räume in der Frühen Neuzeit, Köln 2004, S. 155–181, hier S. 160ff., Zitat S. 160; zentral weiterhin Whaley, Joachim, Religious Toleration and Social Change in Hamburg 1529–1819, Cambridge 1985, S. 55ff.; ferner Rau, Susanne, Von „Lockungen“, „Verführungen“ und „Zwang“. Zur „Denunciation“ der Rekatholisierungspraxis im lutherischen Hamburg zu Beginn des 18. Jahrhunderts, in: Deventer, Jörg/Dies./Conrad, Anne (Hrsg.), Zeitenwenden. Herrschaft, Selbstbehauptung und Integration zwischen Reformation und Liberalismus, Münster u. a. 2002, S. 331–354, 2. Aufl., Berlin 2006, S. 335–358.

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te diplomatische Verwicklungen nach sich, bis hin zur Drohung mit Okkupation durch kaiserliche Truppen. Schließlich ließ es Karl VI. damit bewenden, dass eine Hamburger Delegation im Wiener Belvedere Abbitte leistete, dass die Stadt 100.000 Taler Entschädigung zahlte und dem kaiserlichen Gesandten ein anderes Haus als Residenz zur Verfügung gestellt wurde. Die Vorfälle von 1719 überraschen im Fall einer Stadt, die als ein Hort der Toleranz im Zusammenleben der Religionen gilt. Aber die Tatsache, dass der Senat tatsächlich zur Beförderung des negotiums Lutheraner und Reformierte, Katholiken, Mennoniten und Juden in der Stadt leben ließ, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass in Hamburg im Sinne der Normaljahrsregelung allein das Luthertum den Status des exercitium religionis publicum genoss, während den anderen Bekenntnissen und allen voran dem Katholizismus allein das exercitium domesticum zugestanden wurde.19 Seit einigen Jahren aber hatten die kaiserlichen Gesandten, unterstützt von den Jesuiten und heftig angefeindet von den protestantischen Predigern, begonnen, die Kapelle des Gesandtschaftshauses zu vergrößern – unter dem Druck des neu eingezogenen Tonnengewölbes wäre beinahe die Außenmauer zusammengestürzt. Zudem öffneten sie es für immer mehr Menschen. Bitter beklagten sich die Protestanten, dass „mit offenen Thüren daselbst geprediget, gesungen, und mit Orgeln musiciret“ werde. Neubaupläne für eine wesentlich größere und repräsentativere Residenz samt Kirchenbau direkt gegenüber dem lutherischen Flaggschiff St. Michael scheinen das Fass dann zum Überlaufen gebracht zu haben. 1719 erreichte nicht nur an der Elbe, sondern auch am Neckar, in Heidelberg nämlich, ein religiöser Konflikt seinen Siedepunkt, allerdings einer, der wesentlich größere reichspolitische Wellen schlug. Der 1716 an die Regierung gekommene katholische Kurfürst Karl III. Philipp von der Pfalz wollte seine Residenz von Düsseldorf nach Heidelberg verlegen. Dort geriet er in Streit mit seinen reformierten Untertanen. Ein Grund dafür war die Beschlagnahmung der angestammten Hofkirche, die allerdings zwischenzeitlich ein Simultaneum geworden war und deren Langhaus den Reformierten zustand. Verschärft wurde der Konflikt durch ein Verbot des Heidelberger Katechismus, also der zentralen Bekenntnisschrift des pfälzischen Reformiertentums. Dessen 80. Glosse, wo die „abgöttischen Bapisten“ und deren „greuliche Abgötterey der Mess“ in scharfen Worten angeprangert wurden, empfand der katholische Landesherr als untragbar.20 Die Angelegenheit löste hektische diplomatische Aktivitäten aus, sahen doch die Reformierten in dem Konflikt eine katholische Verschwörung am Werk. Der Reichstagsgesandte Wrisberg schrieb aus Regensburg, man habe alle Ursache zu glauben, „daß ein Konzert unter denen katholischen Ständen am Rhein gemacht sei, umb alle Evangelischen der orten auszutilgen“.21 Nachdem diplomatische Demarchen nicht erfolgreich waren, kamen 19 20 21

Whaley, Religious Toleration, S. 5. Borgmann, Karl, Der deutsche Religionsstreit der Jahre 1719/20, Berlin 1937, S. 29. Zum historischen Kontext und zur ‚Großwetterlage‘ im Reich zuletzt Schmidt, Georg, Wandel durch Vernunft. Deutschland 1715–1806, München 2009, S. 120ff. Borgmann, Religionsstreit, S. 32.

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protestantische Vergeltungsmaßnahmen an den eigenen katholischen Untertanen zum Zuge. In Zelle ließ der hannoversche Kurfürst die Kirche schließen und den Priestern verbieten, geistliche Dienste auszuüben, auch wenn diese Anordnung eher zurückhaltend in die Praxis umgesetzt wurde. Schärfer ging Preußen vor, wo das Kloster Hamersleben sequestriert und drei weitere Klöster in Halberstadt vorläufig geschlossen wurden. Beide Monarchen bedauerten den „Gewissenszwang“ gegen ihre katholischen Untertanen, rechtfertigten ihn aber als Notwehrmaßnahmen in der pfälzischen Angelegenheit.22 Eine interessante Note bekam der Konflikt auch deshalb, weil in seinem Verlauf der Streit über das Direktorium des Corpus Evangelicorum zwischen Kurhannover und Preußen ausgetragen wurde. Auch wegen dieser Konkurrenz behauptete schließlich Kursachsen die faktische Führung, und das trotz seines katholischen Kurfürsten Friedrich August I. Dieser hatte übrigens an seinen Gesandten von Gerstorff schon Ende November 1719 geschrieben, bei derart klaren Religionsbeschwerden, wie sie aus Heidelberg kämen, könne man durchaus „causam communem mit dem Corpore Evangelicorum machen“.23 Schließlich wurde die Gefahr eines neuen Religionskrieges durch das Einlenken des Pfälzers abgewandt. Er gab das Schiff der Heilig-Geist-Kirche wieder den Reformierten zum Gottesdienst frei. Seine Residenz verlegte er bekanntlich umgehend nach Mannheim. Mit den Vorgängen in Köln oder Hamburg durchaus vergleichbar begannen die religiösen Streitigkeiten im polnischen Thorn, die als Thorner Blutgericht oder Blutbad von 1724 in die deutsche Historiographie eingegangen sind. Es war eine Umtracht über den Kirchhof der Neustädter Kirche anlässlich eines Marienfestes, bei der die Dinge zwischen den Schülern des Jesuitengymnasiums und der mehrheitlich protestantischen Bevölkerung der Stadt eskalierten. Einige Jesuitenschüler versuchten die Betrachter zum Hutabnehmen zu nötigen und wurden handgreiflich. Ihre Verhaftung durch die Stadtwache provozierte die Geiselnahme eines evangelischen Schülers durch die Jesuitenzöglinge. Diese Geisel wurde bald wieder freigelassen, aber die Angelegenheit hatte sich schon zu weit aufgeschaukelt. Nach einer Belagerung durch die Bürgerschaft, bei der offenbar auch die Verteidiger kräftig austeilten, kam es zu einem regelrechten Klostersturm. Nach katholischer Darstellung wurden heilige Bilder, Kreuze und anderes Gerät auf die Straße geworfen, zu einem Scheiterhaufen geschichtet und angezündet – ein Tatbestand, der als Sakrileg oder Blasphemie angeprangert werden konnte. Allerdings wurde wohl – anders, als manche katholische Darstellung glauben machen will – kein Blut vergossen, und überhaupt waren die Ereignisse in der Thorner Lokalgeschichte keineswegs einzigartig, sondern standen in einer längeren Tradition von protestantischen Ausschreitungen gegen die katholische Minderheit.24 22 23 24

Vgl. ebd., S. 53–55. Ebd., S. 45. Zu Thorn zuletzt Thomsen, Martina, „Das Betrübte Thorn“. Daniel Ernst Jablonski und der Thorner Tumult von 1724, in: Bahlke, Joachim/Korthaase, Werner (Hrsg.), Daniel Ernst Jablonski. Religion, Wissenschaft und Politik um 1700, Wiesbaden 2008, S. 223–246; klassische Darstellung bei Wernicke, Julius Emil, Geschichte Thorns aus Urkunden, Dokumenten und Handschriften, Bd. 2, Thorn 1842, S. 348–364. Die konfes-

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Eine außergewöhnliche Dynamik aber entwickelte die rechtliche Aufarbeitung der Affäre. Die protestantische Obrigkeit der Stadt unter ihrem Präsidenten Rösner hatte die Ausschreitungen nicht entschlossen unterbunden und zeigte auch kein Engagement in Richtung einer nachträglichen Untersuchung und Sanktionierung. Die Jesuiten trugen deshalb die Angelegenheit vor das königliche Assessorialgericht in Warschau, indem sie neben den unmittelbar Beteiligten auch Rösner und andere städtische Spitzen der indirekten Unterstützung des Aufruhrs anklagten. Mit ihrer Klage verknüpften sie zugleich Forderungen nach Besserstellung der Thorner Katholiken in Gestalt einer Partizipation im Stadtrat oder der Überlassung von Kirchengebäuden. Die Klage wurde in einer von der öffentlichen Meinung gegen die Protestanten aufgeheizten Atmosphäre geführt, eine Kommission, die die Ereignisse vor Ort selbst untersuchte, setzte sich ausschließlich aus Katholiken zusammen. Umgekehrt betrieben die Thorner Protestanten ihre Verteidigung in Warschau in offenbarer Verkennung der Lage dilatorisch. Das bekannte Ergebnis waren zwölf Todesurteile gegen die Aufrührer, z. T. mit strafverschärfenden Elementen wegen der Profanation sakraler Objekte, und vor allem zwei weitere Todesurteile gegen Rösner und den Vizepräsidenten Zernecke als indirekte Unterstützer, wobei letzterer sich schließlich durch Konversion retten konnte. Rösner glaubte wohl bis zuletzt an eine bevorstehende Begnadigung durch König August II. Dieser aber dachte gar nicht daran, sondern betrieb die Exekution energisch. Einigkeit besteht in der Historiographie darin, dass er dies aus politischen Gründen tat, sei es, um innerpolnische Unterstützung zu erlangen, oder sei es, um auswärtige Interventionen zu provozieren und damit die republikanischen Strukturen zu schwächen.25 Jedenfalls ließ Rösner die Möglichkeit zur Flucht ungenutzt verstreichen und beendete sein Leben auf dem Schafott. Eine mediale Auferstehung feierte er als Blutzeuge und Märtyrer für den Protestantismus. Die europäische Öffentlichkeit reagierte, jedenfalls in ihren protestantischen Teilen, überaus scharf. Aus England schallte sogar eine regelrechte Kriegsrhetorik über den Kanal.26 Die Verurteilung der Vorgänge als Blutgericht und damit der Polen als rückständige und intolerante, weil katholische, Barbaren war besiegelt. Bis heute ist der Thorner Tumult historiographisch nicht angemessen aufgearbeitet, bis in die ereignisgeschichtlichen Details hinein bestehen Diskrepanzen in den konfessionell geprägten Darstellungen. Der Tumult selbst, das verdient noch einmal

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sionell gefärbte Debatte am Ende der 19. Jahrhunderts kann hier nicht näher dokumentiert werden. Eine abgewogene polnische Darstellung bei Salmonowicz, Stanislaw, The Torun Uproar of 1724, in: Acta Poloniae Historica 47 (1983), S. 55–79, trotz seiner Stoßrichtung, eine Ehrenrettung der polnischen Toleranz zu versuchen. Zur internationalen Rezeption zuletzt Schulze Wessel, Martin, Religiöse Intoleranz, grenzüberschreitende Kommunikation und die politische Geographie Ostmitteleuropas im 18. Jahrhundert, in: Requarte, Jörg/Ders. (Hrsg.), Europäische Öffentlichkeit. Transnationale Kommunikation seit dem 18. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2002, S. 63–78. Vgl. Frydrychowicz, Romuald, Die Vorgänge zu Thorn im Jahre 1724, in: Zeitschrift des westpreußischen Geschichtsvereins 11 (1894), S. 75–97. Vgl. Schulze Wessel, Religiöse Intoleranz, S. 72.

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betont zu werden, war weder im lokalen noch im europäischen Rahmen außergewöhnlich. Das gilt nicht für die rechtliche Aufarbeitung, die weder als katholischer Justizmord noch als angemessene Bestrafung nach dem Motto ‚hart, aber gerecht‘ richtig beschrieben ist. Nur durch eine ganze Reihe von besonderen Bedingungen ist die Dynamik der Ereignisse erklärbar. Die politische Konstellation zwischen den polnischen Ständen und dem sächsisch-deutschen König ist eine davon, eine weitere die eigenartige rechtliche Form des Anklageprozesses vor dem königlichen Zentralgericht. Auch gilt es, die doppelt asymmetrischen Beziehungen zwischen den Konfessionen in den Blick zu nehmen: Auf nationaler Ebene waren die Protestanten eine machtlose Minderheit gegenüber der altgläubigen Hauptströmung, während sie im weitgehend autonomen Thorn als etablierte Mehrheit die Minorität der Katholiken diskriminierten und drangsalierten. Die soeben angesprochene mediale Fernwirkung der Thorner Ereignisse zeigt sich auch darin, dass das sog. „Blutgericht“ den Resonanzboden für einen anderen städtischen Tumult abgab, der sich rund zwei Jahre später ereignete.27 In Dresden hatte am 21. Mai 1726 der Mord am Diakon der Kreuzkirche, Hermann Joachim Hahn, die Stadt in Aufruhr versetzt. Hahn war in seinem Haus erstochen worden. Als Täter wurde schnell der katholische Konvertit Frank Laubler, ein aus der Nähe von Augsburg gebürtiger Soldat, dingfest gemacht. In der Wahrnehmung vieler Dresdner handelte es sich aber nicht um die Einzeltat eines geistig Verwirrten, sondern um einen katholischen Anschlag auf das protestantische Herz der Stadt, der vom Teufel oder von den Jesuiten (in den Augen vieler Protestanten ohnehin kein großer Unterschied) inspiriert war. Die bereits seit Monaten durch konfessionelle Kontroverspredigten aufgeladene Atmosphäre entlud sich im Gefolge des Mordanschlages. Unmittelbar nach der Tat kamen viele empörte Bürger auf dem Altmarkt, dem traditionellen Versammlungsplatz der Stadt, zusammen. Ihre Erregung konnte noch aus dem nahe gelegenen Rathaus beschwichtigt und kanalisiert werden. Als aber am folgenden Morgen während des Gottesdienstes in der Kreuzkirche bewaffnete Katholiken gesichtet wurden und von einigen sogar ein Schuss auf den Prediger behauptet wurde, ließ sich die abermals auf dem Altmarkt versammelte Menge nicht mehr beschwichtigen. Den ganzen Tag über machte der protestantische Mob Jagd auf die katholische Minderheit, die von Bürgerwehr und Soldaten schließlich in Schutzhaft genommen wurde. Wie durch ein Wunder gab es keine Toten. Aber auch wenn ein großes Aufgebot der sächsischen Armee schnell wieder die äußere Ordnung herstellte, so kam doch die Stadt noch Monate danach nicht zur Ruhe. Das Medienecho auf die Angelegenheit war gewaltig: Insgesamt erschienen über 60 Be27

Die Dresdner Vorgänge sind neuerdings gut aufgearbeitet von Leibetseder, Mathis, Die Hostie im Hals. Eine „schröckliche Bluttat“ und der Dresdner Tumult von 1726, Konstanz 2009, und Bellingrath, Daniel, Flugpublizistik und Öffentlichkeit um 1700. Dynamiken, Akteure und Strukturen im urbanen Raum des Alten Reiches, Stuttgart 2011, S. 307ff. Zum konfessionspolitischen Hintergrund Rosseaux, Ulrich, Das bedrohte Zion. Lutheraner und Katholiken in Dresden nach der Konversion Augusts des Starken (1697–1751), in: Lotz-Heumann, Ute u. a. (Hrsg.), Konversion und Konfession in der Frühen Neuzeit, Gütersloh 2007, S. 212–235.

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richte, Predigttexte, Denk- und Erbauungsschriften zum Mord und zum anschließenden Tumult. Sie spekulierten über die Motive des Täters, heroisierten das Opfer zum Märtyrer für das Evangelium, klagten die Tumultanten an oder verteidigten sie. Dabei bildeten die Vorgänge in Thorn eine Deutungshilfe der Interpretation für die Dresdner Vorgänge – Parallelen wurden sowohl im Titel einer Druckschrift („betrübtes Thorn“ – „betrübtes Dresden“) gezogen wie auch bei der Verteufelung der angeblichen jesuitischen Hintermänner. Die letzte religiöse Konfliktkonstellation, die ich hier kurz darstellen will, hebt sich von den bisher genannten Beispielen deutlich ab. Die Zwangsemigration der Salzburger Protestanten weist vielmehr Ähnlichkeiten mit der Vertreibung der Hugenotten aus Frankreich auf. Am 31. Oktober 1731 unterzeichnete der Salzburger Erzbischof Leopold Anton Graf von Firmian sein Emigrationspatent.28 Darin befahl er allen Untertanen, die sich der Augsburgischen oder Reformierten Religion zurechneten, den Abzug, und zwar unangesessenen Personen ohne Immobilienbesitz – mitten im Spätherbst! – binnen acht Tagen, den angesessenen Bürgern und Bauern spätestens binnen dreier Monate. Wer sich künftig verdächtig mache, solle überwacht und gegebenenfalls streng bestraft werden. Zur Begründung der angekündigten Maßnahme wurde allerdings nicht die Zugehörigkeit zur Augsburgischen Konfession angeführt. Zum einen wurden Hinweise auf eine „im ganzen Römischen Reich niemals tolerirt gewesene Ketzerei“29 eingestreut, der die Auszuweisenden angehört haben sollen. Vor allem aber durchzog das Patent der Vorwurf gegen die andersgläubigen Untertanen, sich der „Sedition und Rebellion“ gegen den Landesherrn schuldig gemacht, geheim und öffentlich rebellische Rottierungen ins Werk gesetzt zu haben und so „Herrn für sich selbst sein“ zu wollen.30 Das Patent hatte eine längere Vorgeschichte, die mindestens bis 1684/85 zurückreicht. Damals hatte der Vorgänger von Firmian im Salzburger Erzbischofsamt insgesamt 750 Bauern aus dem Tiroler Defereggertal sowie die Dürrnberger Salzbergwerksknappen wegen ihres Glaubens ausweisen lassen. Spätestens seit damals wusste die katholische Obrigkeit von der Existenz kryptoprotestantischer Gemeinden, die das Ideal der konfessionellen Einigkeit in Frage stellten. Als der neue Erzbischof Firmian 1728 die Jesuiten ins Land holte und mit einer systematischen Untersuchungskampagne gegen die Protestanten begann, war das Ergebnis jedoch paradox. Im Zuge der Hausdurchsuchungen, Bücherbeschlagnahmungen, Verhaftungen und Strafaktionen wurden sich die Andersgläubigen ihrer großen Zahl bewusst, beriefen Versammlungen ein und organisierten ein Bittschreiben an das Corpus Evangelicorum in Regensburg, das von 19.000 Petenten unterschrieben wurde. Sie wollten ihre Religion frei wählen dürfen und die freie Religionsausübung in ihrer Heimat 28

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Nach Florey, Gerhard, Geschichte der Salzburger Protestanten und ihrer Emigration 1719/20, Wien 1977, S. 116ff. Vgl. Walker, Mack, Der Salzburger Handel. Vertreibung und Errettung der Salzburger Protestanten im 18. Jahrhundert, Göttingen 1997; zuletzt Schmidt, Wandel, S. 126–128. Florey, Salzburger Protestanten, S. 123. Ebd., S. 119.

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gestattet bekommen. Diese selbstbewusste Organisation der Protestanten war es, die das rabiate Vorgehen des Erzbischofs mit seinem Religionspatent zur Folge hatte. Allerdings konnte der Erzbischof sein Patent nicht dessen Wortlaut entsprechend umsetzen, jedenfalls nicht, was die große Masse der Angesessenen betraf. Entschieden widersprach wegen der Verletzung der im Westfälischen Frieden vorgesehenen Bestimmungen, insbesondere der Abzugsfrist, nicht nur das Corpus Evangelicorum; auch der Kaiserhof in Wien drängte auf Mäßigung. Angesichts der offensichtlichen Zugehörigkeit der protestierenden Untertanen zur Augsburgischen Konfession fand sowohl die Fiktion von der „neuen Sekte“ als auch der Vorwurf der Rebellion keine Glaubwürdigkeit. Im Laufe der folgenden hektischen diplomatischen Aktivitäten wurden die Modalitäten des Abzugs wesentlich abgemildert, so dass eine halbwegs geregelte Emigration vonstattengehen konnte. Dazu trug das Einladungspatent Friedrich Wilhelms  I. vom 2. Februar 1732 wesentlich bei, mit dem der preußische König den Salzburger Protestanten „die hülfliche und mildreiche Hand“ bot und sich bereit erklärte, sie „in Unsere Lande aufzunehmen … und zu versorgen“.31 In 16 Zügen machten sich die Salzburger Protestanten daraufhin nach Nordosten auf, insgesamt über 16.000 von ihnen fanden in Ostpreußen eine neue Heimat. „Das protestantische Deutschland, allen voran der preußische König […], nutzte den Salzburger Gewaltakt zur Demonstration eigener Überlegenheit. Die zeitgenössische Publizistik inszenierte die Vertreibung als ‚Triumphzug evangelischer Glaubensstärke‘.“32 Zu ergänzen ist in diesem Kontext noch, dass die kaiserliche Vermittlung zwischen dem Salzburger Erzbischof und den Protestanten keineswegs auf einer genuin moderaten Religionspolitik beruhte. In den eigenen Erblanden oder auch in Böhmen praktizierten die Habsburger eine durchaus repressive Politik gegenüber den Kryptoprotestanten.33 Dabei beließen sie es aber lange bei isolierten Einzelmaßnahmen, bei Verhaftungen, Ausweisungen oder bisweilen auch Galeerenstrafen. Die Salzburger Ereignisse jedoch wirkten auch hier als Katalysator, indem die Untertanen evangelischen Glaubens im Salzkammergut auf scharfes kaiserliches Edikt vom 15. Juli 1733 hin eine Bittschrift an das Corpus Evangelicorum in Regensburg verfassten. Darin erbaten sie die „freyheit“ zur Erlangung evangelischer Kirchen und Prediger, oder, falls das nicht möglich sei, ihnen an „ein Ort oder Land [zu] verhelfen, wo wir die der Augustana Confessio zugetane evangelische Religion unverhindert frey öffentlich haben mögen“.34 Die kaiserliche Reaktion war jedoch eine andere, indem die Protestanten innerhalb des eigenen Herrschaftsbereichs, nämlich ins seit 1699 österreichische Siebenbürgen exiliert wurden, wo die evangelische Religion offiziell 31 32 33

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Ebd., S. 153. Schmidt, Wandel, S. 128. Vgl. Herzig, Arno, Der Zwang zum wahren Glauben. Rekatholisierung vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, Göttingen 2000, S. 177ff.; Pörtner, Regina, Die Kunst des Lügens. Ketzerverfolgung und geheimprotestantische Überlebensstrategien im theresianischen Österreich, in: Burkhardt, Johannes/Werkstetter, Christine (Hrsg.), Kommunikation und Medien in der Frühen Neuzeit, München 2005, S. 385–408. Ebd., S. 181.

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zugelassen war. Damit verband sich die habsburgische Linie des Monokonfessionalismus mit dem kameralistischen Ziel aktiver Peuplierungspolitik. In mehreren Schüben wurden so im Rahmen der sog. Transmigrationen zwischen 1734 und 1737 und dann noch einmal unter Maria Theresia 1752 bis 1757 und 1773 bis 1776 mehrere Tausend österreichische Protestanten nach Siebenbürgen verbracht. Im ersten Schub wurden die sog. Rädelsführer in Ketten deportiert, ebenso wie vormals in Salzburg unter dem Vorwand der Rebellion.

III. Systematisierende Überlegungen Aus den genannten Konflikten und ihren Hintergründen lassen sich, um weitere Gesichtspunkte ergänzt, einige systematische Charakteristika der Epoche in religionsgeschichtlicher Perspektive gewinnen. Im Mittelpunkt meiner Ausführungen stand der Spannungsbogen vom Widerruf des Edikts von Nantes 1685 bis zur Vertreibung der Salzburger Protestanten 1732, einer Zeitspanne, die man, erstens, als Phase religiöser Konflikte kennzeichnen kann. Natürlich haftet diesen Eckpunkten etwas Willkürliches an. So wäre auf die lange Tradition der habsburgischen Rekatholisierungsmaßnahmen zu verweisen, die sich z. B. ab 1662 in Ungarn konzentrierten und die 1687 mit dem sog. „Blutgericht von Eperies“, bei dem zwei Dutzend protestantische Bürger und Adlige hingerichtet wurden, ihren blutigen Höhepunkt und Abschluss fanden.35 Dass am anderen Ende der Zeitachse die Transmigrationen bis zur Zeit Maria Theresias hineinreichten, wurde bereits angesprochen. Dennoch, die Phase zwischen 1685 und 1735 markiert so etwas wie eine Kernphase religiöser Konflikte, in die neben dem erwähnten Kamisardenkrieg 1702 z. B. auch der zweite Villmerkrieg36 zwischen katholischen und reformierten Kantonen in der Schweiz 1712 fällt.37 In der Forschung gilt 1685 als Schicksals- oder Krisenjahr des Protestantismus. Denn neben dem Edikt von Fontainebleau mussten die Protestanten sich auch durch andere Entwicklungen bedroht fühlen. In London kam mit Jacob II. ein ‚Papist‘ auf den englischen Thron. Zugleich starb der pfälzische Kurfürst Karl  II. kinderlos, seine Kurwürde ging an das katholische Haus Pfalz-Neuburg über. So fürchteten manche eine große katholische Koalition, während andere, etwa in Versailles, darauf hoffen mochten.38 Die Glorious Revolution machte dann 1688 schnell möglichen Visionen von einer Rekatholisierung ganz Nordeuropas den Garaus, aber

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Vgl. Duchhardt, Konfessionspolitik, S. 40. Vgl. Lindt, Andreas, Zum Verhältnis der Konfessionen in der Schweiz im 18. Jahrhundert, in: Schwaiger, Georg (Hrsg.), Zwischen Polemik und Irenik. Untersuchungen zum Verhältnis der Konfessionen im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert, Göttingen 1977, S. 58–67, hier S. 58f. Vgl. François, Étienne, Die unsichtbare Grenze. Protestanten und Katholiken in Augsburg 1648–1806, Göttingen 1991, S. 164f. zum konfessionellen Streit in Augsburg 1718 mit zwei Toten im Anschluss an Prozessionen. Vgl. Duchhardt, Konfessionspolitik, S. 34.

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dass die folgenden Jahrzehnte gerade im Reich von einer Phase intensiver religiöser Konflikte gekennzeichnet waren, scheint unübersehbar. Dafür ist neben der Rekatholisierungspolitik des allerkatholischsten König Ludwig und der Habsburger mindestens noch ein weiterer Faktor verantwortlich, nämlich der Übergang protestantischer Territorien an katholische Herrscher. Noch traumatisierender als der pfälzische Fall des Aussterbens eines evangelischen Herrschergeschlechts musste für die Protestanten die Konversion ihres Fürsten zum Katholizismus sein. Paradigmatisch war hier natürlich der Glaubenswechsel Friedrich Augusts I. im Juni 1697. Ebenso wie in Sachsen sollte 1733 auch der Regierungswechsel in Württemberg eine längere Phase katholischer Herrschaft über ein lutherisches Territorium einleiten. Es gibt einige weitere Fälle von Konversion, so der Übertritt des Herzogs Anton Ulrich von Braunschweig-Wolfenbüttel 1710 oder der Glaubenswechsel des Erbprinzen Friedrich 1749 im reformierten Hessen-Kassel. In der Rückschau mögen sich alle diese Fälle eher episodisch ausnehmen, für die Zeitgenossen hatten sie ein veritables Bedrohungspotenzial. Die jeweilige Bevölkerung, das zeigen zweitens eigentlich alle angesprochenen Beispiele, war weit von konfessioneller Indifferenz oder gar der Duldung anderer Bekenntnisse entfernt. Im Gegenteil, man könnte in der religiösen Konfliktbereitschaft der Massen geradezu ein Indiz für den Erfolg der seit etlichen Generationen laufenden Konfessionalisierungsbemühungen erblicken. Das gilt für das katholische Köln ebenso wie für das lutherische Hamburg oder das reformierte Heidelberg; ebenso für das evangelische Thorn inmitten seines immer katholischeren Umfeldes. Unübersehbar ist, dass die protestantische Bevölkerung gerade dort besonders selbstbewusst auftrat, wo sie auf einen neukatholischen Landesherrn traf. Dieter Stievermann hat versucht zu zeigen, dass gerade in Territorien mit einem solchen konfessionellen Gegensatz die absolutistischen Entfaltungsmöglichkeiten des Fürsten besonders eingeschränkt waren, durch die akribische Festschreibung des Status quo ante mit weitreichenden Rechten für Landstände und Kirchenbehörden im Inneren ebenso wie durch argwöhnische Beobachtung und gegebenenfalls Intervention der auswärtigen protestantischen Schutzmächte.39 Im Falle Sachsens habe das konkret einen schwerwiegenden Nachteil in der Konkurrenz zu BrandenburgPreußen bedeutet. Wie immer man zu dieser These steht: Dass diese divergierenden konfessionellen Konstellationen besonders konfliktträchtig waren, steht außer Frage. Drittens war die konfessionelle Mobilisierung deutlich verknüpft mit dem publizistischen Echo der Ereignisse und den medialen Möglichkeiten der Epoche. Alle dargestellten Konflikte spielten sich auf mehreren Ebenen vor dem Forum einer aufmerksamen und engagierten Öffentlichkeit ab. Da war die Öffentlichkeit des jeweiligen Ortes, vor allem die Öffentlichkeit der städtischen Anwesenheitsgesellschaften mit ihren rituellen und subversiven Elementen, die zugleich ein wichtiger Markt von Druckmedien waren. Öffentlichkeit wurde aber auch auf der Ebene der jeweiligen Territorien und des Reiches hergestellt, ja sogar auf der europäischen Ebene, 39

Vgl. Stievermann, Politik und Konfession.

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wenn man sich all die Briefe und Traktate, Flugschriften und gedruckten Suppliken vergegenwärtigt, die in den betreffenden Angelegenheiten gewechselt wurden. Insbesondere die Protestanten vermochten es, mittels einer Mobilisierung der öffentlichen Meinung den politischen Entscheidungsprozess zu beeinflussen. Thorn und Salzburg sind auf diese Weise zu klassischen Erinnerungsorten geworden. Man kann all diese Phänomene für eine konjunkturelle Verdichtung der frühneuzeitlichen Mediengesellschaft halten, wie man sie bereits aus vorhergehenden Jahrhunderten kennt (diskutiert etwa in der Forschung unter dem Signum der „reformatorischen Öffentlichkeit“), oder man kann sie für Anzeichen einer neuen Qualität von Öffentlichkeit jenseits der engen Kreise von Politik und Hof halten, die als sog. bürgerliche Öffentlichkeit gemeinhin erst in der Spätaufklärung lokalisiert wird. Die kürzlich erschienene Arbeit von Daniel Bellingrath macht die zweite Interpretationsvariante stark.40 Viertens ist die Haltung der politischen Sphäre, konkret der jeweiligen Herrscher, gegenüber der Religion zu bedenken. Gewöhnlich ordnet die Historiographie – explizit oder implizit – die verschiedenen Ausprägungen staatlicher Religionspolitik im Beobachtungszeitraum nach ihrem Grad an Modernität. Konkret würde das bedeuten, den bourbonischen und habsburgischen Monokonfessionalismus als traditionelle, gleichsam vormoderne Staatsauffassung vom modernen Weg der Toleranz in Brandenburg-Preußen (ebenso in den Niederlanden und England) abzusetzen. Das kann man zweifellos so sehen. Irritierend daran ist allerdings, dass die Geschichtsschreibung bis vor kurzem gerade im Absolutismus Ludwigs XIV. die Modernität der Epoche verkörpert sah. Gerade diesem absolutistischem Selbstverständnis aber kamen die Hugenotten in die Quere. Die französischen Kronjuristen bewerteten das Edikt von Nantes als ein Zugeständnis aufgrund einer zwischenzeitlichen Schwäche der Monarchie, als ein – wie Heinz Duchhardt schrieb – „die Autorität und Omnipotenz der Krone augenscheinlich beeinträchtigendes Sonderrecht einer Minorität“, das ein Sonnenkönig kaum dauerhaft akzeptabel finden konnte.41 Umgekehrt betont die Forschung zu Recht, dass auch in Brandenburg-Preußen die Akzeptanz mehrerer Konfessionen nebeneinander nicht das strikte Staatskirchentum aushebelte – im Gegenteil wurde unter diesen Bedingungen der faktischen Mehrkonfessionalität die Schiedsrichterrolle des Staates nur noch gestärkt. Insofern wäre es wohl angemessener, von verschiedenen, nebeneinander existierenden Modellen im Verhältnis von Staat und Kirche zu sprechen. Als ein markantes Signum der Epoche erscheint dabei die stärkere Ausdifferenzierung zwischen einer religiösen und einer herrschaftlich-staatlichen Sphäre. Die Konfessionalisierungsthese hat für die Zeit vor 1648 stets die doppelte Verflechtung von Staat und Kirche betont: einerseits die Indienstnahme der Religion für den Staat, andererseits aber die Verpflichtung des Staates auf die letztgültigen Ziele der jeweiligen Konfession, auf die Prosperität der jeweiligen Kirche und auf das Seelenheil aller Untertanen. Aus diesem Verflechtungszusammenhang wird nun, nach 1648, 40 41

Vgl. Bellingrath, Flugpublizistik. Duchhardt, Konfessionspolitik, S. 38.

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eine einseitige Abhängigkeit. Der Staat instrumentalisiert die Religion zunehmend für seine Zwecke. Nichts macht diesen Trend wiederum so sinnfällig wie die Konversion Augusts des Starken, die ebenso erfolgreich wie offensichtlich auf politische Ambitionen und nicht (wie meist im Fall der sog. zweiten Reformation um 1600) auf eine Radikalisierung religiöser Lebensformung zielte. Wenigstens im sächsischen, wohl auch im pfälzischen Fall steht die konfessionelle Festigkeit der Bevölkerung in einem Wechselverhältnis mit dem religiösen Opportunismus der Herrschenden und zu deren Bereitschaft, die Bekenntnisfrage politisch zu instrumentalisieren: Gerade weil der Herrscher sich die Religion so entschlossen dienstbar machte, festigten sich gleichsam gegen die politische Spitze die konfessionellen Einstellungen und Überzeugungen. Der instrumentelle Umgang des Fürsten mit dem religiösen Bekenntnis scheint, fünftens, mit einer bislang so nicht gekannten reflexiven Diskursivierung der konfessionell-religiösen Frage in der gelehrten Diskussion zusammenzuhängen. Auch die Wissenschafts- und Philosophiegeschichte kennt klare Modernisierungstheorien. Danach handelte es sich bei dem eingangs erwähnten Bayle um einen Pionier, dessen Toleranzdenken erst lange Zeit später die Wirklichkeit erreichte. In seiner vehementen Entgegnung auf das Edikt von Fontainebleau plädierte der Philosoph 1685 für eine strikte Trennung der Sphäre von Religion und Politik; seine Ablehnung von Gewissenszwang schließt selbst Atheisten ein, denn auch diese folgten einer Gewissensentscheidung.42 Hier ging selbst Locke nicht mit, und erst recht nicht Veit Ludwig von Seckendorff, der zwar für religiöse Duldung abweichender Bekenntnisse plädierte, in seinem ebenfalls 1685 erschienenen Christenstaat aber viel Tinte darauf verwandte, gegen den Atheismus Stellung zu beziehen. Bezeichnend erscheinen vor allem die vernünftigen Argumente zur Widerlegung der Gottlosigkeit. So erweist sich die Grundlosigkeit des Atheismus nach Seckendorff daraus, „daß die menschliche Gesellschaft nicht bestehen könnte, wann iedermann solcher Meynung wäre“. Weil der Atheismus mangels jenseitiger Strafen und Belohnungen nur nach kurzfristigem diesseitigem Lustgewinn streben könne, gebe es keine Barrieren mehr gegen Betrug, Unzucht, Raub oder Rache. Ohne innere Gewissens-Unruhe wäre „keine einige menschliche Geselschafft, weder zwischen Mann und Weib, noch zwischen Eltern und Kindern, noch zwischen Herren und Knechten/Obrigkeit und Unterthanen“ denkbar. Deswegen sei der Glaube auch nach der Vernunft und nach dem verderbten Stande der menschlichen Natur notwendig.43 Auch hier wäre es versuchsweise angebracht, die verschiedenen Standpunkte nicht nach ihrem Grad an Modernität zu unterscheiden, sondern als unterschiedliche Modelle staatlichen Umgangs mit Religion. Wichtig erscheint mir in diesem Zusammenhang, dass alle genannten Positionen zur Ausdifferenzierung von Religion und 42

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Vgl. Bizeul, Yves, Bayle – Vordenker des modernen Toleranzbegriffs, in: Wendel, HansJürgen u. a. (Hrsg.), Toleranz im Wandel, Rostock 2000, S. 67–112, hier S. 83. Vgl. im Übrigen zur Forschungslage in Hinblick auf das Thema ‚Toleranz‘ Müller, Winfried, Literaturbericht 1648–1806, Teil 2: Esoterik und Gegenaufklärung, Religion und Toleranz, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 57 (2006), S. 277–290. Seckendorff, Veit Ludwig von, Christen-Stat […], Leipzig 1685, Kap. 16, S. 25ff.

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Politik beitragen: Bei Bayle oder Locke ist das offensichtlich, aber es gilt auch für die Verteidiger des Monokonfessionalismus oder jedenfalls der religiösen Fundierung des Staates. Indem sie nicht mehr vorwiegend auf das Seelenheil von Herrscher und Untertanen, sondern auf das Funktionieren des Gemeinwesens zielen, erhält ihre Argumentation einen stark utilitaristischen Einschlag. Die Diskursivierung des Verhältnisses von Religion und Staat mag dazu beigetragen haben, die Religion als Herrschaftsmittel jenseits konfessioneller Überzeugungen verfügbar zu machen.44 Natürlich ist der Diskurs über Religion als Fundament der weltlichen Ordnung älter und reicht mindestens bis Machiavelli, letztlich sogar bis in die Antike zurück. Aber es scheint doch, Paul Hazard lässt noch einmal grüßen, nicht unplausibel anzunehmen, dass der utilitaristische Diskurs über die Religion seit Ende des 17. Jahrhunderts eine Breite und Dichte erreichte, die einen qualitativen Sprung markiert. Eine kurze Gesamtbilanz: In der deutschen Historiographie steht die hier betrachtete Epoche stark im Banne der Reichsgeschichte und des Reichsgrundgesetzes, des Westfälischen Friedens. Tatsächlich ist unbestreitbar, dass die einschlägigen Regelungen die Grundlage für die Verabschiedung der Epoche der Religionskriege in Deutschland waren. Der Westfälische Friede verhinderte Konflikte nicht, stellte aber Regelungsmechanismen bereit und setzte dem Konfessionalismus so gewisse Grenzen. Ein blutiger Konflikt wie in Thorn ereignete sich im Reich im 18. Jahrhundert nicht. Andererseits verhinderte der Westfälische Friede weder die Zwangsmigrationen in den Erblanden noch im katholischen Erzstift Salzburg. Allenfalls milderte er die schlimmsten Folgen. Im Vorfeld nahm er sogar eine zwiespältige Katalysatorfunktion ein, indem die Kryptoprotestanten sich enttarnten und unter Berufung auf den Westfälischen Frieden um Tolerierung baten – und damit scheiterten. Neben einer – sicher möglichen – reichsgeschichtlichen Interpretationsrichtung bleibt so genügend Raum für andere Perspektiven. Wie aber ließe diese sich für die hier betrachtete Periode auf den Begriff bringen? Um eine Zeit der Toleranz, der Säkularisierung oder der Dekonfessionalisierung handelte es sich sicher nicht. Auch hinter die Pluralisierung möchte ich ein Fragezeichen machen. Darunter versteht man ja im Umfeld des Münchner SFB 573 („Pluralisierung und Autorität“) die Vermehrung relevanter Repräsentationen von Wirklichkeit bzw. die komplexe Ausdifferenzierung von Wissensbereichen.45 Was die Sphäre des Religiösen angeht, so hatten hier wesentliche Ausdifferenzierungsprozesse bereits früher stattgefunden. Dass dabei in der Zeit um 1700 eine neue Qualität erreicht worden sein könnte, ist nicht so recht zu sehen. Mit größerem Recht könnte man von einer Hochkonjunktur der Rekatholisierung sprechen, verbunden mit einer Beharrung der protestantischen Konfessionsidentität. Eine solche Betrachtung aber bliebe noch zu stark der konfessionellen Lagerbildung verhaftet. Aus der Vogelperspektive erscheint jener Zug 44

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Vgl. zu diesem begrifflichen Rekurs Vorländer, Hans, Wie sich soziale und politische Ordnungen begründen und stabilisieren: Das Forschungsprogramm, in: Ders. (Hrsg.), Transzendenz und Gemeinsinn. Themen und Perspektiven des Dresdner Sonderforschungsbereichs 804, Dresden 2010, S. 6–15, hier S. 10f. Vgl. jetzt Müller, Jan-Dirk u. a. (Hrsg.), Pluralisierungen. Konzepte zur Erfassung der Frühen Neuzeit, Berlin 2010.

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zur staatlichen Indienstnahme des Religiösen am charakteristischsten, der oben kurz skizziert worden ist und den beide konfessionellen Blöcke, wenn auch in typischer Differenz, betrieben. Heinz Schilling46 hat zutreffend von einer „Autonomisierung der Politik“ gesprochen, aber auch davon, dass die konfessionelle Frage nun lediglich ein Faktor unter anderen wurde. Das ist vielleicht für die hier betrachtete Zeit zu vorschnell. Denn die Religionspolitik blieb doch – noch – ein zentrales Werkzeug politischen Handelns, eine wirkliche Säkularisierung des Politischen gab es nicht.47 Vorerst lassen sich als die zentralen Signa der Zeit um 1700 eine instrumentell und utilitaristisch bestimmte Religionspolitik einerseits und – dadurch provoziert sowie durch eine neue Öffentlichkeit intensiviert – eine konfessionelle Mobilisierung breiter Bevölkerungskreise andererseits herausstellen.

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Schilling, Heinz, Der Westfälische Friede und das neuzeitliche Profil Europas, in: Duchhardt, Heinz (Hrsg.), Der Westfälische Friede: Diplomatie – politische Zäsur – kulturelles Umfeld – Rezeptionsgeschichte, München 1998, S. 1–32, hier S. 29f. Vgl. auch Schnabel-Schüle, Vierzig Jahre, S. 28.

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Religionssicherheiten und Gefahren für das „Seelenheil“ Religiös-politische Befindlichkeiten in Kursachsen seit dem Übertritt Augusts des Starken zum Katholizismus Dagmar Freist

I. Vorbemerkung Bis in jüngste Zeit galt Kursachsen nahezu unstrittig in der Forschung als lutherisches Territorium par excellence, das gekennzeichnet war durch eine strenge lutherische Orthodoxie und ein nahezu geschlossenes lutherisches Konfessionsmilieu, das auch nach der Konversion des sächsischen Kurfürsten zum Katholizismus im Jahre 1697 Bestand haben sollte.1 Die Konversion des sächsischen Kurfürsten zum Katholizismus am 27. Juli 1697 wurde begleitet von dem Erlass und der Verbreitung weitreichender Religionssicherheiten. Der Kurfürst ordnete an, dass die Religionsversicherung „überall im Land im Druck angeschlagen und verlesen werden sollte“.2 Friedrich August I. bekräftigte gegenüber seinen Untertanen, dass bei der Vergabe von Ämtern Katholiken nicht bevorzugt werden sollten und dass er „auch niemanden zu unserer einst angenommenen Catholischen Religion zwingen werde, sondern jedermann sein Gewissen frey lassen“ wolle.3 Ungeachtet dieser Zusicherungen verfassten 41 ständische Delegierte, die sich im „Brühhahnhaus“ in Dresden um den sächsischen Erbmarschall Hans Löser versammelt hatten, ein Gratulations1

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Für einen Forschungsüberblick vgl. Keller, Katrin, Landesgeschichte Sachsen, Stuttgart 2002, S. 171–177. Für eine leichte Abkehr von dieser Position vgl. Schunka, Alexander, Gäste, die bleiben. Zuwanderer in Kursachsen und der Oberlausitz im 17. und frühen 18. Jahrhundert (Pluralisierung & Autorität 7), Münster 2006. Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden (im Folgenden: Sächs. HStA Dresden), Geheimes Kabinett, Religionsversicherungen, Loc. 754, fol. 15–16; in Auszügen abgedruckt in Ziekursch, Johannes, August der Starke und die katholische Kirche in den Jahren 1697–1720, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 24 (1903), S. 105–106; für einen Überblick über die verschiedenen Religionsversicherungen vgl. Blanckmeister, Franz, Sächsische Kirchengeschichte, Dresden 1899, S. 279ff.; Christ, Günther, Hof – Territorium – Untertanen. Beobachtungen zur Stellung zum Katholizismus konvertierter Fürsten im 17. und 18. Jahrhundert, in: Rottenburger Jahrbuch für Kirchengeschichte 13 (1994), S. 25–62. Detailliert zur Problematik von Religionsversicherungen HaugMoritz, Gabriele, Württembergischer Ständekonflikt und deutscher Dualismus. Ein Beitrag zur Geschichte des Reichsverbands in der Mitte des 18. Jahrhunderts (Veröffentlichungen der Kommission für Geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg, Reihe B, Bd. 122), Stuttgart 1992, S. 177. Sächs. HStA Dresden, Geheimes Kabinett, Religionssachen, Loc. 754, fol. 15–17.

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memorial, in dem sie auf die tiefe Sorge von Adel und Stadtbevölkerung um ihre traditionelle Religionsausübung aufmerksam machten.4 Dem Schreiben beigefügt war eine lange Liste früherer Religionsversicherungen, die die Unantastbarkeit der evangelisch-lutherischen Landeskonfession untermauern sollte. Auf den ersten Blick überrascht die Sorge von Adel und Stadtbevölkerung, hatte doch der Westfälische Frieden den religiösen Status quo im ganzen Reich unter Bezugnahme auf das sogenannte Normaljahr (1. Januar 1624) festgeschrieben. Kaum ein anderes Territorium schien ein so klares konfessionelles Profil verbunden mit einer darauf fußenden starken Stellung auf Reichsebene als Inhaber des Direktoriums des „Corpus Evangelicorum“ zu haben wie Kursachsen. Kursachsen war ein konfessionell homogenes Territorium geprägt von einer frühen Konfessionalisierung und einer streng bewachten lutherischen Orthodoxie. Die Zahl der Andersgläubigen im 17. Jahrhundert war verschwindend gering. Dennoch wurden bereits wenige Jahre nach dem Westfälischen Friedensschluss 1648 Stimmen unter der lutherischen Geistlichkeit in Kursachsen laut, die die Gefahr einer fremd-konfessionellen Unterwanderung des Landes beschworen und ihre Befürchtungen mit theologischen Gutachten unterlegten.5 Die „nahezu durchgängig kaiser- und habsburgertreue Politik der sächsischen Kurfürsten“ hatte „Konversionshoffnungen und Rekatholisierungspläne“ geweckt, die den Ständen nicht verborgen geblieben waren.6 Weiterhin zeugen die Akten von einer genauen Beobachtung religiöser Minderheiten im Land und deren „Religionsirrungen“. Neben Katholiken und Reformierten wird auf die Herrenhuter und Brüdergemeinden, auf Baptisten aus London, auf Mennoniten, auf barmherzige Schwestern, auf Waldenser und auf Juden verwiesen, um nur einige religiöse Gruppen in diesem bunten Spektrum zu benennen. Unter besonderer Beobachtung standen Exulanten und Emigranten.7 Diese Sorgen und Beobachtungen fanden 1694 ihren Niederschlag in einer Religionsversicherung, die Kurfürst Georg  III. auf der sächsischen Land- und Ausschusstagsversammlung verabschieden ließ. Hier wurde gefordert:„Mithin alle hierzu dienlichen Mittel vorkehren, und solche zugängliche Anstalt verfügen, daß weder ein öffentliches Exercitium fremder Religionen, noch auch sonst gefährliche [...] Schwärmerei in unseren Landen heimlich eingeführet, vielmehr, da sich dergleichen nach einbezogener Erkundigung ereignen würde, allso fort abgestellet und gehörig geahndet werden [solle].“8 4 5 6 7 8

Held, Wieland, Der Adel und August der Starke. Konflikt und Konfliktaustragung zwischen 1694 und 1707 in Kursachsen, Köln u.a. 1999, S. 55. Seit 1657 wurden Religionsversicherungen erlassen, aus denen die Sorge vor einer konfessionellen Überfremdung spricht. Vgl. dazu Sächs. HStA Dresden, Geheimes Kabinett, Religionssachen, Loc. 754. Vötsch, Jochen, Forschung und Diskussion: Kursachsen, das Reich und der mitteldeutsche Raum zu Beginn des 18. Jahrhunderts, in: Neues Archiv für sächsische Geschichte 67 (1996), S. 311–322, hier S. 22. Sächs. HStA Dresden, Geheimes Kabinett, Religionssachen, Loc. 2210, fol. 23 ff. Vgl. dazu auch Schunka, Gäste. Sächs. HStA Dresden, Geheimes Kabinett, Religionssachen, Loc. 754, fol. 10–15.

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Waren die Reaktionen von Adel und Stadtbevölkerung auf die Konversion ihres Landesherrn also nur Ausdruck diffuser Rekatholisierungsängste und irrationaler „Befindlichkeiten“, also „Gemüts Beunruhigen“ wie es in den Quellen heißt, die jeglicher realer Grundlage entbehrten? Ging es insbesondere mit Blick auf den Adel um die Sorge weiteren Machtverlusts angesichts eines absolutistisch regierenden Fürsten und zukünftigen polnischen Königs? Oder gab es auch im überwiegend lutherischen Kursachsen die Erfahrungen religiöser Differenz und Pluralisierung, die nach der Konversion des Landesherrn die Sorge begründeten, dass der Status quo im Miteinander der verschiedenen Konfessionen gefährdet werden könnte? Und welche Rolle schließlich spielte die Religionspolitik Roms, das sich mit der Errichtung der Propaganda Kongregation unmissverständlich der Rekatholisierung protestantisch gewordener Länder in ganz Europa verschrieben hatte. Ich möchte im Folgenden diesen Fragen nachgehen, indem ich zunächst ganz knapp die konfessionspolitischen Auswirkungen der Konversion auf der rechtlichen und politischen Ebene und die Politik Roms skizziere. Im Mittelpunkt meines Beitrags steht vor diesem Hintergrund die Frage nach religiösen Differenzerfahrungen im Alltag und den Ursachen für die immer wieder artikulierte „Sorge um das Seelenheil“ und die Angst vor „konfessioneller Überfremdung“. Diese Frage wurde in Kursachsen insbesondere am Beispiel gemischtkonfessioneller Ehen debattiert. Mit Blick auf soziales Handeln sind die Mechanismen von Bedeutung, die dazu führten, dass die Erfahrung religiöser Differenz und Pluralisierung zwischen friedlichem Miteinander und Bedrohung und Konflikt bis hin zu gewalttätigen Ausschreitungen changieren konnte.

II. Konfessionspolitische Auswirkungen der Konversion Das zentrale Problem, das sich innenpolitisch durch die Konversion des Kurfürsten gestellt hatte, war die Frage nach der zukünftigen landesherrlichen Oberaufsicht über die evangelische Landeskirche und damit verbunden die Frage nach der Position des katholischen Herrn im evangelischen Territorium.9 Die sächsischen Stände ließen sich im September 1697 von ihrem katholischen Landesherrn nicht nur die bestehende Kirchenverfassung bestätigen, sondern auch die sich darauf gründende politische Verfassung. Der Religions-Eid auf das evangelische Bekenntnis war und blieb eine Voraussetzung für die Übernahme von Ämtern.10 1699 übergab der Kurfürst die Kirchenaufsicht einschließlich der Durchführung von Visitationen und der Oberaufsicht der Schulen an den Geheimen Rat unter Ausschluss des katholischen Statthalters Fürst Anton Egon von Fürstenberg, womit er faktisch zentrale landesherrliche Hoheitsrechte zur Disposition stellte.11 Nominell blieben die katholischen Landesherrn Kursachsens allerdings das Oberhaupt der 9 10 11

Haug-Moritz, Württembergischer Ständekonflikt und deutscher Dualismus, S. 177. Sächs. HStA Dresden, Geheimes Kabinett, Religionssachen, Loc. 754, fol. 17. Ebd., fol. 19.

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evangelischen Landeskirche. Schwieriger gestaltete sich die traditionelle Rolle Kursachsens als Hüter des Protestantismus im Reich, die dem Kurfürsten gleichsam als Inhaber des Direktoriums des Corpus Evangelicorum zukam. Mit der Begründung, sein Glaubenswechsel sei nur privater Natur, schloss der König einen Vergleich mit dem evangelischen Herzog von Sachsen-Weißenfels über die zukünftige Handhabung des Direktoriums des Corpus Evangelicorum, nachdem die Verhandlungen mit dem Herzog von Sachsen-Gotha gescheitert waren. „Per modum Commissionis“ wurde die Führung formal dem Weißenfelser übertragen, der König sicherte sich aber die Mitsprache über den ebenfalls am Direktorium beteiligten kursächsischen Geheimen Rat zu.12 Die Geschäfte des Direktoriums wurden weiter von Dresden aus mit kursächsischem Siegel geführt,13 ein Schritt, der von Rom keineswegs begrüßt wurde.14 Faktisch gab der König allerdings durch die Konversion die Führungsrolle Sachsens unter den protestantischen Fürsten preis, auch wenn dies erst zwanzig Jahre später spürbar werden sollte, als sich die protestantischen Reichsstände unter der Führung Preußens und Hannovers reichsweit neu formierten.15 Nach Bekanntwerden der Konversion des kursächsischen Thronfolgers 1717 und seiner bevorstehenden Ehe mit der katholischen Kaisertochter Maria Josepha, gelang es Kurhannover und Kurbrandenburg die bislang noch eher gemäßigten Protestanten auf Reichsebene in den Folgejahren zu einer wirkmächtigen Opposition zusammen zu fügen. Gleichzeitig entfachte dieses Ereignis heftige Kontroversen unter den Führungsmächten des Corpus Evangelicorum über die Fragwürdigkeit des sächsischen Anspruchs auf das Direktorium.16 Im Zuge dieser Auseinandersetzungen verlangten nun auch die evangelischen Reichsstände von Friedrich August Religionsversicherungen. Bis dahin sollte sich Kursachsen jeglicher Aktivitäten im Direktorium enthalten.17 Die Führungsrolle Kursachsens unter den protestantischen Mächten war damit endgültig verwirkt worden.18 Innenpolitisch versicherte der König wiederholt, dass alles, was er 1694/95 auf seinem ersten Landtag zu Religionssachen gesagt habe, weiterhin gültig sei. Die Landstände und Städte allerdings beobachteten die Religionspolitik ihres katholischen Landesherrn sehr genau und brachten sämtliche Verstöße gegen die Religi-

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Vötsch, Jochen, Kursachsen, das Reich und der mitteldeutsche Raum zu Beginn des 18. Jahrhunderts, Frankfurt a.M. u.a. 2003, S. 78–80. Moser, Johann Jacob, Teutsches Staatsrecht, Bd. 10., Neudr. der Ausg. Leipzig 1743, Osnabrück 1968, S. 67 Vergleiche im Wortlaut ebd., S. 67–69. Für reichspolitische Folgen der Konversion vgl. Vötsch, Jochen, Forschung und Diskussion, S. 311–322. Christ, Hof – Territorium – Untertanen, S. 45. Kretschmar, Hellmuth, Geschichte der Neuzeit seit Mitte des 16. Jahrhunderts, in: Kötzschke, Rudolf/ders. (Hrsg.), Sächsische Geschichte. Neudr. der Ausg. Dresden 1935, Augsburg 1995, S. 211–402, hier S. 268. Zur Reichspolitik vgl. Haug-Moritz, Kaisertum und Parität, S. 477–482. Moser, Teutsches Staatsrecht, Bd. 10, S. 70–138; vgl. auch Haug-Moritz, Kaisertum und Parität, S. 466. Vgl. Moser, Teutsches Staatsrecht, Bd. 10, S. 71. Haug-Moritz, Kaisertum und Parität, S. 468.

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onsversicherungen des Kurfürsten in Eingaben und Beschwerdeschriften zu Papier.19 Gewissermaßen spiegelbildlich zu der Beschwerdeliteratur der protestantischen Landstände und Städte entstanden die Erfolgsmeldungen der Jesuiten, die Anfang des 18. Jahrhunderts nach Kursachsen kamen. In dem „Diarium Missionis Societatis Jesu Dresdae“, dessen Aufzeichnungen von 1710 bis 1844 reichen, lässt sich verfolgen, wie sich die konfessionelle Gemengelage in Kursachsen nach der Konversion Friedrich August I. aus katholischer Perspektive änderte.20 Nach der Konversion des Kurfürsten nutzte Rom jede Gelegenheit, durch eine aktive Politik und personelle Präsenz in Kursachsen die missionarische Tätigkeit, der sich in protestantischen Gebieten vor allem die Propaganda Kongregation in Rom, die Nuntien und die eigens dafür eingerichteten apostolischen Vikariate verschrieben hatten, gezielt voran zu treiben.21 Die Konversion eines Reichsfürsten bedeutete für Rom nicht nur einen Prestigegewinn, sondern eröffnete auch neue politische Optionen für die Rekatholisierungsbestrebungen der Kurie in den protestantischen Gebieten Europas.22 Zunächst forcierte Rom den Aufbau einer informellen Infrastruktur der katholischen Kirche in Sachsen im Umfeld des katholischen Hofes, für deren Aufbau der Kurfürst nicht nur umgehend personelle Unterstützung aus Rom erhielt, sondern die von ihm auch aus Sicht des Heiligen Stuhls erwartet wurde.23 Durch einen Beschluss der Propaganda Kongregation im Juni 1708 erhielt der königliche Beichtvater, der Jesuit Karl Moritz Vota, „die gewöhnlichen Vollmachten mit dem Titel eines „Apostolischen Präfekten der Mission in Dresden und in ganz Sachsen“ und war damit allein befugt, Vollmachten für geistliche Amtshandlungen in Sachsen an katholische

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Kaphahn, Fritz, Kurfürst und kursächsische Stände im 17. und beginnenden 18. Jahrhundert, in: Neues Archiv für Sächsische Geschichte und Altertumskunde 43 (1922), S. 62–79; Vötsch, Kursachsen, S. 28–45. Bislang wurde dieser Quellenbestand vor allem aus musikwissenschaftlicher Perspektive ausgewertet. Eine Auswertung aus historischer Perspektive steht noch aus; vgl. dazu Reich, Wolfgang, Das Diarium Missionis Societatis Jesu Dresdae als Quelle für die kirchenmusikalische Praxis, in: Gattermann, Günter (Hrsg.), Zelenka-Studien II. Referate und Materialien der 2. Internationalen Fachkonferenz Jan Dismas Zelenka (Dresden und Prag 1995), Sankt Augustin 1997, S. 43–57 und S. 315–379; Poppe, Gerhard, Ein weiteres Faszikel aus dem Diarium Missionis Societatis Jesu Dresdae wieder aufgefunden, in: Jahrbuch Mitteldeutsche Barockmusik 8 (2006), S. 193–204. Ausführlich mit Dokumenten Hiltebrandt, Philipp, Die Polnische Königswahl von 1697 und die Konversion August des Starken, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 10 (1907), S. 152–215. Vötsch, Kursachsen, S. 22; Burkhardt, Johannes, Abschied vom Religionskrieg. Der Siebenjährige Krieg und die päpstliche Diplomatie, Tübingen 1985, S. 67. Ziekursch, August der Starke, S. 86–135, 232–280; Seifert, Siegfried, Niedergang und Wiederaufstieg der katholischen Kirche in Sachsen 1517–1773, Leipzig 1964 Czok, Karl, August der Starke und Kursachsen, Leipzig 1987; anders Hiltebrandt, der argumentiert, die Kurie habe anfangs nur die Praxis des katholischen Glaubens innerhalb der königlichen Familie gefordert, vgl. Hiltebrandt, Die Polnische Königswahl, S. 193.

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Geistliche zu erteilen.24 War durch diesen Schritt zunächst die Aufsicht durch den eigentlich zuständigen apostolischen Vikar des Nordens umgangen und die katholischen Belange Sachsens allein Rom unterstellt, so ergingen die Vollmachten nach dem Tode Votas an den apostolischen Vikar des Nordens, übergangsweise auch an den Kölner Nuntius. Unter der Regentschaft August III. (1750–1827) wurden dem jeweiligen königlichen Beichtvater seit 1775 endgültig die Vollmachten eines apostolischen Vikariats mit Ausnahme der bischöflichen Weihen übertragen.25 Zu den zentralen Forderungen Roms zählten die Konversion der Kurfürstin Christiane Eberhardine, Ehefrau August des Starken und Lutheranerin, sowie die katholische Erziehung des Erbprinzen.26 Nachdem sich die Konversion der Kurfürstin als aussichtslos erwiesen hatte, konzentrierte sich Rom auf die Konversion des Prinzen, der von seiner Mutter und Großmutter lutherisch erzogen worden war.27 Im Jahre 1712 konvertierte der Kurprinz Friedrich August nach einer mehrjährigen Kavalierstour in Rom. Erst mehrere Jahre später wurde die geheim gehaltene Konversion bekannt gemacht.28 Nach der Rückkehr des Kurprinzen nach Dresden am 23. März 1719 ernannte ihn August der Starke zum Statthalter in Sachsen. Noch im gleichen Jahr wurde die Ehe zwischen dem Kurprinzen und der katholischen Erzherzogin Maria Josepha, Tochter Kaiser Joseph I., geschlossen. Diese Ereignisse führten landesweit zu politischer Verunsicherung und Protesten, verbunden mit der Sorge vor einer Rekatholisierung. Auch wenn diese Sorge angesichts der konfessionellen Verhältnisse in Kursachsen unbegründet war, so ist die politische Wachsamkeit zurückzuführen auf die offenkundigen Interessen Roms, den konfessionellen Status quo zugunsten der Katholiken zu verändern. In einem Schreiben des Papstes an den sächsischen Kurfürsten und polnischen König aus dem Jahre 1718 sicherte der Papst anlässlich der nun öffentlich bestätigten Konversion des Kronprinzen nochmals jegliche Unterstützung und Schutz der Katholiken zu. Er bot an, Sachverstand und Mittel bereit zu stellen, damit der König die katholische Religion in seinem Lande propagieren könne. Des Weiteren wurde die Schenkung von Kirchengütern in Aussicht gestellt.29 Ein weiteres Ziel Roms war die möglichst schnelle Einführung katholischer Gottesdienste in Kursachsen. Der päpstliche Nuntius Giovanni Antonio Davia, der dem König 1699 von Polen nach Dresden gefolgt war, erwirkte von August dem Starken die Übereignung der Kapelle von Moritzburg für die Abhaltung katholischer Gottesdienste und setzte unter Vermittlung des königlichen Beichtvaters Karl Moritz 24 25 26 27

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Saft, Paul Franz, Der Neuaufbau der katholischen Kirche in Sachsen im 18. Jahrhundert (Studien zur katholischen Bistums- und Klostergeschichte 2), Leipzig 1961, S. 92. Ebd., S. 91–101. Hiltebrandt, Die Polnische Königswahl, S. 193, 196. Seifert, Niedergang und Wiederaufstieg, S. 137–139; Blanckmeister, Franz, Christiane Eberhardine, die letzte Kurfürstin von Sachsen, und die konfessionellen Kämpfe ihrer Tage, in: Beiträge zur sächsischen Kirchengeschichte 6 (1891), S. 1–84, hier S. 24–28, 35–41. Kretzschmar, Geschichte der Neuzeit, S. 272. Sächs. HStA Dresden, Geheimes Kabinett, Religionssachen, Loc. 10330/22, fol. 64ff.

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Vota durch, dass die Kapelle mit einem ständigen Geistlichen besetzt wurde. Die Weihnachtsmesse wurde noch im gleichen Jahr durch den Nuntius unter Mitwirkung eines Kapuziners, P. Benignus sowie Johann Paldamus, der von der Kongregation für die Ausbreitung des Glaubens in Rom als kaiserlicher Gesandtschaftskaplan nach Dresden gesandt worden war, zelebriert.30 Papst Klemens XI dankte dem König sowie seinem Statthalter, dem katholischen Fürsten Egon von Fürstenberg, in einem Breve. Bei der Übergabe der Dankesworte durch den päpstlichen Nuntius schloss dieser sogleich die Forderung an, die katholische Kirche in Sachsen auch weiterhin zu fördern und den Katholiken in der Residenzstadt selbst einen Gottesdienstraum zur Verfügung zu stellen. Der päpstliche Nuntius trat gleichfalls als Vermittler für die in Leipzig wohnhaften Katholiken, vor allem italienische Kaufleute, auf, die nun ebenfalls die öffentliche Religionsübung sowie ein eigenes Gotteshaus forderten.31 Am 5. April 1708 wurde in Dresden schließlich das alte Opernhaus am Taschenberg als erste katholische Hofkapelle nach der Reformation in Kursachsen in einem öffentlichen Gottesdienst geweiht. Die Geistlichen, die mehrheitlich aus Böhmen stammten, gehörten dem Jesuitenorden an. Zu der noch kleinen katholischen Gemeinde zählten katholische Hofbedienstete und in Dresden ansässige katholische Künstler und Kaufleute. Die katholischen Kapellen und Kirchen, die im 18. Jahrhundert vor allem in Dresden, aber auch in Leipzig32, Hubertusburg33 und Meißen entstanden, einige davon mit fest angestellten Geistlichen, verfügten zunächst über keine landesherrlich anerkannten Parochialrechte; Amtshandlungen mussten durch evangelische Geistliche durchgeführt werden. Dies sollte sich ändern. Im Jahr der Eröffnung der Hofkapelle erließ August der Starke ein von Karl Moritz Vota verfasstes Dekret, das den Katholiken die freie Religionsausübung ermöglichen sollte. Punkt 14 der Verordnung lautete: „Es ist des Königs Wille und Befehl, daß die Ausübung der katholischen Religion vollständig frei sei. Man darf sie auf keine Weise stören oder belästigen. Auch sollen die Anhänger der Augsburgischen Konfession, Geistliche wie Behörden, den Katholiken in keiner Weise hinderlich sein; sie dürfen von den Katholiken keine Gebühren erheben für Trauungen, Taufen und Begräbnisse oder dgl. Den katholischen Priestern soll es erlaubt sein, den Kranken und Sterbenden beizustehen und ihnen die Sakramente zu spenden, und niemand darf sie hindern.“34 Gegen die öffentliche Ausübung des katholischen Gottesdienstes sowie die Zuerkennung von Parochialrechten legte das Oberkonsistorium in Dresden umgehend und wiederholt Beschwerde ein und berief sich dabei auf den Westfälischen Religi30 31 32 33 34

Saft, Der Neuaufbau der katholischen Kirche, S. 19; Seifert, Niedergang und Wiederaufstieg, S. 136. Saft, Der Neuaufbau der katholischen Kirche, S. 20. Seifert, Niedergang und Wiederaufstieg, S. 163–165. Ebd., S. 166–169. Die Originalakte gehörte in den Bestand Sächs. HStA Dresden, Geheimes Kabinett, Religionssachen, Loc. 2211, der wie der gesamte 2000er Bestand des Hauptstaatsarchivs Dresden im Krieg vernichtet wurde. Zitiert nach Saft, Der Neuaufbau der katholischen Kirche, S. 27.

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onsfrieden und die Religionsversicherungen des Königs, nach denen er „nicht bedacht [war], die Landeskirche gegen dero hergebrachte alte Privilegia in ein oder anderm zu graviren, sondern vielmehr [...] bey allen ihren Freiheiten allergnädigst zu erhalten“.35 Nach weiterer Fürsprache, dieses Mal durch den nach Dresden gereisten Kardinal Annibale Albani bewilligte der Kurfürst schließlich 1710 den Leipziger Katholiken einen öffentlichen Gottesdienstraum außerhalb der Stadt in der kurfürstlichen Festung Pleißenburg. An dieser Entscheidung konnte auch die umfassende Beschwerdeschrift der Geheimen Räte, die dem König Verletzung der Religionsversicherungen vorwarf, nichts mehr ändern.36 Unter dem Einfluss des katholischen Kurprinzenpaares schließlich wurde die katholische Messe in das öffentliche Leben gerückt und löste zugleich die dominierende Stellung des evangelischen Gottesdienstes innerhalb des höfischen Lebens ab.37 Während diese landes- und reichspolitischen Auswirkungen der Konversion für die kursächsische Bevölkerung eher abstrakt blieben und sie im Alltag nicht tangierten, spielte die sichtbare Präsenz religiöser Minderheiten in Kursachsen und die zunehmende Visualisierung des Katholizismus eine bedeutende Rolle für die Wahrnehmung religiöser Differenz und Pluralisierung. Diese Visualisierung bezog sich auf Gebäude und Orte, auf Handlungen und Rituale, auf Personen, auf Verfolgung und Proteste und schließlich, bezogen auf den Hof, auf die Repräsentation eines bestimmten Lebensstils verbunden mit Formen von Geselligkeit, die den Anspruch von Exklusivität beanspruchten oder als solche wahrgenommen wurden. Ich möchte diese allgemeinen Beobachtungen an einigen konkreten Beispielen verdeutlichen.

III. Religiöse Pluralisierung und die Wahrnehmung religiöser Differenz Religiöse Pluralisierung lässt sich auf sehr unterschiedliche Weise darstellen und in ihren gesellschaftlichen Auswirkungen analysieren und die Forschung hat inzwischen eine Reihe von Studien zu diesem Thema vorgelegt.38 Ich möchte mich an dieser Stelle auf zwei Zugänge stützen. Zum einen geht es mir um die faktische Präsenz religiöser Minderheiten, zum anderen um ihre gefühlte Gegenwart. Zum ersten: Kursachsen war ein konfessionell vergleichsweise homogenes Territorium geprägt von einer frühen Konfessionalisierung und einer streng bewachten lutherischen Orthodoxie. Die Zahl der Andersgläubigen im 17. Jahrhundert war verschwindend gering. Nur in den Kapellen der französischen und kaiserlichen Gesandten in Dresden fanden sich katholische Untertanen zu Gottesdiensten und zur 35 36 37 38

Originalakte Kriegsverlust (Sächs. HStA Dresden, Geheimes Kabinett, Religionssachen, Loc. 2210). Zitiert nach Saft, Der Neuaufbau der katholischen Kirche, S. 63. Ebd., S. 131–132. Poppe, Gerhard, Das Te Deum laudamus in der Dresdner Hofkirchenmusik: liturgische und zeremonielle Voraussetzungen, Repertoire und musikalische Fraktur, in: Archiv für Musikwissenschaft 63/3 (2006), S. 186–214, S. 193, 195. Zuletzt: Dixon, C. Scott/Freist, Dagmar/Greengrass, Mark (Hrsg.), Living with Religious Diversity in Early-Modern Europe, Farnham 2009.

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seelsorgerlichen Betreuung ein.39 Darüber hinaus wurde die Versorgung der Katholiken bis in das frühe 18. Jahrhundert in privaten Haushalten durch Dominikaner und Franziskaner aus dem Bistum Halberstadt übernommen.40 Sicherlich auch aufgrund geringerer Bevölkerungsverluste im 30-jährigen Krieg betrieb die kursächsische Regierung im Vergleich zum benachbarten Brandenburg-Preußen keine auf Zuwanderung ausgerichtete Bevölkerungspolitik, so dass sich die Zuwanderung auf einem sehr geringen Niveau bewegte. Zudem zog Kursachsen vor allem Lutheraner aus rekatholisierten Territorien wie den österreichischen Erblanden, oder Böhmen mit den Nebenländern Mähren, Schlesien und Oberungarn an.41 Darunter gab es eine Reihe dramatischer Fälle, in denen Eltern versuchten, die katholische Zwangserziehung ihrer Kinder nach ihrem Tod in den österreichischen Erblanden zu vermeiden und die Waisen nach Kursachsen schickten. So etwa wandte sich Heinrich Siegmüller in einem Brief an den sächsischen Kurfürsten mit der Bitte, seinen minderjährigen Sohn nach seinem nahen Tod in Sachsen aufzunehmen und in der evangelisch-lutherischen Religion erziehen zu lassen.42 Daneben kamen vor allem reformierte Handelsleute, die sich seit dem späten 17. Jahrhundert in Leipzig und Hoyerswerda ansiedelten und das Recht zur privaten Religionsübung – „privatum exercitium religionis“ – erhielten. Zugleich sind Gesuche französischer Reformierter erhalten, die um Aufenthaltsgenehmigung ersuchten.43 Bereits im 17. Jahrhundert gab es eine kleine katholische Minderheit im Umkreis katholischer Diplomaten und Künstler in Dresden. An der Wende zum 18. Jahrhundert ließen sich katholische Bedienstete des Dresdner Hofes und deren Angehörige in Kursachsen nieder sowie katholische Kaufleute, Handwerker und Künstler aus Frankreich und Italien, die sich überwiegend in der lutherischen Metropole Leipzig ansiedelten.44 Lediglich die Lausitzen verzeichneten eine konfessionell durchmischte Bevölkerung von Katholiken und Lutheranern. Jüngere Arbeiten haben diese Tendenz bestätigt, allerdings

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Hasche, Johann Chr., Diplomatische Geschichte der Stadt Dresden, Bd. 3, Dresden 1817, S. 282–284. Woker, Franz Wilhelm, Aus Norddeutschen Missionen des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Vereinsschrift der Görresgesellschaft 1 (1884), S. 2–3. Schunka, Gäste, S. 20–31. Sächs. HStA Dresden, Geheimer Rat, Loc. 10333; für weitere Schutzgesuche vgl. u.a. Sächs. HStA Dresden, Geheimer Rat, Loc. 10330, Loc. 10333/18 und Loc. 8309/13. Sächs. HStA Dresden, Geheimes Kabinett, Religionssachen, Loc. 2210 und Weinmeister, Paul, Beiträge zur Geschichte der evangelisch-reformierten Gemeinde zu Leipzig 1700–1900, Leipzig 1900, S. 1; Middell, Katharina, Hugenotten in Leipzig. Streifzüge durch Alltag und Kultur, Leipzig 1998. Allgemein Schirmer, Uwe, Wirtschaftspolitik und Bevölkerungsentwicklung in Kursachsen (1648–1756), in: Neues Archiv für sächsische Geschichte 68 (1997), S. 125–155; Weiss, Volkmar, Bevölkerungsentwicklung und Mobilität in Sachsen von 1550–1880, in: Neues Archiv für sächsische Geschichte 64 (1993), S. 53–60. Über die Zahl der in Sachsen im 17. und 18. Jahrhundert wohnenden Andersgläubigen liegen keine genauen Zahlen vor. Für einige Zahlenangaben aus dem 18. Jahrhundert vgl. die Angaben zur Seelsorgestatistik in Dresden, Leipzig und Hubertusburg in Saft, Der Neuaufbau der katholischen Kirche, S. 156–161.

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wesentlich detaillierter die Bedingungen und Auswirkungen der Zuwanderung in Kursachsen im 17. und frühen 18. Jahrhundert untersucht.45 Ungeachtet dieser Bevölkerungsentwicklung schien die gefühlte Präsenz religiöser Minderheiten eine andere Dimension einzunehmen und stand in einem Missverhältnis zu der tatsächlichen, eher geringen Präsenz anderer Konfessionen und Religionen. Das zeigt sich nicht zuletzt in Bittschriften von Städten und Ritterschaften Anfang des 18. Jahrhunderts, die sich in ihren religiösen Freiheiten durch rechtliche Zugeständnisse an religiöse Minderheiten bedroht sahen. So beklagten die Ritterschaft und Städte im März 1713, dass sie angesichts jüngster Entwicklungen – gemeint war die Übertragung von Parochialrechten an katholische Geistliche – „keine stattsame Gemüths Beruhigung“ die Religion betreffend hätten“.46 Moniert wurden „Änderungen“ und „Eingriffe“ sogar in „Jurisdictionalibus tam ecclesiasticis quam civilius“, die „eine Kränkung unserer evangelischen lutherischen Kirchenverfassung und disciplin“ bedeuteten und den „Genuß unseres unschätzbaren Gewissen Freiheit“ beeinträchtigten.47 Die Gewährung von Religionsfreiheiten und Privilegien für religiöse Minderheiten veränderte den Status quo des religiösen Miteinanders, was potentiell als bedrohlich empfunden und in Folge politisch als Bedrohung konstruiert wurde. Die regelmäßig von dem konvertierten Landesherrn abverlangten Religionsversicherungen als auch die Beschwerdeschriften mit Details über das Verhalten der Katholiken und anderer religiöser Minderheiten im Lande gewähren Einblicke in die konfessionellen Spannungen, die durch die wenn auch geringe Präsenz konfessioneller und religiöser Minderheiten von lutherischer Seite wahrgenommen, wenn nicht projektiert wurden, und bezeugen den Willen, an dem konfessionellen Status quo unverrückbar festzuhalten.48 Eine systematische Durchsicht dieser Akten erlaubt es, die politische Konstruktion der religiösen Befindlichkeiten im lutherischen Kursachsen nachzuzeichnen. Im Folgenden soll ein kleiner Einblick in die Argumentation gegeben werden. Ein stetig wiederkehrender Vorwurf war der des Proselytismus. „Fremde Religions Verwandte“ hätten „bis anhero nicht nachgelassen, in denen evangelischen Kirchensachen durch exercitium ihren Actum Ministerialum Anrichtung gewisser Seminare, Anlockung derer Leute zu ihren Glaubensbekenntnis“ Unruhe zu stiften.49 Eng verbunden mit Proselytismus war der Vorwurf, Kinder würden entführt und zum katholischen Glauben gezwungen. In Kursachsen wie in anderen Territorien im Reich wurde insbesondere die „Hinwegnehmung derer Waysenkinder“ durch fremde Glaubensangehörige beklagt.50 So waren etwa in Dresden laut Beschwerdeschrift drei lutherische Waisenkinder des verstorbenen Dresdner Hauptmanns und 45 46 47 48 49 50

Schunka, Gäste, S. 270 ff. Sächs. HStA Dresden, Geheimes Kabinett, Religionssachen, Loc. 754, fol. 32–35. Ebd. Ebd. Ebd. Freist, Dagmar, Kinderkonversionen in der Frühen Neuzeit, in: Lotz-Heumann, Ute/ Missfelder, Jan-Friedrich/Pohlig, Matthias (Hrsg.), Konversion und Konfession in der

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Witwers Mattheus Uslenghi heimlich zu einem katholischen Musikanten und von dort weiter in die Sakristei des katholischen Glöckners Minetti gebracht worden, der sie versteckt hielt.51 Die Verfasser der Schrift führten darüber hinaus an, dass häufig „ein und anderer aus Armuth und vermangelnden Lebensmitteln, oder auch andern Ursachen verleitet werden möchten, zu deren Pontificorum Religion zu treten“.52 Konvertierte nur ein Ehepartner, so würde der andere lutherischen Glaubens „in steter Gewissensfurcht gelassen“, dass „dessen Kinder entweder bey seinem Leben oder doch nach ihrem Todte, von denen widrigen Glaubens Verwandten dem Schoß der Evangelischen Kirche leicht entreißen werden könnten“.53 Derartigen Vorfällen gerichtlich nachzugehen sei deshalb so schwierig, weil die katholischen Geistlichen nicht vor weltliche Gerichte zitiert werden könnten. Das Schreiben schloss mit der Forderung, „daß vor allen Dingen gedachte Kinder wieder herbey geschaffet und in vorigen Stand wie und wo sie gewesen restituiret, das Verbrechen gebührend bestraffet und zur Rettung Gottes Ehre mithin alle sowohl deren Kirchen als Policey Verfassung höchst nachtheilige Verordnung abgestellet werden“ sollte.54 Auch wenn Kindsentführungen im Verborgenen geschahen, so machten die behördlichen Ermittlungen und die Befragung potentieller Zeugen diese Entführungen zu einem öffentlichen Akt, nicht selten begleitet von Flugblättern.55 Weitere „Gemüths Beunruhigungen“ riefen die seelsorgerliche Tätigkeit Andersgläubiger und die damit verbundenen religiösen Praktiken hervor.56 Wie ein roter Faden durchzog sämtliche theologische Bedenken angesichts der religiösen Pluralisierung die Frage nach der Eheschließung zwischen andersgläubigen Ehepartnern, welche Auswirkungen solche konfessionsverschiedenen Ehen haben würden und wie sie am besten zu verhindern wären. Neben den Beschwerdeschriften waren deutliche Kristallisationspunkte einer wachsenden Verunsicherung angesichts religiöser Pluralisierung die Ausschreitungen bei der Bekanntgabe der Konversion des Thronfolgers und dessen Heiratsplänen, bei der mysteriösen Ermordung des streitbaren lutherischen Magister Hahn, die einem Katholiken zugeschrieben wurde, und anlässlich des Baubeginns der Hofkirche 1739 und deren Eröffnung im Jahre 1751.57 Hintergrund dieser wachsenden Verunsicherung war die zunehmende Visualisierung religiöser Differenz, mit der Handlungen, Dinge und Orte konfessionell aufgeladen wurden. Zugleich wurde versucht, die konfessionelle Aufladung des öffentlichen Raumes herunterzuspielen.

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Frühen Neuzeit (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 205), Gütersloh 2007, S. 393–429. Sächs. HStA Dresden, Geheimes Kabinett, Religionssachen, Loc. 754, fol. 32–35. Ebd. Ebd. Ebd. Freist, Dagmar, Der Fall von Albini – Rechtsstreitigkeiten um die väterliche Gewalt in konfessionell gemischten Ehen, in: Westphal, Siegrid (Hrsg.), In eigener Sache. Frauen vor den höchsten Gerichten des Alten Reiches, Köln/Wien 2005, S. 245–270. Sächs. HStA Dresden, Geheimes Kabinett, Religionssachen, Loc. 2210 und 2211. Saft, Neuaufbau der katholischen Kirche, S. 62 und S. 83; Kretzschmar, Geschichte der Neuzeit, S. 272.

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So meldeten die „Dresdner Merckwürdigkeiten“ die zeremonielle Grundsteinlegung der katholischen Hofkirche mit folgenden Worten: „Den 28. Juli Vormittags ward der Erste Stein zu dem neuen Gebäude an der Elbbrücke dem Schlosse gegenüber gelegt.“58 Die Visualisierung des Katholizismus beruhte zum einen auf einer gezielten Inszenierung, wie etwa die Einweihung der Hofkirche, zum anderen auf „Verhüllung“. Eben durch derartige Akte des Nichtsichtbarmachens wurden Orte und Handlungen mit Sinn aufgeladen. Vor der katholischen Hofkirche wurden zur Einweihung drei kostbar ausgestattete Zelte errichtet, die für den königlichen Hof und die Geistlichkeit bestimmt waren. Diese Zelte markierten ein besonderes Ereignis und waren deutlich sichtbar. Zugleich verhüllten sie den Hofstaat und die katholische Geistlichkeit. Nach der äußeren Weihe der Kirche begann die katholische Messe im Kirchenraum unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Sämtliche Eingänge des Gebäudes wurden seit vier Uhr morgens von bewaffneten Soldaten bewacht. Die Zeremonien der Kirchen- und Altarweihe, das heilige Messopfer und die musikalische Ausgestaltung der Messe blieben vor den Augen und Ohren der Bevölkerung verborgen.59 Die Visualisierung des Katholizismus vollzog sich aber auch als ein schleichender Prozess und führte schrittweise zu einer Konfessionalisierung des öffentlichen Raums. So wurden beispielsweise katholische Kapellen und Kirchen in Dresden, in Leipzig60, Hubertusburg61 und Meißen geweiht, einige davon mit fest angestellten Geistlichen. Der König verlieh diesen Kapellen Bedeutung, indem er selbst mit seinem Hofstaat an katholischen Messen teilnahm wie etwa an der Weihnachtsmesse 1699 in der Moritzkapelle in Meißen. An der Weihe der katholischen Kapelle in Dresden im April 1708 nahmen nicht nur der König und sein Hofstaat teil, sondern es kamen über hundert katholische Gläubige der Stadt.62 Auch katholische Gottesdienste und Amtshandlungen in den Kapellen und Privathäusern von Gesandten wurden nicht länger verheimlicht und lutherische Geistliche beschwerten sich über katholische Amtshandlungen und öffentlich abgehaltene katholische Gottesdienste. Mit der Gewährung der freien Religionsausübung 1708 und einem katholischen Friedhof wenige Jahre später wurden auch religiöse Praktiken Teil des öffentlichen und halböffentlichen Raumes: Trauungen, Taufen, Beerdigungen, Besuche am Sterbebett und die Spende der Sakramente.63 Eine Besonderheit in Dresden war die Orchestrierung der Kirchenglocken und Geschützsalven zwischen den evangelischlutherischen Kirchen und der katholischen Hofkapelle an Feier- und Gedenktagen,

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Forwerk, August, Geschichte und Beschreibung der Königl. Katholischen Hof- und Pfarrkirche zu Dresden: nebst einer kurzen Geschichte der Katholischen Kirche in Sachsen vom Religionswechsel des Churfürsten Friedrich August I. an bis auf unsere Tage, 1851, S. 37. Ebd., S. 43–45 Seifert, Niedergang und Wiederaufstieg, S. 163–165. Ebd., S. 166–169. Forwerk, Geschichte und Beschreibung, S. 11. Zitiert nach Saft, Der Neuaufbau der katholischen Kirche, S. 27.

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die jedes Mal schwierige protokollarische Fragen aufwarf.64 Bis in die 1730er Jahre gab die traditionelle protestantische Ordnung den Rhythmus vor, bestimmte das höfische Zeremoniell an Fest- und Dankestagen und die katholische Hofkapelle musste sich anpassen. Die Herausforderung bestand in der „Abstimmung zwischen den Gottesdiensten beider Konfessionen und dem höfischen Zeremoniell“. Ziel war es, Gottesdienste, Kirchenmusik und Messen in ihrem zeitlichen Ablauf so zu planen, dass die weithin hörbaren Kirchenglocken an der evangelischen Schlosskapelle und der katholischen Hofkirche zeitgleich ertönten.65 Dies änderte sich in den 1730er Jahren unter dem Einfluss des Kurprinzen und die Geschützsalven hatten sich in Zukunft nach dem Rhythmus der katholischen Messe in der katholischen Hofkapelle zu richten.66 Allerdings ließen sich die Inhalte von Fürbitten nicht beeinflussen. Im Krieg gegen die Türken hatte der König vor Schlachtbeginn bei Belgrad ein Bittgebet für den Sieg gegen die Türken angeordnet. Die Protestanten hatten allerdings nicht nur für den Sieg gegen die Türken, sondern zugleich auch für einen Sieg gegen die Katholiken Fürbitte gesprochen. So jedenfalls notierte es der Chronist im August 1717 im „Diarium Missionis Societatis Jesu Dresdae“.67 Ungeachtet solcher Spannungen und der abwehrenden Haltung der Obrigkeit gab es im Alltag vor allem in den größeren Städten alltägliche Berührungspunkte zwischen Katholiken, Lutheranern und Reformierten. Auch Mischehen waren dort, wo mehrere Konfessionen auf engerem Raum lebten, keine Seltenheit.

IV. Religiöse Pluralisierung im Alltag, Mischehen und die Sorge um das Seelenheil Die eheliche Verbindung verschiedener Religionszugehöriger schien in Kursachsen im 17. Jahrhundert ein mögliches Szenario zu werden, jedenfalls beschäftigte dieses Phänomen Theologen und juristische Fakultäten und ist ein weiterer Beleg dafür, dass religiöse Pluralisierung ganz offensichtlich wahrgenommen wurde und für Beunruhigung sorgte. Zugleich gehörten Mischehen zum Alltag in Gegenden, in denen Angehörige verschiedener Religionszugehörigkeit lebten. Auch in Kursachsen sind gemischtkonfessionelle Ehen nachgewiesen und zeugen auf der einen Seite von einem pragmatischen Miteinander verschiedener Religionszugehöriger, auf der anderen Seite von innerfamiliären Religionskonflikten, die sich vor allem an der Frage der Kindererziehung entzündeten. Diese Mischehen und der politische Umgang mit diesem Phänomen bieten einen weiteren gewissermaßen mikroskopischen Einblick in die religions-politischen Befindlichkeiten in Kursachsen. In den Kompetenzstreitigkeiten zwischen katholischen und lutherischen Geistlichen, die mit der Konversion des Kurfürsten einsetzten, ging es unter anderem auch um das Problem der Mischehe. Bereits in den siebziger Jahren des 17. Jahrhun64 65 66 67

Für eine spannende Analyse vgl. Poppe, Das Te Deum, S. 186–214. Ebd., S. 193–196. Ebd., S. 199. Ebd., S. 194, Anm. 21.

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derts hatten sich die Konsistorien in Leipzig und Wittenberg, Ende des Jahrhunderts auch das Oberkonsistorium in Dresden, mit der Frage beschäftigt, ob konfessionell gemischte Ehen überhaupt zulässig sein sollten und wie damit in der Praxis zu verfahren sei. Dabei ging es nicht nur um Ehen zwischen Katholiken und Lutheranern, sondern auch zwischen Lutheranern und Reformierten. Im Jahre 1703 befasste sich der Geheime Rat offiziell mit der Frage der „Verheiratung unterschiedener Personen von ungleicher Religion 1700–1709 / Ob und wie die Ehe zwischen ungleichen Religionsverwandten zu verhindern oder allenfalls der besorgenden Seelengefahr, Gewissenszwang oder Verführung vorzubauen“ sei.68 Mit dieser Abhandlung sollte die Ausgestaltung einer Verordnung zu Mischehen beeinflusst werden, die angesichts der Gesuche um Eheschließung verschiedener Religionsangehöriger in Kursachsen unabdinglich wurde. Die ablehnende Haltung der Verfasser gegenüber Mischehen intoniert alle Argumente, die auch schon die Forderungen nach Religionsversicherungen geprägt hatten: Angst vor Verführung, Angst vor religiöser Durchmischung, Sorge um das Seelenheil lutherischer Untertanen und generell, dass konfessionell gemischte Ehen nicht glücklich verlaufen würden. Im Kern ging es allerdings um die so nicht artikulierte Sorge vor Kontrollverlust über den Glauben und die konfessionelle Ausrichtung der kursächsischen Bevölkerung. Die Verfasser positionierten sich gegen Mischehen und schrieben, diese Haltung [gründe] sich „[…] auf die Seelengefahr wegen besorgter Verführung […], welche eher zu besorgen, von denen, die zwar Christen heißen, aber im Grunde des Glaubens irren, und ihre Irrthümer mit Missbrauch des Wortes Gottes scheinbarlich wissen zu bemänteln als ein Heid oder Ungläubiger“.69 Die Aufgabe der Obrigkeit erläuterten die Verfasser im frühen 18. Jahrhundert überraschend traditionell. Der Herrscher war nicht nur verantwortlich, für das leibliche Wohl der Untertanen zu sorgen, sondern er trug vor allem auch die Verantwortung, für „die geistliche und ewige Wohlfahrt ihrer Unterthanen“.70 Daraus ergebe sich die Pflicht, eine „heilsame Verordnung (doch ohne Gewissenszwang, welcher in solcher ungleichen Ehe sowohl wegen der nichtgläubigen Ehegatten als Kinder zu besorgen) [zu] befördern“. Dabei müsse es zentral um die Frage gehen „wie und auf was maßen solchen Ehen und der dabey besorgenden Seelengefahr vorzubauen“.71 Mischehen könnten zwar aufgrund der im Westfälischen Frieden garantierten Gewissensfreiheit nicht einfach verboten werden, so die weitere Überlegung, „jedennoch weil solche dem Worte Gottes zu wider, und so große Gefahr mit sich führen, ist darauf zusehen, daß so viel immer möglich, dieselben hintertrieben, oder denen Gewissen Ruhe und Sicherheit verschaffet werden“.72 Dort, wo nur einer Konfession das „öffentliche exercitium nach dessen fundamental Gesetzen und Verfassung“ gewährt worden sei, müsse umso genauer darauf geachtet werden, „daß nicht über die particular Gefahr der 68 69 70 71 72

Sächs. HStA Dresden, Geheimer Rat, Loc. 4587. Ebd., fol. 19. Ebd., fol. 21. Ebd. Ebd.

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also contrahirenden Personen [Schließung einer Mischehe], auch die ganze Kirche durch Vermengung allzu vieler Personen, so anderer Religion zugethan, Schaden leide“.73 Grundsätzlich, meinten die Verfasser, müsste ein Landesherr, der „lauter Evangelische Unterthanen hätte“ [...] „dergleichen unglückliche Ehen“ verbieten, doch dies wäre kaum durchsetzbar.74 Stattdessen sollten nun konkrete Maßnahmen verabschiedet werden, um dem aus solchen Ehen drohenden Unheil vorzubeugen. Die erste von drei Maßnahmen bezog sich auf die Rolle der Konsistorien. Die Anbahnung einer Ehe zwischen Lutheranern und Katholiken oder Reformierten sollte sofort gemeldet werden; die Superintendenten wurden beauftragt, die ihnen unterstehenden Pastoren anzuweisen, die Gemeindeglieder mithilfe einschlägiger Literatur auf die Gefahren einer solchen Ehe hinzuweisen und davor zu warnen. Im Wortlaut hieß es: „daß weil man in erfahrung käme, daß hin und wieder gethane Mannespersonen evangelische Weiber heiraten, oder auch evangelische Mannespersonen mit päbstischen oder Reformierten Weibspersonen sich in eheliche Verbündnis einließen, woraus allerhand Verführung, gewissens Noth und Seelengefahr sowohl für diejenigen Eheleuthe selbst, so der Evangelischen Religion zugethan, als auch für die in solcher Ehe gezeugten Kinder zu besorgen als hätten sie durch die ihnen untergeordneten Superintendenten den sämbtlichen Pastoribus anzudeuten, daß sie für dergleichen Verlöbnißen tunlich warnen, und ihren Zuhörern nach anleitung abgemelter und anderer Auctorum so sie daher Nachricht geben, die Gefahr und Unheil so ihnen daher fleißig und beweglich vorstellen sollten.“75 In einem zweiten Schritt schlugen die Verfasser Maßnahmen vor, die ergriffen werden sollten, wenn sich eine konfessionell gemischte Ehe nicht verhindern ließ. Eine solche Ehe sollte erst eingesegnet werden, wenn der „widriger Religion zugethane Theil sich durch zulängliche Caution dahin verbinden, daß er weder den Evangelischen Theil zur widrigen Religion zwingen, oder bereden, noch auch die Kinder beyderley Geschlechts anders, alß in der Evangelischen Religion auferziehen lassen, deshalben auch so der Mann Päbstlich oder Reformiret, er weder das Weib, noch die Kinder an Päbstliche oder Reformirte Örthe führen, oder so er andergleichen sich begebe, unter einigen praetext, wie er Nahmen haben möchte, die Kinder zu sich zuziehen, oder auch ihnen die Alimenta, wenn sie nicht folgen, zu versagen, nicht befugt seyn sollte“.76 Rechtlich schwieriger zu handhaben war die Frage der Konversion in evangelischem Territorium geborener Kinder einer Mischehe, und hier vor allem die Frage, ob katholische Väter „sub praetextu patriae potestatis“ die Kinder an „Päbstische Örter“ bringen durften, um sie dem katholischen Glauben zuzuführen. Die Verfasser verwiesen auf ein umfangreiches juristisches und theologisches Gutachten vom 15. April 1672, das zu eben dieser Problematik in Auftrag gegeben worden war und den Kindern um ihrer Gewissensfreiheit willen als auch dem Landesherrn als 73 74 75 76

Ebd., fol. 21–22. Ebd., fol. 22. Ebd. Ebd., fol. 23.

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Schutzherr der Religionsfreiheit weitreichende Rechte gegenüber den Eltern eingeräumt hatte. In diesem Zusammenhang wurde auf die unsichere Rechtslage der abverlangten Kaution und Eides verwiesen und vorgeschlagen, die Religionsversicherung des nicht-lutherischen Ehepartners in jedem Einzelfall vor der Obrigkeit ableisten zu lassen, um in Konfliktfällen in der Lage zu sein, „dem Evangelischen Theil Schutz und Hülffe zu schaffen“.77 Die Verfasser schlossen ihren Bericht mit der Empfehlung – „weil Sache von großer Wichtigkeit“ – Gutachten der beiden Konsistorien sowie der theologischen Fakultäten des Landes einzufordern, um zwei offene Fragen grundlegend erörtern zu lassen. Erstens, „ob die Ehe zwischen Päbstischen oder Reformirten und Evangelisch Lutherischen Personen in diesen Landen zu verstatten, da die oben angeführte Rationes und sonderlich die augenscheinliche Seelengefahr entgegen stehen?“ Und zweitens, „wenn solche zuzulassen, wie den Besorgnissen wegen der Seelengefahr und Verführung sowohl an Seiten des Evangelischen Ehegatten, alß auch deren Kinder zulänglich vorzubauen und abzulassen?“78 Ob dieses Gutachten angefertigt wurde, lässt sich nicht feststellen, das Verfahren zum Umgang mit Mischehen in Sachsen, das im 17. und 18. Jahrhundert praktiziert wurde, trug allerdings deutlich die Handschrift dieser Vorschläge. Das lutherische Kursachsen kontrollierte die Schließung von Mischehen im 17. und 18. Jahrhundert in einem ausgeklügelten Dispensverfahren. Als Gründe wurden Ängste vor einer konfessionellen Überfremdung angeführt, die seit dem Westfälischen Frieden aufgrund der Glaubensfreiheit zugenommen hätte. Mischehen wurden nur nach erteiltem Dispens durch das Oberkonsistorium und den Landesherrn gestattet und nur bei Vorlage ausreichender Religionssicherheiten, die die lutherische Erziehung aller Kinder garantierten. Außer bei Krieg und Aufruhr war es einem katholischen Ehemann verboten, sich zu „katholischen Orten“ zu begeben, weil sich seine Frau dort äußerster Seelengefahr und der Verletzung ihres Gewissens aussetzen würde. Amtsleute im ganzen Land waren angewiesen, die korrekte Aufzucht von Kindern aus Mischehen zu überwachen. Falls auch nur der geringste Anlass zu Zweifel gegeben sei, sollten die Kinder vor ihren Eltern geschützt werden. In der Praxis konnte das die Abstellung von Wachen in das Haus der Familie zum Schutz der Kinder und die Befragung der Kinder – in Abwesenheit der Eltern – über die eigenen religiösen Ansichten und die der Eltern bedeuten. Diese Einmischung von Amtsleuten in die Sphäre der Familie wurde oftmals von dem ‚pater familias‘ als Angriff auf seine Ehre und auf seine öffentliche Stellung in der Dorfgemeinschaft empfunden. Allerdings war auch die Landesregierung mit derartig rigoroser Vorgehensweise nicht einverstanden und versuchte in Einzelfällen, das Vorgehen des Oberkonsistoriums in feste politische Bahnen zu lenken. Die Haltung zu Mischehen im Alltag war allerdings wesentlich komplexer und gibt einen Einblick in die sehr unterschiedliche Bedeutung, die religiöse Pluralisierung für das Zusammenleben einzelner Menschen in der Praxis hatte. Ich möch77 78

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te dies abschließend an einem Fallbeispiel verdeutlichen. In Bittschriften konnten Andersgläubige eine Ausnahme bewirken und die Kindererziehung nach eigenen Vorstellungen regeln. In diesen Bittschriften wurde keineswegs durchgängig beteuert, den Anforderungen der lutherischen Orthodoxie zu entsprechen. Vielmehr klingt aus diesen Bittschriften die Forderung nach religiöser Selbstbestimmung unter Berufung auf den Westfälischen Frieden von 1648. Zugleich wurde nicht selten der König oder ab den 1730er Jahren die Kurprinzessin als katholische Glaubensgenossen um Unterstützung angerufen und an ihre Empathie appelliert.79 Eine solche Bittschrift verfasste der katholische Händler Hilarius Musacci im Jahre 1702. Er stammte ursprünglich aus Neapel und wohnte seit einigen Jahren in Dresden, wo er Handel trieb. Musacci wandte sich an das Oberkonsistorium und bat um eine Ehedispens, um seine Verlobte, die lutherische Christiane Sophie Duschin, heiraten zu können.80 Dispensationen für Mischehen wurden wie bereits gezeigt grundsätzlich nur gewährt, wenn ausreichend Religionssicherheiten vorlagen, die die lutherische Erziehung aller Kinder garantierten. Musacci widersetzte sich dieser Forderung und verlangte stattdessen, die Söhne katholisch wie der Vater, die Töchter lutherisch wie die Mutter – „so wie es auch an anderen Orten üblich sei“ – erziehen zu dürfen. Die Dispensation wurde verweigert und der Fall wurde an den Geheimen Rat verwiesen. Angesichts dieser Umstände schien Musaccis Ehegesuch wenig Erfolg beschert zu sein, lehnte er doch weiter die lutherische Erziehung seiner Kinder ab. Die Risiken, die er bereit war, auf sich zu nehmen einschließlich des Geschäftsausfalls angesichts seiner Wartezeit, den er bereits beklagte, zeigt, wie entscheidend der Schutz des religiösen Gewissens in einer Mischehe und die Machtverteilung unter den Eheleuten war. Die Aufzucht aller Kinder unter alleiniger Aufsicht seiner lutherischen Frau, wie vom Oberkonsistorium entsprechend der Landesgesetze zu Mischehen gefordert und unter Eid bekräftigt werden sollte, war für Musacci untragbar.81 In einem ausführlichen Brief an den Kurfürsten und König von Polen breitete er seine Gründe aus. Die Forderungen des Konsistoriums bedeuteten für ihn einen Gewissenszwang. Es gebe in Dresden viele Mischehen in allen gesellschaftlichen Schichten, aber keiner von ihnen würde Ähnliches abverlangt. Musacci appellierte an den König, der ja wie er Katholik sei, und bat ihn als Glaubensgenossen um Vermittlung. Aus Gewissensgründen forderte Musacci weiter, privat in seinem Hause heiraten zu dürfen.82 Über die Einstellung der Verlobten, Christiane Sophie, gibt es keine Aufzeichnungen. Ihr Vater jedoch hatte – aus Gewissensgründen – verlangt, dass Musacci unter Eid schwur, alle Kinder lutherisch aufzuziehen.83 Die Dispens wurde schließlich nur unter der Bedingung gewährt, dass sich der Händler bereit erklärte, seine mündlichen Beteuerungen, den Kindern keinen Gewissenszwang anzutun und sie bis zur Volljährigkeit lutherisch erziehen zu lassen, als auch seine Familie außer 79 80 81 82 83

Sächs. HStA Dresden, Geheimes Archiv, Consistorialsachen, Loc. 7442 (1749–1752). Sächs. HStA Dresden, Geheimer Rat, Loc. 4587, fol. 17 r-l. Ebd., fol. 28r–29l, 33r–34l. Ebd., fol. 40r–41l. Ebd, fol. 38r–1..

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im Kriegsfall nicht an einen katholischen Ort zu bringen, zu beeiden und damit eine juristisch stichhaltige Religionsversicherung abzugeben. Ähnliche Gesuche um Dispens zeugen von dem Willen der Paare, auf der einen Seite eigene religiöse Vorstellungen in der Ehe verwirklichen zu können, auf der anderen Seite die Ehe trotz Schwierigkeiten eingehen zu wollen und schließlich von der kompromisslosen Haltung des Oberkonsistoriums in der Mischehenfrage.

V. Schluss Wie weit die Gravamina der evangelischen Landstände auf den sächsischen Landtagen gegen Übergriffe der Katholiken und die damit verbundenen Forderungen nach neuen Religionsversicherungen von einer real empfundenen Angst vor einer Rekatholisierung des Landes geprägt waren oder ob es hier eher um konfessionspolitische Strategien zur Erhaltung ständischer Macht ging, lässt sich nicht eindeutig in die eine oder andere Richtung beantworten. Beide Beweggründe haben das Verhalten der Stände gleichermaßen beeinflusst. Neben diesen Gravamina verweisen auch die Abhandlungen lutherischer Theologen etwa zu den Problemen von Mischehen und konkrete Ausschreitungen der Bevölkerung gegen die sukzessive Anerkennung religiöser Minderheiten, die sich vor allem in der Konfessionalisierung des öffentlichen Raums manifestierte, auf eine deutliche Wahrnehmung religiöser Pluralisierung, die sich nicht nur auf die katholische Minderheit bezog. Insbesondere das Aufkommen von Mischehen und die damit einhergehenden pragmatischen Alltagslösungen wie auch Konflikte, auf die in diesem Aufsatz nicht weiter eingegangen werden konnten, machen deutlich, dass das nach außen hin so homogen wirkende lutherische Kursachsen durchaus geprägt war von religiösen Differenzerfahrungen. Während in den Gesuchen um die Schließung einer Mischehe durchaus die Bereitschaft durchklingt, ein religiös plurales Familienleben zu gestalten, ist die offizielle Haltung der lutherischen Kirche gekennzeichnet von großer Sorge vor einer „Durchmischung“ der Religionen und der Verführung der Rechtgläubigen. Erst die Analyse der Wahrnehmung religiöser Pluralisierung und die Gestaltung religiöser Pluralisierung im Alltag erlaubt es, die religiöse und konfessionelle Gemengelage in Kursachsen im 17. und 18. Jahrhundert zu beurteilen. Friedrich August I. selbst, dem eher religiöse Indifferenz nachgesagt wurde, hatte keine ernsthaften Pläne für eine Rekatholisierung des Landes.84 Dennoch trennte der Konfessionswechsel den Landesherrn von dem Glauben seiner Untertanen und die Befürchtungen vor einer geplanten Rückführung der Bevölkerung zum Katholizismus konnten auch in der Folgezeit nie völlig überbrückt werden.85 Die Gründe für die gefühlte Bedrohung durch religiöse Minderheiten und die damit verbundene Verunsicherung einiger Bevölkerungsgruppen liegt in der Tatsache, dass mit 84 85

Haake, Paul, August der Starke, Berlin/Leipzig 1926, S. 64–65; Ziekursch, August der Starke, S. 91–93; Seifert, Niedergang und Wiederaufstieg, S. 132. Haake, August der Starke, S. 67–68; Kretzschmar, Geschichte der Neuzeit, S. 268–269.

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der Konversion des Kurfürsten und damit zusammenhängenden Dekreten zu freier Religionsausübung von Katholiken der Status der katholischen Minderheit aufgewertet und sichtbarer Teil des öffentlichen und halböffentlichen Raumes wurde. Nicht zu unterschätzen ist die Wirkung der konfessionellen Aufladung von Gebäuden, Orten und Handlungen und die Veränderungen des religiösen Status quo für die Wahrnehmung religiöser Differenz – als Normalfall oder als Bedrohung. Noch nicht ausreichend untersucht ist das Verhältnis katholischen und nichtkatholischen Adels in Kursachsen und die Frage der Exklusivität katholischer adliger Kreise und katholischer Fremder, die einen eigenen Lebensstil und eine eigene Kultur und Geselligkeit prägten, denen gegenüber sich der landsässige lutherische Adel wie auch das alteingesessene lutherische Bürgertum neu positionieren musste. Die vielfach artikulierte Angst vor religiöser Überfremdung war, so eine weiterführende Frage, nicht nur religiös und politisch begründet, sondern hatte auch Auswirkungen auf das jeweilige symbolische und kulturelle Kapital und damit die Positionierung und Hierarchisierung sozialer und religiöser Gruppen.

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Betrübtes Dresden – wütendes Dresden Konfessionelle Identität und städtischer Konflikt in der kursächsischen Residenzstadt (1726) Mathis Leibetseder

Konfessionalisierung1 wird in der Forschungsdiskussion der letzten Jahrzehnte als ein „Fundamentalvorgang“ verstanden, der durch ein Ineinandergreifen gleichlaufender Prozesse, namentlich der Herausbildung frühmoderner Staatlichkeit und frühmoderner Konfeassionskulturen, „das öffentliche und private Leben in Europa tiefgreifend umpflügte“.2 In seiner formativen Phase profitierte der frühmoderne Fürstenstaat besonders davon, dass er durch den Zugriff auf das religiöse Leben der Untertanen die herrschaftliche Durchdringung der Gesellschaft vorantreiben und seine eigene Macht stärken konnte. Durch Sozialdisziplinierung und Kirchenzucht wurden Fremd- in Selbstzwänge umgewandelt und als konfessionelle Identität im Einzelnen verankert. Die Konfessionalisierung war kein rein kirchlich-religiöser Prozess, sondern hatte auch auf die Lebenswelten der Menschen weitreichende Auswirkungen und ging mit einem gesellschaftlichen Modernisierungsschub einher. Als Kernzeit der Konfessionalisierung gelten die Jahrzehnte um 1600, die daher auch als „Vorsattelzeit der Moderne“3 bezeichnet wurden. Spätestens mit dem Westfälischen Frieden neigte sich das konfessionelle Zeitalter jedoch seinem Ende entgegen. Nicht länger mehr entluden sich konfessionelle Spannungen in großen inner- oder zwischenstaatlichen Kriegen. Das Alte Reich hatte mit dem Vertragswerk von Münster und Osnabrück ein „Fundamental-Gesetz“ mit Verfassungscharakter4 erhalten, das den Fortbestand sowohl der katholischen als auch der evangelisch-lu1

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Aus Platzgründen verbietet es sich, an dieser Stelle auch nur eine Auswahlbibliographie zu diesem Forschungsfeld aufzuführen. Die wesentlichen Etappen der Forschung sind aufgeführt bei Kaufmann, Thomas, Einleitung: Transkonfessionalität, Interkonfessionalität, binnenkonfessionelle Pluralität – Neue Forschungen zur Konfessionalisierungsthese, in: Greyerz, Kaspar von/Jakubowski-Thiessen, Manfred/Kaufmann, Thomas/ Lehmann, Hartmut (Hrsg.), Interkonfessionalität, Transkonfessionalität, binnenkonfessionelle Pluralität. Neue Forschungen zur Konfessionalisierungsthese, Heidelberg 2003, S. 9–15, hier S. 9, Anm. 1. Schilling, Heinz, Die Konfessionalisierung von Kirche, Staat und Gesellschaft – Profil, Leistung, Defizite und Perspektiven eines geschichtswissenschaftlichen Paradigmas, in: Reinhard, Wolfgang/Schilling, Heinz, Die katholische Konfessionalisierung, Heidelberg 1995, S. 1–49, hier S. 4. Ebd., S. 5. Der Begriff „Fundamental-Gesetz“ entstammt dem zeitgenössischen Sprachgebrauch. Hier zit. nach Burkhardt, Johannes, Der Dreißigjährige Krieg, Frankfurt am Main. 1992, S. 120. Siehe ebd., S. 119f. zum Verfassungscharakter des Westfälischen Friedens.

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therischen und der evangelisch-reformierten Konfession reichsrechtlich garantierte. Durch Verrechtlichung und institutionalisierte Formen der Konfliktbewältigung verloren konfessionelle Streitigkeiten ihre gesellschaftliche Sprengkraft, ja in vielen Körperschaften des Heiligen Römischen Reiches und seiner Territorien lebten Katholiken und Protestanten geregelt mit- oder zumindest nebeneinander. All das hat Historikerinnen und Historiker dazu bewogen, die 150 Jahre zwischen dem Westfälischen Frieden und dem Ende des Alten Reichs nicht mehr unter dem Gesichtspunkt der Konfession zu charakterisieren. Die folgenden Epochen, die des Absolutismus und der Aufklärung, wurden mit Schlagworten wie Dechristianisierung, Säkularisierung und Rationalisierung belegt,5 aber auch von Pluralisierung, Privatisierung und Individualisierung der Frömmigkeit ist gelegentlich die Rede.6 Obwohl nicht bestritten wird, dass die Konfessionskulturen auch nach 1648 fortbestanden, wird der Glaube im Allgemeinen also nicht mehr als ‚Epoche machend’ betrachtet. Diese Perspektive lässt jedoch unberücksichtigt, dass im 18. Jahrhundert in den Territorien des Alten Reiches genauso wie in anderen Teilen Europas wiederholt heftige konfessionelle Konflikte aufflammten, die nicht zuletzt auch in der zeitgenössischen Publizistik einen starken Widerhall fanden. Nennen ließen sich vor allem der ‚Kölner Residentenstreit’ des Jahres 1708,7 die Hamburger Ausschreitungen gegen das Haus des dort akkreditierten kaiserlichen Gesandten 17198 sowie der ‚Dresdner Priestermord’9 des Jahres 1726 – spektakuläre Geschehnisse, die ein überregionales Interesse nach sich zogen. Jenseits der Grenzen des Alten Reiches

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Zur Periodisierung vgl. Müller, Winfried, Die Aufklärung, München 2002, S. 11. Die Rolle der Konfessionen im Zeitalter der Aufklärung charakterisiert Müller mit den Begriffen „Relativierung der Konfessionskirchen“, „Rationalisierung und Pazifizierung religiöser Konflikte“ oder „Säkularisierung des religiösen Weltbildes“ (ebd., S. 45ff. ). Zu den genannten Begriffen siehe ferner die in Lehmann, Hartmut (Hrsg.), Säkularisierung, Dechristianisierung, Rechristianisierung im neuzeitlichen Europa. Bilanz und Perspektiven der Forschung, Göttingen 1997 versammelten Aufsätze. Zur Privatisierung und Individualisierung siehe z.  B. Greyerz, Kaspar von, Religion und Kultur. Europa 1500–1800, Göttingen 2000, S. 285–330. Hierzu Meister, Alois, Der preussische Residentenstreit in Köln, ein Versuch zur Einführung des reformierten Gottesdienstes, in: Annalen des historischen Vereins für den Niederrhein 17 (1901), S. 1–30; Bellingradt, Daniel, „Lateinische Zeddel“ in der Reichsstadt Köln (1708). Signale, Diskurse und Dynamiken im öffentlichen urbanen Raum der frühen Neuzeit, in: Geschichte in Köln 56 (2009), S. 207–237; Hatje, Frank, Repräsentationen der Staatsgewalt. Herrschaftsstrukturen und Selbstdarstellung in Hamburg, 1700–1900, Basel u. a. 1997, S. 75–112; demnächst auch die rechtshistorische Dissertation von Kathrin Kober mit dem Arbeitstitel „Der Kölner Residentenstreit um das exercitium reformatae religionis. Gesandtenrecht versus Staatskirchenrecht zu Anfang des 18. Jahrhunderts“ sowie mein im Druck befindlicher Aufsatz: Ein umstrittener sozialer Raum. Der herzoglich-klevische Stadthof als brandenburg-preußische Residentur in der Reichsstadt Köln (1609-1772), in: Rheinischen Vierteljahrsblättern 76 (2012). Ausführlich hierzu Hatje, Repräsentation der Staatsgewalt, Kapitel 3. Siehe Leibetseder, Mathis, Die Hostie im Hals. Eine ‚schröckliche Bluttat’ und der Dresdner Tumult des Jahres 1726, Konstanz 2009.

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traf dies beispielsweise auf das ‚Thorner Blutgericht’ (1724)10 oder die Gordon Riots in London (1780) zu. Wenn auf den folgenden Seiten eines dieser Ereignisse, nämlich der Dresdner Priestermord, näher betrachtet werden soll, so wird dabei die Frage im Vordergrund stehen, welche Rückschlüsse sich aus einer Fallstudie für die Konfessionalisierung als übergreifendes Forschungsparadigma einerseits und für die Periodisierungsfrage andererseits gewinnen lassen. Die „Konfessionalisierungsthese“11 ist in den letzten Jahren zunehmend in Frage gestellt worden. Wiederholt wurde ihr „Etatismus“12 vorgeworfen, also eine zu starke Ausrichtung auf den Staat und staatliches Handeln. Die Handlungen und Handlungsspielräume der historischen Akteure an den ‚Graswurzeln’ der Gesellschaft traten dagegen in den Hintergrund. Vernachlässigt wurde auch die Frage, ob die obrigkeitlich gelenkten Disziplinierungsbestrebungen die postulierte Durchschlagskraft überhaupt erreichten.13 Gerade in dieser Hinsicht kann eine Studie, die, wie die folgende, ein eng umgrenztes Fallbeispiel aus mehreren Perspektiven untersucht, wertvolle Aufschlüsse liefern. Besonderes Augenmerk wird dabei auf das Konzept der ‚konfessionellen Identität’ zu richten sein, wobei ich unter ‚Identität’ die in (Sprech-)Handlungen14 erzeugten, dargestellten und vergegenwärtigten Selbstbilder bzw. Selbstdarstellungen historischer Akteure verstehe. Zumindest in Bezug auf die Gegenwart wird in der Soziologie nämlich nicht mehr von „der Identität als ‚Mit-Sich-Selbst-Identisch-Sein’“15 ausgegangen, sondern von Identität als ein „aus mehreren Lebenserfahrungen zusammengesetztes Selbstbild.“16 Diese Definition dürfte wohl letztlich auch den Identitätskonstruktionen frühneuzeitlicher Menschen gerechter werden als der „Entwurf einer widerspruchsfreien, vereinheitlichenden und kontrollierten Einzelperson“.17 Selbstbilder entziehen sich freilich sowohl in der täglichen Interaktion als auch in der historischen Rückschau dem unmit10

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Speziell zu diesem Thema bereitet augenblicklich Samuel Feinauer eine Dissertation unter dem Arbeitstitel „Wahrnehmungen der polnisch-litauischen Konfessionspolitik in Politik und Publizistik Europas im frühen 18. Jahrhundert. Der Thorner Tumult als Fallbeispiel“ vor. Kaufmann, Einleitung: Transkonfessionalität, S. 9. So z. B. Schmidt, Heinrich Richard, Sozialdisziplinierung? Ein Plädoyer für das Ende des Etatismus in der Konfessionalisierungsforschung, in: Historische Zeitschrift 265 (1997), S. 639–682; Volkland, Frauke, Konfession, Konversion und soziales Drama. Ein Plädoyer für die Ablösung des Paradigmas der ‚konfessionellen Identität’, in: Greyerz u. a., Interkonfessionalität, S. 91–104, hier S. 96. Dies bestreitet z. B. Volkland, Konfession, Konversion, S. 99–104. Die Sprechakttheorie geht zurück auf John L. Austin, How to Do Things with Words, Cambridge/Mass. 1962 [deutsche Ausgabe: Zur Theorie der Sprechakte, Stuttgart 1972]. Zur Rezeption in den Geschichtswissenschaften siehe Markuschat, Jürgen/Patzold, Steffen (Hrsg.), Geschichtswissenschaft und ‚performative turn’. Ritual, Inszenierung und Performanz vom Mittelalter bis zur Neuzeit, Köln u. a. 2003. Liebsch, Katharina, Identität und Habitus, in: Korte, Hermann/Schäfers, Bernhard (Hrsg.), Einführung in Hauptbegriffe der Soziologie, 7., grundlegend überarbeitete Aufl., Wiesbaden 2008, S. 69–86, hier S. 73. Ebd. Ebd.

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telbaren Zugriff des Gegenübers oder des Forschenden. Insofern können Identitäten immer nur diskursiv vermittelt werden. Deshalb wird man bei der historischen Analyse davon ausgehen müssen, dass Identitäten nicht einfach da sind, sondern im Zuge von Äußerungen und Handlungen durch die historischen Akteure erzeugt, dargestellt und vergegenwärtigt werden. Handlungen (auch Sprechhandlungen) werden so zum Kristallisationspunkt für Identitäten. Die Selbstbilder werden also erst in der Selbstdarstellung greifbar. Da sowohl Einzelpersonen als auch Personengruppen Identitäten zugeschrieben werden, muss zumindest in analytischer Hinsicht zwischen biographischer und kollektiver bzw. partizipativer Identität18 differenziert werden, auch wenn in der Praxis beide Ebenen miteinander eng verflochten sind. Zu diesem Zweck wird zunächst der Blick auf die Rolle der konfessionellen Identitäten zu richten sein, bevor anschließend nach den Agenten der Konfessionalisierung im Dresden des frühen 18. Jahrhunderts gesucht werden wird.

I. Eine konfessionelle Identität im Fluss: Der Mörder Franz Laubler Um die Mittagsstunden des 21. Mai 1726 klopfte Franz Laubler an die Haustür des Kreuzkirchendiakons Hermann Joachim Hahn. Obwohl Hahn, der gerade mit seiner Familie zu Tisch saß, anfangs niemanden empfangen wollte, beugte er sich nach einigem Hin und Her dem Drängen des Besuchers. Der 1679 geborene Hahn stammte selbst aus einer angesehenen mecklenburgischen Pfarrdynastie und war über das Theologiestudium in Leipzig schließlich in die kursächsische Residenzstadt Dresden gelangt. Obwohl er wiederholt publizistisch in Erscheinung getreten war, ist sein Wirken insgesamt schwer greifbar. Zählt man die Indizien zusammen, erscheint er jedoch als streitbarer Verfechter der evangelisch-lutherischen Sache in Dresden und war als solcher in seiner Gemeinde sehr geschätzt.19 Es lässt sich nachweisen, dass er an Konversionen von Katholiken beteiligt war,20 so auch im Fall Laubler. Dass dieser bei seinem Besuch angab, „er könnte sich nicht recht in die [Heilige] Schrifft finden“,21 öffnete ihm schließlich auch die Tür zu seinem Mentor. Was folgte, war eine Unterredung unter vier Augen, die jedoch schließlich eskalierte: Laubler stach mit einem Messer auf den Diakon ein, ließ sein Opfer blutüberströmt am Tatort zurück und flüchtete aus dem Haus. Nur kurze Zeit später stellte er sich der kurfürstlichen Leibwache und wurde noch am selben Tag dem Stadtgericht übergeben. Den anschließenden Verhören ist das zu verdanken, was wir heute über Laublers Lebensweg wissen. 18 19 20 21

Vgl. ebd., S. 73. Cornelia Bohn and Alois Hahn, ,Patterns of Inclusion and Exclusion. Property, Nation and Religion’, in: Soziale Systeme. Zeitschrift für Sozilogische Theorie 8 (2002), S. 8–27, insbes. S. 12f. Näheres zu Hahns Biographie findet sich bei: Leibetseder, Hostie im Hals, S. 24–29. Vgl. Stadtarchiv Dresden [im Folgenden: StadtA Dresden],Ratsarchiv, B I 10, fol. 19r: Urkunde Hahns für T. Addenberger, 6.3.1709. Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden [im Folgenden: Sächs. HStA Dresden], 10024 Geheimer Rat (Geheimes Archiv) Loc. 9703/1, Titel 9703/1, fol. 40v.

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Franz Laubler konnte 1726 auf ein bewegtes, ja geradezu abenteuerliches Leben zurückblicken. Er, der um 1690 in dem Dorf Oberhausen bei Augsburg geboren worden war, hatte, wie einst schon sein Vater und mehrere seiner Brüder, zunächst das Fleischerhandwerk erlernt, es selbst jedoch nie ausgeübt. Später diente er als Söldner in verschiedenen Regimentern, von denen er früher oder später desertierte. Er schlug sich als Bettler, Tagelöhner und Sänftenträger durch, saß in Wien wegen geistiger Verwirrung in einem Hospital ein, trat danach eine Pilgerschaft nach Rom an, und diente in Florenz Großherzog Cosimo III. de’ Medici als Musketier, bevor er 1722 in Dresden ankam, wo er schon nach kurzer Zeit eine Anstellung als ‚reitender Trabant’ in der kurfürstlichen Leibwache fand. In diesen letzten Lebensabschnitt fiel auch Laublers Übertritt zur evangelischlutherischen Kirche. Schon kurz nach seiner Ankunft in Dresden hatte er den Kreuzkirchendiakon Hahn kennengelernt, aber auch mit anderen protestantischen Predigern in Kontakt gestanden. Sie witterten Konversionsbereitschaft und unterrichteten Laubler, bis dieser schließlich den entscheidenden Schritt wagte. In diesem Zusammenhang ist an eine These Frauke Volklands zu erinnern, welcher zufolge die eigene Konfessionszugehörigkeit von Angehörigen bestimmter gemischtkonfessioneller Gemeinden in der Alten Eidgenossenschaft als Tauschobjekt22 eingesetzt wurde, um politische oder wirtschaftliche Ziele zu erreichen.23 Sie beschreibt Konversionen in Übereinstimmung mit der Ritualtheorie Victor Turners als soziales Drama, das sich in die Phasen des Bruchs, der Krise, der Bewältigung sowie der Reintegration oder Anerkennung der Trennung untergliedert. Auf diese Weise werde die Idee einer ‚von oben’ oktroyierten konfessionellen Identität konterkariert, nach deren Logik Konversionen lediglich als ‚Bruch mit sich selbst’ interpretiert werden können und letztlich eine Verlusterfahrung seien.24 Letztlich geht es ihr darum, den „Umgang der historischen Subjekte mit ihrer Konfessionszugehörigkeit“25 zu betonen. Auch wenn die von Volkland vorgeschlagene Perspektivänderung grundsätzlich zu begrüßen ist, so ist doch ihre Ablehnung des Konzepts der konfessionellen Identität nicht unbedingt nachvollziehbar. Geht man davon aus, dass Identitäten in performativen Prozessen konstituiert, vergegenwärtigt und verwandelt werden, folglich also mit (Sprech-)Handlungen als Akten der Selbstdarstellung einhergehen, so löst sich der Gegensatz zwischen dem Konzept der konfessionellen Identität und dem von Volkland vorgeschlagenem Begriffspaar „Konfession und Selbstverständnis“26 22

23 24 25 26

In dieser Hinsicht folgt Volklands Arbeit neueren Forschungstendenzen, die erkunden, ob in der Frühen Neuzeit auch primär symbolische soziale Güter als Gaben betrachtet wurden. Siehe hierzu z. B.: Leibetseder, Mathis, Subskribieren und Publizieren als gesellschaftlich verpflichtende Gabe? Von den Spuren eines personalen Netzwerkes in einer Serienpublikation des späten 18. Jahrhunderts, in: Das achtzehnte Jahrhundert 31 (2007), S. 31–42. Volkland, Konfession, Konversion, S. 92. Vgl. ebd., S. 103. Ebd. Ebd., S. 104.

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auf. Überhaupt scheint der ‚nach innen gewandte’ Ausdruck ‚Selbstverständnis’ unglücklich gewählt, da dieses streng genommen nur in dargestellter Form greifbar ist. Deshalb wäre das Begriffspaar ‚Konfession und Selbstdarstellung’ meines Erachtens vorzuziehen gewesen, unterschiede sich jedoch kaum von einem Konzept dargestellter konfessioneller Identitäten. Dennoch ist die Frage, welchen Gebrauch historische Akteure von ihrer Konfessionszugehörigkeit machten, durchaus bedenkenswert. Das Leben Franz Laublers ist hierfür ein gutes Beispiel. Auch für ihn mag die eigene Konfession zumindest teilweise eine Gabe gewesen sein, die er als Migrant der Aufnahmegesellschaft darbrachte, in der Hoffnung im Gegenzug von dieser akzeptiert zu werden. Anders als in den von Volkland angeführten Schweizer Beispielen, ging diese Rechnung jedoch nicht auf. So hörte seine Umgebung nie auf, den Konvertiten mit Misstrauen zu beäugen. Von seinen neuen evangelisch-lutherischen Glaubensgenossen musste er sich immer wieder die Frage nach seinen konfessionellen Loyalitäten gefallen lassen, während seine katholischen Kollegen bei der Leibwache des Prinzen ankündigten, ihm bald „wieder umhelffen“27 zu wollen. Sollte Laubler also gehofft haben, Konfessionszugehörigkeit gegen gesellschaftliche Anerkennung eintauschen zu können, so hatte er sich verkalkuliert. Es gibt in den Verhörprotokollen des Stadtgerichts jedoch keine Äußerungen, welche die Tauschthese unterstützen. Im Gegenteil: Vor dem Bekenntniswechsel wies man Laubler ausdrücklich darauf hin, dass er auch als Katholik eine Bedienung in der kurfürstlichen Leibwache erhalten konnte. Insofern muss doch tiefer geschürft werden, um die Beweggründe hinter der Konversion erfassen zu können. Als Ansatzpunkt bietet sich Laublers Erziehung in seinem Heimatort an. Oberhausen hatte sich bis 1602 im Besitz der Bischöfe von Augsburg befunden. Danach gingen größere Teile davon im Zuge eines Gütertausches zwischen Domkapitel, Bischof und Reichsstadt in den Besitz Augsburgs über. Der Augsburger Magistrat setzte für Oberhausen zwei Oberpfleger ein.28 Während es in Oberhausen selbst zumindest eine kleine lutherische Minderheit gab, erhielt Laubler als Kind eine streng katholische Erziehung. So wünschte sich der Vater, der Sohn möge genug lernen, um „bey der messe mit ministrieren“29 zu können und „den Glauben und den Gruß Mariä“30 lernen. Einige Winter lang besuchte er jedoch die St. Martins-Schule in Augsburg. Augsburg gehörte damals zu den wenigen bikonfessionellen Reichsstädten, in denen Katholiken und Lutheraner paritätisch zusammenlebten. Die Lebenswelten wiesen dem Historiker Étienne François zufolge „sowohl Praktiken der

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Sächs. HStA Dresden, 10684 Stadtgericht Dresden Nr. 111, fol. 55v. Vgl. Schuber, Marianne (Hrsg.), Oberhauser Chronik, Augsburg 1990, S. 42ff. Für den Hinweis auf diesen Titel bin ich Frau Simone Herde vom Stadtarchiv Augsburg zu großem Dank verpflichtet. Sächs. HStA Dresden, 10684 Stadtgericht Dresden Nr. 111, fol. 1244: InquisitionalVerhör, ca. 3.6.1726. Sächs. HStA Dresden, 10684 Stadtgericht Dresden Nr. 111, fol. 13r: Vernehmung F. Laubler, 21.5.1726.

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Abgrenzung und Unterscheidung wie der Toleranz und Osmose auf“.31 Während es Bereiche der gesellschaftlichen Wirklichkeit gab, die sich der Konfessionalisierung komplett entzogen, blieb die Familie in konfessioneller Hinsicht völlig homogen; gerade Konversionen und bikonfessionelle Ehen wurden daher tabuisiert. Begann in dieser Stadt, die sich gleichzeitig durch besonders stark determinierte konfessionelle Identitäten und die ständige Konfrontation mit der Glaubensalternative auszeichnete, Laublers lebenslange Suche nach dem richtigen Glauben? Hatte er während seiner Sozialisation eher den Glaubenszweifel als die katholische Konfession internalisiert? Laublers Aussagen sprechen dafür, dass letztlich beides der Fall war. Seine Religiosität wurzelte auch noch nach der Konversion in der katholischen Glaubenslehre seiner Jugend. Zu dieser partizipativen konfessionellen Identität, die durch die Amtskirche vermittelt und durch das familiäre Umfeld eingefordert wurde, traten jedoch die biographischen Erfahrungen eines Handwerkers und Soldaten, dem es nicht gelang, Fuß zu fassen. Eine wichtige Rolle für ihn spielte seine Zeit im Dienst des Erzbischofs von Valencia in Wien, der seinem Leben nach den schweren Jahren im Kriegsdienst eine neue Richtung gab. Es war an einem Tag des Jahres 1720, als der Soldat etwas Ungewöhnliches erlebte. Als der Erzbischof ihm persönlich das Abendmahl reichte, blieb Laubler die Hostie im Halse stecken. Gegenüber den Dresdner Stadtrichtern sollte er später aussagen, „er hätte von 6 Jahren her die Hostie noch in der Kehle, die er noch, wie er bey dem Erzbischoff zu Valenzia als Heyducke in Diensten gewesen, empfangen und damals hätte er sich bekehret“.32 Gegenüber einem Dritten äußerte er, wenn man ihm den Kopf abschlüge, würde man „die hostie noch im Halße finden“.33 Aus Laublers Sicht war also nicht der Konfessionswechsel mit einer inneren Bekehrung verbunden, denn diese war dem formalen Austritt aus der katholischen Kirche lange vorausgegangen. Nach der Bekehrung bewegte sich Laublers konfessionelle Identität dann in eine Richtung, die ihn von der katholischen Orthodoxie wegführte. Auch wenn sein Glaube, zu den Erwählten zu gehören, mit denen Gott direkt kommuniziert, in der katholischen Glaubenslehre durchaus verankert war, war nicht vorgesehen, dass ein ‚gemeiner Mann’ wie Franz Laubler eine solche Position für sich reklamierte. Dieser aber betrachtete sich durch die Hostie im Hals als geläutert und weigerte sich fortan, an der Kommunion teilzunehmen. Die Hostie sah er an „wie anderes schlechtes Brodt. Er communicire im Geist.“34 Das brachte ihn wiederholt in Konflikt zur katholischen Geistlichkeit, die seine Teilnahme an der Kommunion nachdrücklich ein-

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François, Étienne, Die unsichtbare Grenze. Protestanten und Katholiken in Augsburg, 1648–1806, Sigmaringen 1992, S. 230. Sächs. HStA Dresden, 10684 Stadtgericht Dresden Nr. 111, fol. 101v: Summarisches Verhör, 28.5.1726. Sächs. HStA Dresden, 10684 Stadtgericht Dresden Nr. 111, fol. 75v–76r: Aussage G. Lehmann, 24.5.1726. Sächs. HStA Dresden, 10684 Stadtgericht Dresden Nr. 111, fol. 99v: Summarisches Verhör, 28.5.1726.

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forderte. Dresden als Wohnort wählte er nicht zuletzt aus, weil er in einem evangelisch-lutherischen Territorium nicht gezwungen war, am Abendmahl teilzunehmen. Auch für die Marienfrömmigkeit35 des Barockkatholizismus hatte Laubler wenig übrig. Im Mittelpunkt seines Glaubens standen dagegen die Leiden Christi, über die er ausgiebig meditierte. Eine wichtige Rolle spielten für ihn dabei die Arma Christi, die Werkzeuge, mit denen Christus gemartert wurde, über deren Bedeutung er lange meditierte. Diese Meditationspraxis ging letztlich auf monastische Traditionen des Mittelalters zurück, war aber sowohl im Katholizismus als auch im evangelischlutherischen Sachsen bis ins 18. Jahrhundert lebendig geblieben.36 An diese Konzentration auf Christus knüpfte auch Laublers konfessionelle Selbstverortung an. Wie er selbst und Leumundszeugen vor dem Stadtgericht aussagten, habe er sich zwar manchmal „vor einen Evangelischen Christen ausgegeben“,37 dann aber auch wieder behauptet, er sei nur „aus zwang lutherisch worden, weil er doch eine Religion haben müssen“,38 zuweilen aber auch geäußert, „er sey weder Evangelisch noch catholisch, sondern glaube an Jesum Christum, den Gecreuzigten.“.39 In diesem Sinne war es vermutlich auch zu verstehen, wenn sich der Mörder vor seiner Tat gelegentlich als „Nazarener“40 und bei seiner Verhaftung als „Jesuiter“41 bezeichnete. Erst während des Prozesses gab er wieder an, „in seinem Herzen gut Catholisch jeder Zeit“42 geblieben zu sein. Laublers konfessionelle Identität blieb also dem Katholizismus stark verhaftet, wies aber auch heterodoxe Momente auf, die freilich nicht beispiellos dastehen. So wäre etwa auf die Parallelen hinzuweisen, die sich zur Lehre eines Caspar Schwenckfeld von Ossig ergeben, die in Augsburg zumindest um 1600 im Schwange gewesen war. Schwenckfeld verzichtete auf die Feier des Abendmahls und betonte, dass die Suche nach Gott ein innerlicher Vorgang sei. Kirchlichen Dogmen 35 36

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Vgl. Greyerz, Religion und Kultur, S. 75. Vgl. Berliner, Rudolf, Arma Christi, in: Ders., ‚The Freedom of Medieval Art’ und andere Studien zum christlichen Bild, hrsg. von Robert Suckale, Berlin 2003, insbes. S. 104, 109, 111, 160f. und 168 [zuerst: in Münchner Jahrbuch der bildenden Kunst, 3. Folge, 6 (1955), S. 35–152]. Das Fortleben dieser Frömmigkeitsform in der Frühen Neuzeit ist nur wenig erforscht. Dass die Tradition der Arma Christi auch im sächsischen Raum um 1700 noch eine Rolle spielte, kann am Ausstattungsprogramm der Residenzkirchen in Eisenberg und Weißenfels abgelesen werden, da diese dort an zentraler Stelle von Putti getragen dargestellt sind. Sächs. HStA Dresden, 10684 Stadtgericht Dresden Nr. 111, fol. 64r: Aussage A. S. von Zeutsch, 24.5.1726. Sächs. HStA Dresden, 10684 Stadtgericht Dresden Nr. 111, fol. 131r: Summarisches Verhör, 28.5.1726. Sächs. HStA Dresden, 10684 Stadtgericht Dresden Nr. 111, fol. 74v: Aussage F. Rodinger, 24.5.1726. Sächs. HStA Dresden, 10684 Stadtgericht Dresden Nr. 111, fol. 70r: Aussage J. C. Creuznach, 24.5.1726. Sächs. HStA Dresden, 10684 Stadtgericht Dresden Nr. 111, fol. 76r: Aussage G. Lehmann, 24.5.1726. Sächs. HStA Dresden, 10684 Stadtgericht Dresden Nr. 111, fol. 100r: Summarisches Verhör, 28.5.1726.

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stand Schwenckfeld distanziert gegenüber und legte den Gläubigen ans Herz, in der Nachfolge Christi zu leben. David Altenstetter, ein Augsburger Goldschmied der Renaissancezeit, dem der Kulturhistoriker Bernd Roeck kürzlich ein Buch gewidmet hat, verkehrte mit Leuten, die Schwenckfeld gelesen hatten. Er selbst gab an, „derweil die Theologen der Katholischen Religion und Augsburgischen Konfession bisher einander zum Heftigsten zuwider, sei er weder dem einen, noch dem anderen Teil beigefallen, sondern sei gleichsam der Religion halben bisher frei gewesen“.43 Abgesehen von der Begründung, die im Falle des Goldschmieds fundierter ausfällt, ist dies positiv formuliert, was Laubler rund 120 Jahre später negativ formuliert zu Protokoll geben sollte. Es lässt sich freilich nicht beweisen, dass Franz Laubler jemals von Schwenckfeld gehört hatte. Überhaupt lässt sich nicht nachvollziehen, wie dieser zu seinen Ansichten gelangen konnte. Seine Selbstdarstellung vor Gericht legt jedoch nahe, dass es ihm seit 1720 nicht mehr gelang, die partizipative und die biographische konfessionelle Identität in Übereinstimmung zu bringen. Was er im Zuge seiner Sozialisation an konfessionellem Rüstzeug mit auf den Weg bekommen hatte, ließ sich mit seinen individuellen Erfahrungen, aus welchen Gründen auch immer, nicht mehr länger in Einklang bringen. Dem disziplinierenden Druck kirchlicher Instanzen vermochte er sich genauso wenig zu entziehen wie dem Druck, der durch die Menschen in seinem persönlichen Umfeld aufgebaut wurde. So sah er sich lebenslang dem Zwang ausgesetzt, sich zu einer der reichsrechtlich zugelassenen Konfessionen zu bekennen. Sozialdisziplinierung durch kirchliche Stellen und soziale Kontrolle durch das unmittelbare gesellschaftliche Umfeld gingen miteinander Hand in Hand. Eine Position jenseits der Konfessionen dauerhaft zu behaupten, war ihm dagegen nicht vergönnt.

II. Konfessionelle Identität zwischen Alltag und Inszenierung: Der Tumult von 1726 Laublers Mordtat war der sprichwörtliche Funke im Pulverfass. Schon früher waren die Katholiken in Dresden nicht wohl gelitten. Die Stadt an der Elbe, in der 1727 rund 46.000 Menschen lebten, gehörte zu den größeren Residenzstädten im Alten Reich.44 Wie andere Städte auch, war sie seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts de facto zu einer trikonfessionellen45 Stadt geworden, in der die Mehrheitsbevöl43 44

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Zit. nach Roeck, Bernd, Ketzer, Künstler und Dämonen. Die Welten des Goldschmieds David Altenstetter. Eine Geschichte aus der Renaissance, München 2009, S. 113. Groß, Reiner, Vom Dreißigjährigen Krieg zum Siebenjährigen Krieg – Dresden als Zentrum kursächsischer Herrschaftsausübung, in: Ders./John, Uwe (Hrsg.), Geschichte der Stadt Dresden. Bd. 2: Vom Ende des Dreißigjährigen Krieges bis zur Reichsgründung, Stuttgart 2006, S. 21–54, hier S. 23; Rosseaux, Ulrich, Freiräume. Unterhaltung, Vergnügen und Erholung in Dresden 1694–1830, Köln u. a. 2007, S. 28. Die Zahl basiert auf einer Bevölkerungszählung im Jahre 1727 (Siehe StadtA Dresden, Ratsarchiv, C XXI 7 [unfoliiert]). Rosseaux, Ulrich, Das bedrohte Zion. Lutheraner und Katholiken in Dresden nach der Konversion Augusts des Starken (1697–1751), in: Lotz-Heumann, Ute/Mißfelder, JanFriedrich/Pohlig, Matthias (Hrsg.), Konversion und Konfession in der Frühen Neu-

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kerung der evangelisch-lutherischen Konfession anhing, es aber auch evangelischreformierte und katholische Minderheiten gab. Die katholische Minderheit hatte sich seit dem Ende des Dreißigjährigen Krieges etabliert46 und ihr Gemeindeleben geschützt vom Hof in einem diskontinuierlichen Prozess nach und nach ausbauen können, ohne dass die evangelisch-lutherische Bürgerschaft ihre Vorbehalte gegenüber den Andersgläubigen jemals aufgegeben hätte. So nimmt es nicht wunder, dass Laublers Tat heftige Reaktionen auslöste. Vereinzelt wohl schon am Nachmittag des 21., dann aber vor allem im Laufe des 22. Mai kam es zu gewaltsamen Ausschreitungen gegen die Dresdner Katholiken. Wenn die historischen Akteure in den Verhörprotokollen ihrer konfessionellen Identität Ausdruck verliehen, dann präsentierten sie diese stets eingebettet in konkrete lebensweltliche Zusammenhänge. Glaube war für sie nicht im hehren Reich der Ideale angesiedelt, sondern Teil ihres alltäglichen Lebens. In ihren Äußerungen und Handlungen tauchte Konfession daher nur selten als alleiniger Beweggrund auf. Als Beispiel kann Johann Friedrich Thann angeführt werden, der zu den wenigen gehörte, die bereits am 21. Mai von der Bürgerwehr verhaftet wurden. Er war ein junger Mann von 18 oder 19 Jahren, der als Geselle bei einem Dresdner Schneider tätig war. Wie zahlreiche Dresdner zog es ihn am Nachmittag des 21. Mai in die Pfarrgasse, um dem in seinem Haus aufgebahrten Ermordeten seine letzte Referenz zu erweisen. Der Anblick erschütterte ihn offenbar so stark, dass er sofort auf Rache sann und sich später auf dem Altmarkt vorsichtshalber mit einem Stein bewaffnete. Er wurde dabei jedoch von einem Soldaten der Garnison beobachtet und sogleich zur Rede gestellt. Thann rechtfertigte sich mit den Worten: „Wer ihn seine Religion changirte oder touchirte, dem werde er einen Treff mit dem Stein geben.“47 Diese Äußerung zeigt, wie der Anschlag auf den Diakon vom ‚gemeinen Mann’ gedeutet wurde, nämlich als Anschlag auf seine Konfessionszugehörigkeit. Dahinter kann man die Idee von Dresden als ‚bedrohtes Zion’48 erkennen, dessen Existenz es notfalls auch mit Gewalt zu verteidigen galt. Im Zuge der gerichtlichen Vernehmungen zeigte sich jedoch, dass Thanns Abwehrhaltung einen biographischen Hintergrund hatte. Zwei Jahre vor der Ermordung Hahns hatte er das beliebte große Schießen besucht, das seit dem 15. Jahrhundert jedes Jahr zu Pfingsten auf der Dresdner Vogelstangenwiese abgehalten wurde. Neben dem Vogelschießen selbst fand auch ein bunter Jahrmarkt mit zahlreichen,

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zeit, Gütersloh 2007, S. 212–235, hier S. 214 schlägt vor, auf Dresden den Begriff der ‚sekundären Bikonfessionalität’ anzuwenden, während Schunka, Alexander, Gäste, die bleiben. Zuwanderer in Kursachsen und der Oberlausitz im 17. und 18. Jahrhundert, Hamburg 2006, S. 194 von einer multikonfessionellen Bevölkerung ausgeht, in der neben Lutheranern und Katholiken auch Kalvinisten anzutreffen sind. Vgl. Schunka, Gäste, S. 183–193. Sächs. HStA Dresden, 10079 Landesregierung, Loc. 30586 Die Ermordung..., fol. 122v: Magistrat an Landesregierung, 6.7.1726. Vgl. Rosseaux, Das bedrohte Zion.

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teilweise von weit her angereisten Händlern und Schaustellern statt.49 Dort war Thann 1724 auf die eine oder andere Weise mit einem katholischen Jungen aneinandergeraten, der ihn „einen Racker und dergleichen geheißen [hatte]“.50 Leider liegen die Hintergründe dieser Auseinandersetzung im Dunkeln, doch ist aus zahlreichen ähnlichen Konflikten bekannt, wie tief solche als Ehrverletzung interpretierten Schmähungen gehen konnten.51 Ehrkonflikte wurden in der Frühen Neuzeit nach einem kulturellen ‚Drehbuch’ ausgetragen, welches den Beteiligten ermöglichte, ihre Ehre zu wahren bzw. die verletzte Ehre wiederherzustellen.52 Zwischen jungen Männern ging es in der Regel bei solchen Konflikten nicht zuletzt darum, ihre Männlichkeit53 unter Beweis zu stellen, aber es konnten auch andere Motive mitschwingen.54 Ob die Konfession in der Auseinandersetzung auf der Vogelstangenwiese eine Rolle spielte, verraten die Verhörprotokolle nicht. Allerdings liegt die Vermutung nahe, dass sich Thanns Handlungen auf dem Altmarkt in eine Kette von Konflikten einfügte, die evangelisch-lutherische und katholische Jugendliche miteinander ausfochten. Ansonsten hätte er sich wohl kaum zwei Jahre nach dem Vorfall noch veranlasst gesehen, gegen seinen katholischen Kontrahenten vorzugehen.55 Insofern beweist der Fall Thann, wie eng die Ausschreitungen der evangelisch-lutherischen Mehrheitsbevölkerung gegen die Katholiken in einen bereits seit längerem etablierten Konflikt zwischen den Konfessionskulturen eingebettet war, bei dem es nicht zuletzt um die Beschädigung bzw. Wiederherstellung konfessioneller Identitäten ging. Die lebensweltlich verankerten konfessionellen Identitäten der historischen Akteure waren aber nicht nur eine wesentliche Antriebskraft hinter ihren (Sprach-) 49 50 51 52

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Vgl. Wozel, Heidrun, Alltagsleben, in: Groß/John, Geschichte der Stadt Dresden, S. 736–744, hier S. 740. Sächs. HStA Dresden, 10079 Landesregierung, Loc. 30586 Die Ermordung..., fol. 122v: Magistrat an Landesregierung, 6.7.1726. Grundlegend: Dinges, Martin, Der Maurer und der Finanzrichter. Ehre, Geld und soziale Kontrolle im Paris des 18. Jahrhunderts, Göttingen 2004. Vgl. Loetz, Francisca, Zeichen der Männlichkeit? Körperliche Kommunikationsformen streitender Männer im frühneuzeitlichen Zürich, in: Dinges, Martin (Hrsg.), Hausväter, Priester, Kastraten. Zur Konstruktion von Männlichkeit in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, Göttingen 1998, S. 264–294, insbes. S. 269. Vgl. ebd. In Bezug auf Studenten daran anknüpfend: Braun, Tina/Liermann, Elke, Feinde, Freunde, Zechkumpane. Freiburger Studentenkultur in der Frühen Neuzeit, Münster u. a. 2007; Krug-Richter, Barbara, Von Messern, Mänteln und Männlichkeit. Aspekte studentischer Konfliktkultur im frühneuzeitlichen Freiburg im Breisgau, in: Wiener Zeitschrift zur Geschichte der Neuzeit 4 (2004), S. 26–52. Diese geschlechtergeschichtliche Interpretation ist jedoch nicht unwidersprochen geblieben: Füssel, Marian, Devianz als Norm? Studentische Gewalt und akademische Freiheit in Köln im 17. und 18. Jahrhundert, in: Westfälische Forschungen 54 (2004), S. 145–166, hier S. 164f. Vgl. Leibetseder, Mathis, „Callvinsche Füchse und Hunde“. Konfessionelle Aspekte schulischer Ehrenhändel im Berlin des späten 17. Jahrhunderts, in: Jahrbuch für Historische Bildungsforschung 15 (2009), S. 127–152. Dass sich aus Ehrkonflikten Konfliktketten entwickeln konnten, beweist die ebd. vorgestellte Fallstudie.

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Handlungen; mehr noch erfuhren diese durch die Ausschreitungen auf performativem Wege eine Vergegenwärtigung und Bestätigung. Um hierüber Genaueres herauszufinden, lohnt ein Blick auf die ‚Rituale der Gewalt’, die von der historischen Konfliktforschung bereits seit längerem als Ausdruck von Gemeinschaft und Wiederherstellung legitimer Ordnungsmuster gedeutet werden.56 Diese Rituale erinnern an die während der Frühen Neuzeit weit verbreiteten Rügebräuche oder Charivaris, namentlich an Hauszerstörungen, Hauswüstungen und das Herausfordern aus dem Haus.57 Akte der Gewalt gegen Häuser, in denen Katholiken wohnten, waren der zentrale Bestandteil der Ausschreitungen am 21. und 22. Mai. Die in den Straßen versammelten Mengen zogen von Haus zu Haus, forderten die katholischen Bewohner auf, in die Gasse zu treten, wo sie dann teilweise misshandelt, überwiegend aber von der Stadtwache abgeführt wurden.58 Wie stark Worte und Handlungen konfessionell determiniert waren, zeigen die Vernehmungsprotokolle in den gerichtlichen Ermittlungsakten. Dabei sind es nicht zuletzt symbolische Handlungen von Demonstranten, welche der konfessionellen Identität der in der Straße versammelten Menge einen Kristallisationspunkt boten. Deutlich wird dies etwa in einer demonstrativen Geste, mit der Bartholomäus Hartinger, ein in Augsburg gebürtiger Lehrling eines Dresdner Färbers, die Erstürmung eines Hauses in der Rampischen Gasse krönte. Wie zwei Zeuge bestätigten, habe Hartinger „oben zu einem Fenster heraus ein[en] Pater noster, daran ein Agnus Dei gehangen, gewiesen [lies: gezeigt], da dann von denen unten stehenden ein Jauchzen entstanden“.59 Der Delinquent selbst sagte aus, er habe den Rosenkranz 56

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Besonders in der angelsächsischen Geschichtswissenschaft machten solche Ansätze Furore. E. P. Thompson und andere britische Historiker beschäftigten sich mit kollektiven Formen des Protests, die sich gegen eine zunehmend kapitalistische Wirtschaftsordnung richteten. Gesetzesverstöße wie Wilderei, Schmuggel, Brandstiftung oder Holzdiebstahl wurden dagegen als verdeckte Formen von Protest betrachtet (vgl. Schwerhoff, Gerd, Aktenkundig und gerichtsnotorisch. Einführung in die Historische Kriminalitätsforschung, Tübingen 1999, S. 19). Aber auch Formen kollektiver Gewalt wurden unter die Lupe genommen. Natalie Zemon Davis und E. P. Thompson stellten beispielsweise die Frage, weshalb die Masse ihre Handlungen als legitim und bedeutsam betrachtete bzw. welche Rolle Konzepte von Gemeinschaft für die Motivation der Demonstranten spielten (vgl. Desan, Suzanne, Crowds, Community, and Ritual in the Work of E. P. Thompson and Natalie Davis, in: Hunt, Lynn (Hrsg.), The New Cultural History, Berkeley/London 1989, S. 47–71, hier S. 56). Vgl. Hinrichs, Ernst, ‚Charivari‘ und Rügebrauchtum in Deutschland. Forschungsstand und Forschungsaufgaben, in: Scharfe, Martin (Hrsg.), Brauchforschung, Darmstadt 1991, S. 430–464, hier S. 440; Burgard, Paul, Tagebuch einer Revolte. Ein städtischer Aufstand während des Bauernkrieges 1525, Frankfurt am Main/New York 1998, S. 116f.; Kramer, Karl-Sigismund, Das Herausfordern aus dem Haus. Lebensbild eines Rechtsbrauchs, in: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde (1956), S. 121–138. Der Rat der Stadt hatte angeordnet, die Katholiken in Schutzhaft zu nehmen und an sichere Orte zu führen. Teilweise betrachteten sich jedoch Demonstranten und Soldaten auch als Komplizen, welche die Stadt von Katholiken säuberten. Siehe Leibetseder, Die Hostie im Hals, S. 87f. Sächs. HStA Dresden, 10079 Landesregierung, Loc. 30586 Die Ermordung..., fol. 162v: Urteil Schöppenstuhl Leipzig, 18.9.1726.

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„nur zum Ansehen genommen und sofort wieder an den Ort, wo er es angetroffen, hingeleget“.60 Unabhängig davon, ob Hartinger nun mit Absicht handelte oder nicht, entfaltete seine Geste in den Augen der Menschen in der Straße eine starke Symbolkraft. Der Rosenkranz mit dem daran befestigten Gotteslamm in der Hand des Protestanten verkörperte die Überlegenheit der evangelisch-lutherischen Demonstranten. Der Rosenkranz war eine Trophäe, die für die Wehrhaftigkeit der evangelisch-lutherischen Mehrheitsbevölkerung stand. Die Geste am Fenster vermittelte den Menschen aber auch eine Vorstellung davon, was sich eigentlich in den gestürmten Häusern ereignete. Die Tumultuanten begnügten sich nämlich nicht damit, die Katholiken aus ihren Wohnungen zu vertreiben. Sie schreckten auch vor Plünderungen und Verwüstungen nicht zurück, wobei sich in ihrem Vorgehen soziale und konfessionelle Beweggründe mischten: so auch bei der Erstürmung des Hauses von Philipp Nicolai, des Geheimsekretärs des Kurprinzen, im Laufe des 22. Mai. Zunächst richtete sich die Wut der Demonstranten gegen die Küche als Zeichen verfeinerter Lebensführung der Oberschichten. Hier, wie in der ganzen Wohnung, wurden wertvolle Einrichtungsgegenstände entweder gestohlen oder, wenn es sich dabei um Glas, Porzellan oder Spiegel handelte, zerschlagen, so dass Scherben den Boden übersäten. Daneben hatten es die Demonstranten vor allem auf Gegenstände abgesehen, die mit dem Katholizismus assoziiert wurden. Eine Reliquie wurde entwendet, ein Heiligenbild „zerschnitten und durchlöchert“,61 ein Marienbild und zwei Ansichten des Markusplatzes zu Venedig wurden zerstochen und einem Kruzifix aus Gips Kopf und rechter Arm abgeschlagen. Es wurden also nicht nur Wertgegenstände zerstört und entwendet, sondern auch religiöse Symbole in Formen eines spontanen Ikonoklasmus geschändet. Die kollektive Aussage dieser Handlungen war durchaus deutlich und wurde schon von der zeitgenössischen Publizistik auf den Punkt gebracht. Wie sie treffend zusammenfasste, sei es beabsichtigt gewesen, die „Catholicken gäntzlich zu vertilgen“62 oder zumindest „zu relegiren“ und „aus der Stadt zu führen und fort zu jagen“.63 Die Handlungen der Mehrheitsbevölkerung drückten mit Worten und symbolischen Mitteln den Wunsch aus, die Angehörigen der Minderheit in ihrer bürgerlichen und religiösen Existenz auszulöschen, mit dem Ort ihrer alltäglichen Existenz auch den ihrer gesellschaftlichen zu zerstören. Indirekt wurde so freilich auch der Hof aufs Korn genommen, der die Katholiken in Dresden protegierte, und dem Unwillen 60 61 62

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Ebd., fol. 164r. StadtA Dresden, Ratsarchiv, G. XXXII. 124 o, fol. 58v–60v: Protokoll, 22.5.1726. Ausführliche und wahrhaffte Relation, von dem den 21. May dieses 1726. Jahrs in Dreßden, von einem Gottvergessenen Bösewicht an dem wolseeligen Herrn M. Hahnen grausam verübten Priester-Mord [...], in: Europäische Staats-Cantzley 48 (1726), S. 549–578, hier S. 559. Copia Drey besonderer Schreiben, Den gegenwärtigen verwirrten Zustand Der Stadt Dresden, Insonderheit aber Der an einem dasigen Evangelischem Geistlichen begangenen Meuchelmord und darauf entstandenen Tumult betreffend, [o. O. 1726], 3. Schreiben [unpaginiert].

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über die vermeintliche ökonomische Besserstellung der andersgläubigen Minderheit Luft gemacht. Vor allem versicherten sich die Demonstranten mit den Unruhen ihrer Dominanz im städtischen Raum und stellten unter Beweis, dass sie bereit waren, wehrhaft für ihre Konfession einzutreten. Ihre (Sprach-)Handlungen stellten so nicht zuletzt eine Vergegenwärtigung und Aktualisierung der partizipativen Identität der Dresdner Mehrheitsbevölkerung dar, in deren Brennpunkt soziale und konfessionelle Belange standen.

III. Agenten der Konfessionsbildung: Kirche und Publizistik Als treibende Kraft hinter der Konfessionsbildung gilt gemeinhin der sich im Laufe der Frühen Neuzeit herausbildende Fürstenstaat, der durch die Einverleibung der Amtskirche auf dem Wege der Sozialdisziplinierung konfessionelle und gesellschaftliche Normen durchzusetzen vermochte. Dies war auch in Kursachsen nicht anders. Den Wettinern gelang es seit dem 16. Jahrhundert, sich gleichzeitig als protestantisches und kaisertreues Herrscherhaus zu profilieren, das den Vorsitz im Corpus Evangelicorum des Reichstags führte. Aber nicht nur auf Reichsebene, auch innenpolitisch spielte die Konfession des Herrscherhauses eine wichtige Rolle. Dynastie, Land und evangelisch-lutherische Konfession wurden als Einheit gesehen. Dresden wurde als „Vater-Land und Geburths-Stadt“64 der Kurfürsten angepriesen, woraus eine besondere Verpflichtung abgeleitet wurde, für „das Glück des Evangelischen Jerusalems“65 zu sorgen. Diese Einheit, die vor dem Hintergrund der Reichskriege gegen Ludwig XIV. in zahlreichen panegyrischen Schriften beschworen, befestigt und eingeübt worden war, musste mit der Konversion Augusts des Starken freilich zerbrechen. Wie noch zu zeigen sein wird, nahmen die kurfürstlichen Behörden zu Beginn des 18. Jahrhunderts einen überkonfessionellen Standpunkt ein und fielen dadurch als Agenten der Konfessionalisierung weg. Anders die evangelisch-lutherische Landeskirche: für sie war aus dem evangelischen Jerusalem nun ein bedrohtes Zion geworden, das es zu verteidigen galt. In diesem Zusammenhang muss betont werden, dass für die Zeitgenossen die Schlacht um die konfessionelle Zukunft Kursachsens trotz der Bestandsgarantien, die der katholische Kurfürst-König seinen Untertanen gewährt hatte, keinesfalls als geschlagen galt. Auch gingen die Jesuiten, denen der Aufbau des katholischen Gemeindelebens in der kursächsischen Residenzstadt übertragen worden war, nicht mit besonderem Feingefühl ans Werk, sondern setzten auf eine sukzessive Ausweitung ihrer Handlungsspielräume. Mit heftigen Polemiken und demonstrativen 64

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Des Vater Landes Eyd der Treue / Welchen Dem [...] Herrn Johann Georgen dem Dritten / Hertzogen zu Sachsen [...] Dero getreue Geburths- und Residentz-Stadt Dreßden / vermittels allgemeiner Erb-Huldigung / unter männigliches Frohlocken schuldigst ablegte / Wolte Seiner Chur-Fürstlichen Durchlauchtigkeit [...] durch gegenwärtige LobRede [...] einfältig fürstellen [...] Johann Christian Schumann / Rathsverwandter daselbst. Am Huldigungs-Tage / war der 16. Septembris, Im Jahr Christi 1681, S. 7. Ebd., S. 10.

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Handlungen stritten die Geistlichen beider Konfessionen in der Stadt um jede Seele. So lieferte sich etwa der evangelisch-lutherische Superintendent Valentin Ernst Löscher in Schmähschriften ein polemisches Duell mit katholischen Geistlichen.66 Die Jesuiten schickten ihrerseits einen Pater namens Nonhardt ins Rennen, der im Winter 1724/25 in der Schlosskirche eine Reihe äußerst eloquenter Kontroverspredigten über das Abendmahl hielt, die von Katholiken und Lutheranern gleichermaßen frequentiert wurden.67 Solche Predigten trieben die Polarisierung der ohnehin getrennten Konfessionskulturen noch voran und dürften auch die konfessionellen Identitäten der Gläubigen befestigten haben. Auch ein vergleichsweise unbedeutender Geistlicher wie der Diakon Hermann Joachim Hahn spielte in diesen Auseinandersetzungen eine aktive Rolle. Wie eine Urkunde aus dem Jahre 1709 beweist, war er schon damals bestrebt, Katholiken für die evangelische Kirche zu gewinnen.68 1722, über ein Jahrzehnt später also, war Hahn dann in einen überaus spektakulären Konversionsfall verwickelt. Der Diakon hatte in Anwesenheit einer vornehmen Konvertitin mit dem Jesuitenpater Nonhardt über religiöse Fragen diskutiert, das Gespräch anschließend niedergeschrieben und das Manuskript „hier und dar lesen lasen“.69 Es blieb aber nicht bei dem Umlauf des Manuskripts, denn der Dresdner Buchhändler Robring ließ es durch den Buchdrucker Ludewig in Pirna in einer Auflage von 500 Exemplaren drucken, und zwar ohne es zuvor der Zensur vorgelegt zu haben. „Der Superintendens“, erklärte der Drucker später, „seye verstorben gewesen, der Archidiaconus Herr M. Junghanß habe auffm Tode Kranck darnieder gelegen, habe es also [von] niemanden können censiren laßen“,70 da „das Scriptum auch weder wieder die Ehre Gottes noch Ihro Majestät den König wäre und ihme dergleichen Sachen in seinem Eyde zu drucken nicht verbothen sey, so habe er kein bedencken, es zu drucken, [gehabt]“.71 Der Dresdner Magistrat hielt das Traktat, das unter dem Titel „Gespräche im Reiche der Lebendigen zwischen einem Evangelischen und Papistischen Geistlichen bey Gelegenheit eines von einer hohen Dame in einer vornehmen Stadt erfolgten Abfalls“ erschien, jedoch für alles andere als harmlos, weshalb er die gesamte Auflage beschlagnahmen wollte. Dies misslang jedoch, da das Traktat schon ausgeliefert war. Mit dem Buchdruck wäre bereits eine zweite Instanz genannt, die im Zusammenhang mit den Geschehnissen des Jahres 1726 als Agent der Konfessionsbildung benannt werden kann. In diesem Fall traf eine Gruppe profitorientierter Gewerbetreibender auf eine Gruppe theologisch gebildeter, aber relativ armer Intellektueller,

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Vgl. Petzoldt, Klaus, Der unterlegene Sieger, Valentin Ernst Löscher im absolutistischen Staat, Leipzig 2001, S. 130 und 142; Rosseaux, Das bedrohte Zion, S. 218. Vgl. Wetzel, Christoph, Kirche und Religion, in: Groß/John, Geschichte der Stadt Dresden, S. 104–149, hier S. 144. Vgl. StadtA Dresden, Ratsarchiv, B I 10, fol. 19r: Urkunde Hahns für T. Addenberger, 6.3.1709. StadtA Dresden, Ratsarchiv, B I 12, unpaginiert: Vernehmung H .J. Hahn, 26.9.1722. StadtA Dresden, Ratsarchiv, B I 12, unpaginiert: Vernehmung G. B. Ludewig, 2.11.1722. StadtA Dresden, Ratsarchiv, B I 12, unpaginiert: Aussage C. Robring, 24.10.1722.

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welche sich zur Aufbesserung ihres Einkommens journalistisch betätigten.72 Auch Autoptus Geamoenus, der anonyme Herausgeber des „Betrübten Dreßden“73 – einer Sammlung von Flugdrucken zum Mord und seinen Folgen, die 1726 in zwei Teilen erschien –, muss der Gruppe der schreibenden evangelisch-lutherischen Geistlichen zugeordnet werden.74 Zwar ist die Auflagenhöhe seiner Sammlung nicht bekannt, doch muss die Publikation weite Verbreitung gefunden haben, denn sie ist auch heute noch in zahlreichen Bibliothekskatalogen nachweisbar. Der Bericht, den Autoptus Geamoenus seiner Sammlung vorschaltete, soll hier stellvertretend für die breite Masse der Flugdrucke, mit denen er die generelle Stoßrichtung gemein hat, besprochen werden. Obgleich das Pseudonym die Augenzeugenschaft des Verfassers in den Vordergrund rückt, schreibt dieser über die Geschehnisse nicht aus der Sicht eines Teilnehmers, sondern als auktorialer Erzähler in Form einer „Historische[n] Erzählung“.75 Mehr als einmal betonte er, er „schreibe mit unpartheyischer Feder“76 und nichts als die „cathegorische Wahrheit“,77 denn er habe keine Gründe, „den Papisten etwas unter die Banck zu stecke[n]“.78 Dennoch dringt der konfessionelle Standpunkt des Verfassers immer wieder durch, verrät, dass er auf Seiten der evangelisch-lutherischen Mehrheitsbevölkerung steht. Wie zahlreiche andere Flugdrucke webt auch Geamoenus mit an dem Mythos des frommen Märtyrers Hermann Joachim Hahn und dämonisiert Laubler als einen vom Teufel inspirierten Mörder. Schließlich geht es dem Verfasser darum, „zur Bewegung eines Christlichen Mitleidens“79 beizutragen. Überhaupt schreckt der Verfasser nicht davor zurück, durch historische Vergleiche gegen die Katholiken Front zu machen. Nicht ohne polemischen Wortwitz stellt er die antikatholischen Ausschreitungen in Dresden den Zwangsbekehrungen der 72

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Hierzu demnächst genauer: Bellingradt, Daniel, Flugpublizistik und Öffentlichkeit um 1700. Dynamiken, Akteure und Strukturen im urbanen Raum des Alten Reiches, Diss. masch. 2010. Ich danke dem Verfasser dafür, dass ich die Kapitel über die Dresdner Geschehnisse bereits vor deren Veröffentlichung einsehen konnte. Autoptus Geamoenus (Hrsg.), Das Betrübte Dreßden. Als daselbst Der EvangelischLutherische Prediger M. Herm. Joachim Hahn, Von einem Catholischen Trabanten, Fr. Laublern, am 21. May 1726 grausamlich ermordet, und darüber eine grosse Unruhe entstanden [...], Frankfurt am Main/Leipzig 1726; Autoptus Geamoenus (Hrsg.), Des Betrübten Dreßden’s Zweyter Theil [...], Frankfurt [am Main]/Leipzig 1726. Als Autor wird meist Autoptus Geamoenus genannte, der den einleitenden Bericht der Geschehnisse verfasste. Nach den Reel Listings der Harold Jantz Collection of German Baroque Literature, Reel 239 soll sich hinter diesem Pseudonym Samuel Theodor Schönland, Pfarrer zu Lommatzsch, verbergen. Dieser verstarb aber bereits im Jahre 1721; die vakant gewordene Pfarrstelle wurde kurz nach seinem Tode neu vergeben (vgl. Sächs. HStA Dresden, 10057 Kreisamt Meißen Nr. 2443, fol. 26r und 27r). Trotzdem ist es aufgrund des Pseudonyms (locus amoenus = schöner Ort = Schönland) nicht unwahrscheinlich, dass der Herausgeber aus dieser Familie stammte. Geamoenus, Das betrübte Dreßden, S. 11. Ebd., S. 10. Ebd., S. 60. Ebd. Ebd., Vorbericht [unpaginiert].

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Spanier in der Neuen Welt gegenüber, „da man die armen Leute ehr pistolice mit Schwerdt als apostolice durch das lebendige Wort Gottes bekehret und zum Gehorsam des Evangelii gebracht hat“.80 Der Schwerpunkt der ‚historischen Erzählung’ liegt dementsprechend auch nicht auf dem Leid, das den katholischen Einwohnern Dresdens zugefügt wurde, sondern auf der Schutzhaft als friedenserhaltende Maßnahme des Magistrats. Die Ausschreitungen werden so ins Licht der Barmherzigkeit getaucht, während Grausamkeit und Katholizismus fest liiert erscheinen. Geschickt nutzt Geamoenus die Gräueltaten der Konquista, um die Gewalttätigkeiten der Lutheraner gegenüber der katholischen Minderheit in der Residenzstadt zu relativieren. Alles in allem verfolgte der Bericht, wie viele andere auch, eine doppelte Stoßrichtung. Einerseits richtete er sich an eine reichsweite Öffentlichkeit, die es zu überzeugen galt, „daß von vielen öffters mit allzu scharffer Feder die Sache odiöser vorgestellet und abgemahlet worden, als sie in der That gewesen: Wie ich denn selber Briefe gesehen, worin an auswärtige Orte berichtet worden, die Evangelischen wären mit den Papisten in Dreßden unmenschlich umgegangen, das Blut wäre auf der Gasse geflossen etc.“81 Andererseits versuchte er aber auch, die Geschehnisse unter konfessionellen Vorzeichen auszudeuten und ihnen somit einen gesellschaftlichen Sinn abzugewinnen. Der Text war durchdrungen von moralischen Fragen, die über den Einzelfall hinauswiesen: Recht und Unrecht, Verbrechen und Strafe, Schuld und Sühne. Letztlich handelt es sich um eine Schrift, die das Ziel verfolgte, das „betrübte Dreßden“ zu trösten bzw. zu erbauen und die moralischen Abwehrkräfte der städtischen Mehrheitsbevölkerung gegen den Katholizismus zu stärken. Verinnerlichung und Meditation, nicht aber gewaltsamer Widerstand, lautete die Botschaft dieser und vieler anderer Flugdrucke. Nur am Rande sei hier erwähnt, dass nicht nur die lesekundigen Oberschichten angesprochen wurden, sondern gezielt auch der gemeine Mann auf der Straße. Zu diesem Zweck erschienen mehrere Kupferstiche, die die Geschehnisse mit einem Bild und wenigen Versen erklärten. Mit der Predigt und den Flugdrucken standen kirchlichen und theologisch gebildeten Kreisen so wesentliche Mittel zur Verfügung, um ihre evangelisch-lutherischen Leser in ihrer konfessionellen Identität zu bestärken und die jüngsten Ereignisse in einen konfessionell bestimmten Sinnhorizont einzubauen.

IV. Instrumentelle Konfessionspolitik:82 Magistrat und Geheimes Konsilium Seit sich nach dem Mord am 21. Mai eine empörte Menge auf dem Altmarkt versammelt und es zu ersten gewalttätigen Ausbrüchen im Stadtgebiet gekommen war, 80 81 82

Ebd., S. 30. Ebd., S. 15. Vgl. Greyerz, Religion und Kultur, S. 67; Schilling, Heinz, Nationale Identität und Konfession in der europäischen Neuzeit, in: Giesen, Bernhard, Nationale und kulturelle Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewusstseins in der Neuzeit, Frankfurt am Main 1991, S. 192–252, hier S. 199.

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waren die Obrigkeiten in erster Linie mit der Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung beschäftigt. Sowohl von städtischer als auch von landesherrlicher Seite wurden umgehend Maßnahmen in die Wege geleitet, um zu verhindern, dass die Gewalttätigkeiten eskalierten. Öffentliche Reden wurden gehalten, Bürgerwehr und landesherrliche Truppen mobilisiert, Mandate eilends auf den Weg gebracht, gedruckt und in der Stadt verteilt; alles, um Aufruhr zu vermeiden. Daneben wurde aber auch erwogen, die Geschehnisse für eigene konfessionspolitische Ziele zu instrumentalisieren. Im Folgenden sollen die Positionen des Magistrats und des Geheimen Konsiliums einander gegenübergestellt werden. Der Magistrat stand an der Spitze der städtischen Selbstverwaltung.83 Seine Argumentation baute auf der vermeintlichen Tatsache84 auf, dass sich an den Ausschreitungen keine Bürger beteiligt hätten, weshalb auch das Rechts- und Treueverhältnis zwischen Stadt und Landesherren nicht beschädigt worden sei. Zugleich vertrat er die Ansicht, die Konfessionspolitik der jüngsten Vergangenheit müsse revidiert werden, da sie den Nährboden der Ausschreitungen gebildet habe. Insbesondere berief er sich darauf, dass gemäß der Vorgaben der „Friedens-Schlüße, Reichs-, Land- u[nd] Außschuß-Tags-Abschiede, Reversalien, u[nd] besonders derer allergnädigsten Landes-herrlichen Versicherungen, die Evangelische Religion u[nd] der Status publicus im Lande, einfolglich auch allhier zu Dresden, in solchem Stande, wie dieselbe deßen u[nd] sonderlich den 1. January a[nn]o 1624 gewesen, zu erhalten seye“.85 Tatsächlich müsse aber festgestellt werden, dass katholische Geistliche auch bei Personen, die nicht dem Hof unterstanden, „die actus Ministeriales, mit Tauffen, Copuliren u[nd] dergleich ungehindert verrichteten, Nicht weniger öffentliche Schulen allhier anlegeten u[nd] darinnen die Jugend nach derenn Principiis ihrer Religion unterrichteten“, wodurch die Residenzstadt für Katholiken immer attraktiver würde und sich immer mehr „Römisch-Catholische Leüthe, u[nd] ganze Familien hierher wendeten“.86 Dieser Zuzug treibe aber die Preise für Wohnungen, Viktualien und andere Güter in die Höhe, und da die Ankömmlinge „allerhand Professiones und bewerb betrieben, entzögen sie den Bürgern die Nahrung so wohl alß

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Vgl. Richter-Nickel, Sieglinde, ‚Der ehrwürdige Rath zu Dresden‘. Stadtverwaltung vom 13. Jahrhundert bis 1832, in: Dresdner Geschichtsbücher 5 (1999), S. 7–23, hier S. 7ff. Es handelte sich bei ihm seit alters her um ein Gremium, auf dessen Zusammensetzung die Bürgerschaft keinen Einfluss hatte. Im 18. Jahrhundert oblag ihm noch die Führung bestimmter städtischer Ämter, die Aufsicht über die Kirchen und Schulen sowie das städtische Finanzwesen. Seine Autonomie war fiktiv, tatsächlich war er längst vom Landesherrn abhängig. Technisch mochte der Magistrat mit seiner Behauptung sogar Recht haben, dennoch beteiligten sich freilich zahlreiche Einwohner Dresdens, die das Bürgerrecht nicht besaßen, an den Unruhen. Für die These, die Ausschreitungen seien vor allem von zugereisten, betrunkenen Besuchern eines Jahrmarkts ausgelöst worden, lassen sich dagegen keine Belege finden. Sächs. HStA Dresden, 10079 Landesregierung, Loc. 30586 Die Ermordung..., fol. 204r: Landesregierung an Konsilium, 20.11.1726. Ebd., fol. 204v.

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die Gesellen und das Gesinde“, und zwar ohne selbst Abgaben zu zahlen.87 Auch Graf Wackerbarth, der damalige Gouverneur, habe angesichts der Ausschreitungen in der Stadt Dresden zugesagt, dass alle Katholiken (wie auch alle Reformierten), welche nicht Soldempfänger des Hofes waren, „sich von hiesiger Stadt wegbegeben solten“.88 Damit diese Feststellungen nicht als unziemliche Kritik an der landesherrlichen Politik aufgefasst werden konnten, wies der Magistrat darauf hin, dass der Zuzug der Katholiken auch dem in diversen Religionsversicherungsmandaten geäußerten Willen des Kurfürsten zuwiderlaufe und man nur um die Wiederherstellung verfassungsgemäßer Zustände besorgt sei. Tatsächlich handelte es sich bei der Feststellung des Magistrats aber um eine relativ unverhohlene Kritik an der kurfürstlichen Konfessionspolitik, die auf eine indirekte Förderung der eigenen Religionsverwandten ausgerichtet war.89 Man wird davon ausgehen dürfen, dass diese Kritik sowohl vernommen als auch verstanden wurde. Denn der Magistrat wurde nicht müde, diese Positionen in seinen Berichten an die Landesregierung, die in diesem Zusammenhang als vorgesetzte Behörde fungierte, zu betonen, ja die Landesregierung machte sie sich sogar teilweise zu eigen und leitete sie an das Geheime Konsilium weiter. Eine Änderung der landesherrlichen Konfessionspolitik vermochte diese Kritik freilich nicht anzustoßen. Dennoch zeigt das Beispiel, wie es der Magistrat verstand, aktuelle Geschehnisse im Sinne langfristiger politischer Ziele zu instrumentalisieren. Während der Magistrat der Stadt Dresden die Gunst der Stunde ergreifen wollte, um konfessionelle Homogenität durchzusetzen, schlug das Geheime Konsilium als obere Verwaltungsbehörde einen ganz anderen Weg ein.90 Aus dem Kabinett in Warschau hatte das Konsilium ein Reskript erhalten, welchem zufolge der Prozess gegen Mörder und Unruhestifter möglichst rasch „ohne Unterschied der Persohnen, und ihrer Religionen“ über die Bühne zu bringen und darauf zu sehen war, dass alle „anzügliche[n] die Gemüther verbitternde[n] Reden und Discourse durchgehends 87 88 89

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Ebd. Ebd., fol. 205r. Mit einer solchen Politik stand der Kurfürst-König freilich nicht alleine da. Für Brandenburg-Preußen siehe z. B. Luh, Jürgen, Zur Konfessionspolitik der Kurfürsten von Brandenburg und Könige in Preußen 1640 bis 1740, in: Lademacher, Horst, Ablehnung, Duldung, Anerkennung. Toleranz in den Niederlanden und Deutschland. Ein historischer und aktueller Vergleich, Münster 2004, S. 306–324. Daßdorf, Karl Wilhelm, Beschreibung der vorzüglichsten Merkwürdigkeiten der Churfürstlichen Residenzstadt Dresden und einiger umliegender Gegenden, Bd. 1, Dresden 1782, S. 193 umschrieb die Kompetenzen des Konsiliums folgendermaßen: „Das geheime Consilium beschäftigt sich mit allen geistlichen und weltlichen Angelegenheiten des Churfürstenthums Sachsen, und aller übrigen ihm incorporirten Lande, und führt die Aufsicht über alle andere Civil- und Militär-Collegia, daß also alle Staats- und Reichs-Sachen, alle Religions- und Landessachen, die Abfassung und Erklärung derer Landes-Gesetze, die Erhaltung der öffentlichen Ruhe und allgemeinen Sicherheit, die Erhaltung und Beschützung der Landesherrlichen Rechte; kurz: alle und jede Regalia, die einem Landesfürsten zukommen, diesem höchsten Collegio untergeben, und zur Ober-Aufsicht anvertrauet sind.“

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abgestellt [werden]“.91 Nur wenige Tage nach dem Einlauf des Reskripts entstand im Konsilium ein als „Ohnmaßgebliches Bedencken“ betiteltes Memorial-Schriftstück, in dem die Leitlinien der ‚Krisenpolitik’ bestimmt wurden. Oberstes Ziel war, angesichts der Krise selbst eine unparteiische Position zwischen den Religionsparteien einzunehmen.92 Aus diesem Grunde sollte weder der Prozess gegen den Mörder noch der gegen die Demonstranten verzögert werden. Andernfalls könne bei den Katholiken der Eindruck entstehen, man zögere die Bestrafung des Mörders hinaus, um die Aufständischen ungeschoren davonkommen zu lassen. Bei den EvangelischLutherischen könnte dagegen der Eindruck entstehen, man wolle den Mörder für „unsinnig passieren“93 lassen, damit dieser nicht bestraft werden müsse. Deshalb sei es nötig, die Täter „mit Übergehung aller langwierigen und sonst gewöhntlichen formalitaeten zu gebührender Straffe zu ziehen“.94 Zudem bestünden keine Zweifel an der Schuld Laublers und der inhaftierten Demonstranten, so dass einer raschen Urteilsfindung nichts entgegenstünde. Neben den Gefahren beschwor das Konsilium aber auch die Chancen, die in der gegenwärtigen Situation lagen. Insbesondere vermeinte man, nun die Möglichkeit zu haben, beide konfessionellen Lager in ihre Schranken weisen und zu einem friedlichen Zusammenleben bewegen zu können. So sollten die Katholiken wieder Vertrauen zum Konsilium gewinnen: „Sie werden erfahren haben, wie gut das Ministerium es mit Ihnen gemeinet, wenn man sie gewarnet, im Reden und Aufführen sich der bescheidenheit zu gebrauchen, nachdem sie gesehen, was eine populace sey, und werden gar wohl begreiffen, wie übel mit Ihnen wäre verfahren worden, wenn man Gewalt gebraucht hätte.“95 Die evangelisch-lutherische Mehrheitsbevölkerung werde dagegen sehen, „daß das Ministerium sich nicht scheue, ihnen Justiz wiederfahren zu lassen, hingegen auch bemercken, daß man sich von Ihnen nichts werde vorschreiben lassen, und ihr Wüten und Toben nicht achte“.96 Diejenigen, die das Ministerium der Parteilichkeit ziehen, verlören so dauerhaft an Glaubwürdigkeit. Man könne sogar hoffen, „daß man vor des Ministerii auffrichtige intention tam in regione quam in religione mehr egard als sonsten jemahls haben werde“.97 In einem zweiten MemorialSchriftstück, das zehn Tage später formuliert wurde, bestätigte das Konsilium noch einmal, dass die schnelle Prozessführung und Urteilsfindung unter Berücksichtigung der Gesetzeslage „eine Impartialitaet anzeigen und dem Ministerio bey beyderseits Religionsverwannten zu statten kommen, nicht weniger das gnädigste Vertrauen der hohen Herrschafft gegen das Ministerium vermehren [werde]“.98 91 92 93 94 95 96 97 98

Beide Zitate: Sächs. HStA Dresden, 10024 Geheimer Rat (Geheimes Archiv), Loc. 9703/1, fol. 167v: Kabinett an Konsilium, 29.5.1726. Sächs. HStA Dresden, 10024, Geheimer Rat/Geheimes Konsilium, Loc. 9703/3: Ohnmaßgebliches Bedencken, 3.6.1726, Punkt 1. Ebd., Punkt 4. Ebd., Punkt 5. Ebd., Punkt 10. Ebd., Punkt 11. Ebd., Punkt 17. Ebd., Punkt 1.

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Man erörterte also Strategien, welche an das Konzept des Territorialismus anknüpften, welches im Rahmen neustoischer und naturrechtlicher Lehren entwickelt worden war. Diese Idee rechtfertigte das landesherrliche Kirchenregiment mit der Aufgabe, die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten und den Frieden zwischen den Konfessionen zu bewahren. Dabei war die „Verfügungsgewalt [des Landesherrn] über die Kirche im Territorialismus nicht von seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten Konfession abhängig“.99 Der Landesherr besaß lediglich das äußere Kirchenregiment (jura circa sacra) als Teil der durch den Westfälischen Frieden begründeten Souveränität der Reichsstände. Darüber hinaus bemühte sich das Konsilium allerdings, aus den Geschehnissen politisches Kapital zu schlagen. Es setzte dabei jedoch nicht auf Gemeinschaft stiftende politische Symbole oder Rituale, sondern auf kühl kalkulierte Machtmechanismen, die sich die Ängste und Bedürfnisse der beiden Religionsparteien zunutze machten. Nicht die Bindekräfte zwischen den Untertanen, sondern die Bindung spezifischer Gruppen an das Konsilium sollten gestärkt werden. Die Behörde versprach sich davon nicht nur ein höheres Ansehen in der Öffentlichkeit, sondern auch in den Augen des Herrschers. Ihre zweckrationalistischen Erwägungen folgten rein weltlichen Motiven, waren ganz auf das Problem des Machterhalts ausgerichtet. Dabei kam es vor allem darauf an, in den Augen der Öffentlichkeit glaubwürdig zu bleiben bzw. die Vertrauenswürdigkeit zurückzuerhalten. So wollte das Konsilium vermeiden, dass seine politische Legitimation erodierte. Als konfessionsbildende Instanz wirkte das Geheime Konsilium also nicht. Seine Politik folgte einem weltlichen Ansatz, für den die Konfession der Bevölkerung eine strategische Größe war. Darüber hinaus war man bestrebt, dem königlichen Befehl entsprechend „das fulminiren auf denen Canzeln“100 zu unterbinden und mahnte deshalb ein einträchtiges Nebeneinander der Konfessionen an. Zugleich rief man aber auch den Hof auf, mäßigend auf die Katholiken einzuwirken, die ihm unterstanden. Zumindest ein Stück weit emanzipierte sich das Konsilium auf diese Weise vom Kurfürst-König, dessen Konfessionspolitik letztlich auf eine Förderung seiner katholischen Glaubensverwandten in der Residenzstadt ausgerichtet war. So können wohl vor dem Hintergrund der Dresdner Geschehnisse des Jahres 1726 verschiedene Spielarten instrumentaler Konfessionspolitik angenommen werden, mit denen unterschiedliche Ziele verfolgt wurden: Während es dem Magistrat um die (Wieder-) Herstellung konfessioneller Homogenität ging und er zu diesem Zweck mit dem Druck der Straße argumentierte, ging es dem Konsilium letztlich um eine Befriedung der Konfessionsparteien im Sinne des Territorialismus.

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Lehmann, Hartmut, Das Zeitalter des Absolutismus. Gottesgnadentum und Kriegsnot, Stuttgart u. a. 1980, S. 86. Sächs. HStA Dresden, 10024, Geheimer Rat/Geheimes Konsilium, Loc. 9703/3: Ohnmaßgebliches Bedencken, 14.6.1726, Punkt 4.

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V. Resümee Die Analyse der Dresdner Geschehnisse des Jahres 1726 beweist, dass die konfessionellen Identitäten zu Beginn des 18. Jahrhunderts einen ernst zu nehmenden politischen Faktor darstellten. Weit davon entfernt, strategische Verhandlungsmasse zur Durchsetzung anders gelagerter Ziele zu sein, spielten derartige Identitäten eine wichtige Rolle in der Lebenswelt der historischen Akteure. Im Dresdner Fall entluden sich die inneren Widersprüche, die sich aus der biographisch determinierten konfessionellen Identität Franz Laublers ergaben, in einer schrecklichen Mordtat, die dann ihrerseits Ausschreitungen der evangelisch-lutherischen Mehrheitsbevölkerung gegen die katholische Minderheit in Dresden auslöste. In diesen Ausschreitungen wurde Konfession als zentraler Bestandteil einer partizipativen Identität der Dresdner Bürgerschaft vergegenwärtigt, aktualisiert und bestätigt. Die soziale Kontrolle durch die Nachbarschaft bzw. das unmittelbare persönliche Umfeld kann dabei als ein Faktor isoliert werden, der für die Aufrechterhaltung konfessioneller Identitäten sorgte. In diesem Zusammenhang kann an Michel Foucaults Wort von der Ubiquität der Macht erinnert werden, die auch dem gemeinen Mann Mittel in die Hand spielte, um auf das Handeln anderer einzuwirken und dadurch für die Einhaltung konfessioneller Normen zu sorgen.101 Letztere mussten also nicht notwendig von oben nach unten durchgesetzt werden, sondern konnten sich auch horizontal entfalten. Andere wichtige Agenten der Konfessionsbildung waren die Amtskirchen, die durch flammende Predigten von den Kanzeln der Dresdner Kirchen die Polarisierung der Konfessionskulturen vorantrieben, und die Publizistik, die in einem Prozess diskursiver Aneignung die Geschehnisse in den Sinnhorizont der Zeitgenossen einordnete und für die evangelisch-lutherische Sache nutzbar machte. Dagegen fungierten die landesherrlichen Obrigkeiten nicht mehr als Agenten der Konfessionsbildung. Zwar versuchten sie, die Geschehnisse im Sinne allgemeiner politischer Zielsetzungen zu instrumentalisieren, der Weg konfessioneller Homogenisierung der Untertanen mithilfe sozialdisziplinierender Mittel wurde jedoch verlassen. Vielmehr wurden disziplinierende Maßnahmen gegenüber agitierenden Predigern, skandalisierenden Publizisten und unruhigen Untertanen eingesetzt, um die gesellschaftlichen Sprengkräfte der konfessionellen Identitäten zu entschärfen. Die (Sprach-)Handlungen der historischen Akteure fügen sich in unterschiedliche makrogeschichtliche Prozesse ein. Laublers Religiosität, die von der katholischen Orthodoxie stark abweicht, aber auch der protestantischen nicht entsprach, folgt etwa einem Trend zur religiösen Individualisierung, der seit dem 16. Jahrhundert zu beobachten ist.102 Die weltlichen Obrigkeiten bedienten sich dagegen der instrumentalen Konfessionspolitik, die ebenfalls eine lange Vorgeschichte besaß. An den ‚Graswurzeln’ der Gesellschaft und in den institutionalisierten Kirchen be101 102

Vgl. Ricken, Norbert, Die Macht der Macht – Rückfragen an Michel Foucault, in: Ders./ Rieger-Ladich, Markus, (Hrsg.), Michel Foucault. Pädagogische Lektüren. Wiesbaden 2004, S. 119–143, hier S. 132. Vgl. Greyerz, Religion und Kultur, S. 325–330.

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mühte man sich unterdessen, angesichts der Krise die Grenze zwischen den Konfessionskulturen zu befestigen und die Konfessionsbildung fortzuführen. Entkoppelt vom Prozess der Staatsbildung, konnte die Konfessionsbildung sich dennoch entfalten. An die Stelle der Sozialdisziplinierung trat jedoch die Sozialkontrolle durch die Nachbarschaft. Das Auseinanderdriften der zuvor gleichlaufenden Prozesse ist letztlich aber auf die konfessionelle Pluralisierung bzw. die mangelnde Durchsetzbarkeit konfessioneller Homogenisierungsbestrebungen103 zurückzuführen, die sich in zahlreichen Territorien des Alten Reiches nach 1648 beobachten lässt. So bleibt letztlich festzuhalten, dass die Konfessionszugehörigkeit auch knapp 80 Jahre nach 1648 ein wichtiges Strukturprinzip der alteuropäischen Gesellschaft war und dass das aufgeklärte Jahrhundert in einem hohen Maße auch ein konfessionalisiertes Jahrhundert war.

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Vgl. ebd., S. 81.

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Protestanten im Zwist Die Herrnhuter Brüdergemeine und die konfessionelle Ordnung der Oberlausitz 1722–1765 Lutz Bannert

Die Entstehung der Brüdergemeine in Herrnhut wird im Schrifttum wiederholt auf die „kirchliche Verfassung“1 im frühneuzeitlichen Markgraftum Oberlausitz zurückgeführt. Demnach galt in diesem Territorium – es erstreckte sich im 18. Jahrhundert zwischen den Flüssen Queis und Pulsnitz sowie der Markgrafschaft Brandenburg und dem Königreich Böhmen – eine ganz eigene religiöse Ordnung, die auch hinreichend Freiheiten für die Etablierung dieser Glaubensgemeinschaft bot.2 Eigenheiten in der Herrschaftsordnung hatten während der Reformationszeit dazu geführt, dass sich Katholiken und evangelisch-lutherische Protestanten hier miteinander arrangieren mussten.3 Karlheinz Blaschke hat in Bezug auf das „Zusammenleben der beiden Konfessionen“ in diesem Landstrich von „bemerkenswerten Erscheinungen der Toleranz“ gesprochen.4 Die „kirchliche Verfassung“ (D. Meyer) der Oberlausitz wird nur als eine von mehreren anderen Bedingungen dafür angesehen, dass die Herrnhuter Brüdergemeine gerade hier entstehen konnte. Allerdings misst ihr die Historiographie eine zentrale Bedeutung zu.5

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Meyer, Dietrich, Der Pietismus in der Oberlausitz, in: Wegmarken der Oberlausitzer Kirchengeschichte, Düsseldorf/Görlitz 1994, S. 11–36, hier S. 11. Vgl. auch Blaschke, Karlheinz, Der verhinderte Staat. Ständeherrschaft und Staatlichkeit im Markgraftum Oberlausitz bis 1835, in: Lück, Heiner (Hrsg.), Recht – Idee – Geschichte. Beiträge zur Rechts- und Ideengeschichte für Rolf Lieberwirth anlässlich seines 80. Geburtstages, Köln/Weimar/Wien 2000, S. 611–638, hier S. 637. Vgl. Müller, Winfried, Vielfalt in der Region. Die Oberlausitz in der Frühen Neuzeit, in: Ludwig, Jörg/Wiegand, Peter (Hrsg.), Lausitzer Archivlandschaften. Beiträge der wissenschaftlichen Tagung zum 75-jährigen Jubiläum des Staatsfilialarchivs Bautzen, Halle/Saale 2009, S. 15–28, hier S. 26; Meyer, Dietrich, Zinzendorf und Herrnhut, in: Brecht, Martin/Deppermann, Klaus (Hrsg.), Der Pietismus im achtzehnten Jahrhundert, Göttingen 1995, S. 3–106, hier S. 7f. Eine Darstellung der Umstände dieser Entwicklung wird in diesem Beitrag in Abschnitt I gegeben. Blaschke, Karlheinz, Reformation in den Lausitzen, in: Ders., Beiträge zur Geschichte der Oberlausitz. Gesammelte Aufsätze, Görlitz/Zittau 2000, S. 66–86, hier S. 83. Beispielsweise schließt Dietrich Meyer einen 1994 erschienenen Aufsatz zum Thema mit dem Befund, „daß die Oberlausitz die einzige Landschaft in Deutschland geblieben ist, in der der Pietismus aufgrund ihrer besonderen Verfassungsstruktur, ihrer Grenzlage und des Charismas ihrer Persönlichkeiten zu einer eigenen Freikirche innerhalb der Landeskirche gelangt ist“. Meyer, Pietismus, S. 28.

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Gleichzeitig beschäftigt sich das Schrifttum auch mit heftigen Gegenreaktionen, die der neu gegründeten Gemeinschaft um die Mitte des 18. Jahrhunderts von Teilen der oberlausitzischen Bevölkerung entgegenschlugen. Beispielsweise sah sich der Rektor des Zittauer Gymnasiums, Polykarp Müller, gezwungen, seinen Posten aufzugeben, nachdem seine Frau 1734 offiziell der Brüdergemeine beigetreten war.6 Außerdem wurden mehrere vom Landesherrn bestallte Kommissionen in Herrnhut vorstellig, um das religiöse Leben vor Ort zu untersuchen. Etliche Einwohner, insbesondere Schwenckfelder, mussten die Siedlung aufgrund obrigkeitlicher Weisungen verlassen. Auch die Rechte des Gründers der Brüdergemeine, Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf, wurden eingeschränkt. Zunächst erhielt er die landesherrliche Auflage, seine Liegenschaften in der Oberlausitz zu verkaufen. Wenige Jahre später wurde ihm der Aufenthalt in dem Territorium ganz untersagt.7 Setzt man beide Beobachtungen zueinander in Beziehung, erscheinen die gerade erwähnten Zwangsmaßnahmen gegen die Herrnhuter Brüdergemeine erklärungsbedürftig. Kann mit Blick auf das konfessionelle Gefüge in der Oberlausitz – einer Ordnung, in der sich zwei Konfessionen miteinander zu arrangieren hatten – tatsächlich von ‚Erscheinungen der Toleranz‘ (K. Blaschke) die Rede sein? Was wandten die Zeitgenossen in der Oberlausitz gegen die Brüdergemeine ein? Was versuchten die Anhänger der neuen Glaubensgemeinschaft ihren Kritikern entgegenzusetzen und wie versuchten sich die Bedrängten ihrerseits in die bestehende konfessionelle Ordnung im Land einzufügen? Welche Folgen hatte die religiöse Pluralisierung für das in der Oberlausitz bestehende Gemeinwesen? Diesen Fragen soll im Folgenden nachgegangen werden.8 Dabei versteht sich die Untersuchung weniger als ein Beitrag zur Historiographie der Brüdergemeine. Vielmehr zielt sie auf Erkenntnisse über das ungewöhnliche Gefüge der Konfessionen in der Oberlausitz im 18. Jahrhundert. Damit lässt diese Fragestellung – hierauf verweist schon die zeitliche Einordnung der Untersuchung – Einsichten in die Proble-

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Vgl. Kämmel, Otto, Gottfried Polycarpus Müller, in: Allgemeine Deutsche Biographie 22 (1885), S. 669–673, hier S. 673. Vgl. Meyer, Zinzendorf, S. 34f. Für die Geschichte der Brüdergemeine und die Auseinandersetzungen um ihre Anerkennung sind neben den bereits genannten Texten Meyer, Zinzendorf; und Meyer, Pietismus weiterhin einschlägig: Beyreuther, Erich, Zinzendorf und die Christenheit 1732–1760, Marburg 1961; Hark, F. S., Der Konflikt der kursächsischen Regierung mit Herrnhut und dem Grafen von Zinzendorf 1733–1738, in: Neues Archiv für Sächsische Geschichte 3 (1882), S. 1–65; Ders., Des Grafen von Zinzendorf Rückkehr nach Sachsen und die Hennersdorfer Kommission 1747–1748, in: Neues Archiv für sächsische Geschichte 6 (1885), S. 264–307; Körner, Ferdinand, Die kursächsische Staatsregierung dem Grafen Zinzendorf und Herrnhut bis 1760 gegenüber, Leipzig 1878; Meyer, Dietrich, Die Herrnhuter Brüdergemeine in der Oberlausitz, in: Jahrbuch für schlesische Kirchengeschichte 79 (2000), S. 109–124; Ders., Bibliographisches Handbuch zur Zinzendorf-Forschung, Düsseldorf 1987, S. 281–499; Modrow, Irina, Dienstgemeine des Herrn. Nikolaus Ludwig von Zinzendorf und die Brüdergemeine seiner Zeit, Hildesheim/New York/Zürich 1994, insbes. S. 72–82 und 98–117.

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matik konfessioneller Konflikte im Zeitalter der Aufklärung erwarten.9 Jedenfalls steht die Charakterisierung des 18. Jahrhunderts als Epoche religiöser Toleranz in Frage, wenn der Blick auf den Konflikt um die Etablierung der Frömmigkeitsbewegungen im späten 17. und im 18. Jahrhundert fällt. Offenbar wurde dieses Phänomen religiöser Pluralisierung von teilweise heftigen Gegenreaktionen der etablierten Kirchen begleitet. Bevor die Streitparteien jedoch zu Wort kommen (II. und III.), wird zunächst das Verhältnis zwischen den Konfessionen in der frühneuzeitlichen Oberlausitz charakterisiert (I.).

I. Konfessionelle Ordnung und religiöse Toleranz in der frühneuzeitlichen Oberlausitz Wenn in der kirchlichen Verfassung eine Bedingung für die Entstehung der Brüdergemeine gesehen wird, geschieht dies unter Verweis auf Besonderheiten, die die Oberlausitz von anderen Territorien des Alten Reichs unterscheiden. Ausführungen darüber ist allerdings vorauszuschicken, dass bislang keine systematische Auseinandersetzung mit diesem Gegenstand erfolgte.10 Auch die folgende Darstellung vermag eine umfassende Aufarbeitung nicht zu leisten. Sie fasst zunächst die an unterschiedlicher Stelle in der Sekundärliteratur referierten Erkenntnisse zusammen. Seit der Reformation im 16. Jahrhundert lebten in der Oberlausitz sowohl Katholiken als auch evangelisch-lutherische Protestanten. Obgleich Letztere bald nach der Reformation die Mehrheit der Bevölkerung ausmachten, vermochten es katholische Herrschaftsträger in diesem Territorium, ihre Rechte in weiten Teilen zu wahren. Sowohl das Domstift Bautzen als auch drei Frauenklöster des Landes – die Zisterzienserinnenklöster Marienstern bei Kamenz und Marienthal in Ostritz sowie das Magdalenerinnenkloster in Lauban – hatten auch nach der Einführung der Reformation Bestand.11 Ihre Herrschaftsrechte, insbesondere ihre Ansprüche

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Zur Toleranz im 18. Jahrhundert vgl. Müller, Winfried, Die Aufklärung, München 2002, S. 46, 59 mit weiteren Nachweisen; Stollberg-Rilinger, Barbara, Europa im Jahrhundert der Aufklärung, Stuttgart 2000, S. 94–113. Für Ausführungen über die religiösen Verhältnisse in der Oberlausitz vgl. Dannenberg, Lars-Arne/Scholze, Dietrich, Stätten und Stationen der oberlausitzischen Kirchengeschichte, in: Dies. (Hrsg.), Stätten und Stationen religiösen Wirkens. Studien zur Kirchengeschichte der zweisprachigen Oberlausitz, Bautzen 2009, S. 11–18; Kersken, Norbert, Die Oberlausitz von der Gründung des Sechsstädtebundes bis zum Übergang an das Kurfürstentum Sachsen (1346–1635), in: Bahlcke, Joachim (Hrsg.), Geschichte der Oberlausitz. Herrschaft, Gesellschaft und Kultur vom Mittelalter bis zum Ende des 20. Jahrhunderts, Leipzig 2001, S. 99–141, hier S. 124–131; Schunka, Alexander, Die Oberlausitz zwischen Prager Frieden und Wiener Kongreß (1635 bis 1815), in: ebd., S. 143–179, hier S. 153–158. Vgl. Blaschke, Karlheinz, Das Markgraftum Oberlausitz und das Amt Stolpen 1777. Beiheft (Atlas zur Geschichte und Landeskunde von Sachsen, Karte C III 4), S. 16; Müller, Vielfalt, S. 22, 24.

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auf Abgaben und Dienste durch die Untertanen, blieben weitgehend unberührt.12 Sie behielten auch das Recht, als geistliche Landstände auf dem Landtag des Territoriums zu erscheinen. Anders als beispielsweise im benachbarten Kursachsen stellte die Konfession hierfür offenbar keinen Ausschlussgrund dar.13 Über die praktische Ausgestaltung dieser Ordnung lassen sich derzeit keine Aussagen machen. Sie ist unter diesem Gesichtspunkt noch nicht erforscht worden.14 Die Entstehung dieses konfessionellen Gefüges wird im Schrifttum hauptsächlich auf die Herrschaftsstruktur in der Oberlausitz zurückgeführt.15 Als Nebenland der böhmischen Krone regierten die Landesherren das Territorium in der Frühen Neuzeit stets aus der Ferne. Nur vergleichsweise selten waren sie auch persönlich anwesend.16 In der Regel ließen sie sich aber durch einen Landvogt vertreten, dessen Einfluss auf die Entscheidungen über den politischen Kurs des Landes als verhältnismäßig schwach beschrieben wird.17 Aus der mangelnden Präsenz eines Landesherrn vor Ort scheint sich ein Vakuum in der Herrschaftsausübung ergeben zu haben, das von der Ständeversammlung der Oberlausitz ausgefüllt wurde. Sie setzte sich aus der Gesamtheit der Ortsobrigkeiten des Markgraftums zusammen.18 Dazu zählten neben den bereits erwähnten vier geistlichen Herrschaften auch drei Gruppen weltlicher Herrschaftsträger: die Gesandten der sogenannten Sechsstädte,19 die Standesherren und die Eigentümer der „rund 400 Rittergüter“20 in der Oberlausitz. 12 13

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Vgl. Blaschke, Markgraftum, S. 16. „Nur in Absicht der Religion ist man in der Oberlausitz weit toleranter, als in den chursaechsischen Landen; indem hier jeder, welcher sich nur zu einer im deutschen Reiche geduldeten Religion bekennt, Ritterguether an sich kaufen und auf den oberlausitzischen Landtagen Sitz und Stimme haben kann“. Roemer, Carl Heinrich von, Staatsrecht und Statistik des Churfuerstenthums Sachsen und der dabey befindlichen Lande, Dritter Theil, Wittenberg 1792, S. 66, § 6. Winfried Müller charakterisiert das Verhältnis zwischen den Konfessionen dem derzeitigen Forschungsstand folgend als ein „Neben- und Gegeneinander von Katholizismus und Protestantismus“. Müller, Vielfalt, S. 16. Karlheinz Blaschke und Siegfried Seifert sprechen von einer „von der Landesverfassung festgelegte[n] Regelung des Nebeneinanderbestehens der Konfessionen“. Blaschke, Karlheinz/Seifert, Siegfried, Reformation und Konfessionalisierung in der Oberlausitz, in: Bahlcke, Joachim/Dudeck, Volker (Hrsg.), Welt – Macht – Geist. Das Haus Habsburg und die Oberlausitz 1526–1635, Görlitz/Zittau 2002, S. 121–128, hier S. 126. Vgl. Blaschke/Seifert, Reformation, S. 121–128; Dannenberg, Stätten, S. 11; Kersken, Oberlausitz, S. 126–129. Ein einheimisches Herrschergeschlecht hat es in der Oberlausitz nie gegeben. Vgl. Blaschke, Staat, S. 614, 617. Vgl. Blaschke, Reformation, S. 68. „Die wirklichen Herren im Lande waren aber die Landstände.“ Blaschke, Staat, S. 616. Vgl. auch ebd., S. 627; Ders., Reformation, S. 68. Um den Landfrieden zu gewährleisten, gründeten die sechs bedeutendsten Städte der Oberlausitz – Kamenz, Bautzen, Löbau, Zittau, Görlitz und Lauban – im Jahr 1346 den Oberlausitzer Sechsstädtebund. Vgl. Kersken, Oberlausitz, S. 99–111. Blaschke, Reformation, S. 69. Zu den Rittergütern vgl. die Ausführungen in: Ders., Markgraftum, insbes. S. 25–52; Boetticher, Walter von, Geschichte des Oberlausitzischen Adels und seiner Güter 1635–1815, 4 Bde., Görlitz 1912–1923.

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Diese Ständeversammlung nahm sich aller Entscheidungen an, die das Markgraftum als Ganzes betrafen und daher nicht von jeder Ortsobrigkeit allein getroffen werden konnten.21 Für die Verwaltung der gemeinsamen Aufgaben unterhielten die oberlausitzischen Landstände eine gemeinsame Behörde: das Oberamt. Es war am Sitz des Landvogts als dem landesherrlichen Repräsentanten in der Stadt Bautzen angesiedelt.22 Das Verhältnis zwischen den Ortsherrschaften und der Ständeversammlung charakterisiert Blaschke folgendermaßen: „Hier war jedes Ständemitglied in seinem Herrschaftsbereich autonom und gleichzeitig Teilhaber einer korporativen Gesamtautonomie.“23 Für die Durchsetzung der Reformation in der Oberlausitz war diese politische Verfasstheit von erheblicher Bedeutung.24 Sie führte zu der außergewöhnlichen Situation, dass das ius reformandi hier nicht vom Landesherrn ausgeübt wurde.25 Er verfügte über keine zentrale Instanz für religiöse Fragen im Land, die den Übergang zur neuen Lehre – seiner Überzeugung folgend – hätte unterbinden können.26 Aber genauso wenig ist die Einführung der Reformation in der Oberlausitz auf einen gemeinsamen Beschluss der Landstände des Territoriums zurückzuführen.27 Mangels übergeordneter Entscheidungsinstanzen bestimmten hierüber die Inhaber der einzelnen Ortsherrschaften.28 Folglich vermochten sich die oben erwähnten vier geistlichen Herrschaftsträger entgegen der reformatorischen Bestrebungen im Land zu behaupten. Sie standen insgesamt 13 Pfarreien vor, in denen sich eine katholische Minderheit im Land halten konnte.29 An manchen Stellen versagten ihnen die ei21 22 23

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Karlheinz Blaschke zählt dazu insbes. die Regelung der „letztinstanzliche[n]“ Gerichtsbarkeit und die Erhebung von Steuern. Blaschke, Staat, S. 625. Vgl. Blaschke, Reformation, S. 68; Boetticher, Geschichte, Bd. I, S. 36f. Blaschke, Staat, S. 636. Blaschke hat diese Konstellation der Herrschaftsausübung in der Oberlausitz als ‚verhinderten Staat’ beschrieben. Demnach stand diese Ordnung der Entstehung einer eigenständigen modernen Staatlichkeit im Weg. Das Territorium wurde erst nach der Teilung der Oberlausitz zwischen Sachsen und Preußen im Jahr 1815 durch Zentralverwaltungen administrativ erschlossen. Infolge eines Beschlusses auf dem Wiener Kongress fiel ungefähr die Hälfte des Territoriums an Preußen. Es wurde den dort geltenden Strukturen entsprechend verwaltet. Der im wettinischen Territorialbesitz verbleibende Teil wurde 1835 vollständig in die dort bestehenden Verwaltungsstrukturen eingegliedert. Vgl. Blaschke, Staat, S. 637; Belzyt, Leszek/Rautenberg, Hans-Werner, Die Oberlausitz vom Wiener Kongreß bis zum Ende des Ersten Weltkriegs (1815–1918), in: Bahlcke, Geschichte der Oberlausitz, S. 181–220, hier insbes. S. 181–191. Vgl. Anm. 15 dieser Untersuchung. Zwischen 1526 und 1635 waren die Habsburger in ihrer Funktion als böhmische Könige die Landesherren der Oberlausitz. Während des Dreißigjährigen Krieges übereigneten sie das Territorium jedoch dem kursächsischen Herrscherhaus der Wettiner. Vgl. Blaschke, Karlheinz, Verfassung und Gesellschaft in der Oberlausitz zwischen 1526 und 1635, in: Bahlcke/Dudeck, Welt – Macht – Geist, S. 89–96, hier S. 89, 94; Kersken, Oberlausitz, S. 106–108; Schunka, Oberlausitz, S. 143. Vgl. Blaschke, Reformation, S. 73f. Vgl. ebd., S. 74. Vgl. ebd., S. 73; Dannenberg, Stätten, S. 13. Eine Aufzählung dieser Pfarreien gibt Blaschke, Reformation, S. 82f.

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genen Untertanen die Gefolgschaft. Sie vertrieben den alten Pfarrer und setzten einen Ortsgeistlichen ein, der der neuen Lehre folgte.30 Umgekehrt sind aber auch Fälle nachweisbar, in denen ein lutherisch gesonnener Ortsherr einen altgläubigen Geistlichen in seinem Amt beließ und die Pfarrstelle erst nach dessen Ausscheiden aus dem Amt mit einem lutherischen Theologen neu besetzte.31 Für die Kirche St. Petri in Bautzen kam es noch in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts zu einer Übereinkunft zwischen den Anhängern beider Konfessionen, sich die Nutzung des Sakralraums zu teilen.32 Das heißt, bei der „Reformation von unten“33, wie sie in der Oberlausitz stattgefunden hatte, sind mehrere bemerkenswerte Ungleichzeitigkeiten zu beobachten. Offenbar verfügten die Verfechter von keiner der beiden Konfessionen über die Mittel, ihrem Gegenüber den Fortbestand abzusprechen. Es liegt nahe, ein solches Vorgehen als unzulässige Einmischung in die Rechte der Ortsherrschaften zu interpretieren. Die Anpassung an die eigene Lehre zu erzwingen hätte im Denkhorizont dieser Ordnung der eigenen Entscheidung in Glaubensfragen die Rechtsgrundlage entzogen.34 Inwieweit die Zeitgenossen dieses Argument tatsächlich in ihrer Auseinandersetzung geltend gemacht haben, wäre noch zu untersuchen. Weiterhin müssen Aushandlungsprozesse und Verfahren der Kompromissfindung zwischen den Konfessionen einer eigenen Studie vorbehalten bleiben. Beim derzeitigen Forschungsstand ist aber zumindest feststellbar, dass sich während der Reformation Katholiken und evangelisch-lutherische Protestanten in der Oberlausitz miteinander arrangierten. Es scheint im Interesse beider Konfessionsparteien gewesen zu sein, Meinungsverschiedenheiten nicht eskalieren zu lassen. Vielmehr sind Bemühungen beobachtbar, das Verhältnis zwischen den Konfessionen der Kräfteverteilung entsprechend auszutarieren. So konnten die Katholiken in der Oberlausitz anders als etwa im benachbarten Kursachsen ihre Mitgliedschaft in der Ständeversammlung des Territoriums 30

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Vgl. ebd., S. 74; Udolph, Ludger, Die Konfessionalisierung der Lausitzen und die sorbischen Bibelübersetzungen (16.–18. Jahrhundert), in: Zeitschrift für Slawistik 48 (2003), S. 267–291, hier insbes. S. 269. Gerber, Christian, Die Unerkannten Wohlthaten Gottes In denen beyden Marggraffthuemern Ober- und Nieder-Lausitz Und deren vornehmsten Staedten, Sammt ihrem Schul- und Kirchen-Staate, Dresden/Leipzig 1720, S. 360 und 362. Die Gründe dafür sind wahrscheinlich stets andere gewesen. Wenn dies aber vorkam, scheinen die Geistlichen gut mit ihrem Patron ausgekommen zu sein und keinen Anlass zur Klage gegeben zu haben. Vgl. Dannenberg, Stätten, S. 12. Der Dom St. Petri in Bautzen ist nach derzeitigem Kenntnisstand die älteste Simultankirche Deutschlands. Vgl. Henke, Heinz, Wohngemeinschaften unter deutschen Kirchendächern. Die simultanen Kirchenverhältnisse in Deutschland – eine Bestandsaufnahme, Leipzig 2008, S. 34–37. Blaschke, Reformation, S. 85. „Die ständische Verfassung der beiden Markgraftümer [Ober- und Niederlausitz – Anm. d. Verf.] und die hier möglich gewesene Verlagerung des ius reformandi auf die grundherrschaftliche Ebene waren die Ursache für das Überleben der geistlichen Institutionen.“ Blaschke, Reformation, S. 83. Vgl. ebd., S. 73.

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verteidigen.35 Gleichzeitig scheint sich ihr Einfluss dadurch zu nivellieren, dass die drei Frauenklöster von jeweils einem Klostervogt vertreten wurden, der wiederum der evangelisch-lutherischen Konfession anzugehören hatte.36 Als die habsburgischen Landesherren die Oberlausitz während des Dreißigjährigen Krieges an die lutherischen Wettiner abtraten, schrieben sie das Verhältnis der Konfessionen fest. Zuvor war es ihnen nicht gelungen, das Territorium ihren Bemühungen um Rekatholisierung zu unterwerfen.37 Infolge der Gebietsübereignung an das Haus Wettin im Jahr 1635 waren die nunmehr lutherischen Landesherren an vertragliche Vereinbarungen gebunden, die jeden Eingriff in die überkommene Ordnung ausschlossen und das Haus Habsburg zur Schutzmacht der Katholiken im Land erklärten. Die lokalen Herrschaftsträger selbst sahen durch den Abtretungsvertrag ihre weiten Handlungsspielräume in Religionssachen vermutlich bestätigt. Jedenfalls vermochten es auch die Wettiner nicht, eine entsprechende übergeordnete Behörde – also ein Oberkonsistorium – einzurichten.38 Unter den quantitativ ungleichen Konfessionsparteien hatte sich im Untersuchungszeitraum also ein Arrangement ergeben, das auf Rechtsvereinbarungen beruhte und so die Konflikte zwischen Lutheranern und Katholiken einhegte.39 Dieses konfessionelle Gefüge bildete bei der Auseinandersetzung um die Etablierung der Brüdergemeine in der Oberlausitz den Handlungsrahmen und den Denkhorizont der Akteure. Bezogen auf den Gründer der Glaubensgemeinschaft, Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf, bedeutet dies: Als Eigentümer des Ritterguts Berthelsdorf im Süden der Oberlausitz bestimmte er – wie oben beschrieben – über die Konfession seiner Untertanen.40 Dieses Kirchenpatronat umfasste offenbar auch das Recht, über die Ansiedlung von Glaubensflüchtlingen zu entscheiden. Jedenfalls gestattete Zinzendorf seit dem Jahr 1722 einigen dutzend Mähren, sich auf seinem Grund niederzulassen. Direkt an der Straße zwischen Löbau und Zittau ließ er sie

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Vgl. Anm. 13 dieser Untersuchung. Vgl. Blaschke, Reformation, S. 83. Diese Regelung ist belegt in: D. Benjamin Leubers, Cammer-Procurators in Oberlausitz, Erklaerung des Traditions-Recesses der darinn gelegenen Stifter und Kloester, der Exemtion wegen, auf Churfuerst Johann George II. gnaedigste Verordnung vom 10. Jan[uar] 1669. unterthaenigst abgestattet; oder: Information und Bericht von den Klostervoigten in oberlausitzischen Stand und Amte und was die Voigte zu verrichten haben, in: Weinart, Benjamin Gottfried (Hrsg.), Rechte und Gewohnheiten der beyden Marggrafthuemer Ober- und Niederlausitz, Erster Theil, Leipzig 1793, S. 403–554, hier S. 425. Vgl. Boelcke, Willi A., Verfassungswandel und Wirtschaftsstruktur. Die mittelalterliche und neuzeitliche Territorialgeschichte ostmitteldeutscher Adelsherrschaften als Beispiel, Würzburg 1969, S. 429. Stattdessen hatten die Landstände 1611 bei Kaiser Matthias die Ausstellung eines sogenannten Majestätsbriefs erwirkt, der ihnen die freie Ausübung ihres Glaubens garantierte. Vgl. Blaschke, Reformation, S. 83. Die zentrale Leitung der Religionssachen übernahm stattdessen das ständisch dominierte Oberamt. Vgl. Boelcke, Verfassungswandel, S. 431. Vgl. Blaschke, Reformation, S. 84. Zum Gutsbesitz Zinzendorfs in der Oberlausitz vgl. Boetticher, Geschichte, Bd. III, S. 213f.

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die Siedlung Herrnhut errichten.41 Als Inhaber der Herrschaftsrechte über diesen Ort gab er dem dort lebenden Gemeinwesen 1727 auch eine eigene Ordnung. Inwiefern das konfessionelle Gefüge in der Oberlausitz auch das Denken Zinzendorfs bestimmte, soll weiter unten (III.) gezeigt werden. Zunächst wird untersucht, wie die Zeitgenossen in der unmittelbaren Umgebung Herrnhuts auf die Etablierung dieser Glaubensgemeinschaft in ihrer Nachbarschaft reagierten.

II. Anwürfe gegen Zinzendorf und die Brüdergemeine aus der Oberlausitz Aus der Umgebung Herrnhuts erreichten die Dresdner Kanzlei Bittschriften, die die Reaktionen auf die Entstehung der Herrnhuter Brüdergemeine im konfessionellen Gefüge der Oberlausitz zu erkennen geben. In den Anschreiben zeigten sich die Petenten von Maßnahmen Zinzendorfs negativ betroffen.42 Dreimal innerhalb von eineinhalb Jahrzehnten – 1732, 1736 und 1747 – sahen sich die sächsischen Kurfürsten in ihrer Funktion als Landesherren der Oberlausitz daraufhin veranlasst, Untersuchungskommissionen auf das Rittergut Berthelsdorf zu schicken.43 Der Zittauer Stadtrat beispielsweise reichte 1736 – im Umfeld der zweiten Untersuchungskommission – einen Bericht über die Brüdergemeine ein, wonach „ohngeachtet der Bibl. Vorsorge unsers Magistrats immer mehr Zerrüttungen, in unserer Gemeine entstehen, und viele Christliche Herzen bey solchen scheinbaren Wesen irre gemacht werden, daß sie nicht wissen wem? und was? sie glauben sollen“44. Offenbar fanden die Auffassungen der Brüdergemeine über die richtige Glaubenspraxis un41

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43 44

Die flüchtigen Mähren waren Überbleibsel der kirchenkritischen, hussitischen Bewegung aus dem 15. Jahrhundert und pflegten einen Glauben jenseits obrigkeitlicher Vorgaben. Durch pietistische Prediger aus dem schlesisch-mährischen Grenzraum waren viele von ihnen im frühen 18. Jahrhundert religiös erweckt worden. In ihrer Heimat sahen sie sich durch gegenreformatorische Maßnahmen ihrer habsburgischen Landesherren bedroht. Bis in die frühen 1730er Jahre kamen über 150 Personen aus Mähren ins oberlausitzische Berthelsdorf. Vgl. Beyreuther, Erich, Zinzendorf und die sich allhier beisammen finden, Marburg 1959, S. 110–112; Meyer, Zinzendorf, S. 21. Der prominenteste unter den Anklägern, Kaiser Karl VI., machte einen ökonomischen Schaden geltend, den Zinzendorf ihm eingetragen hätte. Durch die Ansiedlung von mährischen Exulanten auf dessen Liegenschaften in der Oberlausitz seien seinem Königreich Böhmen unrechtmäßig Untertanen abhandengekommen. Daher forderte er den Kurfürsten Friedrich August I. von Sachsen als Zinzendorfs Landesherrn auf, seinem Untertan dieses Tun zu untersagen und die flüchtigen Mähren in ihre Heimat zurückzuschicken. Die Oberlausitz erscheint hier im Sinne des zeitgenössischen Peuplierungsdenkens als Konkurrent des Königreichs Böhmen. Vgl. Körner, Staatsregierung, S. 16; Meyer, Zinzendorf, S. 34. Zur Peuplierungspolitik im 18. Jahrhundert vgl. Müller, Aufklärung, S. 58f. Die Tätigkeit dieser Kommissionen ist detailliert beschrieben in Körner, Staatsregierung. Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden [im Folgenden: Sächs. HstA Dresden], 10025 Geheimes Konsilium, Loc. 5986: Acta Commissionis, Die allergnädigst anbefohlne Local-Untersuchung derer in Herrenhuth und Berthelsdorff unternommenen Neuerungen in Religions- und andern Sachen betr[effend] Anno 1736, fol. 230v und 231r.

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ter den Mitgliedern der Kirchgemeinden zunehmend Anhänger. Dem Magistrat der Stadt zufolge führte dies unter den Zittauern zu großer Verunsicherung. Jedenfalls endet das Schreiben mit einem Hilferuf der Verfasser, ihnen „alle abhelffliche Assistenz angedeyhen [zu] laßen, damit einem größern zu besorgenden Übel vorgebeuget werde“45. Die beklagten „Zerrüttungen“ machte die Stadtobrigkeit an mehreren Anzeichen fest. Demnach kursierten unter den Parteigängern der Brüdergemeine in der Stadt „fanatische und verführerische Bücher von Böhmen, Weigeln, Hoburgen, Dippeln u. s. f.“46 Außerdem würden solchergestalt „Verführte“47 die Teilnahme am Abendmahl verweigern oder gleich ohne Kompromisse „den öffentlichen Gottesdienst verlaßen“48. Weiterhin würden viele der Brüdergemeine aufgeschlossen gegenüberstehende Gläubige „von denen heilsamen Gnaden-Mitteln die schnödesten Reden führen“ und die von der Amtskirche ordentlich bestellten Pfarrer „Schmähen, Lästern und Schänden“.49 Stattdessen forderten diese Abweichler dem Schreiben des Zittauer Magistrats zufolge „die allgemeine Lehr-Freyheit“50, die es ihnen gestatte – offiziell bestellten Pfarrern gleich – sakrale Handlungen vorzunehmen.51 Die geschlossenen Zusammenkünfte – „Abend-Conventicula“52 – der Anhänger der Brüdergemeine galten dem Stadtrat als ein weiteres alarmierendes Zeichen für die Spaltung der hiesigen Kirchgemeinden.53 Charakteristisch für sie sei auch, dass „diese Leute das Licht scheuen“ und „alle Dinge so heimlich halten, als es möglich“.54 Mehr oder weniger vollständige Aufzählungen dieser Indikatoren für das Ausgreifen der Brüdergemeine finden sich in allen Beschwerdeschriften, die in den durchgesehenen Akten enthalten sind.55 Diese Vorwürfe machen auch weite Teile 45 46 47 48 49 50 51

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Ebd., fol. 231r. Ebd.. fol. 228v. Ebd. Ebd. Ebd. Das Schreiben berichtet auch von dem aus Zittau stammenden Herrnhuter Gastwirt, Voigt. Demnach habe er die Zittauer Stadtgeistlichkeit als „vom Teufel berufenem eingekauffte Verführer und Spitzbuben“ beschimpft. Ebd., fol. 229r. Ebd. Zum Predigen in der Brüdergemeine vgl. Hark, Konflikt, S. 30. Ein solches Vorgehen dokumentiert das Schreiben beispielsweise für den damaligen Rektor des Zittauer Gymnasiums Polykarp Müller. Er habe „so genannte Schul-Predigten am Sonntage“ veranstaltet, in denen er „an statt daß seine Vorfahren, wenn sie dergleichen Stunden gehalten, durch Wiederholung der öffentlich gehaltenen Predigten, die Studirenden zu erbauen gesuchet, selbst die Erklärung der Biblischen Bücher nach seiner Arth“ vornahm. Sächs. HStA Dresden, Loc. 5986, Acta Commissionis, fol. 229v, 230r. Ebd., fol. 229v. „Wenn durch Löbl[iche] Vorsorge unserer lieben Stadt-Obrigkeit die Zusammenkünffte der Herrnhuthischen Anhänger an einen Orth zerstöhret worden; so äußert sich bald, daß sie an einen andern Orth wieder angegangen“. Ebd., fol. 228v. Ebd., fol. 230v. Einzeln nachgewiesen sind sie in den Anmerkungen 110 (Pfarrer) und 111 (Magistrate) dieser Untersuchung. Außerdem findet sich im durchgesehenen Archivgut auch Material zu zwei prominenten Einzelfällen; eine Beschwerde des Konrektors des Zittauer Gymnasiums, Samuel Friedrich Bucher, über den Rektor der Einrichtung, Gottfried

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des Inhalts der gegen die Glaubensgemeinschaft gerichteten Druckschriften aus, die seit 1729 aufgelegt wurden.56 Manche Beschwerdeführer erweiterten den oben beschriebenen Kanon noch. Beispielsweise wandten sich mehrere Pfarrer aus der Umgebung von Zittau wenige Tage nach dem Magistrat der Stadt in einem eigenen Schreiben an den sächsischen Kurfürsten. Neben dem Fernbleiben von der Beichte, dem Abendmahl oder dem Gottesdienst sowie dem Abhalten von Konventikeln, der Lektüre „irrige[r], verdächtige[r] und verführerische[r] Bücher“57 und der öffentlichen Schmähung kirchlicher Amtsträger beschrieben sie zwei weitere Phänomene, die sie bei der Ausübung ihres Amtes beobachtet hätten. Demnach begaben sich Mitglieder der ihnen anvertrauten Gemeinden „hauffenweise nach Herrenhuth, den Graffen von Zinzendorff, nacher Berthelsdorff, Herr Rothen, und nach Groß Hennersdorf, H[er]r Wanecken, Inspectorn in dasigen Waisenhauße, zuhören“58. Weiterhin sollen auswärtige Anhänger der Brüdergemeine ihre Kinder – „ohne der Obrigkeit und derer Geistlichen Vorbewust zu informiren“59 – zur Erziehung in das dortige Waisenhaus gegeben haben.60 Einige verließen den Pfarrern zufolge ihre Gemeinde endgültig. Sie seien ohne Rücksprache mit ihrer Grundherrschaft „an gedachte Örter würcklich hingezogen“61. Was der Zittauer Magistrat „Zerrüttungen“ nannte und die Pfarrer aus dem Süden der Oberlausitz als „Trennung, Unordnung, und Ärgerniß“62 beschrieben, veranlasste ihren Kollegen August Anton Rhode zu der Feststellung, „daß die Herrnhuter wirklich aller Orten, wo sie sich etablieren,

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Polykarpus Müller, aus dem Jahr 1732. Vgl. Sächs. HStA Dresden, 10025 Geheimes Konsilium, Loc. 5985: Einige in Oberlausitz überhand nehmende Neuerungen in Religions-Sachen betr. An[no] 1729.32.34 [im Folgenden: Loc. 5985 Neuerungen], fol. 46r und 46v. Außerdem eine Stellungnahme des Freiberger Superintendenten Christian Friedrich Wilisch gegen eine Anzeige der Brüdergemeine aus dem Jahr 1750. Vgl. Sächs. HStA Dresden, 10088 Oberkonsistorium, Loc. 1892: Acta, die wieder die Gemeinde zu Herrenhut edirten Scripta, samt was dem anhängig betreffende, 1733–50 [im Folgenden: Loc. 1892 Acta], fol. 23r–39r. Vgl. Beyreuther, Erich, Einführung, in: Ders. (Hrsg.), Antizinzendorfiana aus der Anfangszeit 1729–1735, Hildesheim/New York 1976, S. VIII-CII, hier S. XLV-LIII; Meyer, Handbuch, S. 281–499. Sächs. HstA Dresden, 10025 Geheimes Konsilium, Loc. 5986: Die angebrachte Haltung derer Conventiculorum in Groß-Hennersdorff und verschiedenen anderen Orthen betr. Anno 1736.37.38 ingleichen was wegen Joh. Nic. Meyens in Zittau UntersuchungsSache in po. irriger Lehr-Sätze in Religions-Sachen und harter wieder dasige Geistlichen ausgestoßene Injurien geschrieben worden [im Folgenden: Loc. 5986 Haltung], fol. 1v. Sächs. HStA Dresden, Loc. 5986, Acta Commissionis, fol. 246v. Dieses Phänomen wird in den gegen die Brüdergemeine gerichteten Texten wiederholt als das sogenannte „Auslaufen“ aus den Ortsgemeinden beschrieben. Vgl. etwa Gude, Gottlob Friedrich, Vertraute Unterredung eines Zuhörers mit seinem Prediger von unterschiedenen LehrSätzen [...], Lauban 1731, S. 13: „Es ist wider die von denen heiligen Aposteln selbst gemachte Ordnung, daß die Zuhoerer aus ihren Parochien lauffen.“ Sächs. HStA Dresden, Loc. 5986, Acta Commissionis, fol. 247r. Vgl. ebd. Ebd., fol. 247v. Ebd., fol. 248r.

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statum in statu aufzurichten suchen“63. Die beschriebenen Anzeichen für das Ausgreifen der Brüdergemeine lassen die Konflikte um die Etablierung dieser Glaubensgemeinschaft als ein grundsätzliches „gesellschaftliches Problem“64 erscheinen. Eine theologisch geschulte Auseinandersetzung mit ihren Auffassungen über die richtige Glaubenspraxis präsentieren die beiden aus dem Archivgut referierten Schreiben dagegen nicht. Diese erfolgte offenbar an anderer Stelle, etwa in theologischen Traktaten oder in Gutachten des Dresdner Oberkonsistoriums.65 Dieser Diskussionszweig kann hier nicht weiterverfolgt werden.66 Er verspricht auch keinen unmittelbaren Aufschluss über das konfessionelle Gefüge in der Oberlausitz. Gleichwohl erscheint der Zusammenhang von Glauben und öffentlicher Ordnung – Benjamin J. Kaplan hat ihn als ein Charakteristikum der vormodernen Gesellschaft überhaupt beschrieben67 – in den Stellungnahmen der Kritiker der Brüdergemeine stets als nicht verhandelbarer Pfeiler des Gemeinwesens.68

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August Anton Rhodens Diaconi bey der Kirche zu Groß-Hennersdorf in der OberLausitz, unweit Zittau, Avertissement Von gewissen Schriften wider die Herrnhuter, so nach und nach im Verlag des Buchdrucker Kuehns in Cotbus und dessen Compagnie, auf Praenumeration gedruckt werden sollen [...], Guben/Cottbus 1754, S. 32. Volz, Bettina, „Mache Du sie lächerlich und stäupe sie mit Verachtung“. Zur Kritik an den Herrnhutern und ihrer Sprache am Beispiel der schweizerischen moralischen Wochenschrift „Der Eidsgenoss“ (1749), in: Sträter, Udo (Hrsg.), Interdisziplinäre Pietismusforschungen. Beiträge zum Ersten Internationalen Kongreß für Pietismusforschung 2001, Tübingen 2005, S. 465–479, hier S. 479. In welchem quantitativen Verhältnis beide Diskussionszweige zueinander stehen, müsste aber gesondert eruiert werden. Zu Spielarten der Kritik in der Publizistik vgl. Vogt, Peter, Spangenberg als Apologet des Grafen von Zinzendorf 1750–1752, in: Unitas Fratrum 61/62 (2008) [2009], S. 78. Zu dieser Problematik vgl. Beyreuther, Einführung, insbes. S. XVIIIf.; Ders., Einführung, in: Antizinzendorfiana  III. Aus der Hallenser und Jenenser Theologischen Fakultät im Zusammenhang mit „Siegfrieds Bescheidener Beleuchtung“ 1742–1749, Hildesheim/New York 1982, S. 1*–99*; Brecht, Martin, Zinzendorf in der Sicht seiner kirchlichen und theologischen Kritiker, in: Ders./Peucker, Paul (Hrsg.), Neue Aspekte der Zinzendorf-Forschung, Göttingen 2006, S. 207–228. Vgl. Kaplan, Benjamin J., Divided by Faith. Religious Conflict and the Practice of Toleration in Early Modern Europe, Cambridge (Mass.)/London 2007, insbes. S. 48–72. Dabei legten sie die Begutachtung über die Vorgänge dort nicht nur in die Hände universitär geschulter Theologen. Auch Laien unter den Verwaltungsbeamten wurden mit diesem Thema betraut. Dieses Vorgehen legt die Vermutung nahe, die Brüdergemeine sei in der kursächsischen Zentralverwaltung als ein über die Zuständigkeit der landesherrlichen Religionsbehörden hinausragendes, gesamtgesellschaftliches Problem wahrgenommen worden. Die Mitglieder der jeweiligen Kommissionen sind aufgezählt bei Körner, Staatsregierung, S. 17 (1732), 30 (1736) und 63 (1747). Für diese Interpretation spricht auch die Unterscheidung, die sich Körner zufolge in einem Vortrag des Oberkonsistoriums findet. Demnach unterschied die Behörde in ihrer Darstellung zwischen „a. wider die Obrigkeit und deren Gebote und Verbote und b. wider die Religion und deren Verfassung“ verstoßende Vergehen. Zitiert nach: Körner, Staatsregierung, S. 28. Die Richtigkeit der Wiedergabe bei Körner lässt sich nicht mehr überprüfen. Die entsprechende Akte gehört zum Kriegsverlust des Hauptstaatsarchivs Dresden.

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Unter dieser Voraussetzung werden wohl Verlautbarungen wie jene des Zittauer Magistrats zu interpretieren sein. Letzterer sah sich veranlasst, in seinem Schreiben an Kurfürst Friedrich August II. aus dem Jahr 1736 darüber zu informieren, „was für Unheil sie [die Anhänger der Brüdergemeine – Anm. d. Verf.] in der Kirche und gemeinen Wesen stifften können“69. Solche Sorgen formulierte auch ein Buch, das im gleichen Jahr in der Sechsstadt erschien. Dem Verfasser zufolge sei Zinzendorf nicht nur „kein guter Christ“, sondern auch „Kein guter Bürger. Denn mit seiner Freyheit der Discourse in der Republique macht er Rebellen“.70 Mit dem Aufkommen der neuen Glaubensgemeinschaft sahen die Kritiker der Brüdergemeine also den Zusammenhalt des ganzen Gemeinwesens bedroht. Im Vergleich zu anderen Territorien gab die konfessionelle Ordnung in der Oberlausitz vermutlich Anlass, die Entwicklungen als noch bedrohlicher wahrzunehmen. So barg die Existenz einer nicht zu verdrängenden konfessionellen Minderheit in dem Territorium an sich schon Potenzial für Verunsicherung in Glaubensfragen. Umso erschütternder muss auf die hiesigen Zeitgenossen die Infragestellung der Autorität kirchlicher Amtsträger gewirkt haben, auf die in ihren Augen jeder der oben beschriebenen Indikatoren hindeutete. Mit der Entstehung der Brüdergemeine in Herrnhut schien einigen Zeitgenossen offenbar das Verhältnis der Konfessionen aus der Balance gebracht: „Wie lange sollen die unnoethigen Kriege in der Kirche GOttes dauren, da unsre rechten Gegner [die Katholiken – Anm. d. Verf.] dieser Zwistigkeit zu unserm Spotte, und ihrem Vortheile sich bedienen.“71 Schon dieser Vorwurf des Pfarrers der Sechsstadt Lauban, die auf dem Gut Berthelsdorf bestehende Glaubensgemeinschaft schwäche die Position der evangelisch-lutherischen Kirche im Streit der Konfessionen, gibt zu erkennen: Das Verhältnis zwischen Katholiken und evangelisch-lutherischen Protestanten in der Oberlausitz war um die Mitte des 18. Jahrhunderts stark konfliktbeladen. Dem Laubaner Pfarrer galten die Katholiken jedenfalls ausdrücklich als Gegner. Hinzu kam, dass die publizistische Diskussion um die Etablierung der Brüdergemeine, die 1729 entbrannte, ausgerechnet von einem Jesuitenpater – Carl Xaver Regent – aus dem benachbarten Schlesien eröffnet worden war.72 Aus den Zuständen 69

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Sächs. HStA Dresden, Loc. 5986, Acta Commissionis, fol. 230r. Der Zittauer Konrektor Samuel Friedrich Bucher warnte davor, dass „dergleichen Neuerung der Kirche und Republic zu grossen Nachtheil gereichet“ und erbat beim sächsischen Kurfürsten Maßnahmen „Zur Erhaltung der Evangel[ischen] Religion und zu Sicherheit des Status Civilis“. Sächs. HstA Dresden, Loc. 5985, Neuerungen, fol. 46r–46v. Claudius, Gottfried Christoph, Das entdeckte Heiligthum der Schwaermer, Das ist: Gruendliche Untersuchung Der Conventiculorum, Zittau 1736, S. 140f. Gude, Unterredung, S. 4. Vgl. Regent, Carl Xaver, Unpartheyische Nachricht Von der in Laußnitz ueberhandnehmenden, und hieraus in die benachbarte Laender, insonderheit in Schlesien einreissenden Neuen Sect der so genannten Schefferianer Und Zinzendorffianer [...], Breßlau 1729 [ND Hildesheim/New York 1976]. Regent trat mit seinem Text eine Debatte los, die beinahe 40 Jahre währte und annähernd 400 Publikationen hervorbrachte. Vgl. Beyreuther, Einführung, S. XXX–XXXIV. Sie wird bei Meyer als dritte Streitschrift gezählt. Die dort als Nummern eins und zwei aufgeführten Drucke sind auf das Jahr

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in der Oberlausitz, über die er durch Berichte Kenntnisse erlangt haben wollte, zog er ausdrücklich den Schluss, dass allein die katholische Kirche die seligmachende sei.73 Das Aufkommen der Brüdergemeine legte der Jesuit Regent den Protestanten also als Schwäche aus. Die lutherische Amtskirche musste sich den Vorwurf gefallen lassen, ihre Gläubigen nicht im Griff zu haben.74 Die konfessionelle Ordnung der Oberlausitz erscheint in Regents Argumentation als Heimstatt religiöser Verwirrung. Die Fehlentwicklungen in Glaubensfragen, die dort möglich seien, gefährdeten auch den Frieden in benachbarten Territorien, etwa in seiner Heimat Schlesien.75 Für die Angehörigen der evangelisch-lutherischen Konfession war Regents Pamphlet offenbar nicht zu ignorieren. Unter ihnen entbrannte ein massiver innerkonfessioneller Konflikt um die Rechtgläubigkeit der Brüdergemeine und die richtigen Maßnahmen gegen die Ausbreitung dieser Glaubensgemeinschaft.76 Ein Diskutant sah den Pfarrstand selbst in der Pflicht: „Evangelische Prediger sind schuldig, denen unnuetzen Schwaetzern und Verfuehrern das Maul zu stopffen, und sie scharf zu straffen.“77 Ein anderer Autor gab seine kritische Einschätzung über die Rolle der Amtsträger vor Ort zu erkennen: „Man muß sich warlich wundern ueber die grosse Nachsicht, welche Obrigkeiten gegen dergleichen aufruehrische und ihrer Hoheit hoechst nachtheilige Dinge tragen.“78 Die befürchtete Etablierung eines Herrnhutischen „statum in statu“79 in der Oberlausitz schien einigen Kritikern der Brüdergemeine offenbar schon in vollem Gange. Im Horizont dieser Vorstellungen erscheint es nur folgerichtig, dass den religiös Erweckten, die sich in dieser Glaubensgemeinschaft versammelten, ihr Bekenntnis

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der Gründung der Brüdergemeine 1727 datiert, beziehen sich aber nicht ausdrücklich auf diese Gemeinschaft. Vgl. Meyer, Handbuch, S. 281f. „Wohl aber hat die Catholische Kirche solche Principia, Mittel, Art und Weise sothane neue Lehren ihres Irrthums halben zu ueberzeugen. [...] Dannenhero ist nicht die Lutherische, sondern die Roemisch-Catholische Kirch die wahre seeligmachende Kirch, zu welcher sich forthin nach Ablegung ihres Irrthums die Neulinge [die Mitglieder der Brüdergemeine – Anm. d. Verf.] wenden, und bekehren sollen.“ Regent, Nachricht, S. 132. „Nun hat die Lutherische Kirch nicht solche Principia, oder Mittel, Art, und Weise die neu-entstandene, und abgehende Lehren ihres Irrthums zu ueberzeugen.“ Ebd., S. 131. „OBwohlen ziemlicher massen bekannt, daß in Laußnitz allerhand neue Lehren im Schwung gehen, und hieraus in die benachbarte Laender, insonderheit in Schlesien einreissen [...]“. Ebd., S. 3. Beyreuther zufolge war Carl Xaver Regent der einzige Vertreter der katholischen Kirche, der sich publizistisch mit dem Aufkommen der Brüdergemeine auseinandersetzte. Der Rest der beinahe 400 Streitschriften, die Meyer im Bibliographischen Handbuch zur Zinzendorf-Forschung aufzählt, stammt demnach von Vertretern des protestanischen Lagers. Vgl. Beyreuther, Einführung, S. XL. Claudius, Heiligthum, S. 53. Ebd., S. 137f. In einer anderen Publikation heißt es: „Griffen nur die, so dem einbrechenden Ubel steuren koenten, die Sache mit Ernst an, so wuerden die Brueche des armen Oberlausitzischen Zions bald heil werden.“ Fortgesetzte Sammlung von Alten und Neuen Theologischen Sachen, Dritter Beytrag auf das Jahr 1730, S. 468–476, hier S. 476. Rhode, Kirche zu Groß-Hennersdorf.

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als „hintansetzen der Obrigkeitl[ich]en Autoritaet“80 ausgelegt wurde. Der Beichte, dem Abendmahl oder gleich dem ganzen Gottesdienst fernzubleiben, stattdessen private Versammlungen durchzuführen, zweifelhafte Bücher zu lesen, den Pfarrer und die Amtskirche zu verspotten oder die Kinder zur Erziehung nach Herrnhut zu geben erschien den Kritikern der Brüdergemeine vermutlich wie eine Absage an das ganze Gemeinwesen. Dagegen war es den Parteigängern der Amtskirche in der Oberlausitz augenscheinlich ein Anliegen, die etablierten Normen zu verteidigen. Das fein austarierte Verhältnis der Konfessionen in diesem Territorium ließ sich in ihren Augen anders nicht aufrechterhalten. Die Rolle des oberlausitzischen Landadels bei der Etablierung der Brüdergemeine in der Oberlausitz muss an dieser Stelle offengelassen werden. Eine systematische Untersuchung zum Thema steht noch aus. Dem Schrifttum sind einzelne Beispiele für Anhänger beider Lager zu entnehmen. So soll der Eigentümer des Ritterguts Neukirch, Georg Ludwig Erasmus Freiherr von Huldenberg (1701–1777), in den 1730er Jahren unter seinen oberlausitzischen Standesgenossen sowie bei der sächsischen Zentralverwaltung in Dresden die Vorbehalte gegen die Brüdergemeine geschürt haben.81 Umgekehrt wurden der Oberamtshauptmann der Oberlausitz, Friedrich Caspar Graf von Gersdorf, sowie der Amtshauptmann, Georg Ernst von Gersdorf, mit dem Vorwurf der Parteinahme für die Brüdergemeine konfrontiert. Als zuständige Mitglieder der oberlausitzischen Verwaltungsbehörden hatten sie Berichte an die landesherrliche Zentralverwaltung in Dresden übersandt, die die Vorgänge im Ort Herrnhut als ungefährlich darstellten.82 Mit Blick auf diese beiden Personen wäre der Frage nachzugehen, ob die Position der oberlausitzischen Stände gegenüber dem Landesherrn die Haltung zur Brüdergemeine mitbestimmte. Wurden die Maßnahmen des sächsischen Kurfürsten gegen die Entwicklungen auf dem Rittergut Berthelsdorf möglicherweise als Eingriffe in die Patronatsrechte des oberlausitzischen Landadels interpretiert? Sahen die Angehörigen der Landstände hierin die Gefahr zur Schaffung eines Präzendensfalls, der Einschränkungen ihrer weiten Handlungsspielräume in Kirchensachen rechtfertigen könnte? Eine eindeutige Beantwortung dieser Fragen ist an dieser Stelle nicht möglich, allerdings scheint sich diese Interpretation in den Bemühungen der Dresdner Zentralverwaltung zu spiegeln, den Konflikt um die Etablierung der Brüdergemeine in der Oberlausitz zu 80

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Sächs. HstA Dresden, 10025 Geheimes Konsilium, Loc. 5985: Acta, Die zu Berthelsdorff und Herrnhuth, von dem Grafen von Zinzendorff und denen von ihm aufgenommenen Emigranten in Religions-Sachen und sonsten bißher unternommene Neuerungen und was dem anhängig, und deren angeordnete Local-Untersuchung betr. Anno 1736.37.38 [im Folgenden: Loc. 5985 Acta], fol. 2v. Vgl. Hark, Konflikt, S. 21. Vgl. ebd., S. 15–17; Körner, Staatsregierung, S. 27. Jahre später findet sich Huldenberg als einziger Landadeliger der Oberlausitz in den Mitgliederlisten der Herrnhuter Diaspora in der Oberlausitz wieder. Vgl. Eintrag Huldenberg, Georg Ludwig Erasmus von, in: Unitätsarchiv Herrnhut, R.27.317.26: Catalogus der Societaet in Neukirch und Ringenhain Anno 1766 im Januario verfertiget, unfol. Vgl. Hark, Konflikt, S. 47; Körner, Staatsregierung, S. 40f. Zur Funktion der Amtshauptleute vgl. Boetticher, Geschichte, Bd. I, S. 24–26.

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regulieren.83 So erhielt Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf im Anschluss an die erste Untersuchungskommission, die 1732 auf seinem Rittergut vorstellig wurde, die landesherrliche Auflage, seine Liegenschaften in der Oberlausitz zu verkaufen. Vor dem Hintergrund der ,kirchlichen Verfassung’ (D. Meyer) in der Oberlausitz erscheint diese Vorgabe der kursächsischen Behörden als pragmatisch und als Weg des geringsten Widerstandes. Eine Reaktion auf die in der Dresdner Kanzlei eingehenden Beschwerden – darunter eine von Karl  VI., dem Kaiser des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation84 – war vermutlich unumgänglich. Gleichzeitig sah sich der sächsische Kurfürst als Landesherr der Oberlausitz an seine Vereinbarungen mit den dortigen Landständen gebunden.85 Indem er Zinzendorf aller seiner Rechte entsetzte, entzog er jeder Diskussion über den Umfang des Kirchenpatronats in der Oberlausitz und über etwaige landesherrliche Eingriffsrechte den Boden. Im Anschluss an die zweite Untersuchungskommission im Jahr 1736 wurde in der Dresdner Zentralverwaltung erwogen, Zinzendorf des Landes zu verweisen. Alternativ dazu schlug der Geheime Rat vor, ihn auf eine Erklärung zu verpflichten. Mit seiner Unterschrift sollte Zinzendorf garantieren, „daß ich [Zinzendorf – Anm. d. Verf.] fürohin auf meinen Gütern ruhig und still leben, aller und jeder Aender- und Neuerungen in Kirchen- und Religionssachen, Einführung neuer Ritualien und Einschlepp- und Ausbreitung derer auf unleidliche Neuerungen abzielenden und anstößige Meinungen in sich fassenden gedruckten Schriften, es mögen solche von mir oder von Anderen gefertigt sein, mich enthalten [werde]“86. Der Landesherr, Kurfürst Friedrich August II., verfügte schließlich die Landesverweisung gegen Zinzendorf. Außerdem ordnete er die Neuordnung des religiösen Lebens auf dem Rittergut Berthelsdorf der ,kirchlichen Verfassung’ (D. Meyer) des Territoriums entsprechend an. Der Ort Herrnhut war ökonomisch zu bedeutend geworden, um den Zuzüglern das Bleiberecht zu entziehen.87 Die Bemühungen der kurfürstlichen Zentralverwaltung weisen insgesamt einen die überkommene Ordnung bewahrenden Charakter auf. Das konfessionelle Gefüge dieses Territoriums zeigt sich in dieser Auseinandersetzung als rechtlich gesicherter Handlungsrahmen, den weder der Kurfürst mit seinem absolutistischen Herrschaftsverständnis noch Zinzendorf aus der Balance zu bringen vermochte.

III. Reaktionen Zinzendorfs und der Brüdergemeine Aus der Perspektive der mährischen Brüder muss das fein austarierte Gefüge der Konfessionen in der Oberlausitz wie eine Ordnung ausgesehen haben, die ein hohes 83 84 85 86 87

Vgl. Hark, Konflikt, S. 8f., 42–56; Körner, Staatsregierung, S. 19–24, 50–54. Vgl. Anm. 42 dieser Untersuchung. Die erheblichen Handlungsspielräume der oberlausitzischen Ortsherrschaften hatte Friedrich August I. nach seiner Konversion zum katholischen Glauben im Jahr 1697 in einer Religionsversicherung ausdrücklich bestätigt. Vgl. Schunka, Oberlausitz, S. 164. Zitiert nach Körner, Staatsregierung, S. 51. Vgl. Meyer, Zinzendorf, S. 35.

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Maß an Glaubens- und Gewissensfreiheit versprach. „Sie wären nicht aus dem Katholischen ausgegangen, um anderwärts ihres Glaubens gleichermaßen nicht leben zu dürfen“88, gab einer von ihnen der zweiten Untersuchungskommission im Jahr 1736 zu Protokoll. Der Auszug aus der Heimat war für die mährischen Brüder offenbar mit der Hoffnung auf einen Ort verbunden, an dem sie ihrem Glauben ungehindert nachgehen konnten.89 Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf war anderen Glaubensbekenntnissen gegenüber aufgeschlossen.90 Der vorbehaltlose Umgang mit den Angehörigen unterschiedlicher Konfessionen gehörte nach seiner eigenen Aussage zu seiner Erziehung.91 Prägend soll hierfür vor allem die Haltung seiner Großmutter – der Oberlausitzer Rittergutseigentümerin Henriette Katharina von Gersdorf92 – gewesen sein: „Ich habe meine Principia von ihr her. [...] Sie wußte keinen Unterschied zwischen der Catholischen, Lutherischen und Reformierten Religion, sondern was Herz hatte und an sie kam, das war ihr Nächster.“93 Zinzendorfs Aufgeschlossenheit anderen religiösen Bekenntnissen gegenüber spiegelt sich in seinem Wirken als Rittergutseigentümer und Kirchenpatron im oberlausitzischen Berthelsdorf. Er nutzte die oben beschriebenen Handlungsspielräume, über die er in dieser Funktion verfügte, und gestattete den mährischen Brüdern, auf 88

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Stellungnahme des Ältesten der Brüdergemeine Leonhard Dober, zitiert nach Körner, Staatsregierung, S. 36. In Dobers Äußerung deutet sich eine indifferente Haltung in Bezug auf das Miteinander unterschiedlicher Glaubensgemeinschaften an. Demnach stellte der Glauben für ihn offenbar keinen Anlass für einen Konflikt dar. Belege für die Tragfähigkeit dieser Interpretation und für ihre Verallgemeinerbarkeit hinsichtlich der anderen Mähren müssen allerdings anderen Untersuchungen vorbehalten bleiben. Dass sie ursprünglich nicht nach dem Anschluss an eine protestantische Mehrheitsgesellschaft, sondern nach uneingeschränkter Glaubens- und Gewissensfreiheit strebten, indizieren jedenfalls die Konflikte um das Verhältnis zur lutherischen Kirche, die die Brüdergemeine in den Anfangsjahren unter sich austrug. Vgl. Meyer, Zinzendorf, S. 23, 27; Beyreuther, Zinzendorf, S. 166–186. Vgl. Zimmerling, Peter, Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf und die Herrnhuter Brüdergemeine. Geschichte, Spiritualität und Theologie, Holzgerlingen 1999, S. 155– 157. Zu den innerprotestantischen Vereinigungsbemühungen Zinzendorfs vgl. Daniel, Thilo, Zinzendorfs Unionspläne 1719–1723. Nikolaus Ludwig von Zinzendorfs theologische Entwicklung bis zur Gründung Herrnhuts, Herrnhut 2004. Zinzendorf wurde bis zu seinem elften Lebensjahr auf dem Rittergut Hennersdorf in der Oberlausitz erzogen. Vgl. Meyer, Zinzendorf, S. 10. Vgl. Langer, Robert, Pallas und ihre Waffen. Wirkungskreise der Henriette Katharina von Gersdorff, Dresden 2008. Zit. nach: Meyer, Gerhard, Nikolaus Ludwig Reichsgraf von Zinzendorf und der Katholizismus. Eine geistesgeschichtliche Studie zum Problem der religiösen Toleranz, in: Ders. (Hrsg.), Zinzendorf und der Katholizismus, Hildesheim/New York 1970, S. V-CLXVIII, hier S. XLVI. Gerhard Meyer hat darauf hingewiesen, dass Zinzendorf nicht nur die außergewöhnliche konfessionelle Ordnung in der Oberlausitz aus eigener Anschauung kannte. Der Ort seiner Kindheit, das Rittergut Hennersdorf, lag ganz in der Nähe der Grenze zu Schlesien, wo sich im Zuge der Reformation ebenfalls ein eigenes Arrangement des Nebeneinanders von Katholiken und Protestanten herausgebildet hatte. Seine Kavalierstour durch Westeuropa machte Zinzendorf mit weiteren konfessionellen Ordnungen, etwa in den Niederlanden, vertraut. Vgl. ebd., S. XLVI–LIII.

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sein Rittergut überzusiedeln. Für die Mähren ergab sich aus Zinzendorfs Erlaubnis die Gelegenheit, den gegenreformatorischen Maßnahmen ihrer habsburgischen Landesherren zu entkommen.94 Auch wenn sich die religiösen Überzeugungen beider Seiten nicht vollständig deckten, schienen sie sich gerade hinsichtlich der Auffassungen über Glaubens- und Gewissensfreiheit und ihrer Haltung zur Amtskirche zu ergänzen.95 Welche Reaktionen Zinzendorf, die mährischen Brüder und ihre Anhänger mit ihrem Handeln hervorriefen, wurde im Abschnitt II dieses Beitrages dargestellt. Dabei wurde auch gezeigt, dass sich die Brüdergemeine bei der Kontroverse um ihre Etablierung in der Oberlausitz mit Anwürfen hauptsächlich von drei Seiten auseinanderzusetzen hatte: mit den sächsischen Kurfürsten als den Lehnsherren des Rittergutes Berthelsdorf, den öffentlichen Funktionsträgern aus der Umgebung des Ortes Herrnhut und der zeitgenössischen Publizistik. Den Anforderungen dieser drei Adressatenkreise entsprechend verfolgte die Brüdergemeine unterschiedliche Strategien zur Erreichung ihrer Anerkennung. Den sächsischen Kurfürsten gegenüber hatten Zinzendorf und die Brüdergemeine sowohl ihre religiöse Überzeugung als auch den Zuzug der mährischen Brüder zu rechtfertigen. Der Reaktion auf den zuletzt genannten Vorwurf nachzugehen, würde vor dem Hintergrund der vorliegenden Fragestellung zu weit führen.96 Wichtiger erscheint es, zu untersuchen, wie Zinzendorf und die Brüdergemeine vor dem Landesherrn ihre religiösen Überzeugungen rechtfertigten. Konkret ging es dabei um die Frage, ob das religiöse Leben in Herrnhut als der Augsburgischen Konfession konform anzuerkennen oder eine das ganze Gemeinwesen spaltende Glaubensgemeinschaft etabliert worden sei.97 Den Landesherrn betraf diese Frage insofern, als dass er in der Ordnung des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation dafür verantwortlich war, in seinem Territorium die Geltung des Augsburgischen Religionsfriedens und des Westfälischen Friedens zu gewährleisten.98 Etwaige Abweichungen auf dem Rittergut Berthelsdorf wurden Zinzendorf als „Eingriffe in das Ihrer königl[iche] Maj[estät] [des sächsischen Kurfürsten – Anm. d. Verf.] allein zu-

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Den Zuzug auf das Rittergut Berthelsdorf und die Errichtung der Siedlung Herrnhut beschreibt Beyreuther, Zinzendorf, S. 104–163. Für Meinungsverschiedenheiten in diesem Zusammenhang sprechen Auseinandersetzungen im Gefolge der Gründung des Ortes Herrnhut. Vgl. Anm. 89 dieser Untersuchung. Zur Beschwerde des böhmischen Landesherrn, Kaiser Karl VI., vgl. Anm. 42 dieser Untersuchung. Gegen den Vorwurf des Kaisers wandte der Beschuldigte das ius emigrandi der mährischen Brüder ein. Ihr Auszug auf Zinzendorfs Liegenschaften sei mit Erlaubnis der Ortsobrigkeiten und unter Zurücklassung eines Großteils ihrer Habe erfolgt. Vgl. Körner, Staatsregierung, S. 18f. Der oben erwähnte Jesuitenpater Regent beispielsweise sprach der Brüdergemeine diese Eigenschaft ab. Vgl. Regent, Nachricht, S. 108–113. Diese Aufgabe ergab sich aus der Konstruktion des Religionsfriedens als Landfrieden. Vgl. die §§ 12–16 des Augsburgischen Religionsfriedens sowie die Artikel I, V §§ 1 und 50, XVII §§ 5 und 6 des Westfälischen Friedens (IPO).

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stehende jus circa sacra“99 ausgelegt. Der Vorwurf in der Oberlausitz einen ‚statum in statu’ aufgerichtet zu haben, wog also schwer. Er wurde dem Landesherrn vor allem durch Amtsträger aus der Umgebung Herrnhuts bekannt. Zwei Vorgehensweisen sind als Reaktion Zinzendorfs darauf zu beobachten: Innerhalb der Glaubensgemeinschaft bemühte er sich um die Anerkennung der Augsburgischen Konfession.100 Zu diesem Zweck griff er auch zu Restriktionsmitteln, die ihm als Rittergutseigentümer den Zuzüglern gegenüber zur Verfügung standen.101 Daneben war er bestrebt, in der Öffentlichkeit an der Anerkennung der Augsburgischen Konfession durch die Brüdergemeine keinerlei Zweifel mehr aufkommen zu lassen.102 Außenstehenden gegenüber reagierten Zinzendorf und die Brüdergemeine mit ausdrücklichen Bekenntnissen zur Obrigkeit und Loyalitätsbekundungen an den Landesherrn.103 Sowohl der Görlitzer Amtshauptmann Georg Ernst von Gersdorf als auch die zweite Untersuchungskommission sahen sich veranlasst, den Mitgliedern der Glaubensgemeinschaft eine loyale Haltung zur herrschenden Obrigkeit zu bescheinigen.104 Als Zinzendorf bei der Dresdner Zentralverwaltung Mitte 99

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Zitiert nach Körner, Staatsregierung, S. 50. Die von Körner zitierte Akte gehört zum Kriegsverlust des Hauptstaatsarchivs Dresden. Eine Instruktion von Kurfürst Friedrich August II. an die Geheimen Räte ordnet die Landesverweisung gegen Zinzendorf an, wegen „seinen heegenden gefährlichen Absichten, und auf die Verkleinerung der Obrigkeitlichen Autoritaet abgezielten principiis“. Sächs. HstA Dresden, Loc. 5985, Acta, fol. 26v–27r. Zu Zinzendorfs Haltung zur Augsburgischen Konfession vgl. G. Meyer, Katholizismus, S. XXVII–XXXI. Zinzendorf gab der Gemeinschaft eine feste Ordnung. Vgl. Meyer, Zinzendorf, S. 25–30. Außerdem war „a[nn]o 1730 dieses augsburgische Bekenntniß auf ihrem [der Brüdergemeine – Anm. d. Verf.] Betsaale öffentlich vorgelesen und erklärt worden“. Kommissionsbericht Bautzen/Dresden 30. Juni 1736, ediert in Körner, Staatsregierung, S. 92–108, hier S. 97. Mit diesen Bemühungen hatte Zinzendorf vermutlich Erfolg. Die zweite Untersuchungskommission berichtete 1736 nach Dresden, die Mitglieder der Brüdergemeine hätten „auch Evangelisch-Lutherische sich nennen zu lassen [...] weiter kein Bedenken gefunden“. Kommissionbericht Bautzen/Dresden 30. Juni 1736, ediert in Körner, Staatsregierung, S. 97. Zu Zinzendorfs Bemühungen vgl. auch Zinzendorf, Nikolaus Ludwig, Des Ordinarii der Evangelischen Brueder-Gemeinen Kurzes und peremtorisches Bedenken über die Art und Weise der ganzen zeithero gegen Ihn gefuehrten Controvers, Und warum er darauf ad Speciem zu gehen Anstand nehme, Görlitz/Leipzig 1751, S. 7. Vgl. Körner, Staatsregierung, S. 56. Das gleiche Vorgehen ist dem König von Schweden gegenüber belegt. Vgl. Hark, Konflikt, S. 20. Ein Überblick zur Haltung der Brüdergemeine gegenüber der Obrigkeit findet sich bei Hahn, Hans-Christoph/Reichel, Hellmut (Hrsg.), Zinzendorf und die Herrnhuter Brüder. Quellen zur Geschichte der Brüder-Unität von 1722 bis 1760, Hamburg 1977, S. 304–311. Differenzierter: Meyer, Dietrich, Die Brüdergemeine als Theokratie und ihr Verhältnis zum Staat, in: Sträter, Udo (Hrsg.), Interdisziplinäre Pietismusforschungen. Beiträge zum Ersten Internationalen Kongreß für Pietismusforschung 2001, Tübingen 2005, S. 279–286. Gersdorf zufolge seien „die Mitglieder der herrnhutischen Gemeinden keineswegs [...] staatsgefährlich [...] warneten vielmehr vor schädlichem separatismo und ermahneten, der Obrigkeit zu gehorchen“. Zit. nach Körner, Staatsregierung, S. 33. Zum Befund

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der 1740er Jahre die Aufhebung der Landesverweisung gegen ihn erbat, versicherte er den Kurfürsten erneut seiner Loyalität. Dieses Bekenntnis verband er mit einer Geste: er bot die Vermittlung eines Kredits zugunsten der kurfürstlichen Kasse an. Hark zufolge – er zitiert aus im Zweiten Weltkrieg zerstörtem Archivgut – will Zinzendorf dies „zum Dienste seines lieben Vaterlandes“105 getan haben.106 Außerdem ließ er Kurfürst Friedrich August II. die Schirmherrschaft über die Brüdergemeine antragen.107 Diese Bemühungen um den Landesherrn hatten Erfolg. In einem Dekret, das auf den 20. September 1749 datiert ist, gab der Kurfürst die offizielle Anerkennung der Glaubensgemeinschaft als „der augsburgischen Confession gemäß“108 bekannt.109 Die Anschuldigungen von Seiten des Landesherrn gingen in wesentlichen Teilen auf die bereits erwähnten Beschwerden zurück, die die Träger öffentlicher Ämter aus der Umgebung von Herrnhut bei der Dresdner Zentralverwaltung eingereicht hatten. Zu diesen Kritikern in der Umgebung des Rittergutes Berthelsdorf gehörte eine noch nicht genau bestimmte Anzahl Pfarrer,110 Stadtmagistrate111 und Rittergutseigentümer112. Ihren Anwürfen versuchte die Brüdergemeine nicht nur im Rahmen der landesherrlichen Untersuchungskommissionen entgegenzutreten. Sie wandte sich auch direkt an herrnhutkritische Amtsträger. Dabei verwies sie sie in der Öffentlichkeit auf die in Herrnhut geltende Praxis und forderte sie auf, die in den Klageschriften formulierten Anschuldigungen zu belegen.113 „Daß die Herrnhu-

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der zweiten Untersuchungskommission gegen die Brüdergemeine aus dem Jahr 1736 vgl. Hark, Konflikt, S. 37. „Vom Rechte der Obrigkeit in Kirchensachen haben sie [...] allerdings geäußert, daß selbige Macht und Gewalt habe, in allen äußerlichen Dingen, was nicht wider Gottes Gebot und Einsetzung laufe, Anordnungen zu machen und die Unterthanen schuldig wären, denselben, wenn es nicht wider ihr Gewissen laufe, zu gehorsamen“. Kommissionsbericht Bautzen/Dresden 30. Juni 1736, ediert in Körner, Staatsregierung, S. 98. Zit. nach Hark, Rückkehr, S. 267. Auch Körner spricht von patriotischen Bekenntnissen Zinzendorfs in diesem Kontext. Vgl. Körner, Staatsregierung, S. 61. Zum Angebot einen Kredit zu vermitteln vgl. ebd., S. 60f.; Hark, Rückkehr, S. 267. Vgl. Körner, Staatsregierung, S. 67. Ebd., S. 73. Vgl. auch Hark, Rückkehr, S. 307. Die Dresdner Zentralverwaltung bewertete die Vorgänge auch unter dem Gesichtspunkt der seinerzeit das politische Handeln in Wirtschaftsfragen prägenden Peuplierungspolitik. Das Anwachsen Herrnhuts galt vor diesem Hintergrund als wünschenswert für die Entwicklung des Rittergutes und seines Umlandes. Vgl. ebd., S. 8. Für Beschwerdeschriften unterschiedlicher Pfarrer vgl. Sächs. HStA Dresden, 10024 Geheimer Rat (Geheimes Archiv), Loc. 10333/12: Fascicul Einige zur Hennersdorff[ische]n Commission gehörigen, nach beendigter Expedition eingereichten Schrifften. 1748. [im Folgenden: Loc. 10333/12], fol. 1r–7v; ebd., Loc. 5986, Haltung, fol. 1r–2v; ebd., Loc. 5986, Acta Commissionis, fol. 246r–262v. Für Beschwerdeschriften einzelner Stadtmagistrate vgl. Sächs. HStA Dresden, Loc. 5986, Haltung, fol. 49r–59r; ebd., Loc. 5986, Acta Commissionis, fol. 228r–231v. Zu den herrnhutkritischen Rittergutseigentümern vgl. den Fall Huldenberg (siehe Anm. 81). Den Vorwurf der Geheimnistuerei wiesen Angehörige der Brüdergemeine beispielsweise mit folgenden Worten zurück: „Wem ist es jemahls verwehret worden zuzusehen

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ther mit Leuten in anderer als [einer] buergerlichen Gemeinschafft stehen, die Wort und Sacramente verachten, und das Predigt-Amt schaenden, [...] ist eine offenbahre Laesterung, indem alle Acta publica und privata, samt der taeglichen Praxi unserer Gemeine, das gerade Gegentheil zeigen“114. Zinzendorf selbst betrachtete die schriftlichen Beschwerden bei der Dresdner Zentralverwaltung vermutlich auch als Einmischung in seine herrschaftlichen Rechte. So gab er dem Zittauer Mittwochsprediger Häntzschel zu verstehen, das religiöse Leben auf dem Rittergut Berthelsdorf sei etwas „worueber wir aber dem Zittauischen Clero nicht Rechenschafft geben duerffen.“115 In Reaktion auf die Anwürfe des Jesuitenpaters Regent wurde er von den Verfassern der Rechtfertigungsschrift „Zeugniß der Wahrheit“ auch als pflichtbewusster und die Grenzen des geltenden Rechts respektierender Rittergutseigentümer dargestellt:116 „Der Herr Graff hat bey Auffnehmung sowohl andere Exulanten, als der Schwenckfelder, nichts anders gethan, als was in hiesigen Lande von andern Land-Staenden in dergleichen Faellen zu geschehen pfleget.“117 Regents Vorwurf, die Gründung des Ortes Herrnhut diene allein der „Vermehrung des Privat-Interesse[s]“118 des Grafen Zinzendorf, ließen die Mitglieder der Brüdergemeine also nicht gelten. Der Berthelsdorfer Pfarrer Rothe verteidigte den Ausbau des Ritterguts als eine wichtige Aufgabe von dessen Eigentümer.119 Auf die Flut herrnhutkritischer Streitschriften reagierte Zinzendorf selbst hauptsächlich mit der Publikation von Briefwechseln, theologischen Traktaten und normativen Texten über die innere Ordnung der Brüdergemeine. In der Auseinandersetzung mit seinen Gegnern wollte er solche Dokumente für sich sprechen lassen.120 Der Umfang dieses Beitrages lässt es nicht zu, diese Werke im Einzelnen auszuwerten. Hier soll nur exemplarisch vorgeführt werden, wie Zinzendorf auf den Vorwurf reagierte, er spalte mit seinem Tun die Kirchgemeinden und damit letztlich das

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und zuzuhoeren. Und ist das was geheimes, wenn ueber hundert Personen beysammen sind“? Zeugniß der Wahrheit, Der Gemeinde zu Herrnhuth [...] Wider Hn. P. Carl Regent [...] Nachricht von einer in Lausitz und Schlesien einreissen sollenden neuen Secte, Herrnhuth 1730, S. 214. Brief Zinzendorfs an den Zittauer Mittwochsprediger Häntzschel, Herrnhut, 8. März 1734, abgedruckt in: Claudius, Heiligthum, S. 587–595, hier S. 594. Ebd. „Was aber der Herr P. Regent damit sagen will, hat so lange nicht Statt, als die Obrigkeit zu Herrnhuth von allem weiß, was da vorgehet, und eine so genaue Aufsicht gefuehret wird, daß wenigstens nicht mehr Unordnung zu Herrnhuth, als in andern Doerffern und Orten vorgehen kan.“ Zeugniß der Wahrheit, S. 24. Herr Johann Andreas Rothens, Predigers zu Bertholdsdorff, Bescheidene Beantwortung alles dessen, was Herr P. Carl Regent in seiner so genannten Unpartheyischen Nachricht, Von der neuen Secte der Schaefferianer und Zinzendorffianer, ueber das, was die gantze Evangel[ische] Kirche angehet, vorgebracht, in: Zeugniß der Wahrheit, S. 171–220, hier S. 217. Regent, Nachricht, S. 103. „Es ist und bleibet eine unerweißliche Auflage, daß der Hr. Graff viel Unterthanen suche zu bekommen; Ingleichen, daß er darauff umgehe, daß seine Gueter moegen angebauet werden.“ Rothe, Beantworthung, S. 218. Vgl. Beyreuther, Einführung, S. XLIII.

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ganze Gemeinwesen. Verwiesen sei in diesem Zusammenhang auf die kleine Schrift „Des Grafen von Zinzendorff abermalige Erklaerung seines Sinnes und Grundes fuer die Evangelische Kirche“121. Darin wandte er die Anschuldigung der Separation gegen seine Kritiker, indem er der Amtskirche vorwarf, sie sei bei der Auseinandersetzung mit der Brüdergemeine „in das Ketzermachen gerathen“122. Statt ständig neuer Anwürfe forderte er von den Vertretern der Amtskirche eine Antwort auf die Frage „wie bringen wirs [die Brüdergemeine – Anm. d. Verf.] dazu, daß uns die Evangelische Kirche auf ihrem Schooße behaelt“123? Dem Vorwurf, das Gemeinwesen in Fragen der Religion zu spalten, trat Zinzendorf also aktiv entgegen. Anwürfe diesen Inhalts veranlassten ihn zu öffentlichen Bekenntnissen zur geltenden Ordnung. Die Brüdergemeine sei „ein theures Kleinod des Evangelischen Hauffens“124. Sie verfolge nicht das Ziel, zu „separiren, sondern [wolle] in den Protestantischen Kirchen also wandeln“125. Zum Vorwurf, kein guter Bürger zu sein, äußerte sich Zinzendorf noch an anderer Stelle: „In Ansehung der Buerger-Pflichten ist der Ordinarius [d.  i. Zinzendorf – Anm. d. Verf.] sehr sorgfaeltig“126. Wie allen anderen Bürgern auch, sei der Brüdergemeine an „Handel und Wandel“, „leibliche[r] Arbeit“ sowie am „buergerlichen Friede, Recht und Gerechtigkeit, und was sonst eine Stelle in der guten Policey und Moral verdienet“ gelegen.127 Vermutlich ist vor diesem Hintergrund auch die oben erwähnte Offerte Zinzendorfs zu interpretieren, den sächsischen Kurfürsten Friedrich August II. zum Schirmherrn der Brüdergemeine zu machen.128 Jedenfalls erwartete die Brüdergemeine von der Zentralverwaltung aber die „kräftigste in Schutz-Nehmung dieser Dero allertreuesten Unterthanen [d.  i. die Brüdergemeine – Anm. d. Verf. ]“129 gegen verleumderische Schriften.130 121

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Des Grafen von Zinzendorff abermalige Erklaerung seines Sinnes und Grundes fuer die Evangelische Kirche, in: Der Freywilligen Nachlese Bey den bisherigen gelehrten und erbaulichen Monats-Schrifften XII. Sammlung, Frankfurt am Main/Leipzig [1740] [Neudruck Hildesheim/New York 1972], S. 1361–1378. Ebd., S. 1366. Ebd., S. 1370. Ebd., S. 1374. Ebd., S. 1375. Zinzendorf, Bedenken, S. 41. „In Ansehung des Status publici haelt sich der Ordinarius allemal an den Regenten und die von ihm deputirte Legatos“. Ebd, S. 42. Ebd., S. 11. Weiterhin veranlasste Zinzendorf theologisch versierte Personen aus seinem Umfeld, sich publizistisch mit den Streitschriften gegen die Brüdergemeine auseinanderzusetzen. Beispielsweise überließ er die Reaktion auf die oben erwähnte „Unpartheyische Nachricht“ (vgl. Anm. 72 dieser Untersuchung) des Jesuitenpaters Carl Xaver Regent drei ihm nahestehenden Pfarrern: Melchior Scheffer aus Görlitz, Johann Christoph Schwedler aus Nieder-Wiesa und Johann Andreas Rothe aus Berthelsdorf. Vgl. Beyreuther, Einführung, S. XXXIII. In dem Buch, das 1730 erschien, ließ er auch mitteilen, er selbst sei „zum Kinderspiel aber und Feder-Gefechte nicht aufgeleget“. Zeugniß der Wahrheit, S. 4f. Zu Spangenberg als Zinzendorf-Apologet vgl. Vogt, Spangenberg, S. 74–88. Sächs. HStA Dresden, Loc. 1892, Acta, fol. 2r. Konkret forderte die Brüdergemeine von der Dresdner Zentralverwaltung, Streitschriften „in Dero Landen zu confisciren, oder nach Befinden gar öffentlich verbrennen, auch

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Der Kurfürst selbst solle einer „unverantwortlichen Schandschrifft landesväterlich Ziel und Maaß [...] sezen“131. Ein Ende der publizistischen Debatte um ihr Bestehen erreichte die Brüdergemeine unter der Führung Zinzendorfs nicht. Erst einige Jahre nach dessen Tod (1760) „schlief die Kontroverse ein.“132

IV. Schluss In seiner Habilitationsschrift „Toleranz im Konflikt“133 hat der Philosoph Rainer Forst den Terminus ‚Toleranz’ aller verklärenden Bezüge entkleidet. Konsequent deutet er ihn als „Konfliktbegriff“134. Dieser enthält – so drückt Forst sich aus – neben einer „Akzeptanz-Komponente“135 stets auch eine „Ablehnungs-Komponente“136. Anhand der Bestimmung des Verhältnisses beider Bestandteile scheint sich für ihn ermessen zu lassen, wie konflikthaltig eine soziale Beziehung ist. Von dieser Hypothese ausgehend unterscheidet Forst vier Konzeptionen: Toleranz als bloße Erlaubnis, als Koexistenz, als Respekt oder als Wertschätzung dem Anderen gegenüber.137 Die vier Einzelkonzeptionen verhalten sich zueinander offenbar wie graduelle Abstufungen unterschiedlicher Verhältnisse von Akzeptanz- und Ablehnungskomponente. Das heißt, für die Analyse der Konflikthaltigkeit einer sozialen Beziehung im Sinne Forsts müssen Indikatoren für die beiden Komponenten gegeneinander abgewogen werden. Angewandt auf die oben beschriebene Situation in der Oberlausitz lässt sich Folgendes resümieren: Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf zeigte sich unterschiedlichen religiösen Überzeugungen gegenüber aufgeschlossen. Darauf verweisen zum

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überhaupt die Einführung und Verkauf solcher feindseeligen Streit-Schriften gäntzlich zu untersagen“. Ebd., fol. 2v und 3r. Ebd., fol. 19v. Beyreuther, Einführung, S. XXXIII. Vgl. Forst, Rainer, Toleranz im Konflikt. Geschichte, Gehalt und Gegenwart eines umstrittenen Begriffs, Frankfurt am Main 2003. Das Schrifttum stellt zahlreiche Typologien zum Phänomen der Toleranz zur Diskussion. Vgl. Lademacher, Horst/Loos, Renate/Groenveld, Simon (Hrsg.), Ablehnung –Duldung – Anerkennung. Toleranz in den Niederlanden und in Deutschland. Ein historischer und aktueller Vergleich, Berlin/München/Münster/New York 2004; Wierlacher, Alois/Otto, Wolf D. (Hrsg.), Toleranztheorie in Deutschland (1949–1989). Eine anthologische Dokumentation, Tübingen 2002; Wierlacher, Alois, Kulturthema Toleranz. Zur Grundlegung einer interdisziplinären und interkulturellen Toleranzforschung, München 1996. Für Erträge der Geschichtswissenschaft zum Thema vgl. pars pro toto Fritsch, Matthias J., Religiöse Toleranz im Zeitalter der Aufklärung. Naturrechtliche Begründung – konfessionelle Differenzen, Hamburg 2004; Kamen, Henry, Intoleranz und Toleranz zwischen Reformation und Aufklärung, München 1967; Kaplan, Faith. Forst, Toleranz, S. 12. Ebd., S. 34–37. Ebd., S. 32–34. Vgl. ebd., S. 42–48.

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einen Äußerungen seinerseits.138 Zum anderen ist diese Haltung aber auch in seinem Handeln als Rittergutseigentümer in der Oberlausitz erkennbar. Als solcher nutzte er die ihm zur Verfügung stehenden Handlungsspielräume und gewährte Personen Zuflucht, die sich aufgrund ihrer religiösen Überzeugungen der Verfolgung ausgesetzt sahen. Im Falle Zinzendorfs scheinen die Indikatoren für Akzeptanz in Religionssachen also diejenigen für Ablehnung weit zu überwiegen. Die Position der mährischen Brüder in der Frage des Verhältnisses der einzelnen Konfessionen zueinander ist dagegen nicht genauer zu bestimmen. Zwar gab einer von ihnen zu Protokoll, in der Oberlausitz Glaubens- und Gewissensfreiheit zu suchen. Wie er und die übrigen Glaubensflüchtlinge sich aber zu anderen Überzeugungen hinsichtlich der Religion verhielten, ist diesen Äußerungen nicht zu entnehmen. Ihre Auffassung ist aufgrund des derzeitigen Erkenntnisstandes im Schema von Rainer Forst nicht situierbar. Die etablierten Konfessionen in der Oberlausitz unterhielten zueinander ein mühsam austariertes Verhältnis. Einzelne Indikatoren deuten auf ein Überwiegen der ‚Ablehnungskomponente‘ (R. Forst) in dieser Ordnung hin. Beispielsweise galten dem oben erwähnten lutherischen Pfarrer der Sechsstadt Lauban, Gottlieb Friedrich Gude, die Angehörigen der katholischen Konfession ausdrücklich als Gegner.139 In Anbetracht solcher Äußerungen von einem Träger öffentlicher Funktionen in diesem Territorium spricht der Umstand, dass die Landtage von Vertretern beider Konfessionen beschickt wurden, nicht per se für ein hohes Maß an Akzeptanz. Die Regelung, wonach sich ein Teil der katholischen Minorität im Land – die drei Frauenklöster – auf den Ständeversammlungen durch Angehörige der evanglisch-lutherischen Konfession vertreten lassen mussten, deutet vielmehr auf Bestrebungen hin, den Einfluss der Katholiken im Land einzuhegen. Zugleich gibt die Anwesenheit dieser Minderheit im wichtigsten politischen Gremium des Territoriums aber zu erkennen, dass die konfessionelle Ordnung in der Oberlausitz – im Anschluss an die Typologie von Rainer Forst – nicht als „Erlaubnis-Konzeption“140 interpretiert werden kann. Demzufolge hätte das Arrangement zwischen den Konfessionen auf bloßer Duldung der einen Seite durch die Gegenseite beruhen müssen. Wie oben ausgeführt wurde, mangelte es den Angehörigen beider Konfessionen im Lande aber an der Autorität, die Anpassung des Gegenübers an die eigene Lehre zu erzwingen.141 Stattdessen stellt sich das Arrangement zwischen Katholiken und evangelischlutherischen Protestanten in der Oberlausitz als Ordnung zwischen zwei quantitativ ungleichen Gruppen dar, deren nicht in Frage zu stellenden Rechte die Vereinheit138

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Zinzendorfs komplexe theoretische Auseinandersetzung mit dem Thema, die er zur sogenannten Tropenlehre ausarbeitete, kann im Rahmen dieses Beitrages nicht referiert werden. Vgl. Nielsen, Sigurd, Intoleranz und Toleranz bei Zinzendorf, 3 Teilbde., Hamburg [1952]–1960. Zinzendorfs Haltung dem Katholizismus gegenüber behandelt G. Meyer, Katholizismus. Zu Zinzendorfs Interpretation des Verhältnisses der Konfessionen vgl. auch Anm. 90 dieser Untersuchung. Vgl. Anm. 71 dieser Untersuchung. Forst, Toleranz, S. 42. Vgl. ebd., S. 43.

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lichungsbestrebungen des jeweiligen Gegenübers einhegten. Alles was derzeit über das Verhältnis zwischen Katholiken und evangelisch-lutherischen Protestanten in der Oberlausitz bekannt ist, deutet darauf hin, dass hier Toleranz nur im Rekurs auf das Rechtswesen galt. Konflikte in den Beziehungen zwischen beiden Seiten wurden vermutlich nicht aus einer auf die Toleranz bezogenen programmatischen Überzeugung heraus reguliert. Lediglich das überkommene Recht scheint das empfindliche Arrangement zwischen den Konfessionen in der Oberlausitz konsolidiert zu haben.142 In der Haltung Zinzendorfs erkannten einige Vertreter der etablierten Konfessionsparteien eine Gefährdung dieser fein austarierten Ordnung. Die Zittauer Stadtpfarrer beispielsweise sprachen von der neuen Glaubensgemeinschaft in Herrnhut als einer „Pest, die in Finstern schleichet“143. Über die Vorgänge um die Brüdergemeine in der Oberlausitz berichteten sie 1748 dem Landesherrn: „ihre falsche Lehre frißt um sich wie der Krebs.“144 Die Anhaltspunkte, die sie und andere Kritiker der Brüdergemeine ihrem Urteil zugrunde legten, wurden oben im Einzelnen aufgeführt. Ein inhaltlicher Vergleich der Beschwerde- und Streitschriften lässt allgemeine Tendenzen bei der Wahrnehmung der neuen Glaubensgemeinschaft erkennen. Allerdings gewähren die Quellen nur einen auf die Haltung einzelner Beschwerde führender Amtsträger eingeschränkten Blick. Aussagen über die quantitative Dimension des Problems oder über die Gestalt der Gegnerschaft unter den einzelnen Gemeindemitgliedern finden sich dagegen nicht. Gleichwohl skizzieren die referierten Quellen das Bild einer durch das Aufkommen der neuen Glaubensgemeinschaft erheblich beunruhigten Region. Werden die Streitschriften und die Klagen der Träger öffentlicher Ämter in der Oberlausitz zugrunde gelegt, lässt sich ein Gemeinwesen beobachten, über dessen Zusammenhalt für die Mehrheit seiner Glieder Unsicherheit bestand. In dieser Hinsicht können die Äußerungen eines der religiösen Engstirnigkeit unverdächtigen Zeitgenossen den Konflikt erhellen: Im Nachlass von Gotthold Ephraim Lessing – er wurde bekanntlich 1729 als Sohn eines Pfarrers in der oberlausitzischen Sechsstadt Kamenz geboren145 – fand sich ein Textfragment mit dem Titel „Gedanken über die Herrnhuter“.146 In dem postum veröffentlichten Text beschei142

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„Tatsächlich ging die Erhaltung der katholischen Restbestände in der Oberlausitz weniger auf eine tolerante Gesinnung der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung, der herrschenden politischen Kräfte und der lutherischen Geistlichkeit etwa aufgrund einer ökumenischen Gesinnung zurück, sondern hatte ihre Ursachen in den Zwängen der ständischen Landesverfassung.“ Blaschke/Seifert, Reformation, S. 126. Sächs. HStA Dresden, Loc. 10333/12, Hennersdorff[ische]n Commission, fol. 4v. Ebd. Erich Beyreuther zufolge soll sich Lessings Vater, Johann Gottfried Lessing, auch an der publizistischen Kontroverse um die Anerkennung der Brüdergemeine beteiligt haben. Vgl. Beyreuther, Einführung, S. XLI. Meyer führt in seiner Aufstellung der Streitschriften um die Brüdergemeine keinen Titel von einem Autor dieses Namens auf. Vgl. Meyer, Handbuch, S. 281–499. Vgl. Lessing, Gotthold Ephraim, Gedanken über die Herrnhuter, in: Lachmann, Karl (Hrsg.), Gotthold Ephraim Lessings sämtliche Schriften, Bd. 14, Leipzig 1898 [ND Ber-

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nigte der Autor seinem Landsmann Zinzendorf: „Genung wir haben sein Bekenntniß; er verlangt nichts in den Lehrsätzen unserer Kirche zu verändern.“147 Allerdings ist die Kontroverse für Lessing mit diesem Urteil noch nicht beendet. Im Schlusssatz führte er seinen Text zu der bemerkenswerten Pointe: „Was will er [Zinzendorf – Anm. d. Verf.] denn?“148 In Lessings Frage kommt eine Grundhaltung der Zeitgenossen die Absichten der Brüdergemeine betreffend zum Vorschein. Diese Haltung bestand offenbar hauptsächlich in Verunsicherung. Dabei muss für das evangelisch-lutherische Establishment in der Oberlausitz der Umstand besonders erschütternd gewesen sein, dass es sich Kritik aus den eigenen Reihen ausgesetzt sah, während es sich eigentlich im Konflikt mit einem ganz anderen Gegner – den Katholiken im Land – wähnte. Lessings Fragment lässt eine nicht näher zu bestimmende ‚Verwirrung’ über die neue Glaubensgemeinschaft erkennen. Was die erklärten Gegner der Brüdergemeine verunsicherte, kann anhand ihrer Stellungnahmen dagegen präziser charakterisiert werden. Die Handlungen der neuen Glaubensgemeinschaft verstanden sie als Angriff auf eine der in ihren Augen zentralen „Konstitutionsressourcen“149 des bestehenden Gemeinwesens: den Konnex von Religion und öffentlicher Ordnung. Die Verschränkung beider Elemente galt den Kritikern der Brüdergemeine offenkundig als ordnungsstiftend und als Garantie für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Das heißt, die Spielräume religiöser Pluralisierung im fein austarierten Gefüge der Konfessionen in der Oberlausitz waren eng umgrenzt. Wer um seiner religiösen Überzeugung willen in die Oberlausitz zog, hatte wahrscheinlich mit Verfolgung zu rechnen, wenn er den Konnex von Religion und öffentlicher Ordnung in diesem Territorium merklich in Zweifel zog. Tausende Glaubensflüchtlinge, die sich in Böhmen den gegenreformatorischen Maßnahmen der habsburgischen Landesherren ausgesetzt sahen, fanden in der Oberlausitz eine neue Heimat.150 Dagegen wurden beispielsweise bekennende Schwenckfelder – das wurde oben bereits angemerkt – wiederholt aus dem Territorium ausgewiesen. Der Vorwurf, sie würden das bestehende Gemeinwesen spalten, war auch an die Parteigänger der Brüdergemeine adressiert. Die derart Gescholtenen blieben aber im Land und verwandten große Mühe darauf, dem Eindruck entgegenzuwirken, ihre religiösen Überzeugungen beinhalteten eine Absage an die bestehende öffentliche Ordnung.

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lin 1968], S. 154–163. Für inhaltliche Analysen des Textes vgl. Stenzel, Jürgen (Hrsg.), Gotthold Ephraim Lessing. Werke 1743–1750, S. 1416–1422; Beyreuther, Erich, Die Bedeutung Pierre Bayles für Lessing und dessen Fragment über die Herrnhuter, in: Bornkamm, Heinrich/Heyer, Friedrich/Schindler, Alfred (Hrsg.), Der Pietismus in Gestalten und Wirkungen. Martin Schmidt zum 65. Geburtstag, Bielefeld 1975, S. 84–97. Lessing, Gedanken, S. 163. Ebd. Vorländer, Hans, Einleitung. Wie sich soziale und politische Ordnungen begründen und stabilisieren. Das Forschungsprogramm, in: Ders. (Hrsg.), Transzendenz und Gemeinsinn. Themen und Perspektiven des Dresdner Sonderforschungsbereichs 804, Dresden 2010, S. 6–15, hier S. 7. Vgl. Schunka, Alexander, Gäste, die bleiben. Zuwanderer in Kursachsen und der Oberlausitz im 17. und frühen 18. Jahrhundert, Hamburg 2006.

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Systematisch betrachtet bildeten also unterschiedliche Haltungen der Streitparteien über die Akzeptanz bzw. Ablehnung alternativer Glaubensinhalte den Fluchtpunkt der Kontroverse. Im Lichte der Typologie von Rainer Forst lässt sich der innerkonfessionelle Konflikt um die Anerkennung der Brüdergemeine in der Oberlausitz folglich als eine Auseinandersetzung zwischen Verfechtern unterschiedlicher Auffassungen von Toleranz beschreiben. Im Gefolge dieser Auseinandersetzung scheinen sich erhebliche Änderungen im Bezugsrahmen der ‚Konstitutionsressourcen’ (H. Vorländer) der etablierten Ordnung vollzogen zu haben. Diese Feststellung führt zu einer in der Forschung geäußerten These über die Verbindung von Pietismus und Patriotismus. Anhand von Quellen aus dem „literarischen Deutschland“151 hat Gerhard Kaiser diesen Zusammenhang untersucht und Analogien zwischen beiden Phänomenen diagnostiziert, die sich im Wesentlichen auf die Gefühlswelt der Protagonisten beziehen.152 Einen etwaigen realhistorischen Hintergrund dieser Verbindung untersucht Kaiser dagegen nicht. Betrachtet man allerdings die Auseinandersetzung um die Anerkennung der Brüdergemeine in der Oberlausitz, scheinen auch ereignisgeschichtliche Umstände erkennbar, die den Zusammenhang von Pietismus und Patriotismus plausibilisieren.153 Auf den Rechtfertigungsdruck, dem sich Zinzendorf und seine Anhänger infolge der Anwürfe ihrer Kritiker ausgesetzt sahen, reagierten die vermeintlichen Spalter mit einem offenen Bekenntnis zur bestehenden Ordnung. Im Anschluss an den vorliegenden Befund wäre zu untersuchen, ob und inwiefern sie der Verschränkung von Glauben und öffentlicher Ordnung in der Oberlausitz durch diese Haltung die argumentative Grundlage entzogen. Jedenfalls hob die Dresdner Zentralverwaltung 1787 ein Urteil des Zittauer Stadtrats auf, wonach einige Einwohner des Fleckens Waltersdorf „wegen zum öfftern gehaltener Erbauungs-Zusammenkünfte“154 Strafzahlungen leisten sollten. Das Konventikelmandat aus dem Jahr 1737 wollte die Zentralverwaltung nun so ausgelegt wissen, dass alle religiösen Versammlungen, solange ihre Teilnehmer „sich zur ohngeänderten Augspurgischen Confeßion bekennen“ und sie „keine für die gemeine Ruhe nachtheilige Folgen“ aufwiesen, erlaubt sein sollten.155 Die Verschränkung von Religion und öffentlicher Ordnung stellte in den Augen der obersten Rechtssprechungsinstanz im Land 50 Jahre nach dem Inkrafttreten dieses Mandats offenbar keine tragfähige Beurteilungsgrundlage mehr dar.

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Vgl. Kaiser, Gerhard, Pietismus und Patriotismus im literarischen Deutschland. Ein Beitrag zum Problem der Säkularisation, 2. Aufl., Frankfurt am Main 1973. Kaiser ging es nach eigenen Aussagen um den „Nachweis der Übertragung ganzer Vorstellungsstrukturen aus dem Pietismus [auf den Patriotismus – Anm. d. Verf.].“ Kaiser, Pietismus, S. 224. Zur Definition des Begriffs Patriotismus und für einen historischen Überblick vgl. Herrmann, Hans P., Patriotismus, in: Jaeger, Friedrich (Hrsg.), Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 9: Naturhaushalt – Physiokratie, Stuttgart/Weimar 2009, Sp. 931–937. Sächs. HStA Dresden, Loc. 5986, Haltung, fol. 114r. Ebd., fol. 115r.

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Der vorliegende Quellenbefund führt also zu der Frage, inwiefern die Auseinandersetzung um die Anerkennung der Herrnhuter Brüdergemeine in der Oberlausitz an den gesellschaftlichen ‚Konstitutionsressourcen‘ (H. Vorländer) in diesem Territorium rührte. Ihr nachzugehen muss weiteren Untersuchungen vorbehalten bleiben. Eine Analyse der Ausmaße der Spaltung in den Gemeinden beispielsweise könnte den Veränderungsdruck zeigen, den die neue Glaubensgemeinschaft innerhalb der bestehenden Ordnung entfalten konnte. Abgesehen davon, dass die Befunde aus den Äußerungen der Zentralverwaltung und einiger Amtsträger in der Oberlausitz weiter differenziert werden könnten, müssten sie durch eine Untersuchung der Überlieferung der hiesigen Ständeversammlung und der Brüdergemeine selbst ergänzt werden. Schließlich bedürften die Ergebnisse eines Abgleichs mit den Entwicklungen in anderen Territorien. Mit dem Fokus auf die Brüdergemeine wäre auch nur ein Ausschnitt des Wandels in den Konstitutionsressourcen des Gemeinwesens zu betrachten, wie er sich vor dem Hintergrund einer veränderten Auffassung von Glauben vollzog. Um diese Entwicklung in ihrer ganzen Tragweite zu erschließen, müssten auch die Konflikte um andere Erscheinungsformen des Pietismus, wie sie seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert Verbreitung fanden, in den Blick genommen werden.

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Stabilität durch Tradition? Der lutherische Pfarrstand in Sachsen zwischen Einheit und Differenz Stefan Dornheim

I. Religiöse Spannungen konnten sich bekanntlich nicht allein zwischen konkurrierenden Bekenntnisgemeinschaften auftun. Auch innerhalb einzelner Konfessionen lassen sich Konfliktlinien verfolgen, die deren Kohäsionskräfte durchaus beeinträchtigen konnten. Besonders innerkonfessionelle Pluralisierungsprozesse infolge religiöser Reformbewegungen und sich unter dem Einfluss der Aufklärung verändernde Geisteshaltungen konnten zu Lagerbildungen und anhaltenden Kontroversen führen. Am Beispiel des lutherischen Pfarrstandes in den sächsischen Gebieten der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts soll im Folgenden nach der Entstehung innerkonfessioneller Konfliktfelder, nach deren zeitgenössischer Wahrnehmung und Deutung und nach den Strategien ihrer intellektuellen Bewältigung gefragt werden. Eine zentrale Rolle spielten in diesem Kontext verschiedene Versuche einer erstmals vollständigen wissenschaftlichen Erfassung und Darstellung der eigenen historischen Traditionen. Die zeitgenössischen Diskurse über innerkonfessionelle Konflikte wurden im 18. Jahrhundert häufig in den Vorworten der in verschiedenen Territorien entstehenden kirchengeschichtlichen Kompendien thematisiert. Im Jahr 1751 erschien in Leipzig der erste Band eines Gelehrtenlexikons der besonderen Art. Es handelte sich um den ersten Versuch einer enzyklopädischen Erfassung gelehrter und verdienstvoller lutherischer Pfarrer auf dem Land. Bis 1756 erschienen diese sogenannten „Beyträge zu einer Geschichte berühmter und verdienter Gottesgelehrten auf dem Lande“ in drei Bänden. Als eine Art Lexikon gelehrter Landpfarrer kompiliert und dokumentiert das nahezu 1800 Seiten umfassende Werk die Vielfalt wissenschaftlicher Nebenbeschäftigungen in den ländlichen evangelischen Pfarrhäusern. Der Autor Johann Anton Trinius (1722–1784) war selbst Pfarrer in Braunroda, einem Dorf bei Eisleben in der Grafschaft Mansfeld. Nach dem Studium in Leipzig, Helmstedt und Halle, wo er unter anderem Johann Lorenz von Mosheim und Siegmund Jakob Baumgarten gehört hatte, bemühte er sich in vielfältigen Publikationen um eine Verteidigung der Bibel gegenüber allzu platten Widerlegungen der radikalen Aufklärung und setzte sich kritisch mit dem Freidenkertum auseinander.1 Trinius hatte 1

Vgl. Tschackert, Paul, Art. Trinius, Johann Anton, in: Allgemeine Deutsche Biographie 38 (1894), S. 618 f.; Trinius, Johann Anton, Betrachtungen über einige Sprüchwör-

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das Projekt eines weiteren Personenlexikons im Vorwort gegen die zu erwartende Kritik der Res publica litteraria zu verteidigen, welche der zunehmenden Flut an biographischen Sammelwerken allmählich überdrüssig wurde. Dabei nahm er die zu erwartenden Monita selbst vorweg; sinnierend über den ungewöhnlichen Eifer, mit dem die Gelehrtenschaft des 18. Jahrhunderts biographische Wissensbestände über Ihresgleichen sammelte, ordnete und publizierte: „Haben wir noch nicht Lebensbeschreibungen genug? (…) ich bin in dem Reiche der Gelehrten nicht so unerfahren, daß ich die Bemühungen nicht kennen sollte, die man bisher auf die Lebensgeschichte berühmter Männer verwendet hat. Wie geschäftig ist nur in diesem Jahrhunderte der Fleiß der Gelehrten in Sammlung und Beschreibung der Begebenheiten und Beschäftigungen ihres gleichen gewesen? Wäre ich gesonnen, an statt einer Vorrede, eine biographische Bibliothek zu schreiben; so würde ich mit der bloßen Anzeige jener Geschichtsschreiber viele Bogen anfüllen können.“2 Trinius verteidigte sein biographisches Sammelwerk mit der besonderen Intention, die er mit ihm verfolgte. Es handelte sich dabei weniger um ein herkömmliches Personenlexikon, welches in erster Linie als Nachschlagewerk funktionieren sollte. Vielmehr wollte sich Trinius mit der Publikation in den gelehrten Problemdiskurs um das öffentliche Ansehen und den inneren Zusammenhalt des lutherischen Pfarrstandes einschalten. Die Anhäufung und enzyklopädisch geordnete Herausgabe lebensgeschichtlichen und bibliographischen Wissens aus dem Pfarrstand diente dabei vornehmlich als Argument zur Widerlegung äußerer Kritik und zur Befriedung von Auseinandersetzungen innerhalb des Berufsstandes der lutherischen Pfarrer. Hinter dem zunehmenden Ansehensverlust des Pfarrstandes nach außen und einer inneren Spaltung der Sozialgruppe am aufbrechenden Gegensatz zwischen Stadt und Land hatte Trinius eine grundhafte Erosion des tradierten lutherischen Pfarramtsverständnisses erkannt:„Allein wer ist so fremde, der nicht ein Zeuge des Hohns seyn könnte, der den Dienern des Evangelii auf dem Lande von unzeitigen Spöttern sehr oft gesprochen wird. Ich will jetzt nichts von einigen tadelsüchtigen Politicis gedenken. Denen, wie überhaupt die Priesterschaft, also auch insonderheit der Dorfpriester, ein höhnisch Beyspiel seyn muß, da doch, wenn sie nur die Würde des Amts, das sie, und das der in ihren Augen verachtetste Dorfprediger führet, in eine vergleichende Überlegung ziehen wollten, sie mit Schaam unten an sitzen müssten. Es wundert uns aber die Verachtung so sehr nicht, wenn sie uns von Dienern eines weltlichen Staats, die mit uns ein ganz ungleiches Amt verwalten, wiederfähret, als,

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ter und deren Mißbrauch. Samt Betrachtung über den Einfluß der Ehrbegierde in die Wohlfahrt der menschlichen Gesellschaft, Leipzig 1750; Ders., Freydenker-Lexicon, oder Einleitung in die Geschichte der neuern Freygeister, ihrer Schriften, und deren Widerlegungen, Leipzig und Bernburg 1759; Ders., Die vereinigten Widersprüche der Bibel, oder Erklärung und Rettung derjenigen Stellen der Heiligen Schrift, welche entweder sich selbst oder andern bekannten Wahrheiten zu widersprechen, oder sonst anstößig zu seyn scheinen, Quedlinburg 1778. Trinius, Johann Anton, Beytrag zu einer Geschichte berühmter und verdienter Gottesgelehrten auf dem Lande. Aus glaubwürdigen Urkunden und Schriften, 3. Bde., Leipzig 1751–1756, hier: Vorrede zu Bd. 1 (unpag.), im Folgenden zit.: Trinius, Vorrede.

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wenn sie uns auch so gar von einigen unserer Ordensbrüder bewiesen wird, die, weil sie in Städten das Evangelium predigen, berechtigt zu seyn glauben, die Geistlichen auf dem Lande vor kleine Lichter, und mit verachtungvollen Augen anzusehen.“3 Das Ansehen lutherischer Pfarrer werde von den Zeitgenossen zunehmend am Grad wissenschaftlicher Bildung und Betätigung gemessen.4 Die ursprünglich transzendent begründete Aufgabe geistlicher Seelsorge und das sogenannte Hirtenamt trete dem gegenüber in der Wertschätzung vieler Zeitgenossen zurück: „Es kommt aber eben nicht auf eine grosse und weitläuftige Gelehrsamkeit bey einem Seelsorger an. Mancher kann ein grosser Gelehrter und doch kein erbaulicher Prediger seyn, und besitzt hingegen dieser oder jener Dorfpriester gleich keine gar zu tiefe und grosse Gelehrsamkeit, so hat er doch zum wenigsten so viel gelernet, daß er seiner Gemeine mit Nutzen vorstehen und dieselbe unterweisen kann zur Seeligkeit. Mehr wird von ihm, als von einem Prediger nicht gefordert. Ob er ein Meister der Redekunst, ein Feldmesser, ein Sternkundiger, ein tiefer und abstrakter Philosoph, ein Kenner aller historischen Kleinigkeiten sey, daran ist wenig gelegen, weil es entgegen gar keinen, oder doch nur einen entbehrlichen Einfluß auf die Erbauung seiner Zuhörer hat.“ 5 Gelehrtenkritik als Vorwort eines Gelehrtenlexikons? Pfarrerschelte als Einführung in ein mehrbändiges Kompendium berufsständischer Selbstdarstellung? Das zitierte Beispiel wirft eine Reihe von Fragen zu den Kontexten auf. Trinius ging es mit diesem Werk weniger um ein weiteres herkömmliches Gelehrtenlexikon, wie es seine Zeitgenossen bereits in mehr als hinreichender Zahl auf den Buchmarkt gebracht hatten. Vielmehr versuchte er mit dieser Wissenskompilation eine Ehrenrettung der evangelischen Landprediger6 zu initiieren. So formuliert Trinius: „Zuerst soll diese Sammlung eine bündige Abfertigung derer seyn, die die Landprediger in die niedrigste Classe ihrer Nebenmenschen herunter setzen, und entweder gar keiner, oder doch nur einer sehr geringen Achtung würdig halten.“7 Mit der Verdichtung berufständischer Selbstrepräsentation im Medium einer gelehrten Publikation wollte Trinius zugleich an ein gemeinsames Standesbewusstsein der lutherischen Pfarrerschaft appellieren um gruppeninterne Differenzen zu überbrücken.

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Ebd. Vgl. zahlreiche Belege bei: Franz, Günther, Pfarrer als Wissenschaftler, in: Greiffenhagen, Martin (Hrsg.), Das evangelische Pfarrhaus. Eine Kultur- und Sozialgeschichte, Stuttgart 1984, S. 277–294; Lüdcke, Karl-Heinrich, Glaubwürdigkeit durch Bildung. Zum Pfarrerbild und zur Sicht der Theologenausbildung in der Neologie (Besonders bei Spalding und Lüdke), in: Besier, Gerhard/Gestrich, Christof (Hrsg.), 450 Jahre Evangelische Theologie in Berlin, Göttingen 1989, S. 139–162. Trinius, Vorrede, unpag. Dieser Missstand und die Absicht der Ehrenrettung der Landgeistlichen sei Trinius zufolge erstmals formuliert worden bei Koch, Johann Christian, Schediasma de pastoribus paganis, vulgo von Dorff-Priestern, in quo isti ex Jure divino atque ecclesiastico adversus multorum contemptum defenduntur, ad aliquas Eruditorum inculpationes modeste respondetur, ex Historica demum literaria demonstratur, Leipzig 1712, 21719. Trinius, Vorrede, unpag.

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In der Vorrede zum ersten Band bietet Trinius eine interessante Darstellung der Situation um 1750. In durchaus kritischen Tönen beschrieb er den äußeren Geltungsverlust und die innere soziale Spaltung der lutherischen Geistlichkeit. Es lohnt sich, Trinius‘ Argumentation etwas genauer nachzugehen: Gegenüber den Stadtgeistlichen bei denen er das geistliche Amtsverständnis von der zu einseitigen Konzentration auf die gelehrten Wissenschaften und damit vielfach einher gehender Ehrsucht und Eigendünkel bedroht sieht, machte sich Trinius zum Anwalt der Pfarrer auf dem Land, denen er größtenteils zu pauschal und zu Unrecht das Ansehen entzogen sieht. Seine Sammlung an verbürgten Gegenexempeln solle das verzerrte Bild zurechtrücken. Zu den Kritikern und Spöttern der Pfarrerschaft auf dem Lande gehörten neben den Stadtgeistlichen vor allem die weltliche Politiker- und Beamtenschaft. Diese würden in ihren Vergleichen die Würde des geistlichen Amtes nicht ausreichend in Betracht ziehen und den grundlegenden Unterschied zwischen geistlichem und weltlichem Amtsverständnis nicht mehr erkennen. Trinius wies zudem auf zunehmende soziale Spannungen innerhalb des Pfarrstandes hin. Diese seien aus der unrichtigen, wenn auch nicht völlig substanzlosen Klischeebildung entstanden, die einen Unterschied zwischen gelehrten Stadt- und vermeintlich verbauerten Landgeistlichen annahm. Solcherlei Statusunterschiede resultierten nach Trinius’ Einschätzung aus der augenscheinlichen Vernachlässigung des geistlichen Amtsethos, welches als eigentlicher Richt- und Bewertungsmaßstab der Geistlichkeit gelte.8 Die Gemeinsamkeit in der Würde des geistlichen Amtes trete zunehmend hinter einer Konkurrenz um soziales Ansehen zurück, welches nun vor allem am akademischen Bildungsniveau gemessen würde. Gelehrter Stolz und Überheblichkeit stünden wahrem Christenglauben entgegen, die Gleichheit aller Seelen vor Gott kenne keine Statusunterschiede. Damit sei die Arbeit eines noch so gelehrten Stadtpfarrers nicht wertvoller als die des Landgeistlichen. Trinius mahnte zur Einigkeit des Pfarrstandes durch die Rückkehr zum ursprünglichen lutherisch-christlichen Amtsverständnis, welches er rhetorisch ins Humanistische wendet: „Die äusserlichen und zufälligen Vorzüge der Geburt, des Standes etc. gehen einen Prediger als Prediger, nichts an. Nur das, woran Bürger und Bauer, Reiche und Arme, angesehene und verachtete zusammen kommen und was sie wesentlich miteinander gemein haben, nämlich der Mensch, ist und bleibt der eigentliche und einzige Vorwurf des priesterlichen Amts.“9 Dem Gegenargument, die Stadtprediger hätten gegenüber den Landpredigern mehr gemeinnützige Verdienste, und ihnen sei daher ein Vorzug vor den anderen einzuräumen, stimmte Trinius nur teilweise zu. Die Stadtprediger wären an inneren 8

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Dazu Trinius im Vorwort (ebd.): „Glauben Sie etwa, dass das heilige Amt, das sie Tragen, mehr Ehrwürdiges an sich habe, wenn es in der Stadt, als wenn es auf dem Dorfe geführet wird? Verlachenswürdige Einbildung! Das Amt ist einerley. Wer sind sie? Diener Christi und Haushalter über Gottes Geheimnisse, und wir auch. Sie theilen die hochwürdigen Sakramente aus; wir auch. Sie hören Beichte; wir auch. Sie mahnen, sie strafen, sie warnen, sie trösten; wir auch. Das Predigtamt verlieret nichts von seiner Würde, es mag verwaltet werden, wo es wolle.“ Ebd.

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und äußeren Gaben den Landpredigern teils überlegen, aber nicht generell. Pauschalisierungen funktionierten hier nicht. Trinius verwies darauf, dass die Auswahl der Stadtgeistlichen nicht immer nach Verdiensten und geistigem sowie geistlichem Vermögen geschehe. Häufig spielten andere Umstände wie ökonomische und soziale Beziehungsnetze eine wichtigere Rolle. Daher gäbe es oft auch geistig unvermögende Stadtgeistliche und sehr gelehrte und begabte Pfarrer mit schlechten Stellen auf dem Land. Trinius erinnerte wiederholt an das geistliche Element des reformatorischen Amtsverständnisses10, welches die christliche Erbauung der Gemeinde und die Funktion des Pfarrers als Seelsorger vor die Gelehrsamkeit stellt. Schärfte Trinius einerseits der Stadtgeistlichkeit das von ihr bei aller Gelehrsamkeit und bei allen wissenschaftlichen Bemühungen um das Gemeinwesen vernachlässigte geistliche Amtsethos ein, so hielt er es hingegen für ebenso notwendig, die bisher untätig gebliebenen Teile der Landpfarrerschaft zur Abwendung von der Landwirtschaft und zu stärkerer Eigeninitiative in Sachen (Weiter)Bildung in den gemeinnützigen Wissenschaften aufzurufen: „Die Wirtschaftssorgen haben seine ganze Seele erfüllet, und fast kein Fach für die Wissenschaften leer gelassen. Hat er auch gleich einen guten Vorrath an Gelehrsamkeit mit in sein Amt gebracht, so überlebet er doch denselben bald, und eine Wissenschaft gehet nach der anderen in die Vergessenheit zurück, weil er sich mit den Angelegenheiten seines Hauses mehr zu schaffen macht, als mit ihnen.“ 11 Der Faktor Zeit und die Rechenschaftslegung über ihre nützliche Anwendung wird von zunehmender Bedeutung für die Amts- und Lebensführung der Pfarrer, wie Trinius satirisch überspitzt verdeutlicht: „Meine Absicht gehet aber noch weiter. Man muß leider! wahrnehmen, daß unter denen, die auf dem Lande am Evangelio dienen, einige unartige Verschwender der Zeit [sich] finden, welche dem Bacchus oder der Ceres mehr fröhnen, als den Musen. Hier opfert einer seine Nebenstunden, die von Amtsgeschäften leer sind, einem wollüstigem Müßiggange auf, und füllet seinen Magen mit trockener und nasser Nahrung so überflüßig, daß er hernach die Vernunft erst durch einen langen Schlaf erst wieder gebähren muß. Dort zerstreuet ein anderer seine Seele in den Haushaltungsgeschäften dergestalt, daß er seines Standes vergißt, und von denen, die die Ehre nicht haben, ihn zu kennen, eher für einen Ackermann, als Prediger angesehen wird. Man findet ihn auf seinen Feldern weit arbeitsamer als auf seiner Studierstube, und so fleißig und sorgfältig in dem Bau seines Ackers, als wenn er ihm ebenso stark auf seine Seele gebunden wäre, als das Heil seiner Zuhörer.“12 Trinius Beschreibung macht die Konfliktlinien innerhalb des Berufsstandes der lutherischen Pfarrerschaft deutlich. Über das rechte Pfarramtsverständnis aus10 11 12

Vgl. Kantzenbach, Friedrich Wilhelm, Das reformatorische Verständnis des Pfarramtes, in: Greiffenhagen, Martin (Hrsg.), Das evangelische Pfarrhaus. Eine Kultur- und Sozialgeschichte, Stuttgart 1984, S. 23–46; hier v.a. S. 30f. und S. 45. Trinius, Vorrede, unpag. Ebd.

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getragene Kontroversen, wie beispielsweise die unter den Zeitgenossen verbreitete Landpfarrerschelte, verweisen zugleich auf tiefere Wandlungsprozesse des 18. Jahrhunderts. Die beobachtbaren innerkonfessionellen Konflikte resultierten im Wesentlichen aus Pluralisierungsphänomenen, die sich auf verschiedenen Ebenen ergaben. Dazu gehörte einerseits ein durch fortschreitende Urbanisierung sich verschärfender Stadt-Land-Gegensatz, der auch den Berufsstand der Pfarrer in vermeintlich gelehrte Stadt- und verbauerte Landprediger teilte. Der Pietismus als innerkonfessionelle Reformbewegung und die Aufklärung als neue geistige Strömung führten gegenüber einer beharrenden lutherischen Orthodoxie in einem weiteren Pluralisierungsschritt zu konkurrierenden Auffassungen darüber, was das Amt des Pfarrers sein und leisten sollte. Die berufsständische Identität der lutherischen Geistlichkeit, die sich bisher weitgehend auf das einende Band eines gemeinsamen Amtsverständnisses gestützt hatte, geriet zunehmend in eine Krise. Für diese Zeit lässt sich im lutherischen Pfarrstand eine regelrechte Publikationswelle eigengeschichtlicher Schriften beobachten13, die sich zunehmend durch 13

An dieser Stelle seien nur einige mitteldeutsche Beispiele mit gekürzten Titeln genannt, die Liste ließe sich beliebig erweitern: Schlegel, Christian, Kurtze und richtige Lebens-Beschreibungen, Der ehemahls, von Zeiten der Reformation an, in Dreßden gewesenen Herren Superintendenten, Dresden 1697; Pritius, Johann Georg, Nützlicher Geschichts-Calender Welcher Die Lebens-Beschreibungen der Leipziger Herren Superintendenten Jngleichen unterschiedene Denckwürdige Begebenheiten Die sich in Kirchen- und Religions-Sachen Von Anno 1539. bisz 1698. in Leipzig begeben haben, Leipzig 1698; Diezel, Carl Friedrich, Kurtz-abgefaste Eißfeldische Stadt-Historie nebst derer Herren Pfarrer und Superintendenten, wie auch Vicariorum, Diaconorum und Pastorum dasiger Dioeces, wie solche von der Reformation an biß auf diese Zeit nacheinander ins Predigt-Amt seyn gefolget, Coburg 1721; Frenckel, Johann Gottlob, M. Johann Gottlob Frenckels, von Oschatz, Diptycha Ositiensia, Oder Historie derer Herren Superintendenten und Diaconen zu Oschatz in Meißen, Dresden 1722; Gleich, Johann Andreas, Annales Ecclesiastici, Oder: Gründliche Nachrichten der Reformations-Historie Chur-Sächß. Albertinischer Linie, 3 Bde., Dresden/Leipzig 1730; Haussdorff, Urban Gottlieb, Historia ecclesiastica Zittaviensis oder Kirchen- und Reformations-Geschichte der churfl. Sächß. Sechs-Stadt Zittau, wie auch Lebens Beschreibungen aller Evangelischen pastorum primariorum in Zittau, Bautzen 1732; Schoenthal, Johann Paul von, Derer gesamten Evangelisch Lutherischen Herren Superintendenten zu Dreßden, Leben und Todt, Dresden 1736; Wilisch, Christian Gotthold, KirchenHistorie der Stadt Freyberg Und Der in dasige Superintendur eingepfarrten Städte und Dörffer, Leipzig 1737; Biering, Johann Albert, Clerus Mansfeldicus, das ist: alle Herren General-Superintendenten, Pastores und Diaconi (...) in der gantzen Grafschafft Mansfeld, von Lutheri Reformation an, bis auf gegenwärtige Zeit, Bd. 1, [o.O.] 1742; Oettel, Johann Paul, Zuverlässige Historie aller Herren Pastoren und Superintendenten der (...) Creyss-Stadt Plauen, im Voigtlande, Schneeberg 1747; Ludovici, Gottfried, Notitia Ephororum Schleusingensium (...) die Schleusinger Prediger-Historie, Schleusingen 1711; Kindervater, Johann Heinrich, Nordhvsa illvstris Oder Historische Beschreibung Gelehrter Leute, Welche in der Käyserl. Freyen Reichs-Stadt Nordhausen gebohren, und Theils daselbst, theils an vielen andern Orten, im Regiment, in der Kirchen, auch hohen und niedern Schulen, Gott gedienet haben, mit ihren Successoribus, Wolffenbüttel 1715; Zeibich, Christoph Heinrich, Historische Lebens Beschreibungen Derer

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den Gebrauch wissenschaftlicher Methodik auszeichneten. Die in den Vorworten oft ausführlich geschilderten Motivationen dieser berufsständischen Selbstbeschreibungen richteten sich dabei nicht mehr wie im 16. und 17. Jahrhundert auf die konfessionellen Gegner. Im Zentrum der Diskurse stand nun in erster Linie das Bemühen um den Ausgleich innerkonfessioneller Differenzen. Im Folgenden sollen einige bedeutende Publikationen dieser Zeit exemplarisch betrachtet werden. Dabei stellt sich die Frage, inwiefern die wissenschaftliche Aufarbeitung und Darstellung der eigenen Traditionsbestände im Kontext theologischer und sozialer Auseinandersetzungen als identitätsstiftender und stabilisierender Faktor etabliert werden konnte. Zugleich soll der Frage nachgegangen werden, inwiefern Wissenschaft und Wissenschaftlichkeit im 18. Jahrhundert als Konfliktstoff aber auch als Bindekitt der Pfarrerschaft und der Gesellschaft funktionieren konnte.

II. Die von Trinius beschriebenen innerkirchlichen sozialen Spannungen entzündeten sich nicht allein am bereits erwähnten Stadt-Land-Gegensatz und der damit verbundenen Ungleichzeitigkeit der Teilnahme an den neuen geistigen Strömungen der Zeit, sondern auch an der Zunahme religionskritischer Stimmen im öffentlichen Diskurs. Hinter diesem Phänomen verbirgt sich ein zweiter Pluralisierungsaspekt. Mit der Aufklärungsbewegung verbreitete sich seit der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts bekanntlich auch in den deutschen Staaten ein zunehmend kritischer Blick auf die Religion. Die Heilige Schrift und die auf sie gegründeten konfessionellen Dogmen wurden in weltlichen Bildungskreisen zunehmend am Maßstab der Vernunft gemessen und zur Diskussion gestellt. Auch in städtischen und universitätsnahen Theologenkreisen wurde diese Diskussion relativ früh aufgenommen.14 Die

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Stiffts-Superintendenten in Merseburg von der Reformation an biß zu unsern Zeiten, Leipzig 1732; Für den norddeutschen Raum sei pars pro toto hingewiesen auf: Anonymus [Schlöpke, Christian?], Nachricht von denen Pfarr-Kirchen, Capellen (...) auch den evanglischen Superintendenten, Pastoribus und Diaconis im Fürstenthum Lauenburg, Ratzeburg 1722; Gottschling, Caspar, Historische Nachricht von denen Superintendenten und Inspectoribus in der Neu-Stadt Alt-Brandenburg 1539–1717, Brandenburg 1726; Ein überregionales Sammelwerk folgte auf katholischer Seite mit: Felder, Franz Karl/Waitzenegger, Franz Joseph (Hrsg.) Gelehrten- und Schriftsteller-Lexikon der deutschen katholischen Geistlichkeit, 3 Bde., Landshut 1817–1822. Mit der Aufklärungstheologie etablierte sich im Protestantismus des 18. Jahrhunderts eine theologische Richtung, welche die christliche Lehre durch eine Anpassung an die Aufklärung bewahren wollte. Sie unterschied sich in eine eher konservative Richtung, welche in ihrer supranaturalistischen Ausprägung etwa durch Christian Fürchtegott Gellert (1715–1769), Matthias Schoerck (1733–1808), Franz Walch (1726–1784), Johann August Ernesti (1707–1781) und Johann David Michaelis (1717–1791) gelehrt wurde. Eine liberalere Richtung, die sogenannte Neologie, fand sich vor allem in Berlin und wurde von August Friedrich Wilhelm Sack (1703–1786), Johann Joachim Spalding (1714–1804) und Wilhelm Abraham Teller (1734–1804) und in Braunschweig von Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem (1709–1789) vertreten. Sie hatte bedeutenden Anteil

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religionskritischen Diskurse beschränkten sich dabei aber nicht allein auf den theologisch-akademischen Bereich. Auch auf der alltagsweltlich-sozialen Ebene zeitigten sie scharfe Polemiken an der Autorität der vermeintlich unzeitgemäßen „Pfaffen“.15 Der Grundkonflikt über den Vorrang von Vernunft oder göttlicher Offenbarung16 vollzog sich genau genommen auf vier Ebenen: zum einen als theologisch-akademische Kontroverse, zum anderen in Form sozialer Spannungen innerhalb des Pfarrstandes, drittens zwischen der Pfarrerschaft und ihren öffentlichen Kritikern und schließlich in einer subjektiv-innerlichen Dimension der einzelnen Pfarrer. Trotz innerer Krise und beschädigtem äußeren Ansehen bildete der Pfarrstand als Funktionselite nach wie vor eine der Stützen des frühmodernen Staates. Neben der Seelsorge war er zuständig für das Sozial- und Bildungswesen und die Bevölkerungsstatistik. Die Kanzel funktionierte als zentrales Kommunikationsmedium zwischen Obrigkeit und den breiten unteren Volksschichten. Die Pfarrerschaft spannte sich als ein Netzwerk von Akademikern über die staatskirchlich verwalteten Territorien und bildete eine wichtige Funktionselite bei der Herausbildung des frühmodernen Staates. Von ihrer geistlichen Integrationskraft und ihrem intellektuellen Führungsvermögen hing ein beträchtlicher Teil staatlicher Wohlfahrt ab.17 Als umso brisanter galt der von den Zeitgenossen wahrgenommene Zustand der „Verwirrung“ des gegenwärtigen Zeitalters.18 Der Theologe und Görlitzer Schulrektor Neumann

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an der Verbreitung der Aufklärung in den deutschen Gebieten und führte radikal neue Ansätze in die Theologie ein. Vgl. Beutel, Albrecht, Art. Aufklärung. II. Theologischkirchlich, in: RGG, Bd. 1, 41998, Sp. 941–948; Fleischer, Dirk, Zwischen Tradition und Fortschritt. Der Strukturwandel der protestantischen Kirchengeschichtsschreibung im deutschsprachigen Diskurs der Aufklärung, 2 Bde., Waltrop 2006. Vgl. pars pro toto: Spalding, Johann Joachim, Ueber die Nutzbarkeit des Predigtamts und deren Beförderung, Berlin 1772; Ders., Religion, eine Angelegenheit des Menschen, Berlin 21798, Lüdke, Friedrich Germanus, Über Toleranz und Gewissensfreiheit, insofern der rechtmäßige Religionseifer sie befördert, und der unrechtmäßige sie verhindert, Berlin 1774, Ders., Vom falschen Religionseifer, Berlin 1769; Weiterführend: Beutel, Albrecht, Aufklärung in Deutschland (Die Kirche in ihrer Geschichte 4 O2), Göttingen 2006, vor allem S. 248 ff. und 302 ff. Dabei entwickelte sich in den gebildeten bürgerlichen Funktionseliten ein Gegensatz zwischen Pfarrstand und weltlichem Beamtenstand. Um Berlin habe sich, so Werdermann, eine besonders „verachtungsvolle Stimmung“ gegen die „Pfaffen“ entwickelt, dass sogar ein Preisausschreiben mit der Frage „Woher die Antipathie zwischen Predigern und Beamten?“ initiiert worden sei. Vgl. Werdermann, Hermann, Der evangelische Pfarrer in Geschichte und Gegenwart. Ein Rückblick auf 400 Jahre evangelisches Pfarrhaus, Leipzig 1925, S. 66. Vgl. Beutel, Aufklärung, S. 375f. Vgl. Strohm, Theodor, Pfarrhaus und Staat, in: Greiffenhagen, Martin (Hrsg.), Das evangelische Pfarrhaus. Eine Kultur- und Sozialgeschichte, Stuttgart 1984, S. 329–356; Schorn-Schütte, Luise, Evangelische Geistlichkeit in der Frühneuzeit. Deren Anteil an der Entfaltung frühmoderner Staatlichkeit und Gesellschaft. Dargestellt am Beispiel des Fürstentums Braunschweig-Wolfenbüttel, der Landgrafschaft Hessen-Kassel und der Stadt Braunschweig, Gütersloh 1996. Neumann, Johann Friedrich, Ueber die Aufklärung unsers Zeitalters. Zur Anzeige des Chür-Actus welcher den 7. July 1786. früh um 9 Uhr im Gymnasio gefeiert werden; E.

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fasste die Situation 1786 in einem Schulprogramm rückblickend zusammen: „Auch sind die Bewegungen der Vernunft und Offenbarung gegeneinander, das darüber entstandene Gewirre, das Rumoren, Kämpfen, Seufzen und Klagen in den Streitigkeiten der Theologen in Halle und Wittenberg, ziemlich aus dem Andencken gekommen, ob sie gleich eine lange Zeit in diesem Jahrhunderte, und an manchen Orten fast bis an die Grenze dieses Zeitalters fortwähreten. Damals war aber nun auch, nach diesem ziemlichen Wetterstreite, der glückliche Zeitpunkt wo man anfieng, die guten Würckungen und Früchte zu genüssen, welche jene scheinbare Verwirrung hervorgebracht und zurück gelassen hatte.“19 Die konfessionskritischen Impulse der neuen geistigen Bewegung bewirkten bei den sächsischen Lutheranern verstärkt defensive und selbstreformerische Aktivitäten. Der Verteidigung des lutherischen Bekenntnisses zur christlichen Lehre gegen (radikal-) aufklärerische Kritik von außen hatte eine innere Einigung und Stabilisierung des Pfarrstandes zu folgen. Die Dogmatik der lutherischen Orthodoxie befand sich allerdings für noch unbestimmte Zeit auf dem Prüfstand der Vernunft.20 Harte theologische Auseinandersetzungen, ob nun dem Prinzip der Vernunft oder der Offenbarung der Vorrang zu geben sei, dauerten seit Anfang des 18. Jahrhunderts an. Theologisch-systematisch war keine schnelle Einigung in Sicht. Offen zu wirkungsvollem Agieren blieb neben verbaler Verteidigung vor allem der praktische Wirkungskreis. Das äußere Berufsbild der lutherischen Geistlichkeit galt es nach den Prinzipien eines vernünftig-pragmatischen Tatchristentums zu erneuern.21 Neben den Bemühungen um einheitliche Bildungsstandarts durch verschiedene reformerische Bestrebungen, die auch die Bildungsgefälle zwischen Stadt und Land22 ausgleichen sollten, wurde nun vor allem auch auf dem Land die Forderung geäußert, die Pfarrer von landwirtschaftlicher Eigenversorgung zu befreien. Damit verband sich die indirekte Erwartung, dass die so frei gewordenen Nebenstunden vom Pfarrer vernünftig und (allgemein-)nützlich angewandt würden. In diesem Sinn habe sich nach Albrecht Beutel der aufklärerische Protestantismus des 18. Jahrhunderts vor allem durch die Modernisierung der kommunalen Armenfürsorge und Sozialarbeit nennenswerte Verdienste erworben, was sich in zahlreichen Gründungen von Spitälern, Waisen-, Zucht- und Armenhäusern spiegle. Die maßgebliche Beteiligung

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Hochedler und Hochweiser Rath (...) werden hierzu (...) eingeladen, Görlitz 1786, S. 9. Ebd., S. 8f. Vgl. Beutel, Aufklärung, S. 249 und 356 ff.; Nüssel, Friederike, Die Umformung des Christlichen im Spiegel der Rede vom Wesen des Christentums, in: Beutel, Albrecht/ Leppin, Volker (Hrsg.), Religion und Aufklärung. Studien zur neuzeitlichen „Umformung des Christlichen“, Leipzig 2004, S. 15–32. Vgl. Kuhn, Thomas K., Religion und neuzeitliche Gesellschaft. Studien zum sozialen und diakonischen Handeln in Pietismus, Aufklärung und Erweckungsbewegung (Beiträge zur historischen Theologie 122), Tübingen 2003, S. 79–223. Das die Mehrzahl der Pfarrer, insbesondere die Landgeistlichkeit im 18. Jahrhundert noch aus einem voraufklärerischen Selbstverständnis wirkte, belegt beispielsweise die Studie von Koch, Ernst, Dorfpfarrer als Leser. Beobachtungen an Visitationsakten des 18. Jahrhunderts im Herzogtum Sachsen-Gotha, in: Pietismus und Neuzeit 21 (1995), S. 274–298.

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von evangelischen Geistlichen an der Durchsetzung solcher sozialpraktischen Verbesserungsmaßnahmen23 führt auch Beutel auf die nach wie vor „einzigartige Vermittlungskompetenz“ und die „aufklärerische Amtsauffassung der Pfarrer zurück, die die Förderung der religiösen, moralischen und sozialen Wohlfahrt als ein untrennbar Ganzes verstand.“24 Das ursprünglich durch Christi Einsetzung transzendent begründete „geistliche Amt“ professionalisierte sich damit allerdings zunehmend zum funktionalen „geistlichen Beruf“, der sich kaum mehr von den weltlichen Funktionsträgern des frühneuzeitlichen Staates unterschied. In einem rationalen Verständnis als Volkslehrer sollte der Pfarrer die Menschen bessern und zur Glückseligkeit führen.25 Die Mehrzahl der Pfarrer bewegte sich aber bis ins 19. Jahrhundert hinein gerade durch diese rationale Neuausrichtung ihres äußeren Berufsbildes weiterhin in einem inneren Zwiespalt. Sie standen zwischen der beharrenden Kraft ihres geistlichen Sonderbewusstseins26 23

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So etwa die Verbesserung von Landwirtschaft, Gartenbau und Viehhaltung und die Einführung von Impf- und Feuerversicherungswesen, Spar- und Witwenversorgungskassen. Das Festhalten am geistlichen Amtsethos verhinderte nicht, dass sich eine Vielzahl von Pfarrern in dieser Zeit intensiv mit Volksbildung, Volksaufklärung und der Vermittlung technischen, medizinischen sowie landwirtschaftlichen Wissens engagierten und sich häufig selbst in verschiedenen Wissenschaften einen Namen machten. Diese neue „Volks- und Weltnähe“ führte im ausgehenden 18. Jahrhundert allmählich zu einem steigenden Ansehen und zu einer Verbesserung der Akzeptanz des Pfarrhauses in den Gemeinden, wenn dabei auch viele Predigten in einem platten Utilitarismus verharrten. Vgl. dazu: Winkler, Eberhard, Art. Pfarrer  II. Evangelisch, in: Theologische Realenzyklopädie 26 (1996), S. 360–374, hier S. 364 sowie Warnke, Götz, Die Theologen und die Technik. Geistliche als Techniker, Innovatoren und Multiplikatoren im deutschsprachigen Raum 1648–1848, Hamburg 1997. Beutel, Aufklärung, S. 375. Vgl. Pahlow, Louis, Art. Glückseligkeit, in: Enzyklopädie der Neuzeit 4 (2006), Sp. 974–976. Dieser Begriff wurde geprägt und definiert von: Schorn-Schütte, Luise, Prediger an protestantischen Höfen der Frühen Neuzeit. Zur politischen und sozialen Stellung einer neuen bürgerlichen Führungsgruppe in der höfischen Gesellschaft des 17. Jahrhunderts, in: Schilling, Heinz/Diederiks, Hermann (Hg.), Bürgerliche Eliten in den Niederlanden und in Nordwestdeutschland, Köln/Wien 1985, S. 275–336, hier S. 279. Bei aller Verflochtenheit der sozialen Beziehungen innerhalb dieser Schicht der bürgerlichen Funktionsträgerelite durch verwandtschaftliche und amtsverwalterische Verbindungen zwischen geistlicher und weltlicher Beamtenschaft, erfüllte die zum Pfarr-Amt Berufenen dennoch ein gewisses geistliches „Sonderbewusstsein“. Als von Christi selbst ausdrücklich eingesetzt, bewahrte sich die reformatorische Vorstellung des geistlichen Amtes in der lutherischen Orthodoxie ebenso wie im Pietismus, in der Übergangstheologie und in den Anschauungen der gemäßigten Aufklärung eine Sonderstellung, ein Amtsethos, welches bei aller Funktionalisierung der Pfarrerschaft durch den entstehenden modernen Staat, einen Raum der Autonomie und der Distanz gegenüber demselben wahrte, ein Raum, der im Sinne des geistlichen Wächter- und Mahneramtes die Kritik an etwaigem unchristlichen Verhalten von Staat und Obrigkeit zuließ. Vgl. dazu die Befunde bei Schorn-Schütte, Luise, Zwischen ,Amt‘ und ,Beruf‘: Der Prediger als Wächter, ,Seelenhirt‘ oder Volkslehrer. Evangelische Geistlichkeit im Alten Reich und in der Schweizerischen Eidgenossenschaft im 18. Jahrhundert, in: Dies./Sparn, Walter (Hrsg.), Evangelische Pfarrer. Zur sozialen und politischen Rolle einer bürgerlichen

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und der Forderung eines rationalisiert-funktionalen geistlichen Berufes.27 Das Festhalten am geistlichen Amtsethos verband sich dabei weiterhin mit dem Anspruch auf autonome Freiräume gegenüber obrigkeitlichem Ordnungshandeln.28 Auch der Gegensatz zu staatlich erwarteten Funktionen in der Bürgergesellschaft des 18. Jahrhunderts, in der Prinzipien wie Rationalität und Nützlichkeit in den Vordergrund traten, führte die Geistlichkeit in eine anhaltende Krise.29 Den äußeren Reformen allein gelang es nicht, eine innere Stabilisierung herzustellen. Neben der pragmatischen Bewährung der Pfarrerschaft in sozialpraktischen Aufgaben der Gegenwart galt es, die gemeinsame Vergangenheit als Orientierungsmaßstab für das innere Standesbewusstsein wieder in das rechte Licht zu rücken. In der seit Mitte des 18. Jahrhunderts verstärkt einsetzenden Eigengeschichtsschreibung versuchten die Autoren die dargestellten innerprotestantischen Differenzen zu kitten. Die Bewegung ging dabei aus einer Vielzahl von Eigeninitiativen einzelner Pfarrer hervor. Eine historische Erinnerungskultur war im Luthertum bereits seit dem 17. Jahrhundert etabliert und erprobt.30 Landesweite Reformationsjubiläen und örtliche Pfarramts-Jubiläen hatten seit 1617 auf territorialer, lokaler und personaler Ebene regelmäßig um breite Affirmation mit der noch vergleichsweise jungen lutherischen Tradition und seiner personalen Trägerschaft geworben. Besondere Bedeutung hatte dabei das Pfarrhaus als untere und allerorts präsente Basisinstitution des Luthertums. Dabei waren die lutherischen Pfarrer bis zum 18. Jahrhundert längst zu Erinnerungsspezialisten geworden, denen die schriftliche Fixierung und die öffentliche Deutungsautorität über die Ereignisse der gemeinsamen Vergangenheit oblagen. Ihre akademische Ausbildung machte die Theologen zu Experten der Sprachen, der Schrift und der Hermeneutik. Aufgaben wie Personenstandswesen, Pfarrarchivpflege, Begräbnis- und Denkmalwesen, das Verfassen von Leichenpredigten, Jubiläumsschriften und Kirchenchroniken verlangten die besonderen Kenntnisse des Pfarrers.31 Wo entsprechendes persönliches Interesse vorhanden war, hatte sich die

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Gruppe in der deutschen Gesellschaft des 18.–20. Jahrhunderts, Stuttgart/Berlin/Köln 1997, S. 1–35; hier S. 21ff. Vgl. Schorn-Schütte, ebd.; Beutel, Aufklärung, S. 369 ff. Vor allem die Vertreter der lutherischen Orthodoxie beriefen sich dabei im 18. Jahrhundert weiterhin auf die Dreiständelehre. Vgl. Schorn-Schütte, Zwischen ,Amt‘ und ,Beruf‘, S. 5ff. und S. 25ff. Vgl. dazu die Beiträge in: Eibach, Joachim/Sandl, Marcus (Hrsg.), Protestantische Identität und Erinnerung. Von der Reformation bis zur Bürgerrechtsbewegung in der DDR, Göttingen 2003; Fisch, Stefan, Auf dem Weg zur Aufklärungshistorie. Prozesse des Wandels in der protestantischen Historiographie nach 1600, in: Geschichte und Gesellschaft 23 (1997), S. 115–133; Flügel, Wolfgang, Konfession und Jubiläum. Zur Institutionalisierung der lutherischen Gedenkkultur in Sachsen 1617–1830, Leipzig 2005; Ders./ Dornheim, Stefan, Die Universität als Jubiläumsmultiplikator in der Frühen Neuzeit. Akademiker und die Verbreitung des historischen Jubiläums, in: Jahrbuch für Universitätsgeschichte 9 (2006), S. 51–70. Vgl. Wagner, Dirk, Die Kirchenbuchführung in Sachsen und Thüringen. Ein Vergleich erster Forschungsergebnisse, in: Familie und Geschichte (1994), S. 347–356; Blanckmeister, Franz, Die Kirchenbücher im Königreich Sachsen, Leipzig 1901 (enthält neben der

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Tätigkeit verschiedener Pfarrer bereits seit dem 17. Jahrhundert in Eigeninitiative zu ersten umfassenden landes- und volkskundlichen Forschungen ausgeweitet.32 Die Selbstdarstellung durch verstärkte Eigengeschichtsschreibung bot auch im „verwirrten Zeitalter“ einen gemeinsamen inneren Identifikationspunkt jenseits dogmatischer Setzungen. Zugleich bot sie eine Fülle an empirischen Belegen zur Untermauerung der Argumentation, dass die Wohlfahrt des Gemeinwesens und die Glückseligkeit der Menschen nicht ohne Christentum zu erreichen sei. Dazu verknüpften sie die Modediskurse der Zeit um Vernunft, Gemeinwohl, Bildung und Ehre mit tradierten Werten christlich-protestantischer Frömmigkeit. Die Schriften argumentierten dabei rückblickend mit dem segensreichen innerweltlichen Wirken, welches inzwischen mehrere Generationen lutherischer Pfarrer seit der Reformation landesweit entfaltet hätten. Die Selbstbeschreibungen folgten dabei weitgehend einem Erfolgsmodell, welches die unrühmlicheren Seiten inner- und zwischenkonfessioneller Auseinandersetzungen zwar andeutete, dennoch aber weitgehend verschwieg. Mitunter wurde der Leser über diese Methode in Kenntnis gesetzt. So schrieb beispielsweise der Pfarrer Adam Christoph Carl Cuno 1769 in der Einleitung zu seinem Theologenlexikon: „Mit Fleiß aber habe ich keine polemische Schriften, oder doch sehr selten angemerket. So wie ich auch alle ehemalige Controversien in unserer Kirche wohlbedächtig entweder gänzlich übergangen, oder nur kürzlich berühret habe.“33 Ähnlich den erbaulichen Exempelsammlungen des 17. Jahrhunderts wurden die „fortschrittlichen“ und für die Zeitgenossen beispielgebenden Personen und Zustände der eigenen Vergangenheit ausgewählt und zu enzyklopädischen Kompendien zusammengestellt. Charakteristisch für die entstehenden Publikationen war das Bemühen der Pfarrer um Ehre, Ansehen und Würdigung ihres Amtes. Dabei verließen sie die traditionellen Formen der Geschichtsreflexion in Form von Leichen-, Gedächtnis- und Jubiläumspredigten, Toten-Erinnerung und Kirchenbuchnotizen hin zur wissenschaftlichen Autorschaft. Der inzwischen rund zweihundertjährige Fundus der lokalen Pfarrarchive diente ihnen dabei häufig als Quelle und Anregung. Bis zum 18. Jahrhundert war die lutherische Eigengeschichtsschreibung als Festschriftendisziplin weitgehend an den kirchlichen Ritus gebunden. Diese enge Verbindung von Fest und Erinnerung wurde nun zunehmend gelöst. Unter Ausnutzung der Fortschritte des Druck- und Verlagswesens und der Entstehung einer breiteren lesenden Öffentlichkeit, verwendeten viele Pfarrer ihre Nebenstunden zum Sammeln und Schreiben normativer Eigengeschichte. „Wissenschaftlichkeit“ bedeutete in diesem Zusammenhang vor allem das Bemühen um quellenkritische

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Erfassung aller sächsischen Personenstandsregister eine erste Gesamterhebung chronikaler und historischer Berichte in sächsischen Pfarrarchiven); Lenz, Rudolf (Hrsg.), Leichenpredigten als Quelle historischer Wissenschaften, 4 Bde., 1975–2004. Vgl. Dornheim, Stefan, Das lutherische Pfarrhaus und die Anfänge heimat- und landeskundlicher Forschung in Sachsen (1550–1750), in: Neues Archiv für Sächsische Geschichte 79 (2008), S. 137–159. Cuno, Adam Christoph Carl, Gesammlete Nachrichten von denen Lebens-Umständen und Schriften Evangelisch Lutherischer Theologen, Leipzig 1769, Vorrede unpaginiert.

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Nachprüfbarkeit und die Gliederung des kompilierten Wissens nach systematischen Ordnungskriterien. Die eigengeschichtlichen Darstellungen folgten allerdings weniger den Prinzipien einer kritischen Analyse, als vielmehr denen einer an christlichen Idealen orientierten Synthese ausgewählter Wissensbestände. Die biographischen Sammelwerke dienten vor allem dazu, der zunehmend kritischen gelehrten Öffentlichkeit als Antwort und den Amtskollegen als Ansporn einen Berufsstand zu präsentieren, der weiterhin den Anspruch einlösen kann, zur Tugend- und Bildungselite des Landes zu gehören. In den eigengeschichtlichen Wissenskompilationen versuchten die Autoren, moderne Methodik der gelehrten Wissenschaften und traditionelles geistliches Amtsbewusstsein miteinander zu verbinden. Waren die Gedenkpredigten und historischen Festschriften zunächst noch auf die Reflexion einer Biographie oder eines einzelnen bedeutenden Ereignisses bezogen, so erfolgte im 18. Jahrhundert ein Wandel durch die Umsetzung eines neuen Anspruches: Die gesamte soziale Gruppe der lutherischen Pfarrer mit ihren je eigenen lokalen und familialen Geschichten, sollte nun in umfassenden, enzyklopädisch konzipierten Sammelwerken vorgestellt werden. Der Laubaner Pfarrer Karl Gottlob Dietmann (1721–1805) gilt als Initiator und Herausgeber des umfangreichsten historisch-biographischen Sammelwerkes zur mitteldeutschen Pfarrerschaft.34 Über eine Zeitspanne von mehr als 30 Jahren veranlasste er ab 1751 die gesamte geistliche Amtsträgerschaft des Kurfürstentums Sachsen35 als Beiträger zu biographischen und lokalkirchengeschichtlichen Forschungsaktivitäten, um erstmals auch das letzte Kirchdorf und die Folge seiner Pfarrer seit der Reformation biografisch und bibliografisch zu erfassen.36 Er komplettierte damit 34

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Dietmann, Karl Gottlob, Die gesamte der ungeänderten Augsburgischen Confeßion zugethane Priesterschaft in dem Churfürstenthum Sachsen und einigen angrenzenden Landen, 5 Bde., Dresden/Lauban 1752–1763; Ders., Die gesamte der ungeänderten Augsburgischen Confeßion zugethane Priesterschaft im Marggrafthum Oberlausitz, Lauban/Leipzig 1777; Ders., Kurzgefaßte Kirchen- und Schulengeschichte der gefürsteten Grafschaft Henneberg, Gotha 1781; Kirchen- und Schulengeschichte der Hochreichsgräflichen Schönburgischen Graf- und Herrschaften, Breslau/Brieg/Leipzig 1787. Dies waren um 1720 circa 2000 Pfarrer, so Crell, Johann Christian (Pseudonym: ICCander), Das gesambte jetzt-lebende geistliche Ministerium im Churfürstenthum Sachsen und incorporierten Landen oder Das blühende Andencken aller in Sachsen lebenden Evangelisch-Lutherischen Prediger, wie solche im Jahre 1720 in Städten und aufm Lande floriret, Leipzig 1720. Vgl. Karl Gottlob Dietmann entstammte einer Familie von Kantoren und Schulmeistern in Gruna bei Weißenfels. Nach dem Besuch der Stiftsschule in Zeitz und des Augusteums in Weissenfels studierte er ab 1743 an der Universität Leipzig. Dort hörte er Vorlesungen in Theologie, Philosophie, Geschichte und Rhetorik bei Romanus Teller, Johann August Ernesti, Christian Gottlieb Jöcher und Johann Christoph Gottsched. Nach langjähriger Tätigkeit als Hauslehrer sowie als Redakteur und Herausgeber gelehrter Zeitschriften in Dresden, wirkte er ab 1756 bis zu seinem Lebensende auf der Pfarrstelle der Kirche „Zu unserer Lieben Frauen“ in Lauban; Vgl. Dornheim, Stefan, Art. Dietmann, Karl Gottlob, in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde e.V., bearb. von Martina Schattkowsky, Online-Ausgabe: http://www.isgv.de/saebi/ (25.09.2010).

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die Bemühungen zu einer überregionalen Erfassung des sächsischen Pfarrstandes, um die sich vor ihm bereits der Dresdner Hofchronist Johann Christian Crell (ab1720) und der Pfarrer Adam Carl Cuno (1769) bemüht hatten.37 Die Formen des Lexikons und des Kompendiums erlebten dabei seit Mitte des 18. Jahrhunderts auch auf regionaler Ebene eine Hochkonjunktur. Sie versuchten das Wissen der Zeit möglichst umfassend und allgemeinverständlich zu kompilieren, ohne dabei aber einem besonderen systematischen oder theoretischen Anspruch zu folgen.38 Dietmann versprach 1752 eine Fortführung, Ausweitung und Verbesserung des Crellschen Werkes.39 Die erstmalige und umfassende biografische Landesaufnahme der gesamten Pfarrerschaft der sächsischen Gebiete samt ihrer lokalen Geschichten und Familiengenealogien und deren kompilierte Herausgabe im Druck, vermochte breite identifikatorische Wirkungen zu entfalten. Immerhin fand sich die Vielzahl verschiedener ortskirchlicher Traditionen nun erstmals in einem gemeinsamen territorialen Rahmen abgebildet. Wie verschiedene Quellen zeigen, versuchte die im 18. Jahrhundert verstärkt einsetzende Eigengeschichtsschreibung im lutherischen Pfarrhaus ihren Geltungsanspruch von Erinnerung über Vollständigkeits-, Anhäufungs- und Überbietungsstrategien zu organisieren. Dabei sollte die Herstellung einer beeindruckenden Totalität, hergestellt durch rationale Methodik, legitimierend auf die dargestellte Standesgeschichte wirken. Beseelt vom Reiz der vermeintlichen Überzeugungskraft rationaler Rechenhaftigkeit beeindruckte beispielsweise im Jahr 1748 der greise Pfarrjubilar Johann Matthias Groß (1676–1748) im fränkischen Marktbergel seine Festgemeinde durch die nüchtern kalkulatorische Bilanzierung seiner 50jährigen Amtszeit: Bei 37

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Crell, Das geistliche Ministerium; Ders., Das gesamte itzt-lebende geistliche Ministerium im gantzen Churfürstenthum Sachsen und incorporirten Landen, auch Ober- und Nieder-Lausitz, oder Das blühende Andencken aller in Sachsen und Laußnitz (...) lebenden Evangelisch-Lutherischen Prediger, wie solche im Jahre MDCCXXIII. in Städten und aufm Lande floriret, Leipzig 1723; Cuno, Adam Christoph Carl, Gesammlete Nachrichten von denen Lebens-Umständen und Schriften Evangelisch Lutherischer Theologen, ingleichen von andern durch besondere Lebens- und Todes-Umstände merkwürdigen Personen geistlichen Standes, welche alle in diesem XVIII. Seculo verstorben sind, nach der Zeit-Ordnung und der Folge ihrer Sterbe- Jahre (...), Erstes Decennium, oder die Jahre von 1701 bis 1710, Leipzig 1769. Beutel, Aufklärung S. 284. So wollte Dietmann unter anderem die Organisationsstrukturen der einzelnen Kirchspiele (Haupt- und Filialkirchen, Anzahl der zugehörigen Dörfer) und die örtlichen Kirchenpatronatsrechte erfassen. Die amtierenden Prediger sollten in ihren biographischen Daten und in ihrer Publikationstätigkeit vorgestellt werden. Ihre Amtsvorgänger sollten jeweils bis zur Reformation zurück verfolgt und mit Namen, gegebenenfalls mit biografischen Daten chronologisch aufgelistet werden. Quantitativ beziehungsweise territorial versuchte Dietmann mit seinem Sammelwerk die zehn Konsistorien, die beiden Markgrafentümer Ober- und Niederlausitz, die beiden Fürstentümer Gotha und Altenburg, die Hochgräflich Reußischen Lande sowie die Herzoglich Weimarischen und Eisenachischen Lande und die Hochfürstlich Schwarzburgischen Lande in Thüringen erfassen. Zudem plante Dietmann, die Pfarrerschaft einiger an Sachsen angrenzender Länder und Gebiete zu berücksichtigen. (Siehe dazu: Dietmann, Vorrede zu: Priesterschaft, 1. Teil, 1. Bd., 1752 unpag.)

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jährlich rund einhundert Predigten, die er im Durchschnitt stets verrichtet habe, hätte er in den vergangenen 50 Jahren ca. 5000 bis 6000 Predigten gehalten.40 Im Vorwort seines von 1727 bis 1746 in drei Bänden herausgegebenen „Lexikon evangelischer Jubel-Priester“ berichtet er von seinem Vorhaben, eintausend lehrhaft-erbauliche „Lebens-Geschichten“ zusammentragen zu wollen. Ein Ziel dass er schließlich mit ca. 1200 Biogrammen übertraf.41 Der Gegenwartsbezug dieser Form biographischer Geschichtsschreibung des 18. Jahrhunderts funktionierte über ihren exemplarischen Charakter. Sie war weniger theologisiert als die noch stärker im heilsgeschichtlichen Kontext stehenden Reformatorenbiographien des 16. und beginnenden 17. Jahrhunderts. Vielmehr zeigt sich in ihnen eine stärkere Tendenz zu pädagogischer Moralisierung. In Bezug auf das geistliche Amtsverständnis hingegen, wird die heilsgeschichtliche Verortung als zentraler Bestandteil des geistlichen Sonderbewusstseins weiterhin gepflegt. Die Form der historischen Biographie, beziehungsweise des Biogrammes, war für den Pfarrer in seinem Verständnis als geistlicher Lehrer besonders attraktiv, da der Mikroskopblick des Biographen sich „besser für das Auffinden und Darstellen exemplarischer Handlungen [eignete] als der „Fernrohrblick“ eines Universalgeschichte schreibenden Historikers.“42 Mit dem Verfassen und schließlich der gedruckten Veröffentlichung einer Biographie in einer Art Lexikon wurde die biographisch erfasste Person nicht zuletzt in den Kreis der besonders angesehenen Personen eingeschrieben, die sich als Handelnde um das „allgemeine Glück“ der Gemeinschaft, beziehungsweise des Staates nützlich gemacht haben. Hier zeigte sich das Bemühen vieler schreibender Pfarrer, die auf dem Evangelium beruhenden, traditionellen Muster

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Groß, Johann Matthias, Vollständige Jubel-Acta, M. Johann Matthiä Großen, Pastoris in Marckt-Bergel und Senioris des Neustädtischen Capituls, Als des bisherigen Auctoris des Historischen Jubel-Priester-Lexici, Nachdem er (...) auch sein eigenes PriesterJubiläum erlebet, und auf erlangte Hoch-Fürstliche Gnädigste Concession, dasselbe offentlich feyerlich zu begehen, Am X. Sonntag p. Trinitat. A. 1748 zu Marckt-Bergel mit Christlichen Solennitäten celebriret hat. Darinnen, nebst der von ihm abgelegten Jubel-Predigt, Auch die von (...) Johann Christian Lerche (...) Hoch-Fürstl. Superintendenten zu Neustadt dabey gehaltene erbauliche Jubel- und Einsegnungs-Rede, nebst vielen Gratulationen enthalten sind. Schwabach 1748, S. 36f. Groß, Johann Matthias, Historisches Lexicon Evangelischer Jubel-Priester, Darinnen eine Ehren-Crone der Alten Ehrwürdigen Lehrer und Prediger, enthalten, Die in Funffzig- und mehr Jährigen Aemtern meistentheils viel erfahren und GOtt geförchtet haben; Nach ihren Geburten, Lebens-Geschichten, wunderbaren Göttlichen Führungen und Schicksalen, unterschiedlich verwalteten Aemtern und edierten Schrifften, auch bey vielen hinzu gesetzten Vorfahren, Nachfolgern, Familien und Anverwandten; wol aus glaubwürdigen Scribenten, als auch aus authentischen Nachrichten, Dem grossen GOTT zu ehren und denen wohlverdienten Dienern des HErrn zu guten Andencken, nach Alphabetischer Ordnung verfasset, 3 Bde., Nürnberg bzw. Schwabach 1727–1746, hier Bd. 1, 1727, Vorrede (unpag.). Olaf Hähner, Historische Biographik. Die Entwicklung einer geschichtswissenschaftlichen Darstellungsform von der Antike bis ins 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M./Berlin/ Bern 1999, S. 50f.

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christlichen Lebens in die zeitgenössischen Diskurse um Gemeinwohl und Glückseligkeit einzuschreiben. Insgesamt entsteht seitens der evangelischen Pfarrerschaft für das 18. Jahrhundert der Eindruck, als wollte sie ihr erodierendes Ansehen durch massive Eigengeschichtsschreibung und Identitätspflege stabilisieren. Dabei bediente sie sich der bereits im 16. Jahrhundert erfolgreich erprobten Erinnerungsstrategien, indem sie sich bemühte, die Wahrheit der Lehre, den Geltungsanspruch der beschriebenen Institution und die Autorität des geistlichen Amtes aus der Vorbildlichkeit der Lebensleistung seiner personalen Träger zu begründen.43 Die enzyklopädische Generalinventur der lokalen Erinnerungs- und Traditionsbestände des lutherischen Pfarrstandes verknüpfte sich im 18. Jahrhundert mit einer aufklärerischen Popularisierungstendenz. Wissenschaftliche Ansätze zur historisch-kritischen Nachprüfbarkeit der Inhalte und die Nutzung neuer medialer Formen bedeuteten aber keinen Abschied von den tradierten pädagogischen, normativen und repräsentativen Funktionen der konfessionellen Geschichtsschreibung. In der Erprobung neuer wissenschaftlicher Methoden und Argumentationsformen gelang es durch Elemente der Modernisierung das Proprium lutherischen Selbstverständnisses zu konservieren.

III. Neben der pietistischen Frömmigkeitsbewegung, die vielerorts die alte Einheit von Kirchengemeinde und Zivilgemeinde aufgelöst hatte, entfachte seit Beginn des 18. Jahrhunderts die Aufklärungsbewegung unter den weltlichen Bildungseliten wie auch im Pfarrstand eine anhaltende Kontroverse über den prinzipiellen Vorrang der Vernunft gegenüber göttlicher Offenbarung. Konfessionelle Dogmatik, die Glaubwürdigkeit der Bibel und die kirchliche Amtsträgerschaft selbst wurden dabei zunehmend Gegenstand kritischer Elitendiskurse. Die verschiedenartigen Reaktionen der lutherischen Pfarrerschaft auf diese Situation schwankten zwischen rationalistisch-selbstreformerischem Aufbruch, orthodoxem Verharren und vermittelnden Positionen. Neben der innerkonfessionell-theologischen Kontroverse traten zunehmend innerkirchliche soziale Spannungen auf, die sich vor allem an Bildungsunterschieden innerhalb des Berufsstandes und an einem sich verschärfenden Gegensatz zwischen angesehenen Stadtpfarrern und häufig abschätzig beurteilten Landpfarrern entzündeten. Die polarisierenden Auseinandersetzungen mit den Prinzipien rationaler Wissenschaftlichkeit hatten den geistlichen Berufsstand bis Mitte des 18. Jahrhunderts zunehmend einer inneren Pluralisierung unterworfen. In dieser von den Zeitgenossen weithin als Krise und als Verwirrung wahrgenommenen Situation, verstärkte sich – insbesondere in Sachsen – eine um Vermittlung und innerkonfessionelle Einheit bemühte Position. Eine „fromme Aufklärung“ sollte die pietistisch43

Vgl. Wolgast, Eike, Biographie als Autoritätsstiftung. Die ersten evangelischen Lutherbiographien, in: Berschin, Walter (Hrsg.), Biographie zwischen Renaissance und Barock, Heidelberg 1993, S. 41–71; Fisch, Aufklärungshistorie, S. 115–133.

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Stabilität durch Tradition?

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frommen und die aufklärerisch-rationalen Reformbewegungen auf der Grundlage einer gemeinsamen lutherischen Tradition zusammen bringen.44 Eine Einigung auf Grundlage des umstrittenen dogmatischen Bekenntnisses schien kaum möglich. Integrativ wirkende Orientierungsmuster für den Pfarrstand bot daher vor allem eine nach wissenschaftlichen Methoden vorgenommene Generalinventur der gemeinsamen Traditionsbestände. Durch weitgehende Verwissenschaftlichung, den Anspruch auf enzyklopädische Totalerfassung und einen aufklärerischen Publikationseifer erhielt die Eigengeschichtsschreibung des sächsischen Pfarrstandes eine neue Quantität und Qualität. Gleichzeitig wurde an christlich-normativen Deutungskonzepten festgehalten und eine absolute Ratio abgelehnt. Das Bekenntnis zur gemeinsamen Geschichte und die Verdichtung der Selbstrepräsentationen durch Erinnerung bot jenseits der Dogmatik eine äußere Stabilisierung für das sich zunehmend pluralisierende Luthertum. Wissenschaftlich-rationale Methodik – zu Beginn noch polarisierender Zündstoff – konnte so schließlich als eine Art Bindekitt wirken. Schließlich empfahl der bereits zitierte Theologe und Görlitzer Rektor Johann Friedrich Neumann 1786 in einem Schulprogramm dem vom Zeitgeschehen verunsicherten Geist neben der Bibel vor allem die Kirchen- und Staatengeschichte zur intensiven und vergleichenden Lektüre. Dies sei die „nützlichste Beschäftigung aller wohldenkenden Patrioten und aufgeklärten Menschen-Freunde.“45

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Der Görlitzer Rektor Johann Friedrich Neumann brachte die angestrebte Synthese einer frommen Aufklärung in seinem Schulprogramm von 1786 auf den Punkt, indem er formulierte: „Ist es zu verwundern, wenn in diesen stürmischen Zeitaltern nach der Reformation noch so viel Dämmerung war? Und wenn diejenige Aufklärung so schwer durchbrechen konnte, von welcher wir nun noch eigentlich zu reden haben? Nach einer kurzen Stille in der letzten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, fiengen gegen das Ende desselben die Wolken schon an zu brechen. Man sahe um sich her; und zugleich ward aller menschliche Geist von neuen rege. Thomasius und Leibnitz auf der einen Seite, verscheuchten die Reste des Aberglaubens und läuterten die Vernunft. Spener und Francke auf der anderen, erweckten den in der äußerlich sichtbaren Kirche ruhig schlummernden Geist des wahren Christenthumes. Dies war der eigentliche und wahre Anfang unserer gemischten, oder vernünftig-christlichen Aufklärung; man scheinet es nur heutzutage fast wieder vergessen zu haben.“ Neumann, Ueber die Aufklärung unsers Zeitalters, S. 8. Neumann, Johann Friedrich, Von der rechten Aufmerksamkeit auf unser Zeit-Alter. Zur Anzeige des Lob- und Dank-Actus oder der so genannten Gregorius-Feyerlichkeit welche den 29. Dec. früh um 9 Uhr am Schluß des Jahres 1786. im Gymnasio wird gehalten werden wozu E. Hochedlen und Hochweisen Rath (...) einladet, Görlitz 1786, S. 8f.

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II. Konfessionelle Pluralisierung und Kultur

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Repräsentation und Kontemplation Gottesdienstliches Leben am sächsischen Hof im 18. und frühen 19. Jahrhundert Gerhard Poppe

An keinem anderen Ort wurden Transzendenzbezug und Konfessionalität an den Höfen des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation so ausdrücklich und auf hohem Niveau kultiviert wie in den Hofgottesdiensten. Deutlicher als an den großen höfischen Festen, die ohnehin meist außerordentlichen Anlässen folgten, lassen sich an den im Laufe des Kirchenjahres wiederkehrenden Gottesdiensten zentrale Gemeinsamkeiten zwischen Herrscher und Volk, Mechanismen höfischer Repräsentation, aber auch potenzielle Korrektive zum herrscherlichen Selbstverständnis ablesen. Die Vorstellung, dass der Herrscher Vorbild für sein Volk sein soll und wie jeder andere Mensch dem christlichen Gott für sein Tun und Lassen verantwortlich ist, blieb trotz der Kluft zwischen den Angehörigen des Adels und den Bürgern ein wesentliches Motiv solcher Gemeinsamkeiten. Andererseits boten die höfischen Gottesdienste den Teilnehmern auch einen Rückzugsraum der Kontemplation, dessen Stellenwert nicht zu gering veranschlagt werden sollte. In der Gestalt der gemeinsamen Konfession gehörte die religiöse Einheit eines Landes im Normalfall zu den wichtigsten Grundelementen frühneuzeitlichen Staatsverständnisses, und Ausnahmen von dieser Norm unterlagen klaren Regelungen. Darum zählte auch die Festlegung des Westfälischen Friedens, dass es in einem Territorium des Reiches öffentlichen Gottesdienst in einer anderen Konfession als der herrschenden nur in den Gesandtschaftskapellen fremder Mächte geben dürfe, zu den Grundpfeilern der öffentlichen Ordnung. Wenn ein Herrscher die Konfession wechselte, hörte der bisherige Hofgottesdienst nicht auf, aber seine veränderte Stellung berührte einen neuralgischen Punkt des Staatswesens. Deshalb bot die Regelung, dass ein einzelner Reichsfürst einen Konfessionswechsel nur noch für seine Person vollziehen konnte und der Status des Landes davon unberührt blieb, eine Art Sicherung gegenüber weiterreichenden Störungen des Zusammenlebens. Trotz dieser elementaren Zusammenhänge sind Umfang, Rang und Gestalt der höfischen Gottesdienste bisher nur ausnahmsweise Gegenstand der historischen Forschung gewesen. Auch die Liturgiewissenschaft hat sich kaum darum bemüht. Für meine nachfolgende Darstellung kann ich eine Besonderheit kaum verleugnen: Ich bin Musikhistoriker, und die Vertreter dieser Zunft interessieren sich für allgemeinhistorische oder liturgische Zusammenhänge vor allem dann, wenn interessante Figuralmusik im Spiel ist. Anderseits hört man unter den Musikwissenschaftlern oft genug Klagen über die mangelnden „Vorarbeiten“, die Historiker und Liturgiewis-

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senschaftler zu Themen dieser Art liefern. Mein primäres Interesse gilt also im Normalfall der anspruchsvollen Kirchenmusik, in zweiter Linie den Gottesdiensten, für die diese Werke komponiert und in denen sie aufgeführt wurden, und erst im Anschluss daran dem gesamten gottesdienstlichen Leben eines Hofes. Da ich aber für den sächsischen Hof die entsprechenden Quellen einmal in der Hand hatte, kann ich Ihnen auch etwas über den zuletzt genannten Punkt erzählen und außerdem darauf verweisen, wie sehr anspruchsvolle und großbesetzte Kirchenmusik ein nicht zu unterschätzendes Segment im Gesamtgefüge höfischer Repräsentation bildete. Andererseits begebe ich mich mit meinen Überlegungen in ein Grenzgebiet zwischen historischer Liturgiewissenschaft, Strukturgeschichte und Musikwissenschaft und setze mich der Gefahr aus, keine der beteiligten Seiten wirklich zufriedenzustellen. Grundsätzlich kann sich die Erforschung von Hofgottesdiensten dieser Zeit – und natürlich auch von anderen Gottesdiensten – nicht nur auf Agenden und Messbücher stützen, weil sonst die Versuchung allzu groß ist, aus allgemein verbindlichen liturgischen Büchern rein deduktive Schlüsse auf die jeweilige konkrete Situation abzuleiten. Gottesdienstformen zählen zwar zu den historischen Phänomenen, die über lange Zeiträume hinweg stabil blieben, deshalb helfen aber oft erst mittelbare Quellen zum Verständnis der jeweiligen konkreten Praxis. Was sich in festen Rhythmen ereignete und in kürzeren oder längeren Abständen regelmäßig wiederkehrte, wurde wie auch in anderen Lebensbereichen oft nicht schriftlich aufgezeichnet. Deshalb geht es zunächst darum, das gottesdienstliche Leben am sächsischen Hof in seinen Grundzügen zu skizzieren. Wo es die Quellenlage ermöglicht, werde ich Teilprobleme erläutern und dabei ein paar Hinweise auf die verwendeten Quellen geben. Dass dabei keine Vollständigkeit zu erwarten ist, versteht sich wohl von selbst. In der evangelischen Schlosskapelle gab es bis zur ihrer Aufhebung ab Trinitatis 1737 jeden Sonn- und Feiertag ab 9 Uhr einen Gottesdienst mit Predigt und teilweise auch mit Kommunion; dazu kam an hohen Feiertagen ab 14 Uhr ein Vespergottesdienst mit Predigt. Vormittagsgottesdienste mit Predigt fanden außerdem jeden Mittwoch und Freitag ab 8 Uhr statt. Daneben gab es jeden Nachmittag ab 15 Uhr eine Betstunde ohne Predigt, deren Aufbau an eine protestantische Vesper angelehnt war.1 Als Quelle für diese Informationen dient zunächst „Das Auf dem höchsten Gipfel seiner Vollkommenheit und Glückseligkeit prangende Königliche Dreßden“ von Johann Christian Crell, genannt Iccander. Bei diesem Büchlein handelt es sich um eine Art Führer für die Gäste der Stadt, in dem neben den evangelischen Gottesdiensten in der zweiten, 1723 erschienenen Auflage immerhin auch der katholische Gottesdienst in der (alten) Hofkirche und der reformierte in französischer Sprache in einem Privathaus Erwähnung finden. Jüdischer Gottesdienst war in Dresden zu

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Detaillierte Informationen zur Ordnung der Predigten (einschließlich der Zuständigkeiten der Hofprediger) in den evangelischen Hofgottesdiensten finden sich bei Gleich, Johann Andreas, Annales Ecclesiastici, oder: Gründliche Nachrichten von der Reformations-Historie Chur-Sächs. Albertinischer Linie, Bd. 1, Dresden/Leipzig 1730, S. 51–63.

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dieser Zeit offiziell verboten, wurde aber nach der Vermutung des Autors weiterhin in Privathäusern gehalten.2 Die chronologisch nächstfolgende Quelle zu den Gottesdiensten in der sächsischen Residenzstadt ist ein Ein-Blatt-Druck aus dem Jahre 1734 – die „Dreßdnische Gottes-Diensts-Ordnung“, deren praktische Bestimmung aus dem Untertitel hervorgeht: „Worinnen ein jeder fleißiger Kirchengänger in einem Augenblick erkennen kan, welchen Tag und welche Stunde in jeder Woche, das gantze Jahr durch alle Predigten, Catechismus-Examina und Bet-Stunden in denen Evangelisch-Lutherischen Kirchen zu Dreßden ihren Anfang nehmen.“ Entsprechend einer solchen Bestimmung werden in diesem Druck neben den evangelisch-lutherischen Gottesdiensten nur die der böhmischen Exulanten in tschechischer Sprache erwähnt. Elf Jahre später erschien zu demselben Zweck die nächste Gottesdienstordnung, eine kleine Broschüre von insgesamt 16 Seiten Umfang, in die unter anderem die ab Trinitatis 1737 erfolgte Verlegung des evangelischen Hofgottesdienstes in die Sophienkirche eingearbeitet ist. Für letztere Kirche ergab sich daraus eine Doppelfunktion als Hof- und Stadtkirche. Einerseits wurde der bis zu diesem Zeitpunkt an Sonn- und Feiertagen ab 7 Uhr in der Sophienkirche stattfindende Gottesdienst ohne Kommunion auf 11.30 Uhr verschoben und andererseits der Beginn des Hofgottesdienstes um eine halbe Stunde auf 8.30 Uhr vorverlegt.3 Auch die Hofgottesdienste am Mittwoch- und Freitagvormittag begannen jeweils eine halbe Stunde früher, ohne dass die Gründe dafür ersichtlich sind. Der bisher in der Sophienkirche am Sonntag ab 14 Uhr gehaltene Nachmittagsgottesdienst blieb dagegen bestehen und wurde lediglich an hohen Feiertagen durch den Vespergottesdienst des Hofes mit Predigt ersetzt, während die aus der Schlosskapelle übernommenen Betstunden ab 15 Uhr weiterhin täglich außer am Sonntag zur gewohnten Zeit stattfanden. Die beiden Ordnungen von 1734 und 1745 stellen den Hofgottesdienst in den Gesamtzusammenhang der evangelischen Gottesdienste in Dresden. So stellt sich die Frage, wie weit dieser Gottesdienst öffentlich zugänglich war und ob die evangelischen Mitglieder des Hofstaates tatsächlich an ihm teilnahmen. Darüber schweigen die Quellen, aber in den Hofdiarien wurde für die Jahre vor und nach 1720 gelegentlich die Teilnahme der Königin Christiane Eberhardine notiert, die nach dem Konfessionswechsel ihres Gatten am lutherischen Bekenntnis festgehalten hatte.4 Taufen, Hochzeiten und Trauergottesdienste waren grundsätzlich nur für Mitglieder der Herrscherfamilie oder herausgehobene Mitglieder des Hofstaats möglich, und die erstere Möglichkeit kam aus den bekannten Gründen im 18. Jahrhundert nicht 2 3 4

Iccander (Crell, Johann Christian), Das Auf dem höchsten Gipfel seiner Vollkommenheit und Glückseligkeit prangende Königliche Dreßden, 2. Aufl., Leipzig 1723, S. 124– 131. Vgl. Des großen Zebaoths höchst-wohlgefällige Gottesdiensts-Ordnung in dem Evangelischen Zion, der Kön. Pohln. und Churfürstl. Sächs. Residentz Dresden, Dresden 1745. Vgl. Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden [im Folgenden: Sächs. HStA Dresden], Oberhofmarschallamt [im Folgenden: OHMA] O Nr. 100 (1719) bis 104 (1723). Aus den folgenden Jahren bis einschließlich 1733 sind diese Diarien nicht mehr erhalten.

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mehr in Frage.5 Auch der musikalische Aufwand blieb gering: Zu den seit altersher vorgesehenen sechs evangelischen Kapellknaben kamen lediglich der Hofkantor, der Vizehofkantor und zwei Organisten unter Leitung des Kapellmeisters und später des Kapell-Direktors.6 Stärker besetzte Figuralmusik mit Instrumenten hatte es zum letzten Mal am Ostersonntag 1704 gegeben.7 Trotzdem behielt der Hofgottesdienst in mancher Hinsicht eine Sonderstellung: So hatte weiterhin jeder in Kursachsen neu berufene Superintendent vor seinem Amtsantritt eine Predigt im evangelischen Hofgottesdienst zu halten. Außerdem gehörte die Predigt an den dritten Tagen der drei hohen Feste Weihnachten, Ostern und Pfingsten zu den Aufgaben des Superintendenten der Kreuzkirche. Gegenüber dem lange etablierten evangelischen Hofgottesdienst blieb die Einführung eines katholischen Hofgottesdienstes nach dem Konfessionswechsel Augusts des Starken von manchen Unwägbarkeiten behaftet. Der Kurfürst hatte nach seinem Konfessionswechsel gegenüber den Ständen die Versicherung abgeben müssen, in Religionssachen alles beim Alten zu lassen. So blieb zunächst nur die Möglichkeit der stillen Messe in den Privatgemächern des Königs und für den katholischen Gottesdienst an hohen Feiertagen ab Weihnachten 1699 die dafür umgebaute Kapelle des Schlosses Moritzburg. Der spätere Umbau des alten Opernhauses am Taschenberg zur ersten katholischen Hofkirche in Kursachsen nach der Einführung der Reformation und ihre Weihe am 5. April 1708 sind vorrangig im Gesamtzusammenhang der politischen Situation dieser Jahre zu verstehen. Zwar hatte August der Starke im Frieden von Altranstädt vom 24. September 1706 gegenüber dem Schwedenkönig Karl XII. nicht nur auf die polnische Krone verzichtet, sondern musste auch das Verbot der freien Religionsausübung für Katholiken in Sachsen garantieren. Nach dem Abzug der Schweden erklärte er jedoch seine Unterschrift für erzwungen und damit ungültig. Um sich – wie schon 1697 – der Unterstützung des Papstes zu versichern, kündigte er an, den Katholiken in Dresden endlich eine Kirche zu eröffnen. Ein Umbau des alten Opernhauses, das ohnehin später durch ein größeres ersetzt 5 6

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Siehe dazu Gleich, Annales Ecclesiastici, S. 68–74. Bis zu seinem Tod am 13. April 1728 war der Oberkapellmeister Johann Christoph Schmidt für die Leitung der Musik in der Schlosskapelle zuständig gewesen. Danach wurde ab 1729 nicht der Hofkapellmeister Johann David Heinichen, sondern der „CammerMusicus“ Pantaleon Hebenstreit als „Capell-Director“ mit der Leitung dieser Musik beauftragt, während Heinichen und seine Nachfolger zusammen mit den Sängern und Instrumentalisten der Hofkapelle für die Musik in der katholischen Hofkirche verantwortlich waren. Bei Gleich, Annales Ecclesiastici, S. 59, ist nach einer ausführlichen Darstellung der Gottesdienstordnung in der Schlosskapelle ausdrücklich vermerkt: „Nachdem aber die Musicanten in der Evangelischen Schloß Capelle ihre Dimission erhalten, werden nur teutsche Lieder mit der Orgel, vom Chor und der Gemeinde, abgesungen.“ Zur Mitwirkung der Hofkapelle bei den evangelischen Gottesdiensten von 1697 bis Ostern 1704 siehe Poppe, Gerhard, Kontinuität der Institution oder Kontinuität des Repertoires? Einige Bemerkungen zur Kirchenmusik am Dresdner Hof zwischen 1697 und 1717, in: Alexander, Walpurga/Stange-Elbe, Joachim/Waczkat, Andreas (Hrsg.), Miscellaneorum de Musica Concentus. Karl Heller zum 65. Geburtstag am 10. Dezember 2000, Rostock 2000, S. 49–81, hier vor allem S. 59–63.

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werden sollte, war dabei eher möglich als die Umwidmung einer vorhandenen evangelischen Kirche.8 Die vom König erlassenen „Reglements du Roi pour l’Eglise et Chapelle royale, ouverte aux Catholiques“ regelten den Rang als Hofkirche, die Anstellung der Geistlichen und sahen auch ein bescheidenes, den Geistlichen unterstehendes eigenes Musikensemble vor. Diese Kirchenordnung wurde im Sommer 1708 nach Rom eingesandt und diente vor allem zur Dokumentation über die Einrichtung einer katholischen Hofkirche gegenüber dem Papst, eignet sich aber kaum als Ausgangspunkt für eine Darstellung der tatsächlichen gottesdienstlichen Praxis.9 Generell blieb der Status dieser Kirche in der Schwebe: Nach katholischer Vorstellung handelte es sich um eine Mission, die mit Jesuitenpatres besetzt wurde und für die die Pfarrrechte der lutherischen Kirchen nicht relevant waren. Dagegen konnte diese Kirche nach der Vorstellung der lutherischen Geistlichkeit überhaupt keine Rechtsstellung beanspruchen und war höchstens für katholische Bedienstete des Hofes zuständig. Daraus ergab sich in den folgenden Jahrzehnten ein ständiges Konfliktfeld – vor allem für Taufen, Trauungen und Beerdigungen.10 Aus katholischer Sicht ist die wichtigste Quelle für diese Konflikte das „Diarium Missionis Societatis Jesu Dresdae“, eine tagesgenaue Chronik und Stoffsammlung der Jesuiten für ihre jährlich an das Generalat des Ordens in Rom zu schreibenden Berichte, die für die Jahre von 1710 bis 1742 und ab 1758 erhalten ist.11 Dieser Chronik 8

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Für die Details siehe Saft, Paul Franz, Der Neuaufbau der katholischen Kirche in Sachsen im 18. Jahrhundert (Studien zur katholischen Bistums- und Klostergeschichte, Bd. 2), Leipzig 1961; Seifert, Siegfried, Niedergang und Wiederaufstieg der katholischen Kirche in Sachsen 1517–1773 (Studien zur katholischen Bistums- und Klostergeschichte, Bd. 6), Leipzig 1964; Meinert, Günther, Die erste katholische Hofkirche in Dresden – Entstehung und kunstgeschichtliche Würdigung, in: Bulang, Heinrich/Gülden, Josef/ Seifert, Siegfried (Hrsg.), Unum in veritate et laetitia. Bischof Dr. Otto Spülbeck zum Gedächtnis, Leipzig 1970, S. 322–344. Die „Reglements du Roi pour l’Eglise et Chapelle royale, ouverte aux Catholiques“ sind abgedruckt bei Theiner, Augustin, Geschichte der Zurückkehr der regierenden Häuser von Braunschweig und Sachsen in den Schoß der Katholischen Kirche im achtzehnten Jahrhundert, und der Wiederherstellung der Katholischen Religion in diesen Staaten, Einsiedeln 1843, Anhang S. 75–87. Zum Stellenwert von Theiners Darstellung siehe Poppe, Gerhard, Kontinuität, S. 74f. Siehe dazu Rosseaux, Ulrich, Das bedrohte Zion: Lutheraner und Katholiken in Dresden nach der Konversion Augusts des Starken (1697–1751), in: Lotz-Heumann, Ute/ Mißfelder, Jan-Friedrich/Pohlig, Matthias, Konversion und Konfession in der Frühen Neuzeit (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte, Bd. 205), Gütersloh 2007, S. 212–235. Dieses Diarium wurde erstmals in den 1930er Jahren ausgewertet von Paul Franz Saft, dessen Darstellung Der Neuaufbau der katholischen Kirche in Sachsen im 18. Jahrhundert aber erst 1961 erschien. Nach 1945 galt das Diarium Missionis jahrzehntelang als verschollen und wurde erst 1985 zusammen mit anderen Manuskripten bei Aufräumungsarbeiten hinter der Orgelempore der Katholischen Hofkirche wiedergefunden. Seit der Wiederauffindung hat es fast ausschließlich in der musikwissenschaftlichen Literatur Beachtung gefunden. Siehe dazu Poppe, Gerhard, Ein weiterer Faszikel aus dem Diarium Missionis Societatis Jesu Dresdae wiederaufgefunden, in: Jahrbuch Mitteldeutsche Barockmusik 8 (2006), S. 193–204.

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kann auch entnommen werden, dass sich in kurzer Zeit eine Gottesdienstordnung etablierte, die Gottesdienste aber hinsichtlich ihres äußeren Aufwandes bescheiden blieben. Vor allem die notwendigen Paramente und liturgischen Geräte mussten in den ersten Jahren erst aus Böhmen beschafft werden. Nach den Informationen des „Diarium Missionis“ gab es jeden Sonntag stille Messen ab 7 und 8 Uhr, auf die ab 9 Uhr eine Predigt folgte. Um 10 Uhr begann das Hochamt vor ausgesetztem Sanctissimum, auf das ab 11 Uhr eine weitere stille Messe folgte. Diese Zeiten für die Sonntagsgottesdienste unterlagen in den beiden folgenden Jahrzehnten noch manchen Veränderungen. Erst die 1737 eingeführte Regelung mit dem Beginn der Predigt ab 10.30 Uhr und dem Beginn des Hochamtes um 11 Uhr blieb bis in die Jahre des Zweiten Weltkrieges bestehen. Dazu kamen die stillen Messen an den Werktagen, die Vespern an Sonn- und Feiertagen nach der Ordnung des „Breviarum Romanum“ und verschiedene Andachten. An den Freitagen der Fastenzeit gab es nachmittags eine Fastenpredigt, die von dem figuraliter musizierten Bußpsalm „Miserere“ und Gebeten, dem „Pange lingua“ mit dem sakramentalen Segen sowie dem Lied „O Lamm Gottes unschuldig“ eingerahmt war. Außerdem wurden die spezifisch katholischen Feste begangen, die allerdings keine öffentlichen Feiertage waren – vor allem das Fronleichnamsfest und die Gedenktage der Heiligen des Jesuitenordens. Als Hofkirche trat diese Kirche dagegen zunächst nur ausnahmsweise – nämlich bei der seltenen Anwesenheit des Königs oder anlässlich besonderer Gelegenheiten, bei denen das „Te Deum laudamus“ gesungen wurde – in Erscheinung. Ebenso verblieb die Kirchenmusik zunächst auf einem eher bescheidenen Niveau.12 Einen folgenreichen Einschnitt für die Geschichte des katholischen Gottesdienstes bedeutete die Vermählung des sächsischen Kurprinzen Friedrich August mit der Erzherzogin Maria Josepha. War das Paar bei seinem Einzug in Dresden am 3. September 1719 bereits mit einem „Te Deum laudamus“ in der katholischen Hofkirche begrüßt worden, so stellte sich nach dem Ende der einen Monat dauernden Hochzeitsfeierlichkeiten die Frage, welche Position es künftig im Gesamtgefüge der Hofhaltung einnehmen und welchen Einfluss dies auf den katholischen Gottesdienst haben würde. Im Gegensatz zum König war das Interesse des 1712 in Bologna konvertierten Kurprinzen und der Kurprinzessin am Leben der wachsenden katholischen Gemeinde offenkundig. Beide sorgten für eine reichere Ausstattung der Kirche, und Pfingsten 1721 begann die zunächst sporadische, in der Folge aber immer häufigere Mitwirkung der Hofkapelle bei den Gottesdiensten an hohen Festtagen. Das galt zunächst für die Hochämter und Vespern an den hohen Festen Weihnachten, Ostern und Pfingsten, die in Sachsen ohnehin staatliche Feiertage waren und jeweils drei Tage lang begangen wurden. Dazu kamen die spezifisch katholischen 12

Zur Kirchenmusikpraxis dieser Zeit siehe vor allem Reich, Wolfgang, Das Diarium Missionis Societatis Jesu Dresdae als Quelle für die kirchenmusikalische Praxis, in: ZelenkaStudien II. Referate und Materialien der 2. Internationalen Fachkonferenz Jan Dismas Zelenka (Dresden und Prag 1995), Sankt Augustin 1997, S. 43–57, und Poppe, Gerhard, Dresdner Hofkirchenmusik von 1717 bis 1725 – über das Verhältnis von Repertoirebetrieb, Besetzung und musikalischer Faktur in einer Situation des Neuaufbaus, in: Jahrbuch Mitteldeutsche Barockmusik 6 (2004), S. 301–342.

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Feste wie Fronleichnam und das Fest des heiligen Franz Xaver sowie ein jährliches Requiem am Sterbetag von Kaiser Joseph I., dem Vater der Kurprinzessin. Der Kapellmeister Johann David Heinichen (übrigens ein Protestant), der „Compositeur de la musique italienne“ Giovanni Alberto Ristori und der aus Böhmen stammende Kontrabassist Jan Dismas Zelenka schufen zahlreiche neue Kompositionen oder bearbeiteten Werke fremder Komponisten für den Dresdner Gebrauch. Diese Beteiligung der Hofkapelle an der Ausgestaltung der Gottesdienste in der katholischen Hofkirche blieb zunächst an das persönliche Interesse des Kurprinzenpaares gebunden. Daneben gab es private Initiativen von katholischen Mitgliedern der Hofkapelle: Dies betraf die Feier des Cäcilienfestes (die Patronin der Musiker), aber auch die Musik zu Totenmessen für verstorbene Kollegen. Andererseits wurde mit der Ausweitung der Aktivitäten der Hofkapelle das bestehende Hofkirchenensemble von seinen Verpflichtungen an den hohen Festen entlastet und stand für neue Aufgaben zur Verfügung. In diesen Zusammenhang gehören die Einführung der Andachten am Samstagnachmittag (und natürlich auch an den Nachmittagen vor Feiertagen) mit den „Litaniae lauretanae“, der jeweiligen marianischen Antiphon und dem „Sub tuum praesidium“ ab Herbst 1727 sowie die Ausweitung der schon genannten Miserere-Andachten ab 1730 auf alle Tage außer Samstag und Sonntag in der Fastenzeit. Trotzdem ist die Paradoxie der entstandenen Situation nicht zu übersehen: Während der äußere Aufwand für die Gottesdienste in der katholischen Hofkirche in den 1720er Jahren ständig zunahm, behielt der im äußeren Aufwand bescheidenere protestantische Hofgottesdienst in protokollarischer Hinsicht den Vorrang. Dies lässt sich vor allem an drei Beispielen ablesen: Wenn in diesen Jahren anlässlich der Geburt eines Prinzen oder einer Prinzessin in allen Dresdner Kirchen gleichzeitig ein „Te Deum laudamus“ gesungen wurde, wurden in Dresden traditionell am Anfang, in der Mitte des Gesangs und am Ende Geschützsalven von Festungswällen abgefeuert; dazwischen gab es weitere Salven der Infanterie. Diese Salven orientierten sich an dem „Te Deum laudamus“ in der evangelischen Schlosskapelle, während die gleichzeitige Musik in der katholischen Hofkirche sich wiederum nach dem Gesang in der Schlosskapelle zu richten hatte. Anders wirkte sich die Situation nach dem Tod der Kurfürstin und Königin Christiane Eberhardine am 5. September 1727 aus, als die viermonatige Landestrauer ein Schweigen der Figuralmusik in allen evangelischen Kirchen zur Folge hatte. Die katholische Hofkirche wurde von den Hofbehörden so wenig beachtet, dass der Kurprinz die Musiker am folgenden Tage anweisen konnte, die Aufführungen wie gewöhnlich fortzusetzen.13 Ähnliches geschah nach dem Tod Augusts des Starken: Wie beim Tod der Herrscher im 17. Jahrhundert war eine in allen Kirchen Sachsens gleichzeitig an einem Nachmittag zu haltende Trauerpredigt vorgesehen, an die sich am darauffolgenden Vormittag die Erbhuldigung in der Residenzstadt anschloss. Erst am Nachmittag des zweiten Tages konnten die Exequien

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Siehe dazu Poppe, Dresdner Hofkirchenmusik von 1717 bis 1725 – über das Verhältnis von Repertoirebetrieb, Besetzung und musikalischer Faktur in einer Situation des Neuaufbaus, hier S. 306.

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in der katholischen Hofkirche mit dem Totenoffizium beginnen.14 Sie wurden mit hohem Aufwand – sowohl für das Castrum doloris als auch hinsichtlich der Musik – durchgeführt, mussten aber faktisch hinter verschlossenen Türen stattfinden. Erst August III. beseitigte die zugrundeliegende Diskrepanz: Ab Sommer 1733 gebührte dem katholischen Hofgottesdienst auch in protokollarischer Hinsicht der Vorrang, was sich vor allem an den außerordentlichen Anlässen für die Aufführung eines „Te Deum laudamus“ ablesen lässt.15 In die Regierungszeit von August III. fallen ab 1739 der Bau und am Fest Peter und Paul (29. Juni) 1751 die Weihe der neuen katholischen Hofkirche. Zu den baulichen Besonderheiten dieser Kirche gehört der Prozessionsumgang zwischen dem Hauptschiff einerseits und den vier Kapellen und dem Seitenschiff andererseits, der die Beschränkung öffentlicher Prozessionen und damit eine wichtige Seite des katholischen Hofgottesdienstes spiegelt. Dieser Umgang ermöglichte eine Fronleichnamsprozession mit vier Stationen innerhalb der Kirche. Im Diözesanarchiv in Bautzen ist ein handschriftlicher „Ordo Processionis in Festo SS. Corporis Christi“ erhalten, der nicht nur die Anlehnung an die böhmische Praxis bei der Feier des Fronleichnamsfestes erkennen lässt, sondern auch die exakte Zuordnung der für die Prozession komponierten Musik erlaubt.16 Die Gottesdienstordnung änderte sich nach der Weihe der neuen Hofkirche nur noch in wenigen Details. Dies gilt vor allem für die Gottesdienste mit feierlicher Musik und dem damit verbundenen Kirchendienst der Hofkapelle, der bis 1831/32 mit nur wenigen Ausnahmen konstant blieb. An allen Sonn- und Feiertagen des Jahres gab es Figuralmusik zum Hochamt ab 11 Uhr und zur Vesper ab 16 Uhr. Jeden 14

15 16

Dies spiegelt sich in einer Anfrage des Hofes vom 16. März 1733 an das Oberkonsistorium in Dresden wegen der Terminfestlegung für die in allen Kirchen des Landes zu haltende Trauerpredigt und eine Reihe damit im Zusammenhang stehender Details. Diese Anfrage beantwortete das Oberkonsistorium am 21. März, und auf dessen Vorschlag wurde die Trauerpredigt schließlich auf den 14. April angesetzt. Weil die erste Erbhuldigung in der Residenzstadt traditionell am Vormittag nach der Trauerpredigt stattfand, ergaben sich als Termine für das Totenoffizium der Nachmittag des 15. April und für das solenne Requiem der Vormittag des 16. April sowie die Vormittage der beiden folgenden Tage für weitere Totenmessen. Siehe dazu Sächs. HStA Dresden, Loc. 781, Das Absterben Ihrer Königl. Majestät in Pohlen und Churfürstl. Durchlaucht zu Sachsen Herrn Friedrich August Ao. 1733, fol. 127–144, und Poppe, Gerhard, Kontinuität oder Neubeginn – Zur Anfangssituation der Ära Hasse in Dresden, in: Wiesend, Reinhard (Hrsg.), Johann Adolf Hasse in seiner Zeit. Bericht über das Symposium vom 23. bis 26. März 1999 in Hamburg, Stuttgart 2006, S. 305–315, hier vor allem S. 308f. Siehe dazu Poppe, Gerhard, Das Te Deum laudamus in der Dresdner Hofkirchenmusik – liturgische und zeremonielle Voraussetzungen, Repertoire und musikalische Faktur, in: Archiv für Musikwissenschaft 63 (2006), S. 186–214, hier vor allem S. 194–200. Diözesanarchiv des Bistums Dresden-Meißen in Bautzen, Lit. III 64. Am Ende des Manuskripts sind dieselben Texte in einer gedruckten Version aus dem Jahre 1913 und eine weitere, maschinengeschriebene Prozessionsordnung aus der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen mit einigen zusätzlichen Liedern in deutscher Sprache eingefügt. Der Stempel „Praepositur Eccl. cath, Dresdensis“ stammt frühestens von 1923, da die Hofkirche in diesem Jahr den kirchenrechtlichen Status als Propsteikirche erhielt, und weist hin auf eine Verwendung bis in die Jahre nach dem Ersten Weltkrieg.

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Samstag und vor allen wichtigen Feiertagen wurde ab 16 Uhr eine Andacht mit den „Litaniae lauretanae“, der jeweiligen marianischen Antiphon nach der Kirchenjahreszeit und dem „Sub tuum praesidium“ gehalten. An den Hochfesten Weihnachten, Ostern und Pfingsten schloss sich die Gottesdienstordnung in der Hofkirche der staatlichen Regelung an, die in Sachsen jeweils drei Feiertage vorsah. Ebenfalls ein hohes Gewicht hatten das Fronleichnamsfest und das Fest des heiligen Franz Xaver – als des besonderen Patrons des katholischen Hauses Wettin – am 3. Dezember, die jeweils mit Oktav begangen wurden. Neben dem Festhochamt und der Vesper (und am Fronleichnamstag der Prozession innerhalb der Kirche) fanden eine Woche lang täglich ab 16 Uhr Andachten mit den figuraliter musizierten „Litaniae de Venerabili altaris Sacramento“ oder „Litaniae Xaverianae“ statt. Dazu kam am Vormittag des Oktavtages jeweils ein weiteres Hochamt. Von den übrigen Heiligenfesten wurden in der Hofkirche vor allem sechs Marien- und neun Apostelfeste, aber auch sechs weitere Heiligenfeste mit der Nachmittagsandacht am Vortag sowie dem Hochamt und der Vesper begangen. Bei den Heiligenfesten in der Fastenzeit trat an Stelle der feierlichen Vesper am Nachmittag die ebenfalls figuraliter musizierte Komplet. Dies geschah immer am Josefstag, aber je nach dem wechselnden Ostertermin auch am Fest des Apostels Matthias sowie am Fest Mariä Verkündigung. Bei weiteren elf Heiligengedenktagen beschränkte sich der liturgische und musikalische Aufwand auf ein feierliches Hochamt am Vormittag. Dies galt auch für das Fest Mariä Opferung, an dem zugleich der Konversion des damaligen Kurprinzen (und späteren Stifters der Kirche) am 21. November 1712 in Bologna gedacht wurde. Von all diesen Festen waren auch im 18. Jahrhundert nur wenige wie Mariä Reinigung, Mariä Verkündigung und Mariä Heimsuchung staatliche Feiertage. Das bedeutete umgekehrt, dass viele Heiligenfeste, die mit relativ großem Aufwand begangen wurden, für den Bürger ganz normale Arbeitstage waren. Am Fest des Evangelisten Markus am 25. April hatte es in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts während der stillen Messe um 10 Uhr die figuraliter musizierten „Litaniae Omnium Sanctorum“ gegeben. Mit dem 1762 auf Initiative der Kurprinzessin Maria Antonia Walpurgis an diesem Tag eingeführten Titularfest „Maria vom guten Rat“ wurde diese Praxis endgültig durch ein feierliches Hochamt ersetzt. Dagegen fand die beschriebene Verbindung von stiller Messe mit der Allerheiligenlitanei weiterhin an den drei Tagen vor dem Fest Christi Himmelfahrt, den sogenannten Bittagen, ihren Platz. Die von der Kurprinzessin bei ihrer Rückkehr aus München mitgebrachte Verehrung des Gnadenbildes „Maria vom guten Rat“ hatte aber nicht nur die Einführung des Titularfestes, sondern auch die Einrichtung von Novenen zur Folge, die an den Vortagen von sechs Marienfesten begannen und innerhalb derer neun Tage lang jeden Vor- und Nachmittag der Rosenkranz gebetet wurde. Ihren Abschluss fanden diese Novenen am jeweils letzten Tag um 10 Uhr mit einem feierlichen Hochamt und anschließendem „Te Deum laudamus“.17 Seit 1730 gab es 17

Zur Einführung dieses Festes und der dazugehörigen Novenen siehe Wuschanski, Georg, Geschichte des Gnadenbildes „Maria, Mutter des guten Rathes“ zu Genazzano, in: St. Benno-Kalender 43 (1893), S. 46–62, vor allem S. 60f.

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in der Fastenzeit täglich von Montag bis Freitag die bereits beschriebene MiserereAndacht unter Beteiligung der Hofkapelle, wobei aber nur freitags gepredigt wurde. Am Palmsonntag begann die Palmweihe um 9 Uhr; es folgten um 10 Uhr die Predigt und anschließend das Hochamt mit gesungener Passion nach Matthäus. In der Karwoche wurden am Mittwoch, Gründonnerstag und Karfreitag jeweils um 16 Uhr die Metten gehalten. Gründonnerstag begann die Predigt bereits um 9 Uhr, und es folgten das Hochamt und anschließend die Prozession mit der Übertragung des Sanctissimum in die Sakramentskapelle. Die Karfreitagsliturgie begann – wiederum nach einer Predigt – um 9.30 Uhr und endete mit der Prozession zur Darstellung des Heiligen Grabes in der Kreuzkapelle. Die ,Osternacht’ wurde schließlich am Morgen des Karsamstags ab 8 Uhr gehalten. Bis 1756 gab es außerdem am Abend des Karfreitags und am Nachmittag des Karsamstags jeweils die Aufführung eines italienischen Oratoriums. Nach dem Siebenjährigen Krieg blieb nur noch der zweite Termin für eine derartige Aufführung bestehen: Bis einschließlich 1825 – und damit länger als an jedem anderen Ort nördlich der Alpen – wurde in Dresden am Nachmittag des Karsamstags ein italienisches Oratorium aufgeführt. Am Ende der Karwoche stand die Auferstehungsandacht am Vorabend des Ostersonntags ab 18 Uhr mit dem figuraliter musizierten „Te Deum laudamus“ und „Regina coeli“. Am Vorabend des Weihnachtsfestes gab es zunächst die übliche Nachmittagsandacht mit den „Litaniae lauretanae“, auf die ab 22.30 Uhr die Mette, dann eine halbstündige Predigt und anschließend ab 24 Uhr die Mitternachtsmesse folgten.18 Der Neujahrstag wurde als Oktavtag von Weihnachten und Fest der Beschneidung Christi mit Hochamt und Vesper begangen; dazu kam am Silvestertag um 16 Uhr die reguläre Andacht, auf die an diesem Tag das „Te Deum laudamus“ folgte. Das Gedenken an die Verstorbenen am Allerseelentag begann am späten Nachmittag des Vortages mit der Totenvesper; es folgten am Tag des Festes selbst um 9 Uhr die Metten und anschließend ein feierliches Requiem. Weitere Totenmessen mit Figuralmusik gab es am 3. November zum Gedenken an die Verstorbenen des Hauses Wettin und am 5. November zum Gedenken an die verstorbenen Geistlichen der Hofkirche. Seit den Jahren nach dem Siebenjährigen Krieg wurde außerdem der beiden Stifter der Kirche, August III. († 5. Oktober 1763) und Maria Josepha († 17. November 1757), sowie der jeweils letztverstorbenen Herrscher an ihren Todestagen mit einem Requiem gedacht. Zu den bisher genannten Aufgaben der Hofkapelle konnten noch Gottesdienste aus besonderem Anlass kommen: Dazu gehörten ein „Te Deum laudamus“ anlässlich wichtiger politischer und militärischer Ereignisse sowie der Geburt eines Prinzen oder einer Prinzessin oder Totenoffizium und Requiem, wenn ein Mitglied des Herrscherhauses verstorben war. Insgesamt ergibt sich aus den bisherigen Angaben auch bei günstigen kalendarischen Verhältnissen ein Gesamtumfang von jährlich mehr als 300 Gottesdiensten, bei denen die Hofkapelle für die Figuralmusik zu sorgen hatte. Lediglich in den Messen und Metten der Karwoche wurden überwiegend a cappella oder mit Orgelbegleitung auszuführende Werke musiziert. Verän18

Ab 1798 fiel die Predigt weg, und die Mette begann erst ab 23 Uhr.

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derungen innerhalb der Zeit von 1733 bis 1832 bewegen sich im Bereich von weniger als 5 Prozent. Die Musikaufführungen zu den Gottesdiensten in der Hofkirche wurden auch im Sommer beibehalten, wenn sich der Hof – in der Regel von Mai bis September – in Pillnitz aufhielt. Zu besonderen Festen wie am Fronleichnamstag kam der Herrscher mit seinem Gefolge eigens in die Stadt.19 An dieser Stelle stellt sich die Frage, wie weit die Herrscherfamilie an diesem aufwendigen gottesdienstlichen Leben tatsächlich teilnahm. Für eine Beantwortung fehlen aus dem 18. Jahrhundert aussagekräftige Quellen; lediglich aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert stehen mit dem „Dresdner Residenz-Calender“ für die Jahre von 1804 bis 1808 und dem „Dresdner Calender zum Gebrauch der Residenz“ ab 1809 solche zur Verfügung. Diese Kalender dienten offenbar zur allgemeinen Orientierung über das Hofleben, soweit es für Angehörige und Bediente des Hofes selbst, aber auch für Bürger der Residenzstadt von Bedeutung war oder sein konnte, und ermöglichten zugleich den Angestellten eine detaillierte Planung ihrer dienstlichen Aufgaben. Daneben wird die Kirchenmusik in der Hofkirche (und zunächst auch in den Stadtkirchen) im Hinblick auf die gewachsene öffentliche Aufmerksamkeit behandelt. Im Mittelpunkt des Interesses stehen aber zunächst die Gala- und Trauertage, an denen für die Mitglieder des Hofstaats das Tragen der entsprechenden Kleidung vorgeschrieben war. Daneben wird ausdrücklich das „Antichambre“ vermerkt. Gewöhnlich fanden sich bei einem offiziellen Kirchgang die diensthabenden Adligen eine Viertelstunde vor Beginn des jeweiligen Gottesdienstes in den Vorzimmern ein und begleiteten den Herrscher und seine Familie auf dem Weg zu ihren Plätzen auf der Empore links und rechts des Altarbildes. War das „Antichambre“ an einer Reihe von Feiertagen bereits eine Dreiviertelstunde vor Beginn des vormittäglichen Hochamtes, so bedeutete dies, dass die Herrschaften bereits bei der um 10.30 Uhr beginnenden Predigt in der Kirche anwesend waren.20 Das Gegenteil von „Antichambre“ wird in diesen Kalendern als „gewöhnlich“ bezeichnet. An diesen Tagen nahm das Herrscherhaus nicht oder zumindest nicht offiziell am Gottesdienst in der Hofkirche teil. Für die Figuralmusik hat diese Unterscheidung jedoch keine Bedeutung. Aus diesen Kalendern geht außerdem hervor, dass der Hof an weiteren Gottesdiensten teilnahm, bei denen die Kirchenmusik keine Rolle spielte. Dazu gehörte das Vierzigstündige Gebet vor ausgesetztem Sanctissimum in der Kapelle des Josephinenstifts, bei dessen Beginn am Vormittag des Fastnachtsdienstags das Herrscherhaus in der Regel anwesend war. Die Oktaven der Feste des heiligen Johannes Nepomuk (16. Mai), des heiligen Benno (16. Juni) und des heiligen Erzengels Michael 19

20

Dies ist natürlich nur eine summarische Zusammenfassung. Zu weiteren Details einschließlich einer Diskussion der verwendeten Quellen siehe Poppe, Gerhard, Dienstordnung und Repertoireaufbau in der Dresdner Hofkirchenmusik von 1764 bis 1832, in: Gervink, Manuel/Heidlberger, Frank/Ziegler, Frank (Hrsg.), Weber-Studien Band 8. Tagungsbericht Dresden 2006 sowie weitere Aufsätze und Quellenstudien, Mainz u. a. 2007, S. 193–250. Für einen klärenden Hinweis zur Praxis des „Antichambre“ danke ich Herrn Prof. Dr. Josef Matzerath.

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(29. September) wurden mit täglichen Nachmittagsandachten in der katholischen Kirche in der Friedrichstadt begangen. An jeweils einer der Andachten innerhalb der Oktav – meist an einem Samstag – nahmen die Mitglieder des Herrscherhauses teil. Innerhalb der Oktav nach dem Fest des heiligen Franz Xaver war das Herrscherhaus nicht bei den täglichen Nachmittagsandachten mit den figuraliter musizierten „Litaniae Xaverianae“, sondern bei den ebenfalls täglichen stillen Messen ab 11 Uhr vormittags anwesend. In der Heiligen Nacht ließ das Herrscherhaus in dem hier behandelten Zeitraum die ab 22.30 Uhr und später ab 23 Uhr beginnende Mette aus und kam erst zur Mitternachtsmesse ab 24 Uhr hinzu. Die Unterschiede zwischen dem äußeren, vor allem musikalischen Aufwand für die Gottesdienste und der tatsächlichen Teilnahme des Herrscherhauses zeigen sich besonders deutlich in der Karwoche. Bei allen in der nachfolgenden Übersicht mit „A“ (Antichambre) gekennzeichneten Gottesdiensten war die Familie des Herrschers, soweit nicht durch Krankheit gehindert, in der Regel anwesend, während die Betstunden von einzelnen Mitgliedern nacheinander besucht wurden. Palm-Sonntag

Mittwoch Gründonnerstag

Karfreitag

A

10 Uhr

A A A

16 Uhr 16 Uhr 7 Uhr

A

9 Uhr

A A

16 Uhr 9 Uhr

A A

14 Uhr 16 Uhr 19 Uhr

Karsamstag

Oster-Sonntag

A A A A A

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ab 7 Uhr 10 Uhr 15 Uhr 18 Uhr 10 Uhr 10.30 Uhr 13 Uhr 16 Uhr

Predigt, danach Hochamt mit Passion (bis etwa 12 Uhr) Vesper Metten (bis etwa 18 Uhr) stille Messe mit öffentlicher Kommunion (bis etwa 8 Uhr) Predigt und Hochamt, danach ab 10.30 Uhr Prozession mit dem Sanctissimum in die Sakramentskapelle Metten (bis etwa 18 Uhr) Predigt, danach Passion und Zeremonien, ab etwa 11 Uhr Prozession (bis etwa 11.30 Uhr) Besuch des Heiligen Grabes Metten (bis etwa 17.30 Uhr) nacheinander Betstunden beim Heiligen Grab Betstunden am Heiligen Grab Messe (bis etwa 10.45 Uhr) Oratorium Auferstehungsfeier (bis etwa 18.30 Uhr) Essen des Osterlamms Predigt und Hochamt Familientafel Vesper

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Angesichts eines derart opulenten „geistlichen Programms“ für die Mitglieder des Herrscherhauses in der Karwoche stellt sich die Frage nach möglichen Veränderungen im Laufe des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts. Aus den genannten Kalendern lassen sie sich nur bedingt ablesen. Ein Beispiel sei hier trotzdem genannt: Bis 1822 nahmen die Mitglieder der Herrscherfamilie jeden Freitagnachmittag der Fastenzeit an den Miserere-Andachten mit der Fastenpredigt teil. Ab 1823 kamen sie nur noch am ersten Freitag der Fastenzeit, und ab 1830 auch zu diesem Termin nicht mehr. So bleibt als letztes die Frage nach der für das Jahr 1832 angenommenen Zäsur. Sie betrifft wiederum die Kirchenmusikpraxis und damit die ,Außenseite’ des katholischen Hofgottesdienstes. Im Zusammenhang mit der Einführung der ersten sächsischen Verfassung gab es 1831/32 erstmals einen wirklichen Einschnitt, weil mit der Trennung der Budgets für die Hofhaltung einerseits und die Landesverwaltung andererseits Hoftheater und -kapelle zur „Civilliste“ kamen. Dies bedeutete Kürzungen des Etats für beide Einrichtungen, die die Schließung des italienischen Departements der Hofoper, aber auch den Wegfall der Kirchenmusik an den meisten Apostel- und anderen Heiligenfesten zur Folge hatten. Die Teilnahme an den Gottesdiensten von Seiten des Herrscherhauses selbst dürfte davon kaum berührt worden sein, aber hier fehlen für die Details wiederum bis auf Weiteres aussagekräftige Quellen.

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Franz Benda (1709–1786) und Johann Gottlieb Naumann (1741–1801) Zwei protestantische Musiker im Dienste des sächsischen Hofes Kornél Magvas

Das Jahr 1709 bedeutet eine wichtige Zäsur für die Kirchenmusik am kurfürstlichsächsischen Hof. Nach der 1697 erfolgten, politisch motivierten Konversion des sächsischen Kurfürsten Friedrich August I. zum Katholizismus war eine Neuordnung der Hofmusik notwendig geworden, die sich in der Einrichtung eines entsprechenden Hofkirchenensembles niederschlug. Unter der erzieherischen Leitung der Jesuiten bildete man im Herbst 1709 ein Vokalensemble aus böhmischen katholischen Knaben, zu dem gelegentlich Mitglieder der Hofkapelle hinzutraten. Diese recht bescheidenen Anfänge wurden mit der Konversion des Kurprinzen Friedrich August II. 1712 und seiner Heirat mit Erzherzogin Maria Josepha von Österreich im Jahre 1719 gefestigt. Trotz der zunehmenden Entfaltung der katholischen Kirchenmusik in den 1720er Jahren, die vor allem der stärkeren Einbindung der Hofkapelle zu verdanken ist, erlangte erst mit dem Tode August des Starken im Jahre 1733 und dem darauffolgenden Regierungsantritt Friedrich Augusts II./Augusts III. der katholische Hofgottesdienst den endgültigen Vorrang vor dem evangelischen.1 Im Folgenden wird es darum gehen, die Konsequenzen der skizzierten Veränderungen für die Hofkapellmusiker und ihre musikalischen Leiter zu untersuchen. Insbesondere geht es dabei im diese Fragen: Gab es Auswirkungen auf die personelle Besetzung der Musiker? Oder lässt sich ein konfessionelles Konfliktpotential bei protestantischen Kirchenmusikern konstatieren? Vordergründig scheint es für die Musiker in beruflicher Hinsicht keinerlei Einschnitte gegeben zu haben. Gemeinsam arbeiteten protestantische und katholische Musiker am Hofe und widmeten sich unabhängig von ihrer Konfessionszugehörigkeit den zentralen Aufgaben der Opern- und Kirchenmusikpflege. Von den zwölf der für die katholische Hofkirchenmusik im 18. Jahrhundert verantwortlichen „Kir1

Vgl. dazu: Seifert, Siegfried, „Das Diarium Missionis Societatis Jesu Dresdae ab anno 1719 als Quelle für Festordnung und Liturgie an der Dresdner katholischen Hofkirche“, in: Gattermann, Günter (Hrsg.), Zelenka-Studien II. Referate und Materialien der 2. Internationalen Fachkonferenz Jan Dismas Zelenka (Dresden und Prag 1995) (Deutsche Musik im Osten, Bd. 12), Sankt Augustin 1997, S. 30; Poppe, Gerhard, „Dresdner Hofkirchenmusik von 1717 bis 1725 – über das Verhältnis von Repertoirebetrieb, Besetzung und musikalischer Faktur in einer Situation des Neuaufbaus“, in: Jahrbuch Mitteldeutsche Barockmusik 6 (2004), S. 301–342 hier S. 303–307.

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chen-Compositeurs“ waren zwar die meisten Katholiken, doch gab es auch zwei Lutheraner, die in hohem Maße für das Aufblühen der Kirchenmusik verantwortlich zeichnen: Johann David Heinichen in den 1720er Jahren und Johann Gottlieb Naumann im letzten Drittel des 18. Jahrhundert. Sucht man nach Indizien für Glaubensreflexionen, gar für innere Gewissenskonflikte, liegt es auf der Hand Quellen aus dem persönlichen und privaten Bereich – Briefe, autobiographische Skizzen, Überlieferungen von Zeitgenossen – zu untersuchen. Darüber hinaus kann der Blick auf das künstlerische Schaffen manche Aussage, die die Religionspraxis betrifft, noch ergänzen. Von Kapellmeister Heinichen, dessen Hauptbetätigungsfeld von 1721 bis zu seinem Tod 1729 die katholische Kirchenmusik war2, liegen keine biographischen Quellen vor, welche konfessionelle Konflikte thematisieren könnten. Da bei Naumann dagegen solche Quellen existieren, steht dieser im Zentrum dieses Beitrags. Ähnliches gilt für den zeitweise am Dresdner Hof tätigen Musiker Franz Benda, der später in preußischen Diensten Karriere machte.

I. Der Hofkapellmusiker Franz Benda Benda konvertierte – was angesichts der zunehmenden Bedeutung des Katholizismus bei Hofe ein wenig ungewöhnlich war – während seiner Tätigkeit in Dresden von der katholischen zur evangelischen Konfession. Unter welchen Umständen und mit welcher Motivation er diesen Schritt unternahm, berichtet er selbst im letzten Abschnitt seiner wohl nur für die Familie bestimmten Autobiographie, die er im Jahre 1763 im Alter von 54 Jahren verfasste.3 Er stammte aus Alt Benatky (bei Jungbunzlau, heute: Mlada Boleslav) in Böhmen. Seine Kindheit und Jugend ist typisch für musikalisch begabte Kinder aus dem „Konservatorium Europas“, wie der reisende Musikschriftsteller Charles Burney einmal treffend formulierte. Während seiner Zeit als Chorknabe am Benediktinerkloster in Prag wurde er um 1720 von dem Studenten Georg Prokop Roscher, einem Talentscout des Dresdner Hofes, entdeckt und gegen den Willen der für seine Erziehung zuständigen Prager Jesuiten heimlich nach Dresden mitgenommen. Hier wirkte er als Diskant im Hofkirchenensemble und bildete sich musikalisch weiter – neben dem Gesang auch im Violin- und Violaspiel.4 Doch es wiederholte sich, was Benda bereits in Prag erlebt hat und was für seinen Glaubensüberzeugung wohl eine erste Erschütterung bedeutet. Da die Lehrer der von der Dresdner Jesuitenmission eingerichteten Schule Benda trotz großen 2 3

4

Poppe, Gerhard, Hofkirchenmusik, S. 313. „Er folgte der gottgewollten Obrigkeit.“ (Ebd., S. 311). Sie wurde, nachdem sie vermutlich von Johann Adam Hiller in seinen Lebensbeschreibungen berühmter Musikgelehrten (1784) Verwendung fand, erstmals vollständig in der Neuen Berliner Musikzeitung (10/1861) gedruckt. Siehe auch Lee, Douglas A., A musician at court. An autobiography of Franz Benda, Warren (Mich.) 1998. Lorenz, Franz, Die Musikerfamilie Benda. Franz Benda und seine Nachkommen, Berlin 1967, S. 11.

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Heimwehs nicht zu den Eltern zurückkehren lassen wollten, kam es zur Auseinandersetzung, in deren Folge er floh. Zwar wurde er auf dem Weg nach Prag aufgegriffen und zurückgebracht, aber da infolge einer Erkältung nunmehr seine sängerischen Fähigkeiten gelitten hatten, ließ man ihn endgültig ziehen. Benda schreibt dazu lakonisch: „die bisshärigen Liebkosungen verwandelten sich in eine arth von Verachtung.“5 Das Diarium der Dresdner Jesuiten verzeichnet den Abgang am 5. Mai 1723 nicht weniger einsilbig: „Hodie a nobis abivit Franciscus Benda altista, qui nulla rationae hic manere voluit.“ 6. Der autoritäre Erziehungsstil der Jesuiten und ein Ereignis, das Benda im Nachhinein zum göttlichen Zeichen stilisiert – während eines Aufenthalts im siebenbürgischen Hermannstadt zitterte seine Hand beim Violinspiel in einer soeben rekatholisierten Kirche auf außergewöhnliche Weise7 – hinterließen erste, wenngleich geringe Spuren: „ich war biss in dass 20ste Jahr Meines Alters ein sehr Eiffriger Catolique.“8 Entscheidend für erste Glaubenszweifel und den tatsächlichen Schritt zur Konversion ist der Autobiographie zufolge die Begegnung mit Wilhelm Weidner, einem protestantischen Musiker aus Sachsen, der ihn über mehrere Stationen bis nach Warschau begleitete. Hier wurden sie 1732/1733 Mitglieder in der „Kleinen Pohlnischen Kapelle“ Augusts des Starken und hier setzte bei Benda ein Sinneswandel ein. Weidner gab Benda die Bibel zu lesen und vermochte es durch seine Überzeugungskraft, dessen skeptische Haltung gegenüber dem Katholizismus zu verstärken: „… ich lass dass alte Testament zu erst. Als den nach und nach die Episteln Pauli, und da ich entlich dahinn gerieht wo der Apostel dass Verboth der Ehe und der Speise eine Satanslehre nennet, so eiiserte sich der allererste Gewissens Scrupel, dessgleichen auch wegen des Abenmahls. Ich besprach mich hierüber mit einigen Catolischen Geistlichen, allein Ihre Antwort und Auslegungen, wollten meinen Scrupel nicht heben, ja Sie hätten gerne Selbst den Paulum Verdammen und unter die Zahl der Kötzer zählen mögen.“9 Neben zentralen protestantischen Kritikpunkten am Katholizismus wie Zölibat, Fasten, Gestalt des Abendmahles fällt erneut die geschilderte autoritäre Haltung des Klerus auf, die schon auf den Knaben abschreckend gewirkt hatte. Die beeindruckende Frömmigkeit Weidners und das Vorbild des gemeinsamen Freundes Carl Höckh, der aufgrund der Gespräche umgehend konvertierte, beseitigten Bendas letzte Zweifel. Nach der Auflösung der „Kleinen Pohlnischen Kapelle“ nach dem Tod Augusts des Starken am 1. Februar 1733 wurde Benda Mitglied der Dresdner Hofkapelle. In 5 6

7 8 9

Benda, Franz, Auto-Biographie, in: Neue Berliner Musikzeitung 10 (1856), S. 251. Reich, Wolfgang, Das Diarium Missionis Societatis Jesu Dresdae als Quelle für die kirchenmusikalische Praxis, in: Gattermann, Günter (Hrsg.), Zelenka-Studien II. Referate und Materialien der 2. Internationalen Fachkonferenz Jan Dismas Zelenka (Dresden und Prag 1995) (Deutsche Musik im Osten, Bd. 12), Sankt Augustin 1997, S. 337. Benda, Auto-Biographie, S. 275 Ebd., S. 274. Ebd., S. 275.

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Dresden wandte er sich an den Generalsuperintendenten Valentin Ernst Löscher, der die Konversion wohl im Februar oder März 1733 in der Kreuzkirche vornahm, den Aufzeichnungen Bendas zufolge aus Ängstlichkeit heimlich.10 Wieder kamen die Jesuiten ins Spiel, die nun versuchten, Benda aus seiner Stellung als sächsischer Hofmusiker zu verdrängen. Benda beharrte auf seiner Gewissensfreiheit, wohl auch, weil ihm bereits ein Angebot für ein Engagement in der Kapelle des preußischen Kronprinzen Friedrich vorlag. Obwohl der sächsische Minister Heinrich von Brühl Benda noch halten wollte und ihn zu schützen versprach, bat dieser um seinen Abschied, der ihm letztlich auch gewährt wurde. Allerdings gab es selbst noch in Ruppin, wo er am 17. April 1733 seinen Dienst beim preußischen Kronprinzen aufnahm, anfangs Versuche von katholischer Seite, Benda als „verirrtes Schaff wieder auff den Rechten weg zu bringen“11. Er blieb jedoch standhaft. Auf seine Bitten hin bewirkte 1742 der nunmehrige preußische König Friedrich II. sogar die Freilösung der Eltern aus böhmischer Leibeigenschaft, die in der Folge ebenfalls zum evangelisch-lutherischen Glauben konvertierten.12 Möglicherweise hat es sich bei den Bendas sogar um Krypto-Protestanten unter habsburgisch-österreichischer Herrschaft gehandelt. Bendas Lebensgeschichte beinhaltet zahlreiche Momente religiöser Spannungen. Möglicherweise hat dieser Druck nur bei Konvertiten bestanden, denn das Leben seines Glaubensbruders Johann Gottlieb Naumann offenbart andere Facetten. Trotz des hohen Altersunterschiedes von 32 Jahren gibt es Berührungspunkte zwischen beiden Musikern. Franz Benda war maßgeblich am Vorhaben des preußischen Königs beteiligt, im Jahre 1774 Naumann als neuen Hofkapellmeister zu berufen, was dieser jedoch ablehnte. 1777 sind sich Benda und Naumann in Potsdam schließlich auch persönlich begegnet.13

II. Der Hofkapellmeister Johann Gottlieb Naumann Vom kurfürstlich-sächsischen Hofkapellmeister Johann Gottlieb Naumann ist eine große Anzahl Briefe überliefert, die zunächst als Grundlage einer frühen, auch persönliche Erinnerungen enthaltenden Biographie von 1803/04 aus der Feder des Schriftstellers August Gottlieb Meißner14 dienten, um dann in einer weiteren, 1841 10 11 12 13

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Ebd. Ebd. Lorenz, Benda, S. 9. Vgl. das Verhörprotokoll der Eltern aus dem Jahre 1733 durch den Missionär für Jungbunzlau und Umgebung nach einem Besuch ihres Sohn Franz in Ruppin (Ebd., S. 4ff.). Anonymus, Des Sächsischen Kapellmeisters Naumann’s Leben in sprechenden Zügen dargestellt, Dresden 1841, S. 182. Eine erste Verbindung mag ein gemeinsamer Schüler, der preußische Musiker Ludwig Pitscher, den Naumann 1760 in Italien unterrichtete, hergestellt haben. Vgl. Meißner, August Gottlieb, Bruchstücke zur Biographie J G. Naumann‘s, Bd. 1, Prag 1803, S. 136f. Bereits zwei Jahre nach dem Tod des Komponisten veröffentlichte der damalige Erfolgsschriftsteller und Prager Professor für Ästhetik August Gottlieb Meißner den ersten Teil seiner „Bruchstücke zur Biographie J. G. Naumann‘s“, dem ein Jahr später

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anonym erschienenen biographischen Schrift erneut und in größerem Umfang ausgewertet und zitiert zu werden.15 Sind von diesem Konvolut heute auch nur ein Fünftel in Bibliotheken nachweisbar, so haben sich nach derzeitigem Kenntnisstand weltweit insgesamt weitere rund 100 Briefe von bzw. an Naumann erhalten.16 Johann Gottlieb Naumann wurde 1741 in Blasewitz, einem damaligen kleinen Dorf bei Dresden und heutigem Stadtteil der sächsischen Hauptstadt, als ältester Sohn einer protestantischen Häuslerfamilie geboren. Zeigte sich die fromme Haltung der Eltern bereits in der Namensgebung der drei Söhne (Johann Gottlieb folgten die Söhne Gotthelf sowie Friedrich Gotthard, dem nachmaligen Hofmaler des Fürstentums Ansbach), so gibt auch sein Biograph Meißner entsprechende Auskunft über die religiöse Erziehung des Knaben: „Grade so, sprach er [Naumann; K. M.] oft, sei auch ihm von seinen Eltern Folgsamkeit, Ordnungsgeist, und die Liebe zu einem höhern unbegreiflichen Wesen, das uns überall beobachte, und die Quelle alles Leben, alles Guten sei, eingeflößt worden. Grade so habe sein braver Vater ihn frühzeitig angewiesen, Gott in den Menschen zu lieben; dienstfertig und gefällig gegen Andre zu seyn, ohne erst Rücksicht zu nehmen, wie sie gegen uns handelten.“17 Diese religiöse Grundhaltung bestätigte Naumann selbst in seinen Briefen, die er an seine Eltern schrieb. Es sind vor allem die etwa 40 Briefe von seiner ersten der insgesamt drei italienischen Reisen, den sieben Lehrjahren von 1757–1763, die vom Selbstbehauptungswillen in der Fremde, von Rückschlägen und Erfolgen erzählen sowie von der Kraft künden, die ein starker Glaube spendet. Von der Reisestation Hamburg aus beruhigte der 16-jährige am 7. September 1757 die Eltern im Hinblick auf die kontinuierliche Ausübung des Gebets, die Feier des Gottesdienstes und das Bibelstudium: „Das liebe Gebet werde ich nicht vergessen, das ist das Vornehmste; wer Gott vergißt, den vergißt Gott wieder; das Beten lernt sich in der Fremde wohl; ich werde auch ehestens in Gottes Nahmen zum Tisch des Herrn gehen. Die Bibel will ich schon in Acht nehmen, ich lese fleißig darin.“18 Nach der Ankunft in Italien berichtete er am 10. Juli des Jahres: „Wir sind durch Nürnberg über Augspurg gereist, und weil Augspurg der letzte Evangelische Ort war so habe ich da in Gottes Nahmen noch einmahl comunicirt. Denn anjetzo so

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ein zweiter Band folgte. Seine Ausführungen gründen auf einer beträchtlichen Anzahl persönlicher Erinnerungen, Memorabilien enger Freunde und einer Korrespondenz von über 100 Briefen. Seine Bekanntschaft mit Naumann geht auf Mitte der 1770er Jahre in Dresden zurück. Eine freundschaftliche Annäherung zwischen beiden erfolgte anlässlich einer zur gleichen Zeit verbrachten Kur in Franzensbrunn bei Eger im Jahre 1794. Vgl. Magvas, Kornél, Für Freimaurerloge und häuslichen Kreis. Johann Gottlieb Naumann und das Dresdner Liedschaffen im 18. Jahrhundert, Bd. 1, Beeskow 2008, S. 229–233. Anonymus, Naumann. Vgl. Magvas, Kornél, „Ein Brief Johann Gottlieb Naumanns an Friedrich Gottlieb Klopstock.“, in: Jahrbuch Mitteldeutsche Barockmusik 5 (2003), S. 181f. Meißner, Bruchstücke, Bd. 1, S. 12. Anonymus, Naumann, S. 117.

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kann ich das heilige Werck auf ein Jahr wenigstens nicht verrichten.“19 Naumanns Briefe bildeten immer auch eine Reaktion auf die Ängste und Ermahnungen der Eltern, die im italienischen Katholizismus und dem ihm zugeschriebenen Bekehrungseifer eine große Gefahr für den jungen Menschen witterten.20 Naumann schrieb zu diesem Punkt am 24. Juli 1760: „Wegen der Religion sage ich Ihnen dürffen Sie sich gar nicht sorgen, den [!] es ist gar keine Gefahr gantz Padova und Venedig, weiß daß ich Protestant bin, und kein Mensch sagt mir nicht daß geringste, und es sind Ihrer mehr hier, ich bin nicht der eintzige, und die Leute die Ihnen so waß weiß machen, sind entweder nicht hier gewest oder reden nur so nach ihrem Gutdüncken, ich habe es auch erst geglaubt, aber ich bin in der Wahrheit überzeugt, daß wenn man Sie zufrieden lasst, sie sagen einem gewiß nicht das geringste, darum kehren Sie sich nicht daran, was Ihnen die Leute vorschwatzen, communicirt habe ich auch weil ich hier bin bey H: Streit; […]“21 Bei dem letztgenannten Streidt handelt es sich um einen wohlhabenden protestantischen Kaufmann, der ehe- und kinderlos bereits viele Jahre in Padua lebte und dessen Haus als Anlaufstation für bedürftige Protestanten galt.22 Naumann dürfte Streidt im Frühjahr/Sommer 1759 kennengelernt haben.23 Zu Streidts hohem Ansehen bei seinen Glaubensgenossen trug sicherlich auch bei, dass er sonntags in seinem Hause eine Art Privat-Gottesdienst durch einen Kandidaten des Predigeramtes aus Augsburg abhalten ließ.24 Naumann nahm, wie der zitierte Brief beweist, nicht nur daran teil, sondern führte darüber hinaus häufig Glaubensgespräche mit dem Hausherrn.25 Seine fruchtbaren musikalischen Studien bei Guiseppe Tartini in Padua und bei Padre Martini in Bologna sowie seine ersten Erfolge als Opernkomponist in Italien versetzten ihn im Jahre 1764 in die Lage, sich am kursächsischen Hof um das Amt des Kirchenkomponisten zu bewerben. Dank der Fürsprache des damaligen Hofkapellmeisters Johann Adolf Hasse, den er in Italien kennengelernt hatte, sowie einer zur Zufriedenheit der Kurfürstin Maria Antonia Walpurgis ausfallenden Probemesse, die als seine erste Kirchenmusik überhaupt gilt26, erhielt er die Anstellung. 19 20 21 22

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Stiftung Weimarer Klassik, Goethe-Schiller-Archiv (im Folgenden: D-WRgs), 96/2066, Brief Naumanns an die Eltern, Padua, 10.7.1758, fol. 1r. Meißner, Bruchstücke, Bd. 1, S. 36; Anonymus, Naumann, S. 116–121. Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden, Musikabteilung, Mscr. Dresd. App. 278, 136, 2r–2v, Brief Naumanns an die Eltern, Padua, 24.7.1760. D-WRgs, 96/2066, Brief Naumanns an seine Eltern, Padua, 24.10.1759, fol. 1V: „Der H: Streidt hat mir angeboten, wenn ich sollte was nöthig haben zu dienen in was er kann. Ehe ich sollte etwan jemands Gnade leben, um der Religion willen. Denn daß [!] ist ein sehr reicher Mann, er hilft allen Protestanten die her kommen.“ Der erste (bekannte) Brief, der Streidt erwähnt, datiert vom 24. Oktober 1759. Vgl. Meißner, Bruchstücke, Bd. 1, S. 114. D-WRgs, 96/2066, Brief Naumanns an die Eltern, Padua, 13.5.1761, fol. 1R: „[…] der H. Streit hat alte Bücher von den Ursprüngen aller Religionen, da sieht man klar u. deutlich daß es lauter Menschentand ist, wir reden gar öfters darvon […]“. Bemmann, Katrin, Die katholische Kirchenmusik Johann Gottlieb Naumanns (1741– 1801). Ein Beitrag zur Überlieferungs- und Rezeptionsgeschichte, Hamburg 2008, S. 57.

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Dass ihm als Protestanten diese Stelle zuerkannt wurde, lag sicher an der sukzessiven Konsolidierung der Hofmusik nach dem Ende des Siebenjährigen Krieges und der damit verbundenen Notwendigkeit, dem bis dato einzigen Kirchenkomponisten Johann Georg Schürer einen zweiten Musiker an die Seite zu stellen. Die Anstellung als Kirchen-Compositeur rückwirkend zum 1. August 1764 und zum Kammer-Compositeur 1765, die Ernennung zum Hofkapellmeister am 7. Februar 1776 sowie die mit einer deutlichen Verbesserung des Vertrags einhergehende Berufung auf Lebenszeit am 20. November 1786 bilden die Eckdaten seines 37 Jahre währenden Engagements am Dresdner Hof, in dessen Verlauf er von wenigen Ausnahmen abgesehen stetig kirchenmusikalische Aufgaben zu erfüllen hatte. Dokumente, die für diese Jahre in Dresden ein konfessionelles Spannungsverhältnis zwischen Beruf und privater Religionsausübung vermuten ließen, sind nicht zu finden. Dem Dienstherrn war man zu Loyalität verpflichtet – diese grundsätzlich in Frage zu stellen, wäre Naumann nicht in den Sinn gekommen. Gleichwohl lässt sich an der Erschließung anderer musikalischer Betätigungsfelder innerhalb und außerhalb Kursachsens ablesen, dass Naumann gewillt war, in künstlerischer Hinsicht seinen eigenen Glaubensüberzeugungen einen Freiraum zuzugestehen. Fünf diesbezüglich zentrale Punkte sollen im Folgenden angerissen werden: Erstens die Bekanntschaft mit dem Schwerin-Ludwigsluster Hof ab 1777, zweitens die Aufenthalte in Schweden 1777/78 bzw. 1782/83 und Dänemark 1785/86, drittens die Kompositionen für die Herrnhuter Brüdergemeine von 1780 und 1790, viertens die nicht-liturgische Kirchenmusik, besonders das großangelegte konzertante Chorwerk „Vater unser“ von 1799, sowie fünftens sein Engagement für die Freimaurer zwischen 1774 und 1799. Mit dem Ludwigsluster Hof kam Naumann zunächst zufällig auf seiner ersten Skandinavienreise in Berührung. Sein Biograph Meißner zitiert einen Brief des Komponisten an seinen Bruder Friedrich Gotthard Naumann, in dem es heißt: „Auf meiner ersten Schwedischen Reise führte mich mein Weg durchs Mekelnburgische[!]. Ich kam nach Ludwigslust, wo der Hof residirt, und fand hier wider Vermuthen eine Menge alter Bekanten, und eine recht artige kleine Kapelle, besonders eine ganz vortreflich eingerichtete evangelische Kirchen-Musik, die mich außerordentlich frappirte. Ich faßte gleich den Vorsaz, zu dieser herrlichen Stiftung, die dem Herzog soviel Ehre macht, freiwillig und ungebeten, mein Scherflein beizutragen. Ich komponirte nach und nach, wie ich wieder in Dresden war, und Zeit dazu hatte, den sechs und neunzigsten Psalm: Singt dem Herrn ein neues Lied! und schickt’ ihn hin.“27 Das 1778 übersandte Werk fand bei Herzog Friedrich dem Frommen und seiner Gemahlin Louise Friederike (geborene Prinzessin von Württemberg) überaus positive Aufnahme, so dass Naumann weitere Aufträge für die Ludwigsluster „concerts spirituels“ erhielt. Die Komposition der drei Kantaten „Zeit und Ewigkeit“ (1782/83), „Unsere Brüder“ (1785) und „Gottes Wege“ (1794) sowie des 103. Psalms (1790)28, 27 28

Meißner, Bruchstücke, Bd. 2, S. 168–170. Der 103. Psalm wurde erstmals bereits am 25. Mai 1790 zur Konfirmation Karl von Brühls in der Seifersdorfer Kirche aufgeführt. Nach Ludwigslust wurde die Kompositi-

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die begeistert in Ludwigslust aufgenommen und mehrfach gespielt wurden, bildeten den Hauptbestand seines Beitrages zur protestantischen Kirchenmusik29. Die Dresdner Musikwissenschaftlerin Ortrun Landmann hat in ihrer Untersuchung zu Naumanns diesbezüglichen Werken gezeigt, dass den Hofkapellmeister die Möglichkeit, seiner Konfession gemäß zu komponieren, überaus lockte und geradezu kreative Schleusen öffnete.30 Ein Grund dafür lag sicher in der deutschsprachigen Textwahl, die größere gestalterische Freiheiten als die lateinisch-liturgischen Texte katholischer Prägung boten.31 Dreimal hatte Naumann Gelegenheit, für längere Zeit an den protestantischen Königshöfen Skandinaviens in Stockholm (1777/78, 1782/93) und Kopenhagen (1785/86) zu arbeiten – stets ging es um die Reformierung der dortigen Hofkapellen nach Dresdner Vorbild sowie um die Komposition und Aufführung verschiedener Werke, in der Hauptsache Opern. Obwohl Naumann speziell in Stockholm nicht explizit damit beauftragt wurde, die Musik der Hofgottesdienste zu reformieren oder zu bereichern32, so bestätigen doch verschiedene persönliche Schriftquellen sein waches Interesse am religiösen Leben seiner Glaubensgenossen. In einem Brief vom 7. September 1782 an seinen damaligen protestantischen Freund, den OberkriegsKommissar Johann Leopold Neumann, schildert er ausführlich die prunkvolle Zeremonie der Taufhandlung des am 25. August des Jahres geborenen und bereits am 23. März 1783 wieder verstorbenen, zweitgeborenen „Königlichen Evangelischen Prinzen“ Karl Gustav.33 Relevanter noch ist eine Notiz in seinem Tagebuch, in welcher er den Besuch eines Gottesdienstes schilderte, dabei kein gutes Haar an der Kirchenmusik ließ und schließlich aufzeigte, mit welch geringen Mitteln eine gute Musik den Gottesdienst hätte verbessern können: „Vor einigen Tagen war ich hier in einer großen schwedischen Kirche, und ich erstaunte, wie die versammelte Gemeinde die Lieder so schlecht sang. […] Die hiesige Gemeinde wurde wenig, oder gar schlecht von der Orgel unterstützt, welche an sich selbst nicht viel taugte, und noch dazu erbärmlich verstimmt war; der Organist war auch nicht weit her. […]

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on zwar erst am 3. Juni 1790 geschickt, doch besteht am ursprünglichen Ludwigsluster Auftrag kein Zweifel. Vgl. Magvas, Freimaurerloge, Bd. 1, S. 203; Landmann, Ortrun, Die Beziehungen des Schwerin-Ludwigsluster Hofes zum kurfürstlich sächsischen Hofkapellmeister Johann Gottlieb Naumann, in: Musik in Mecklenburg. Beiträge eines Kolloquiums zur mecklenburgischen Musikgeschichte (Studien und Materialien zur Musikwissenschaft 21), Hildesheim 2000, S. 337, 356. Heller, Karl, Johann Gottlieb Naumann und die Ludwigsburger Concerts spirituels. in: Landmann Ortrun/Ottenberg, Hans-Günter (Hrsg.), Johann Gottlieb Naumann und die europäische Musikkultur des ausgehenden 18. Jahrhunderts, Bericht über das Internationale Symposium vom 8. bis 10. Juni 2001, Hildesheim 2006, S. 293. Landmann, Beziehungen, S. 336. Heller, Naumann, S. 301. Ander, Owe, Johann Gottlieb Naumann und die Hofkapelle in Stockholm, in: Landmann Ortrun/Ottenberg, Hans-Günter (Hrsg.), Johann Gottlieb Naumann und die europäische Musikkultur des ausgehenden 18. Jahrhunderts, Bericht über das Internationale Symposium vom 8. bis 10. Juni 2001, Hildesheim 2006, S. 234. Anonymus, Naumann, S. 218f.

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Es ist eine Schande für die Religionsgenossen, diesen Theil des öffentlichen Gottesdienstes so zu vernachlässigen. Wie sehr befördert doch ein alter guter Choral, von der Gemeinde richtig gesungen, und von der guten Orgel begleitet, die gemeinsame Andacht, und wie sehr kann diese durch das Gegentheil gehemmt und gestört werden!“34 Auch hinsichtlich seines Engagements für den dänischen Hof in Kopenhagen 1785/86 scheint die Kirchenmusik ohne Bedeutung gewesen zu sein.35 Bei den anschließenden, letztlich fehlgeschlagenen Bemühungen des Hofes, Naumann auf längere Sicht zu binden, fällt jedoch auf, dass gerade die Reformierung der Kirchenmusik als Hauptaufgabe in Aussicht gestellt wurde. Inwiefern dabei auch die in Kopenhagen bekannten Ludwigsluster Werke Naumanns als Vorbilder für die Erneuerung vor Augen standen, müssen eingehende Untersuchungen erst noch klären.36 Auch die protestantische Erneuerungsbewegung der Herrnhuter Brüdergemeine hat Naumann gekannt und für sie drei geistliche Werke komponiert. Quellen aus erster Hand, die Naumanns Einstellung zu dieser Reformbewegung darlegen, gibt es nicht. Den Anlass zur Komposition des 149. Psalms im Jahre 1780 hat wohl der kursächsische Hausmarschall Peter August von Schönberg gegeben, der sowohl mit Naumann befreundet war als auch Kontakte mit den Herrnhutern pflegte.37 Zehn Jahre später weilte Naumann auf der Durchreise in Herrnhut. Nach August Gottlieb Meißner „würkte die edle Einfalt ihres Gottesdienstes, das Sanfte und doch Herzergreifende ihrer Gesänge so stark auf ihn, dass er ganz aus eignem Wohlgefallen sich zu noch einer Tonsezzung erbot.“38 Tatsächlich entstanden 1790 noch zwei weitere Werke („Kommt herzu“ auf Verse des 95. Psalms sowie „Heilig, heilig, heilig“ nach Worten aus Jesaja 6, 3).39 In Dresden selbst konnte Naumann musikalische Werke aus dem Umfeld seines eigenen Glaubens „lediglich außerdienstlich und konzertant in Dresdner Stadtkirchen wie der Frauen- oder der Dreikönigskirche zur Aufführung bringen“, wie Ortrun Landmann bereits dargelegt hat. „Im Allgemeinen war hiermit ein karitativer Zweck verbunden: Hochwasser, Dürren usw.“ 40 Neben umgearbeiteten Ludwigsluster Kompositionen muss an erster Stelle die Vertonung des „Psalms mit dem Vater 34 35

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Ebd., S. 223f. Schwab, Heinrich W., „Johann Gottlieb Naumann und die Oper in Kopenhagen (1785/86), in: Landmann Ortrun/Ottenberg, Hans-Günter (Hrsg.), Johann Gottlieb Naumann und die europäische Musikkultur des ausgehenden 18. Jahrhunderts, Bericht über das Internationale Symposium vom 8. bis 10. Juni 2001, Hildesheim 2006, S. 272f. Ebd., S. 274f. Hartmann, Andrea, Anmerkungen zu Johann Gottliebs Naumanns Kompositionen für die Herrnhuter Brüdergemeine, in: Landmann Ortrun/Ottenberg, Hans-Günter (Hrsg.), Johann Gottlieb Naumann und die europäische Musikkultur des ausgehenden 18. Jahrhunderts, Bericht über das Internationale Symposium vom 8. bis 10. Juni 2001, Hildesheim 2006, S. 202. Meißner, Bruchstücke, Bd. 2, S. 271. Auch das „Heilig“ wurde zuerst am 25. Mai 1790 während der Konfirmation Karl von Brühls das erste Mal aufgeführt, vgl. Magvas, Freimaurerloge, Bd. 1, S. 203. Landmann, Beziehungen, S. 352.

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unser“ von Friedrich Gottlieb Klopstock genannt werden, das wohl einzige auftragsfrei komponierte größere Werk Naumanns. Es ist auch das einzige Werk des Komponisten, das in einer Dresdner evangelischen Kirche – in der Dreikönigskirche in Dresden-Neustadt am 21. Juni 1799 – zur Uraufführung gelangte.41 Aufgrund des großen Erfolges wurde das Werk am 21. Oktober an selber Stätte ein weiteres Mal gegeben.42 Zwei Aufführungen folgten in Prag im Mai 1801.43 Naumann hat dieses großangelegte Werk, dem er sich mit außergewöhnlicher Sorgfalt widmete, selbst sehr geschätzt. Von der künstlerischen Herausforderung und deren Meisterung zeugt ein detaillierter Brief an den Dichter Klopstock, dem er Jahre zuvor in Hamburg begegnet war.44 Das bislang Skizzierte bliebe unvollständig, wenn hinsichtlich des konfessionellen Neben- und Miteinanders im Leben und Wirken Naumanns nicht auch dessen Mitgliedschaft bei den Freimaurern thematisiert würde. Diese wichtige Aufklärungsgesellschaft des 18. Jahrhunderts übte durch die in den Logen praktizierte Gemeinschaft jenseits von Standes- und Glaubensgrenzen, durch das Bildungsstreben ihrer Mitglieder, die Förderung des Gemeinwohls und die Verbesserung gesellschaftlicher Zustände eine große Faszination aus, zumal sie sich trotz diesbezüglicher Anfeindungen nicht als Gegner oder Konkurrenz der Kirchen (und des Staates) sah. Die Erklärung der Freimaurer auf dem Konvent von Wilhelmsbad 1782 bringt dies unmissverständlich zum Ausdruck, wenn es heißt, dass der einzige Zweck des Männerbundes darin bestehe, „sich der Menschheit empfehlenswert und nützlich zu machen durch die aufrichtigste Zuneigung zu den Lehren, Pflichten und Übungen unserer Heiligen Christlichen Religion, durch unsere Unterwerfung und den Gehorsam gegenüber der Obrigkeit und den Gesetzen unseres jeweiligen Vaterlandes“.45 Es liegt auf der Hand, dass auch Johann Gottlieb Naumann in einer Logenmitgliedschaft keinen Verrat an seinen Glaubensüberzeugungen sah. Wesentliche ethische Aspekte des Freimaurertums wie individuelle Erziehung und Bildung des Menschen, Toleranz gegenüber Andersgläubigen und allgemeine Menschenliebe unter der Klammer eines Schöpferwesens – der bei den Freimaurern bekanntlich als „Großer Baumeister aller Welten“ bezeichnet wird – spielen in Naumanns Briefen immer wieder eine Rolle, auch wenn es keine dezidiert freimaurerischen Äußerungen sind. Quellen, die Naumanns Verhältnis zu freimaurerischem Gedankengut direkt offenbaren, sind bislang nicht entdeckt worden. Quellen, die ein freimauerisches Engagement Naumanns belegen, gibt es dagegen schon. Die nahezu vollständig erhaltenen Akten der Dresdner Freimaurerlogen 41

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Landmann, Ortrun (Hrsg.), Johann Gottlieb Naumann. „Um Erden wandeln Monde“. Psalm mit dem „Vater unser“. Text von Friedrich Gottlieb Klopstock. Photomechanischer Nachdruck der Partiturausgabe von 1823 (Das Erbe deutscher Musik, Bd. 8 der Sonderreihe), Leipzig 2001, S. VIII, X. Magvas, Brief, S. 183. Meißner, Bruchstücke, Bd. 2, S. 295–297. Magvas, Brief, S. 186f. Vgl. Reinalter, Helmut, Die Freimaurer, München 2000, S. 106f.

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im Geheimen Staatsarchiv zu Berlin liefern nicht nur die Eckdaten der Logenkarriere Naumanns, sondern belegen vor allem seine exponierte Tätigkeit für die Logen. Sicherlich darf davon ausgegangen werden, dass der Eintritt in die Loge „Aux vrais amis“ als Teilloge der Bauhütte „Zu den drey Schwertern und wahren Freunden“ zu Johannis 1774 in sozialer Hinsicht wichtige Akzente setzte. Die Mitgliedschaft ermöglichte es Naumann, vorteilhafte Kontakte zu maßgeblichen Persönlichkeiten der Stadt jenseits des höfischen Umfeldes zu knüpfen. Naumanns Anteil an der Entfaltung der Logentätigkeit darf nicht gering geschätzt werden: Er umfasst zum einen innerhalb der allgemeinen Dresdner Logenreform von 1780 die von Naumann geleitete Neuordnung der Musizierpraxis, die u.a. die Anstellung von sogenannten Musikalischen Brüdern bei der Tafelloge bewirkte. Weiterhin ist die Übernahme des Amtes eines Zeremonienmeisters zwischen 1780–1782 zu nennen sowie als wesentlichster Punkt seinen Beitrag zur Schaffung eines Liedrepertoires nicht allein für die Dresdner Logen, sondern für das gesamte deutschsprachige Freimaurertum. Naumann ist mit über 70 Liedern für die Arbeitsund Tafellogen sowie einigen Instrumentalkompositionen der produktivste Freimaurerkomponist des 18. Jahrhunderts. Gemessen an der Zahl der Nachdrucke darf er zugleich als populärster masonischer Liederkomponist seiner Zeit gelten, eine Wirkung, die bis weit ins 19. Jahrhundert hinein reichte und nicht nur Freimaurerkreise einschloss.46

III. Resümee Die beiden vorgestellten Musikerpersönlichkeiten des 18. Jahrhunderts haben hinsichtlich des Spannungsfeldes von Konfession und Konflikt in Kursachsen völlig gegensätzliche Erfahrungen gemacht. Franz Benda kam durch seinen Glaubenswechsel in Konflikt mit konfessionellen Institutionen. Johann Gottlieb Naumann konnte hingegen zeitlebens unbeschadet dem evangelischen Bekenntnis treu bleiben. Trotz des katholisch geprägten beruflichen Umfeldes, welches seine Tätigkeit hinsichtlich der Komposition von Kirchenmusik sowie der Ausübung des Kirchendienstes bestimmte, nutzte er sich bietende Möglichkeiten, auch Musik zu komponieren und aufzuführen, die seiner eigenen Glaubensüberzeugung entsprach. Die Kenntnis der Religionspraxis in mehreren Ländern dürfte ihn nicht nur tolerant gemacht, sondern auch dazu beigetragen haben, im Bund der Freimaurer den Geist der Aufklärung zu atmen. Ob die behandelten Lebensläufe exemplarischen Charakter besitzen, sich mithin verallgemeinerbare Aussagen ableiten lassen, werden vermutlich erst weitere Untersuchungen an den Tag bringen.

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Seine Kompositionen fanden mit verändertem Text häufig auch Aufnahme in allgemeine und Schulliederbücher, so z.B. in das Allgemeine Deutsche Commersliederbuch von Friedrich Silcher und Friedrich Erk, vgl. Magvas, Freimaurerloge, Bd. 1, S. 182ff.

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Der Kampf der Steine Die Frauenkirche und die katholische Hofkirche in Dresden Ulrich Rosseaux

In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts entstanden in Dresden mit der Frauenkirche und der katholischen Hofkirche zwei herausragende Kirchenbauten, die noch heute – oder genauer: im Fall der Frauenkirche heute wieder – die Silhouette der Dresdner Innenstadt prägen. Beide Bauten sind bereits in vielfacher Hinsicht wissenschaftlich untersucht worden. Breit ist der Strom namentlich der kunstgeschichtlichen Literatur, die sich mit der Planung, der Ausstattung, der Architektursprache oder der städtebaulichen Wirkung beschäftigt hat, um nur einige der relevanten Forschungsfelder zu nennen.1 Die Frauenkirche kann aufgrund der umfangreichen Studien, die im Kontext ihres archäologischen Wiederaufbaus durchgeführt worden sind, aus bau- und technikhistorischer Perspektive sogar als eine der am besten untersuchten Kirchen weltweit gelten. Allerdings ist die gerade die Zahl der genuin geschichtswissenschaftlichen Studien – gemessen an der Präsenz vor allem der Frauenkirche, aber auch der Hofkirche im kollektiven Gedächtnis der Öffentlichkeit – recht überschaubar. Insbesondere fehlt es an vergleichenden historischen Studien zu beiden Kirchen. Dabei waren sie in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts nicht nur in räumlicher, sondern auch in zeitlicher Nachbarschaft entstanden. 1726 erfolgte die Grundsteinlegung für den Neubau der Frauenkirche, 1743 waren die Arbeiten abgeschlossen. Zu diesem Zeitpunkt arbeitete man bereits seit vier Jahren an der Errichtung der Hofkirche, die schließlich 1751 fertig gestellt werden konnte. Wichtiger aber noch als diese räumliche und zeitliche Nähe war der politische und religiöse Kontext, in dem beide Kirchenbauten entstanden. Dieser war geprägt von einem konfliktbeladenen Klima der Ablehnung und des Misstrauens zwischen den Angehörigen der 1

Vgl. (in Auswahl): Die Dresdner Frauenkirche: von den Anfängen bis zur Gegenwart. Ein chronologischer Abriß, hrsg. v. der Gesellschaft zur Förderung des Wiederaufbaus der Frauenkirche Dresden e. V., Dresden 2007; Magirius, Heinrich, Die Dresdner Frauenkirche von George Bähr. Entstehung und Bedeutung, Berlin 2005; Dresdner Hefte 20 (2002), Heft 3: Die Dresdner Frauenkirche. Geschichte ihres Wiederaufbaus; Kuke, Hans-Joachim, Die Frauenkirche in Dresden, Worms 1996; Sponsel, Jean Louis, Die Frauenkirche zu Dresden, Dresden 1893 (ND Halle/S. 1994). Darüber hinaus ist für die neuere Literatur auf Voigt, Ulrich, Frauenkirche Dresden. Bibliographie 1990–1996, in: Die Dresdner Frauenkirche. Jahrbuch zu ihrer Geschichte und zu ihrem archäologischen Wiederaufbau 3 (1997), S. 247–262; Ders., Frauenkirche Dresden. Bibliographie 1997–2000. Mit Nachträgen 1990–1996, in: Die Dresdner Frauenkirche. Jahrbuch zu ihrer Geschichte und zu ihrem archäologischen Wiederaufbau 7 (2001), S. 373–394 zu verweisen.

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dominierenden lutherischen Mehrheitsbevölkerung und der im Gefolge der Konversion Augusts des Starken zum Katholizismus 1697 allmählich entstandenen katholischen Minderheit.2 Letztere umfasste in den 1720er Jahren immerhin etwa acht Prozent der Dresdner Einwohnerschaft.3 Es liegt auf der Hand, dass die konfessionell aufgeladenen und spannungsreichen Rahmenbedingungen relevanten Einfluss auf die Genese und Durchführung beider Kirchenbauprojekte hatten. Schließlich ging es bei der Errichtung zweier solch markanter Bauwerke – neben vielem anderen – immer auch um die architektonische Präsenz der jeweiligen Konfession im Raum, um die steingewordene Manifestation der eigenen Existenz und des eigenen Ranges. Insofern bietet die Analyse dieses Kampfes der Steine zwischen der evangelischen Frauenkirche und der katholischen Hofkirche die Gelegenheit, die repräsentativen und symbolischen Aspekte der religiösen Pluralisierung in Sachsens Haupt- und Residenzstadt in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts in den Blick zu nehmen.

I. Die Frauenkirche Die hohe symbolische Aufladung beider Projekte zeigte sich bereits in ihren Anfangsphasen. So ist der Neubau der Frauenkirche ohne den damit verbundenen symbolischen Mehrwert im konfliktbeladenen religiösen Pluralisierungsprozess gar nicht sinnvoll zu erklären.4 Denn die Mängel und Unzulänglichkeiten des mittelalterlichen Vorgängerbaus waren seit langem bekannt. Die Kirche war zu klein und ihr baulicher Zustand ließ zu wünschen übrig. Dennoch zögerte der Dresdner Stadtrat, der als Kirchenpatron für den Unterhalt des Gebäudes zuständig war, geraume Zeit, ehe er sich zu Beginn der 1720er Jahre dann doch zum Abriss der alten und zum Bau einer neuen Kirche entschloss.5 Und mehr noch: er machte sich den ambitionierten Plan des Ratszimmermeisters George Bähr zu eigen, der einen repräsentativen und von einer Kuppel gekrönten Zentralbau vorsah. Dies zeugte von Kühnheit: Denn zum einen hatte Bähr noch nie einen Bau von vergleichbaren Größenordnungen realisiert, vom Bau einer Kuppel – und sei sie wie anfangs geplant nur aus Holz – einmal

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Vgl. Rosseaux, Ulrich, Das bedrohte Zion: Lutheraner und Katholiken in Dresden nach der Konversion Augusts des Starken (1697–1751), in: Lotz-Heumann, Ute/Mißfelder, Jan-Friedrich/Pohlig, Matthias (Hrsg.), Konversion und Konfession in der Frühen Neuzeit, Gütersloh 2007, S. 212–235; Leibetseder, Mathis, Die Hostie im Hals. Eine „schröckliche“ Bluttat und der Dresdner Tumult des Jahres 1726, Konstanz 2009. Zur Einwohnerzahl in Dresden siehe Stadtarchiv Dresden [im Folgenden: StadtA Dresden], Ratsarchiv, C XXI 7 [unfol.], [fol. 4–4v] mit einer Bevölkerungszählung, die 46.472 Einwohner ergab. Zur Zahl der Katholiken vgl. Saft, Paul Franz, Der Neuaufbau der katholischen Kirche in Sachsen im 18. Jahrhundert, Leipzig 1961, S. 22. Vgl. auch Kuke, Frauenkirche, S. 54–56, 65–68. Vgl. Hennig, Gitta Kristine, Der Verlauf der Bautätigkeit an der Frauenkirche in den Jahren 1724–1727, in: Die Dresdner Frauenkirche. Jahrbuch zu ihrer Geschichte und zu ihrem archäologischen Wiederaufbau 1 (1995), S. 85–110, hier insb. S. 86, 93f., 103.

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ganz zu schweigen.6 Zum anderen war die Finanzierung des ehrgeizigen Projekts alles andere als gesichert. Oder pointierter formuliert: Dem Baumeister fehlte die Erfahrung, dem Bauherrn das Geld. Diese – gemessen am ansonsten betulichen Agieren des Dresdner Rates – höchst erstaunliche Entschlusskraft und Risikofreude wird erst dann verständlich, wenn man die symbolische Dimension des Neubaus der Dresdner Frauenkirche mit in Rechnung stellt.7 Die lutherische Mehrheitsbevölkerung der Stadt hatte das Entstehen einer katholischen Minderheit von nennenswerter Größe stets abgelehnt. Aus evangelischer Perspektive war der gesamte Prozess der religiösen Pluralisierung, der sich seit der Konversion Augusts des Starken vollzogen hatte, kaum anders denn als Bedrohung wahrgenommen worden. Eine Bedrohung zudem, die sich in den Jahren unmittelbar vor dem Entschluss zum Neubau der Frauenkirche auch noch spürbar verstärkt hatte. 1717 beispielsweise war – just im Jahr des 200-jährigen Reformationsjubiläums – bekannt geworden, dass auch der sächsische Kurprinz Friedrich August zum Katholizismus konvertiert war.8 Dies hatte alle Hoffnungen zunichtegemacht, die Wiederkehr des konfessionellen Gegners würde eine Episode bleiben, die mit dem Tod Augusts des Starken ein Ende hätte. 1719 dann hatte die Hochzeit zwischen dem Kurprinzen und der habsburgischen Erzherzogin Maria Josepha einen verstärkten Zuzug von Katholiken nach Dresden zur Folge, 1723 war gegen den Widerstand des Stadtrates der katholische Friedhof in Dresden-Friedrichstadt eröffnet worden und im Mai 1726 schließlich hatten im Gefolge der Ermordung des evangelischen Geistlichen Hermann Joachim Hahn heftige Konfessionsunruhen die Stadt erschüttert.9 Nur vor dem Hintergrund dieser Vorgeschichte wird plausibel, 6

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Zu Leben und Werk Bährs vgl. Gerlach, Siegfried, George Bähr – der Erbauer der Dresdner Frauenkirche. Ein Zeitbild, Köln/Weimar/Wien 2005; Staatliche Kunstsammlungen Dresden und Landesamt für Denkmalpflege (Hrsg.), George Bähr. Die Frauenkirche und das bürgerliche Bauen in Dresden. Ausstellung im Georgenbau des Dresdner Schlosses 21. Dezember 2000 bis 4. März 2001, Dresden [2000]. Vgl. Groß, Reiner, Ratsregiment und Stadtverwaltung, in: Ders./John, Uwe (Hrsg.), Geschichte der Stadt Dresden, Bd. 2: Vom Ende des Dreißigjährigen Krieges bis zur Reichsgründung, Stuttgart 2006, S. 55–68; Richter-Nickel, Sieglinde, Der ehrwürdige Rath zu Dresden. Stadtverwaltung vom 13. Jahrhundert bis 1832, in: Dresdner Geschichtsbuch 5 (1999), S. 7–23, hier insb. S. 18f. Vgl. Flügel, Wolfgang, Konfession und Jubiläum. Zur Institutionalisierung der lutherischen Gedenkkultur in Sachsen 1617–1830, Leipzig 2005, S. 125–136; Vötsch, Jochen, Kursachsen, das Reich und der mitteldeutsche Raum zu Beginn des 18. Jahrhunderts, Frankfurt am Main/Berlin/Bern u.a. 2003, S. 108–118; Blaschke, Karlheinz, Der Konfessionswechsel des sächsischen Kurfürsten Friedrich August I. und seine Folgen, in: Sachsen und Polen. Beiträge einer wissenschaftlichen Konferenz vom 26. bis 28. Juni 1997 in Dresden, Dresden 1998, S. 210–222, hier insb. S. 216–219; Ziekursch, Johannes, August der Starke und die Katholische Kirche in den Jahren 1697–1720, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 24 (1903), S. 86–135, 232–280, hier insb. S. 241–243; Seifert, Siegfried, Niedergang und Wiederaufstieg der Katholischen Kirche in Sachsen 1517–1773, Leipzig 1964, S. 148–153. Vgl. Rosseaux, Bedrohtes Zion, mit weiteren Literatur- und Quellenhinweisen sowie Leibetseder, Hostie im Hals, bzw. den Beitrag des gleichen Autors in diesem Sammelband.

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warum der Dresdner Stadtrat sich entgegen allen seinen sonstigen Gepflogenheiten in das Abenteuer eines hinsichtlich seiner Realisierbarkeit und vor allem seiner Finanzierung reichlich unsicheren Projekts gestürzt hatte. Die neu zu errichtende Frauenkirche war gedacht als ein an Deutlichkeit nicht mehr überbietbares Zeichen der Evangelizität Dresdens. Dem ungeliebten und abgelehnten Prozess der konfessionellen Pluralisierung sollte diese in Stein gehauene und in die architektonische Form einer genuin protestantischen Kirche gebrachte Botschaft entgegengesetzt werden. Diese Motivlage kam denn auch in der feierlichen Grundsteinlegung am 26. August 1726 klar zum Ausdruck.10 Vor mehr als 10.000 Zuschauern – dies entsprach einem knappen Viertel der damaligen Einwohnerzahl Dresdens – wurde das gesamte semiotische Arsenal der lutherischen Festkultur aufgeboten. Kanzelankündigung der Feier am Sonntag davor, feierliches morgendliches Einläuten am Festtag selbst, festlicher Zug des Rates und der Geistlichkeit zum Bauplatz, Hinterlegung eines Exemplars der Confessio Augustana im Grundstein, Festgottesdienst und eine Festpredigt des Dresdner Superintendenten Valentin Ernst Löscher über Jesaja, Kapitel 28, Vers 16: „Darum – so spricht Gott, der Herr: Seht her, ich lege einen Grundstein in Zion“.11 Diese mehr als nur implizite Identifikation Dresdens mit Jerusalem illustriert, in welchen symbolischen Dimensionen der Neubau der Frauenkirche angesiedelt war. Aufgrund der ungesicherten Finanzierung tat sich zwischen dem symbolischen Anspruch und dem tatsächlichen Fortgang des Bauprojekts allerdings alsbald eine unübersehbare Kluft auf. Schon im Oktober 1727 zeigte sich, dass der ursprüngliche Kostenansatz von gut 82.000 Talern nicht zu halten war und man von mindestens 120.000 Talern ausgehen musste.12 Um dieses finanzielle Loch zu schließen, ergriff der Dresdner Rat eine ganze Reihe von Maßnahmen. So ließ er beispielsweise Kollekten zugunsten des Baus sammeln, er organisierte eine Frauenkirchenlotterie und er versuchte die Sitzplätze und Betstühle des Neubaus möglichst gewinnbringend an den Mann zu bringen. Die erhofften Erträge blieben jedoch zum Teil deutlich hinter den Erwartungen zurück und die wackelige Finanzierung blieb die Achillesverse des Projekts. Sie gefährdete nicht allein die Vollendung des Neubaus, sondern darüber 10

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Hierzu und zum Folgenden [Rothe, J. A.], Kurtzer / doch zuverläßlicher Bericht Von denen Solennitaeten, Welche bey beschehener Legung des Grund-Steins zu der Neuen Frauen-Kirche in Dreßden [...], Dresden 1726, S. 13–25 nach einer handschriftlichen Vorlage aus StadtA Dresden, Ratsarchiv, B II 19, Den neuen Frauen Kirchen Bau allhier und die anläßlich desselben erfolgte Niederreißung der alten Frauenkirche betr. Vol. II. [1726–1730], fol. 37–52v: „Kurtze Beschreibung derer Solennitäten, welche am 26. Augusti anno 1726 beÿ Legung des Grundsteines zu einer neuen Kirche zu Dreßden, an statt der allten baufälligen Frauen Kirche allda vorgegangen.“ Vgl. Löscher, Valentin Ernst, Als Am 26. August. An. 1726 Der Grund-Stein [...], Dresden 1726, S. 26, 36f., 39f. Hierzu und zum Folgenden: Hennig, Gitta Kristine, Der Verlauf der Bautätigkeit an der Frauenkirche in den Jahren 1728–1729. Der zweite Bauabschnitt, in: Die Dresdner Frauenkirche. Jahrbuch zu ihrer Geschichte und zu ihrem archäologischen Wiederaufbau 2 (1996), S. 33–56.

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hinaus und vor allem die Position des Rates als alleinigem Entscheider und damit mittelbar auch die symbolische Bedeutung des Baus. Denn als das angestrebte steingewordene Zeichen des evangelischen Dresdens, als Symbol des sächsischen Zion, konnte die neue Frauenkirche nur dann wirken, wenn sie konfessionell lupenrein protestantisch blieb. Und eine der entscheidenden Voraussetzungen hierfür war, dass die Entscheidungsgewalt über den Neubau und seine Nutzung ausschließlich bei den kommunalen Instanzen lag. Oder anders formuliert: es galt, möglichen Eingriffen von Seiten des Landesherrn vorzubeugen. Dies betraf nicht die architektonischen Fragen. Über das Oberbauamt und die Oberbaukommission, personifiziert in Gestalt von Knöffel und Wackerbarth, hatte August der Starke in der Planungsphase in dieser Hinsicht durchaus einigen Einfluss ausgeübt. Die Sorgen des Stadtrates und mehr noch des Superintendenten Löscher galten vielmehr möglichen Eingriffen des Königs und Kurfürsten in die zukünftige Nutzung der neuen Frauenkirche. Konkret befürchtete man deren Umwandlung in eine Simultankirche, die dann nicht allein für evangelische, sondern auch für katholische Gottesdienste zur Verfügung gestanden hätte.13 Diese Überlegungen mögen aus heutiger Perspektive übertrieben ängstlich, vielleicht sogar paranoid anmuten, für die zeitgenössischen Akteure jedoch gab es durchaus triftige Gründe dafür: Zum einen stand ihnen mit den 1698 in der Kurpfalz zwangsweise verordneten Simultaneen ein noch nicht allzu lange zurückliegendes Exempel für einen massiven landesherrlichen Eingriff in die Rechte einer protestantischen Landeskirche vor Augen.14 Auch im Fall der pfälzischen Zwangssimultaneen hatte ein konfessioneller Wechsel an der Landesspitze vom Protestantismus zum Katholizismus am Beginn der Entwicklung gestanden. Zwar war die konfessionelle Veränderung in der Kurpfalz nicht durch Konversion, sondern durch Erbfolge hervorgerufen worden – die Analogie zu den Verhältnissen in Kursachsen war dennoch zu offensichtlich, als dass sie nicht einen fruchtbaren Boden für allerlei Befürchtungen geboten hätte. Zum anderen hatte man in Dresden mit dem Simultaneum im Bautzner Dom St. Petri, der ältesten Einrichtung dieser Art im Alten Reich, zudem noch ein weiteres räumlich naheliegenderes Beispiel für eine gemischtkonfessionelle Kirchennutzung vor Augen.15

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Vgl. StadtA Dresden, Ratsarchiv, B II 14, Die Baufälligkeit der (alten) Frauenkirche und deren Neubau betreffend. Vol. I., fol. 74–77: Protokoll einer Ratssitzung im Beisein des Superintendenten Löscher (1723 VIII 12), hier insb. fol. 75 mit dem Bedenken des Syndikus Behrisch, „daß ein Simultaneus cultus darinnen zu halten angesonnen werden möchte“, sofern sich der Baubeginn der neuen Frauenkirche zu stark hinauszögern würde. Siehe außerdem: Münchow, Christoph, „... damit das Werk zu vollkommenem Stand gebracht werde“. Valentin Ernst Löscher und der Bau der Frauenkirche, in: Die Dresdner Frauenkirche. Jahrbuch zu ihrer Geschichte und zu ihrem archäologischen Wiederaufbau 5 (1999), S. 133–143. Vgl. Ammerich, Hans, Die Entstehung der Simultankirchen in der Pfalz, in: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 62 (2010), S. 199–218; Flegel, Christoph, Die Rijswijker Klausel und die lutherische Kirche in der Kurpfalz, in: Duchhardt, Heinz (Hrsg.), Der Friede von Rijswijk 1697, Mainz 1998, S. 271–280. Vgl. Seifert, Siegfried, Dom St. Petri Bautzen, Regensburg 2008.

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Um den Albtraum einer Frauenkirche als Simultaneum nicht Wirklichkeit werden zu lassen, bedienten sich der Stadtrat und die evangelische Geistlichkeit der Normaljahrsregelung des Westfälischen Friedens. Darin war bekanntlich festgelegt worden, dass die religiösen Verhältnisse in den Territorien des Heiligen Römischen Reiches just auf dem Stand fixiert wurden, der am 1. Januar 1624 gegolten hatte. Für Kursachsen und Dresden hieß dies – jedenfalls nach der restriktiven Lesart von Rat und evangelischer Geistlichkeit –, dass ausschließlich lutherische Kirchen und Gottesdienste zulässig waren. Um diese Rechtsposition zu untermauern, legte namentlich der Dresdner Superintendent Valentin Ernst Löscher akribische Mühe an den Tag.16 Den Gottesdienst in der alten Frauenkirche beispielsweise ließ er so lange es nur irgend möglich war weiterhin abhalten und in der Zeit danach wurden die Frauenkirchenpredigten in andere Dresdner Kirchen verlegt. Sinn und Zweck dieser aufwändigen Interimslösung war die Aufrechterhaltung der kirchenrechtlichen Fiktion eines ununterbrochenen Frauenkirchengottesdienstes. Niemand – vor allen Dingen nicht der Landesherr – sollte behaupten können, der Gottesdienst in der Frauenkirche sei unterbrochen oder gar vakant geworden, um damit gegebenenfalls eine Nutzungsänderung der neuen Frauenkirche begründen zu können.17 Wie tief solche Ängste auf evangelischer Seite saßen, verdeutlicht das Vorgehen des Superintendenten Löscher nach dem Tod Augusts des Starken 1733. Zwar hatte der neue Kurfürst Friedrich August II. dem Stadtrat bereits kurz nach seinem Regierungsantritt finanziell unter die Arme gegriffen und damit den Bau der Kuppel der Frauenkirche ermöglicht. Allerdings hatte er dies auf eine Art und Weise getan, die mit Blick auf seine zukünftige Konfessionspolitik durchaus ambivalent gewertet werden konnte. Denn er hatte jene gut 28.000 Taler für den Frauenkirchenbau bestimmt, die 1732 zur Unterstützung der vertriebenen Salzburger Protestanten in Kursachsen gesammelt worden waren.18 Wie überall im evangelischen Deutschland hatte das Schicksal der vom Salzburger Fürsterzbischof aus ihrer Heimat ausgewiesenen Glaubensbrüder auch in Sachsen großes Aufsehen erregt und die Spendenbereitschaft erheblich befördert. Dass diese Gelder nun durch eine landesherrliche Entscheidung anstatt für ihren ursprünglichen Zweck für den Weiterbau der Dresd16 17 18

Vgl. Münchow, Löscher und der Bau der Frauenkirche, S. 137–142. Vgl. ebd., S. 139–141. Vgl. StadtA Dresden, Ratsarchiv, B II 27, Den Frauen Kirchen Bau betr. Vol. III. [1728– 1736], fol. 152–153. Siehe zudem Hennig, Gitta Kristine, Der Verlauf der Bautätigkeit an der Frauenkirche in den Jahren 1730–1732. Der dritte Bauabschnitt, in: Die Dresdner Frauenkirche. Jahrbuch zu ihrer Geschichte und zu ihrem archäologischen Wiederaufbau 3 (1997), S. 15–50, hier insb. S. 29f.; Köckeritz, Walter, Die Salzburger Emigranten und die Dresdner Frauenkirche, in: Die Dresdner Frauenkirche. Jahrbuch zu ihrer Geschichte und zu ihrem archäologischen Wiederaufbau 4 (1998), S. 225–227; Baerfacker, Hedda, Die Salzburger Emigranten in Sachsen, in: Mitteilungen der Gesellschaft für Salzburger Landeskunde 130 (1990), S. 485–499. Allgemein zur Geschichte der Salzburger Emigranten vgl. Florey, Gerhard, Geschichte der Salzburger Protestanten und ihrer Emigration 1731/32, 2. Aufl., Wien/Köln/Graz 1986; Arnold, Carl Franklin, Die Vertreibung der Salzburger Protestanten und ihre Aufnahme bei den Glaubensgenossen, Leipzig 1900.

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ner Frauenkirche eingesetzt wurden, war aus gleich zwei Gründen problematisch: Zum einen handelte es sich offensichtlich um einen willkürlichen Eingriff des katholischen Kurfürsten in die Belange der evangelisch-lutherischen Landeskirche. Friedrich August  II. hatte Geld verschenkt, das ihm nicht gehörte. Für das zukünftige Verhältnis zwischen dem Kurfürsten und seiner Landeskirche war dies kein gutes Omen. Zum anderen bedrohte die kurfürstliche Finanzspritze die bisher eisern verteidigte alleinige Entscheidungshoheit des Dresdner Stadtrates in Sachen Neubau der Frauenkirche. Wer wie der Kurfürst eine derart hohe Summe für den Fortgang der Arbeiten zur Verfügung stellte, der konnte, wenn er dies denn ernsthaft wollte, auch Einfluss in seinem Sinne nehmen. Angesichts dieser ambivalenten und ungeklärten Situation entschloss sich Löscher, Fakten zu schaffen. Am 18. Februar 1734 teilte er dem Rat überraschend mit, dass er – Löscher selbst – am übernächsten Sonntag, dem 28. Februar 1734, die erste evangelische Predigt im Neubau der Frauenkirche halten werde.19 Und mehr noch: dies sei zugleich der Beginn der regulären sonntäglichen Gottesdienste in dem noch unfertigen aber schon benutzbaren Kirchengebäude. Der von Löscher überrumpelte Stadtrat machte ein Vielzahl von Einwänden geltend, die mit der Sorge um die endgültige Fertigstellung des Baus begründet wurden. Allein, es nutzte nichts. Der Superintendent setzte sich durch und eröffnete die noch unvollendete neue Frauenkirche an dem von ihm avisierten Termin. Dieser war keineswegs zufällig ausgewählt worden, sondern besaß – wie so vieles an der Frauenkirche – eine symbolische Dimension. Denn der 28. Februar 1734 war der Sonntag Sexagesimae, der zweite Sonntag vor Beginn der Fastenzeit, der auf die von da an noch etwa 60 Tage dauernde Frist bis zur Passion Christi verwies. Dies aber war exakt jener Sonntag im Kirchenjahr, an dem 1727 der letzte Gottesdienst in der alten Frauenkirche gehalten worden war.20 Noch deutlicher konnte die Geltungsbehauptung einer ununterbrochenen Kontinuität zwischen der alten und der neuen Kirche nicht demonstriert werden. Auch dies mag dazu beigetragen haben, dass Friedrich August II. in den weiteren Baufortschritt der Frauenkirche oder gar deren Nutzung nicht eingriff. Dass dies keine Selbstverständlichkeit war, zeigen seine Interventionen in anderen konfessionspolitisch heiklen Fragen. So hatte er beispielsweise wenig Skrupel gezeigt, 1737 den evangelischen Hofgottesdienst aus dem Schloss in die Sophienkirche verlegen zu lassen und gleichzeitig die evangelische Hofkapelle aufzugeben.21 Diese Verdrängung der lutherischen Religionsausübung aus den Räumlichkeiten der Macht hatte für erhebliche Unruhe in der Öffentlichkeit gesorgt, was den König und Kurfürsten 19 20 21

Vgl. hierzu und zum Folgenden StadtA Dresden, RA, B II 27, fol. 207–211. Vgl. Münchow, Löscher und der Bau der Frauenkirche, S. 141. Vgl. Rosseaux, Das bedrohte Zion, S. 227. Siehe außerdem Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden, Loc. 773/03, Die Schloß-Capelle zu Dreßden von ao. 1708 seq. Was wegen Verlegung des Evangelischen Hof-Gottesdiensts aus dieser Capelle in die Sophien-Kirche daselbst vorgegangen. ao. 1737, 38, 39, 60; Loc. 1872, Die Translocation des Evangelischen Hoff-Gottes-Dienstes aus der Schloß-Capelle in die Sophien Kirche zu Dreßden betr. 1737–40; StadtA Dresden, Ratsarchiv, B III 108k, Nachrichten die Verlegung des evangelischen Hofgottesdienstes in die Sophienkirche betr. 1737, fol. 1–3.

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jedoch nicht kümmerte. Bei der Frauenkirche jedoch nahm er – wohl im Wissen um deren enorme symbolische Bedeutung – mehr Rücksicht auf das religiöse Gefühlsleben seiner protestantischen Untertanen. So kam es, dass die Frauenkirche nach ihrer endgültigen Fertigstellung 1743 genau das wurde, was sie nach den Intentionen von Stadtrat und evangelischer Geistlichkeit von Anfang sein sollte: die steingewordene Selbstvergewisserung des evangelischen Dresden. Dieses „Sankt Peter der wahren evangelischen Religion“ dominierte den Neumarkt, einen der beiden zentralen Plätze der Residenz, und bildete in der Silhouette der Stadt ein markantes und weithin sichtbares Zeichen.

II. Die Hofkirche Allerdings blieb die Frauenkirche nicht lange ohne Konkurrenz. Der König und Kurfürst mochte davon absehen, dieses evangelische Symbol anzutasten. Das jedoch war keinesfalls gleichbedeutend mit dem Verzicht auf eine architektonische Aufwertung der eigenen, katholischen Konfession, wie sie dann ab 1739 in Gestalt der neuen Hofkirche realisiert wurde.22 Sie sollte das aus dem 17. Jahrhundert stammende alte Opernhaus am Taschenberg ablösen, das – nach entsprechenden Umbauten – seit 1709 für die katholischen Gottesdienste in Dresden genutzt worden war. Auch dieses Kirchenneubauprojekt war weniger praktischen, sondern vorrangig symbolisch-repräsentativen Überlegungen entsprungen. Anstelle eines Provisoriums sollte eine richtige Kirche sichtbar davon künden, dass es dem Katholizismus nach 1697 gelungen war, in Sachsen, im Mutterland der Reformation, wieder Fuß zu fassen. Dass sich diese Wiederkehr auf quantitativ überschaubarem Niveau vollzogen und sich im Wesentlichen auf die beiden großen städtischen Zentren Dresden und Leipzig beschränkt hatte, war dabei nicht entscheidend. Wichtig war die in eine architektonische Form gegossene inhaltliche Aussage. Tatsächlich besaß bereits das äußere Erscheinungsbild der neuen Hofkirche genügend Merkmale, die sie als eindeutig katholische Kirche auswiesen.23 Die Formensprache des Architekten Gaetano Chiaveri orientierte sich am römischen Barock und nahm zudem Anleihen beim jesuitischen Kirchenbau. Hinzu kam das von Lorenzo Matielli geschaffene Figurenprogramm, das mit seinen 78 monumentalen Heiligenstatuen und allegorischen Figuren von ei22

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Zur Geschichte der katholischen Hofkirche siehe Seifert, Siegfried/Ullmann, Klemens, Katholische Hofkirche Dresden. Kathedrale des Bistums Dresden-Meißen, Leipzig 2000; Forwerk, Friedrich August, Geschichte und Beschreibung der königlichen katholischen Hof- und Pfarrkirche zu Dresden, Dresden 1851; Schäfer, Wilhelm, Die katholische Hof-Kirche zu Dresden, Dresden 1851; Hempel, Eberhard, Gaetano Chiaveri. Der Architekt der katholischen Hofkirche zu Dresden, Dresden 1955; Ders./Löffler, Fritz, Die Katholische Hofkirche zu Dresden, 8. Aufl., Berlin 1987. Nicht immer zuverlässig sind hingegen die Nachrichten in: Kurzer Bericht die Geschichte des Baues der hiesigen katholischen katholischen Hofkirche enthaltend, Dresden [ca. 1845]. Vgl. Löffler, Fritz, Das alte Dresden. Geschichte seiner Bauten, 15. Aufl., Leipzig 2002, S. 206f.

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ner spezifisch katholischen Frömmigkeitspraxis kündete.24 Insofern war die neue katholische Hofkirche als Pendant, ja als Antipode zur evangelischen Frauenkirche angelegt. In den beiden Kirchenbauten standen sich jene zwei Konfessionen und politisch-kulturelle Sphären antithetisch gegenüber, die Dresden in der Mitte des 18. Jahrhunderts prägten: hier die lutherische Stadtgemeinde mit Rat und evangelischer Geistlichkeit, dort der König und Kurfürst mit dem Hof und den Jesuiten der katholischen Hofkapelle. Ganz ähnlich wie die Frauenkirche bestand auch bei der neuen katholischen Hofkirche ein Spannungsverhältnis zwischen dem symbolischen Anspruch einerseits und bestimmten Aspekten der zeitgenössischen Realität andererseits. Dies galt beispielsweise für den Ort, an dem sie errichtet wurde. Während die Frauenkirche in zentraler und prestigeträchtiger Lage am Neumarkt stand, war das für den Bau der Hofkirche vorgesehene Terrain wenig attraktiv. Eingeklemmt zwischen Schloss, Brücke und Stadtbefestigung fehlte der Kontakt zum Rest der Stadt. Auch galten solche Randlagen nach den städtebaulichen Maßstäben der Epoche als minderwertig. An oder schlimmer noch vor der Stadtmauer wohnten gemeinhin die Armen, die Randgruppen und die religiösen Minderheiten. Insofern reproduzierte sich im Standort der neuen katholischen Hofkirche die gesellschaftliche Minderheitenposition der Katholiken in Sachsen und Dresden. Allerdings gelang es, diesen Standortnachteil zu einem Gutteil wettzumachen. Der Bauplatz wurde durch das Abtragen eines Teils der Stadtbefestigung – der sogenannten Mondbastei – und durch das Zuschütten zweier Bögen der Elbebrücke signifikant vergrößert.25 Dadurch konnte sich das Kirchengebäude räumlich besser entfalten. Vor allem aber profitierte die Hofkirche von einem architektonischen Kunstgriff ihres Architekten. Durch den Verzicht auf die Ausrichtung des Chores nach Osten konnte Chiaveri den Bau so platzieren, dass er sich in das Stadtbild Dresdens als markanter Beitrag einfügte und visuell zur Geltung kam.26

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Vgl. Hempel, Chiaveri, S. 31–103, hier insb. S. 36 zum Zusammenhang mit der ehemaligen Jesuitenkirche Nuestra Senora de Belen in Barcelona sowie S. 127–159 zu den Statuen Mattiellis. Zu Person und Werk des letzteren siehe Rudert, Konstanze, Lorenzo Mattielli in seiner Dresdner Zeit (1738–1748). Studien zu Leben und Werk eines Bildhauers des Spätbarock in Sachsen, Diss. Dresden 1995; Dies., Lorenzo Mattielli – ein italienischer Bildhauer am Dresdner Hof, in: Marx, Barbara (Hrsg.), Elbflorenz. Italienische Präsenz in Dresden 16.–19. Jahrhundert, Amsterdam/Dresden 2000, S. 203–220; Seifert, Siegfried, Das Bildprogramm der katholischen Hofkirche in Dresden. Kathedrale des Bistums Dresden-Meißen, in: Ecclesia Dresdensis Triumphans. Künstlerhaus Wien, 9. September–27. November 1988 [Katalog zur Ausstellung ‚Ecclesia Dresdensis Triumphans – Christliche Kunst am Hofe der sächsischen Könige von Polen‘‘], Wien 1988, S. 9–20. Zu den römischen Einflüssen vgl. außerdem Röttgen, Steffi, Hofkunst – Akademie – Kunstschule – Werkstatt. Texte und Kommentare zur Kunstpflege von August III. von Sachsen und Polen bis zu Ludwig I. von Bayern, in: Münchener Jahrbuch für Bildende Kunst 36 (1985), S. 131–181, hier insb. S. 132–142. Vgl. Forwerk, Geschichte und Beschreibung, S. 34f.; Hempel, Chiaveri, S. 96–99. Vgl. Hempel, Chiaveri, S. 37.

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Andere Restriktionen, denen die Hofkirche unterworfen war, ließen sich hingegen nicht derart elegant umgehen. Dies galt insbesondere für die Bestimmung, dass die geistlichen Handlungen der katholischen Priester in Dresden nicht in der Öffentlichkeit stattfinden durften. Gottesdienste, aber auch Taufen oder Hochzeiten, konnten – außer in Privatwohnungen – nur innerhalb der Hofkirche abgehalten werden. Selbst Prozessionen waren auf das Kircheninnere beschränkt, weshalb die katholische Hofkirche über einen eigens dafür gedachten Umgang verfügt. Hingegen erhielt sie kein Geläut, damit die Dresdner Katholiken, wenn sie aufgrund der Größe der neuen Kirche schon nicht unsichtbar waren, so doch zumindest unhörbar blieben. Die bereits 1747 für die Hofkirche gegossenen Glocken konnten erst 1807, d. h. nach der im Posener Frieden erfolgten rechtlichen Gleichstellung der Katholiken in Sachsen ihrer Bestimmung zugeführt werden.27 Auch die Weihe der Kirche am 29. Juni 1751 fand unter restriktiven Rahmenbedingungen statt.28 Aus Rücksicht auf die Empfindlichkeiten der Dresdner Lutheraner und um möglichen Aufruhr zu vermeiden, hatte der König und Kurfürst auf eine im eigentlichen Sinne öffentliche Feier wohlweislich verzichtet. Stattdessen waren auf dem Platz zwischen Schloss und Kirche Zelte aufgebaut worden, in deren Sichtschutz wenigstens die Minimalversion einer festlichen Einholung des Herrscherpaares durch die katholischen Geistlichen erfolgen konnte. Der gesamte Rest der Feierlichkeiten fand dann in der Hofkirche selbst statt, die währenddessen verschlossen blieb und deren Eingänge bereits seit den frühen Morgenstunden durch Soldaten bewacht wurden.

III. Fazit Die Frauenkirche und die Hofkirche in Dresden waren zwei der bedeutendsten Kirchenbauprojekte des 18. Jahrhunderts mindestens im deutschen Sprachraum, wahrscheinlich aber sogar europaweit. Ihre Errichtung war untrennbar mit den konfessionellen Spannungen ihrer Entstehungszeit verknüpft. Erst das Reizklima der religiösen Pluralisierung in Kursachsen im Allgemeinen und in Dresden im Besonderen setzte die Energien frei, die erforderlich waren, zwei solch ehrgeizige Projekte anzugehen und in die Tat umzusetzen. Beide Kirchen verkörperten den Anspruch auf Präsenz im öffentlichen Raum und symbolisierten auf diese Weise den politischen und sozialen Stellenwert ihrer jeweiligen Konfession. Dabei war das Ergebnis dieses Kampfes der Steine weitaus uneindeutiger und komplexer als die ursprünglichen Absichten der historischen Akteure. Die Frauenkirche erfüllte zwar die ihr zugedachte Funktion als architektonisches Zeichen der Evangelizität Dresdens. Dennoch lief der durch sie formulierte Dominanzanspruch letztlich ins Leere. Nur wenige Jahre nach ihrer Fertigstellung entstand in ihrer Sichtweite mit der Hofkirche das ebenfalls steingewordene Zeugnis der Existenz einer quantitativ nennenswerten katholischen Minderheit in der Stadt. 27 28

Vgl. Forwerk, Geschichte und Beschreibung, S. 67. Vgl. hierzu und zum Folgenden ebd., S. 42–46.

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Der religiöse Pluralisierungsprozess ließ sich auch durch noch so große architektonische Anstrengungen nicht aufhalten oder gar umkehren. Und auf der anderen Seite symbolisierte auch die Hofkirche keineswegs den Triumph der allein seligmachenden heiligen katholischen Kirche. Vielmehr dokumentierten die ihr auferlegten Restriktionen – kein Geläut, unattraktiver Standort, keine sichtbare Präsenz des Katholischen außerhalb der Kirchenmauern – nur zu deutlich den rechtlich benachteiligten Minderheitenstatus der Katholiken. Auch hier galt: mit Architektur ließen sich die konfessionspolitischen Rahmenbedingungen im Kursachsen des 18. Jahrhunderts nicht entscheidend verändern. Für den gesamten Verlauf des religiösen Pluralisierungsprozesses schließlich markierten die Frauenkirche und die Hofkirche den Abschluss einer ersten stark konfliktbehafteten Phase. Bereits während ihrer Bauzeit beanspruchten sie einen beträchtlichen Teil der konfligierenden konfessionellen Energie, so dass andere Felder der Auseinandersetzung an Bedeutung verloren. Mit ihrer Fertigstellung war dann ein Stand des Verhältnisses zwischen den Konfessionen erreicht, der sich bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts nicht mehr grundlegend verändern sollte. Die Lutheraner lernten es nolens volens hinzunehmen, dass die ungeliebte religiöse Pluralisierung nicht wieder rückgängig zu machen war. Umgekehrt mussten die Katholiken in Sachsen es ertragen, dass sie sowohl individuell als auch institutionell nicht die gleichen Rechte genossen wie die lutherische Mehrheitsbevölkerung. Dieser modus vivendi bildete die Grundlage für eine im Vergleich zur ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts deutlich friedlichere Koexistenz der Konfessionen in der zweiten Hälfte des Säkulums. Insofern besaß der Kampf der Steine mittelfristig gesehen sogar eine pazifizierende Wirkung.

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III. Vergleichsebenen

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Zwischen Freiwilligkeit und Zwang – konfessioneller Pluralismus in Schlesien Frank Metasch

Der Prozess der konfessionellen Pluralisierung setzte in den böhmischen Kronländern bekanntlich weitaus früher ein als in den anderen Reichsterritorien und führte zudem zu einem weitaus größeren Spektrum an Glaubensrichtungen.1 Entsprechend früh mussten Lösungen für das weitere Zusammenleben gefunden werden. Bezeichnenderweise wurde auch in den böhmischen Ländern die Spaltung der Gesellschaft als Bedrohung empfunden, anders aber als später im Reich nicht die erzwungene Wiederherstellung der konfessionellen Einheit als einzige Möglichkeit gesehen. Als wichtiger Schritt auf der Suche nach einem gleichberechtigten konfessionellen Ausgleich steht hier der Kuttenberger Religionsfrieden2 von 1485. Vor allem solche Religionsverträge, die das Zusammenleben unterschiedlicher Glaubensrichtungen rechtlich regelten, stellten – folgt man beispielsweise Winfried Schulze – eine wichtige erste Etappe auf dem langen Weg zur Toleranz dar. Denn egal, ob das gemeinsame Miteinander nun auf freiwilliger oder erzwungener Basis erfolgte, scheint gerade hierin eine der langfristigen Voraussetzungen für die Entstehung von Toleranz zu liegen.3 Die multikonfessionelle Gesellschaft in den Ländern der Böhmischen Krone ist jedenfalls ein gern angeführtes Beispiel dafür, dass der Umgang mit dem Anderen dort leichter gefallen zu sein scheint, wo verschiedene Konfessionen bereits 1

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Als Überblick zur Konfessionalisierung im Königreich Böhmen und der eng damit verbundenen Markgrafschaft Mähren vgl. Machilek, Franz, Böhmen, in: Schindling, Anton/Ziegler, Walter (Hrsg.), Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung. Land und Konfession 1500–1650, Bd. 1: Der Südosten (Katholisches Leben und Kirchenreform im Zeitalter der Glaubensspaltung 49), Münster 1989, S. 134–152; Richter, Karl, Die böhmischen Länder von 1471–1740, in: Bosl, Karl (Hrsg.), Handbuch der Geschichte der böhmischen Länder, Bd. 2: Die böhmischen Länder von der Hochblüte der Ständeherrschaft bis zum Erwachen eines modernen Nationalbewusstseins, Stuttgart 1974, S. 99–412; Graus, František, Böhmen und Mähren I, in: Theologische Realenzyklopädie, Studienausgabe Teil 1, Bd. 6, Berlin/New York 1993, S. 754–762; Turnwald, Erik, Böhmen und Mähren II, in: ebd., S. 762–770. Auf entsprechende Literatur zum Herzogtum Schlesien wird weiter unten verwiesen (vgl. Anm. 9). Vgl. Eberhard, Winfried, Entstehungsbedingungen für öffentliche Toleranz am Beispiel des Kuttenberger Religionsfriedens von 1485, in: Communi viatorum 19 (1986), S. 129– 154. Vgl. Schulze, Winfried, Pluralisierung als Bedrohung: Toleranz als Lösung, in: Duchhardt, Heinz (Hrsg.), Der Westfälische Friede. Diplomatie – politische Zäsur – kulturelles Umfeld – Rezeptionsgeschichte (Historische Zeitschrift, Beihefte, Neue Folge 26), München 1998, S. 115–140, hier insbes. S. 116f.

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seit längerem zusammenlebten bzw. aneinandergrenzten. Beispielsweise fasst Jörg Deventer neuere Forschungsergebnisse zum Thema Konversion dahingehend zusammen, „dass religiöse Neu- und Umorientierungen insbesondere in solchen europäischen Ländern und Regionen an der Tagesordnung waren, in denen Angehörige verschiedener Glaubensrichtungen de jure oder de facto zusammenlebten oder über Herrschaftsgrenzen hinweg eine unmittelbare Nachbarschaft zu anderen Konfessionen gegeben war“.4 Entsprechend ist gerade für die böhmischen Kronländer eine hohe konfessionelle Mobilität zu konstatieren, und es waren wiederum Konvertiten, die ein ungewöhnlich offenes und zwangloses Verhältnis zu Anderskonfessionellen vorlebten.5 Die Länder der Böhmischen Krone bieten sich somit für das Thema „Konfession und Konflikt“ regelrecht an. In besonderem Maß gilt dies für das Herzogtum Schlesien, das in religionspolitischer Hinsicht unter den böhmischen Nebenländern sogar noch eine Sonderstellung einnahm. Denn als einziges kaiserliches Erbland konnte Schlesien mittels spezieller Religionsvereinbarungen seine bi- bzw. sogar multikonfessionelle Gesellschaft über die Frühe Neuzeit hinweg bewahren, wobei sich mehrfach konfliktärmere und -reichere Zeiten abwechselten. Im Folgenden soll schlaglichtartig diese Entwicklung der konfessionellen Pluralisierung in Schlesien betrachtet werden. Ein Hauptaugenmerk wird dabei auf den für das Zusammenleben von Menschen unterschiedlichen Glaubens so wichtigen rechtlichen Grundlagen liegen.

I. Der Konfessionalisierungsprozess in Schlesien bis zur Altranstädter Konvention Die konfessionelle Pluralität Schlesiens beruhte wesentlich auf der besonderen politischen Verfassung6 des Landes. Aufgrund zahlreicher Erbteilungen war das alte Herzogtum Schlesien bereits im Mittelalter in eine Vielzahl immer kleiner wer4

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Deventer, Jörg, Grenzen überschreiten. Konversionen zum Katholizismus in Böhmen und Schlesien im späten 16. und 17. Jahrhundert, in: Bobková, Lenka/Konvicˇná, Jana (Hrsg.), Náboženský život a církevní pomeˇry v zemích Koruny cˇeské ve 14.–17. století/ Religiöses Leben und kirchliche Verhältnisse in den Ländern der Böhmischen Krone im 14.–17. Jahrhundert (Ziemie koronne w dzeijach pan´stwa czeskiego 4/Die Kronländer in der Geschichte des böhmischen Staates 4), Prag 2009, S. 670–682, hier S. 670f. Vgl. das von Deventer angeführte Beispiel adliger Konvertiten. Ebd., S. 680f. Zur politischen Verfassung des Herzogtums Schlesien vgl. zum Beispiel Bahlcke, Joachim, Religion, Politik und Späthumanismus. Zum Wandel der schlesisch-böhmischen Beziehungen im konfessionellen Zeitalter, in: Garber, Klaus (Hrsg.), Kulturgeschichte Schlesiens in der Frühen Neuzeit, Bd. 1 (Frühe Neuzeit 111), Tübingen 2005, S. 69–92, hier S. 76–78; Eickels, Christine van, Schlesien im böhmischen Ständestaat. Voraussetzungen und Verlauf der böhmischen Revolution von 1618 in Schlesien (Neue Forschungen zur Schlesischen Geschichte 2), Köln/Weimar/Wien 1994, S. 8–52; Machilek, Franz, Schlesien, in: Schindling, Anton/Ziegler, Walter (Hrsg.), Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung. Land und Konfession 1500–1600, Bd. 2: Der Nordosten (Katholisches Leben und Kirchenreform im Zeitalter der Glaubensspaltung 50), 3. Aufl., Münster 1993, S. 102–138, hier S. 102–111.

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dender Fürstentümer zerfallen. Während der Regierungszeit König Karls IV. (reg. 1346/47–1378, ab 1355 Kaiser) gelangten diese einzelnen schlesischen Territorien in den Besitz des Königreichs Böhmen und wurden damit als mittelbare Lehen auch Teil des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation. Als böhmisches Nebenland blieb Schlesien jedoch weiterhin ein eigenständiges Herzogtum, das der böhmische König nur in seiner Funktion als oberster schlesischer Herzog regierte und in dem sich die Stände weitreichende Souveränitätsrechte7 bewahren konnten. Mit der Wahl des späteren Kaisers Ferdinand I. (reg. als Kaiser 1556–1564) zum böhmischen König gelangte der schlesische Territorialverband 1526 an die habsburgisch-österreichische Dynastie. Zu diesem Zeitpunkt gliederte sich das Herzogtum politisch in fünf sogenannte Erbfürstentümer, sieben Mediatfürstentümer sowie verschiedene größere und kleinere Standesherrschaften.8 Nur in den Erbfürstentümern übten die böhmischen Könige als oberste schlesische Herzöge die Landesherrschaft aus. In den ihnen nur mittelbar unterstehenden Mediatfürstentümern lagen die landesherrlichen Rechte weiterhin bei den jeweils regierenden Fürstengeschlechtern. Da jeder dieser Mediatfürsten entsprechend des „ius reformandi“ auch das alleinige Verfügungsrecht über das Bekenntnis seiner Untertanen beanspruchte, schlug die Konfessionalisierung9 in Schlesien unterschiedliche Wege ein. Bereits seit Anfang der 1520er Jahre hatte in weiten Teilen Schlesiens die Reformation Einzug gehalten und sich, da keine ernsthafte katholische Gegenkraft existierte, schnell durchgesetzt; allerdings ohne dass sich dabei eine einheitliche lutherische Landeskirche herausbilden konnte. Auch die Habsburger konnten aus politischer Rücksichtnahme keine effektiven Schritte gegen das Vordringen der Reformation einleiten. Für sie hieß es vor allem erst einmal, ihre 1526 neu erworbenen politischen und wirtschaftlichen Ansprüche durchzusetzen. Zudem waren sie wegen der drohenden Türkengefahr auf die ständischen Steuer- und Militärbewilligungen angewiesen und mussten daher innenpolitische Konfrontationen vermeiden. 7 8 9

Vgl. Eickels, Schlesien im böhmischen Ständestaat, S. 18. Vgl. Machilek, Schlesien, S. 103. Auch hier nur als Auswahl: Deventer, Jörg, Konfrontation statt Frieden. Die Rekatholisierungspolitik der Habsburger in Schlesien im 17. Jahrhundert, in: Garber, Kulturgeschichte Schlesiens, S. 265–283; Ders., Gegenreformation in Schlesien. Die habsburgische Rekatholisierungspolitik in Glogau und Schweidnitz 1526–1707 (Neue Forschungen zur Schlesischen Geschichte 8), Köln/Weimar/Wien 2003; Bahlcke, Joachim, Schlesien und die Schlesier, München 2000, hier insbes. S. 46–73; Eickels, Christine van, Rechtliche Grundlagen des Zusammenlebens von Protestanten und Katholiken in Ober- und Niederschlesien vom Augsburger Religionsfrieden (1555) bis zur Altranstädter Konvention (1707), in: Wünsch, Thomas (Hrsg.), Reformation und Gegenreformation in Oberschlesien. Die Auswirkungen auf Politik, Kunst und Kultur im ostmitteleuropäischen Kontext (Tagungsreihe der Stiftung Haus Oberschlesien 3), Berlin 1994, S. 47–68; Dies., Schlesien im böhmischen Ständestaat, S. 53–99; Machilek, Schlesien; Hutter-Wolandt, Ulrich, Die evangelische Kirche Schlesiens im Wandel der Zeiten. Studien und Quellen zur Geschichte einer Territorialkirche (Veröffentlichungen der Forschungsstelle Ostmitteleuropa an der Universität Dortmund B/43), Dortmund 1991.

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Ende des 16. Jahrhunderts bekannten sich beinahe 90 Prozent der schlesischen Bevölkerung zum Luthertum.10 Auch die Schwenckfelder und Täufer fanden zeitweise in einzelnen Landesteilen einen starken Anhang.11 Das reformierte Bekenntnis12 hingegen wurde nur von einer schmalen Oberschicht getragen. Eine allgemein anerkannte rechtliche Grundlage für das Zusammenleben der unterschiedlichen Glaubensrichtungen existierte nicht, denn wie alle kaiserlichen Erblande war auch Schlesien 1555 ausdrücklich nicht in den Augsburger Religionsfrieden aufgenommen worden.13 Im Gegensatz zu den anderen habsburgischen Ländern bildete sich in Schlesien aber zwischen Lutheranern und Katholiken eine weitgehend konfliktarme konfessionelle Koexistenz heraus.14 Die nur als Sekten wahrgenommenen Schwenckfelder und Täufer waren hiervon jedoch ausgenommen und wurden sowohl von katholischer als auch von protestantischer Seite verfolgt. Unter König Rudolf II. (reg. 1575–1611, ab 1576 Kaiser) setzten seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert doch noch Bestrebungen ein, die evangelisch gewordenen Untertanen in die katholische Kirche zurückzuführen. Die hierzu eingeleiteten Maßnahmen riefen den Widerstand der evangelischen Fürsten und Stände hervor, die sich mit den ebenfalls von der Rekatholisierung betroffenen böhmischen Protestanten zu einem Verteidigungsbündnis zusammenschlossen. Ihre Verweigerung von Steuerzahlungen, die Drohung, notfalls mit Waffengewalt für ihren Glauben einzustehen, sowie der innerhalb des Hauses Habsburg ausgebrochene Machtkonflikt zwangen Rudolf  II. zum Einlenken. Am 20. August 1609 musste er mit der Unterzeichnung des schlesischen Majestätsbriefs15 – der teilweise sogar über die Zugeständnisse des bekannteren böhmischen Majestätsbriefs hinausging – den Lutheranern die freie Religionsausübung sowie die Errichtung von Kirchen und Schulen zugestehen. Der Majestätsbrief schuf erstmalig eine rechtliche Grundlage für das weitere, nunmehr gleichberechtigte Zusammenleben der schlesischen Lutheraner und Katholiken. Selbst im europäischen Vergleich ist er daher als ein „bemerkenswerter Entwurf religiöser Toleranz“ einzustufen.16 Doch auch der Majestätsbrief konnte den Religionsfrieden nicht dauerhaft sichern. Insbesondere durch den Übertritt einiger Fürsten und Standesherren zum 10 11

12 13

14 15 16

Vgl. Eickels, Rechtliche Grundlagen, S. 48. Vgl. Wollgast, Siegfried, Morphologie schlesischer Religiosität in der Frühen Neuzeit, in: Garber, Kulturgeschichte Schlesiens, S. 113–190, hier S. 117–135; Weigelt, Horst, Von Schlesien nach Amerika. Die Geschichte des Schwenckfeldertums (Neue Forschungen zur Schlesischen Geschichte 14), Köln/Weimar/Wien 2006. Vgl. Machilek, Schlesien, S. 117. Vgl. Schott, Christian-Erdmann, Der Augsburger Religionsfrieden und die Evangelischen in Schlesien, in: Graf, Gerhard/Wartenberg, Günther/Winter, Christian (Hrsg.), Der Augsburger Religionsfrieden. Seine Rezeption in den Territorien des Reiches (Herbergen der Christenheit, Sonderbd. 11; Studien zur deutschen Landeskirchengeschichte 6), Leipzig 2006, S. 93–106. Vgl. Eickels, Schlesien im böhmischen Ständestaat, S. 86–99. Vgl. ebd., S. 77–85; Deventer, Konfrontation statt Frieden, S. 272f.; Bahlcke, Schlesien und die Schlesier, S. 53f. Eickels, Schlesien im böhmischen Ständestaat, S. 86.

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rechtlich nicht anerkannten Calvinismus verschlechterte sich das konfessionelle Verhältnis erneut.17 Dazu kam, dass innerhalb weniger Jahre die katholische Partei im schlesischen Fürstentag erstarkte und königliche Übergriffe auf die zugesicherte Religionsfreiheit einsetzten. Die schlesischen Protestanten schlossen sich daher dem 1618 in Böhmen ausgebrochenen Ständeaufstand bereits in dessen Anfangsphase an. Die vernichtende Niederlage der Protestanten in der Schlacht am Weißen Berg (8. November 1620) führte allerdings auch in Schlesien zum schnellen Zusammenbruch des Aufstands. Im Gegensatz zu Böhmen, wo König Ferdinand II. (reg. 1617–1637, ab 1619 Kaiser) seinen Sieg nutzte, um die Bestimmungen des Majestätsbriefs aufzuheben und die katholische Konfessionalisierung voranzutreiben, konnte Schlesien seine Religionsprivilegien bewahren. Unter Vermittlung Kursachsens bestätigte Ferdinand II. im Dresdner Akkord vom 28. Februar 1621 auch die weitere Gültigkeit des schlesischen Majestätsbriefs.18 Trotz dieses Zugeständnisses schritt die Rekatholisierung in Schlesien weiter voran, was unter anderem zu einer starken lutherischen Abwanderungsbewegung führte. 1626 entzog Ferdinand II., nachdem gegen ihn operierende Truppen ungehindert schlesisches Territorium durchqueren durften, dem Land wieder die eingeräumten Vergünstigungen. Die lutherischen Stände mussten sich somit erneut um die Sicherung ihrer Religionsfreiheit bemühen. In der Hoffnung, ihre Position in den sich abzeichnenden Friedensverhandlungen verbessern zu können, schlossen die Herzöge von Brieg, Liegnitz-Wohlau und Oels sowie die Stadt Breslau im August 1633 ein Bündnis mit den evangelischen Schutzmächten und kaiserlichen Kriegsgegnern Brandenburg, Sachsen und Schweden. Die militärischen und politischen Erfolge des Kaisers ließen die Hoffnungen der schlesischen Protestanten nicht in Erfüllung gehen. Als im Mai 1635 mit dem Prager Frieden die Konjunktion zerbrach, sahen sich die schlesischen Stände gezwungen, sich Ferdinand II. bedingungslos zu unterwerfen. Im Gegenzug gewährte der Kaiser zumindest noch der Stadt Breslau sowie den Herzögen von Brieg, Liegnitz, Wohlau, Oels und Bernstadt die freie Religionsausübung auf der Grundlage der Confessio Augustana.19 Wie bereits 1555 in Augsburg wurden die kaiserlichen Erblande auch 1648 in Münster und Osnabrück ausdrücklich von den allgemeinen Friedensbestimmungen ausgenommen. Immerhin wurden für Schlesien noch vier spezielle Paragrafen formuliert, die im Wesentlichen noch einmal die Vereinbarungen von 1635 wiederholten.20 Für die Lutheraner in den Erbfürstentümern beschränkten sich die kon17 18 19 20

Vgl. ebd., S. 90–99, 483f. Vgl. Müller, Frank, Kursachsen und der böhmische Aufstand 1618–1622 (Schriftenreihe der Vereinigung zur Erforschung der neueren Geschichte 23), Münster 1997, S. 405–416; Eickels, Schlesien im böhmischen Ständestaat, S. 416–466. Vgl. Eickels, Schlesien im böhmischen Ständestaat, S. 466–479; Machilek, Schlesien, S. 134. Vgl. Schott, Christian-Erdmann, Die Bedeutung des Westfälischen Friedens für die Evangelischen in Schlesien, in: Hey, Bernd (Hrsg.), Der Westfälische Frieden 1648 und der deutsche Protestantismus (Religion in der Geschichte 6; Studien zur deutschen Landesgeschichte 3), Bielefeld 1998, S. 99–111; May, Georg, Das ius emigrandi nach

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fessionellen Zugeständnisse somit weiterhin hauptsächlich darauf, außerhalb der jeweiligen Landesgrenzen evangelische Gottesdienste besuchen zu dürfen. Insbesondere durch sächsische Vermittlungen durften sie zusätzlich vor den Mauern der Städte Schweidnitz, Jauer und Glogau drei Kirchen errichten. Diese sogenannten Friedenskirchen sollten sich in der Folgezeit zu wichtigen Zentren des evangelischen Kirchenlebens in den niederschlesischen Erbfürstentümern entwickeln.21 Da die evangelischen schlesischen Stände keine Möglichkeit hatten, auf dem Reichstag für ihre Rechte einzutreten, bestimmte der Westfälische Frieden das Königreich Schweden und die evangelischen Reichsstände zu Garanten ihrer Religionsfreiheit. So gering diese Zugeständnisse für die schlesischen Lutheraner auch ausgefallen sein mögen, im Vergleich zu den anderen habsburgischen Ländern bedeuteten sie eine deutliche Privilegierung. Letztendlich war Schlesien das einzige kaiserliche Erbland, für das 1648 der bikonfessionelle Status zumindest noch teilweise reichsrechtlich verankert wurde. Trotzdem wurde im Anschluss an den Westfälischen Frieden die Rekatholisierung Schlesiens sogar noch im verstärkten Maße vorangetrieben.22 Die katholische Gegenreformation prägte die gesamte zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts und führte zu einer ausgedehnten, konfessionell motivierten Migration. Beispielsweise wurden allein in den Jahren 1653/54 alle in den Erbfürstentümern noch verbliebenen evangelischen Kirchen geschlossen und deren Prediger des Landes verwiesen. Den dortigen Lutheranern stand somit nur noch der Besuch auswärtiger Gottesdienste offen, wovon sie regen Gebrauch machten. Sie suchten aber nicht nur die Kirchen in den evangelisch gebliebenen schlesischen Fürstentümern auf, sondern auch in Polen, Brandenburg und den beiden mittlerweile sächsischen Lausitzen. Rund 100 solcher „Zufluchtskirchen“ sind bekannt. Zugleich wurden in diesen Ländern eigens für die schlesischen Lutheraner mindestens 25 neue Kirchen in Grenznähe errichtet. Als solche „Grenzkirchen“ dienten mitunter einfache Schuppen oder Scheunen.23

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22 23

dem Westfälischen Friedensinstrument, in: Brandmüller, Walter/Immenköter, Herbert/ Iserloh, Erwin (Hrsg.), Ecclesia militans. Studien zur Konzilien- und Reformationsgeschichte, Bd. 2: Zur Reformationsgeschichte, Paderborn 1988, S. 607–636, hier S. 630f. Vgl. Morawiec, Małgorzata, Die schlesischen Friedenskirchen, in: Duchhardt, Der Westfälische Friede, S. 741–756; Langer, Andrea, Die Visualität der lutherischen Konfession in der Kunst der schlesischen Territorien (16.–18. Jahrhundert), in: Garber, Kulturgeschichte Schlesiens, Bd. 2, S. 819–865, hier S. 828–840; Nowotny, Sobiesław, Auf den Spuren des schlesischen Protestantismus – am Beispiel der Friedenskirche in Schweidnitz/S´widnica, in: Czaplin´ski, Marek/Hahn, Hans-Joachim/Weger, Tobias (Hrsg.), Schlesische Erinnerungsorte. Gedächtnis und Identität einer mitteleuropäischen Region, Görlitz 2005, S. 59–77. Vgl. Deventer, Konfrontation statt Frieden, S. 281f.; Schott, Die Bedeutung des Westfälischen Friedens, S. 104–107; Eickels, Rechtliche Grundlagen, S. 63–67. Zum Phänomen der Grenz- und Zufluchtskirchen für die auswärtigen Gottesdienste der schlesischen Lutheraner vgl. Langer, Visualität der lutherischen Konfession, S. 840– 842; Schirge, Alfred, Grenz- und Zufluchtskirchen für evangelische Niederschlesier im 17. und 18. Jahrhundert, in: Jahrbuch für Schlesische Kirchengeschichte, Neue Folge 76/77 (1997/1998), S. 205–226.

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Zu einer weiteren deutlichen Einschränkung des evangelischen Lebens kam es 1669, als der Kaiser entgegen den Bestimmungen des Westfälischen Friedens allen protestantischen Schlesiern den Besuch auswärtiger Gottesdienste untersagte. 1672 folgten ein entsprechendes Verbot aller evangelischen Privatgottesdienste sowie die Verpflichtung, die katholischen Feiertage einzuhalten.24 Als mit dem Tod des letzten schlesischen Herzogs aus dem Geschlecht der Piasten 1675 die Fürstentümer Liegnitz, Brieg und Wohlau an die böhmische Krone zurückfielen, griff die Rekatholisierung sogar auf solche Territorien über, denen 1648 eigentlich die freie Religionsausübung garantiert worden war. All dies rief zwar immer neue Interventionen Brandenburgs, Sachsens und Schwedens beim Kaiser hervor, diese blieben letztendlich aber erfolglos. Erst die Altranstädter Konvention25 vom 1. September 1707 führte zu einer Wende in der kaiserlichen Rekatholisierungspolitik.

II. Die Altranstädter Konvention als religionspolitische Zäsur Zustande gekommen ist die Konvention von Altranstädt nur durch den militärischen Druck des schwedischen Königs Karl XII. (reg. 1697–1718). Dieser hatte von Kaiser Joseph I. (reg. 1705–1711) gefordert, die schlesischen Lutheraner in die Rechte des Westfälischen Friedens zu restituieren, und andernfalls gedroht, deren Ansprüche mit Waffengewalt durchzusetzen.26 Der Ausbruch eines sich damit offen abzeichnenden schwedisch-österreichischen Kriegs konnte nur durch das diplomatische Geschick und den persönlichen Einsatz des österreichischen Gesandten Graf Johann Wenzel Wratislaw (1669–1712) verhindert werden. Der Kaiser folgte der Empfehlung seines Diplomaten, eine Einigung mit den schlesischen Lutheranern herbeizuführen, da der sonst drohende Religionskrieg weitaus größeren Schaden bedeutete, als „einige kirchen zuruckh zu geben“. 27 Entsprechend des Anliegens der Altranstädter Konvention, die schlesischen Lutheraner wieder in den Status des Westfälischen Friedens einzusetzen, wurde der

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Vgl. Eickels, Rechtliche Grundlagen, S. 65. Vgl. Conrads, Norbert, Die Durchführung der Altranstädter Konvention in Schlesien 1707–1709 (Forschungen und Quellen zur Kirchen- und Kulturgeschichte Ostdeutschlands 8), Köln/Wien 1971; Metasch, Frank, 300 Jahre Altranstädter Konvention – 300 Jahre Schlesische Toleranz. Begleitpublikation zur Ausstellung des Schlesischen Museums zu Görlitz (Spurensuche. Geschichte und Kultur Sachsens 2), Dresden 2007; Wolf, Jürgen Rainer (Red.), 1707–2007 Altranstädter Konvention. Ein Meilenstein religiöser Toleranz in Europa (Veröffentlichungen des Sächsischen Staatsarchivs A/10), Halle/ Saale 2008. Zu den österreichisch-schwedischen Verhandlungen konnte vor wenigen Jahren Norbert Conrads neue Quellenbestände erschließen: Conrads, Norbert, Der Anteil des schwedischen Gesandten Stralenheim an der Entschlussbildung und Durchführung der Altranstädter Konvention von 1707, in: Wolf, Altranstädter Konvention, S. 26–50. Vgl. Conrads, Durchführung der Altranstädter Konvention, S. 14–19, Zitat S. 14.

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Vertragstext an der 1648 gültigen politischen Verfassung des Landes ausgerichtet.28 In Bezug auf den Geltungsbereich wurde daher räumlich zwischen Gesamtschlesien und den zu diesem Zeitpunkt noch mediaten Territorien unterschieden. Obwohl im gesamten Dokument immer von den „Augsburgischen Konfessionsverwandten“ gesprochen wurde, bezog sich diese Formulierung im Gegensatz zu dem seit 1648 geltenden Reichsrecht nur auf die Lutheraner, nicht aber auf die Reformierten. Für die mediaten Fürstentümer Liegnitz, Brieg, Wohlau, Öls und Münsterberg sowie für die Stadt Breslau wurde bestimmt, dass alle nach 1648 den Lutheranern entzogenen Kirchen, Schulen, Rechte, Freiheiten, Einkünfte und Vermögen wieder zurückzugeben waren. Die dort aufgelösten Kirchenkonsistorien waren wieder zu errichten und mit dem Recht auszustatten, bei Religionsstreitigkeiten institutionell bis hoch zum Kaiser appellieren zu dürfen. Weiterhin wurden die rechtlichen Verhältnisse zwischen den beiden großen Konfessionen neu geregelt. So waren zum Beispiel Katholiken, die im Amtsbereich eines lutherischen Geistlichen lebten, zukünftig verpflichtet, diesem die üblichen Abgaben zu leisten, und dort, wo Katholiken die Patronatsrechte für eine evangelische Kirche besaßen, mussten zukünftig wieder lutherische Pfarrer berufen werden. In auf ganz Schlesien, also auch auf die habsburgischen Erbfürstentümer bezogenen Paragrafen wurde unter anderem allen Lutheranern die private Religionsausübung und der Besuch auswärtiger Gottesdienste zugestanden. Evangelisch erzogene Kinder durften nunmehr wieder an auswärtigen Schulen bzw. zu Hause protestantisch unterrichtet werden, und niemand sollte zukünftig gegen seinen Willen zum katholischen Glauben oder katholischen Kirchenhandlungen gezwungen werden. Außerdem sollten lutherischen Kindern und Waisen keine katholischen Vormünder mehr aufgezwungen und Ehesachen auch vor einem katholischen Konsistorium nach evangelischem Kirchenrecht entschieden werden. Auch bei der Ämtervergabe sollten die Lutheraner nicht mehr benachteiligt werden. Zudem erhielten sie das Recht, aus Glaubensgründen das Land frei zu verlassen und ihre Güter zu verkaufen. Die Rechte der drei Friedenskirchen – wo den Lutheranern weiterhin als einzige Ausnahme auch in den Erbfürstentümern die öffentliche Religionsausübung gestattet war – wurden ebenfalls erweitert. So durften an ihnen Schulen eingerichtet werden, und die bisherige, strenge zahlenmäßige Begrenzung der an ihnen tätigen Geistlichen wurde aufgehoben. Und auch das im Westfälischen Frieden allen evangelischen Reichsständen und dem Königreich Schweden für das Herzogtum Schlesien eingeräumte Interzessionsrecht wurde erneuert. Zusätzlich durften von Schweden weitere Garantiemächte (England, die niederländischen Generalstaaten sowie etwas später auch Preußen)29 benannt werden. Der in einem Separatartikel formulierte Vorbehalt Schwedens, militärisch einzugreifen, falls die Altranstädter

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Ausführlicher zum Vertragsinhalt: ebd., S. 41–44; Metasch, 300 Jahre Altranstädter Konvention, S. 46–49. Vgl. Conrads, Durchführung der Altranstädter Konvention, S. 49f.

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Vereinbarungen nicht fristgerecht innerhalb der nächsten sechs Monate umgesetzt würden, blieb für die kaiserliche Politik eine ständig präsente Drohung. Bis die erst einmal nur auf dem Papier stehenden Vorgaben jedoch politisch umgesetzt waren, vergingen noch einmal anderthalb Jahre. Erst am 8. Februar 1709 erzielten die schwedisch-österreichischen Verhandlungen mit dem Breslauer Exekutionsrezess30 eine abschließende Einigung. Der Rezess definierte endgültig die inhaltliche Reichweite der Altranstädter Konvention. Unter anderem wurden in ihm die 125 Kirchen aufgezählt, die den schlesischen Lutheranern zurückzugeben waren. Darüber hinaus konnte Joseph I. dazu bewegt werden, in seinen Erbfürstentümern neben den drei Friedenskirchen noch sechs weitere lutherische Kirchen errichten zu lassen. Da der Kaiser hierzu durch die Bestimmungen vom 1. September 1707 eigentlich nicht verpflichtet war, sondern diese Kirchen aus „Gnade“ gewährte, wurden die vor den Stadtmauern von Militsch, Sagan, Freystadt, Hirschberg, Landeshut und Teschen erbauten Gotteshäuser als Gnadenkirchen31 bezeichnet. Ausschlaggebend für diese kaiserliche Entscheidung war vor allem die von Schweden gegebene Zusage, dafür zukünftig auf das Interzessionsrecht für Schlesien zu verzichten und nicht mehr als Schutzmacht für die schlesischen Protestanten aufzutreten. Die Entscheidung für die ausgewählten sechs Städte wiederum folgte vorrangig finanz- und wirtschaftspolitischem Kalkül. Mit Sagan, Militsch, Freystadt und Teschen wurden vier grenznahe Städte bestimmt, um somit der an den Landesgrenzen besonders hohen Abwanderung evangelischer Untertanen entgegenzuwirken. Zudem sollten diesen wirtschaftsschwachen Regionen mit der zu erwartenden Anziehungskraft der Gnadenkirchen neue ökonomische Impulse verliehen werden. Hirschberg und Landeshut hingegen nutzten einfach ihre wirtschaftliche Überlegenheit und erkauften sich ihre Kirche durch besonders hohe Geldgeschenke. Und noch zu einigen weiteren, über die ursprünglichen Punkte hinausgehenden Zugeständnissen ließ sich der Kaiser 1709 bewegen. Beispielsweise durften die lutherischen Bewohner der Erbfürstentümer nunmehr im Falle einer schweren Krankheit von auswärtigen Geistlichen aufgesucht werden und von diesen das Abendmahl erhalten. In konfessionell gemischten Ehen konnten die Eltern zukünftig frei über das Glaubensbekenntnis ihrer Kinder entscheiden. Außerdem erhielten alle schlesischen Lutheraner die Erlaubnis, an katholischen Feiertagen arbeiten zu dürfen. Auch der Zugang zu den öffentlichen Ämtern sowie das Erbrecht und der Grundstückserwerb wurden neu geregelt. Die drei Friedenskirchen erhielten die zusätzliche Erlaubnis, Glockentürme zu errichten und bei Begräbnissen einen öffentlichen Leichenzug durchzuführen. Nicht umgesetzt wurde die Restituierung eingezogener Stiftungsgelder. Als ein Kompromiss für die lutherischen und katholischen Stände wurde jedoch aus der 30 31

Vgl. ebd., S. 226–247. Vgl. Langer, Visualität der lutherischen Konfession, S. 842–848; Dies., Die Gnadenkirche „Zum Kreuz Christi“ in Hirschberg. Zum protestantischen Kirchenbau Schlesiens im 18. Jahrhundert (Forschungen zur Geschichte und Kultur des östlichen Mitteleuropa 13), Stuttgart 2003.

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den Protestanten entzogenen Liegnitzer Johanniskirchstiftung eine beiden Konfessionen offenstehende Ritterakademie32 gegründet. Die dort gültigen religiösen Regelungen zeigten nicht nur für die Habsburgerdynastie teilweise ungewöhnlich tolerante Züge. Beispielsweise durften nicht nur beide Konfessionen ihre Gottesdienste ungehindert ausüben, auch die personelle Besetzung der Liegnitzer Akademie wurde paritätisch geregelt. Lehrer wie Studierende waren ausdrücklich angehalten, den konfessionellen Frieden in der Akademie zu wahren. Aus diesem Grund besaß die Einrichtung auch keinen eigenen Geistlichen, und Theologie wurde erst gar nicht als Lehrfach aufgenommen. Und selbst bei den Mahlzeiten nahm man auf die religiösen Eigenheiten Rücksicht. So standen an katholischen Fastentagen zwei unterschiedliche Gerichte auf dem Speiseplan: Fisch für die Katholiken und Rindfleisch für die Lutheraner. Mit der Umsetzung der Altranstädter Konvention konnten zwar erst einmal die im 17. Jahrhundert stetig vorangeschrittene Rekatholisierung gestoppt und die gröbsten konfessionellen Diskriminierungen abgestellt werden, von einer Gleichberechtigung war Schlesien indes noch immer weit entfernt. Die Bedeutung33 der Konvention liegt somit weniger in den einzelnen Vertragspunkten als vielmehr darin, für die schlesischen Lutheraner endlich wieder eine genau definierte rechtliche Grundlage geschaffen zu haben. Denn damit war nun deren bisheriger unsicherer Rechtszustand beseitigt und die schlesische Sonderstellung als einziges konfessionell gemischtes kaiserliches Erbland dauerhaft gefestigt worden. Selbst der Kaiser maß dem erreichten Ausgleich eine hohe Bedeutung zu, wie sich nach der für Schweden so schicksalhaften Niederlage in der Schlacht bei Poltawa (8. Juli 1709) zeigte. Obwohl damit das schwedische Drohpotenzial weggefallen war, kam Joseph I. nicht der unter anderem vom Papst und dem Breslauer Bischof gestellten Forderung nach, seine konfessionellen Zugeständnisse einseitig zurückzuziehen. Hiervon hielt ihn wohl nicht nur die notwendige politische Rücksichtnahme auf seine protestantischen Verbündeten im Spanischen Erbfolgekrieg (1701–1714) ab, sondern ebenso die Einsicht, dass es für die weitere wirtschaftliche wie politische Entwicklung seines Staates weitaus wichtiger war, die gewonnene Loyalität der schlesischen Lutheraner nicht wieder zu verlieren.34 Darüber hinaus war der im Geist der Frühaufklärung erzogene Joseph I. in Religionsangelegenheiten weitaus kompromissbereiter als seine Vorgänger.35 Unabhängig von den schwedischen 32 33

34 35

Vgl. Conrads, Durchführung der Altranstädter Konvention, S. 191–197. Vgl. Langer, Die Gnadenkirche in Hirschberg, S. 17; Bahlcke, Schlesien und die Schlesier, S. 64; Ders., Religion und Politik in Schlesien. Konfessionspolitische Strukturen unter österreichischer und preußischer Herrschaft (1650–1800), in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 134 (1998), S. 33–57, hier S. 48; Eickels, Rechtliche Grundlagen, S. 67; Conrads, Durchführung der Altranstädter Konvention, S. 250f. Vgl. Schott, Die Bedeutung des Westfälischen Friedens, S. 110; Conrads, Durchführung der Altranstädter Konvention, S. 45, 233, 250f. Vgl. Conrads, Norbert, Die Bedeutung der Altranstädter Konvention für die Entwicklung der europäischen Toleranz, in: Wolf, Altranstädter Konvention, S. 184–194, hier S. 189.

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Forderungen hatte Joseph  I. bereits seit dem Frühjahr 1707 mit den schlesischen Lutheranern über religionspolitische Erleichterungen verhandelt.36 Ihn dürfte damit weniger der Inhalt der Konvention als vielmehr deren ihm aufgezwungene Art der Unterzeichnung gestört haben. Welch wichtige Rolle die Altranstädter Konvention im langwierigen Emanzipationsprozess der schlesischen Protestanten noch einnehmen sollte, war 1707/09 noch gar nicht absehbar. Das Verhältnis zwischen Katholiken und Lutheranern verschlechterte sich jedenfalls nach der Umsetzung der Altranstädter Konvention erst einmal deutlich. Für die katholische Seite war der Verlust der vielen Kirchen und Einkünfte zu herb, um einfach darüber hinwegzusehen. Damit die katholischen Stände beruhigt und der Katholizismus allgemein wieder gestärkt werde, richtete Joseph  I. 1710 eine umfangreiche Stiftung ein. Aus den Geldern dieser „Josephinischen Fundation“ wurden unter anderem neue katholische Gotteshäuser sowie die dahin berufenen Geistlichen bezahlt.37 Während seiner noch verbleibenden, kurzen Regierungszeit war Joseph I. nicht bereit, über die im Breslauer Exekutionsrezess getroffenen Bestimmungen hinauszugehen. Dies zeigt etwa das Beispiel des Adam Heinrich von Luch auf Teichenau, der ohne obrigkeitliche Genehmigung die Begräbniskapelle seiner Familie zu einer lutherischen Kirche ausgebaut und mit einem sächsischen Geistlichen besetzt hatte. Da dieses Vorgehen rechtlich nicht durch die Altranstädter Konvention gedeckt war, wurde die Teichenauer Kirche am 31. Oktober 1709 auf kaiserliche Anordnung zerstört.38 Die trotzdem im Allgemeinen als ausgleichend zu charakterisierende Kirchenpolitik Josephs  I. endete bereits 1711 mit seinem frühen Tod. Sein Bruder, Kaiser Karl VI. (reg. 1711–1740), schlug wieder eine härtere konfessionelle Gangart ein und begann, die Altranstädter Konvention auszuhöhlen.39 Die erneut einsetzenden Repressionen gegen die evangelischen Schlesier führten letztendlich im Ersten Schlesischen Krieg (1740–1742) dazu, dass die im Dezember 1740 einmarschierenden preußischen Truppen von ihnen nicht als Besatzer, sondern als Befreier von der religiösen Unterdrückung empfunden wurden.40 36 37 38 39

40

Vgl. Conrads, Durchführung der Altranstädter Konvention, S. 20–39. Vgl. ebd., S. 238–242. Vgl. ebd., S. 240f. Vgl. Kovács, Elisabeth, Österreichische Kirchenpolitik in Schlesien 1707 bis 1790 (Aus Wiener Sicht), in: Baumgart, Peter/Schmilewski, Ulrich (Hrsg.), Kontinuität und Wandel. Schlesien zwischen Österreich und Preußen (Schlesische Forschungen 4), Sigmaringen 1990, S. 239–256, hier S. 243; Mempel, Dieter, Der schlesische Protestantismus vor und nach 1740, in: ebd., S. 287–306, hier S. 292f.; Baumgart, Peter, Die Annexion und Eingliederung Schlesiens in den friderizianischen Staat, in: Ders. (Hrsg.), Expansion und Integration. Zur Eingliederung neugewonnener Gebiete in den preußischen Staat (Neue Forschungen zur brandenburgisch-preußischen Geschichte 5), Köln/Wien 1984, S. 81–118, hier S. 107; Hoppe, Richard, Der Vertrag von Altranstädt 1707, in: Jahrbuch für Schlesische Kirchengeschichte 36 (1957), S. 124–149, hier S. 143–149. Vgl. Mempel, Der schlesische Protestantismus, S. 295; Kovács, Österreichische Kirchenpolitik, S. 249.

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III. Preußisch-Schlesien Die preußische Okkupation bedeutete für das Herzogtum Schlesien eine tiefe Zäsur. Österreich musste sich der militärischen Übermacht beugen und mit der Konvention von Kleinschnellendorf (9. Oktober 1741), deren Inhalt dann der Berliner Frieden (28. Juli 1742) im Wesentlichen bestätigte, knapp neun Zehntel Schlesiens abtreten.41 Für Preußen stellte sich damit die Frage, wie die neu gewonnenen Territorien politisch in den Staat eingebunden werden sollten.42 Um die preußische Herrschaft zu konsolidieren, hieß es vorrangig erst einmal, Land und Einwohner zu beruhigen. Auch für die Religionspolitik galt daher als oberste Maxime die „konfessionelle Befriedung“ der neuen Provinz,43 wobei der preußische König Friedrich II. (reg. 1740–1786) seine von einem staatspolitischen Pragmatismus getragenen Toleranzvorstellungen44 auch in Schlesien verwirklicht sehen wollte. Aus Gründen der „Staatsräson“ gewährte er daher den drei reichsrechtlich anerkannten Konfessionen, und damit auch den in Schlesien bislang noch nicht geduldeten Reformierten,45 die freie Religionsausübung. Für die angestrebte konfessionelle Befriedung des Landes musste vor allem das angespannte Verhältnis der beiden großen Konfessionen zueinander verbessert werden. Wie bereits angedeutet, konnte Friedrich II. mit der Sympathie der schlesischen Lutheraner rechnen, die noch immer etwas mehr als die Hälfte der Bevölkerung stellten. Schwieriger sah es bei der anderen Bevölkerungshälfte aus, den Katholiken. Hier stieß der preußische König auf Misstrauen und Vorbehalte. Die friderizianische Kirchenpolitik stand somit vor der schwierigen Aufgabe, auf der einen Seite 41 42

43

44

45

Vgl. Burkhardt, Johannes, Vollendung und Neuorientierung des frühmodernen Reiches 1648–1763 (Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte 11), 10. Aufl., Stuttgart 2006, S. 380–391. Vgl. Baumgart, Annexion und Eingliederung Schlesiens; Conrads, Norbert, Die schlesische Ständeverfassung im Umbruch. Vom altständischen Herzogtum zur preußischen Provinz, in: Baumgart, Peter (Hrsg.), Ständetum und Staatsbildung in BrandenburgPreußen (Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin 55), Berlin/New York 1983, S. 335–364. Vgl. Bergerhausen, Hans-Wolfgang, Friedensrecht und Toleranz. Zur Politik des preußischen Staates gegenüber der katholischen Kirche in Schlesien 1740–1806 (Quellen und Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte 18), Berlin 1999, S. 149–152; Bahlcke, Religion und Politik in Schlesien, S. 51–55; Hutter-Wolandt, Die evangelische Kirche Schlesiens, S. 73–80; Mempel, Der schlesische Protestantismus, S. 295–305; Baumgart, Annexion und Eingliederung Schlesiens, S. 107–113. Vgl. Bergerhausen, Friedensrecht und Toleranz, S. 28–31; Mempel, Der schlesische Protestantismus, S. 296; Schindling, Anton, Friedrichs des Großen Toleranz und seine katholischen Untertanen, in: Baumgart/Schmilewski, Kontinuität und Wandel, S. 257– 272; Schwarz, Karl, Die Toleranz im Religionsrecht des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, in Brandenburg-Preußen und in Österreich, in: Stolpe, Manfred/ Winter, Friedrich (Hrsg.), Wege und Grenzen der Toleranz. Edikt von Potsdam 1685– 1985, Berlin 1987, S. 94–111, hier S. 100–102. Vgl. Hutter-Wolandt, Ulrich, Die Reformierten in Schlesien, in: Jähnig, Bernhart/Spieler, Silke (Hrsg.), Kirchen und Bekenntnisgruppen im Osten des Deutschen Reiches. Ihre Beziehungen zu Staat und Gesellschaft, Bonn 1991, S. 131–147, hier S. 138–141.

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die schlesischen Lutheraner bei ihrer bürgerlichen Gleichstellung und der Wiedererlangung verlorener Rechte zu unterstützen und auf der anderen Seite dadurch die Rechte und Freiheiten der katholischen Untertanen nicht anzugreifen. Als Rechtsgrundlage für das weitere Verhältnis der katholischen und lutherischen Bevölkerung hatte der Berliner Frieden ausdrücklich die Altranstädter Konvention bestätigt.46 Der dort definierte kirchliche Status quo durfte von Friedrich II. nicht angetastet werden. Der Charakter der Konvention drehte sich somit um. Initiiert, um die Lutheraner zu schützen, wurde sie nunmehr zum Garanten des katholischen Besitzstandes. Der preußische König konnte daher auf die von den schlesischen Lutheranern an ihn herangetragenen Forderungen nur so weit eingehen, wie letztere die Freiheiten der Katholiken nicht beschnitten. Beispielsweise wurde daher dem von den Lutheranern geäußerten Wunsch nach der Rückgabe aller seit 1621 eingezogenen Kirchen und Schulen nicht stattgegeben, ihnen im Gegenzug aber der Bau neuer „Bethäuser“47 gewährt. Um den schwelenden Konflikt zwischen den beiden Konfessionen zu entschärfen, wurde unter anderem allen Pfarrern untersagt, sich von der Kanzel polemisch über die jeweils andere Seite zu äußern. Auch wenn es von königlicher Seite verschiedentlich zur deutlichen Benachteiligung der katholischen Kirche kam,48 scheint der verfolgte politische Grundsatz der Gleichbehandlung doch allmählich zum Abbau der konfessionellen Gegensätze beigetragen zu haben. Spätestens für die Zeit nach dem Hubertusburger Frieden von 1763 kann davon ausgegangen werden, dass sich die Konfessionen nicht mehr nur gezwungenermaßen gegenseitig duldeten, sondern „der tolerante Geist der Aufklärung“ das konfessionelle Miteinander bestimmte.49 Doch auch die friderizianische Toleranzpolitik hatte ihre Grenzen und förderte die Gewissensfreiheit der Untertanen immer nur so weit, wie sie staatlichen Interessen nicht entgegenstand. Beispielsweise gewährte der preußische König den Schwenckfeldern zwar seinen Schutz und hob deren noch von Karl  VI. angeordnete Ausweisung auf, er erkannte sie jedoch nicht als eigenständige Religionsgemeinschaft an und gestand ihnen daher auch nicht die Glaubensfreiheit zu.50 Ebenso wurde den Juden51 trotz ihrer erweiterten Rechte noch nicht die volle bürgerliche Gleichstellung gewährt. Und interessanterweise ging die letzte konfessionelle Zwangsmigration in Mitteleuropa ausgerechnet von dem Staat aus, der als Inbegriff einer toleranten Kirchenpolitik gilt. Zwischen 1835 und 1854 mussten knapp 6.000 preußische Altlutheraner, darunter 1.241 Schlesier, ihre Heimat verlassen, weil sie 46 47 48 49 50 51

Vgl. Bergerhausen, Friedensrecht und Toleranz, S. 150f. Langer, Visualität der lutherischen Konfession, S. 848–850. Vgl. Mempel, Der schlesische Protestantismus, S. 304; Schindling, Friedrichs des Großen Toleranz, S. 270. Baumgart, Annexion und Eingliederung Schlesiens, S. 112f.; Mempel, Der schlesische Protestantismus, S. 304. Vgl. Hutter-Wolandt, Die evangelische Kirche Schlesiens, S. 78f. Vgl. Agethen, Manfred, Die Situation der jüdischen Minderheit in Schlesien unter österreichischer und unter preußischer Herrschaft, in: Baumgart/Schmilewski, Kontinuität und Wandel, S. 307–331.

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sich den von König Friedrich Wilhelm III. (reg. 1797–1840) verfolgten Bemühungen widersetzt hatten, die reformierte und lutherische Konfession zu einer unierten Landeskirche zu vereinen.52

IV. Österreichisch-Schlesien Im Gegensatz zur preußischen Politik wurde in dem bei Österreich verbliebenen Teil Schlesiens die Rekatholisierung auch nach 1742 weiter forciert.53 Unter anderem setzte Maria Theresia (reg. 1740–1780) im Dezember 1743 wieder eine landesherrliche Religionskommission ein, der die Funktion einer „katholischen Religionspolizei“54 zukam. Weiterhin wurde den Lutheranern verboten, die Gottesdienste im preußischen Schlesien zu besuchen. Auch dort vollzogene Trauungen erkannten die österreichischen Behörden nicht an. Um auch in Österreichisch-Schlesien den in der Habsburgermonarchie immer noch gültigen staatspolitischen Grundsatz der Religionseinheit umzusetzen, wurden seit 1755 sogar vereinzelt schlesische Protestanten nach Siebenbürgen und Oberungarn zwangsumgesiedelt. Infolge dieser fortgesetzten konfessionellen Repressalien setzte in den 1740er Jahren eine starke Abwanderung evangelischer Untertanen in den preußischen Landesteil ein. Die Lage der österreichisch-schlesischen Protestanten verbesserte sich erst am Ende der Regierungszeit Maria Theresias.55 Als 1777 in Mähren ein religiös motivierter Bauernaufstand ausbrach, unterstützte ihr Sohn, Joseph II. (reg. 1780–1790), die Belange der evangelischen Untertanen und verlangte von seiner Mutter, den Protestanten Erleichterungen zu verschaffen und ihnen zumindest in Schlesien und Mähren die private Religionsausübung zu gestatten. Doch erst nach dem Tod Maria Theresias gelang es Joseph II., seine Ideen umzusetzen. Als einen ersten Schritt löste er 1780/81 die schlesische Religionskommission auf.56 Von seinem am 13. Oktober 1781 veröffentlichten Toleranzpatent profitierte dann nicht nur Schlesien.57 Allen in 52

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57

Vgl. Beuke, Arnold, Die Australien-Auswanderung altlutheranischer Glaubensflüchtlinge aus Ost-Brandenburg und Niederschlesien, in: Berichte und Forschungen. Jahrbuch des Bundesinstituts für ostdeutsche Kultur und Geschichte 4 (1996), S. 175–189; Schott, Christian-Erdmann, Die Auswanderung der Altlutheraner nach Australien, in: Jahrbuch für Schlesische Kirchengeschichte 64 (1985), S. 127–136. Vgl. Kovács, Österreichische Kirchenpolitik, S. 250–252; Patzelt, Herbert, Geschichte der evangelischen Kirche in Österreichisch-Schlesien (Schriften der Stiftung Haus Oberschlesien 5), Dülmen 1989, S. 52–55. Patzelt, Geschichte der evangelischen Kirche, S. 52. Vgl. Kovács, Österreichische Kirchenpolitik, S. 252–254. Vgl. Patzelt, Herbert, Anfänge der Toleranzzeit in Österreichisch-Schlesien, in: Barton, Peter F. (Hrsg.), Im Lichte der Toleranz. Aufsätze zur Toleranzgesetzgebung des 18. Jahrhunderts in den Reichen Joseph II., ihren Voraussetzungen und ihren Folgen (Studien und Texte zur Kirchengeschichte und Geschichte 2/9), Wien 1981, S. 279–319, hier S. 283. Vgl. Kovács, Österreichische Kirchenpolitik, S. 254f.; Patzelt, Geschichte der evangelischen Kirche, S. 60f.; Ders., Anfänge der Toleranzzeit, S. 283–288.

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den österreichischen Ländern lebenden Lutheranern, Reformierten und GriechischOrthodoxen wurde jetzt die bürgerliche Gleichstellung sowie die Glaubensfreiheit gewährt, letztere allerdings in der Regel nur in Form von Privatgottesdiensten. Allein dort, wo mindestens 100 nichtkatholische Familien bzw. 500 Personen zusammenkamen, durften eine eigene Gemeinde gegründet sowie ein Bethaus und eine Schule errichtet werden. Auf dieser Grundlage bildeten sich in Schlesien bereits bis Ende 1781 zehn solcher lutherischer „Toleranzgemeinden“ heraus. Allerdings erlangte das Toleranzpatent vom 13. Oktober 1781 in Schlesien nicht die gleiche Bedeutung wie in den anderen habsburgischen Ländern. Da die Altranstädter Konvention für die schlesischen Lutheraner inhaltlich zum Teil noch über die Regelungen von 1781 hinausging, wurde ihre weitere Gültigkeit mit der Cirkularverordnung vom 30. März 1782 noch einmal ausdrücklich bestätigt.58 Weil zudem der Vorrang der katholischen Kirche nicht aufgehoben wurde, sahen sich die anderen Konfessionen und Religionsgemeinschaften weiterhin Diskriminierungen ausgesetzt.59 Fast 80 Jahre mussten noch einmal vergehen, bis auch der evangelischen Kirche in Schlesien mit dem österreichischen Protestantenpatent60 vom 8. April 1861 die staatliche Gleichberechtigung sowie die Selbstverwaltung zugestanden wurde.

V. Die grenzübergreifende Bedeutung der Teschener Gnadenkirche für den konfessionellen Pluralismus Als letzter Punkt soll noch eine Errungenschaft der Altranstädter Konvention angesprochen werden, die insgesamt für den konfessionellen Pluralismus im schlesischböhmisch-sächsischen Grenzraum eine zentrale Bedeutung erlangte: die Gnadenkirche im oberschlesischen Teschen. Da es bereits seit 1660 in ganz Oberschlesien keine evangelische Kirche mehr gab, besaß die seit 1711 erbaute Teschener Kirche61 einen ausgedehnten Einzugsbereich und bot entsprechend rund 8.000 Personen Platz. Sehr schnell etablierte sie sich als eine weit über Oberschlesien hinausreichende Zufluchtskirche, die auch von polnischen, ungarischen und mährischen Protestanten

58 59 60 61

Vgl. Wagner, Oskar, Mutterkirche vieler Länder. Geschichte der Evangelischen Kirche im Herzogtum Teschen 1545–1918/20 (Studien und Texte zur Kirchengeschichte und Geschichte 1/4), Wien/Köln/Graz 1978, S. 119f. Vgl. Schreiner, Klaus, Toleranz, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 6, Stuttgart 1990, S. 445–605, hier S. 506f. Vgl. Patzelt, Geschichte der evangelischen Kirche, S. 156; Wagner, Mutterkirche vieler Länder, S. 214–226. Vgl. ebd.; Meyer, Dietrich, Der Pietismus und die katholische Kirche in Schlesien, in: Köhler, Joachim/Bendel, Rainer (Hrsg.), Geschichte des christlichen Lebens im schlesischen Raum (Religions- und Kulturgeschichte in Ostmittel- und Südosteuropa 1), 2 Bde., Münster u.  a. 2005, S. 557–573; Patzelt, Herbert, Lebendiges Luthertum am Beispiel von Teschen, in: Jahrbuch für Schlesische Kirchengeschichte, Neue Folge 69 (1990), S. 93–111.

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aufgesucht wurde.62 Gerade den mährischen Kryptoprotestanten bot sich hier die im Heimatland nicht mehr gegebene Möglichkeit, Abendmahl, Taufe und Hochzeit nach evangelischem Ritus vornehmen zu lassen. Für die auswärtigen Besucher wurden sogar muttersprachliche Gottesdienste eingerichtet und die hierzu notwendigen Bücher angeschafft bzw. direkt in Auftrag gegeben. Zudem wurden von Teschen aus Wanderprediger über die Grenzen gesandt und religiöse Literatur geschmuggelt.63 Das geistliche Leben an der Teschener Gnadenkirche und -schule wurde sehr stark vom Halleschen Pietismus beeinflusst,64 was nicht nur in Teschen zu konfessionellen Konflikten – bis hin zum Entzug des Bürgerrechts für Protestanten 1729 und zur Ausweisung von Pfarrern 1730 – führte.65 Auch die von Teschen aus „erweckten“ mährischen Kryptoprotestanten, die ihres neuen Glaubens wegen ihre Heimat verließen, boten in ihren Aufnahmeländern Konfliktstoff. Beispielsweise wanderten zwischen 1720 und 1740 mehrere Tausend vom Teschener Pietismus geprägte Protestanten aus Mähren in das lutherisch orthodoxe Sachsen aus und lösten dort langanhaltende Konflikte aus.66 Das bekannteste Beispiel hierfür stellt die eng mit Teschen in Verbindung stehende Herrnhuter Brüdergemeine in der Oberlausitz und deren schwierige Anerkennung als zumindest lutherische „Konfessionsverwandte“ dar. Aber auch in anderen Orten, wo es im Zuge der böhmischen Einwanderung zur Etablierung tschechischsprachiger Gottesdienste gekommen war, mussten die Einwanderer sehr schnell feststellen, dass ihre religiösen Vorstellungen in vielen Punkten von der sächsischen Orthodoxie abwichen. So zum Beispiel auch in Dresden, wo sich seit dem Ende des Dreißigjährigen Krieges eine der größten böhmischen Gemeinden befand.67 In der sächsischen Residenzstadt führten die pietistischen Neuankömmlinge über Jahrzehnte hinweg zu einer Spaltung der tschechischsprachigen Gemeinde. Weil ihnen die regulären Gottesdienste nicht zusagten, blieben sie diesen einfach fern und hielten stattdessen verbotene Konventikel ab oder besuchten, was ebenfalls nicht gestattet war, auswärtige pietistische Gottesdienste, beispielsweise im oberlausitzischen Großhennersdorf. Die Dresdner Behörden hingegen gingen konsequent gegen diese heterodoxen Einwanderer vor. Wurde deren illegitime religiöse Praxis erst einmal publik, dann wurden ihnen nur zwei Möglichkeiten eingeräumt: Entweder bekannten sie sich offen zur lutherischen Orthodoxie oder aber sie mussten das Land wieder verlassen. Für viele Konfessionsflüchtlinge blieb das Kurfürsten62 63 64 65 66 67

Vgl. Wagner, Mutterkirche vieler Länder, S. 67. Vgl. ebd., S. 64–96. Wie Anm. 61. Vgl. Kovács, Österreichische Kirchenpolitik, S. 246f. Vgl. Winter, Eduard, Die tschechische und slowakische Emigration in Deutschland im 17. und 18. Jahrhundert (Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Veröffentlichung des Instituts für Slawistik 7), Berlin 1955. Vgl. Metasch, Frank, Exulanten in Dresden. Einwanderung und Integration von Glaubensflüchtlingen im 17. und 18. Jahrhundert (Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde 34), Leipzig 2011; speziell zu den konfessionellen Konflikten: ebd., S. 218– 222.

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tum Sachsen daher seit den 1720er Jahren nur noch eine Zwischenstation auf dem Weg nach Brandenburg-Preußen und seit 1740/42 auch in das nunmehr preußische Schlesien. Die bei Österreich verbliebene Teschener Gnadenkirche behielt auch nach 1742 ihre grenzübergreifende Bedeutung, vor allem, da sie nun die einzige rechtlich anerkannte evangelische Kirche in den gesamten österreichischen und böhmischen Ländern war.68 1748 wurde in Teschen ein lutherisches Konsistorium eingerichtet, das als Kirchenbehörde für ganz Österreichisch-Schlesien zuständig war. Nach dem Toleranzpatent von 1781 wurde das Teschener Konsistorium nach Wien verlegt, wo es sich zur „Keimzelle der evangelischen Kirchenorganisation in Österreich“ entwickelte.69 Mit dieser weit über Schlesien ausstrahlenden Wirkung wurde die Teschener Gnadenkirche von dem evangelischen Theologen Oskar Wagner zur „Mutterkirche vieler Länder“ erhoben.70

VI. Fazit Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Reformation auch in Schlesien zur Entstehung einer konfessionell pluralisierten Gesellschaft geführt hat, im Gegensatz zu so vielen anderen Ländern aber das Zusammenleben der Lutheraner und Katholiken lange Zeit erstaunlich konfliktarm verlaufen ist. Erst als die Habsburger Ende des 16. Jahrhunderts auch in Schlesien begannen, ihren politischen Grundsatz vom Katholizismus als alleiniger staatstragender Konfession umzusetzen, kam es zur Konfrontation. Mehrfach konnte die lutherische Seite mit politischem und militärischem Druck der Habsburgerdynastie Religionsverträge abringen. Ein selbst im europäischen Vergleich bedeutendes Programm für das Zusammenleben unterschiedlicher Glaubensrichtungen stellte der schlesische Majestätsbrief dar. Der 1609 erreichte Ausgleich hielt jedoch nur kurze Zeit an, und selbst wenn am Ende des Dreißigjährigen Krieges Schlesien das einzige kaiserliche Erbland mit rechtlich gesicherter Bikonfessionalität war, so wurde die Rekatholisierung weiter vorangetrieben und nahm an Intensität sogar noch zu. Einen Wende-, wenn auch noch keinen Endpunkt der kaiserlichen Rekatholisierungspolitik brachte erst 1707 die Altranstädter Konvention. Diese sollte auch nach der Teilung Schlesiens 1740/42 in beiden Landesteilen ihre Gültigkeit behalten und sich zu einer wichtigen Grundlage des gleichberechtigten Miteinanders der lutherischen und katholischen Konfession entwickeln.

68 69 70

Vgl. Patzelt, Geschichte der evangelischen Kirche; Ders., Anfänge der Toleranzzeit, S. 283–316; Wagner, Mutterkirche vieler Länder. Conrads, Durchführung der Altranstädter Konvention, S. 268. Wagner, Mutterkirche vieler Länder.

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Zwischen Konkurrenzdruck und Konfliktgefahr Reichsstädtische Konfessionspolitiken im Zeitalter der Aufklärung Klaus Wolf

Im späten 17. und im 18. Jahrhundert entwickelte sich ein vielschichtiges Religionswesen, weit vielschichtiger als gemeinhin angenommen wird.1 Dieser Befund gilt vor allem für größere Städte.2 Wie nicht anders zu erwarten, verlief der Prozess der konfessionellen Pluralisierung keineswegs reibungslos. Gerade dort, wo Angehörige verschiedener Konfessionen auf engem Raum beieinander wohnten, kam es zu Spannungen.3 Zu Recht betont Ulrich Rosseaux: Bis zum Ende der Frühen Neuzeit bildeten separate konfessionelle Milieus ein Kennzeichen mehrkonfessioneller Stadtgesellschaften.4 Der vorliegende Beitrag konzentriert sich, ohne die Relevanz glaubens- und geistesgeschichtlicher Entwicklungen in Abrede stellen zu wollen, auf die Frage, welche politischen, wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen religiöse Duldsamkeit in großen Städten förderten oder hemmten. Im Einzelnen richtet sich der Fokus auf Nürnberg, Hamburg, Frankfurt, Köln und Aachen. Gemeinsam ist ihnen, dass sie zu den bevölkerungsreichsten Städten Deutschlands zählten, je eine dominierende Konfession aufwiesen und als Reichsstädte ihre inneren Angelegenheiten weitgehend autonom regelten. Durch diese Auswahl wird eine überregionale Bedeutung erzielt, grundsätzliche Vergleichbarkeit zwischen den Kommunen gewährleistet und das Gewicht externer Einflüsse reduziert. Gleichzeitig weist jede der fünf genannten Städte politische, ökonomische und soziale Spezifika auf, so dass es möglich wird, die Relevanz der einzelnen Faktoren abzuschätzen. Um sie noch besser gewichten zu können, werden überdies die Entwicklungen in Residenzstädten unterschiedlicher Größe – Wien, Mainz und Wertheim – sowie die Landstadt Konstanz und die relativ kleine Reichsstadt Wetzlar einbezogen. In Anlehnung an den Untersuchungszeitraum, der bei der Tagung im Vordergrund gestanden hat, beginnen die Ausführungen im Jahre 1770. Sie enden allerdings bereits in der Frühphase der Französischen Revolution, weil sich in deren Folge die politischen Rahmenbedingungen für die Städte insbesondere im Westen des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation einschneidend änderten. 1 2 3 4

Der Verfasser dankt den Herren Dr. Daniel Burger, Bayerisches Staatsarchiv Nürnberg, Michael Hofferberth, Archiv der Evangelischen Kirche im Rheinland, und Dietmar Kottmann, Stadt Aachen, für ihre freundliche Unterstützung. Vgl. Schilling, Heinz, Die Stadt in der frühen Neuzeit, 2. Aufl., München 2004, S. 32. Vgl. Luh, Jürgen, Unheiliges Römisches Reich. Der konfessionelle Gegensatz 1648 bis 1806, Potsdam 1995, S. 27. Vgl. Rosseaux, Ulrich, Städte in der frühen Neuzeit, Darmstadt 2006, S. 93.

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Gemessen an der intensiven Behandlung des 16. und 17. Jahrhunderts ist das 18. Jahrhundert in der Stadtgeschichtsforschung bislang vernachlässigt worden. Auch die überregional vergleichende Studie Andreas Würglers über Politik, Protest und Publizität geht bezüglich der Reichsstädte nicht über 1732 hinaus.5 Die Dissertation Thomas Laus über Prozesse und Unruhen in Reichsstädten ist zwar gleichfalls überregional angelegt und reicht bis zum Ende der Frühen Neuzeit, sie stellt aber lediglich zwei kleinere Städte, Hall und Mühlhausen, einander gegenüber und verfolgt konfessionelle Aspekte der dortigen Konflikte nur bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts.6 Ansonsten sind die Unruhen, die nach 1770 in zahlreichen Reichsstädten ausbrachen, bisher nur im Rahmen regionaler Vergleiche, etwa zu Ulm und kleineren schwäbischen Städten oder, ansatzweise, zu Köln und Aachen behandelt worden, wobei die konfessionelle Komponente auch hier nahezu unbeachtet geblieben ist.7 Die konfessionsgeschichtliche Forschung wiederum hat sich auf den Sonderfall der paritätischen Reichsstädte und namentlich auf die größte dieser Städte, Augsburg, konzentriert. Hierbei sind die politischen Auseinandersetzungen des späten 18. Jahrhunderts von Peter Fassl nur am Rande und von Etienne François beinahe gar nicht berührt worden.8 Konfessionelle Konflikte der Aufklärungszeit hat Wolfgang Wüst in einem Aufsatz über die Reichsstadt Isny skizziert, die allerdings gerade einmal 1.800 Einwohner zählte.9 Aus dem Kreis der im Folgenden zu untersuchenden Reichsstädte kann allein der Kölner Toleranzstreit von 1787 als relativ gut erforscht gelten. Die zwei einschlägigen Beiträge von Ernst Heinen und Barbara Becker-Jákli beruhen indessen nahezu ausschließlich auf der Quellenedition Joseph Hansens,10 der im Wesentlichen aus den Beständen des Historischen Archivs der

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Vgl. Würgler, Andreas, Unruhen und Öffentlichkeit. Städtische und ländliche Protestbewegungen im 18. Jahrhundert, Tübingen 1995, S. 42. Vgl. Lau, Thomas, Bürgerunruhen und Bürgerprozesse in den Reichsstädten Mühlhausen und Schwäbisch Hall in der Frühen Neuzeit, Bern/Berlin/Brüssel u. a. 1999, S. 91f. und 113f. Vgl. Müller, Klaus, Studien zum Übergang vom Ancien Régime zur Revolution im Rheinland. Bürgerkämpfe und Patriotenbewegung in Aachen und Köln, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 46 (1982), S. 102–160, hier S. 127f.; Hafner, Urs, Republik im Konflikt. Schwäbische Reichsstädte und bürgerliche Politik in der frühen Neuzeit, Tübingen 2001, S. 100. Vgl. Fassl, Peter, Konfession, Wirtschaft und Politik. Von der Reichsstadt zur Industriestadt, Augsburg 1750–1850, Sigmaringen 1988, S. 164–168; François, Etienne, Die unsichtbare Grenze. Protestanten und Katholiken in Augsburg 1648–1806, Sigmaringen 1991, S. 84. Vgl. Wüst, Wolfgang, Evangelische Reichsstadt und Klosterherrschaft. Konfessionelle Nachbarschaft im Zeitalter der Aufklärung am Beispiel Isny, in: Frieß, Peer/Kießling, Rolf (Hrsg.), Konfessionalisierung und Religion, Konstanz 1999, S. 121–138, hier S. 122. Vgl. Heinen, Ernst, Der Kölner Toleranzstreit (1787–1798), in: Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins 44 (1973), S. 67–86 passim; Becker-Jákli, Barbara, Die Protestanten in Köln. Die Entwicklung einer religiösen Minderheit von der Mitte des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, Köln 1983, S. 55–92.

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Stadt Köln geschöpft hat.11 Zu Aufklärung und Toleranz in Hamburg bieten die Arbeiten von Franklin Kopitzsch und Joachim Whaley wertvolle Angaben, doch allein Whaley hat auf ungedruckte Quellen zurückgegriffen – und sich dabei fast ganz auf Akten hamburgischer Provenienz beschränkt.12 Die Lage konfessioneller Minoritäten in der Spätphase reichsstädtischer Souveränität ist für Aachen, Frankfurt und Nürnberg nur in älteren Forschungsarbeiten und kleineren Abhandlungen oder als Teilaspekt breiter angelegter Studien thematisiert worden. In der bisherigen Forschung sind wichtige Quellen außer Acht gelassen worden, etwa die einschlägigen Bestände kirchlicher Archive oder die Akten der involvierten Reichsinstitutionen sowie Preußens und anderer einflussreicher Territorialstaaten. Ein überregionaler Vergleich politischer und speziell konfessionspolitischer Auseinandersetzungen in den größeren Reichsstädten des späten 18. Jahrhunderts fehlt gänzlich. Somit trifft die unlängst von Benjamin Kaplan getätigte Aussage, die Grenzen religiöser Toleranz im Zeitalter der Aufklärung seien unzureichend erforscht,13 auch für Reichsstädte zu – trotz deren Bedeutung für den Prozess der konfessionellen Pluralisierung. Gestützt auf archivalische Stichproben in Düsseldorf, Nürnberg und Wien, denen bei Gelegenheit weitere Recherchen dort und in anderen Archiven folgen sollen, präsentiert der vorliegende Essay erste Thesen. Eine umfassende Darstellung ist in Vorbereitung.

I. Aversion und Arrangement Im Jahre 1770 blockierten Wetzlarer Bürger eine katholische Prozession. Der Kanzleidirektor des in Wetzlar ansässigen Reichskammergerichts beklagte daraufhin, dass kaum eine Prozession ohne ‚schändliche Indolentien‘ durchgeführt werden könne. Er war, wie andere Bedienstete des Gerichts auch, katholisch, die Reichsstadt und die meisten ihrer Einwohner hingegen lutherisch. Obwohl auf gute Beziehungen zum Reichskammergericht bedacht, ging der reichsstädtische Rat kaum gegen antikatholische Ausschreitungen vor. In seiner Untersuchung zum Wetzlarer Bürgertum führt Hans-Werner Hahn die Haltung des Rates auf das Motiv der „Herrschaftsstabilisierung“ zurück.14 Dieses Erklärungsmodell soll im Folgenden aufgegriffen, durch einen überregionalen Vergleich unterschiedlicher Stadttypen überprüft und ergänzt werden.

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Vgl. Hansen, Joseph (Hrsg.), Quellen zur Geschichte des Rheinlandes im Zeitalter der Französischen Revolution 1780–1801, Bd. 1, 1780–1791, Bonn 1931, S. 209–343 passim. Vgl. Kopitzsch, Franklin, Grundzüge einer Sozialgeschichte der Aufklärung, Hamburg 1982, S. 496–502; Whaley, Joachim, Religiöse Toleranz und sozialer Wandel in Hamburg 1529–1819, Hamburg 1992, S. 164–168. Vgl. Kaplan, Benjamin J., Divided by faith. Religious conflict and the practice of toleration in early modern Europe, Cambridge/London 2007, S. 356. Vgl. Hahn, Hans-Werner, Altständisches Bürgertum zwischen Beharrung und Wandel. Wetzlar 1689–1870, München 1991, S. 95.

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Betrachtet man städtische Unruhen der Frühen Neuzeit, so waren Reichsstädte auffallend häufig betroffen.15 Wegen ihrer relativ hohen politischen Instabilität liegt es nahe, in ihnen Trutzburgen religiöser Unduldsamkeit in einem Zeitalter wachsender Toleranz zu vermuten, in einigen Reichsstädten finden sich jedoch Anzeichen einer entgegengesetzten Tendenz: Seit den 1760er Jahren entspannten sich die Beziehungen zwischen dem Deutschen Orden und protestantischen Reichsstädten, in denen Ordensniederlassungen bestanden. Mit Nürnberg beispielsweise, der größten dieser Städte, hatte es jahrzehntelange Auseinandersetzungen unter Anrufung des Reichshofrats gegeben, doch im Mai 1780 gelangten die beiden Parteien zu einer Übereinkunft.16 Der Vertrag, der 49 Paragraphen umfasste, die Protokolle der bilateralen Verhandlungen aus den Jahren 1776 und 1778 für verbindlich erklärte17 und Fragen vom Kirchenasyl18 bis zur Waldnutzung regelte,19 ist bislang weder in der stadt- noch in der ordensgeschichtlichen Forschung angemessen gewürdigt worden. Zuvörderst wurden die parochialen Befugnisse und die Bauvorhaben des Deutschen Ordens festgeschrieben, der auf die Konstituierung einer Pfarrei an der Nürnberger Kommende verzichtete und akzeptierte, dass dort höchstens ein „Praeses“ und zwei Kapläne amtieren durften. Im Gegenzug gestand die Reichsstadt zu, dass diese Geistlichen, unter Auflagen, Kinder aus katholischen Familien taufen durften.20 Sodann regelte der Vertrag den geplanten Neubau der Elisabethkapelle, des Hospitals und der „Kastner Wohnung“. Der Grund- und der Aufriss des Sakralbaus wurden durch den Orden vorgelegt und durch die Reichsstadt, die die Bauaufsicht ausübte, genehmigt. Die Pläne für die übrigen Gebäude waren nachzureichen. Gleich der bestehenden Kapelle durfte der Neubau mit vier Altären und zwölf Glocken ausgestattet werden. Nicht zuletzt berührte der Vertrag ökonomische Interessen, indem er Materiallieferungen und den Einsatz von Arbeitskräften klärte.21 Im Juli 1784 überließ der Nürnberger Rat dem Orden die ehemalige Kartäuserkirche, damit die katholische Messe während der Bauphase dort gefeiert werden konnte, und verlegte den evangelischen Gottesdienst in die wesentlich kleinere Zwölfbotenkapelle.22 Bereits 1774 war Franz Ignaz Michael Neumann beauftragt worden, Entwürfe für den Neubau auszuarbeiten. Nachdem die Arbeiten am Kastnerhaus 1783 abgeschlossen waren, erfolgte 1785 die Grundsteinlegung zum Neubau der Kirche. Als Wilhelm Ferdinand Lipper 1789 berufen wurde, ließ er die bis 15 16

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Vgl. Blickle, Peter, Unruhen in der ständischen Gesellschaft 1300–1800, München 1988, S. 44f. Vgl. Demel, Bernhard, Der Deutsche Orden in den protestantischen Reichsstädten, in: Arnold, Udo (Hrsg.), Stadt und Orden. Das Verhältnis des Deutschen Ordens zu den Städten in Livland, Preußen und im Deutschen Reich, Marburg 1993, S. 216–292, hier S. 280–283. Vgl. Bayerisches Staatsarchiv Nürnberg [im Folgenden: BayStAN], Rep. 1 b, Reichsstadt Nürnberg, Päpstliche u. fürstl. Privilegien, Nr. 781 b, fol. 41r. Vgl. ebd., fol. 13v. Vgl. ebd., fol. 16r. Vgl. ebd., fol. 4r–8r, Zitat 8r. Vgl. ebd., fol. 8r–12r, Zitat 11r. Vgl. Erlangen, in: Journal von und für Deutschland 2 (1784), S. 421f.

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dahin aufgeführten Mauern teilweise wieder abreißen und baute nach eigenen Entwürfen weiter. Seit 1805 ruhte die Bautätigkeit. Der Rohbau war fertiggestellt, das Innere hingegen blieb infolge der 1806 vollzogenen Säkularisation der Kommende jahrzehntelang unvollendet.23 Neben der Geschichte sind auch Lage, Größe und Bauschmuck des Neubaus der Deutschordenskirche, der von Kunsthistorikern zu den Hauptwerken klassizistischer Sakralarchitektur in Süddeutschland gezählt wird,24 in dem hier zu behandelnden Kontext aufschlussreich. Während die kunstgeschichtliche Forschung die politische Symbolik gänzlich vernachlässigt hat, ist seitens der historischen Forschung immerhin festgestellt worden, dass sich der Orden mit der finanzielle Leistungsfähigkeit, die sich in diesem Bauwerk manifestierte, ostentativ von der hoch verschuldeten Reichsstadt abgehoben habe.25 Es lohnt eine nähere Inaugenscheinnahme: Das Gebäude aus rötlichem Sandstein wendet seine fünfachsige Schauseite dem Jakobsplatz zu. Sieben Stufen führen zum Hauptportal empor. Der dreiachsige, in Mauerstärke hervorspringende Mittelrisalit ist durch einen Portikus akzentuiert. Säulen ionischer Ordnung tragen den in voller Höhe von einer Attika flankierten Dreiecksgiebel, der das von Trophäen umgebene Ordenswappen als Flachrelief präsentiert. Über dem Risalit ragt ein Tambour auf, den acht mit Säulen korinthischer Ordnung belegte Ädikulen umringen. Während die kupfergedeckte, von einem vergoldeten Ordenskreuz bekrönte Kuppel eine Höhe von 50 Metern erreicht, misst der kreisförmige Raum, den sie überwölbt, 17 Meter im Durchmesser. Querrechteckige Nebenräume schließen sich ihm an. Insgesamt schmücken nicht weniger als 40 Säulen mit stuckmarmornen Schäften und korinthischen Kapitellen die drei Räume, die ihr Licht durch hohe Rechteckfenster empfangen.26 Die Akkumulation architektonischer Würde- und Triumphformeln, in deren Mittelpunkt das Giebelrelief steht, kontrastiert mit der auf Kreuz und Wappen reduzierten Verwendung christlicher Symbole, die zugleich Zeichen eines Reichsstandes sind. Mit diesem Bauschmuck mutet die Elisabethkirche weniger wie ein Sakralbau, eher wie ein weltlicher Repräsentationsbau an. Nicht die konfessionelle Ausrichtung, sondern das politische Gewicht des Bauherrn kam hierin zum Ausdruck. Die Beispiele Wetzlars und Nürnbergs haben die Komplexität veranschaulicht, mit der sich die Lage konfessioneller Minoritäten in den Reichsstädten am Vorabend der josephinischen Toleranzpolitik darstellte, und damit das Erfordernis unterstrichen, bei der Einschätzung reichsstädtischer Konfessionspolitiken die spezifischen 23 24 25 26

Vgl. Dischinger, G[abriele], St. Elisabeth in Nürnberg, ehem. Deutschordenskommende mit Kirche, in: Nerdinger, Winfried (Hrsg.), Klassizismus in Bayern, Schwaben und Franken. Architekturzeichnungen 1775–1825, München 1980, S. 367–374 passim. Vgl. K[luxen], A[ndrea M.], Der Deutsche Orden als Bauherr. St. Elisabeth in Nürnberg, in: Arnold, Udo (Red.), 800 Jahre Deutscher Orden, Gütersloh/München 1990, S. 548–556, hier S 555. Vgl. Demel, Der Deutsche Orden, S. 282. Vgl. Breuer, Tilmann/Oswald, Friedrich/Piel, Friedrich u.  a. (Bearb.), Handbuch der Deutschen Kunstdenkmäler. Bayern I: Franken. Die Regierungsbezirke Oberfranken, Mittelfranken und Unterfranken, 2. Aufl., Berlin 1999, S. 690.

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Resultat konfessionspolitischer Verständigungsbereitschaft: Die Nürnberger Deutschordenskirche St. Elisabeth. Kupferstich von [Christian Friedrich Traugott] Duttenhofer nach einer Zeichnung von G[eorg] C[hristian] Wilder. Repro. aus: Neues Taschenbuch von Nürnberg, 2. Theil, Nürnberg 1822, S. 103. (Bildnachweis: Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), Hist.urb.Germ.2511 Copyright: SLUB/Deutsche Fotothek)

konstitutionellen, wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen zu berücksichtigen. Um durch vergleichende Betrachtung erste Anhaltspunkte zu gewinnen, bezieht das zweite Kapitel zwei andere Städtetypen ein: die Residenz- und die Landstadt.

II. Patente und Proteste Konfessionelle Antagonismen bestanden, wie bereits deutlich geworden ist, im Zeitalter der Spätaufklärung fort, und sie beschränkten sich keineswegs auf Reichsstädte wie Wetzlar. Vielmehr lässt sich die Kontinuität der Unduldsamkeit auch für Residenzstädte nachweisen, beispielsweise für Wertheim am Main. Dort saßen sowohl der Fürst der katholischen Linie des Hauses Löwenstein-Wertheim als auch die Grafen der lutherischen Linie. Den Anlass zur Austragung konfessioneller Animositäten bot, wie in Wetzlar, eine Prozession. Als die Grafen 1781 eine Prozession

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verhinderten, ersuchte ihr katholischer Verwandter den Fürstbischof von Würzburg um militärischen Beistand. Durch die einquartierten würzburgischen Soldaten wurde wiederum der lutherische Gottesdienst gestört.27 Auch in diesem Fall eröffnete also unzureichende Herrschaftsstabilität einen Raum zur Austragung konfessioneller Differenzen. Hieraus ergibt sich im Umkehrschluss: Obrigkeiten konnten Rücksichten auf die dominante Konfession umso leichter fallen lassen und utilitaristischen Erwägungen folgen, je gefestigter ihre Machtstellung war. Zur Überprüfung dieser Hypothese wird nunmehr die Politik einer Großmacht einbezogen. Die zentrale konfessionspolitische Neuerung des Untersuchungszeitraums bildeten die Toleranzpatente Kaiser Josephs II. für die habsburgischen Erblande. Der Katholizismus blieb zwar Staatsreligion, doch wurde 1781 den Lutheranern, Calvinisten und nicht-unierten Orthodoxen das Recht privater Religionsausübung gewährt. Zünfte, Universitäten und der Staatsdienst öffneten sich ihnen, Mischehen wurden erlaubt. Wo 100 Familien, später 500 Angehörige einer akatholischen Konfession lebten, durften sie Gemeinden gründen, Sakralbauten errichten und Schulen unterhalten. Die Vorschriften für akatholische Kirchengebäude waren indes rigide: kein Turm, kein Geläut, kein straßenseitiges Portal.28 Sie unterstreichen den exzeptionellen Charakter der Nürnberger Deutschordenskirche. Allein in Wien meldeten sich 3.000 Lutheraner und Calvinisten, so dass sich hier umgehend zwei Gemeinden konstituieren durften. Da im Zuge der josephinischen Klosteraufhebungen 18 Wiener Ordenshäuser säkularisiert worden waren, konnten die Lutheraner das ehemalige Dorotheenkloster erwerben, während die Calvinisten am Standort des früheren Königinklosters einen Neubau errichteten. Es war vor allem dieser Umgang mit ehemaligen Klostergebäuden, der viele Wiener Katholiken empörte. In seiner Residenzstadt konnte Joseph  II. aufgrund seiner überlegenen Machtstellung über den Protest hinweggehen,29 in den anderen Städten der Erblande variierte der Widerstand in Dauer und Intensität.30 Um die regionalen Unterschiede zu erklären, bedarf es neben der Erörterung politischer Motive auch der Einbeziehung wirtschaftlicher und sozialer Aspekte. Obrigkeiten erwogen die Förderung des konfessionellen Pluralismus nicht zuletzt, weil Kaufleute, gewerbliche Spezialisten und Siedler anderen Bekenntnisses, die andernorts vertrieben worden waren, dem aufnehmenden Gemeinwesen nutzen konnten. Als beispielsweise die calvinistischen Kurfürsten von Brandenburg und 27 28

29 30

Vgl. Wertheim in Franken, 19 Jul. 1781, in: Briefwechsel meist statistischen Inhalts 9 (1781), S. 273–283; Die Wallfahrer zu Wertheim. Ein Nachspiel zu den Kreuzfahrern im Mittelalter, in: ebd., S. 330–337. Vgl. Barton, Peter F., Toleranz und Toleranzpatente in der Donaumonarchie, in: Ders. (Hrsg.), Im Zeichen der Toleranz. Aufsätze zur Toleranzgesetzgebung des 18. Jahrhunderts in den Reichen Joseph II., ihren Voraussetzungen und ihren Folgen, Wien 1981, S. 250–275, hier S. 268f. Vgl. Vocelka, Karl, Kirchengeschichte, in: Ders./Traninger, Anita (Hrsg.), Wien. Geschichte einer Stadt, Bd. 2, Die frühneuzeitliche Residenz (16. bis 18. Jahrhundert), Wien/Köln/Weimar 2003, S. 311–363, hier S. 349. Vgl. Karniel, Josef, Die Toleranzpolitik Kaiser Josephs II., Gerlingen 1985, S. 349.

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späteren preußischen Könige im 17. Jahrhundert den Zuzug von Hugenotten und Holländern, dann auch von Salzburger Exulanten förderten, spielte Solidarität unter Reformierten nur eine untergeordnete Rolle. Das vorrangige Ziel bestand in der Hebung von Handel und Gewerbe bzw. der Besiedlung des Landes.31 Der Stellenwert utilitaristischer Erwägungen wird sichtbar durch die Entwicklung in der zu Vorderösterreich gehörenden Stadt Konstanz. Den Ausschlag gab auch hier eine calvinistische Migrationswelle, die in diesem Fall von Genf ausging.32 War die josephinische Toleranzpolitik in der früheren Reichsstadt Konstanz zunächst auf verfassungsrechtliche Vorbehalte gestoßen, so änderte der Magistrat seine Position binnen weniger Jahre. Um Genfer Emigranten zur Einwanderung zu motivieren, verfügte Joseph II. 1785, dass sie Häuser in Konstanz errichten, ihre Religion ausüben und bereits ab einer Mindestzahl von 30 Familien eine Gemeinde gründen durften. Die wirtschaftlichen Vergünstigungen der kaiserlichen Verordnung wurden durch einen Beschluss des Magistrats ergänzt und erweitert.33 Im Sommer ließen sich die ersten Genfer in Konstanz nieder. Die von ihnen ausgehenden Neuerungen in Arbeitsorganisation und Produktionsverfahren bewirkten eine nachhaltige Modernisierung der lokalen Wirtschaft. Obwohl die Genfer Kolonie ein beachtliche Größe erreichte (Höchststand im März 1788: 563 Personen) und die protoindustriellen Veränderungen in sozialer Perspektive nicht unproblematisch waren, blieben konfessionsbedingte Reibungen aus.34 Indessen konnten konfessionelle Ressentiments schon allein in Erwartung einer Zuwanderung eskalierend wirken. So rief die Toleranzpolitik Josephs II. in den Österreichischen Niederlanden die Sorge vor einem Zuzug von Protestanten aus Großbritannien und den Vereinigten Niederlanden hervor.35 In Verbindung mit ständischen Motiven und dem aufkommenden belgischen Nationalbewusstsein verschärfte sie den Konflikt mit Wien, der 1786 in einen Aufstand überging.36 Zeigt schon ein Vergleich zwischen Städten unter österreichischer Herrschaft ein breites Spektrum von Reaktionen auf die josephinische Toleranzpolitik, so gilt dies auch für die Städte und mindermächtigen Territorien des Reiches. Auch dort, unter anderen konstitutionellen und politischen Bedingungen als in den Erblanden, wirkte 31

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Vgl. Walker, Mack, Der Salzburger Handel. Vertreibung und Errettung der Salzburger Protestanten im 18. Jahrhundert, Göttingen 1997, S. 83 f.; Niggemann, Ulrich, Immigrationspolitik zwischen Konflikt und Konsens. Die Hugenottenansiedlung in Deutschland und England (1681–1697), Köln/Weimar/Wien 2008, S. 73f. Vgl. Hartmann, Anja Victorine, Reflexive Politik im sozialen Raum. Politische Eliten in Genf zwischen 1760 und 1841, Mainz 2003, S. 60f. Vgl. Aphorismen zur allgemeinen Kunde der gesamten kaiserlichen Staaten, in: Deutsches Museum 2 (Juli 1786), 7. Stück, S. 1–28, hier S. 10ff. Vgl. Burkhardt, Martin, Konstanz im 18. Jahrhundert. Materielle Lebensbedingungen einer landstädtischen Bevölkerung am Ende der vorindustriellen Gesellschaft, Sigmaringen 1997, S. 44f. und 70f. Vgl. Karniel, Toleranzpolitik, S. 369 und 481. Vgl. Zedinger, Renate, Die Verwaltung der Österreichischen Niederlande in Wien (1714–1795). Studien zu den Zentralisierungstendenzen des Wiener Hofes im Staatswerdungsprozeß der Habsburgermonarchie, Wien/Köln/Weimar 2000, S. 112f.

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sich der Josephinismus auf die Koexistenz der Konfessionen aus. Zur näheren Erkundung dieses Sachverhalts liegt das Hauptaugenmerk der weiteren Betrachtungen auf jenen Reichsstädten, deren Konfessionspolitiken große Aufmerksamkeit seitens der deutschsprachigen Öffentlichkeit hervorriefen: Hamburg, Frankfurt, Köln und Aachen.37

III. Reform und Reaktion Die lutherische Reichsstadt Hamburg betrieb traditionell eine relativ duldsame Fremdenpolitik, die erheblich zum Aufschwung des Überseehafens beigetragen hatte.38 Konfessionelle Konflikte blieben aber auch hier nicht aus.39 Die Einführung der Toleranz scheiterte noch 1774 und 1778 am Widerstand des lutherischen Ministeriums. Dass sie 1785 – in demselben Jahr erfolgte die konfessionspolitische Öffnung von Konstanz – durchgesetzt wurde, führen Kopitzsch und Whaley auf drei Gründe zurück: die Duldungspolitik des Kaisers, auf die sich der Senat ausdrücklich berief; die zunehmende Toleranzdiskussion der literarischen Öffentlichkeit, in deren Folge das Ministerium an Deutungsmacht verlor; schließlich die für das Exercitium religionis privatum typischen Restriktionen, so dass die wichtigste Änderung lediglich im Übergang der nicht-lutherischen Patronate von den in Hamburg akkreditierten Gesandten auf den Senat bestand.40 Indessen lässt sich auch auf dieser differenzierten Argumentationsbasis noch nicht erklären, warum die Einführung der Toleranz in anderen Reichsstädten unterblieb. Erforderlich ist zunächst eine Berücksichtigung politischer Faktoren, und sie darf sich, denn andernfalls bliebe das Vorgehen Nürnbergs unverständlich, nicht in dem Hinweis auf einen Legitimationsgewinn konfessioneller Öffnungspolitik durch das Vorbild kaiserlicher Toleranzpatente erschöpfen. Ferner ist die Beachtung ökonomischer und sozialer Aspekte geboten. Ohne deren Einbeziehung greifen Hinweise auf die Toleranzdiskussion einer zunehmend aufklärerisch geprägten Öffentlichkeit ins Leere. Konkrete Anhaltspunkte bietet der Blick auf die Folgen einer Migrationswelle aus den Vereinigten Niederlanden, deren Eliten in der Mehrzahl reformierten Glaubens waren.41 Nach der Niederlage der Patriotenbewegung im niederländischen 37 38 39

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Vgl. Stephan-Kopitzsch, Ursula, Die Toleranzdiskussion im Spiegel überregionaler Aufklärungszeitschriften, Frankfurt am Main/Bern/New York u. a. 1989, S. 87f. und 91f. Vgl. Postel, Rainer, Asyl und Emigration in der Frühen Neuzeit, in: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte 83/1 (1997), S. 201–223, hier S. 222. Vgl. Hatje, Frank, Zwischen Repräsentation und Konfession. Konflikt um Bedeutung, Nutzung und Architektur eines hamburgischen Stadtpalais im 18. Jahrhundert, in: Rau, Susanne/Schwerhoff, Gerd (Hrsg.), Zwischen Gotteshaus und Taverne. Öffentliche Räume in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, Köln/Weimar/Wien 2004, S. 155–181, hier S. 160. Vgl. Kopitzsch, Grundzüge, S. 497f.; Whaley, Toleranz, S. 167f. Vgl. Eijnatten, Joris van, The debate of religious unity in the eighteenth-century Netherlands. The German connection, in: Duchhardt, Heinz/May, Gerhard (Hrsg.), Uni-

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Bürgerkrieg – auch in diesem Konflikt gab es eine konfessionelle Komponente, wenngleich sie ihn nicht dominierte – exilierten zahlreiche Anhänger der unterlegenen Seite, darunter Kaufleute und Manufakturisten.42 Dass von diesen Emigranten ein weiterer Impuls zur Förderung des konfessionellen Pluralismus im Reich ausging, hat T. C. W. Blanning am Beispiel der kurfürstlich-erzbischöflichen Residenzstadt Mainz gezeigt.43 Ehe das vierte Kapitel vergleichshalber auf die kurmainzische Politik zurückkommt, sind die Reaktionen der Reichsstädte Frankfurt, Köln und Aachen auf diesen Exodus darzulegen. Wie der Aufschwung Hamburgs war auch die Entwicklung der lutherischen Reichsstadt Frankfurt zum führenden Finanzplatz Deutschlands durch die Ansiedlung niederländischer Kaufleute im 16. Jahrhundert gefördert worden.44 War ihnen anfangs die Ausübung ihrer Religion gestattet gewesen, so scheiterten noch in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts drei Anläufe, den reformierten Gottesdienst wieder zuzulassen. Erst als die Reformierten im Juli 1786 erneut darum baten, willigte der Rat, zögerlich und unter Auflagen, ein. Den Anspruch des Bürgerausschusses auf ein Mitentscheidungsrecht wies er zurück. Im Dezember 1787 wurde der erste französisch-reformierte, zwei Monate später der erste deutsch-reformierte Gottesdienst gefeiert.45 Der Frankfurter Rat hatte die Genehmigung am 15. November 1787 erteilt, eine Woche später berichtete die Kölner Presse darüber.46 Nach weiteren sechs Tagen legten die Kölner Lutheraner und Reformierten eine Supplik vor, in der sie ein gemeinsames Bethaus beantragten. Sie wiesen auf die Frankfurter Entscheidung hin und erklärten, die mit Köln konkurrierende Handelsstadt fördere damit den Zuzug wohlhabender Emigranten aus den Vereinigten Niederlanden. Noch am selben Tag votierte der Rat mit 21 zu 18 Stimmen für den Antrag.47 Mit zwei Presseberichten begann die öffentliche Diskussion um das Bethaus, in beiden wurde der Toleranzbeschluss begrüßt. Indem der „Kölnische Staatsboth“ die Entscheidung mit den Geboten der Nächstenliebe, der Gerechtigkeit und des Gemeinwohls begründete, nahm er die Quintessenz aller nachfolgenden Argumentationen zugunsten der Toleranz vorweg.48

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on – Konversion – Toleranz. Dimensionen der Annäherung zwischen den christlichen Konfessionen im 17. und 18. Jahrhundert, Mainz 2000, S. 325–348, hier S. 326. Vgl. Schama, Simon, Patriots and liberators. Revolution in the Netherlands, 1770–1813, 2. Aufl., London 1992, S. 143f. Vgl. Blanning, T. C. W., Reform and revolution in Mainz 1743–1803, Cambridge 2008, S. 179–183. Vgl. Holtfrerich, Carl-Ludwig, Finanzplatz Frankfurt. Von der mittelalterlichen Messestadt zum europäischen Bankenzentrum, München 1999, S. 85f. Vgl. Ebrard, Friedrich Clemens, Die französisch-reformierte Gemeinde in Frankfurt am Main 1554–1904, Frankfurt am Main 1906, S. 124–139. Vgl. Kölnischer Staatsboth 140 (22.11.1787). Vgl. Hansen, Quellen, S. 209–213. Vgl. Kölnischer Staatsboth 143 (29.11.1787); Kölnischer Staatsboth, Beilage (31.11.1787); Kaiserl. Reichs-Ober-Post-Amts-Zeitung zu Köln 192 (01.12.1787).

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Gegen die Bethausgenehmigung wandten sich zum einen der Kölner Klerus, an dessen Spitze der dem Kurfürstenkolleg angehörende Erzbischof stand, und der in der Reichsstadt residierende Nuntius,49 zum andern der Bannerrat, der sich aus den Vorstehern der Gaffeln – vereinfacht gesagt: der Zünfte in ihrer politischen Gestalt – zusammensetzte und über die Aufrechterhaltung der politischen Grundordnung Kölns zu wachen hatte,50 sowie die Bürgerliche Deputatschaft, die 1779 nach anhaltenden Protesten des einfachen Zunftbürgertums gegen die obrigkeitliche Amtsführung entstanden war.51 Während die Bannerherren dem Rat die Befugnis absprachen, eine so weitreichende Entscheidung zu treffen, und die sofortige Rücknahme verlangten,52 erkannte die Deputatschaft an, dass der Toleranzbeschluss vernünftig und vorteilhaft sei. Allerdings forderte sie ein Referendum in dieser Angelegenheit53 und schlug, die heikle Lage des Rates erkennend, die Bildung einer gemeinsamen Kommission zur Revision der Verfassung vor.54 Unterdessen gab Nuntius Bartolomeo Pacca den Pfarrern insgeheim Hinweise, wie sie den Gläubigen das Missfallen der Kirche wegen des Ratsschlusses vermitteln sollten.55 Seit Dezember kam es zu duldungsfeindlichen Predigten, Demonstrationen und Drohungen gegen Bethausbefürworter. Die stadtkölnische Zensur erwies sich als unwirksam, toleranzfeindliche Flugschriften dominierten die Diskussion. Sie verwarfen die Duldung mit religiösen Argumenten, bestritten die Verfassungsmäßigkeit der Bethausgenehmigung und leugneten die ökonomischen Vorteile einer möglichen Zuwanderung.56 Als zwei Vertreter der Lutheraner und Reformierten den Erzbischof ersuchten, er möge die Katholiken zur Duldsamkeit ermahnen, nahm dieser die Supplik zwar persönlich entgegen,57 er beschloss aber, die Bethausgenehmigung als einen Eingriff in seine Rechte zurückzuweisen und zugleich, diesen Anlass nutzend, andere zwischen dem Kurerzstift und der Reichsstadt strittige Fragen anzusprechen.58 49 50

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56 57 58

Vgl. Gatz, Erwin, Erzbistum Köln, in: Ders. (Hrsg.), Die Bistümer des Heiligen Römischen Reiches von ihren Anfängen bis zur Säkularisation, Freiburg 2003, S. 273–290, hier S. 283f. Vgl. Schwerhoff, Gerd, Apud populum potestas? Ratsherrschaft und korporative Partizipation im spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Köln, in: Schreiner, Klaus/ Meier, Ulrich (Hrsg.), Stadtregiment und Bürgerfreiheit. Handlungsspielräume in deutschen und italienischen Städten des Späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Göttingen 1994, S. 188–243, hier S. 202f. und 225f. Vgl. Wolf, Klaus, Stadtbild im Umbruch. Öffentlichkeit und Kölner Bauwerke 1763– 1814, Regensburg 2010, S. 70. Vgl. Hansen, Quellen, S. 228ff. Vgl. ebd., S. 217f. Vgl. Wolf, Stadtbild, S. 80. Vgl. Pacca, Bartolomeo, Historische Denkwürdigkeiten Sr. Eminenz des Cardinals Bartholomäus Pacca über seinen Aufenthalt in Deutschland in den Jahren 1786 bis 1794, in der Eigenschaft eines apostolischen Nuntius in den Rheinlanden, residierend in Köln, Augsburg 1832, S. 65ff. Vgl. Wolf, Stadtbild, S. 77ff. Vgl. Hansen, Quellen, S. 221f. Vgl. Haus- Hof- und Staatsarchiv Wien [im Folgenden: HHStAW], Reichskanzlei, Diplomatische Akten, Köln – Berichte 10b, fol. 288; ebd., Reichskanzlei, Kleinere Reichs-

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Angesichts dieses massiven Widerstands erbat der stadtkölnische Rat in Wien eine Bestätigung seiner Entscheidung. Er berief sich auf die kaiserliche Toleranzpolitik und betonte, dass sein Beschluss eine mögliche Aufnahme protestantischer Kaufleute aus den Vereinigten Niederlanden erleichtere und damit der Reichsstadt die Chance eröffne, im ökonomischen Wettstreit mit den Herzogtümern Jülich und Berg,59 prosperierenden Territorien des Hauses Wittelsbach,60 aufzuholen. Der Reichshofrat pflichtete dem wirtschaftspolitischen Argument bei und bestätigte den Toleranzbeschluss, allerdings vorbehaltlich der erzbischöflichen und kurfürstlichen Rechte.61 Da die Proteste nicht nachließen, beschloss der stadtkölnische Rat im April 1788, das Verfassungsorgan der Vierundvierziger einzuberufen,62 zu dem jede der 22 Gaffeln zwei Vertreter entsandte.63 Als die Tagung des Rates mit den Vierundvierzigern anstand, strömten vor dem Rathaus zahlreiche Demonstranten zusammen. Der Wortführer der Duldungsbefürworter wurde beschimpft, sein wichtigster Kontrahent bejubelt. Unter dem Druck des Tumults beschlossen der Rat und die Vierundvierziger mit 69 zu 16 Stimmen, die Bethausgenehmigung zu widerrufen, und erzielten damit eine Deeskalation. Der Rat bat in Wien, die Annullierung zu genehmigen, wobei er sein Ansinnen mit der Behauptung untermauerte, die Zahl niederländischer Emigranten sei geringer als erwartet.64 Obwohl der Reichshofrat auf der Gültigkeit des Toleranzbeschlusses beharrte,65 blieb den Kölner Protestanten die öffentliche Religionsausübung bis zum Ende der stadtkölnischen Souveränität verwehrt.66 Ermutigt durch die ersten Nachrichten von der Kölner Bethausgenehmigung, ersuchten die Aachener Reformierten im Dezember 1787 den König von Preußen, ihren Wunsch nach freier Religionsausübung gegenüber dem katholischen Rat der Reichsstadt zu unterstützen.67 Der Monarch hatte als Herzog von Kleve mit dem Kurfürsten von Köln als Fürstbischof von Münster und dem Kurfürsten von PfalzBayern als Herzog von Jülich das Direktorium des Niederrheinisch-Westfälischen

59 60 61 62 63 64 65 66 67

stände 323–8, fol. 41. Vgl. Hansen, Quellen, S. 218ff. Vgl. Gorißen, Stefan, Gewerbe, Staat und Unternehmer auf dem rechten Rheinufer, in: Ebeling, Dietrich (Hrsg.), Aufbruch in eine neue Zeit. Gewerbe, Staat und Unternehmer in den Rheinlanden des 18. Jahrhunderts, Köln 2000, S. 59–85, hier S. 78. Vgl. HHStAW, Reichskanzlei, Kleinere Reichsstände 323–8, fol. 55–60; Hauptstaatsarchiv Düsseldorf, Kurköln II, Nr. 3760, fol. 42v. Vgl. Hansen, Quellen, S. 277f. Vgl. Schwerhoff, Apud populum potestas, S. 204f. Vgl. Hansen, Quellen, S. 279–285. Vgl. ebd., S. 342f. Vgl. Langer, Ute, Die konfessionelle Grenze im frühneuzeitlichen Köln. Das Zusammenleben von Reformierten und Katholiken zwischen Anpassung und Abgrenzung, in: Geschichte in Köln 53 (2006), S. 35–62, hier S. 43. Vgl. Archiv der Evangelischen Kirche im Rheinland [im Folgenden: AEKR], Bestand Aachen, Nr. A1, 8, S. 88.

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Kreises inne.68 Die Bitte der Reformierten erging vor dem Hintergrund teils gewalttätiger Auseinandersetzungen, die das politische System der Reichsstadt seit 1786 erschütterten. Um Ruhe und Ordnung wiederherzustellen, die Gründe der sogenannten Mäkelei zu untersuchen und Vorschläge zur Reform der reichsstädtischen Verfassung auszuarbeiten, hatten die Kreisdirektoren, gestützt auf ein Mandat des Reichskammergerichts, ihre Gesandten nach Aachen beordert.69 Der preußische Gesandte Christian Wilhelm von Dohm, der zu Beginn des Jahrzehnts mit einem zweibändigen Werk zur Judenemanzipation weithin Aufsehen erregt hatte,70 signalisierte umgehend, das Anliegen der Protestanten unterstützen zu wollen.71 Nachdem die offizielle Zusage aus Berlin im Januar 1788 eingetroffen war,72 formulierten die Reformierten und die Lutheraner weitgehend gleich lautende Bittschriften an den reichsstädtischen Rat, er möge freie Religionsausübung und die Errichtung eines Bet-, Schul- und Pfarrhauses genehmigen.73 Die Supplikanten hoben hervor, dass Toleranz eine ökonomisch wünschenswerte Zuwanderung erleichtere, damit den allgemeinen Wohlstand mehre und zur politischen Stabilisierung beitrage. Andeutungsweise wurde die Warnung angefügt, dass fortwährende Unduldsamkeit zu einer Abwanderung wirtschaftlich relevanter Akteure führen könne.74 Der weitere Hergang der Aachener Toleranzfrage ist in der historischen Forschung bislang nur unzureichend dargelegt. Am 19. April kamen Vertreter der reichsstädtischen Obrigkeit und der akatholischen Konfessionen in Dohms Quartier zusammen und sondierten die Aussichten der Bittschriften. Zwei Tage später suchte eine Ratsdeputation den Gesandten auf, um von einer Übergabe abzuraten. Die Warnung der Deputierten vor neuerlichen Ausschreitungen und einem möglichen Einspruch der beiden katholischen Kurfürsten überzeugten Dohm. Auf seine Empfehlung hin ließen die Reformierten und Lutheraner ihr Vorhaben fallen.75 Als er 1790 einen Verfassungsentwurf vorlegte, definierte er die Rechte und Pflichten der Bürger sowie die Voraussetzungen zum Erwerb des Bürgerrechts, ohne eine obligatorische Konfessionszugehörigkeit zu erwähnen.76 Die implizierte Konsequenz, 68 69 70 71 72 73 74 75 76

Vgl. Arndt, Johannes, Die Verflechtung des Rheinlandes mit dem politisch-rechtlichen System des Alten Reiches 1648–1806, in: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 208 (2005), S. 155–174, hier S. 167. Vgl. Carl, Horst, Die Aachener Mäkelei 1786–1792. Konfliktregelungsmechanismen im alten Reich, in: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 92 (1985), S. 103–187, hier S. 142. Vgl. Risse, Regina, Christian Wilhelm Dohm (1751–1820) und sein Beitrag zur Politisierung der Aufklärung in Deutschland, Köln 1996, S. 14f. Vgl. AEKR, Bestand Aachen, Nr. A1, 8, S. 87; ebd., Nr. A3, 5, S. 195. Vgl. ebd., Nr. A1, 8, S. 104. Vgl. Stevens, Hermann, Toleranzbestrebungen im Rheinland während der Zeit der Aufklärung. Kurmainz, Kurtrier, Kurköln, Reichsstadt Köln u. Aachen, Bonn 1938, S. 91–94. Vgl. Hansen, Quellen, S. 274ff. Vgl. AEKR, Bestand Aachen, Nr. A1, 8, S. 105–109. Vgl. Dohm, Christian Wilhelm von, Entwurf einer verbesserten Constitution der Kaiserl. freyen Reichsstadt Aachen, Aachen 1790, S. 3–7.

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die Beschränkung des Bürgerrechts auf Katholiken zu annullieren, wurde aber selbst von den Verfechtern der Verfassungsreform im Rat nicht aufgegriffen.77 Während die weltlichen Obrigkeiten in Nürnberg, Hamburg und Frankfurt in der Spätphase reichsstädtischer Souveränität konfessionellen Minderheiten größere Toleranz gewährten, ließ sich die Bethausgenehmigung des stadtkölnischen Rates nicht realisieren. Duldungsanträge in Aachen gelangten nicht einmal zur förmlichen Entgegennahme. Angesichts dieser Divergenzen werden im vierten Kapitel die lokalen Rahmenbedingungen der reichsstädtischen Konfessionspolitiken in direkter Gegenüberstellung analysiert, um die Relevanz konstitutioneller, wirtschaftlicher und sozialer Einflussgrößen abschätzen zu können.

IV. Hebel und Hemmnisse Zunächst ist zu betonen: Nürnberg, Hamburg und Frankfurt waren lutherisch, Köln und Aachen katholisch. Diese Feststellung zielt weniger auf die in der historischen Forschung bisweilen überpointierte Phasenverschiebung in der Ausbreitung aufklärerischer Gedanken zwischen dem evangelischen und dem katholischen Kulturraum, denn auch in Köln gab es Elemente der Aufklärung: Leihbibliothek, Lesegesellschaft und Freimaurerlogen,78 zudem ein expandierendes Zeitungs- und Zeitschriftenwesen.79 Aufklärerische Ansätze, wenngleich weniger deutlich ausgeprägt, fanden sich auch in Aachen.80 Folglich ist nicht davon auszugehen, dass die Funktionseliten in Aachen und Köln erheblich weniger aufklärerisch eingestellt gewesen seien als jene in Frankfurt, Hamburg oder Nürnberg. Relevanter erscheint der konfessionelle Unterschied, wie Winfried Müller hervorhebt, in machtpolitischer Perspektive.81 In protestantischen Reichsstädten oblag der weltlichen Obrigkeit die Aufsicht über das Kirchenwesen.82 Der Kölner Pfarrklerus hingegen unterstand dem in Bonn residierenden Erzbischof, dessen weltlicher Machtbereich, das Kurfürstentum Köln, die Reichsstadt an Territorium, Bevölkerung und Finanzkraft übertraf.83 Dass der amtierende Erzbischof und Kurfürst Maximilian Franz ein Bruder Kaiser Josephs  II. war, verlieh seiner Position

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Vgl. Müller, Klaus, Die Reichsstadt Aachen im 18. Jahrhundert, in: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 98/99 (1992/93), S. 205–230, hier S. 226f. Vgl. Mettele, Gisela, Bürgertum in Köln 1775–1870. Gemeinsinn und freie Association, München 1998, S. 55ff. Vgl. Angelike, Karin, Presse im Köln des 18. Jahrhunderts. Französische und deutsche Zeitungen im Vergleich, in: Geschichte in Köln 48 (2001), S. 87–103, hier S. 88ff. Vgl. K. Müller, Reichsstadt Aachen, S. 225f. Vgl. Müller, Winfried, Die Aufklärung, München 2002, S. 9f. Vgl. Rosseaux, Städte, S. 29. Vgl. Traiteur, Theodor von, Der deutschen Reichsstände Verlust auf dem linken Rheinufer, und die Besitzungen der katholischen Geistlichkeit auf dem rechten, Mannheim 1799, S. 13 und 21.

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zusätzliches Gewicht.84 Zudem residierten in Köln ein Nuntius und das Domkapitel, es existierten zehn weitere Stifte und eine Vielzahl von Klöstern.85 Diese Institutionen waren sozial und kulturell eng mit der Stadt verflochten.86 Nicht wesentlich anders stellte sich die Situation in Aachen dar. Auch hier übte – unabhängig von der Entsendung der Kreisdirektorialgesandten – eine benachbarte katholische Macht, das Herzogtum Jülich, politischen Einfluss aus,87 auch hier existierten bedeutende Konvente.88 Vor diesem Hintergrund besaßen der stadtkölnische und der Aachener Rat geringere Handlungsspielräume gegenüber der Geistlichkeit als die weltlichen Obrigkeiten in Nürnberg, Hamburg und Frankfurt. Dass es auch unter geistlicher Herrschaft eine konfessionspolitische Öffnung geben konnte, ist im dritten Kapitel durch den Hinweis auf Mainz angedeutet geworden. Während die oberrheinische Metropole aber unter der Herrschaft ihres Erzbischofs stand, war Köln reichsunmittelbar. Dieser grundlegende Unterschied prägte das kurerzbischöfliche Regierungshandeln in Mainz und Bonn. Wenn der Mainzer Kurfürst Friedrich Karl Joseph von Erthal die Ansiedlung von Protestanten förderte, verfolgte er die Interessen des Kurerzstifts. So bemühte er sich nicht nur um den Zuzug niederländischer Kaufleute, sondern berief auch protestantische Gelehrte wie Johannes Müller und Georg Forster nach Mainz.89 Dagegen lag es dem Kölner Kurfürsten fern, die niederrheinische Metropole, die sich seinem Herrschaftsanspruch entzog, zu stärken. Maximilian Franz handelte machtpolitisch konsequent, wenn er beispielsweise die Bonner Hochschule gegenüber der Kölner

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87 88 89

Vgl. Gabel, Helmut, Der Kölner Kurstaat und das Rheinland im Spannungsfeld der europäischen Mächte. Voraussetzungen und Entwicklungslinien mächtepolitischer Orientierung vom Westfälischen Frieden bis zum Ende des Ancien Régime, in: Zehnder, Frank Günter (Hrsg.), Im Wechselspiel der Kräfte. Politische Entwicklungen des 17. und 18. Jahrhunderts in Kurköln, Köln 1999, S. 43–61, hier S. 58. Vgl. Diederich, Toni, Beobachtungen zu den rheinischen Kollegiatstiften am Vorabend der Säkularisation der Französischen Revolution, in: Mölich, Georg/Oepen, Joachim/ Rosen, Wolfgang (Hrsg.), Klosterkultur und Säkularisation im Rheinland, Essen 2002, S. 71–79, hier S. 73ff.; Schaffer, Wolfgang, Die rheinische Klosterlandschaft im Vorfeld der Säkularisation von 1802/03, in: ebd., S. 35–70, hier S. 54. Vgl. Kistenich, Johannes, Schule im Rheinland zwischen Reformation und Revolution, in: Zehnder, Frank Günter (Hrsg.), Eine Gesellschaft zwischen Tradition und Wandel. Alltag und Umwelt im Rheinland des 18. Jahrhunderts, Köln 1999, S. 40–64, hier S. 50ff.; Oepen, Joachim, Religiöse Bruderschaften des 18. Jahrhunderts, in: Zehnder, Frank Günter (Hrsg.), Hirt und Herde. Religiosität und Frömmigkeit im Rheinland des 18. Jahrhunderts, Köln 2000, S. 59–94, hier S. 82f. Vgl. Kolewa, Herbert, Reichsstadt und Territorium. Studien zum Verhältnis zwischen der Reichsstadt Aachen und dem Herzogtum Jülich 1769–1777, Frankfurt am Main/ Berlin/Bern u. a. 1994, S. 281–286. Vgl. Ritscher, Alfred, Städtische Autonomie und geistliche Immunität in Aachener Prozessen am Reichskammergericht während des 18. Jahrhunderts, in: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 102 (1999/2000), S. 219–239, hier S. 238. Vgl. Mathy, Helmut, Von der kurfürstlichen Hohen Schule zur Johannes GutenbergUniversität, in: Dumont, Franz/Scherf, Ferdinand/Schütz, Friedrich (Hrsg.), Mainz. Die Geschichte der Stadt, 2. Aufl., Mainz 1999, S. 703–729, hier S. 710.

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Universität protegierte90 oder in der handelspolitisch relevanten Frage, ob in Köln eine Frachtwaage zu errichten sei, die Position des Rates konterkarierte.91 Derselben Logik machtpolitischen Denkens entsprach das Opponieren des Kurfürsten gegen den stadtkölnischen Toleranzbeschluss, der mit seiner Zielsetzung, eine ökonomisch vorteilhafte Zuwanderung zu erleichtern, auch eine machtpolitische Facette aufwies. Sodann ist eine verfassungsrechtliche Unterscheidung zwischen den Reichsstädten erforderlich. Als ein Kernelement ihrer politischen Ordnung gilt das Verfahren, mit dem über die Zusammensetzung des Rats entschieden wurde. Vereinfacht lassen sich zwei Idealtypen definieren: Im einen Fall war das Recht, politische Ämter zu besetzen, wenigen Familien vorbehalten, im andern Fall besaßen die Zünfte und somit die relativ große Gruppe der Handwerkerschaft erheblichen Einfluss.92 Als exemplarisch gilt im ersten Fall die patrizische Ratsherrschaft in Nürnberg, im zweiten Fall die stadtkölnische Verfassung.93 Die Frage, wie exklusiv die Berechtigung zu politischer Partizipation war, ist in konfessioneller Hinsicht deshalb so bedeutsam, weil das aufklärerische Prinzip der Toleranz zwar nicht ausschließlich, doch vorwiegend von Eliten anerkannt wurde,94 wohingegen weite Kreise der Bevölkerung in strikter Konfessionalität verharrten.95 Noch wichtiger erscheinen in diesem Zusammenhang einerseits die im Verlauf der Frühen Neuzeit zunehmende Oligarchisierung des Zugangs zu politischen Ämtern auch in Städten wie Köln, andererseits der mehr oder minder starke Widerstand gegen diese Entwicklung,96 wobei Chronologie und Intensität der Auseinandersetzungen in den einzelnen Reichsstädten zu beachten sind. Während politische Erschütterungen in Hamburg nach 171297 und in Frankfurt nach 1732 weitgehend ausblieben,98 traten sie in Köln seit 1774,99 in

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Vgl. Höroldt, Dietrich, Das rheinische Hochschulwesen der Frühen Neuzeit, in: Zehnder, Gesellschaft, S. 109–125, hier S. 118f. Vgl. Wolf, Stadtbild, S. 82f. Vgl. Rosseaux, Städte, S. 62. Vgl. Fleischmann, Peter, Rat und Patriziat in Nürnberg. Die Herrschaft der Ratsgeschlechter vom 13. bis zum 18. Jahrhundert, Bd. 1, Der Kleinere Rat, Augsburg 2007, S. 252–258; Schmidt, Patrick, Wandelbare Traditionen – tradierter Wandel. Zünftische Erinnerungskulturen in der Frühen Neuzeit, Köln/Weimar/Wien 2009, S. 108. Vgl. Wüst, Wolfgang, An der Konfessionsgrenze. Der frühmoderne „Ernstfall“ für Aufklärung, Toleranz und Pluralismus, in: Augustin, Christian/Wienand, Johannes/ Winkler, Christiane (Hrsg.), Religiöser Pluralismus und Toleranz in Europa, Wiesbaden 2006, S. 51–68, hier S. 67. Vgl. Greyerz, Kaspar von, Konfessionelle Intoleranz und Konfessionalismus im Europa der Frühen Neuzeit, in: Mattioli, Aram/Ries, Markus/Rudolph, Enno (Hrsg.), Intoleranz im Zeitalter der Revolutionen. Europa 1770–1848, Zürich 2004, S. 57–73, hier S. 67. Vgl. Rosseaux, Städte, S. 63. Vgl. Kopitzsch, Grundzüge, S. 149f. Vgl. Durchhardt, Heinz, Frankfurt am Main im 18. Jahrhundert, in: Frankfurter Historische Kommission (Hrsg.), Frankfurt am Main. Die Geschichte der Stadt in neun Beiträgen, Sigmaringen 1991, S. 261–302, hier S. 267ff. Vgl. Wolf, Stadtbild, S. 68ff.

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Nürnberg seit 1785100 und in Aachen seit 1786 mit unterschiedlicher Härte ein.101 Bezogen auf den jeweiligen Zeitpunkt, zu dem eine Grundsatzentscheidung in der Toleranzfrage anstand, das heißt in Nürnberg 1780, Hamburg 1785, Frankfurt 1787, Köln und Aachen ab 1787, sind drei politisch stabile und zwei politisch instabile Gemeinwesen zu konstatieren. Schließlich kommen ökonomische und soziale Aspekte ins Spiel. Während Hamburg und Frankfurt zu Zentren des europäischen Fernhandels aufstiegen,102 büßten Köln und Nürnberg diese Stellung großenteils ein.103 Zwar etablierten sich auch dort neue Produktionstechniken und -verfahren außerhalb der zünftigen Gewerbe, doch insgesamt fielen die beiden Reichsstädte ökonomisch zurück.104 Günstiger stellte sich die Situation in Aachen dar, wo das Tuch-105 und das Gastgewerbe florierten.106 Nun liegt es nahe, in der Bevölkerungsentwicklung der einzelnen Reichsstädte einen Indikator für deren wirtschaftliche Verhältnisse zu sehen. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts stieg die Zahl der Einwohner in Frankfurt von 32.000 auf 48.000 (+ 50 %) und in Hamburg von 75.000 auf 100.000 (+ 33 %), während sie in Köln bei rund 42.500 stagnierte und in Nürnberg von 30.000 auf 27.000 zurückging (— 10 %). Aachens Bevölkerungszahl wuchs während des 18. Jahrhunderts von 15.000 auf 24.000 (+ 60 %).107 Auch hinsichtlich der konfessionellen Zusammensetzung der Bevölkerung erlauben demographische Angaben wichtige Rückschlüsse. In Nürnberg, wo es durch den Fortbestand der Deutschordenskommende auch in nachreformatorischer Zeit stets Katholiken gegeben hatte, gewann die konfessionelle Minorität im Verlauf des 18. Jahrhunderts an Umfang. Ihre Bedeutung nahm angesichts der Regression der reichsstädtischen Bevölkerung sogar überproportional zu.108 Aufgrund einer Fremdenpolitik, die sich traditionell durch relative Duldsamkeit auszeichnete, existierten auch in Frankfurt109 und Hamburg konfessionelle Minderheiten von beachtlicher

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Vgl. Schmuhl, Hans-Walter, Die Herren der Stadt. Bürgerliche Eliten und städtische Selbstverwaltung in Nürnberg und Braunschweig vom 18. Jahrhundert bis 1918, Gießen 1998, S. 55–62. Vgl. Carl, Mäkelei, S. 118. Vgl. North, Michael, Kommunikation, Handel, Geld und Banken in der frühen Neuzeit, München 2000, S. 19–22. Vgl. Neuhaus, Helmut, Zwischen Realität und Romantik. Nürnberg im Europa der Frühen Neuzeit, in: Ders. (Hrsg.), Nürnberg. Eine europäische Stadt in Mittelalter und Neuzeit, Nürnberg 2000, S. 43–68, hier S. 57; Schnurmann, Claudia, Der Handel in den Rheinlanden im 18. Jahrhundert, in: Ebeling, Aufbruch, S. 33–57, hier S. 41ff. Vgl. Gömmel, Rainer, Die Entwicklung der Wirtschaft im Zeitalter des Merkantilismus 1620–1800, München 1998, S. 30f. Vgl. Ebeling, Dietrich, Zunfthandwerk, Heimarbeit und Manufakturwesen in den Rheinlanden während des 18. Jahrhunderts, in: Ders., Aufbruch, S. 11–32, hier S. 12ff. Vgl. Müller, Reichsstadt Aachen, S. 221. Vgl. Rosseaux, Städte, S. 9f. Vgl. Demel, Der Deutsche Orden, S. 284. Vgl. Roth, Ralf, Stadt und Bürgertum in Frankfurt am Main. Ein besonderer Weg von der ständischen zur modernen Bürgergesellschaft 1760–1914, München 1996, S. 92.

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Größe.110 Dagegen erscheinen die protestantischen Minderheiten Kölns und Aachens unerheblich – allerdings nur quantitativ.111 Bei näherem Hinsehen fällt der unternehmerische Erfolg in Handel und zunftfreien Gewerben auf, den sie in diesen beiden Städten erzielten.112 Das hieraus resultierende Inferioritätsgefühl katholischer Handwerker gegenüber protestantischen Konkurrenten stand konfessioneller Duldsamkeit entgegen.113

V. Schlussbetrachtungen In der historischen Forschung herrscht aus guten Gründen die Meinung vor, dass Zuwanderung auf der Grundlage konfessionspolitischer Öffnung die wirtschaftliche Entwicklung eines Gemeinwesens förderte. Doch auch umgekehrt dürfte gelten: Zunehmende Wohlhabenheit erleichterte Duldsamkeit. Wenn es weiten Bevölkerungskreisen an Wohlstand mangelte oder die Interessen so definiert waren, dass eine Zuwanderung nicht als Wohlstandschance, sondern als Gefährdung materieller Besitzstände gesehen wurde, bedurfte es einer überlegenen Machtposition, um Toleranzpolitik betreiben und gegen Widerstände durchsetzen zu können. Je stärker eine Obrigkeit in ihren Entscheidungen auf ein quasi demokratisches Plazet angewiesen war, desto ungünstiger waren die Aussichten für eine konfessionelle Öffnung. Der Vertrag, den der Nürnberger Rat im Mai 1780 mit dem Deutschen Orden schloss, mutet wie das Präludium der konfessionellen Öffnungspolitik der 1780er Jahre an. In aufklärerisch gesinnten Teilen der politischen und wirtschaftlichen Funktionseliten existierte ein ausgeprägtes Bewusstsein dafür, dass Städte als Wirtschaftsstandorte in Konkurrenz zueinander standen und Toleranz ein Argument bei der Anwerbung wohlhabender und leistungsstarker Migranten darstellte. Calvinistische Migrationswellen gaben deshalb einen weiteren Impuls zur konfessionellen Öffnung in Konstanz und, wie zu vermuten steht, in Hamburg, später auch in Frankfurt. Nachweisbar, wenngleich letztlich unwirksam war dieser Impuls auch in Köln und Aachen. Was in der Habsburger Monarchie, vom Sonderfall der Österreichischen Niederlande abgesehen, und zuvor bereits in Brandenburg-Preußen mittels der überragenden Machtfülle des jeweiligen Landesherrn durchgesetzt werden konnte, geschah in Hamburg und Frankfurt auf der Grundlage politischer Stabilität und ökonomischer Prosperität. Ungeachtet des wirtschaftlichen Niedergangs der Reichsstadt Nürnberg war die Position des patrizischen Rates 1780 noch gefestigt genug, um 110 111 112 113

Vgl. Postel, Asyl, S. 208. Vgl. Roth, Ralf, Bevölkerungsentwicklung, Konfessionsgliederung und Haushaltsanteile, in: Gall, Lothar (Hrsg.), Stadt und Bürgertum im Übergang von der traditionalen zur modernen Gesellschaft, München 1993, S. 17–50, hier S. 42. Vgl. Müller, Reichsstadt Aachen, S. 210; Küntzel, Astrid, Fremde in Köln. Integration und Ausgrenzung zwischen 1750 und 1814, Köln/Weimar/Wien 2008, S. 29ff. Vgl. Schlögl, Rudolf, Glaube und Religion in der Säkularisierung. Die katholische Stadt – Köln, Aachen, Münster – 1700–1840, München 1995, S. 257.

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die Vereinbarung mit dem Deutschen Orden zu verwirklichen. In Köln hingegen fehlten aufgrund der Einflussmöglichkeiten von Geistlichkeit und Zünften sowie der wirtschaftlichen Stagnation sowohl die politischen als auch die ökonomischen Voraussetzungen, den Toleranzbeschluss des Rates durchzusetzen. Die Wirtschaftsentwicklung Aachens stellte sich zwar günstiger dar als in Nürnberg und Köln, gleichwohl erwies sich die Verfassungsordnung als desolat. Folglich unterließ es der Rat, ein größeres Maß an Toleranz zu bewilligen, das nur gegen den Widerstand von Klerus und Zünften zu realisieren gewesen wäre. Das Fortbestehen konfessioneller Intoleranz in Aachen zeigt, dass die wirtschaftliche Blüte eines Gemeinwesens nicht zwingend zu größerer Duldsamkeit führte. Umgekehrt belegt Nürnbergs Übereinkunft mit dem Deutschen Orden, dass konfessionspolitische Zugeständnisse trotz ökonomischer Regression möglich waren. Um das spezifische Gewicht politischer, wirtschaftlicher und sozialer Faktoren präziser gegeneinander abwägen und ihr Zusammenwirken in dem brisanten Prozess konfessioneller Öffnung klarer analysieren zu können, bedarf es weiterer Forschung. Bis dahin ermöglicht die Einbeziehung der unterschiedlichen Entwicklungen in Hamburg, Frankfurt und Köln immerhin ein vorläufiges Fazit: Herrschaftsstabilität und wirtschaftliche Prosperität führten – wenngleich es einen simplen Automatismus selbstredend nicht gab – tendenziell zu größerer Toleranz, wohingegen Instabilität und Stagnation eher zur Fortschreibung konfessioneller Unduldsamkeit in den Reichsstädten des späten 18. Jahrhunderts beitrugen.

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„Pietas Bavarica“ Hof und Kirche im Kurfürstentum Bayern Alois Schmid

Im Jahre 1954 veröffentlichte Anna Coreth zum ersten Mal ihre kleine Studie über die „Pietas Austriaca“.1 Sie hat sie in der Folgezeit in erweiterter und veränderter Form mehrfach neu vorgelegt. Die Autorin deckte darin in sehr überzeugender Weise die spezifischen Formen der Frömmigkeitspflege im Hause Habsburg sowie deren tragende Funktion für das staatliche Leben in den Ländern der Donaumonarchie im 18. Jahrhundert auf. Die Untersuchung fand überregionale Beachtung, weil sie einen bezeichnenden Grundzug der Herrschaftsgeschichte der Vormoderne traf. Dementsprechend wurde ihr Ansatz auch in andere Räume, etwa das Rhein-Maingebiet2 oder auch Kursachsen,3 übernommen. Er kann auch auf das Kurfürstentum Bayern übertragen werden.4 In diesem Sinne soll im Folgenden nach einer eigenen Form der „Pietas Bavarica“ gefragt werden: Hat es eine solche gegeben? Welche Elemente unterscheiden sie von ihrem religiösen Umfeld? Wurde sie auch politisch eingesetzt? Diese Fragen sind von unbestreitbarer Relevanz für die Beschreibung der herrschaftlichen, gesellschaftlichen, kulturellen und religiösen Zustände im Alten Reich, weil die Kirche eine der tragenden Säulen war. Trotz der beanspruchten Universalität war das religiöse Leben auch in der katholischen Kirche von regionaler Differenzierung bestimmt. Seine jeweilige Ausformung erhielt die entscheidenden Impulse von den landesherrlichen Höfen. Dieser Leitfrage sei am Beispiel Kurbayerns in einem Dreischritt nachgegangen.5 Zunächst soll nach den rechtlichen Grundlagen gefragt werden, um anschließend die 1

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Coreth, Anna, Pietas Austriaca. Wesen und Bedeutung habsburgischer Frömmigkeit in der Barockzeit, in: Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 7 (1954), S. 90–119. Als kleine Monographie: Pietas Austriaca. Ursprung und Entwicklung barocker Frömmigkeit in Österreich, München 1959; Pietas Austriaca. Österreichische Frömmigkeit im Barock (Österreich Archiv), 2. Aufl., München 1982. In englischer Übersetzung von William David Bowman und Anna Maria Leitgeb, West Lafayette 2004. Vgl. Weiss, Dieter J., Pietas Schönborniana. Herrschertugend und adeliges Standesbewusstsein im Zeitalter des Barock, in: Neue Wege der Ideengeschichte. Festschrift für Kurt Kluxen zum 85. Geburtstag, hrsg. von Frank-Lothar Kroll, Paderborn 1996, S. 261–282. Vgl. Raab, Heribert, Clemens Wenzeslaus von Sachsen und seine Zeit (1739–1812), Bd. 1: Dynastie, Kirche und Reich im 18. Jahrhundert, Freiburg i. Br. 1963, S. 99–111. Vgl. Woeckel, Gerhard P., Pietas Bavarica. Wallfahrt, Prozession und Ex voto-Gabe im Hause Wittelsbach in Ettal, Wessobrunn, Altötting und der Landeshauptstadt München von der Gegenreformation bis zur Säkularisation und der „Renovatio Ecclesiae“, Weißenhorn 1992. Vgl. Schmid, Alois, Vom Westfälischen Frieden bis zum Reichsdeputationshauptschluß: Altbayern (1648–1803), in: Walter Brandmüller (Hrsg.), Handbuch der bayerischen

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untrennbare Verbindung von Hof und Kirche in der dem Hofe nahe stehenden Literatur und sodann der politischen Praxis aufzuzeigen. Das Beispiel des bekanntlich konfessionspolitisch sehr engagierten Kurbayern gibt sicherlich eine gute Ausgangsbasis für den Vergleich mit Sachsen ab, dessen religiöse Entwicklung im Mittelpunkt der folgenden Beiträge stehen wird.

I. Rechtliche Grundlagen Die entscheidenden Grundlagen für das kirchliche Leben im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation wurden durch das Staatsrecht gelegt. Die bestimmenden Verfügungen hatten zwei große Reichsgrundgesetze getroffen. Der Augsburger Religionsfriede von 1555 übertrug die Zuständigkeit für die zwei zugelassenen Konfessionen des Katholizismus und Protestantismus ausschließlich den Territorialfürsten: Cuius regio eius religio. Der Westfälische Friede von 1648 bestätigte diese Bestimmung und erweiterte sie durch die Einbeziehung des Calvinismus. Damit waren die kirchlichen Verhältnisse für die folgenden eineinhalb Jahrhunderte bindend festgeschrieben. Auf dieser Rechtsgrundlage schlugen die bayerischen Wittelsbacher in ihrer Konfessionspolitik einen eindeutigen und konsequenten Weg ein. Sie sind als entschlossene und wegweisende Vorkämpfer der römischen Kirche sehr in den Vordergrund getreten. Sie machten die katholische Kirche zu einer der tragenden Säulen auch des staatlichen Lebens in der Folgezeit. Die Motive für diese Grundentscheidung sind sicherlich mehrschichtig und führen über den religiösen Bereich hinaus sowohl in die Innen- als auch Außenpolitik hinein. Dennoch ist die Feststellung wichtig: Eine förmliche Erklärung des katholischen Glaubens zur einzig zugelassenen Staatsreligion ist mit bindender Rechtskraft nie erfolgt. Eine solche schien nach den drei richtungweisenden Religionsmandaten der frühen Reformationszeit (1522, 1524, 1531)6 offensichtlich nicht erforderlich. Schon das erste Religionsmandat verfügte mit wenigen, aber eindeutigen Worten, dass sich alle Untertanen „in dem warn glauben Eurer Vorelltern, der cristenlichen kirchen, Bäbstlicher Heyligkeiten, Kayserlicher Mayestät und unns gehorsam beleiben unnd erzaygen“ müssten. Diese grundsätzliche Festlegung wurde dann im Konkordat von 1583 in organisatorischer Hinsicht weiter präzisiert.7 Der Kurs in der Konfessionspolitik war durch diese entscheidenden Marksteine unmissverständlich vorgegeben.

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Kirchengeschichte, Bd. 2, St. Ottilien 1993, S. 293–356. Vgl. Kopfmann, Klaus, Die Religionsmandate des Herzogtums Bayern in der Reformationszeit (1522–1531). Edition mit Einleitung und Kommentar, München 2000; das folgende Zitat S. 58. Dokumente zur Geschichte von Staat und Gesellschaft in Bayern I/3: Altbayern von 1550–1651, bearb. von Walter Ziegler, München 1992, S. 490–495, Nr. 100; Unterburger, Klaus, Das bayerische Konkordat von 1583. Die Neuorientierung der päpstlichen Deutschlandpolitik nach dem Konzil von Trient und deren Konsequenzen für das Verhältnis von weltlicher und geistlicher Gewalt, Stuttgart 2006.

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II. Theoretische Untermauerung Der durch Gesetzesbestimmungen eindeutig festgelegte Kurs in der Konfessionspolitik wurde in der Folgezeit theoretisch breit untermauert. Es ist vor allem auf die Schriften des Staatskanzlers Kaspar von Schmid8 und des Geheimen Ratskanzlers Franz Xaver Wiguläus von Kreittmayr9 zu verweisen. Sie haben die aus den rechtlichen Vorgaben erwachsenden Folgerungen in großer Ausführlichkeit erläutert und in umfassenden Kommentarwerken niedergelegt. Hier sei eine andere, nicht minder aussagekräftige, ungedruckte und deswegen weithin unbekannte Schrift zur Verdeutlichung dieses Sachverhaltes herangezogen: der „Mundus Christiano-Bavaro-Politicus“.10 Er erscheint schon wegen der programmatischen Titelformulierung für die Verdeutlichung der engen Verbindung von Hof und Kirche gerade in Bayern von besonderer Aussagekraft. Das kompendiöse Werk, das in vier Bänden der Bayerischen Staatsbibliothek München überliefert ist, wurde von einem Sohn des genannten Staatskanzlers Kaspar von Schmid im Jahre 1711 niedergeschrieben.11 Der Autor stand dem Hofe sehr nahe und verlieh den dortigen Überlegungen und Ansichten besonders deutlichen Ausdruck. Die Rolle der Kirche wird gleich im ersten Band mit mehreren „Anmerckungen“ in zeitgemäßer Breite abgehandelt.12 Im Mittelpunkt steht die Lehre vom Gottesgnadentum des Landesherrn. Er ist der Stellvertreter Gottes auf der Welt und von diesem zu deren Regierung eingesetzt: „Der Allmächtige Erschaffer der erde, welcher von sich selbsten und durch seine ainzige handt nach seinem gefallen, kunte die welt regieren, hat iedoch solche gewalt denen fürsten mitgethaillet, so er gleichsamb als verweser seiner macht und 8 9 10 11

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Vgl. Hüttl, Ludwig, Caspar von Schmid (1622–1693), ein kurbayerischer Staatsmann aus dem Zeitalter Ludwigs XIV., München 1971, S. 140–184. Vgl. Bauer, Richard/Schlosser, Hans (Hrsg.), Wiguläus Xaver Aloys Freiherr von Kreittmayr (1705–1790), ein Leben für Recht, Staat und Politik, München 1991, hier bes. Landau, Peter, Kirchenrecht und Religionsverfassung bei Kreittmayr, S. 119–140. Bayerische Staatsbibliothek München [im Folgenden: BSB] cgm 3009; 4006 a,b,c. Eine Edition ist am Institut für bayerische Geschichte der Universität München in Vorbereitung. Vgl. Doeberl, Michael, Bayern und Frankreich vornehmlich unter Kurfürst Ferdinand Maria, München 1900, S. 2–4; Josef Burglechner, Der höfische Absolutismus in Bayern. Vornehmlich im Lichte des Mundus Christiano-Bavaro-Politicus, Diss. phil. (masch.), München 1920; Straub, Eberhard, Zum Herrscherbild im 17. Jahrhundert vornehmlich nach dem „Mundus Christiano Bavaro Politicus“, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 32 (1969), S. 193–221; Schmid, Alois, Der „Mundus Christiano-BavaroPoliticus“. Zur Theorie des Hofes der bayerischen Wittelsbacher im Zeitalter des höfischen Absolutismus, in: Malettke, Klaus/Grell, Chantal (Hrsg.), Hofgesellschaft und Höflinge an europäischen Fürstenhöfen in der Frühen Neuzeit (15.–18. Jahrhundert) – Société de cour et courtisans dans l’Europe de l’époque moderne (XVe–XVIIIe siècle), Münster/Hamburg/Berlin u. a. 2001, S. 125–137. Hierzu und zum Folgenden: BSB cgm 3009, Anmerckung 20: Von der religion; 21: Dass wegen der religion die underthonnen nit empören mögen; 22: Von bekherung der underthonnen.

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herrlichkeit aufgestellet. Die liebe, so er zu den menschen traget, hat ihme vermöget, auch seine authoritet mit denen selben zu thailen, gleichwie er in dem himmel und firmament erschaffet und gesetzet die engel, welche man intellegentias nennet, umb vorzustehen der bewegung derselben, also hat seine göttliche weisheit vor guett angesehen, dergleichen creaturen auch auf erden zu bestättigen, welche die marquen und das amt truegen, die fürstenthümer zu regieren.“ Von Gott hat der Fürst, der als Ebenbild und Stellvertreter des ewigen Königtums Gottes auf Erden gilt, also sein Amt erhalten und nur diesem ist er verantwortlich. Seine Amtsgewalt ist Abbild der höheren göttlichen Gewalt. Als „imago Dei“ hat er Anteil an der göttlichen Allmacht, an der sich seine Regierung notwendigerweise ausrichtet. „Die richtschnur aller ihrer actiones und thatten war die liebe gerechtigkeit et christiana politica, so in wahrheit auch die herrlichste und erleichteste oder durchleichtigste vollkommenheiten eines fürsten seind.“ Die Fürsten stehen zwischen dem Weltenherrscher und dem Volk, das ihnen deswegen uneingeschränkten Gehorsam schuldet: „Gott selbst befilcht, dass sye sich sollen ehren lassen, so ihnen zusteht, und sich erhalten in dem ansehn, welches ihre Majestet erfordert …, weillen Gott gleichsamb selbsten sein ebenbild an die stirn der regenten getrucket, ihnen etwas mehreres als was Menschlich mitgethaillet. Und mit einem wortt will Gott selbsten in denen königen und fürsten geehret werden.“ Unmissverständlich wird festgestellt: „Das scepter haben sie alleinig von Gott empfangen.“13 Der Fürst wird damit aus der weltlichen in eine göttliche Sphäre transferiert; seine Stellung ist überirdisch, unbeschränkt und allumfassend. Dementsprechend wird die Frömmigkeit als die wichtigste aller Eigenschaften des Fürsten herausgehoben; diese werden im Übrigen mit dem Kanon der klassischen Herrschertugenden bestimmt. Das Ideal war der „princeps vere pius, prudens, modestus, pacis et tranquillitatis publicae amans, Deum timens, religionem Christianam Catholicam favens”.14 Vor allem mit den Mitteln der Religion erfolgt die Distanzierung, Kultisierung und Charismatisierung des Herrschers. Aus dem behaupteten göttlichen Ursprung der Fürstenherrschaft erwächst für alle Untertanen die Verpflichtung, diese ohne jede Einschränkung anzuerkennen. Deren Gehorsam gegenüber dem gottgleich verehrten Landesherrn wird letztlich religiös begründet: Nichts halte einen Staat so sehr zusammen wie das Band der gemeinsamen Religion. Der Glaube wird als die oberste aller Tugenden hingestellt, die auch den Staat trage und zu einer gedeihlichen Entwicklung führe: „Fides est radix omnium virtutum.“ Dementsprechend ist der Landesherr berechtigt, ja verpflichtet, alle Anzeichen der Ketzerei, die mit Rebellion gleichgesetzt werden, mit Strenge zu verfolgen. Es darf in einem Territorium nur einen Glauben und eine Kirche geben: „Der unterschied in den religionssachen [ist] ein anfang der aufrur und rebellion.“15 13 14

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Die Zitate: BSB cgm 3009, fol. 24, 29, 87, 566. BSB cgm 2212, fol. 127v. Vgl. Schmid, Alois, Der Hof als Mäzen. Aspekte der Kunstund Wissenschaftspflege der Münchner Kurfürsten, in: Schubert, Venanz (Hrsg.), Rationalität und Sentiment. Das Zeitalter Johann Sebastian Bachs und Georg Friedrich Händels, St. Ottilien 1987, S. 185–268, bes. S. 219–228. BSB cgm 3009, fol. 519. Vgl. Burglechner, Mundus, S. 33–40; Straub, Mundus, S. 196f., 203–205.

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Deswegen müsse allen sektiererischen Bestrebungen mit größter Strenge entgegengetreten werden. Der französische Grundsatz un roi, une foi, une loi fand bedingungslose Anerkennung. Religion und Kirche wurden als wichtige Herrschaftsmittel eingesetzt. Sie dienten einerseits der Staatsintegration nach innen, andererseits der Abgrenzung nach außen und sind gänzlich auf den Fürsten hin ausgerichtet. Dementsprechend werden die weltlichen Zuständigkeiten der Kirche in Grundbesitz, Herrschaftsorganisation, Gerichtswesen und Landständen bekämpft; die Kirche wird auf den religiösen Bereich zurückgedrängt und in Bezug auf ihre weltliche Position gänzlich in den Staat eingebaut; das gilt vor allem für die Kernbereiche des Gerichts- und Steuerwesens. Man begann, zwischen den res sacrae und res profanae zu trennen. Sogar religiöse Verfehlungen wie Fluchen, Verstöße gegen die Sonntagspflicht oder Moral wurden von der weltlichen Rechtspflege verfolgt. In Kurbayern wurde bereits von Kurfürst Maximilian I. ein strenges „kirchliches Polizeiregiment“ installiert.16 Diese Verhältnisse, die im Grunde für alle katholischen Staaten galten, wurden von den bayerischen Wittelsbachern mit besonders großem Einsatz wahrgenommen. „Prima nota est Boici principis esse pium“ formuliert mit hohem Anspruch der „Mundus“.17 Staat und Kirche gehörten gerade in diesem Kurfürstentum in ganz besonderer Weise zusammen und mussten zusammenwirken, wenn eine gedeihliche Herrschaft erreicht werden sollte. Deswegen bringt der Verfasser des „Mundus“ schon in der Titelgebung die drei Komponenten Christianus, Politicus und Bavaricus in eine programmatische Verbindung. Der Absolutismus baute in Bayern auch über die erste Phase des allgemein gezielt an der Religion ausgerichteten Konfessionellen Absolutismus hinaus in den folgenden Abschnitten des Höfischen und des Aufgeklärten Absolutismus stark auf den Fundamenten der Kirche auf. Die Kirche wurde hier als entscheidendes Hilfsmittel der Sozialdisziplinierung eingesetzt.18 Eine rege, auch vom Hof geförderte und getragene Landeshistoriographie untermauerte diese wichtige Funktion der Kirche mit historischen Argumenten. Der Jesuitenpater Anton Crammer verherrlichte München als „Das Teutsche Rom“.19 Die „Bavaria sancta et pia“ stellte die herausragenden Beispiele musterhafter Religiosität in vier prachtvoll ausgestatteten Folianten zusammen; es war das bezeichnendste Buchprojekt der Epoche in Bayern überhaupt. Es wurde nach der Erstausgabe des P. Matthäus Rader SJ20 auch im 18. Jahrhundert gezielt weiterbetrieben; 1704 kam eine

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Stieve, Felix, Das kirchliche Polizeiregiment in Baiern unter Maximilian I. (1595–1651), München 1876. BSB cgm 3009, fol. 495. Vgl. Hubensteiner, Benno, Vom Geist des Barock. Kultur und Frömmigkeit im alten Bayern, München 1967; 2. Aufl., München 1978. Crammer, Anton, Das Teutsche Rom: Gründlicher Bericht von den Gotteshäusern, Klöstern, eingeweihten Hauskapellen, Heiligthümern und gottseligen Einwohnern der Churbaierischen Hauptstadt München, München 1784. Rader, Matthäus, Bavaria sancta et pia, 4 Bde., München 1615–1628.

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Zweitausgabe auf den Markt. 1714 folgte eine Übersetzung ins Deutsche.21 „Religio principum – tutela regnorum“ wird hier programmatisch über das mit viel Überlegung durchgestaltete Titelkupfer geschrieben.22 Der Jesuitenpater Johannes Vervaux wies in seinem Entwurf der idealen Herrschaft („Idea boni principatus“) Kirche und Religion ebenfalls eine zentrale Position zu.23 Eine der Hauptaufgaben der wegweisenden historischen Forschungen an der 1759 gegründeten Akademie der Wissenschaften war die Untermauerung der Vorgaben der landesherrlichen Kirchenpolitik mit methodisch abgesicherten historischen Untersuchungen.24

III. Die politische Praxis Die wittelsbachischen Kurfürsten von Bayern orientierten sich in ihrer Konfessionspolitik an den angesprochenen Leitlinien, obwohl diese durchaus nicht in allen Fällen im Einklang mit ihrer persönlichen Religiosität standen.25 Das gilt schon für ihre familiären Verhältnisse. Für die Heiratspolitik der altbayerischen Kurfürsten kamen nur katholische Prinzessinnen in Frage. Als Max Emanuel zunächst einen Blick auf die schöne Eleonora Erdmute von Sachsen-Eisenach, eine Protestantin, warf, drängte ihn seine Umgebung zur Umorientierung, der er sich schließlich fügte.26 Die Heiratspolitik wurde ganz gezielt auf die Konfessionspolitik ausgerichtet und sollte erst am Ende des Ancien Régime andere Wege einschlagen. Auch die Vornamengebung in der regierenden Dynastie orientierte sich unverkennbar am biblischen Namengut.27 Einzelne Mitglieder der regierenden Dynastie wie Maria Anna Carolina28 traten in ein Kloster ein; für zwei Wittelsbacherinnen wurde sogar die

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Dillingen 1704; Rassler, Maximilian, Heyliges Bayerland – Gottseeliges Bayerland, in Teutsche Sprach übersetzt, Augsburg 1714. Eine handschriftliche Überarbeitung: BSB cgm 2831. Vgl. Schmid, Alois, Die „Bavaria sancta et pia“ des P. Matthäus Rader SJ, in: Grell, Chantal/Paravicini, Werner/Voss, Jürgen (Hrsg.), Les princes et l’histoire du XIVe au XVIIIe siècle, Bonn 1998, S. 499–522. Rader, Bavaria sancta, Bd. 1, Titelkupfer. Adlzreitter, Joannes, Annales Boicae gentis, Bd. 3, Frankfurt 1663, S. 603–630. Vgl. Kraus, Andreas, Die historische Forschung an der Churbayerischen Akademie der Wissenschaften 1759–1806, München 1959; Ders., Vernunft und Geschichte. Die Bedeutung der deutschen Akademien für die Entwicklung der Geschichtswissenschaft im späten 18. Jahrhundert, Freiburg i. Br. 1963, S. 469–482. Vgl. Schmid, Altbayern, S. 311–316. Vgl. Hüttl, Ludwig, Max Emanuel, der Blaue Kurfürst (1679–1726). Eine politische Biographie, München 1976, S. 133f. Vgl. Haeutle, Christian, Genealogie des erlauchten Stammhauses Wittelsbach von dessen Wiedereinsetzung in das Herzogthum Bayern bis herab auf unsere Tage, München 1870; Rall, Hans/Rall Marga, Die Wittelsbacher in Lebensbildern, Regensburg/Graz/ Wien u. a. 1986. Vgl. Weitlauff, Manfred, Emanuela Theresia a Corde Jesu, in: Schwaiger, Georg (Hrsg.), Bavaria sancta: Zeugen christlichen Glaubens in Bayern, Bd. 3, Regensburg 1973, S. 341–372.

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förmliche Seligsprechung angestrebt.29 Der kirchliche Festkalender bestimmte das Hofleben in so prägender Weise, dass mancher auswärtige Gesandte geradezu entsetzt darüber an seinen Hof berichtete: Man lebe hier wie in einem Kloster.30 Der Münchner Hof wurde im Vergleich mit den anderen Residenzen als kühl und streng eingestuft. Das entscheidende Hilfsmittel zur praktischen Gestaltung der Kirchenpolitik war der Geistliche Rat.31 Er wurde von den Kurfürsten gezielt in die beabsichtigte Richtung gelenkt und im 18. Jahrhundert in seinen Zuständigkeiten durch die Errichtung zusätzlicher Deputationen wie eines Konvertitenrates, der Türkengelddeputation oder der Bücherzensurkommission in seinen Zuständigkeiten sogar noch gestärkt. Vor allem nach einer Umorganisation in den 1760er Jahren unterstützte er den angestrebten Ausbau des Staatskirchentums durch eine planvolle Gesetzgebung, mit der die Kirche in ihrer Eigenständigkeit beschnitten und gezielt in den angestrebten absolutistischen Reformstaat eingebaut wurde. Die konkreten Eingriffe betrafen zunächst die Organisation, da staatliche und kirchliche Verwaltungsstrukturen sich nur wenig deckten. Es gab Bestrebungen, die weithin noch immer auf Bonifatius zurückgehenden Bistumsgrenzen in Bayern der Rentamtsorganisation der aktuellen Landesverwaltung anzupassen. Es sollten ein oder mehrere Landesbistümer geschaffen werden.32. Doch war diesen gerade im ausgehenden 18. Jahrhundert mit besonderem Einsatz betriebenen Bemühungen nur ein begrenzter Erfolg mit der Errichtung eines nur für den Residenzbereich zuständigen Hofbistums beschieden.33 Damit wurde der Hofbereich der Zuständigkeit des ausländischen Metropoliten zu Salzburg entzogen. Die gleiche Zielsetzung verfolgten die Bemühungen um eine päpstliche Nuntiatur in München,34 die nach dem persönlichen Besuch Papst Pius’ VI. 1782 als Antwort auf die seit dem 17. Jahrhundert sehr effektive bayerische Gesandtschaft am Heiligen Stuhl35 im Jahre 1784 erreicht

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Vgl. Geheimes Hausarchiv München Korrespondenzakt 758 ½. Vgl. Schmid, Altbayern, S. 306. Vgl. Schmid, Alois/Grypa, Dietmar, Die Berichte der diplomatischen Vertreter des Kaiserhofes aus München an die Staatskanzlei zu Wien während der Regierungszeit des Kurfürsten Max III. Joseph, München 2000, S. 301, Nr. 47, 563, Nr. 26, 697, Nr. 13, 762, Nr. 7 u. ö. Vgl. nunmehr auch Kägler, Britta, Frauen am Münchner Hof (1651–1756), Kallmünz 2011. Vgl. Bauer, Richard, Der kurfürstliche geistliche Rat und die bayerische Kirchenpolitik 1768–1802, München 1971. Vgl. Bauerreiss, Romuald, Kirchengeschichte Bayerns, Bd. 7, 2. Aufl., St. Ottilien 1977, S. 218. Vgl. ebd., S. 421f.; Gatz, Erwin (Hrsg.), Die Bistümer des Heiligen Römischen Reiches von ihren Anfängen bis zur Säkularisation. Ein historisches Lexikon, Freiburg i. Br. 2003, S. 216. Vgl. Zittel, Bernhard, Die Vertretung des Hl. Stuhles in München 1785–1934, in: Der Mönch im Wappen. Aus Geschichte und Gegenwart des katholischen München, München 1960, S. 419–494. Vgl. Scherbaum, Bettina, Die bayerische Gesandtschaft in Rom in der frühen Neuzeit, Tübingen 2008.

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wurde. Der organisatorische Rahmen des kirchlichen Lebens wurde zumindest in Einzelpunkten weiter auf den Hof hin ausgerichtet.36 Ähnliche Ziele strebte die Klosterpolitik an.37 Die Bemühungen um die Orientierung der Orden und Klöster am Territorium wurden zum Erfolg geführt, indem die Orden ihre Selbstorganisation auf das Territorium hin abstellten und bei der Besetzung der Leitungsämter dem Indigenat verstärkte Beachtung zuerkannten. Die Aushöhlung des Rechtsstatus der Abteien erreichte vor allem in den wiederbegründeten acht Klöstern der Oberpfalz den eingeschränkten Rang von Herzogsklöstern. Der wichtigste Erfolg der Klosterpolitik war die zwar von außen ins Land getragene, hier aber mit unverkennbarem Einsatz durchgeführte Aufhebung des bisher einflussreichen Jesuitenordens im Jahre 1773.38 Einer der großen Gewinner dieser Verfügung war der bisher in Bayern bedeutungslose Malteserorden, dem Kurfürst Karl Theodor eine bayerische Zunge verschaffte, die vorzugsweise der Versorgung seiner Söhne diente.39 Der in einer öffentlichen Diskussion äußerst lebhaft geführte Kampf gegen die starke Stellung der Kirche im staatlichen Leben wurde in der praktischen Politik aufgegriffen und umzusetzen versucht. Sie wandte sich vor allem gegen den bedeutenden Grundbesitz der Prälaten. Um der nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges zunehmenden Besitzkonzentration in den Händen der Klöster entgegenzuwirken, wurde eine aktive Amortisationsgesetzgebung aufgenommen.40 Der verstärkten Heranziehung der kirchlichen Einrichtungen zur Bewältigung der Staatsaufgaben diente seit den 60er Jahren eine nicht minder zielstrebige Dezimationsgesetzgebung, die die Konvente ohne Unterbrechung mit außerordentlichen Abgaben belegte.41 Sie gipfelten im 15 Millionen-Projekt des Kurfürsten Karl Theodor von 1798, das einen sehr schwerwiegenden Eingriff in die monastischen Vermögensverhältnisse bedeutete.42 Damit kam man der Einbeziehung der Kirchenvermögen in eine reguläre Besteuerung schon sehr nahe. In gleicher Weise wurden die Jurisdiktionsrechte der Kirche scharf bekämpft.43 Diese gezielten Eingriffe setzten Höhepunkte in die breite 36 37 38 39 40

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Vgl. Hof- und Staatskalender des Churfürstentums Baiern, München 1726. Schmid, Altbayern, S. 327–331. Vgl. Müller, Winfried, Die Aufhebung des Jesuitenordens in Bayern: Vorgeschichte, Durchführung, Administrative Bewältigung, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 48 (1985), S. 285–352. Vgl. Müller, Winfried, Universität und Orden. Die bayerische Landesuniversität Ingolstadt zwischen der Aufhebung des Jesuitenordens und der Säkularisation, Berlin 1986, S. 157–169. Vgl. Doeberl, Michael, Der Ursprung der Amortisationsgesetzgebung in Bayern, in: Forschungen zur Geschichte Bayerns 10 (1902), S. 186–262; Ksoll, Margit, Die wirtschaftlichen Verhältnisse des bayerischen Adels 1600–1670. Dargestellt an den Familien Törring-Jettenbach, Törring zum Stein sowie Haslang zu Haslangkreuth und HaslangHohenkammer, München 1986, S. 78–94. Vgl. Mayr, Georg Karl, Sammlung der kurpfalz-baierischen allgemeinen und besonderen Landesverordnungen, Bd. 5, München 1797, S. 347–514. Vgl. Bauer, Der geistliche Rat, S. 272–275. Vgl. Rall, Hans, Kurbayern in der letzten Phase der alten Reichsverfassung 1745–1801, München 1952, S. 255–323.

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Aufklärungskampagne, die vor allem gegen die Klöster gerichtet war und in den frühen 80er Jahren zu ersten Klosteraufhebungen (Indersdorf, Osterhofen) führte.44 In gleicher Weise wurden die Hochstifte bekämpft, deren gewiss nicht allzu ausgedehnte Gebiete in das angestrebte Flächenterritorium eingebaut werden sollten. Bereits Karl Albrecht trug sich mit entsprechenden Plänen. Diese Überlegungen und Maßnahmen erregten derartige Verbitterung, dass sogar ein Attentatsversuch auf den Landesherrn befürchtet wurde.45 Eine Fülle gezielter Aktionen bereitete den Boden für die große Säkularisation von 1802/03 wirkungsvoll vor.46 Ein entscheidender Ansatzpunkt der wittelsbachischen Kirchenpolitik war im Jahrhundert nach dem Dreißigjährigen Krieg die Reichskirche. Ziel war einerseits die Aushöhlung der Reichsstandschaft der exterritorialen Hochstifte, indem vor allem die beiden Bistümer Freising und Regensburg, die den Großteil des Kurfürstentums abdeckten, mit nachgeborenen Söhnen der regierenden Dynastie besetzt wurden. Von hier aus richtete man den Blick auch auf entferntere Ziele. Das Haus Wittelsbach war in der Reichskirchenpolitik eine der erfolgreichsten Familien. Ihm gelang der Aufbau eines förmlichen wittelsbachischen Bistumsreiches im Nordwesten des Heiligen Römischen Reiches.47 Damit wurden gleich mehrere Ziele erreicht. Zum einen konnten nachgeborene Söhne mit wichtigen und einträglichen Pfründen versorgt werden. Zum anderen verschafften diese mit einem dritten Kurhut vergrößerten Einfluss auf die Reichspolitik. In diesem Sinne gelang es, Agnaten auf Bischofsstühle im Erzbistum Köln sowie in den Bistümern Hildesheim, Münster, Paderborn, Osnabrück, Minden, Verden und Lüttich zu bringen. Freilich erreichte diese gezielte und ohne Zweifel sehr erfolgreiche Kirchenpolitik im Wesentlichen im Jahre 1761 mit dem Tod des glanzvollen Klemens August ihr Ende.48 Nachdem die Bemühungen seines Bruders Johann Theodor um die Nachfolge erfolglos blieben und auch dieser schon kurz später 1763 verstarb,49 brach die wittelsbachische 44 45

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48 49

Vgl. Jahn, Cornelia, Klosteraufhebungen und Klosterpolitik in Bayern unter Kurfürst Karl Theodor 1778–1784, München 1994. Vgl. Schmid, Alois, Absolutistischer Territorialstaat und Reichsstadt. Die Beziehungen des Kurfürstentums Bayern zu Regensburg, in: Wiedemann, Fritz (Hrsg.), Bilder aus der Heimat. Szenen und Begebenheiten aus der Geschichte Ostbayerns, Regensburg 1989, S. 141–158, hier S. 141. Vgl. Schmid, Alois, Die Säkularisationspolitik des Kurfürstentums Bayern im 18. Jahrhundert, in: Ders., Die Säkularisation in Bayern 1803: Kulturbruch oder Modernisierung?, München 2003, S. 85–110. Zusammenfassend: Manfred Weitlauff, Die Reichskirchenpolitik des Hauses Bayern im Zeichen gegenreformatorischen Engagements und österreichisch-bayerischen Gegensatzes, in: Glaser, Hubert (Hrsg.), Um Glauben und Reich: Kurfürst Maximilian I. (Wittelsbach und Bayern II/1), München/Zürich 1980, S. 48–76. Derselbe Autor hat die entscheidenden Spezialstudien zur Thematik vorgelegt. Vgl. Braubach, Max, Die vier letzten Kurfürsten von Köln. Ein Bild rheinischer Kultur im 18. Jahrhundert, Bonn/Köln 1931, S. 41–78. Vgl. Weitlauff, Manfred, Kardinal Johann Theodor von Bayern (1703–1763). Fürstbischof von Regensburg, Freising und Lüttich. Ein Bischofsleben im Schatten der kurbayerischen Reichskirchenpolitik, in: Beiträge zur Geschichte des Bistums Regensburg 4 (1970), S. 582–587.

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Reichskirchenpolitik zusammen. Die Führung ging in der nächsten Generation an den wettinischen Verwandten Clemens Wenzeslaus über.50 Der Verlust dieser kirchlichen Positionen bedeutete eine wesentliche Schmälerung der wittelsbachischen Stellung in der Reichspolitik. Abschließend sei noch auf einen Bereich verwiesen, der bisher die verdiente Beachtung noch nicht erfahren hat. Er betrifft das Phänomen der Landespatrone.51 Das Herzogtum und Kurfürstentum Bayern legte sich seit dem 16. Jahrhundert eine bemerkenswerte Reihe von Landespatronen zu. Die Gruppe umfasst die Heiligen Benno, Michael, Kajetan von Thiene und Johann Nepomuk.52 Sie fanden im 18. Jahrhundert als wichtigste Vertreter des bayerischen Heiligenhimmels auch vielfache bildliche Darstellung. Die wichtigste Figur in dieser Reihe ist aber sicherlich die heilige Maria. Seit Maximilian I. steht die Gottesmutter im Mittelpunkt der Religiosität des Münchner Hofes.53 Die Mariensäule auf dem Marienplatz der kurfürstlichen Haupt- und Residenzstadt wurde ein religiöser Brennpunkt von staatstragender Bedeutung.54 Sie fand im gesamten Land mit ähnlichen Gedenksteinen, Bildstöcken und sogar Hausmadonnen vielfache Nachahmung. Und selbst auf die Staatssymbolik gewann der Marienkult durch entsprechende Bilder auf den Gebrauchsmünzen oder den Armeefahnen herrschaftstragenden Einfluss. Herzog Maximilian  I. hat bekanntlich sogar Schlachten gezielt auf Marientage gelegt. Der Schlachtruf in der kurbayerischen Armee des 17. und 18. Jahrhunderts lautete: Jesus – Maria. Der Maria Hilf-Kult nahm im Zusammenhang mit den Türkenkriegen gerade vom bayerischen Passau seinen Ausgang. Durch den von Maximilian I. durch mehrere Feiertage erweiterten Feiertagskalender, die gelenkte Vornamengebung oder die veränderte Patrozinienpraxis wirkte das deutlich umgepolte religiöse Leben des Hofes auf den Alltag des 18. Jahrhunderts im gesamten Lande. Der Wallfahrtsort Altötting, wo mehrere politische Treffen von staatstragender Bedeutung durchgeführt wurden, durchlebte seine Blütezeit.55 Zwar hinterlegten die Landesherrn keine mit dem eigenen Blut unterschriebenen Weihebriefe mehr in der Gnadenkapelle, ließen aber hier immer noch ihre Herzen außerhalb ihrer Körper zur letzten Ruhe betten. Das waren natürlich Aktionen von hoher Staatssymbolik. Der vorherrschende Marienkult drängte die anderen Kulte zurück, er verdrängte sie aber nicht. So behauptete auch der Heiltumsschatz auf dem Heiligen Berg zu Andechs seinen herrschaftstra50 51 52 53 54 55

Vgl. Raab, Clemens Wenzeslaus von Sachsen, S. 183–240. Dazu allgemein für das Mittelalter: Petersohn, Jürgen (Hrsg.), Politik und Heiligenverehrung im Hochmittelalter, Sigmaringen 1994. Vgl. Schmid, Alois, Die bayerischen Landespatrone, in: Beiträge zur altbayerischen Kirchengeschichte 46 (2001), S. 289–311. Vgl. Schmid, Alois, Die Marienverehrung des Kurfürsten Maximilian I. von Bayern, in: Ziegenaus, Anton (Hrsg.), Maria in der Evangelisierung. Beiträge zur mariologischen Prägung der Verkündigung, Regensburg 1993, S. 33–57. Vgl. Schattenhofer, Michael, Die Mariensäule in München, 2. Aufl., München/Zürich 1971. Vgl. Bauer, Robert, Bayerische Wallfahrt Altötting: Geschichte – Kunst – Volksbrauch, 4. Aufl., Regensburg 1998.

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genden Rang auch im späteren 18. Jahrhundert.56 Von der Hofkirche St. Michael zu München gingen wirkungsvolle Impulse für den Kirchenbau im gesamten Lande aus;57 das bayerische Rokoko wird von manchen Kunsthistorikern als landesherrlich geförderter Stil gegen den österreichischen Kaiserbarock gedeutet. Der bayerische Heiligenhimmel des 18. Jahrhunderts erhielt von den bevorzugt verehrten Heiligen sein besonderes Gepräge. Was war der Zweck dieses ungewöhnlichen Kultes um die Landespatrone? Er ist wohl in zweifacher Hinsicht zu suchen. Zum einen wirkten diese Landespatrone nach innen staatsintegrierend, indem sie die Bevölkerung wirklich durch ähnliche Frömmigkeitsformen zusammenbanden. Zum anderen wirkten sie zur gleichen Zeit nach außen abgrenzend. Das galt in erster Linie für die protestantischen Territorien, die einen vergleichbaren Heiligenkult eben nicht kannten.58 Mit den Landespatronen wirkte die Kirche deutlich in den staatlichen Bereich hinein. Das gilt schließlich sogar für die Außenpolitik. Kurbayern ging im mittleren 18. Jahrhundert mehrere Subsidienverträge ein. Dabei bestand lange die Alternative: ein Bündnis mit den katholischen Mächten Österreich und Frankreich oder ein Bündnis mit den reformierten Mächten England und der Generalstaaten.59 Die Frage stellte sich vor allem während des Österreichischen Erbfolgekrieges (1740– 1748) und des Siebenjährigen Krieges (1756–1763). Als in den Jahren 1746 und 1750 Bündnisse mit dem geldkräftigen England geschlossen wurden, meldeten sich dagegen laute Stimmen zu Wort, die diese Bündnisse ablehnten, weil nun anglikanisches Geld gegen das katholische Frankreich kämpfte.60 Die Rückkehr Kurbayerns auf die katholisch-französische Seite mit dem ersten Vertrag von Versailles 1756 wurde heiß begrüßt. Dementsprechend gab es zeitgenössische Stimmen, die den Siebenjährigen Krieg in Kurbayern sehr unter konfessionelle Gesichtspunkte stellten und noch immer als Glaubenskrieg betrachteten. Für den kurfürstlichen Hof spielten diese Überlegungen aber keine bestimmende Rolle mehr.61 Es gab also ohne Zweifel eine spezifische Ausformung der „Pietas Bavarica“.62 Sie war im Grunde eine „Pietas domus Wittelsbacensis“, dennoch aber wesentlicher Bestandteil des öffentlichen Lebens im Kurfürstentum Bayern. Ihr innerster Kern 56 57 58 59 60 61 62

Vgl. Schmid, Alois, Zwischen Reformationszeit und Aufklärung, in: Bosl, Karl/Lechner, Odilo/Schüle, Wolfgang u. a. (Hrsg.), Andechs – der Heilige Berg. Von der Frühzeit bis zur Gegenwart, München 1993, S. 64–74. Vgl. Schmid, Alois, Das Jesuitenkolleg St. Michael zu München in der frühen Neuzeit, in: Oswald SJ, Julius/Haub, Rita (Hrsg.), Jesuitica. Forschungen zur frühen Geschichte des Jesuitenordens in Bayern bis zur Aufhebung 1773, München 2001, S. 115–154. In vergleichender Perspektive nunmehr sehr bemerkenswert: Stefan Samerski, Die Landespatrone der böhmischen Länder: Funktionswandel religiöser Erinnerungsfiguren seit dem Mittelalter, in: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde (2010), S. 105–113. Vgl. Schmid, Alois, Staatsverträge des Kurfürstentums Bayern 1745–1764, München 1991, S. 41–48, Nr. 6; 68–73, Nr. 11. Vgl. Schmid, Alois, Max III. Joseph und die europäischen Mächte. Die Außenpolitik des Kurfürstentums Bayern von 1745–1765, München 1987, S. 193f. Vgl. ebd., S. 367–372. Insofern im Kern sehr zutreffend: Woeckel, Pietas Bavarica.

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war die Verehrung eines spezifischen Heiligenhimmels bei deutlicher Bevorzugung des Marienkultes, verbunden mit einem ungewöhnlich ausgeprägten politischen Engagement. Zweck war einerseits die Beförderung der Staatsintegration nach innen, andererseits die Abgrenzung nach außen. Bayern ist ein katholischer Konfessionsstaat bis zum Ende des Alten Reiches geblieben. Das gilt ohne Zweifel für die Staatstheorie. Ein Toleranzedikt wie in den Großstaaten Österreich oder Preußen ist in Kurbayern nicht erlassen worden.

IV. Wege in eine neue Zeit Dennoch ging die politische Praxis ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts allmählich auch hier in eine andere Richtung.63 In der politischen und gesellschaftlichen Realität vollzogen sich im späteren 18. Jahrhundert deutliche Verschiebungen. In der Realpolitik wurde das Prinzip der ausschließlichen Katholizität verschiedentlich durchlöchert. Doch kamen diese Vorstöße nicht vom landesherrlichen Hof, sie kamen aus dessen Umfeld, das sich den Forderungen der Aufklärung weiter öffnete als der Hof. Auch in Kurbayern wurde vereinzelt ganz vorsichtig eine Toleranzdiskussion angestoßen, die nach Wegen zum Ausgleich mit den Protestanten suchte.64 Denn solche gab es sehr wohl auch im Kurfürstentum bereits vor 1800.65 Das gilt nicht nur für den immer vorhandenen, aber schwer fassbaren Kryptoprotestantismus in den Grenzzonen. Wichtige Einfallspforten für den Protestantismus auch auf hoher Ebene waren zum einen die Churbayerische Akademie der Wissenschaften, die Lutheraner sogar in Leitungsfunktionen berief, und die hohe Staatsbürokratie. Dazu kam die Armee, in der Gottesdienste sogar für Reformierte angeboten werden mussten. Jüdische Hoffaktoren versorgten den Kurfürstenhof mit den gerade im 18. Jahrhundert unverzichtbaren Krediten. Die 1790 auf dem Erbwege erworbene protestantische Grafschaft Wolfstein ist nicht mehr gewaltsam rekatholisiert worden und wurde so der erste protestantische Herrschaftsteil des bayerischen Staates. Die konfessionelle Geschlossenheit wurde also trotz des theoretischen Anspruches bereits im 18. Jahrhundert in der Praxis mehrfach durchlöchert. Dazu trugen schließlich die Kurfürsten selber bei, indem sie sich protestantische Gattinnen nahmen. Damit gaben auch die Landesherrn das bisher bestimmende Prinzip der ausschließlichen Katholizität preis. Sie wurden dazu auch durch die Erweiterung des Staatsterritoriums infolge der napoleonischen Umwälzungen veranlasst, die sie auch zum Herrn protestantischer Territorien machte. Alle diese Maßnahmen wiesen den Weg in eine neue Zeit, die von konfessioneller Pluralität gekennzeichnet sein sollte 63 64 65

Vgl. Kraus, Andreas, Probleme der bayerischen Staatskirchenpolitik 1750–1800, in: Klueting, Harm (Hrsg.), Katholische Aufklärung – Aufklärung im katholischen Deutschland, Hamburg 1993, S. 119–141. Vgl. BSB cgm 4811: Politische Vorschläge, wie die Katholischen und Evangelischen miteinander möchten verglichen werden. Vgl. Schmid, Altbayern, S. 342–346.

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Das Staatsrecht vollzog diese Verschiebungen erst mit zeitlicher Verzögerung nach. Die ersten Protestantenedikte, die nun auch den Zuzug erlaubten, wurden 1803 und 1809 erlassen.66 Ein Judenedikt folgte 1813.67 Mit dieser Neuordnung begab sich Bayern auf den Weg zu einem pluralistischen Staat. Freilich hatten diese rechtlichen Bestimmungen zunächst nur geringfügige Veränderungen in der Konfessionsverteilung im Lande zur Folge. Diese betrafen höchstens die urbanen, kaum dagegen die ländlichen Räume. Die ausgeprägte agrarische Struktur ließ nur begrenzte Verschiebungen zu. Letztlich behauptete sich diese Stabilität weit ins 19. Jahrhundert hinein. Augenfälliger Ausdruck der nach wie vor bestimmenden Konstanz der Verhältnisse ist der Kirchenbau: Der Zwiebelturm ist bis in die Gegenwart herein ein entscheidendes Merkmal Bayerns geblieben. Für das 18. Jahrhundert ist somit die enge Symbiose von Hof und Kirche ein entscheidendes Charakteristikum gewesen. Dieser Zusammenhang lässt sich durch ein sehr eindrucksvolles Bildzeugnis vortrefflich illustrieren. In der wenig bekannten Bruderschaftskirche St. Veit zu Straubing werden am deutlich im Blickfeld aller Besucher stehenden Chorbogen zwei vom ortsansässigen Bildhauer Johann Georg Fux im Jahre 1703 gefertigte sitzende lebensgroße Figuren vorgestellt.68 Sie stellen nach Ausweis von Beschriftungen und Wappen Personifizierungen der Ecclesia und der Bavaria dar.69 In der Anfangsphase des Spanischen Erbfolgekrieges sollte das unzertrennliche Bündnis dieser beiden Potenzen die neu begründete Allianz versinnbildlichen. In diesem Sinne spricht sich auch das beigegebene Schriftband mit der rhetorischen Frage aus: Quis nos separabit? Bekanntlich erreichte das hiermit postulierte machtvolle Bündnis von Staat und Kirche dieses Ziel nicht. Die Niederlage bei Höchstädt (13. August 1704) führte Kurbayern auf einen der Tiefpunkte seiner gesamten Geschichte. Dennoch bietet diese Figurengruppe die vortrefflichste Illustration der „Pietas Bavarica“.

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Dokumente zur Geschichte von Staat und Gesellschaft in Bayern III/8: Kultur und Kirchen, bearb. von Rolf Kießling und Anton Schmid, München 1983, S. 351–357. Vgl. Roepke, Claus-Jürgen, Die Protestanten in Bayern, München 1972, S. 336–373. Vgl. Schwarz, Stefan, Die Juden in Bayern im Wandel der Zeiten, München/Wien 1963, S. 77–180. Vgl. Die Kunstdenkmäler von Bayern: Regierungsbezirk Niederbayern 6: Stadt Straubing, bearb. von Felix Mader, München 1921, S. 250, 253. Zum wenig bekannten Künstler Johann Georg Fux (1661–1706): Weihrauch, Hans Robert, Hanns Georg Fux, Elfenbeinschnitzer und Bildhauer in Straubing (Straubinger Hefte 18), Straubing 1968, S. 7 mit Abb. 14; Tyroller, Karl, Neue Arbeiten von Joh. Georg Fux, in: Sammelblatt des Historischen Vereins für Straubing und Umgebung 77 (1974), S. 115–129. Vgl. Reidel, Hermann, Anmerkungen zum ikonographischen Bildprogramm der Bruderschafts-Kirche St. Veit, in: Mai, Paul/Hausberger Karl (Hrsg.), Die Priesterbruderschaft St. Salvator zu Straubing. Studien zu ihrer Geschichte, Regensburg 2001, S. 253–259, hier S. 255 mit Tafel XVI.

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IV. Rahmenbedingungen und Konfliktfelder im 19. Jahrhundert

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Nach der Aufklärung – die These vom 19. Jahrhundert als zweitem konfessionellen Zeitalter Winfried Müller

Wenn im Rahmen des Dresdner Sonderforschungsbereichs 804 „Transzendenz und Gemeinsinn“ unter regionaler Fokussierung auf Sachsen bzw. den mitteldeutschen Raum „Gemeinsinnsdiskurse und religiöse Prägung zwischen Spätaufklärung und Vormärz (ca. 1770–ca. 1848)“ analysiert werden,1 so stehen dahinter einige Grundannahmen. Verkürzt auf den Punkt gebracht, diskutiert das Projekt in Auseinandersetzung mit dem auf die Enttheologisierung von Weltdeutungskonzepten und auf Transzendenzverluste abhebenden Säkularisierungsparadigma2 religiöse Transzendenzbezüge in den Gemeinsinnsdiskursen der Übergangsperiode vom 18. zum 19. Jahrhundert. Ausgehend von der Prämisse, dass sich in der Spätaufklärung die religiöse Prägung der Akteure keineswegs verflüchtigte,3 wird die religiöse Herleitung von Handlungsorientierungen, öffentlichem Wirken und privater Lebensführung tradierter und neuer Funktionseliten – Adel, Geistlichkeit, reformorientierte Bürokratie, Wirtschaftsbürgertum – analysiert. Das Projekt begibt sich dabei bewusst in die Transformationsperiode von der Vormoderne zur Moderne, grob gesprochen also in den Zeitraum von der Mitte des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, innerhalb dessen Siebenjähriger Krieg, Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika, die Französische Revolution, napoleonische Hegemonie und das Ende des Alten Reiches, die Erosion der altständischen Sozialverfassung und der Beginn der Industrialisierung als markante Zäsuren hervorzuheben sind. In der Geschichtswissenschaft ist diese transitorische Periode mit ihren politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbrüchen schon längst auf den Begriff ge-

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Vgl. Müller, Winfried, Gemeinsinnsdiskurse und religiöse Prägung zwischen Spätaufklärung und Vormärz (ca. 1770-ca. 1848), in: Vorländer, Hans (Hrsg.), Transzendenz und Gemeinsinn. Themen und Perspektiven des Dresdner Sonderforschungsbereichs 804, Dresden 2010, S. 64–69. Vgl. hierzu u. a. Lübbe, Hermann, Säkularisierung. Geschichte eines ideenpolitischen Begriffs, 3. Aufl., Freiburg i. Br. 2003; Pollack, Detlef, Säkularisierung – ein moderner Mythos? Studien zum religiösen Wandel in Deutschland, Tübingen 2003; Lehmann, Hartmut, Säkularisierung. Der europäische Sonderweg in Sachen Religion, Göttingen 2004; Gräb, Wilhelm/Charbonnier, Lars (Hrsg.), Secularization Theories, Religious Identity and Practical Theology: Developing International Practical Theology for the 21st Century, Münster 2009; Joas, Hans/Wiegandt, Klaus (Hrsg.), Secularization and the World Religions, Liverpool 2009; Joas, Hans/Casanova, José, Religion und die umstrittene Moderne, Stuttgart 2010. Vgl. Müller, Winfried, Die Aufklärung, München 2002, S. 44–46.

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bracht worden, wenn von der sog. Sattelzeit die Rede ist.4 In der Beschreibungssprache der historischen Theoriebildung werden damit die zweite Hälfte des 18. und die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer Einheit zusammengefasst – in der Absicht, auf diese Weise Brüche, Zäsuren, aber auch Kontinuitäten sichtbar werden zu lassen. In der Forschungspraxis spiegelt sich diese die letzten Jahrzehnte des einen, die ersten Jahrzehnte des anderen Jahrhunderts zusammenfassende Blockbildung indes nach wie vor viel zu selten wider.5 Entlang der gängigen Lehrstuhldenominationen zerfällt die Sattelzeit vielmehr zumeist in zwei Hälften, deren erste von den bis ca. 1800 zuständigen Frühneuzeithistorikern bzw. den 1806 schlagartig verstummenden Reichshistorikern behandelt wird, während die zweite Hälfte dann den Erforschern des 19. Jahrhunderts zufällt, die mit Reformzeit, Wiener Kongress und Deutschem Bund ihre Einsatzsignale haben. So unbestritten der Zäsurcharakter gerade der Jahre zwischen 1803 und 1815 als der klassischen Epochenscheide zwischen Früher Neuzeit und Neuerer Geschichte ist, so ist diese Separierung der beiden Hälften der Sattelzeit denkbar ungeeignet, um die Unterschiede zwischen dem Vorher und dem Nachher sichtbar werden zu lassen. Gleiches gilt für die Brüche und Kontinuitäten, die ja für die Generation 1806 – jene also, die die vorrevolutionäre Ordnung noch kannten, die die Zäsuren 1806 und 1813 bewusst erlebten und die nach 1815 in die Nachkriegsordnung integriert wurden – in einer Biographie zu verarbeiten waren.6 Man vergegenwärtige sich nur, wie viele Persönlichkeiten, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den deutschen Ländern Schlüsselpositionen besetzten, im ausgehenden 18. Jahrhundert im Geiste der Aufklärung sozialisiert und akademisch geschult worden sind. Dieser Überhang des 18. Jahrhunderts und der Spätaufklärung ins 19. Jahrhundert, der nur allzu leicht durch die scharfe Kontrastierung von Aufklärung und Romantik und die Überzeichnung des Bruches mit den Traditionen des 18. Jahrhunderts verhüllt wird, kann gar nicht genug betont werden. Ein Humboldt mochte beispielsweise noch so sehr gegen die Verzweckung und Disziplinierung des Menschen durch den Staat plädieren, in der Praxis stand die preußische Bildungspolitik mit dem 1812 gestrafften Abiturreglement von 1787, der Einführung des Staatsexamens für künftige Gymnasiallehrer 1810 und der Etablierung der Habilitation für Hochschuldozenten deutlich in der Tradition des etatistischen Ansatzes des 18. Jahrhunderts. Für diese Kontinuität spricht u. a. auch das Selbstverständnis eines ganz am Ende des 18. Jahrhunderts geborenen Literaten wie Karl Immermann 4 5 6

Vgl. Koselleck, Reinhart, Einleitung, in: Brunner, Otto/Conze, Werner/Koselleck, Reinhardt (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 1, Stuttgart 1979, S. XV. Vgl. hierzu u. a. Decot, Rolf (Hrsg.), Kontinuität und Innovation um 1803. Säkularisation als Transformationsprozeß. Kirche – Theologie – Kultur – Staat, Mainz 2005; Brandt, Peter (Hrsg.), An der Schwelle zur Moderne. Deutschland um 1800, Bonn 1999. Für den mit dem Schlagwort von der „Generation 1806“ angedeuteten individual- und gruppenbiographischen Ansatz vgl. Burgdorf, Wolfgang, Ein Weltbild verliert seine Welt. Der Untergang des Alten Reiches und die Generation 1806, 2. Aufl., München 2008; Fohrmann, Jürgen (Hrsg.), Lebensläufe um 1800, Tübingen 1998; Hartmann, Anja Victorine/Morawiec, Malgorzata/Voss, Peter (Hrsg.), Eliten um 1800. Erfahrungshorizonte, Verhaltensweisen, Handlungsmöglichkeiten, Mainz 2000.

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– 1796 erblickte er in Magdeburg das Licht der Welt –, der sich in seinen „Memorabilien“ ganz selbstverständlich den „Söhne[n] der Aufklärung“ zuordnete, die in ihrer Kindheit von „allen Seiten“ vom „Atem der Friederizianischen Aufklärung“ umweht worden waren.7 Daneben ist zu beachten, dass auf dem Land vielfach erst jetzt jene Geistlichen und Ärzte Breitenwirkung erlangten, die in der Epoche der Aufklärung ausgebildet worden waren. Wenn diese um Epochenzäsuren unbekümmerte Verklammerung von 18. und 19. Jahrhundert in dem zur Rede stehenden Teilprojekt G des Sonderforschungsbereichs 804 unter der spezifischen Fragestellung der religiösen Herleitung von Handlungsorientierungen und der religiösen Prägung gemeinsinniger Diskurse und Aktivitäten zwischen Spätaufklärung und Vormärz erfolgt, so könnte man hier von einer Suchheuristik zu sprechen, insofern ja sowohl in der Frühneuzeitforschung, insbesondere in der Aufklärungshistoriographie, als auch in der Forschung zum 19. Jahrhundert beträchtliche Zeit das Säkularisierungsparadigma dominant war bzw. teilweise noch ist, das vor allem auf Transzendenzverluste unter dem Einfluss des neuzeitlichen Rationalismus, auf das Nachlassen religiöser Ligaturen und auf den Prozess der Entkirchlichung vor allem der Gebildeten8 abhob. Religion wurde gleichsam zum „eiszeitlichen Gletscher“, der sich noch ins 19. Jahrhundert hineinschob, wo er – die Aufklärung ist in diesem Zitat mit der Lichtmetapher indirekt präsent – „unter der strahlenden Sonne am bürgerlichen Wertehimmel langsam aber stetig abschmilzt“.9 Die Kritik an dieser Vernachlässigung von Religion und Konfession war vor allem eine Kritik an einer in die Jahre gekommenen Sozialgeschichte und ihrer in der Tat unabweisbaren „Indifferenz [...] gegenüber religiösen Phänomenen“.10 Bezogen auf die frühneuzeitliche Forschungslandschaft sei hier nur der Hinweis von Hartmut Lehmann aufgegriffen, dass in den über 2000 Seiten der zwischen 1967 und 1979 erschienenen und als „Totalhistorie“ angekündigten „Sozialgeschichte des 15.–18. Jahrhunderts“ von Fernand Braudel gerade einmal vier Seiten dem Thema Religion und Kirche gewidmet sind.11 Und bezogen auf das 19. Jahrhundert hat sich in den zurückliegenden Jahren Olaf Blaschke als Kritiker einer Forschungsrichtung profiliert, die der „Auszählung von Väterberufen und Getreidepreisen“12 deutlich den Vorzug gegenüber der adäquaten Einbeziehung religiöser Faktoren und ihrer konfessionskirchlichen Ausformungen in die historischen Prozesse der Moderne gebe. 7 8 9 10 11 12

Immermann, Karl, Memorabilien. Nach dem Text der Ausgabe von 1840–44. Mit einem Nachwort von Erwin Lauths, München 1966, S. 28f. Vgl. u. a. Hölscher, Lucian, Die Religion des Bürgers. Bürgerliche Frömmigkeit und protestantische Kirche im 19. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift 250 (1990), S. 595–630. Blaschke, Olaf, Das 19. Jahrhundert: Ein Zweites Konfessionelles Zeitalter, in: Geschichte und Gesellschaft 26 (2000), S. 44. Ebd., S. 45. Vgl. Lehmann, Hartmut, Zur Bedeutung von Religion und Religiosität im Barockzeitalter, in: Ders., Religion und Religiosität in der Neuzeit. Historische Beiträge, hrsg. von Manfred Jakubowski-Tiessen und Otto Ulbricht, Göttingen 1996, S. 9–11. Blaschke, Das 19. Jahrhundert, S. 46.

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Olaf Blaschke wurde deshalb namentlich hervorgehoben, weil er in einer Vielzahl von Publikationen bestrebt war, ein neues Forschungsparadigma zu etablieren, das in die letzte Sektion dieses Tagungsbandes Eingang gefunden hat. Angesprochen ist damit die sog. zweite Konfessionalisierung als ein Signum des 19. Jahrhunderts, hinter der sich ein doppeltes Anliegen verbirgt. Zum einen soll mit der These vom zweiten konfessionellen Zeitalter der Religion grundsätzlich jener Platz reserviert werden, den sie als Deutungs- und Gestaltungsmacht tatsächlich eingenommen hat; das richtet sich gegen die „Historiker unter ihren Verächtern“,13 die über der Diskussion von Säkularisierungs- und Modernisierungstrends diesen Stellenwert nicht hinlänglich beachtet hätten.14 Zum anderen und spezifisch aufs 19. Jahrhundert zugeschnitten zielt die These darauf ab, zu verdeutlichen, dass Religion eben keinem kontinuierlichen „Auszehrungsprozeß“15 unterworfen gewesen sei, sondern sich neben den großen Bewegungen des 19. Jahrhunderts wie Liberalismus und Nationalismus und den gestreckten historischen Prozessen wie Industrialisierung und dem Aufstieg des Bürgertums als „treibende Kraft“16 behauptet habe. Zugespitzt formuliert: Ein Jahrhundert, an dessen Ende gerade einmal 6 Prozent der Bevölkerung dem Bürgertum angehörten, als die Epoche des Bürgertums zu bezeichnen, zugleich aber die Prägekraft der religiösen Faktoren zu vernachlässigen, wiewohl 99,97 Prozent der Bevölkerung konfessionell gebunden gewesen seien, gehe an der historischen Realität vorbei. Und noch etwas pointierter formuliert: Religion sei im 19. Jahrhundert als „eine teilautonome Schubkraft neben anderen ernst zu nehmen“,17 weil das bürgerliche Säkulum einen Konfessionalismus produziert habe, der massiv – und zwar spaltend im Sinne einer neuen Intoleranz – in die Gesellschaft hineingewirkt habe: in Militär, Wirtschaft, Vereinswesen, Parlamente und Parteien, Wissenschaft.18 Dieser Konfessionalismus des 19. Jahrhunderts wird nun nicht einfach als die Fortführung älterer Traditionslinien interpretiert, sondern als etwas grundsätzlich Neues, das auf den vom 18. Jahrhundert, den von der Aufklärung und der Revolution verursachten Kontinuitätsbruch folgte. Im 19. Jahrhundert hat man demnach nicht nur eine Revitalisierung älterer Traditionen vor sich, etwa die Anknüpfung ans Tridentinum und die Konzilstradition in der Papstkirche, sondern einen konsequenten Neuansatz, wie er sich in der Etablierung von Bonifatius als „Apostel der Deutschen“ in Konkurrenz zu Luther widerspiegele,19 der seinerseits über die Reformationsjubiläen des 13 14 15 16 17 18 19

Ebd., S. 39. Vgl. hierzu auch Blaschke, Olaf, Abschied von der Säkularisierungslegende. Daten zur Karrierekurve der Religion (1800–1970) im zweiten konfessionellen Zeitalter: eine Parabel, in: zeitenblicke 5 (2006), Nr. 1 [http://www.zeitenblicke.de/2006/1/blaschke]. Blaschke, Das 19. Jahrhundert, S. 40. Ebd., S. 43. Ebd., S. 47 Vgl. hierzu auch Blaschke, Olaf, Der „Dämon des Konfessionalismus“. Einführende Überlegungen, in: Ders. (Hrsg.), Konfessionen im Konflikt. Deutschland zwischen 1800 und 1970: ein zweites konfessionelles Zeitalter, Göttingen 2002, S. 13–70. Vgl. Weichlein, Siegfried, Bonifatius als politischer Heiliger im 19. und 20. Jahrhundert, in: Imhof, Michael/Stasch, Gregor K. (Hrsg.), Bonifatius. Vom angelsächsischen Missionar zum Apostel der Deutschen, Fulda 2004, S. 219–234; Weichlein, Siegfried, Der

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19. Jahrhunderts20 zum Nationalhelden stilisiert wurde. Diese Neuansätze, die gezielt und mit viel Energie eine Strategie der „invention of tradition“ verfolgten, wie man sie auch aus anderen Analysefeldern, etwa dem Nationalismus, kenne, ließen es geboten erscheinen, nicht nur von Neokonfessionalismus zu sprechen, sondern von einer zweiten Konfessionalisierung; „die Zahl zwei definiert eindeutig, dass in der Zwischenzeit kein vergleichbarer Prozeß stattgefunden hat“.21 Sowohl der Begriff der „Zwischenzeit“ als auch der einer zweiten Konfessionalisierung verweisen natürlich auf das Zeitalter einer ersten Konfessionalisierung und damit auf ein Drei-Phasen-Modell. Dieses sieht als „Referenzrahmen“22 die erste Konfessionalisierung23 vor, die im 16. Jahrhundert einsetzt und 1648 mit der Verabschiedung des Religionskriegs und der juristischen Arrangements in Konfessionsfragen geendet habe.24 Die zweite Phase, die im Wesentlichen mit der Aufklärung enggeführte „Zwischenzeit“, wird demgegenüber als eine Phase des konfessionellen Laissez-faire, ja der Ausdünnung und Veränderung des frommen Habitus – als Säkularisierungswelle – interpretiert, bis der Schock der Französischen Revolution und der Säkularisation von 1803 ein Jahrhundert der religiösen Rückbesinnung eingeleitet hätte, eben die Phase der zweiten Konfessionalisierung, die recht eigentlich in den 1830er Jahren begonnen habe und im Verhältnis der Konfessionen eine

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Apostel der Deutschen. Die konfessionspolitische Konstruktion des Bonifatius im 19. Jahrhundert, in: Blaschke, Konfessionen im Konflikt, S. 155–180; Müller, Winfried, Jubiläen und Heiligengedenken. Von den mittelalterlichen Ursprüngen bis zum Heiligenkult des 19. Jahrhunderts, in: Felten, Franz J. (Hrsg.), Bonifatius – Apostel der Deutschen. Mission und Christianisierung vom 8. bis ins 20. Jahrhundert, Stuttgart 2004, S. 117–130. Vgl. Laube, Stefan/Fix, Karl-Heinz (Hrsg.), Lutherinszenierung und Reformationserinnerung, Leipzig 2002; Flügel, Wolfgang, Konfession und Jubiläum. Zur Institutionalisierung der lutherischen Gedenkkultur 1617–1830, Leipzig 2005. Blaschke, Das 19. Jahrhundert, S. 41. Ebd., S. 49. Vgl. auch Blaschke, Olaf, Das 16. Jahrhundert und das 19. Jahrhundert: Zwei konfessionelle Zeitalter?, in: Giebmeyer, Angela/Schnabel-Schüle, Helga (Hrsg.), „Das Wichtigste ist der Mensch“. Festschrift für Klaus Gerteis zum 60. Geburtstag, Mainz 2000, S. 117–138. Zur Konfessionalisierungsforschung vgl. als resümierende Überblicke Schnabel-Schüle, Helga, Vierzig Jahre Konfessionalisierungsforschung – eine Standortbestimmung, in: Kießling, Rolf (Hrsg.), Konfessionalisierung und Region, Augsburg 1999, S. 1–18 und in: Blaschke, Konfessionen im Konflikt, S. 71–94; von Greyerz, Kaspar/JakubowskiTiessen, Manfred/Kaufmann, Thomas/Lehmann, Hartmut (Hrsg.), Interkonfessionalität – Transkonfessionalität – binnenkonfessionelle Pluralität. Neue Forschungen zur Konfessionalisierungsthese, Gütersloh 2003; Holzem, Andreas, Katholische Konfessionalisierung – ein Epochenphänomen der Frühneuzeit zwischen Spätmittelalter und Aufklärung, in: Neuhaus, Helmut (Hrsg.), Die Frühe Neuzeit als Epoche, München 2009, S. 251–289. Zur „reichsrechtlichen Verankerung der konfessionellen Zwietracht (discordia) als politischer Lebensform vgl. Warmbrunn, Paul, Toleranz im Reich vom Augsburger Religionsfrieden bis zum Westfälischen Frieden. Kirchen- und Landesordnungen und gesellschaftliche Praxis, in: Lademacher, Horst/Loos, Renate/Groenveld, Simon (Hrsg.), Ablehnung – Duldung – Anerkennung: Toleranz in den Niederlanden und in Deutschland. Eine historischer und aktueller Vergleich, Münster 2004, S. 99–116.

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„Dramatisierung des gesellschaftlichen Antagonismus“ gezeitigt habe. Erst im 19. Jahrhundert habe die Klerusreform und – man denke an den Mischehenstreit – die Durchdringung des Alltags mit konfessionellem Bewusstsein voll gegriffen. Ein gewisser religiöser Synkretismus, wie er selbst noch in der ersten Konfessionalisierung üblich gewesen sei, sei vor dem Hintergrund der zweiten Missionierungswelle durch eine ausgeprägte „konfessionelle Identität und Exklusionsentschlossenheit“25 abgelöst worden, die im Grunde erst in den 1960er Jahren aufgeweicht worden sei. Die These vom zweiten konfessionellen Zeitalter stieß auf beträchtliche Resonanz und wurde als „zunächst hocherfreulich“26 begrüßt, da sie „zur Reflexion des bis ins 20. Jahrhundert anhaltenden Einflusses von Religion“ anrege.27 Dass die beiden wesentlichen, sich mit der These vom zweiten konfessionellen Zeitalter auseinandersetzenden Aufsätze in ihrem Titel jeweils mit einem Fragezeichen operierten, kündete indes auch von einem unverkennbaren Unbehagen an der nachgerade amerikanischen Entschiedenheit, eine Großthese zu formulieren, Periodisierungen vorzunehmen und bei der Darstellung der konfessionellen Blöcke deren Binnendifferenzierungen reduktionistisch zu präsentieren – und vielleicht auch die Versäumnisse, die „Konfessionsblindheit“28 der bisherigen Forschung zu überzeichnen. In dieser Hinsicht wurde für das 19. Jahrhundert zu Recht angemerkt, dass ja, so unbestreitbar die Forschungsdefizite sind, bereits Franz Schnabel 1937 den vierten Band seiner „Deutschen Geschichte im neunzehnten Jahrhundert“ den religiösen Kräften gewidmet hat29 und dass seit Thomas Nipperdeys Studien zur Rolle der Religion im Kaiserreich30 die „Bedeutung von Religion und Konfession für das 19. Jahrhundert im Grunde genommen außer Zweifel“ steht.31 Von der Forschungssituation zum 18. Jahrhundert wird noch die Rede sein. Zugleich wurde aber im Hinblick auf diese außer Zweifel stehende Bedeutung der religiösen Kräfte doch auch die Frage aufgeworfen, ob deren Rolle ungeachtet der Selbstinszenierungen der Konfessionen in Bonifatius- und Reformationsjubiläen und ungeachtet bedeutender Konfliktfelder wie den Kölner Wirren und dem Kulturkampf tatsächlich so bedeutend war, wie das durch die Postulierung eines zweiten konfessionellen Zeitalters nahegelegt wird. Der Beitrag von Carsten Kretschmann und Henning Pahl hielt es da eher mit Franz Schnabel, der den herrschenden Geist der Zeit als „ganz weltlich“ apostrophiert hatte. Dem Konfessiona25 26 27 28 29 30 31

Blaschke, Das 19. Jahrhundert, S. 73. Vgl. hierzu auch Koenig, Matthias/Willaime, JeanPaul (Hrsg.), Religionskontroversen in Frankreich und Deutschland, Hamburg 2008. Kretschmann, Carsten/Pahl, Henning, Ein „Zweites Konfessionelles Zeitalter“? Vom Nutzen und Nachteil einer neuen Epochensignatur, in: Historische Zeitschrift 276 (2003), S. 373. Steinhoff, Anthony J., Ein zweites konfessionelles Zeitalter? Nachdenken über die Religion im langen 19. Jahrhundert, in: Geschichte und Gesellschaft 30 (2004), S. 570. Dieter Langewiesche, Nation, Nationalismus, Nationalstaat. Forschungsstand und Forschungsperspektiven, in: Neue Politische Literatur 40 (1995), S. 216. Vgl. Schnabel, Franz, Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, Bd. 4: Die religiösen Kräfte, Freiburg i. Br. 1937. Vgl. Nipperdey, Thomas, Religion im Umbruch. Deutschland 1870–1918, München 1988. Kretschmann/Pahl, Ein „Zweites Konfessionelles Zeitalter“?, S. 370.

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lismus fehlte es demnach an gesamtgesellschaftlicher Relevanz,32 und außerhalb der „kleinen Gruppe der ideologisierten Kirchenfunktionäre durchlitt [...] kaum jemand das von Blaschke beschworene ‚Zweite Konfessionelle Zeitalter’“.33 In ähnlicher Weise argumentierte auch Anthony Steinhoff, der gegen eine Überbetonung konfessioneller Faktoren und der Konflikte zwischen Katholizismus und Protestantismus die Konkurrenz religiöser Gemeinschaften mit neuen „Kosmologien“34 oder sozialen Glaubenssystemen35 – Nation, Wissenschaft, Liberalismus, Sozialismus – als die eigentlich entscheidende, die Lager trennende Demarkationslinie hervorhob. Diese knapp resümierte Forschungsdiskussion soll hier nicht in toto weiterverfolgt werden. Allerdings scheint es sinnvoll, die Tauglichkeit der These für ein Projekt, das nach Synergien von Gemeinsinnsdiskursen und religiösen Prägungen in der Spätaufklärung bzw. in der Übergangsphase vom 18. zum 19. Jahrhundert fragt, zu überprüfen. Dass hier eine grundsätzliche Übereinstimmung vorhanden ist, insofern die Bedeutung der religiösen Energien und Prägungen betont und vice versa die Säkularisierungsthese überprüft wird, das liegt auf der Hand und muss nicht eigens ausgeführt werden. Eine andere Anschlussstelle ist der von Teilprojekt G ins Zentrum gestellte Zeitkorridor – cum grano salis die Jahre von ca. 1770 bis ca. 1848 – und der Periodisierungsansatz von Olaf Blaschke, der das zweite konfessionelle Zeitalter, den neuen Konfessionalismus, als ein Phänomen einstuft, das sich zwar schon mit dem Reformationsjubiläum von 1817 angedeutet habe, das vor allem aber seit den 1830er Jahren an Relevanz gewinnt. Hier habe, wie u.  a. aus autobiographischen Texten elaboriert wird, ein Wechsel stattgefunden von einem „religiös verträglichen zu einem konfessionell intoleranten Gesellschaftsklima“,36 fixierbar u. a. am Mischehenstreit,37 befördert u. a. durch eine neue Generation von Klerikern. Dieser Generationswechsel ist für das Arbeitsprogramm des Teilprojekts G in hohem Maße anschlussfähig, insofern ja die Spätaufklärung deutlich ins 19. Jahrhundert hineingezogen wird – davon ausgehend, dass in dessen ersten zwei, drei Jahrzehnten unterhalb des von der Romantik abgesteckten Höhenkamms ein Überhang an Personen und Wissensbeständen aus der vorrevolutionären „Welt der Sicherheit“ vorhanden war,38 der in Staatsdienst, Pfarramt und gesellschaftlichem Leben wirksam war. Bezogen auf die Verwaltungseliten war in diesem Zusammenhang zuletzt von einer „Generation Pütter“ die Rede, die noch im 18. Jahrhundert 32 33 34 35 36 37 38

Vgl. ebd., S. 388. Ebd., S. 383. Steinhoff, Zweites konfessionelles Zeitalter, S. 307. Vgl. – unter Rekurs auf Norbert Elias – Blaschke, Das 19. Jahrhundert, S. 68. Blaschke, Olaf, Die Inkubationszeit konfessioneller Intoleranz im frühen 19. Jahrhundert, in: Mattioli, Aram (Hrsg.), Intoleranz im Zeitalter der Revolutionen. Europa 1770–1848, Zürich 2004, S. 191. Vgl. u. a. Bendikowski, Tillmann, „Eine Fackel der Zwietracht“. Katholisch-protestantische Mischehen im 19. und 20. Jahrhundert, in: Blaschke, Konfessionen im Konflikt, S. 215–242. Vgl. Burgdorf, Weltbild, S. 15, in Anknüpfung an Stefan Zweig, Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers, Frankfurt am Main 1947, die einen anderen Jahrhundertwechsel, den vom 19. zum 20. Jahrhundert, zum Thema hat.

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an der Göttinger Juristenfakultät bei Johann Stephan Pütter studiert hatte und die als „identitätsbewusste Gruppe“ am Beginn des 19. Jahrhunderts den Staatsdienst im Reich und seinen Territorien dominierte. In der Literaturwissenschaft war für diese Verklammerung des 18. und 19. Jahrhunderts durch Individual- und Gruppenbiographien früher einmal bzw. ist nach längerer Unterbrechung jetzt wieder der Begriff der „Goethezeit“ üblich,39 in der Geschichtswissenschaft kommt das Fortleben von Denktraditionen und Handlungsorientierungen der Aufklärungsepoche im 19. Jahrhundert u. a. im Begriff des Spätjosephinismus zum Ausdruck. Und wenn die zweite Konfessionalisierung für die 1830er Jahre von einem tiefer greifenden und auch folgenreichen Generationenwechsel in den Seelsorgerberufen ausgeht, so trifft sich dies mit der Beobachtung einer nicht abrupt mit dem 18. Jahrhundert endenden, sondern mehr oder weniger subkutan auch in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts wirksamen Spätaufklärung. Fraglich ist allerdings, ob die für die 1830er Jahre konstatierte Zäsur tatsächlich so bedeutend gewesen ist, wie das mit dem suggerierten Beginn eines zweiten konfessionellen Zeitalters unterstellt wird. Diese Frage lässt sich nicht nur prospektiv mit Blick auf die tatsächliche Schlagkraft des neuen Konfessionalismus entfalten, sondern auch retrospektiv zur Frage wenden, ob denn die Zwischenphase von 1648 bis 1817 bzw. in die 1830er Jahre tatsächlich so konfessionsfrei bzw. -neutral gewesen ist, wie das durch Olaf Blaschkes Phasenmodell suggeriert wird. Dabei ist zwar durchaus zu konzedieren, dass mit dem Epochenjahr 1648 im Alten Reich der Religionskrieg der Vergangenheit angehörte. Das heißt aber noch lange nicht, dass Religionsfragen und Konfessionskonflikte im Reich in der von Blaschke angenommenen Weise von der Tagesordnung abgesetzt worden waren.40 Jürgen Luh hat in seinem 1995 erschienenen Buch zum „Unheiligen Römischen Reich“ aufgezeigt,41 wie sehr der konfessionelle Gegensatz – nachdem er im Westfälischen Frieden juridifiziert worden war – die Reichsöffentlichkeit und die Reichsgerichtsbarkeit beschäftigte. Und man braucht gar nicht auf so extreme Ausschläge der konfessionellen Intransigenz wie die Ausweisung der Salzburger Protestanten zu Beginn der 1730er Jahre verweisen,42 um die Virulenz der Konfessionsproblematik auch für das 18. Jahrhundert zu belegen.43 Denn ungeachtet der auf dem intellektuellen Höhenkamm geführten Diskurse um eine irenische Annäherung der Konfessionen und um 39

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Ausgangspunkt und Renaissance des Epochenetiketts werden markiert durch Korff, Hermann August, Geist der Goethezeit, 4 Bde., Leipzig 1923–55 und durch das 2002 vom Institut für deutsche Philologie der Ludwig-Maximilians-Universität München initiierte „Goethezeitportal“ [http://www.goethezeitportal.de]. Vgl. dazu auch den Beitrag von Gerd Schwerhoff in diesem Band. Vgl. Luh, Jürgen, Unheiliges Römisches Reich. Der konfessionelle Gegensatz 1648 bis 1806, Baden-Baden 1995. Vgl. u. a. Walker, Mack, Der Salzburger Handel. Vertreibung und Errettung der Salzburger Protestanten im Deutschland des 18. Jahrhunderts, Göttingen 1997; Emmrich, Gabriele, Die Emigration der Salzburger Protestanten 1731–1732. Reichsrechtliche und konfessionspolitische Aspekte, Münster 2002. Zur ersten Orientierung vgl. Stievermann, Dieter, Politik und Konfession im 18. Jahrhundert, in: Zeitschrift für historische Forschung 18 (1991), S. 177–199, François, Éti-

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eine nicht nur juristisch begründete, sondern innengeleitete Duldung von Andersgläubigen war das Problem der religiösen Toleranz auch im 18. Jahrhundert noch weithin ungelöst; die böhmischen Geheimprotestanten konnten sich bekanntlich erst 1781 aufgrund des Toleranzpatents Kaiser Josephs II. aus der Deckung wagen. Diese Virulenz der Konfessionsproblematik auch im 18. Jahrhundert fand in einer Forschungslandschaft, die einerseits auf das Zeitalter der Glaubenskämpfe eingeschworen, andererseits erstaunlich lange auf den friderizianischen Topos, dass jeder nach seiner Façon glücklich werden solle, und auf die Toleranzpolitik Josephs II. fokussiert war, viel zu wenig Beachtung. Erst in jüngerer Zeit wurde mit Rainer Forsts Buch zu „Toleranz im Konflikt“44 und der von Matthias Fritsch vorgelegten Studie zu naturrechtlichen Begründungen der Toleranz und konfessionellen Differenz im Zeitalter der Aufklärung45 ein Thema zum Gegenstand fundierter Qualifikationsschriften, das gemeinhin als schon längst abgearbeitet galt. Wenn diese Hinweise auf die Virulenz der Konfessionsproblematik in der Aufklärungsepoche einen Widerspruch zur Großthese von einer dekonfessionalisierten Zwischenphase andeuten, so ist diese aber auch noch in anderer Hinsicht zu relativieren. Im Gegensatz nämlich zum Säkularisierungsparadigma war das Thema der Konfessionalisierung im Sinne einer geistigen und organisatorischen Verfestigung der christlichen Bekenntnisse zu einer nach Dogma, Verfassung und religiös-sittlicher Lebensführung stabilen Kirchenorganisation ja auch im Zeitalter der Aufklärung keineswegs erledigt. Wenn man die Praxis der aufgeklärten Kirchen- und Religionspolitik in den Territorien des Reiches überprüft, so wird man – namentlich im katholischen Deutschland, wo man die strukturelle Angleichung an das protestantische landesherrliche Kirchenregiment suchte – auf zahlreiche Versuche des organisatorischen Einbaus der Kirche in den Staat stoßen, und innerhalb dieses aufgeklärten Staatskirchentums wird man vergeblich ein böses Wort gegen die Religion suchen. Vielmehr gilt das bekannte, auf deren gesellschaftliche Bindekraft abhebende Wort Friedrichs II. von Preußen, dass die Schulmeister auf dem Lande Religion und Moral lehren sollten. Zugleich sollten – und das ist dann eine doch recht bezeichnende konfessionelle Aufladung – die Leute bei ihrer Konfession bleiben, denn, so ergänzte der Monarch, „die evangelische ist die beste und weit besser wie die katholische“.46 Schließlich ist mit Blick auf die konfessionell und religiös neutralisierte Zwischenphase noch darauf hinzuweisen, dass selbst dann, wenn die traditionellen Kirchentümer kritisch hinterfragt wurden und sich die Opposition zur Amtskirche regte, die Sache der Religion ja auch im Aufklärungszeitalter keineswegs verloren war. Angesprochen sind damit religiöse Reformbewegungen wie der Pietismus auf protestantischer, der Jansenismus auf katholischer Seite, die sich über die Kritik an

44 45 46

enne, Die unsichtbare Grenze. Katholiken und Protestanten in Augsburg 1648–1806, Sigmaringen 1991. Forst, Rainer, Toleranz im Konflikt. Geschichte, Gehalt und Gegenwart eines umstrittenen Begriffs, Frankfurt am Main 2003. Fritsch, Matthias J., Religiöse Toleranz im Zeitalter der Aufklärung. Naturrechtliche Begründung – konfessionelle Differenzen, Hamburg 2004. Zitiert nach Schnabel-Schüle, Vierzig Jahre Konfessionalisierungsforschung, S. 75.

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einer als oberflächlich empfundenen Kirchenfrömmigkeit definierten und die innengeleitete Frömmigkeit mit einem sich in der Praxis zu bewährenden Tatchristentum kombinierten, bei dem wahre Frömmigkeit, sittlicher Lebenswandel und tätige Nächstenliebe Hand in Hand gehen sollten. Für den württembergischen und den süddeutsch-österreichischen Raum liegen hierfür schon seit längerem grundlegende Studien vor,47 für den mitteldeutschen bzw. sächsischen Raum klaffen hingegen – bedingt natürlich auch durch die Marginalisierung dieser Themen in der DDR-Historiographie – erhebliche Forschungslücken, die durch die Analyse beispielsweise des Zusammenspiels der Aufklärung mit dem Pietismus der Herrnhuter Provenienz48 im Rahmen der sächsischen Staatsreformen geschlossen werden sollen.49 Wenn dabei das späte 18. und das frühe 19. Jahrhundert als eine unter dem Zeichen der Spätaufklärung stehende Einheit betrachtet werden, so wird damit – das dürfte nun hinlänglich deutlich geworden sein – zum Ausdruck gebracht, dass die Antithetik zwischen einer dekonfessionalisierten Zwischenphase und einem zweiten konfessionellen Zeitalter nicht trägt. Die Zwischenphase war weitaus religionsgesättigter und auch konfessionalistischer, als das von Blaschke angenommen wurde. Den „spannungsfreien, interkonfessionellen Beginn“ des 19. Jahrhunderts hat es nicht gegeben,50 und damit relativiert sich natürlich auch der Kontinuitätsbruch und die neue Qualität des zweiten konfessionellen Zeitalters. Ungeachtet dieser Relativierung wird man aber gleichwohl mit Olaf Blaschke feststellen können, dass das konfessionelle Moment im öffentlichen Leben spätestens seit den 1830er Jahren an Bedeutung gewann; in den Beiträgen dieses Bandes wird das am sächsischen Beispiel u. a. im Kontext der religiösen Festkultur und der in Sachsen sich am Ge47

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49

50

Vgl. u. a. Hersche, Peter, Der Spätjansenismus in Österreich, Wien 1977; Cottret, Bernard/Cottret, Monique/Michel, Marie-José (Hrsg.), Jansénisme et puritanisme, Paris 2002; Hinrichs, Carl, Preußentum und Pietismus. Der Pietismus in BrandenburgPreußen als religiös-soziale Reformbewegung, Göttingen 1971; Brecht, Martin/Deppermann, Klaus/Lehmann, Hartmut/Gäbler, Ulrich (Hrsg.), Geschichte des Pietismus, 4 Bde., Göttingen 1993–2004; Jung, Martin H., Pietismus, Frankfurt am Main 2005; Wallmann, Johannes, Der Pietismus, Göttingen 2005. Zu Herrnhut vgl. u. a. Zimmerling, Peter, Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf und die Herrnhuter Brüdergemeine. Geschichte, Spiritualität und Theologie, Holzgerlingen 1999; Mettele, Gisela, Weltbürgertum oder Gottesreich. Die Herrnhuter Brüdergemeine als globale Gemeinschaft 1727–1857, Göttingen 2009; Meyer, Dietrich, Zinzendorf und die Herrnhuter Brüdergemeine, Göttingen 2009. Im Rahmen des hier zur Rede stehenden Teilprojekts G des Sonderforschungsbereichs 804 stehen folgende Dissertationen vor dem Abschluss: Bannert, Lutz, Religiöse Prägung und Reformhandeln in der Spätaufklärung. Konzeption, Praxis und Folgen des sächsischen Rétablissements 1762–1806; Sachse, Marcus, Staatsreform in der zweiten Generation? Peter Karl Wilhelm von Hohenthal und seine Vorstellungen vom „Allgemeinen Besten“ zwischen Rétablissement und frühkonstitutioneller Verfassung. Vgl. auch Bannert, Lutz, Religiöse Prägungen und Reformhandeln in der Spätaufklärung. Neue Untersuchungen zum sächsischen Rétablissement (1762–1806), in: Neues Lausitzisches Magazin, Neue Folge 14 (2011), S. 101–110. Vgl. Kretschmann/Pahl, Ein „Zweites Konfessionelles Zeitalter“?, S. 376. Vgl. auch Frey, Manuel, Toleranz und Selektion. Konfessionelle Signaturen zwischen 1770 und 1830, in: Blaschke, Konfessionen im Konflikt, S. 117.

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gensatz von katholischer Hofreligion und lutherischer Bevölkerung entzündenden Konfessionskonflikte verdeutlicht. Zu diskutieren wird dabei auch sein, woran es lag, dass es zu einer gewissen Renaissance des Konfessionellen als Inklusions- und Exklusionsmechanismus kam und inwiefern dieser Konfessionalismus im 19. Jahrhundert eine neue Qualität im Vergleich zum 18. Jahrhundert angenommen hat. Diese Frage bleibt nämlich – sieht man vom oben angesprochenen Generationenwechsel der 1830er Jahre ab – im Rahmen der Großthese vom zweiten konfessionellen Zeitalter weitgehend unbeantwortet. Erst auf die diesbezügliche Kritik von Anthony Steinhoff51 reichte Blaschke Gründe für die „neuartige konfessionelle Zerklüftung in Deutschland“ nach.52 Von den zwischenzeitlich in der Literatur diskutierten Argumenten – die Bandbreite reicht hier vom Orientierungsbedürfnis und der Restaurationsmentalität der auf den Wiener Kongress folgenden Ära bis zur „neu ausgebildeten Priesterkohorte“53 der 1830er Jahre – scheinen die Hinweise auf die neuen Verhältnisse von Staat und Kirche als Resultat der postrevolutionären bzw. napoleonischen Ära und der von ihr losgetretenen territorialen Revolution besonders relevant. Die im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation weithin gegebene Identität von Staats- und Konfessionsgrenze gehörte der Vergangenheit an. Vielmehr mussten – man denke an die protestantischen neubayerischen und die katholischen altbayerischen Gebiete, man denke an das protestantische Preußen und seine katholische Rheinprovinz – historische Regionen mit unterschiedlichen konfessionskulturellen Prägungen und Traditionen unter dem Dach eines Staates homogenisiert werden.54 Selbst in Ländern wie Sachsen, wo sich mangels territorialer Zugewinne diese Integrationsaufgabe nicht stellte, erfolgte im Frieden von Posen 1806 die offizielle Tolerierung des katholischen Bekenntnisses im Mutterland der lutherischen Reformation.55 Unter dem Druck der Ereignisse und vorbereitet zweifelsohne durch die Toleranzdiskussion des 18. Jahrhunderts, setzte der büro51

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55

Vgl. Steinhoff, Zweites konfessionelles Zeitalter, S. 559, mit dem kritischen Einwand, Blaschke konzentriere „sich zu sehr auf den Nachweis konfessioneller Faktoren in der Moderne [...] Eine überzeugende Erklärung für das Entstehen des zweiten konfessionellen Zeitalters und die Besonderheiten seiner Entwicklung fehlt dabei aber.“ Vgl. Blaschke, Inkubationszeit, S. 194–196. Ebd., S. 196. Zur Klerusbildung im 19. Jahrhundert vgl. für das katholische Deutschland Gatz, Erwin (Hrsg.), Priesterausbildungsstätten der deutschsprachigen Länder zwischen Aufklärung und Zweitem Vatikanischen Konzil, Freiburg i. Br. 1994; Ders., Geschichte des kirchlichen Lebens in den deutschsprachigen Ländern seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, Bd. 4: Der Diözesanklerus, Freiburg i. Br. 1995. Für den Protestantismus vgl. Sparn, Walter/Schorn-Schütte, Luise (Hrsg.), Protestantische Pfarrer. Zur sozialen und politischen Rolle einer bürgerlichen Gruppe in der deutschen Gesellschaft des 18. bis 20. Jahrhunderts, Stuttgart 1997, S. 1–35. Zu den historischen Abläufen im Überblick Müller, Winfried, Die Säkularisation im links- und rechtsrheinischen Deutschland 1802/03, in: Gatz, Erwin (Hrsg.), Geschichte des kirchlichen Lebens in den deutschsprachigen Ländern seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, Bd. 6: Die Kirchenfinanzen, Freiburg i. Br. 2000, S. 49–81. Vgl. Müller, Winfried, Zwischen Stagnation und Modernität: Sachsens Weg zur Verfassung von 1831, in: Schmid, Alois (Hrsg.), Die bayerische Konstitution von 1808. Entstehung – Zielsetzung – Europäisches Umfeld, München 2008, S. 179–209.

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kratische Staat des frühen 19. Jahrhunderts auf diese Weise eine binnenstaatliche Interkonfessionalität durch. Konfessionsdifferenz und Konfessionskonkurrenz waren also kein interterritoriales Problem mehr, sondern wurden vom zwischenstaatlichen zum Binnenproblem; die Abschiebung Anderskonfessioneller, wie sie nach 1732 mit dem Exodus der Salzburger nach Ostpreußen noch praktiziert worden war, schied längst als Lösungsvariante aus. Diese Binnenterritorialität des Konfessionsproblems ist gleichzeitig allerdings noch nicht so zu verstehen, dass es innerhalb der einzelnen Länder bereits zu einer Verwischung der Konfessionsgrenzen kam. Die konfessionelle Homogenität einzelner Landesteile – etwa die der katholischen Rheinprovinz im preußischen Staat, die katholische Prägung Altbayerns und die evangelische Blockbildung in den neubayerischen Gebieten Schwabens und Frankens – blieb noch sehr lange erhalten; im Grunde brachte hier erst der Zustrom der Heimatvertriebenen und Flüchtlinge nach dem Zweiten Weltkrieg eine Applanierung der Konfessionslandschaften. Gleichwohl: die Tatsache, dass sich seit dem Ende des Alten Reiches konfessionell eindeutig geprägte und zuvor politisch autonome Regionen unter dem Dach eines konfessionell pluralen Staates arrangieren, dass sich die Kirchen in Staaten orientieren und behaupten mussten, die nicht mehr nur auf eine Konfession festgelegt waren, das dürfte im 19. Jahrhundert entscheidend zu einer Neuakzentuierung des Konfessionalismus beigetragen haben – zumal dann, wenn die Staatsspitze im Verdacht einer Geringschätzung der von ihrem Bekenntnis abweichenden oder in der Minderheit befindlichen Konfessionskultur stand bzw. der Staat einer Konfession mangelnde Integrationsbereitschaft und Separatismus unterstellte. Die Konflikte des preußischen Staates mit den Katholiken der Rheinprovinz in der Mischehenfrage oder die katholische Benachteiligungs- und Inferioritätsdebatte56 im Kaiserreich sprechen hier eine ebenso deutliche Sprache wie umgekehrt etwa das Bemühen Bayerns, durch eine neuartige, Fürst und Vaterland in den Mittelpunkt stellende patriotische Festkultur konfessionsüberwölbende Integrationsangebote und Homogenisierungsoptionen zu unterbreiten.57 Dies alles bedenkend, ist die sog. zweite Konfessionalisierung nicht nur als Differenz zwischen den Konfessionen zu verstehen, sondern als Konflikt zwischen dem Staat und den in den Kirchen institutionalisierten Konfessionen, die ihre Identität und ihre Position im Staat neu zu bestimmen suchten.58 Dies scheint der Kern der zweiten Konfessionalisierung zu sein, nicht eine Neuerfindung von Religion, nachdem diese in einer Zwischenphase ihre Prägekraft eingebüßt haben soll. 56 57

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Vgl. Baumeister, Martin, Parität und katholische Inferiorität. Untersuchungen zur Stellung des Katholizismus im Deutschen Kaiserreich, Paderborn 1987. Vgl. Mergen, Simone, Monarchiejubiläen im 19. Jahrhundert. Die Entdeckung des historischen Jubiläums für den monarchischen Kult in Sachsen und Bayern, Leipzig 2005; Manfred Hanisch, Für Fürst und Vaterland. Legitimitätsstiftung in Bayern zwischen Revolution 1848 und deutscher Einheit, München 1991. Vgl. hierzu u. a. Geyer, Michael/Lehmann, Hartmut (Hrsg.), Religion und Nation/Nation und Religion. Beiträge zu einer unbewältigten Geschichte, Göttingen 2004; Altermatt, Urs/Metzger, Franziska (Hrsg.), Region und Nation. Katholizismus im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2007.

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Hof und Konfession Josef Matzerath

„Karneval, Kavalierstour, Kirmes, Kleidung, Koadjutorwahl, König […]“. Im Sachindex von Alois Winterlings einflussreicher Untersuchung über den Hof der Kurfürsten von Köln kommen die Stichworte „Katholizismus“ und „Konfession“ nicht vor.1 Auch die Suche nach „evangelisch“, „protestantisch“, „lutherisch“ oder „reformiert“ bleibt ohne Ergebnis. Es gibt im Buch auch kein Kapitel, in dem das Thema Konfession behandelt wird, obwohl es doch um einen geistlichen Hof geht. In einem Aufsatz, der fast anderthalb Jahrzehnte nach seinem Buch über den Hof der Kurfürsten von Köln erschienen ist, hat Winterling beklagt, dass es in der Erforschung der frühneuzeitlichen Höfe noch einige Desiderata gebe.2 Dazu rechnete er auch die „Bedeutung der Religion für das spezifische fürstliche Selbstverständnis und für die Gestaltung des Hoflebens“. Da die christliche Religion der europäischen Herrscherhäuser und ihrer Höfe sich im 18. und 19. Jahrhundert immer im Rahmen katholischer, evangelischer oder orthodoxer Konfession vollzog, lässt sich Winterlings Defizitanzeige zur Religion auch als Feststellung lesen, dass die Rolle der Konfession für den Hof noch ungeklärt ist. Ganz ähnlich fällt der Befund aus, wenn man im einschlägigen Band der Enzyklopädie Deutscher Geschichte nach dem Begriff „Konfession“ sucht. Rainer A. Müller hat in seinem Buch „Der Fürstenhof in der Frühen Neuzeit“ keine Kapitel über „Konfession und Hof“. Immerhin findet sich bei Müller ein erster Hinweis auf die Nähe von kirchlicher und höfischer Praxis. Höfische Paraden und Einzüge besaßen nach Müller einen „sakralen Charakter, […] [der] weit über das Maß würdevoller Selbstdarstellung und angemessener Festlichkeit“ hinausging.3 Müller sieht verborgene Bezüge des höfischen und kirchlichen Zeremoniells. Solche latenten Zusammenhänge hätten im Interesse der Fürsten „durchaus erwünschte Assoziationen zu biblischen Gegebenheiten“ erzeugt. Die „Grenzen zwischen säkularem Anlaß und religiöser Überhöhung [seien daher] fließend“ gewesen. Frühneuzeitliche Fürsten hätten „Religion und Glauben zum Zweck persönlichen und dynastischen Vorteils“ instrumentalisiert. Damit sei ihnen gelungen, „einen quasi sakrosankten Raum [zu schaffen], in dem Kritik als Blasphemie gegolten hätte“. Müller sieht also eine Parallelität zwischen höfischer und kirchlicher Welt. Dennoch ist damit noch nichts zur Bedeutung von Konfession am Hof gesagt. Im Unterkapitel „Typologisierungs1 2 3

Winterling, Alois, Der Hof der Kurfürsten von Köln 1688–1794. Eine Fallstudie zur Bedeutung „absolutistischer“ Hofhaltung, Bonn 1986. Winterling, Alois, Der Fürstenhof in der Frühen Neuzeit. Forschungsprobleme und theoretische Konzeptionen, in: Jacobsen, Roswitha (Hrsg.), Residenzkultur in Thüringen vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, Jena 1999, S. 41. Müller, Rainer A., Der Fürstenhof in der Frühen Neuzeit, München 1995, S. 57.

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varianten“ allerdings kommt Müller auf die Bedeutung der Konfession für die frühneuzeitlichen Höfe zu sprechen.4 Er erläutert hier, die „ältere und methodisch weniger streng ausgerichtete Historiographie stellte für mögliche Hof-Typisierungen nur wenige Parameter zur Verfügung“. Man habe die 300 bis 350 deutschen Höfe „geographisch in ‚norddeutsch’ und ‚süddeutsch’“ unterschieden oder auch in „,aufgeklärte’ oder ‚barocke’“ oder „nach ihren konfessionellen Ausrichtungen in ‚protestantische’ und ‚katholische’“. Müllers Kommentar zu diesen Interpretationsansätzen lautet: „Die Dichotomie war in jedem Fall einfach, methodisch absolut ungefährlich, aber auch von begrenzter Aussagekraft, da die eigentlichen Aspekte dabei nicht angesprochen wurden.“5 Fokussiert man diese grundlegende Ansicht auf das Problem „Hof und Konfession“, geht es nach Müllers Ansicht am Kern der Sache vorbei, die Höfe nach ihrer konfessionellen Ausrichtung zu klassifizieren. Auch diese Stellungnahme macht daher klar, dass die neuere Hofforschung sich seit Norbert Elias’ bahnbrechender Untersuchung zur höfischen Gesellschaft kaum mit dem Thema Hof und Konfession befasst hat.6 Müller verweist lediglich darauf, dass Rudolf Vierhaus der Konfession eine Bedeutung für Fürst und Hof zugesprochen habe. Vierhaus konstatiert diese Bedeutung der Konfession allerdings nur für die Reformation und Gegenreformation.7 In beiden Fällen gerierten sich seiner Ansicht nach die Fürsten als „Wächter und Wahrer des Allgemeinwohls“ und unterdrückten politischen Widerstand, der ebenfalls religiös artikuliert auftrat. Nach dem Dreißigjährigen Krieg hätten sich die Fürsten aber vom Konfessionszwang befreit.8 Denn im Gegensatz zu ihren alten Opponenten, dem Adel und den Städten, seien nach dem Krieg die Fürsten als einzige und eben konkurrenzlos aufgeblüht. Ihre Regierung habe sich nun auf Armee und Hof gestützt. Die Konfession, meint Vierhaus, hatte an diesem Punkt der Entwicklung ihren Dienst bereits getan und habe daher vernachlässigt werden können.9 Für die Zeit, in der der Dresdner Hof auch die polnische Königskrone zu repräsentieren hatte, gilt nach Vierhaus: Der Hof „diente der Darstellung des Anspruchs auf eine zentraleuropäische Machtstellung, war kosmopolitisch und interkonfessionell. Verschwenderische Bautätigkeit, der Ankauf von Gemälden, die Entfaltung eines vielfältigen Opern- und Theaterlebens, glänzende 4 5 6

7 8 9

Ebd., S. 99. Ebd., S. 99. Müller verweist an dieser Stelle ausdrücklich auf Vierhaus, Rudolf, Höfe und Höfische Gesellschaft in Deutschland im 17. und 18. Jahrhundert, in: Bohnen, Klaus/Bauer, Conny (Hrsg.), Text und Kontext, Kopenhagen/München 1981, S. 36–56. Im Kapitel über Heinrich IV. von Frankreich geht Elias darauf ein, dass Franz I. einen Teil des Adels mit Kirchengut ausstattete und so einen Gegensatz zwischen Klerikern und Adel herbeiführte. Vgl. Elias, Norbert, Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie, 4. Aufl., Frankfurt am Main 1989, S. 250. Elias verweist auch auf Heinrich VIII. von England. (Vgl. ebd.) Aber letztlich bleibt das alles in der Vorgeschichte zur Analyse der höfischen Gesellschaft, deren Muster Elias bei Ludwig XIV. sieht. Vgl. Vierhaus, Höfe und Höfische Gesellschaft, S. 41f. Ebd., S. 43. Vgl. ebd., S. 45.

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Hoffeste und Hofjagden entsprachen dem Geschmack des ebenso prunkliebenden wie unmoralischen Herrschers; zugleich aber waren sie ein Mittel den protestantisch gebliebenen sächsischen Adel zu beeindrucken und fremde Besucher zu überwältigen.“ Letztlich sieht Vierhaus in diesen konfessionellen Aspekten aber nur nebensächliche Nuancierungen. Denn die tragende Rolle der Konfession habe bereits im 17. Jahrhundert aufgehört. Aus einer solchen Perspektive erscheint die Frage nach religiöser Pluralisierung an den Höfen des 18. und 19. Jahrhunderts anachronistisch. Zudem sieht Vierhaus mit der Aufklärung im späten 18. Jahrhundert einen Bedeutungsverlust der Höfe heraufdämmern, der es eigentlich obsolet macht, noch viele Gedanken an die Fürsten und ihre Höfe zu verschwenden.10 Justiz und Verwaltung entwuchsen nach dieser historiographischen Lesart zunehmend der Kontrolle des Landesherrn. Sie wurden zu eigenständigen Akteuren, die das gesellschaftliche Leben weit mehr bestimmten als die Höfe. Diese Denkfigur einer zunehmend bürokratischen und immer rationaleren Gesellschaft liegt übrigens vielen historiographischen Erklärungsansätzen zum Hof zugrunde. Man kann dieses Argument etwa von Otto Brunner über Elisabeth Fehrenbach und Hans-Ulrich Wehler bis zu Monika Wienfort und Volker Bauer aufzeigen.11 Volker Bauer hat 1993 eine beeindruckende Typologie für deutsche Höfe des 17. und 18. Jahrhundert entwickelt. Das 19. Jahrhundert spart er deshalb aus, weil – nach seiner Ansicht – seit der Mitte des 18. Jahrhundert das Herrscherbild säkularisiert worden sei. Der ‚entzauberte’ Monarch sei nun „als ‚Mensch’ wahrgenommen“ worden. Er habe „daher seine soziale und politische Stellung mit dem Hinweis auf seine Leistung legitimieren [müssen]. Der Maßstab der Effektivität war“, so argumentiert Bauer, „nur schwer kompatibel mit den Werten der höfischen Welt.“12 Der Hof verlor nach Bauer die Funktion, das „herrscherliche Gottesgnadentum“ symbolisch darzustellen.13 Er mutierte „vom Schauplatz des Herrscherkultes zur schlichten Privatsphäre der Fürsten, die seiner allenfalls noch als Erholungsraum bedurfte“.14 Aus dieser Sicht wird der Hof in der Moderne so etwas wie die private Villa eines reichen und mächtigen Mannes, der seinem Personal altertümliche Livreen und antiquierte Titel gibt. Bauer glaubt, die Französische Revolution und die napoleonische Ära hätten den politischen und kulturellen Einfluss der Höfe auch in den deutschen

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Vgl. ebd., S. 53. Vgl. Brunner, Otto, Vom Gottesgnadentum zum monarchischen Prinzip. Der Weg der europäischen Monarchie seit dem hohen Mittelalter, in: Hofmann, Hanns Hubert (Hrsg.), Die Entstehung des modernen souveränen Staates, Köln 1967, S. 115–136; Fehrenbach, Elisabeth, Vom Ancien Régime zum Wiener Kongreß, 2. Aufl., München 1986; Wehler, Hans-Ulrich, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 1, München 1987; Wienfort, Monika, Monarchie in der bürgerlichen Gesellschaft, Göttingen 1993; Bauer, Volker, Die höfische Gesellschaft in Deutschland von der Mitte des 17. bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts, Tübingen 1993. Ebd., S. 102f. Ebd., S. 103. Ebd.

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Territorien beseitigt.15 Die Strahlkraft, die Fürst und Hof nach 1750 noch auf die Gesellschaft ausgeübt hätten, sei allenfalls noch ein eigentlich überholter Nachglanz der ständischen Gesellschaft gewesen. In diesem Sinne habe der sächsische Hof noch „bis 1827 [d. h. bis zum Tode des Kurfürsten Friedrich Augusts I. – Anm. d. Verf.] in purem Rokoko weiterexistiert“. Das sei aber eine „belächelte Ausnahmestellung“ gewesen, die der heutige Historiker als Anachronismus behandeln könne.16 Es sei doch eben die allgemeine Entwicklung, dass „seit den 1750er Jahren die Daseinsberechtigung der Höfe zunehmend prekär geworden“ sei.17 Aus der Perspektive der traditionellen sächsischen Landesgeschichtsforschung fügt sich nahtlos der Befund ein, dass Fürsten wie Friedrich August I. sich auf ihre Familie zurückzogen und lieber im Moritzburger Fasanenschlösschen als mit großem Aufwand in Pillnitz oder im Dresdner Stadtschloss lebten. 18 Aus Bauers Sicht verloren solche Fürsten gerade deshalb an Legitimation. Denn sie verzichteten auf „charismatisierende Techniken“, die die frühneuzeitlichen Höfe für die Fürsten bereitstellten. Die Dynastien halfen auf diese Weise selbst mit, „monarchische Herrschaft und höfische Sphäre so weit zu ‚entzaubern’, bis von ihrer sakralen Qualität kaum etwas übrig blieb“.19 Die Fürsten hatten nach Bauers Überzeugung aber kaum eine andere Wahl, weil die gesamtgesellschaftliche Entwicklung die bisherige höfische Praxis diskreditiert habe. Niemand habe den alten Zauber der Höfe mehr ernst genommen. Denn einerseits seien sie von der staatlichen Bürokratie als Machtzentrale überflügelt worden. Für noch bedeutsamer hält Bauer aber den Umbruch der gesamten Gesellschaft. Der Übergang von der ständischen zur marktbedingten Klassengesellschaft habe die Existenzberechtigung der Höfe überhaupt beseitigt.20 Wenn man so argumentiert, welche Funktion sollte nach diesem Epochenwechsel die Konfession eines Hofes noch haben? Die neueste Forschung steht der Rolle der deutschen Höfe im 19. Jahrhundert nicht mehr so skeptisch gegenüber. Wesentlich vorsichtiger gegenüber den Auswirkungen des Übergangs von der Frühen Neuzeit zur Moderne äußert sich Johannes Paulmann in seiner Studie zu den Monarchenbegegnungen zwischen dem Ancien Régime und dem Ersten Weltkrieg. Er glaubt, dass der „Ausbau bürokratischer Anstaltsstaaten mit Vertretungskörperschaften“ zwar „neue nationale Identifikationsangeboten“ hervorbrachte, die aber die „dynastisch-monarchische Grundlage der Staaten“ nicht komplett abgelöst, sondern nur ergänzt hätten.21 Die Höfe seien daher im 19. Jahrhundert weder als politische Institutionen komplett entwertet wor15 16 17 18 19 20 21

Vgl. ebd., S. 106. Bauer verweist hier allgemein auf Fehrenbach, Vom Ancien Régime zum Wiener Kongreß. Vgl. Bauer, Die höfische Gesellschaft, S. 106. Vgl. ebd., S. 107. Vgl. Blaschke, Karlheinz, Der Fürstenzug zu Dresden, Leipzig/Jena/Berlin 1991, S. 197. Vgl. Bauer, Die höfische Gesellschaft, S. 107. Vgl. ebd., S. 106, Anm. 163 verweist auf Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 1, S. 363–365. Paulmann, Johannes, Pomp und Politik. Monarchenbegegnungen in Europa zwischen Ancien Régime und Erstem Weltkrieg, Paderborn/München/Wien u. a. 2000, S. 213.

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den, noch habe das höfische Zeremoniell seine herrschaftskonstituierende Wirkung eingebüßt.22 Dennoch bleibt bei Paulmann der konfessionelle Aspekt der Höfe und Dynastien in der Moderne letztlich undiskutiert. Das dürfte sich aber – wie vermutlich auch bei Monika Wienfort und Martin Kohlrausch23 – weithin aus dem spezifischen thematischen Zugriff der Studie ergeben haben. Auch in der historiographischen Erforschung des höfischen Zeremoniells hat sich inzwischen die Fixiertheit auf die Vormoderne gelöst. Bernhard Jahn, Thomas Rahn und Claudia Schnitzer definieren den Übergang von der Frühen Neuzeit zur Moderne lediglich als eine erste von drei Krisen der zeremoniellen Herrscherinszenierung. Die zweite Krise datieren die Autoren auf das Ende des Ersten Weltkrieges und die dritte (zumindest für das englische Königshaus) in die 1990er Jahre.24 Aus der Perspektive der Adelsforschung hat Silke Marburg darauf hingewiesen, dass Höfe in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts für die Gruppenkonstitution des europäischen Hochadels eine zentrale Funktion besaßen.25 Wenn aber Fürst, Dynastie und Hof in der Moderne nicht obsolet geworden sind, erscheint es auch nicht mehr müßig, nach deren Konfession zu fragen. Es bedarf allerdings einer konzeptionellen Neuausrichtung, um das Forschungsfeld für die Frage nach der Rolle von Höfen im 19. Jahrhundert zu öffnen. Die Modernisierungstheorie, wie sie Bauer mit Rückgriff auf die klassische Gesellschaftsgeschichte voraussetzt, erweist sich offensichtlich als wenig hilfreich. Wenn Fürstenhöfe einer magisch-irrationalen Vormoderne zugerechnet werden und die Rationalität der Moderne, dann sind sie allenfalls anachronistische Überhänge. Es kann in der Logik einer solchen Argumentation allenfalls eine Frage der Zeit sein, bis die Höfe nach dem fundamentalen Epochenübergang zur Moderne verschwinden werden. Gegen diese Grundannahme der Modernisierungstheoretiker spricht schon prima vista der Befund, dass eine Reihe von Höfen sich inzwischen seit mehr als 200 Jahren in der Moderne behauptet hat.26 Das gilt für Großbritannien, die Niederlande, Belgien und Luxemburg. Es gilt ebenso für Norwegen, Schweden und Dänemark. In Spanien wurde im Jahre 1978 die Monarchie sogar wieder eingeführt, als das Land sich den westlichen Demokratien und der späteren Europäischen Union annäher22

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26

Vgl. ebd. Beachtenswert erscheint auch die vorsichtige Begrifflichkeit Paulmanns für den Epochenübergang. Er spricht für den Übergang von der Frühen Neuzeit zur Moderne von der „Zeit des Übergangs von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft“. Ebd., S. 250. Zu Monika Wienfort siehe Anm. 11; Kohlrausch, Martin, Der Monarch im Skandal. Die Logik der Massenmedien und die Transformation der wilhelminischen Monarchie, Berlin 2005. Vgl. Jahn, Bernhard/Rahn, Thomas/Schnitzer, Claudia, Einleitung, in: Dies. (Hrsg.), Zeremoniell in der Krise. Störung und Nostalgie, S. 10–14. Vgl. Marburg, Silke, Europäischer Hochadel. König Johann von Sachsen (1801–1873) und die Binnenkommunikation einer Sozialformation, Berlin 2008; vgl. insbes. im Resümee die Ausführungen zu Hof als semantischer Raum für standesgebundene Ehrzuweisungen sowohl für den hohen als auch den niederen Adel. Ebd., S. 300 und 302. Zur Persistenz der Höfe in der Moderne vgl. auch Paulmann, Pomp und Politik, S. 205–209.

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te. Um die Konfessionalität der europäischen Höfe im 19. und 20. Jahrhundert zu fokussieren, ist es daher ratsam, den Epochenwechsel von der Frühen Neuzeit zur Moderne nicht als Übergang vom Irrationalen zum Rationalen zu konzipieren. Erforderlich ist ein Erklärungsmodell, das das Potenzial bietet, Fürsten und Höfe auch als Bestandteile der modernen Welt zu interpretieren. Damit eröffnet sich dann auch die Chance, sinnvoll nach der Rolle der Konfession an modernen Höfen zu fragen. Man könnte daher Rainer A. Müllers Ausführungen zur Typologisierung folgendermaßen ergänzen: Die neuere Historiographie stellt zwar methodisch entwickelte Hoftypisierungen zur Verfügung. Sie hat aber bislang keine Parameter entwickelt, um das Problem „Hof und Konfession“ in der Moderne adäquat zu erfassen. Die folgenden Überlegungen skizzieren daher anhand des Kurfürstentums bzw. Königreiches Sachsen einen Erklärungsansatz, der es ermöglichen soll, den Wandel von der Frühen Neuzeit bis ins 20. Jahrhundert zu analysieren.

I. Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation setzte sich in der Frühen Neuzeit aus Territorien zusammen, deren Gesellschaften wiederum aus verschiedenen Teilordnungen bestanden. Innerhalb eines Territoriums galt beispielsweise in der Stadt ein anderer Modus des Zusammenlebens als auf dem Land. Alle Teilordnungen wurden aber zumindest idealtypisch durch den Fürsten und durch eine einheitliche Konfession wie durch eine Klammer zusammengehalten. Die gesellschaftlichen Gegebenheiten galten als gottgewollt und wurden nach einer gemeinsamen konfessionellen Lesart des Christentums ausgelegt. Beim Übergang in die Moderne löste sich dieser feste Kanon auf. Es gab kein allgemeingültiges konfessionelles Prinzip mehr, nach dem die gesamte Gesellschaft eingegrenzt werden sollte. Stattdessen wurde nun Vielfalt innerhalb der Gesellschaft legitim. Der Schritt in die Moderne ist aus dieser Perspektive nicht mehr die Entwicklung von der Irrationalität zur Rationalität, sondern bedeutete für die Untertanen eines Fürsten prinzipiell den Wandel von der erzwungenen Einheit zur ermöglichten Pluralität des Glaubensbekenntnisses. In der konkreten historischen Entwicklung konnte dieser Wandel der Gesellschaft durchaus auch von außen oktroyiert sein. Denn in den sächsischen Erblanden kam beispielsweise die freie Konfessionsausübung für Katholiken und Reformierte nur auf Druck Napoleons zustande. In der Folge arrangierte sich die lutherische Bevölkerung des Königreiches wohl nur zögerlich mit der grundsätzlich gleichberechtigten konfessionellen Koexistenz.27 Die Veränderung ließ sich aber auch während der restaurativen Epoche des pietistisch inspirierten Ministers Detlev Graf von Einsiedel nicht zurücknehmen. Eine weitgehend komplette Verklammerung der Gesellschaften bestand selbst während der Frühen Neuzeit nicht. Die Länder der böhmischen Krone vor der Schlacht am Weißen Berg sind dazu nur das prominenteste Beispiel. Dennoch waren 27

Vgl. hierzu den Beitrag von Silke Marburg in diesem Band.

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im konfessionellen Zeitalter viele Fürsten bemüht, die Kraft der Konfessionen für ihre eigene Macht zu nutzen. Seit dem Ende des Dreißigjährigen Krieges entstanden dann selbst in konfessionell geschlossenen Territorien wie den kursächsischen Erblanden erste Bereiche, die von der Vereinheitlichung ausgenommen waren. Die Fürsten unterwarfen sich selbst und ihre Familien nun nicht mehr der Forderung, die Konfession ihres Landes zu teilen,28 und an ihren Höfen ließen sie ebenfalls Personen mit anderer Konfession zu.29 Die Konversion Augusts des Starken etwa gefiel zwar vielen seiner evangelisch-lutherischen Untertanen nicht,30 sie war aber reichsrechtlich unbedenklich. Erst beim Übergang von der Frühen Neuzeit in die Moderne wurde dann auch den Untertanen gestattet, verschiedenen Konfessionen anzugehören. In Kursachsen war dies beispielsweise in napoleonischer Zeit so. Zunächst wurden 1807 die Katholiken und später 1811 auch die Reformierten mit den Lutheranern gleichgestellt.31 Die Position eines Fürsten veränderte sich auch durch diesen Wandel noch einmal grundsätzlich. Der Herrscher stand nun, gleichgültig welcher Konfession er selbst angehörte, einem Spektrum von rechtlich gleichgestellten Konfessionen gegenüber. D. h. er konnte nicht mehr Partei für eine Konfession ergreifen, ohne den anderen gegenüber seine Rolle als neutraler Landesvater zu wahren. Für die katholischen Wettiner in Dresden muss das verfassungsrechtlich die Lage ein Stück weit entspannt haben. In der Praxis blieb die unterschiedliche Konfession von Fürstenhaus und Gros der Untertanen aber problematisch. Gerade in ohnehin angespannten Situationen 28

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Mit Bezug auf Sachsen vgl. hierzu Römer, Carl Heinrich von, Staatsrecht und Statistik des Churfürstentums Sachsen und der dabey befindlichen Lande, Halle 1787, „Zweite Hauptabtheilung, welche die persönlichen Eigenschaften, Rechte und Würden eines jedesmaligen Churfürsten von Sachsen in sich fasset“, S. 191f., § 16: „In Absicht der Regierungsfähigkeit haben die Churfürsten von Sachsen alles mit den übrigen weltlichen Churfürsten gemein. Sie müssen nämlich männlichen Geschlechts und weltlichen Standes, auch übrigens lehnsfähig seyn. Um die Regierung antreten zu können, wird von ihnen erfordert, daß sie das achtzehnte Jahr erreicht haben, wie wir solches im nächsten Abschnitt ausführen werden. Die persönliche Religion des Landesherrn hat aber übrigens keinen Einfluß auf die Chur= und Fürstenthümer des deutschen Reiches, und mithin ist es auch gar nicht nöthig, daß ein Landesfürst sich zu eben der Religion bekenne, welcher seine Unterthanen zugethan sind a). Dies bestätigte sich selbst durch das Beyspiel des regierenden Churhauses Sachsen, welches sich bereits seit dem Jahre 1697 zur katholischen Religion bekennet, obschon Sachsen an sich ein solches Land ist, in welchem die protestantische Religion ganz ohnstreitig die herrschende genennet werden muß.“ Vgl. hierzu Moser, Friedrich Carl von, Teutsches Hof=Recht, Frankfurt/Leipzig 1761. Im zweiten Kapitel: „Von den Rechten und Pflichten des Regenten bey Besetzung der Hof=Aemter und Bedienungen“ widmet sich Moser in den §§ 2 und 3 der Konfession. Vgl. Czok, Karl, August der Starke und Kursachsen, 3. Aufl., Leipzig 1990, S. 50. Vgl. hierzu Milhauser, Friedrich, Das Staatsrecht des Königreiches Sachsen mit Einschluß des Privatfürstenrechts und der völkerrechtlichen Verhältnisse, systematisch dargestellt, Leipzig 1839, S. 73, Anm. c: „Die Gleichstellung der Katholiken war eine Bedingung des Friedens v. Posen (Art. 5.) S. Mandat v. 16. Febr. 1807. III. C.C.A.I. p. 14. – Die der Reformierten erfolgte auf ständ[ischen] Antrag durch Mandat v. 18. März 1811. ib. P. 17.“

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konnte in der Konfessionalität der Zündfunke liegen, der ein Pulverfass zur Explosion brachte. Im Jahre 1830 etwa entzündete sich in Dresden ein Gewaltexzess an konfessionellen Empfindlichkeiten. Als am 25. Juni 1830 der 300. Jahrestag der Confessio Augustana begangen wurde, brachen in Leipzig und Dresden Unruhen aus. Es war bereits landesweit der Verdacht entstanden, dass der Staat auf Anweisung der Wettiner die Feierlichkeiten zur grundlegenden Deklaration des protestantischen Bekenntnisses hintertreibe.32 In Dresden reichten nichtige Anlässe hin, um einen Tumult zu entfachen. Als abends die Stadt illuminiert wurde und jeder sein Licht ins Fenster stellte, war das Dresdner Rathaus nicht erleuchtet. Das interpretierten die Dresdner als ein Symbol für die Distanz der Dynastie zum Reformationsfest. – Man erregte sich. In dieser Situation löste eine Kleinigkeit einen Tumult aus. Ein Kaufmann hatte in seinem Haus am Altmarkt ein Bild Luthers und Melanchthons ins Fenster gestellt. Als im Gebäude bei offenem Fenster ein Musiker einen Gassenhauer fidelte, glaubten die Menschen auf der Straße, mit dieser Melodie sollten die beiden Reformatoren verhöhnt werden. David August Taggesell, ein Dresdner Bürger, der damals Tagebuch führte, notierte: „Die Menge schüttete ihren Zorn durch Steinregen und andere Auslassungen aus und die Polizei konnte durch ihr Eingreifen nur die Erbitterung mehren, nicht sie beschwichtigen.“33 Abends rückte gar Militär in die Stadt ein, um weitere Ausschreitungen im Keim ersticken zu können. In der Folge blieb es auch ruhig.34 Dennoch, die Ereignisse machten klar, dass bei einem gespannten Verhältnis zur Obrigkeit konfessionelle Emotionen rasch zu einer Eskalation führen konnten. Ein 32 33

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Vgl. Matzerath, Josef, 1831. Die konstitutionelle Monarchie als Beginn der Moderne, in: Eigenwill, Reinhard (Hrsg.), Zäsuren sächsischer Geschichte, Beucha 2010, S. 153. Taggesell, David August, Tagebuch eines Dresdner Bürgers; oder Niederschreibung der Ereignisse eines jeden Tages, soweit solche vom Jahre 1806 bis 1851 für Dresden und dessen Bewohner von geschichtlichem, gewerblichem oder örtlichem Interesse waren, Dresden 1851, S. 533. Vgl. ebd. Vgl. auch die Schilderung der Dresdner Feier des 300-jährigen Jubiläums der Confessio Augustana durch Carl von Weber, Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden [im Folgenden: Sächs. HStA Dresden], 12801, Personennachlass Carl v. Weber (1808– 1879), Tagebuch, Bd. 1, Dresden den 27. Juni 1830: „Freitag d[en] 25n Juni war das eigentliche Fest: Ich trank meinen Brunnen, kam wie gewöhnlich halb 9 tod müde zurück und gieng daher erst nach  11 wieder aus, um die Kirchen zu besehen, die sämmtlich mit Kränzen und Guirlanden geschmückt waren. Große Prozessionen von Militair und Civil hatten früh in die Kirche stattgefunden. Abends war der Kreuzthurm und die Sophienkirche mit einem Kranz von Lampen schön illuminirt und ebenso viele Privathäußer. Ich sah es bis um 10 mit an u[nd] gieng zu Bette. Gestern früh erfuhr ich, daß um 12 Uhr ein ungeheuerer Tumult statt gefunden hat. Ein Kaufmann Berthold sagt man, hatte, wahrscheinlich betrunken, vor einem Hauße am Altmarkt, in dem die Bildniße Luthers u[nd] Melanchthons von Lampen umgeben waren, diese Seehunde oder dergl[eichen] genannt. Der Pöbel wird darüber wüthend u[nd] fällt über ihn und seine Begleiter her. Jener rettet sich in ein Hauß deßen Thüre man verschließt: der Pöbel will sie erbrechen u[nd] wirft da es nicht geht die Fenster ein. Die Menge wird größer, sie wächst bis auf viele 1000 an, um sie zu zerstreuen, hohlt man Militair, es wird obwohl verstärkt zurückgeworfen. Endlich rückt die ganze Garnison aus und nach vielen Prügeln von beiden Seiten, zerstreut sich die Menge gegen 4 Uhr.“

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Ausweg aus den Konfessionskonflikten bestand im 19. Jahrhundert darin, ein Nationalbewusstsein oder einen Landespatriotismus zu propagieren. Einem Monarchen, der auf das Vaterland setzte, konnte das Potenzial zuwachsen, die politisch-weltanschaulichen und die konfessionellen Unterschiede zu überwölben. In Sachsen blieb es trotz einer konstitutionellen Verfassung, die im Jahre 1831 in Kraft trat, problematisch für die Reputation des Fürstenhauses, in den Verdacht konfessioneller Voreingenommenheit zu kommen. Als in Leipzig am 12. August 1845 Soldaten der Garnison demonstrierende Bürger erschossen, war deren Protest durch die konfessionelle Ausrichtung des Prinzen Johann von Sachsen motiviert.35 Diese Eskalation der Gewalt zeigt daher ebenfalls, dass Teile der Öffentlichkeit in Sachsen trotz rechtlicher Gleichstellung von Lutheranern, Katholiken und Reformierten durchaus nicht im Sinne der Modernisierungstheorie rational, sondern sehr emotional reagierten, wenn es um die Konfession ging. Als Sachsens König Friedrich August  II. im selben Jahr 1845 einen Monat nach dem Leipziger Vorfall den sächsischen Landtag eröffnete, kam es während der Eröffnungsfeier im Dresdner Residenzschloss zu zwei Bekundungen des Unwillens. Zum einen geriet der König in seiner Ansprache bei seinen Ausführungen über Leipzig ins Stocken. Daraufhin unterbrach ihn aus den Reihen der Zuhörer für einen Augenblick ein „hörbarer Seufzer“.36 Und beim Auszug aus dem Saal brachten die Landtagsmitglieder dem Souverän das übliche „Vivat“ nur verspätet dar. Der Monarch hatte den Saal schon fast verlassen.37 Diese Episoden machen einerseits deutlich, dass auch im 19. Jahrhundert konfessionell grundierte Konflikte den Dresdner Hof erreichten. Zugleich wird durch die geschilderten Episoden aber schlaglichtartig sichtbar, dass es auch in der Moderne durchaus Symbole und Rituale gab, die dem Fürsten eine Aura verliehen. Sonst hätten die Zeitgenossen die Störung der zeremoniellen Erhabenheit ja gar nicht registrieren können. Es spricht daher vieles dafür, den Hof auch in der Moderne nicht nur als Privatbereich des Herrschers zu konzipieren. Der Hof blieb nämlich eine Bühne für zeremonielle Akte, die die Souveränität des Herrschers symbolisch herstellten. Die Heiligkeit des modernen Monarchen war zwar auch durch Gesetze geregelt. Sie

35 36 37

Vgl. hierzu die Aufsätze von Silke Marburg und Ulrich Rosseaux im vorliegenden Band. Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden, Mscr. Dresd. App 863: Friedrich Freiherr v. Friesen: Landtag 1845/46, Bl. 66. Vgl. ebd., Bl. 66. Zu einer weiteren politischen Demonstration kam es am 17. Juni 1846 im Dresdner Residenzschloss, als König Friedrich August II. anlässlich der Abschlussfeierlichkeiten des Landtages sämtliche Mitglieder der beiden Kammern an seine Tafel bat. Der Monarch und die beiden Kammerpräsidenten brachten bei solchen Gelegenheiten vom Oberhofmarschallamt vorausgeplanteToasts aus. Als König Friedrich August  II. einen Pokal Champagner erhob und sagte: „Auf des Landes Wohl und aller getreuen Stände“, blieben der Abgeordnete Hermann Joseph und die anderen liberalen Mitglieder des Parlaments zunächst sitzen und mussten erst von den Hoflakaien aufgefordert werden, sich zu erheben. Vgl. Sächs. HStA Dresden, Tagebuch Carl v. Weber, Dresden den 18. Juni 1846.

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stand in Baden, Bayern, Württemberg und Sachsen in der Verfassung.38 Die Erhabenheit des Fürsten wurde daher durch einen rationalen Akt der Gesetzgebung gesichert. Zugleich aber stand die Akzeptanz, die dem Gottesgnadentum eines Fürsten entgegengebracht wurde, mit dessen überkonfessioneller Position im Zusammenhang. Das deckten die Gesetze oder Verfassungen nicht ab. Es spielte aber trotzdem eine bedeutsame Rolle. Wenn nämlich in einer modernen Gesellschaft eine Vielzahl von Letztbegründungen legitimerweise nebeneinander existieren, muss die Position eines Monarchen auch vielfachen Ansprüchen genügen. Deshalb fügen sich in moderne Gesellschaften auch traditionale Sichtweisen auf den Fürst und seinen Hof ein. Sie wurden nicht als anachronistisch von neuen verdrängt, sondern zeitgemäß modifiziert. Zudem traten neue Sichtweisen zu den herkömmlichen hinzu. Es ist daher nicht sinnvoll, die Frage nach Hof und Konfession mit dem Beginn der Moderne enden zu lassen. Der Hof war nach 1800 keineswegs nur noch ein unzeitgemäßer Überhang einer abgelaufenen Epoche. Es lohnt sich vielmehr, den Blick noch einmal zu öffnen und nach der historischen Bedeutung von Konfession für Fürst und Hof zu fragen. Das kann hier natürlich nicht mit dem Anspruch auf Vollständigkeit geschehen. Es soll aber zumindest noch ein weiterer Aspekt des Themas aufgezeigt werden.

II. Für den sächsischen Hof ist das bekannteste frühneuzeitliche konfessionelle Ereignis die Konversion August des Starken zum Katholizismus. Der sächsisch-kurfürstliche Amtmann Kresse im erzgebirgischen Schwarzenberg soll dazu gesagt haben, „es wäre wohl besser gewesen, man hätte den König gleich im ersten Bad ersäuft, dann hätte er nicht katholisch werden können“.39 In (Bad) Tennstädt, das bis 1815 Teil des Thüringischen Kreises Kursachsens war, erklärte ein einfacher Mann, er werde dem „donnerischen König“ nicht einen Groschen Steuern mehr zahlen. Im heute oberlausitzischen Spremberg, das damals zum kursächsischen Amt Stolpen gehörte, schimpfte ein Musiker, August habe „das Land spoliiret [beraubt] und in Polen so viel geborgt, daß ihm das Land nicht mehr einen Hund schuldig sei“. Im vogtländischen Dorf Bergen predigte ein Pfarrer seiner Gemeinde sogar, der König sei, gleich nachdem er katholisch geworden sei, durch ein göttliches Strafgericht wie tot umgefallen. Volkes Stimme war landauf und landab alles andere als erfreut über die neue Konfession des Fürsten, und von der polnischen Krone erwartete man sich offenbar auch wenig Ersprießliches.

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Zur Heiligkeit der Person des Monarchen in den Verfassungen von Baden, Bayern, Württemberg und Sachsen vgl. Mayer, Otto, Das Staatsrecht des Königreiches Sachsen, Tübingen 1909, S. 67. Vgl. Czok, August der Starke, S. 50. Dort finden sich auch die nachfolgenden Zitate der Vox populi.

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Nicht allen Zeitgenossen erschien die Konversion August des Starken derart verwerflich. Der Frankfurter Privatgelehrte Johann Michael von Loen macht gar ein monarchiekritisches Bonmot darüber: „August, sagt man, hat die Religion verändert! Ich würde es zugeben, wann ich gewiß wüste, daß er zuvor eine gehabt hätte. Es ist bekannt, daß er von Jugend auf ein kleiner Freygeist war, der nicht mehr glaubte, als was viele unsrer Fürstenkinder insgemein zu glauben pflegen: nemlich daß ein GOtt im Himmel sey, sie aber, als Fürsten auf Erden, tun könnten, was sie wolten.“40 Dieselbe legere Haltung gegenüber der Konfession konstatierte Friedrich Carl von Moser auch allgemein für viele frühneuzeitliche Fürsten. In seinem „Teutschen Hof=Recht“, das im Jahre 1761 erschien, erklärte er: „Ordentlicher Weise ist ein Herr nicht gebunden bey Annehmung der Hof=Bedienten auf die Religion zu sehen, wozu sich der neu=anzunehmende bekennet“. Und weiter heißt es: „Die meisten protestantischen Fürsten dulden an ihren Höfen „Catholische, Lutheraner, Reformirte, ja, so gar, Leute […], die schlechterdings gar keine Religion haben wollen, und sich eine Ehre und Geschäft daraus machen, dises bey aller Gelegenheit an Tag zu legen.“41 Einige Fürsten verhielten sich aber wieder ganz anders, meint Moser. Sie wären zwar selbst nicht besonders religiös, stellten aber auch keinen Anhänger einer anderen Konfession ein. Moser mokiert sich darüber, dass diese Fürsten „ehender zu Fuß giengen, als sich von einem andern, dann ihrer Religion Heyducken tragen liessen, und lieber Hunger litten, als eine Speise zu sich nähmen, die ein Koch von einer fremden Kirche zubereitet hätte.“42 Dies erschien Moser aber schrullig. Denn im Großen und Ganzen sah er Höfe als einen Raum, in dem Konfession kaum eine Rolle spielte. Letztlich erforderte dies schon das Gesandtenwesen. Der Diplomat des habsburgischen Kaisers und des französischen Königs war auch im lutherischen Sachsen selbstverständlich katholisch. Beide pflegten in ihren Häusern den Kultus der Konfession, der ihre Fürsten angehörten.43 In Dresden war auch Anton Egon von Fürstenberg, der August den Starken von 1697 bis 1706 als Statthalter in Kursachsen 40

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Loen, Johann Michael von, Kleine Schriften, 1. Teil, Frankfurt am Main/Leipzig 1751, S. 188f. Vgl. auch Czok, Karl, August der Starke. Sein Verhältnis zum Absolutismus und zum sächsischen Adel, in: Sitzungsberichte der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Philologisch-historische Klasse, Bd. 131, Heft 3, S. 18f. Czok argumentiert, August der Starke sei „in Wirklichkeit weder Lutheraner noch Katholik gewesen“, weil er einerseits sowohl protestantische als auch katholische Mätressen gehabt habe und auf dem Gebiet der Kunst und Kultur Fähigkeiten und Leistungen geschätzt habe, gleichgültig, „ob sie nun Einheimische oder Ausländer, Lutheraner, Reformierte, Katholiken oder Juden erbracht“ hätten. Vgl. Moser, Teutsches Hof=Recht, S. 76, 78. Vgl. ebd., S. 76. Moser räumt allerdings ein, es sei weithin Usus, dass Hofbedienstete, die konvertieren und dadurch eine andere Konfession annehmen als ihr Fürst, in der Regel entlassen würden. (Ebd., § 3, S. 78). Vgl. hierzu: Marburg, Silke, Gesandte als Grenzgänger. Residenzstädtische Repräsentationskultur und die Konstruktion religiöser Exklaven unter Kurfürst Johann Georg II. von Sachsen, in: Roll, Christine/Pohle, Frank/Myrczek, Matthias (Hrsg.), Grenzen und Grenzüberschreitungen. Bilanz und Perspektiven der Frühneuzeitforschung, Köln/ Weimar/Wien 2010, S. 199–213.

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vertrat, katholisch.44 Die ebenfalls landfremden Hans Adam von Schöning, Jakob Heinrich Graf von Flemming und Christoph August Graf von Wackerbarth hingegen waren evangelisch.45 Der aus Dänemark stammende kursächsische Oberhofmarschall Woldemar Freiherr von Löwendal gehörte zu Lebzeiten Augusts des Starken der lutherischen Konfession an, konvertierte aber im Jahre 1743 zum Katholizismus.46 Als allgemeine Regel im 18. Jahrhundert gilt daher: Die Herrscher und ihre Höfe waren konfessionell weniger reglementiert als die Territorien, die von ihnen regiert wurden. Das galt erst recht in einem Land wie Sachsen, in dem die Dynastie eine andere Konfession hatte als der Adel und die übrigen Bewohner. Aber auch im 19. Jahrhundert blieb den sächsischen Königen daran gelegen, neben den evangelischen auch katholische Höflinge zu haben, allein schon um beim Kirchgang nicht gänzlich ohne Entourage zu sein. Auch die Ehefrauen der Wettiner brachten einen Teil ihres Hofstaates mit, der dann ohnehin zumeist aus katholischen Adeligen bestand.47 Das Gros der für Adelige standesgemäßen Positionen am Dresdner Hof war aber sowohl im 18. als auch im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert mit lutherischen sächsischen Adeligen besetzt. Auch unterhalb des sogenannten adeligen Dienstes arbeitete am Dresdner Hof in begrenztem Umfang katholisches Personal. Diese bekamen am ersten Osterfeiertag ein besonderes Präsent von einer Frühstückstafel der Herrscherfamilie, die mit geweihten Speisen eingedeckt worden war. Im Jahre 1899 beispielsweise beschenkte König Albert neben den Hofkaplänen und Hofpredigern auch einen Kammerdiener und eine Kammerdienerin, zwei Garderobieren, ein Stubenmädchen, eine Hofschneiderin, einen Kammerlakaien, einen Stubenheizer, einen Hoffourier, drei Schlossportiers, zwei Hoflakaien, zwei Heiducken, zwei Silberkammergehilfen, eine Conditorfrau, einen Hofgärtner, einen Obergärtner, drei Hausdiener, einen Kapelldiener und einen Hausmann, die allesamt katholisch waren.48 Um 1900 beschäftigte der Dresdner Hof allerdings rund 800 Personen.49 Während die Dresdner Hofgesellschaft seit 1694 einerseits die im Lande ansässigen lutherischen Adeligen und die oberen Chargen der Hofbehörden, die hohen Beamten der Zivilverwaltung sowie das Offizierskorps integrierte, andererseits aber auch katholische Adelige und Diener im persönlichen Umfeld der Fürsten und ihrer 44 45 46 47 48

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Vgl. auch Czok, Verhältnis zum Absolutismus, S. 25. Vgl. ebd., S. 16, 22f. Vgl. NDB, Bd. 15, S. 89. Zum Heiratskriterium der Konfession beim sächsischen König Johann vgl. grundlegend Marburg, Europäischer Hochadel, S. 279–284. Vgl. Sächs. HStA Dresden, OHMA, T  VI., Akte 127: Extraordinaria bei der Königlichen Hofwirthschaft im Jahre 1899, Bl. 47f.: „Geweihtes Frühstück am 1sten/. Osterfeiertag Sonntag, den 2 April 1899“, Bl. 49f.: „Vertheilung der geweihten Speisen Ostern 1899“. Vgl. Staatshandbuch für das Königreich Sachsen auf das Jahr 1900, Dresden o. J. Der hier angegebene Umfang des Dresdner Hofes enthält nicht die zirka 400 beim königlichen Theater angestellten Personen, die nicht im engeren Sinne der Hofhaltung zuzurechnen sind und deshalb ab 1905 im Staatshandbuch auch nicht mehr aufgeführt wurden.

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Familien zuließ, findet sich innerhalb des Herrscherhauses eine erstaunliche konfessionelle Geschlossenheit. Die Gründe dafür sind mehrschichtig. Zunächst eröffnete auf der dynastischen Ebene die Konversion August des Starken weit mehr als den Zugriff auf die polnische Krone. Es wurden geistliche Ämter erreichbar, die die katholische Kirche an Hochadelige vergab. Und es öffnete sich ein neuer Heiratskreis in die katholischen Dynastien Europas.50 Das betraf schon den einzigen legitimen Sohn August des Starken, den späteren August III. von Polen. Er konnte nach seinem Konfessionswechsel Maria Josepha, die Tochter des Kaisers Joseph I., heiraten. Diese Heirat bot sogar eine gewisse Chance auf die Kaiserkrone. Denn mit Kaiser Karl VI., dem Onkel Maria Josephas, erlosch das Haus Habsburg im Mannesstamm, und es war durchaus offen, ob sich dessen älteste Tochter Maria Theresia als Herrscherin durchsetzen würde.51 Noch effizienter waren die katholischen Heiraten in der nächsten Generation. Von den Töchtern Augusts  III. wurde eine Königin in Spanien. Maria Amalia von Sachsen ehelichte Karl  III. von Spanien. Eine andere Tochter, Maria Anna von Sachsen, heiratete Maximilian Joseph, Kurfürst von Bayern. Eine weitere Tochter, Maria Josepha von Sachsen, war die Gemahlin Ludwigs, des Dauphin von Frankreich. Der Sohn dieses Ehepaar bestieg als Ludwig XVI. den französischen Thron. Schließlich heiratete noch Maria von Sachsen, ebenfalls eine Tochter Augusts III. und Maria Josephas, ins Haus Savoyen ein und wurde die Gemahlin des Prinzen Carl von Savoyen-Caringan. Zwei weitere Töchter, Maria Christina und Maria Cunigunde von Sachsen, wurden Äbtissinnen in Remiremont bzw. in Thorn und Essen. Ihr Bruder Clemens brachte es sogar zum Erzbischof und Kurfürst von Trier. Der sächsische Thronfolger Friedrich Christian heiratete im Jahre 1747 eine wittelsbachische Prinzessin, Maria Antonia Walpurgis. Sie war eine Tochter des bayerischen Kurfürsten Karl Albrecht, der von 1742 bis 1745 als Karl VII. auch deutscher Kaiser war. Zwei Söhne Augusts III. von Polen, Franz Xaver und Carl, heirateten morganatisch. Auch in den nachfolgenden Generationen und bis zum Ende der Monarchie in Deutschland kamen die Ehepartner der Dresdner Wettiner aus dem katholischen Heiratskreis der europäischen Fürstenhäuser. Dies hatte nicht allein den Grund, dass das Fürstenhaus aus Überzeugung katholisch war. Es gab darüber hinaus noch zwei weitere Gründe für Heiraten innerhalb der eigenen Konfession: Einerseits kann man darin eine Unterordnung der einzelnen Mitglieder

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51

Zu den im Folgenden behandelten Eheschließungen der Dresdner Wettiner vgl. Posse, Otto, Die Wettiner. Genealogie des Gesamthauses Wettin Ernestinischer und Albertinischer Linie mit Einschluss der regierenden Häuser von Großbritannien, Belgien, Portugal und Bulgarien, Reprint der Originalausgabe Leipzig/Berlin 1897 mit Berichtigungen und Ergänzungen der Stammtafeln bis 1993 von Manfred Kobuch, Leipzig 1994, Tafel 33f. Vgl. hierzu Schmidt, Alois, Franz  I. und Maria Theresia 1745–1765, in: Schindling, Anton/Ziegler, Walter (Hrsg.), Die Kaiser der Neuzeit 1519–1918. Heiliges Römisches Reich, Österreich, Deutschland, München 1990, S. 236; Erbe, Michael, Die Habsburger 1493–1918. Eine Dynastie im Reich und in Europa, Stuttgart/Berlin/Köln 2000, S. 139–141.

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des Hauses unter die Raison der Dynastie sehen.52 Auch noch im 19. Jahrhundert sicherten die Fürstenfamilien den Fortbestand ihrer Herrschaft durch einen hohen Organisationsgrad. Wolfgang Weber hat das die „optimierte Erscheinungsform der Familie“ genannt.53 Wie sehr die hochadelige Heirat unter vorgegebenen Bedingungen stand, offenbart die Hochzeit der sächsischen Prinzessin Elisabeth mit Ferdinand Herzog zu Genua, einem Prinzen aus dem Hause Savoyen. Die Hochzeit fand am 22. April 1850 in Dresden statt. Die 20-jährige Dresdner Prinzessin hatte ihren künftigen Gemahl vor seiner Anreise zur Hochzeit nicht kennen gelernt. Das geschah durchaus gegen den Willen ihrer Familie, aber der Chef des Hauses Savoyen, Carlo Alberto, König von Sardinien-Piemont, wünschte dies ausdrücklich.54 Auch der zweite Grund für eine Heirat in der eigenen Konfession lässt sich am Beispiel des sächsischen König Johanns aufzeigen. Silke Marburg hat in ihren Publikationen bereits ausführlich dargestellt, wie wichtig es Johann von Sachsen war, dass seine Kinder katholisch heirateten.55 Und auch dies hat durchaus nicht nur mit der treuen Anhänglichkeit Johanns an die katholische Kirche zu tun. Hätte beispielsweise der sächsische Thronfolger eine protestantische Ehefrau genommen, wäre diese zu einem Anlaufpunkt geworden, über den sich evangelische Interessen in die Herrscherfamilie hätten einbringen lassen. Die konfessionelle Geschlossenheit der Dynastie war daher auch im 19. Jahrhundert noch von innenpolitischer Relevanz. Johann von Sachsen muss dies eindrücklich vor Augen gestanden haben. Denn die Zwillingsschwester seiner Ehefrau Amalie Auguste war die Königin Elisabeth von Preußen. Beide Fürstinnen entstammten dem katholischen Haus der Wittelsbacher. Die Gemahlin Friedrich Wilhelms IV. hatte vor der Heirat ihren Konfessionswechsel zusagen müssen, konvertierte jedoch im Mai 1830 unter dem Druck ihres Schwiegervaters Friedrich Wilhelm  III. zum Protestantismus. In der öffentlichen Wahrnehmung Elisabeths führte die Konversion auch langfristig zu Irritationen. So erwartete man beispielsweise beim Kölner Dombaufest im Jahre 1842, dass sie dem katholischen Gottesdienst fernblieb. Als sie dennoch erschien und den katholischen 52

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Vgl. für die Habsburger: Konenbitter, Günther, Haus ohne Macht? Erzherzog Franz Ferdinand (1863–1914) und die Krise der Habsburgermonarchie, in: Weber, Wolfgang E. J. (Hrsg.), Der Fürst. Ideen und Wirklichkeiten in der europäischen Geschichte, Köln/Weimar/Wien 1998, S. 172. Weber, Wolfgang E. J., Dynastiesicherung und Staatsbildung. Die Entfaltung des frühmodernen Fürstenstaates, in: Ders. , Der Fürst, S. 95. Vgl. Marburg, Europäischer Hochadel, S. 256, 368. Ebd., S. 279–284; Dies., „Das Ansehen hat man umsonst“. Gattenwahl und Heiratskalkül für die Kinder König Johanns von Sachsen (1801–1873), in: Müller, Winfried/ Schattkowsky, Martina (Hrsg.), Zwischen Tradition und Modernität. König Johann von Sachsen 1801–1873, Leipzig 2004, S. 357–404. Auch Zittel, Bernhard, Die staatskirchenund kirchenrechtliche Behandlung der gemischten Ehen im bayerischen Herrscherhause 1804–1842, in: Bayern. Staat und Kirche, Land und Reich, Gedächtnisschrift Wilhelm Winkler, München 1961, S. 111 kommt für das Haus Wittelsbach zu dem Ergebnis, dass in dieser Dynastie zwar Mischehen aus staatspolitischen Erwägungen und aus Mangel an ebenbürtigen katholischen Heiratspartnern geschlossen worden seien, dass aber eine ideale Fürstenehe auch den „menschlichen Einklang der Herzen“ berücksichtigt habe, zu dem auch die „Einheit des religiösen Bekenntnisses“ gehört habe.

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Ritus öffentlich mitvollzog, rief das Spekulationen hervor, sie sei innerlich dem katholischen Glauben treu geblieben.56 Im selben Jahr 1842 heiratete der katholische Kronprinz Max von Bayern, der spätere König Maximilian II., die evangelische Prinzessin Marie von Preußen.57 Da der bayerische Prinz, dessen Mutter, Therese von Sachsen-Hildburghausen, und dessen Großmutter, Auguste Wilhelmine von Hessen-Darmstadt, dem lutherischen Bekenntnis angehörten, konfessionell tolerant war und auch nicht die Konversion seiner Braut verlangte, galt er streng katholischen Kreise als indifferent oder gar als heimlicher Protestant.58 Nach dem Tode König Maximilians  II. konvertierte seine Frau im Jahre 1874 zum katholischen Bekenntnis. Ein wesentliches Motiv dazu lag auf der privaten Ebene. Denn katholische Geistliche erklärten Marie von Preußen, die Geisteskrankheit, die sich bei ihrem jüngeren Sohn Otto abzuzeichnen begann, könne geheilt werden, wenn sie katholisch werde.59 Die Konversion der Mutter des bayerischen Königs Ludwig II. führte nicht nur zu Reaktionen innerhalb der katholischen und protestantischen Öffentlichkeit. Als Oberhaupt des Hauses Hohenzollern ging Kaiser Wilhelm I. in der familieninternen Korrespondenz auf Distanz zur Schwester seines Vaters. Er verstand ihren Übertritt zur katholischen Kirche nicht zuletzt vor dem Hintergrund des Kulturkampfes als Affront gegen das preußische Königshaus.60 Im 19. Jahrhundert konvertierten auch Mitglieder deutscher Fürstenhäuser aus politischen Gründen zum orthodoxen Glauben, als sie Herrscher eines orthodoxen Landes wurden. Geschah dies nicht, entstanden Konfliktflächen, die sich von den Großmächten der Zeit leicht instrumentalisieren ließen. Der erste griechische König, Otto, ein Sohn des bayerischen Königs Ludwig I., war katholisch und weigerte sich mit politischer Rückendeckung durch seinen Vater, als Bedingung für die Krone Griechenlands zum orthodoxen Bekenntnis zu konvertieren. Die griechische Geistlichkeit verweigerte ihm daraufhin, ihn bei seiner Krönung im Jahre 1835 mit geweihtem Öl zu salben, wie dies bei den byzantinischen Kaisern Usus gewesen war. 56

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Zur Konversion der Königin Elisabeth von Preußen und den sich daraus ergebenden Problemen vgl. Zittel, Die staatskirchen- und kirchenrechtliche Behandlung der gemischten Ehen, S. 121–151; Bissing, Wilhelm Moritz von, Königin Elisabeth von Preußen (1801–1874). Ein Lebensbild, Berlin 1974, S. 17, 25, 42f. Vgl. Zittel, Die staatskirchen- und kirchenrechtliche Behandlung der gemischten Ehen, S. 165f. Greipl, Egon Johannes, König Maximilian II. von Bayern und die Religion, in: Grimm, Klaus (Hrsg.), König Maximilian II. von Bayern, München 1988, S. 141–150, insbes. S. 142f.; Schad, Martha, Bayerns Königinnen, Regensburg 2006, S. 224; Rall, Hans, Das Altarsakrament und Bayerns Könige, in: Stadler, Josef Klemens/Bosl, Karl/Buchner, Ernst u. a. (Hrsg.), Der Mönch im Wappen. Aus Geschichte und Gegenwart des katholischen München, München 1960, S. 361–374, insbes. S. 368; übrigens war auch die Stiefgroßmutter König Maximilians II. von Bayern, Caroline von Baden, evangelisch. Zu Therese von Sachsen-Hildburghausen und Caroline von Baden vgl. Schad, Bayerns Königinnen, S. 15–91, 93–166. Vgl. Kitzmann, Armin Rudi, Offenes Tor. Protestanten in München, München 1990, S. 153; Schad, Bayerns Königinnen, S. 225. Vgl. ebd., S. 229f.

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Außerdem musste König Otto im selben Jahr und damit noch vor seiner Hochzeit nach mehrjährigem Druck des russischen Zaren zusagen, dass seine für den griechischen Thron bestimmten Söhne orthodox erzogen würden. Dazu kam es nicht, weil Ottos Ehe mit der protestantischen Prinzessin Amalie von Oldenburg kinderlos blieb und er zudem im Jahre 1862 aus Griechenland vertrieben wurde. Als Otto Griechenland im Jahre 1844 eine Verfassung gewähren musste, legte diese Konstitution fest, ein künftiger König habe der orthodoxen Konfession anzugehören.61 Ottos Nachfolger auf dem griechischen Thron, König Georg I. von Griechenland aus dem Hause Schleswig-Holstein-Sonderburg-Glücksburg, vollzog diesen Konfessionswechsel jedoch erst in der nachfolgenden Generation. Georg I. blieb für seine Person beim lutherischen Bekenntnis seiner Vorfahren. Er heiratete aber die orthodoxe Großfürstin Olga Konstantinowna Romanowa, eine Nichte von Zar Alexander II. von Russland. Der älteste Sohn dieses Ehepaares, Kronprinz Konstantin, und die übrigen sieben Kinder wurden im orthodoxen Glauben erzogen.62 Auch in anderen Staaten, die aus dem Zerfall des Osmanischen Reiches entstanden, finden sich vergleichbare Entwicklungen. In Rumänien bestieg am 26. März 1881 der katholische Hohenzoller, Karl von Hohenzollern-Sigmaringen, den Thron. Da er mit seiner lutherischen Frau Elisabeth von Wied keine Kinder hatte, die als Thronprätendenten in Frage gekommen wären, ergab sich ein konfessioneller Konflikt erst für den Neffen Ferdinand von Hohenzollern, der nach Karl I. die rumänische Krone trug. Er war mit Marie von Edinburgh, Prinzessin von Sachsen-Coburg und Gotha, verheiratet, die sich zur anglikanischen Konfession bekannte. Das Ehepaar ließ seine Kinder gemäß der Statuten des Königshauses orthodox taufen und erziehen, woraufhin die katholische Kirche Ferdinand von Rumänien zwischen 1900 und 1920 die Osterkommunion verweigerte.63 Als im Jahre 1887 der Katholik Ferdinand von Sachsen-Coburg-Gotha Prinzregent von Bulgarien wurde, ließ er als Zeichen einer Annäherung an die Schutzmacht Russland im Jahre 1897 seinen

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Zu Otto von Griechenland und seiner Konfession vgl. Rall, Hans, Die Anfänge des konfessionspolitischen Ringens um den Wittelsbacher Thron in Athen, in: Bayern. Staat und Kirche, Land und Reich, S. 181–215, insbes. S. 184f., 192, 210f., 213, 215; Rüffner, Michael, Die ersten Jahre Ottos in Griechenland, in: Bayerische Schlösserverwaltung (Hrsg.), Von Athen nach Bamberg. König Otto von Griechenland. Beiheft zur Ausstellung in der Neuen Residenz Bamberg, München 2002, S. 59; Bower, Leonhard/Bolitho, Gordon, Otto, König von Griechenland, Autenried 1997, S. 39; Clogg, Richard, Geschichte Griechenlands im 19. und 20. Jahrhundert. Ein Abriss, Köln 1997, S. 276f. Zum griechischen Königshaus Schleswig-Holstein-Sonderburg-Glücksburg vgl. Christmas, Walter, King George of Greece, London 1914; von der Kiste, John, Kings of the Hellenes. The Greek Kings 1863–1974, London 1994, S. 10, 13, 25f. Zu den rumänischen Königen Karl I. und Ferdinand von Hohenzollern-Sigmaringen vgl. Zach, Cornelius R., Rumänische Monarchie und politische Eliten, Anpassungsund Kooerationsstrategien der Dynastie in Krisenzeiten, in: Binder-Iijima, Edda/Löwe, Heinz-Dietrich/Volkmer, Gerald (Hrsg.), Die Hohenzollern in Rumänien 1866–1947. Eine monarchische Herrschaftsordnung im europäischen Kontext, Köln/Weimar/Wien 2010, S. 46, 49; Rall, Die Anfänge des konfessionspolitischen Ringens, S. 181.

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ältesten Sohn, den späteren Boris III. von Bulgarien, der nach dem Willen der Eltern zunächst der katholischen Kirche angehört hatte, orthodox umtaufen.64 Es werden daher für die genannten Fürstinnen und Fürsten konfessionelle Dimensionen sichtbar, die auch in der Politik des 19. Jahrhunderts noch eine Rolle spielten. Für die europäischen Dynastien war offensichtlich die Konfession nicht nur in der Privatsphäre des Individuums und der Herrscherfamilie relevant. Sie war für die Fürstenhäuser auch von Bedeutung, um ihre Herrschaft zu legitimieren. Das Glaubensbekenntnis wurde deshalb nicht ohne Weiteres in das Belieben des einzelnen Mitglieds einer Fürstenfamilie gestellt. Da die Höfe auch in der Moderne ihre Funktion als politische Machtzentren nur teilweise verloren,65 das höfische Zeremoniell seine herrschaftskonstituierende Wirkung bewahrte66 und Höfe für die Gruppenkonstituierung des europäischen Hochadels erhebliche Relevanz besaßen,67 lässt sich die Bedeutung der Konfession am modernen Hof geradezu postulieren, obwohl einschlägige Paralleluntersuchungen zu der oben angeführten dynastischen Ebene fehlen.

III. Zusammenfassend lässt sich daher feststellen, dass das Verhältnis von Fürst, Hof und Konfession sowohl in der Frühen Neuzeit als auch in der Moderne einem mehrfachen Wandel unterworfen wurde. Der Dreißigjährige Krieg und die moderne Pluralität der Konfessionen waren wichtige Wendemarken. Aber auch darüber hinaus hatte Konfessionalität einen unübersehbaren Stellenwert für die gesellschaftliche Akzeptanz von Hof und Herrscher. Der Westfälische Frieden machte reichsrechtlich unbedenklich, dass die Dynastie einer anderen Konfession angehörte als ihre Untertanen. An ihren Höfen ließen die Herrscher ein konfessionelles Spektrum zu, das immer auch die Landeskonfession(en) ihrer Territorien berücksichtigte. Dennoch blieben die frühneuzeitlichen Fürstenhäuser selbst konfessionell in feste Heiratskreise geschieden, die sich nach dem Glaubensbekenntnis unterschieden. Deshalb schufen auch weiterhin abweichende Bekenntnisse einzelner Familienmitglieder eine prekäre Lage in einem Herrscherhaus. Die beginnende Moderne öffnete auf der verfassungsrechtlichen Ebene die konfessionelle Verklammerung der Territorien. 64

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Der Großvater Ferdinands von Bulgarien, Ferdinand Georg August von Sachsen-Coburg-Gotha, konvertierte im Jahre 1818 zum Katholizismus. Vgl. Posse, Die Wettiner, Tafel 24. Zu Ferdinand von Bulgarien und seinem Thronfolger, dem späteren Boris III., vgl. ebd. ,Tafel 25; Constant, Stephen, Foxy Ferdinand. Tsar of Bulgaria, New York/ London/Toronto u. a.1980, S. 169–178; Karlsreiter, Ana, König Boris III. von Bulgarien und die bulgarische Außenpolitik 1938–1943, Diss. Manuskript, München 2001, S. 8f.; Roselius, Ernst, Des Königs Stellung zu Kultur und Leben, in: [Lindenberg, Paul (Hrsg.)], König Ferdinand von Bulgarien. Zum 75. Geburtstag, Berlin [1936], S. 42. Paulmann, Pomp und Politik, S. 213. Ebd., S. 250; Jahn/Rahn/Schnitzer, Einleitung. Marburg, Europäischer Hochadel, S. 300, 302.

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Damit stand es den ehemaligen Untertanen bzw. den Staatsbürgern grundsätzlich frei, ihre Konfession zu wählen. Wie die Beispiele der Dresdner Wettiner, der Münchener Wittelsbacher und Berliner Hohenzollern zeigen, blieb für die Herrscherfamilien die konfessionelle Ausrichtung ihrer Mitglieder dennoch von großer Relevanz. Auch wenn Mischehen nachweislich möglich waren, führten sie doch leicht zu öffentlichen Reaktionen, die dazu beitragen konnten, die gesellschaftliche Stellung einer Dynastie zu delegitimieren. Umgekehrt erforderten die im 19. Jahrhundert entstandenen Nationalstaaten Griechenland, Bulgarien und Rumänien von den neu ins Land gekommenen Monarchen und ihren Familien noch weitergehende konfessionelle Konzessionen als in Deutschland. Konversionen zum orthodoxen Glauben fügten sich an den neu installierten Höfen in politische Konzepte ein, Dynastien politisch-gesellschaftliche Akzeptanz zu verschaffen.

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„Jesuitische Umtriebe“ Tradition und Aktualität eines konfessionellen Topos im Sachsen des 19. Jahrhunderts Stefan Gerber

Während die Geschichte der antijesuitischen Polemik des konfessionellen Zeitalters und der Aufklärungsbewegungen, insbesondere der „katholischen Aufklärung“ des 18. Jahrhunderts, vergleichsweise häufig Gegenstand historischer und literaturgeschichtlicher Forschungen gewesen ist,1 hat die Aufarbeitung der Motive, Spielarten und Wechselwirkungen des Antijesuitismus im 19. und 20. Jahrhundert erst in den 1990er Jahren neue Impulse erfahren, als Debatten über den Konfessionalismus der „späten“ Neuzeit2 und über die Säkularisierungstheorie als Ideologie3 einsetzten.4 1

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3 4

Vgl. für einen knappen Überblick über die antijesuitischen Diskurse zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert den Abschnitt „Antijesuitische Traditionen“, in: Vogel, Christine, Der Untergang der Gesellschaft Jesu als europäisches Medienereignis (1758–1173). Publizistische Debatten im Spannungsfeld von Aufklärung und Gegenaufklärung, Mainz 2006, S. 22–40. Vgl. weiterhin van Dülmen, Richard, Antijesuitismus und katholische Aufklärung in Deutschland, in: Historisches Jahrbuch 89 (1969), S. 52–80; Müller, Winfried, Die Aufhebung des Jesuitenordens in Bayern, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 48 (1985), S. 285–352 und die Beiträge in Klueting, Harm (Hrsg.), Katholische Aufklärung – Aufklärung im katholischen Deutschland, Hamburg 1993; insbes. den Beitrag: Müller, Winfried, Der Jesuitenorden und die Aufklärung im süddeutschösterreichischen Raum, in: ebd., S. 225–245. Vgl. dazu Blaschke, Olaf, Das 19. Jahrhundert: Ein zweites konfessionelles Zeitalter?, in: Geschichte und Gesellschaft 26 (2000), S. 38–75. Einen Überblick über die Diskussion um Blaschkes These gibt: Ders., (Hrsg.), Konfessionen im Konflikt. Deutschland zwischen 1800 und 1970. Ein zweites konfessionelles Zeitalter. Göttingen 2002. Vgl. u.  a. auch Schulze Wessel, Martin, Das 19. Jahrhundert als Zweites Konfessionelles Zeitalter? Thesen zur Religionsgeschichte der böhmischen Länder in europäischer Hinsicht, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 50 (2001), S. 514–530; Kretschmann, Carsten/Pahl, Henning, Ein „Zweites Konfessionelles Zeitalter“? Vom Nutzen und Nachteil einer neuen Epochensignatur, in: Historische Zeitschrift 276 (2003), S. 369–392; Steinhoff, Anthony J., Ein zweites konfessionelles Zeitalter?. Nachdenken über die Religion im langen 19. Jahrhundert, in: Geschichte und Gesellschaft 30 (2004), S. 549–570. Zur Situation an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert: Maurer, Michael, Konfessionelle Identität um 1800, in: Fink, Gonthier-Louis/Klinger, Andreas (Hrsg.), Identitäten – Erfahrungen und Fiktionen um 1800, Frankfurt am Main u.  a. 2004, S. 235–258. Dazu jetzt dezidiert: Borutta, Manuel, Genealogie der Säkularisierungstheorie. Zur Historisierung einer der großen Erzählungen der Moderne, in: Geschichte und Gesellschaft 36 (2010), S. 347–376. Das gilt bislang allerdings vor allem für die englisch- und französischsprachige Forschung. Vgl. u. a. Cubitt, Geoffrey, The Jesuit Myth. Conspiracy Theory and Politics

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Noch immer ist ein beträchtlicher Rückstand abzuarbeiten, der vor allem auf die konfessionellen Konfliktlagen des 19. und 20. Jahrhunderts zurückzuführen ist: Forschungen zu den Jesuiten konnten sich dem polemischen Schema von Kritik und Apologie noch in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg kaum entziehen. Nachdem die antijesuitische Publizistik in den beiden Jahrzehnten vor der Aufhebung des Ordens durch Papst Klemens XIV. 1773 einen Höhepunkt erreicht und überschritten hatte,5 war die öffentlich-mediale Auseinandersetzung um die Gesellschaft Jesu schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wieder spürbar intensiver geworden, hatte doch Papst Pius VII. nach seiner Rückkehr aus der napoleonischen Gefangenschaft den Orden wiederhergestellt.6 Im Europa der Restaurationsjahre und mehr noch nach den revolutionären Ereignissen von 1830 wurde das Wiederaufleben der Jesuiten als eine Kampfansage nicht nur an den politischen Liberalismus, sondern auch an moderne, säkulare Staatlichkeit empfunden, die in Mitteleuropa nicht zuletzt auf Übereinkünften zur konfessionellen Kohabitation beruhte. Der Orden erschien als Störfaktor der prekären und konfliktgeladenen konfessionellen Ausgleichsmechanismen, wie sie in Teilen des Deutschen Bundes, in der Schweiz oder den Niederlanden zum Kernbestand staatlicher Integration gehören mussten. Das galt umso mehr, als in der Mitte des 19. Jahrhunderts das „Zeitalter der Kulturkämpfe“ in Europa anbrach7 und eine Dynamik freisetzte, die die europäischen Katholizismen ebenso nachhaltig prägen sollte wie die Fremdwahrnehmung dieser Katholizismen in ihren Gesellschaften. Ultramontaner Aufbruch einerseits8 und liberal-nationaler Antikatholizismus, Laizismus und Kulturpro-

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in Ninethenth-Century France, Oxford 1993; Leroy, Michel, Le mythe jésuite de Béranger à Michelet, Paris 1992; zum italienischen Antijesuitismus des Vormärz der Abschnitt „Ewige Feinde der Nation“, in: Borutta, Manuel, Antikatholizismus. Deutschland und Italien im Zeitalter der europäischen Kulturkämpfe, Göttingen 2010. Auf den Antijesuitismus als „Integrationsideologie“ von Liberalen und Demokraten in der Schweiz 1847/48 verweist: Tanner, Albert, Das Recht auf Revolution. Radikalismus – Nationalismus – Antijesuitismus, in: Hildbrand, Thomas/Ders. (Hrsg.), Im Zeichen der Revolution. Der Weg zum schweizerischen Bundesstaat, Zürich 1997, S. 113–137. Vgl. ausführlich Vogel, Der Untergang der Gesellschaft Jesu. Für knappe Überblicke vgl. z. B. Hartmann, Peter C., Die Jesuiten, 2. durchges. Aufl., München 2008; Haub, Rita, Die Geschichte der Jesuiten, Darmstadt 2007. So in Anlehnung an den Theologen Albert Erhard: Borutta, Genealogie, S. 351. Es wird von „Aufbruch“ gesprochen, um anzudeuten, dass Ultramontanismus im Folgenden nicht als Phänomen der Regression, sondern der vielgestaltigen und komplementär-produktiven Akkomodation zwischen europäischen Katholizismen und Moderne betrachtet wird, mithin auch Ultramontanisierung und „ultramontaner“ Katholizismus integrale Bestandteile dieser „Moderne“ sind. Daneben kommt der Text nicht umhin, „Ultramontanismus“ als Quellenbegriff der Polemik des liberalen Antikatholizismus im 19. Jahrhundert wiederzugeben. Als deskriptiv-phänomenologischer Begriff (so bezeichnen Gisela Fleckenstein und Joachim Schmiedl eine Verwendungsebene) ist der Ultramontanismusbegriff wegen dieser polemischen Verwendungsgeschichte problematisch und eigentlich verzichtbar; einstweilen kann vielleicht der von Christopher Clark vorgeschlagene Terminus des „neuen Katholizismus“ die Lücke schließen. Eine wissenschaftliche Sublimierung der polemischen Sichtweisen des 19. Jahrhunderts durch die Transformation des Ultramontanismus-Begriffes in den des „Fundamentalismus“,

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testantismus andererseits waren agonal aufeinander fixiert. In diesen, das gesamte Jahrhundert bestimmenden Konfliktlagen, die weiter andauerten, als nach dem Abflauen der Kulturkämpfe zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Modernismuskrise einsetzte, erwiesen sich auch die Jesuiten-Bilder des konfessionellen Zeitalters und der Aufklärung als schnell reaktivierbar. Alle Zuschreibungen und Charakteristika, die im 17. Jahrhundert entwickelt und zu einer Verschwörungstheorie verdichtet worden waren, in der die ,Jünger’ des Ignatius von Loyola als immense, im Verborgenen wirkende, alle Mittel von Überredung, Lüge und Bestechung bis hin zum Mord einsetzende päpstliche Kampftruppe gegen staatliche Ordnung, Fortschritt und Humanität erschienen, waren unvermindert kommunikativ verfügbar. Solche Exklusion war keine Abweichung vom aufklärerischen Diskurs, sondern gehörte zu seinen elementaren Bestandteilen: Die Selbstdefinition und -wahrnehmung der bildungsbürgerlichen Eliten als Speerspitze des Fortschritts in Bildung und Gesittung und die prinzipielle wie lebensweltliche Abgrenzung von sozialen Gruppen, die an der als alternativlos empfundenen protestantisch-bildungsbürgerlichen Kultur nicht partizipieren konnten oder wollten, gingen im späten 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine Verbindung ein, die den nicht-aufgeklärten Anderen immer stärker als moralisch und intellektuell inferior oder – wo er sich der „bürgerlichen Verbesserung“ bewusst zu verweigern schien – als gefährlich einordnete.9 Der Katholizismus, an dessen Stigmatisierung und Negation als System der „geistigen Unfreiheit“ und des „Irrationalismus“ in Lehre und Lebensvollzug sowohl weite Teile der Aufklärungsbewegung als auch der Protestantismus rationalistischer und späterhin liberaler Prägung Identität gewannen, schien – zumal in den Formen, die er als „neuer Katholizismus“ verstärkt annahm – geradezu die Essenz einer solchen Verweigerung zu sein. In den Jesuiten als Instrument der „Gegenreformation“, denen konspiratives Agieren, „Proselytenmacherei“ und die Propagierung einer probabilistischen, eigentlich „laxistischen“ Moral vorgeworfen wurden,10 schien diese katholische Verweigerung operationalisiert zu werden; sie schien sich handelnd, ja

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wie Christoph Weber sie vorgenommen hat, kann dem Katholizismus in der Moderne nicht gerecht werden. Vgl. Fleckenstein, Gisela/Schmiedl, Joachim, Ultramontanismus in der Diskussion. Zur Neupositionierung eines Forschungsbegriffs, in: Dies. (Hrsg.), Ultramontanismus. Tendenzen der Forschung, Paderborn 2005, S. 7–19; Clark, Christopher, Der neue Katholizismus und der europäische Kulturkampf, in: Ders./Kaiser, Wolfram, Kulturkampf in Europa im 19. Jahrhundert, Leipzig 2003, S. 14–37; Weber, Christoph, Ultramontanismus als katholischer Fundamentalismus, in: Loth, Wilfried (Hrsg.), Deutscher Katholizismus im Umbruch zur Moderne, Stuttgart 1991, S. 20–45. Vgl. eindrücklich am Beispiel der Physiognomik: Frey, Manuel, Toleranz und Selektion. Konfessionelle Signaturen zwischen 1770 und 1830, in: Blaschke, Konfessionen im Konflikt, S. 113–153. Ähnlich argumentieren auch Kretschmann/Pahl, Ein „Zweites Konfessionelles Zeitalter“?, S. 385. Vgl. zum ganz knappen Überblick und zu weiterführender Literatur: Domínguez, Fernando, Jesuitenmoral, in: Kasper, Walter u. a. (Hrsg.), Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 5, Freiburg i. Br. u. a. 1996, Sp. 801–803. Auch: Demmer, Klaus, Moralsysteme, in: Kasper, Walter u. a. (Hrsg.), Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 7, Freiburg i. Br. u. a. 1997, Sp. 461f.

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aggressiv nach außen zu wenden und damit die irritierende Gestalt einer nicht nur reagierenden, sondern in die Offensive gehenden „Reaktion“ zu gewinnen. Deshalb ist der Antijesuitismus äußerst aufschlussreich für die Antinomien der aufgeklärtirenischen und theologisch wie politisch „liberalen“ Diskurse des ausgehenden 18. und des 19. Jahrhunderts. Er tritt dem historischen Betrachter in den Jahrzehnten nach der Wiederzulassung der Gesellschaft Jesu 1814 als ein komplexes Phänomen entgegen, in dem sich Tradition und Aktualität auf vielfältige Weise bündelten und überlagerten: Polemische, oft auf den Jansenismus und die protestantische Propaganda des 17. und 18. Jahrhunderts zurückgehende Argumentationslinien wurden in einen liberalen Freiheits- und Toleranzbegriff integriert, der sich selbst als emanzipatorisch wahrnahm und kommunizierte, tatsächlich aber soziale wie politische Werturteile fällte und auf der Grundlage dieser Werturteile ein- und ausgrenzte: Wer als „Fortschrittsfeind“ identifiziert war, für den konnte es keine Freiheit geben. Dass die Fähigkeit und Befugnis zu solcher Identifizierung nur dem „aufgeklärten“, menschlich wie intellektuell „Gebildeten“ und aus den Fesseln des „Aberglaubens“ befreiten Individuum gegeben war und dass „Dunkelmännern“, „Reaktionären“ oder eben „Jesuiten“ keine Mitsprache bei ihrer Einordnung zukam, verstand sich in dieser liberalen Perspektive von selbst. Nicht nur der ultramontane Katholizismus, sondern – wie ein Seitenblick auf die variable Verwendung des „Jesuitismus“-Begriffes noch zeigen wird – auch konservativ-„positive“ protestantische Kirchlichkeit konnte unter dieses Verdikt fallen: Protestantisches Christentum schien nur noch in seinen rationalistisch-liberalen Varianten akzeptabel und „verantwortbar“; ein „guter“ Katholik konnte für den Liberalen des „langen“ 19. Jahrhunderts allenfalls ein Deutschkatholik, ein Altkatholik oder ein Katholik sein, der in anderen Formen des mehr oder minder offenen Dissenses zu „Rom“ stand. „Reformkatholizismus“ – so ambivalent und unbestimmt der Begriff letztlich auch war und ist – wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts das „Zauberwort“ solcher von außen wie von innen betriebenen wertenden Differenzierungen des katholischen Konfessionsaggregates. Hier öffnete sich der Raum, in dem die Diskriminierung, Marginalisierung und Essentialisierung des Katholizismus durch den Liberalismus des 19. Jahrhunderts, die sich den politischen Kulturen des protestantischen Deutschlands und der protestantischen Schweiz, Großbritanniens, Skandinaviens, der nördlichen Niederlande und der USA so nachhaltig eingeprägt hat, zum Ausweis einer freiheitlich-humanen Gesinnung wurden.11 Der im irenischen Modell der Aufklärung zumindest idealtypisch „enthierarchisierte“ Toleranzbegriff12 erfuhr eine neue Hierarchisierung, die von den Exkludierten als besonders perfide erfahren werden musste, weil sie ihre Zuordnungen mit dem Selbstbewusstsein vornahm, Fortschritt und Liberalität zu verkörpern. So wurde ein Handlungsrahmen konstituiert, in dem Reaktion und Ge11 12

Vgl. dazu insgesamt Borutta, Antikatholizismus. Auch: Gross, Michael, The War against Catholicism. Liberalism and the Anti-Catholic Imagination in NineteenthCentury Germany, Ann Harbor 2004. Ganz knapp zum Toleranzbergriff der Aufklärung: Gawlick, Günter, Toleranz, in: Schneiders, Werner (Hrsg.), Lexikon der Aufklärung, München 1995, S. 412–414.

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genreaktion auf nationalprotestantisch-liberaler wie auf katholischer Seite stets den polemischen Erwartungen der jeweils anderen Seite entsprechen mussten. Zu den kennzeichnenden Ambivalenzen des rational-liberal geprägten Antijesuitismus gehörte es auch, dass er zur Durchsetzung und Ausdifferenzierung seines Feindbildes willentlich wie auch unbewusst auf eine irrationale Form der Welterklärung zurückgriff: auf Verschwörungstheorien. Mit diesem Rückgriff setzte die Hierarchisierung der Toleranzebenen im Zeichen liberaler Freiheits- und Bildungskonzepte im 19. Jahrhundert Bewegungen frei, deren populäre Durchschlagskraft und Dynamik die bildungsbürgerlichen „Antijesuiten“ bisweilen – wie auch die Ereignisse im Sachsen des 19. Jahrhunderts zeigten – selbst überraschten, ja erschreckten: Man hatte Geister gerufen, derer man nicht mehr recht Herr zu werden vermochte. Dass die Postulierung des Rationalen und Falsifizierbaren als Norm nicht nur in der wissenschaftlichen Diskussion, sondern auch in der alltäglichen sozialen Kommunikation von der Tendenz begleitet und konterkariert wird, zunehmende Komplexität auf dem Wege von präskriptiven, die arbiträre Plan- und Lenkbarkeit von politischen und sozialen Prozessen voraussetzenden Verschwörungstheorien zu bewältigen, gehört zu den verbreiteten Beobachtungen über die Strukturen und Funktionsweisen moderner Gesellschaften.13 Zentralsteuerungshypothesen, wie sie sich auf Juden, Freimaurer oder eben auch Jesuiten bezogen und beziehen, beinhalten, wie der amerikanische Historiker Richard Hofstadter 1964 in einem Essay zu Verschwörungstheorien in der amerikanischen Politik und nach ihm eine Vielzahl von Historikern und Sozialwissenschaftlern feststellte, sicherlich den Zug zu einem „paranoiden Stil“ der Welterklärung.14 Dennoch kann eine vorschnelle Pathologisierung den Blick für die sozialen wie politischen Motive und Funktionen von Konspirationstheorien verstellen und eine Reflexion über die Tatsache unmöglich machen, dass Elemente verschwörungstheoretischen Denkens mit ihrer spezifischen, linearen und eindeutigen, wenngleich nicht einwandfrei nachweisbaren Kausalität und der damit gegebenen Möglichkeit der Kontingenzreduktion sowohl in der Alltagskommunikation wie auch in der wissenschaftlichen Diskussion nicht selten anzutreffen

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Aus der reichhaltigen Literatur sei nur verwiesen auf: Groh, Dieter, Die verschwörungstheoretische Versuchung oder: Why do bad things happen to good people?, in: Ders., Die Anthropologische Dimension der Geschichte, Frankfurt am Main 1992, S. 267–304 und die Beiträge in: Reinalter, Helmut (Hrsg.), Verschwörungstheorien. Theorien – Geschichte – Wirkung, Innsbruck u. a. 2002; Ders., Typologien des Verschwörungsdenkens, Innsbruck 2004. Vgl. Hofstadter, Richard, The Paranoid Style in American Politics, in: Harper’s Magazine 229 (1964), S. 77–86. Hofstadter behandelt auch die angenommene „Jesuit Threat“ in den USA des 19. Jahrhunderts und zeigt einige Charakteristika des Antikatholizismus auf, die die neuere Forschungen stark herausstellt, z. B. Sexualphantasien und die sexuelle Diffamierung katholischer Kleriker und Ordensleute, die bis in die Gegenwart zentraler Bestandteil der antikatholischen Imagination geblieben sind. „Anti-Catholicism“, so Hofstadter, „has always been the pornography of the Puritan“. Ebd., S. 80. Zum Problem des Verhältnisses von Paranoia und Verschwörungstheorien vgl. Groh, Die verschwörungstheoretische Versuchung, S. 275–277.

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sind.15 Verschwörungstheoretische Ansätze, wie z.  B. die Annahme vom Vorhandensein und der untergründigen Tätigkeit des Jesuitenordens im Sachsen des 19. Jahrhunderts, die uns im Folgenden beschäftigen wird, gewinnen ihre Plausibilität vor allem aus den Wahrnehmungsweisen und Weltbildern der Zeitgenossen; sie müssen zu diesen Perzeptionen kompatibel sein, müssen Überzeugungen, Erwartungen und Befürchtungen derer, denen sie zur Wirklichkeitsdeutung und -bewältigung angeboten werden, die sie annehmen und weiterentwickeln, entsprechen. Nicht kopfschüttelnde Entrüstung über Willkür, „Gemeinheit“ und Maßlosigkeit historischer Konspirationshypothesen sind also bei der Bewertung solcher Phänomene gefragt (auch wenn sie sich angesichts der oft vulgären Demagogie z. B. des Antijesuitismus bisweilen nur schwer unterdrücken lassen), sondern, wie stets in der Praxis des Historikers, ein „Verstehen“, das die jeweils besonderen Gründe für die Attraktivität verschwörungstheoretischer Argumentationsmuster nachzuvollziehen sucht. Nur ein solches Verstehen wird auch die – z. B. von Dieter Groh herausgestrichene – anthropologische Komponente in der Erklärung von Konspirationstheorien, die „Neigung“ der menschlichen Psyche zu solchen Mustern einerseits und die Bedeutung des politisch-sozialen Kontextes, der Verschwörungstheorien hervorbringt und am Leben erhält, andererseits, in ein ausgewogenes Verhältnis bringen können. Erst wenn dieser Ausgleich gelingt, der je nach dem betrachteten Fall durchaus unterschiedliche Gewichtungen der beiden Komponenten zulässt, ist die Hermetik von Verschwörungstheorien, die dekontextualisierte Konsistenz ihres Umgangs mit der Empirie jenseits von „Widerlegungen“ in den Griff zu bekommen, denen der Konspirationstheoretiker in seiner Eigenlogik immer bereits einen Schritt voraus ist.

I. Fragen wir in einem ersten Schritt also nach den sozialen und politischen Kontexten des Antijesuitismus im Sachsen des 19. Jahrhunderts. Wie stark waren die Jesuiten und ihre Missionstätigkeit, denen eine entscheidende Rolle vor allem beim Übertritt des Kurprinzen und späteren Kurfürsten Friedrich August II. zum Katholizismus zu Beginn des 18. Jahrhunderts und damit bei der dauerhaften Konversion des albertinischen Zweiges der Wettiner zugewiesen wurde, im Sachsen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts? Zweifellos war auch der sächsische Antijesuitismus dieser Zeit ein „Antijesuitismus ohne Jesuiten“.16 Im Februar 1803 kam, begleitet von seinem Mitbruder Calebotta, Bartolomeo Gracchi nach Dresden. Während Calebotta 1813, also noch vor der Wiedererrichtung des Jesuitenordens, weiter nach Russland zog, wo die jesuitische Ordensprovinz nach der Aufhebung 1773 stillschweigend bestehen 15 16

Darauf verweist nachdrücklich: Groh, Die verschwörungstheoretische Versuchung, S. 278–281. Vgl. Wolf, Peter, Protestantischer „Jesuitismus“ im Zeitalter der Aufklärung. Christoph Gottlieb von Murr (1733–1811) und die Jesuiten, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 62 (1999), S. 99–138, hier S. 100, 130.

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geblieben war und einen der wichtigen Rückzugsräume der europäischen Jesuiten in der Zeit zwischen 1773 und 1814 darstellte, sollte Gracchi den Rest seines Lebens in der sächsischen Hauptstadt verbringen. Sowohl der 1776 in Piemont geborene Gracchi als auch Calebotta gehörten den „Patres fidei Jesu“, ab 1799 der „Societas fidei Jesu“ an, religiösen Genossenschaften, die nach der Aufhebung der Jesuiten gegründet worden waren, die jesuitische Spiritualität weitertrugen und nach 1814 ein wichtiges Reservoir für die Regeneration der Jesuiten darstellten. Auch Gracchi, der in Dresden als Kaplan und Verwalter des königlichen Spitals, ab 1827 als Hofkaplan und seit 1834 als Beichtvater König Antons tätig war, wurde 1814 in die Gesellschaft Jesu aufgenommen und betätigte sich in Dresden neben seiner seelsorgerischen Tätigkeit auch in der apologetischen Publizistik: 1825 veröffentlichte er eine Sammlung von Bekenntnissen Luthers zur katholischen Lehre.17 Mit Gracchis Tod in Dresden im Mai 1845 endete zunächst die Präsenz der Jesuiten im Königreich Sachsen.18 Dennoch blieb der Argwohn, die Jesuiten seien unsichtbar, aber gerade deshalb umso erfolgreicher in Sachsen tätig, lebendig und, wie sich im gesamten Jahrhundert zeigte, schnell mobilisierbar. Der vereinzelte Gracchi, so gab 1844 eine Broschüre in dem noch zu betrachtenden Konflikt um die neue katholische Kirche in Annaberg ein kennzeichnendes und verbreitetes verschwörungstheoretisches Argument wieder, sei lediglich ein Ablenkungsmanöver der Gesellschaft Jesu gewesen, um zu verdecken, wie viele Mitglieder der Orden in Sachsen tatsächlich habe.19 Nicht zuletzt das Königshaus, dessen von der lutherischen Landeskonfession abweichender Katholizismus eine stets latente Konfliktquelle und zugleich das entscheidende Faktum zur Erfassung der regionalen Besonderheit des neuen Konfessionalismus des 19. Jahrhunderts in Sachsen ist, geriet immer wieder in Verdacht, dem „Jesuitismus“, d. h. nicht nur dem Jesuitenorden, sondern einer orthodox-missionarischen Frömmigkeit zugetan zu sein. Die bei Brockhaus in Leipzig erscheinende liberale Zeitgeschichts-Enzyklopädie „Die Gegenwart“ meinte 1849, schon in den späten Jahren König Friedrich Augusts I. sei der Einfluss der Jesuiten in Sachsen gewachsen und nach dem Thronwechsel von 1827 habe Gracchi als Beichtvater des neuen Königs Anton – „ein gutmütiger Betbruder, der zum Heile seiner Seele 56 Jahre lang täglich zwei Mal die Messe hörte“ – aktiv an der sächsischen Politik mitgewirkt.20 Auch König Johann von Sachsen, der 1854 nach dem Unfalltod von Antons Nachfolger Friedrich August II. den sächsischen Thron bestieg, wurde bereits als 17 18 19

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Vgl. Gracchi, Bartol[omeo], Doctor Martin Luthers ausgesprochene Ueberzeugung von der katholischen Kirche und ihren Lehrsätzen. Treu aus Luthers Büchern genommen zur Bestätigung der Wahrheit, o. O. 1825. Vgl. Murphy, Bartholomew J., Der Wiederaufbau der Gesellschaft Jesu in Deutschland im 19. Jahrhundert. Jesuiten in Deutschland, 1849–1872, Frankfurt am Main/Bern/New York 1985, S. 33f. Vgl. Die Umtriebe der Jesuiten in Sachsen und ihre Kirche zu Annaberg. Zweite, durch neue Belege, Stimmen aus der Gegenwart und ein offenes Sendschreiben an den apostolischen Vicar in Sachsen Bischof F. L. Mauermann und den königl. Hofprediger J. Dittrich vermehrte Aufl., Leipzig 1844, S. 14. Die Gegenwart. Eine enzyklopädische Darstellung der neuesten Zeitgeschichte für alle Stände, Bd. 2, Leipzig 1849, S. 282.

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Prinz, wie der Dresdner Pfarrer und sächsische Kirchenhistoriker Franz Blanckmeister schrieb, „jesuitischer Liebhabereien“ verdächtigt,21 was ihn im Sommer 1845 im Zusammenhang der deutschkatholischen Bewegung, des Konflikts in Annaberg und der vormärzlichen Unruhe in Sachsen zur Zielscheibe der „August-Unruhen“ in Leipzig machen sollte, die mehrere Todesopfer kosteten.22 Räumte schon Blanckmeister 1899 ein, die zeitgenössische Beurteilung Johanns als eines konfessionellen Scharfmachers habe sich als unzutreffend und der Prinz „bei allem Katholizismus“ als „milder, duldsamer Charakter“ erwiesen,23 so zeigen neuere Forschungen zur seelsorgerisch-theologischen Prägung des Dresdner Hofes in der Mitte des 19. Jahrhunderts, dass das nicht zuletzt von oppositionellen Deutschkatholiken gezeichnete Bild eines „jesuitischen“ Herrscherhauses ein politisch-konfessionalistisches Zerrbild war: Vielmehr war die Glaubensreflexion und -praxis der königlichen Familie durch Männer wie den 1837 bis 1873 als Hofprediger und lange auch als Beichtvater Johanns amtierenden Emil Heine oder die apostolischen Vikare Joseph Dittrich und Ludwig Forwerk durch das Erbe der „katholischen Aufklärung“ und einen „liberalen“ Katholizismus geprägt – ein „Überhang“ der „katholischen Aufklärung“, der den sächsischen Katholizismus insgesamt kennzeichnete.24 Die Schlagworte „Jesuitismus“ und „jesuitische Umtriebe“ waren somit in ihrer langen Tradition polemischer Verwendung und ihrem über konspirationstheoretische Muster selbst für bildungsbürgerliche Kreise beträchtlichen Mobilisierungspotenzial auch im Sachsen des 19. Jahrhunderts Chiffren für die Austragung politischer und gesellschaftlicher Konflikte.25 Ihre seit dem ausufernden Antijesuitismus der Aufklärungszeit nie gebrochene kommunikative Plausibilität im protestantischen und z. T. auch im katholischen Deutschland erfuhr nach 1820 im Zeichen überall in Europa wachsender konfessioneller Konflikte und einer Politisierung der Konfessionen eine neuerliche Steigerung. Der sächsische Antijesuitismus des Vor21 22

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Blanckmeister, Franz, Sächsische Kirchengeschichte, Dresden 1899, S. 395. Vgl. z. B. Schmidt, Siegfried, Die Entwicklung der politischen Opposition im Königreich Sachsen zwischen 1830 und 1848, hrsg. von Werner Greiling, Dresden 2005, S. 95–99. (Es handelt sich um die seinerzeit unveröffentlichte Jenaer Dissertation Schmidts von 1954. Vgl. ebd., S. 129–132.) Blanckmeister, Kirchengeschichte, S. 395. Vgl. Keller, Katrin, Zur politischen Relevanz des Bolzanismus in Sachsen: Das Beispiel des Hofpredigers Emil Heine (1806–1873), in: Helmut Rumpler (Hrsg.), Bernard Bolzano und die Politik. Staat, Nation und Religion als Herausforderung für die Philosophie im Kontext von Spätaufklärung, Frühnationalismus und Restauration, Wien/ Köln/Graz 2000, S. 283–310; Marburg, Silke, Europäischer Hochadel. König Johann von Sachsen (1801–1873) und die Binnenkommunikation einer Sozialformation, Berlin 2008, S. 121–131. Die lange, nie an die reale Anwesenheit von Vertretern des Ordens geknüpfte Verwendungsgeschichte dokumentiert an zahlreichen Beispielen Raab, Heribert, Kirchengeschichte im Schlagwort. Schlagwörter des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts, in: Ders., Reich und Kirche in der Frühen Neuzeit. Jansenismus – Kirchliche Reunionsversuche – Reichskirche im 18. Jahrhundert – Säkularisation – Kirchengeschichte im Schlagwort. Ausgewählte Aufsätze, Freiburg (Schweiz) 1989, S. 477–510, hier bes. S. 486–496.

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märz gehört in diesen europäischen Zusammenhang weitreichender Auseinandersetzung zwischen Katholizismus, Nationalstaaten und liberaler Bewegung, wie sie im Vorfeld der Revolution von 1848, als es auch in Sachsen Eskalationstendenzen gab, etwa in der Schließung der jesuitischen Ordenshäuser in Frankreich 1845 oder der Vertreibung des Ordens aus der Schweiz im Ergebnis des Sonderbundskrieges 1847 sichtbar wurden.26 Im Sachsen der 1820er Jahre entzündeten sich konfessionelle Streitigkeiten zunächst vor allem – wie auch in Preußen – an Kompetenzfragen bei Mischehen und den Regelungen zur Kirchenfinanzierung. Hier versuchte die Regierung durch das Mandat zu den Rechtsverhältnissen der katholischen Kirche im Staat und zur evangelischen Landeskirche sowie durch gesetzliche Bestimmungen zum Konfessionswechsel im Februar 1827 die Situation zu entschärfen.27 Hinzu kam 1824/25 die Aufregung um einen öffentlichen Aushang in Dresden, die unverkennbar mit der Diskussion um die Regelung der Rechtsverhältnisse der katholischen Kirche in Sachsen verbunden war, die nach der Zurückweisung eines ersten Gesetzentwurfes durch die Stände bis 1827 weitergeführt wurde. Die Bekanntmachung erläuterte unter Bezug auf die Enzyklika „Quod hoc inuente“ Papst Leos XII., der 1825 zum traditionellen „Heiligen Jahr“ erklärt hatte, die Ablassregelungen für das Jubeljahr und rief zur Wallfahrt nach Rom auf. Tradierte Formulierungen der Enzyklika, besonders die Aufforderung, für die Ausrottung der Häresien, im Deutschen als „Ketzerei“ wiedergegeben, zu beten, führten zu öffentlicher Erregung und zu Eingaben Dresdner Bürger, die die Integrität des lutherischen Bekenntnisses verletzt sahen, seien doch, wie der 1830 suspendierte Breslauer katholische Theologe und Deutschkatholik Johann Anton Theiner 1845 rückschauend in scharfer Wendung gegen den Katholizismus schrieb, „diese Aeußerungen papistischer Verblendung in einem fast ganz vom Lichte des Evangeliums erleuchteten Lande zu frech und beleidigend“ gewesen, „als dass sie nicht jedem Unparteiischen in hohem Grade hätten auffallen sollen“.28 Eine der zahlreich eingehenden Protestpetitionen sprach am 2. Januar 1825 davon, der Anschlag sei ein neuerlicher Beleg dafür, dass man in einer Zeit lebe, in der die „Grundpfeiler unseres Glaubens“ „durch geheime Umtriebe der Römlinge und Jesuiten“ „locker gemacht“ würden. Dieser „gesunde deutsche Sinn“, so ergänzten 1831 die „Enthüllungen über die neuesten Umtriebe der Jesuiten in Deutschland“ 26 27 28

Vgl. dazu materialreich: Strobel, Ferdinand, Die Jesuiten und die Schweiz im XIX. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte des Schweizerischen Bundesstaates, Olten/Freiburg i. Br. 1955. Vgl. dazu Meier, Heinrich, Die katholische Kirche in Sachsen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Eine Untersuchung zur Rechts- und Verfassungsgeschichte, Leipzig 1974, bes. S. 41–43. [Theiner, Johann Anton], Die vom römischen Papstthum befreite Deutsch-katholische Kirche oder Paragraphen zu einer Verfassungsurkunde derselben mit Begründung aus Geschichte und Christenthum, Leipzig 1845, S. 42f. Zu Theiner vgl. Hoffmann, Hermann, Anton Theiner. Ein Beitrag zur schlesischen Kirchengeschichte in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, in: Archiv für schlesische Kirchengeschichte 9 (1951), S. 74–143; 10 (1952), S. 226–278; 11 (1953), S. 169–209; 12 (1954), S. 199–232; 13 (1955), S. 228–267.

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die antijesuitische Ausdeutung des Dresdner Ereignisses um die nationale Komponente, „die treue Anhänglichkeit an die protestantische Kirche, die treuen Wächter derselben, die Alles machte die ‚Umtriebe und Umgriffe’ der Römlinge29 und der Jesuiten zu Schanden.“30 Die Aufregung um die Bekanntmachung zum Jubeljahr und der 1824 bis 1827 andauernde Streit um die Rechtsstellung der katholischen Kirche sorgten im Vorfeld der Revolution von 1830 für beträchtliche konfessionelle Mobilisierung, die sich in wachsender publizistischer Polemik niederschlug.31 Sie war nicht nur Ausdruck eines Unbehagens der protestantischen Öffentlichkeit und Eliten Sachsens angesichts einer katholischen Kirche, die nach den Regelungen von 1827 ihren mit der Parität von 1807 eröffneten rechtlichen Spielraum zunehmend selbstbewusst wahrzunehmen begann, sondern nutzte konfessionalistische Argumente auch als Medium für liberal-konstitutionelle oder demokratische Reformforderungen. Eine solche Verschmelzung lag aus liberaler Perspektive nahe, hatten doch Protestantismustheorien, wie sie in den 1820er Jahren prominent Heinrich Gottlieb Tzschirner und Wilhelm Traugott Krug in Leipzig vertraten, den Protestantismus auch politisch-sozial mit dem „Fortschritt“, den Katholizismus mit Stillstand und „Reaktion“ identifiziert.32 Stets stand der Verdacht des verdeckten Wirkens inkognito vorhandener oder zumindest bald zu erwartender Jesuiten im Raum.33 Gerade in Ländern, wo, wie in Sachsen, der Monarch Katholik, die Mehrheit der Landeseinwohner Protestanten seien, so eine Broschüre von 1845, „da schlichen sie sich, auch wenn sie im Lande nicht öffentlich geduldet waren, in weltlichen Kleidern als Ge29 30 31

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Zur Begriffsgeschichte dieser polemischen Bezeichnung vgl. Raab, Heribert, „Römling“. Zur Geschichte des antirömischen Affekts und der Gettoisierung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Reich und Kirche in der Frühen Neuzeit, S. 511–529. Enthüllungen der neuesten Umtriebe der Jesuiten in Deutschland gegen Fürsten und Völker. Mit besonderer Beziehung auf die „Neuen Gespräche über Staat u. Kirche“. Nebst einem Abriß der Geschichte des Jesuitenordens, Leipzig 1831, S. 98. Vgl. z. B. Freimüthige Beleuchtung der Parität zwischen der protestantischen und der katholischen Kirche in Sachsen, besonders in Dresden. An eine zu Aufrechterhaltung der öffentlichen Ruhe verordnete Hohe Commission zu Dresden, Dresden 1830; Giradet, Friedrich, Gewissensfragen an und über die katholische Geistlichkeit Dresdens, Dresden 1831 (Giradet war Pastor der reformierten Gemeinde Dresdens); Zscheile, Franz Theodor Gotthold, Auch einige Aufschlüsse über das Verhältnis der evangelischen und röm. katholischen Christlichkeit in Dresden, Dresden 1831. Vgl. als bekannte Schrift: Tzschirner, Heinrich Gottlieb, Protestantismus und Katholicismus aus dem Standpuncte der Politik betrachtet, Leipzig 1822. Vgl. als zeitgenössisch am stärksten wahrgenommen: Über die Furcht vor den Jesuiten im Königreich Sachsen mit geschichtlichen Nachweisungen und die Glaubensbekenntnisse zweier sächsischer Fürsten, Friedrich Augusts II, Kurfürsten von Sachsen und Königs von Polen, und Moritz Wilhelms, Herzogs zu Sachsen-Zeitz, o. O. 1830; Gründe zur Befürchtung über das Dasein der Jesuiten in Sachsen und Erwiderung der von einer höchstverordneten Commission unterm 18. September ertheilten Antwort auf die von den resp. Vertretern der hiesigen Bürger- und Einwohnerschaft am 16. September eingereichten gehorsamsten Bitte um ein Regulativ: dass die Kosten für katholische Kirchen, Schulen etc. und die Besoldung der sämmtlichen und bedeutenden katholischen Geistlichen etc. nicht ferner von den evangelischen Staatsbürgern getragen werden müssen, [Dresden] 1830.

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schäftsleute, Botschafter und dergleichen ins Land, gaben sich wohl auch für Protestanten aus, wirkten im Stillen und unter dem Schein des Gerechten für ihre Zwecke, zettelten Meuterei, Aufruhr und Bürgerkriege an“.34 Gerüchte kamen auf, König Anton wolle auf dem 1830 erworbenen Schloss Weesenstein Jesuiten ansiedeln oder das Marcolinische Palais in Dresden solle in ein Jesuitenkollegium umgewandelt, mit österreichischen Jesuiten besetzt und der Garten des Hauses zum katholischen Friedhof gemacht werden.35 Dass der König eine Bittschrift unbeantwortet ließ, die ihn aufforderte, dem Jesuiten-Gerücht öffentlich entgegenzutreten, galt als Beweis für dessen Zutreffen.36 „Ihr Dasein in Sachsen ist außer Zweifel“.37 In einer Verteidigungsschrift, die Franz Laurenz Mauermann, der seit dem Mandat von 1827 das neue katholische Konsistorium leitete und 1841 als Nachfolger seines Bruders Ignaz Bernhard Mauermann zum apostolischen Vikar aufsteigen sollte, 1831 veröffentlichte, waren die verschiedensten Vorwürfe und Gerüchte zusammengeführt, die deutlich machen, wie im Sachsen der späten 1820er Jahre traditionelles konfessionelles Ressentiment, neuer Konfessionalismus, verschwörungstheoretische Annahmen, Angst vor Unterprivilegierung der lutherischen Mehrheitskonfession gegenüber dem Katholizismus des Königshauses und politische Unzufriedenheit im vorkonstitutionellen Königreich eine explosive Mischung eingingen. Neben den vielfältigen Klagen über Bevorzugungen der Katholiken in der Mischehenfrage und über staatliche Aufwendungen für die katholische Religionsausübung wurden u. a. als virulente Vorwürfe angeführt: dass 1813 nur die evangelischen, nicht aber die katholischen Kirchen mit Verwundeten belegt worden seien; dass beim Tod eines evangelischen Geistlichen in Dresden ein Taler des Erbes, wenn es der Stadt zukomme, an die Armenkasse abgeführt werden müsse, bei katholischen Geistlichen aber nicht; dass die katholischen Geistlichen bei der Besetzung vakanter Stellen in Schulen, Armenhäusern, Witwen- und Waisenversorgungsanstalten mitwirken könnten, die evangelischen jedoch nicht; dass Katholiken während der Dauer ihrer Militärpflicht die Erlaubnis zum Besuch einer außersächsischen Universität beim katholischen Konsistorium einholen könnten, während die Protestanten an die weltlichen Behörden verwiesen seien; dass das katholische Kirchenrecht insgesamt nicht mit den Landesgesetzen in Einklang zu bringen sei und dass aufgrund dieser Bevorzugungen sowie aufgrund katholischer Missionstätigkeit viele sächsische Protestanten zum Katholizismus überträten.38 34 35 36 37 38

Habt Acht! Oder: Die katholische Kirche zu Annaberg und die Gefahren des Protestantismus. Ein Sendschreiben an seine Glaubensgenossen zur Prüfung und Beherzigung von einem Freunde des Lichts und der Wahrheit, Altenburg 1845, S. 38f. Vgl. u.  a. Die Gegenwart, S. 283; Böttiger, C[arl] W[ilhelm] Böttiger, Geschichte des Kurstaates und Königreiches Sachsen, Hamburg 1831, S. 641. Vgl. Die Gegenwart, S. 283. Die Umtriebe der Jesuiten in Sachsen und ihre Kirche zu Annaberg. Bruchstücke aus der Geschichte des Jahres 1844, S. 25. Vgl. [Mauermann, Franz Laurenz], Freimüthige Beleuchtung der „Freimüthigen Beleuchtung“ der Parität zwischen der protestantischen und der katholischen Kirche in Sachsen, besonders in Dresden. Nebst actenmäßiger Darstellung der katholisch-kirchlichen Verhältnisse in den Königlich-Sächsischen Erblanden und einer auf amtlichen

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Der letztgenannte Vorwurf bezog sich auf das in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts breit erörterte Problem der Konversionen, der „Proselytenmacherei“, bei dem man in Sachsen wie anderenorts besonders häufig „jesuitische Umtriebe“ vermutete. Die Diskussion beruhte auf einer durch prominente und öffentlichkeitswirksame Konversionen zum Katholizismus genährten Projektion: Tatsächlich traten im gesamten 19. Jahrhundert wohl mehr Menschen von der katholischen Kirche zum Protestantismus über als umgekehrt.39 Der Leipziger Philosoph Wilhelm Traugott Krug, der sich, ähnlich wie sein Leipziger Kollege Heinrich Gottlieb Tzschirner,40 auch im langwierigen, auf die katholische Lehre ausgeweiteten Streit um den Dresdner Anschlag zu Wort meldete41 und politisch gemäßigt liberal positioniert war, präsentierte schon 1822 mit der Bekehrungsgeschichte des Herzogs Moritz Wilhelm von Sachsen-Zeitz, der 1715 unter Mitwirkung des Jesuiten Franz Heinrich Schmelzer katholisch geworden war, ein aus seiner Sicht warnendes Beispiel.42 1827 bedauerte Krug, bisher nur dieses historische Beispiel beigebracht zu haben, und widmete sich der „Neuesten Geschichte der Proselytenmacherei in Deutschland“, die er als den Versuch bestimmte, „durch List oder Gewalt, durch Sophistereien, […] durch Beängstigung des Gewissens, durch Bestechung, durch Versprechungen und Drohungen, auch wohl durch wirkliche Thätlichkeiten“ die Konversion zu erreichen und in dieser Unmoral eine in besonderer Weise „jesuitische“ Kunst sah.43 „Dieser Orden“, so war der Leipziger Theologieprofessor überzeugt, „sucht sich […] überall wieder einzuschleichen, selbst da, wo er noch gesetzlich verboten ist; denn was kümmert sich derselbe um gesetzliche Verbote. Mit seinem Probabilismus, mit seinen Mentalreservazionen, mit seinen Sophismen und Machinazionen weiß er überall

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Nachrichten beruhenden Beilage den gegenwärtigen Gesammtaufwand für den dasigen katholischen Cultus betreffend, Dresden 1831. Vgl. Nowak, Kurt, Geschichte des Christentums in Deutschland. Religion, Politik und Gesellschaft vom Ende der Aufklärung bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, München 1995, S. 67f. Vgl. auch Schneider, Michael C., Zahlen und Bekenntnisse. Die preußische Konfessionsstatistik vor dem Kulturkampf, in: Brunner, José (Hrsg.), Demographie – Demokratie – Geschichte. Deutschland und Israel, Göttingen 2007, S. 25–44; Schaser, Angelika, „Zurück zur heiligen Kirche“. Konversionen im säkularisierten Zeitalter, in: Historische Anthropologie 15 (2007), S. 1–23 (mit reichhaltigen Literaturangaben). Vgl. Tzschirner, Heinrich Gottlieb, Zwey Briefe durch die jüngst zu Dresden erschienene Schrift „Die reine katholische Lehre“ veranlasset, Leipzig 1826. Vgl. Krug, Wilhelm Traugott, Die Kirchenverbesserung und die Gefahren des Protestantismus. Zur Vorfeier des Reformazionsfestes und als Anhang zur Pisteologie herausgegeben, Leipzig 1826; Ders., Die geistlichen Umtriebe und Umgriffe im Königreiche Sachsen und in dessen Nachbarschaft, in: : Krug’s gesammelte Schriften, Zweiter Band. Erste Abtheilung: Theologische Schriften, Zweiter Band, Braunschweig 1830, S. 271–299. Krug, Wilhelm Traugott, Darstellung des Unwesens der Proselytenmacherei durch eine merkwürdige Bekehrungsgeschichte. Der Hohen Deutschen Bundesversammlung ehrerbietigst zugeeignet, Leipzig 1822. Krug, Wilhelm Traugott, Neueste Geschichte der Proselytenmacherei in Deutschland, nebst Vorschlägen gegen dieses Unwesen. Ein Beitrag zur Kirchengeschichte und Kirchenpolizei, in: Krug’s gesammelte Schriften, S. 301–339, hier S. 303, 306.

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Freunde, Gönner und Beschützer zu finden.“44 Krug, in dessen theologischen, politischen und juristischen Schriften die Jesuiten allerorten thematisiert werden, war ein prominentes Beispiel jener Fixierung auf das ubiquitäre, unsichtbare Wirken der Gesellschaft Jesu, für das der Schweizer Arzt, Schriftsteller und Aufklärungskritiker Johann Georg Zimmermann 1788 den zeitgenössisch vielfach kritisch aufgenommenen Begriff der „Jesuitenriecherei“ geprägt hatte. Er selbst, so Zimmermann, sei einem Menschen begegnet, der „unter allen meinen Schränken, Büreaux, Commoden, Tischen, Stühlen, Ofen und Betten, unter meinem Dache, in meinem Keller und unter dem Feuerheerd in meiner Küche“ Vertreter „vom allenthalben im Finstern schleichenden, jesuitischen Natterngezüchte“ vermutet habe.45 Krug selbst wurde mit einer solchen satirischen Kritik seiner antijesuitischen Polemik konfrontiert, als ihn der bayerische Pfarrer und theologische Publizist Georg Joseph Götz 1833 in seinem Stück „Die Jesuiten in Leipzig oder Professor Flasche’s Katastrophe“ als eben jenen Professor Flasche porträtierte, der sich, als Frau verkleidet, in einen Damenzirkel einschleichen will, um ihn als jesuitische Tarnorganisation zu entlarven, bei dieser mutigen „aufklärerischen“ Tat aber von der Polizei ergriffen wird. Die Posse wird von einem „grauen Männlein aus dem Erzgebirge“ eröffnet, das Leipzig „große Noth“ ankündigt: „Wird Cholera euch überfallen? / Naht feindlich eine Kriegerschaar? / Vermehren sich die Communalen? / Stellt eure Stadt ein Chemnitz dar? O nein! des Teufels Satelitten – / O sammelt euren ganzen Muth! – / Schon sind sie da, die Jesuiten, / Schon jauchzt Triumph die Höllenbrut. […] Ein Kobolt schrecket kleine Kinder, / Gespenst und Alp die alten Frau’n; / Der Hölle Spuck muß oft der Sünder – / Doch Flasche – Jesuiten schau’n!“46 Krug ließ es sich nicht nehmen, die Satire im Literatur-Repertorium des Leipziger Historikers Karl Heinrich Ludwig Pölitz selbst zu besprechen. Ärger und verkappter Stolz, Gegenstand solcher literarischen Polemiken zu werden, hielten sich in der Kritik die Waage, die Krug mit der lakonischen Feststellung eröffnete: „Unterzeichneter ist selbst Gegenstand dieses satyrischen Drama’s“. Säuerlich vermerkte er, der Verfasser des Stückes könne kein Jesuit sein, „da ein echter Jesuit wohl mehr Geschmack und Witz gezeigt ha-

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Ebd., S. 335. [Johann Georg] Zimmermann, Ueber Friedrich den Grossen und meine Unterredungen mit Ihm kurz vor seinem Tode, Carlsruhe 1788, S. 89. Zum Begriff der „Jesuitenriecherei“ vgl. auch Raab, Kirchengeschichte im Schlagwort, S. 492–494. Zu Einordnung der gegenaufklärerischen Publizistik des späten Zimmermann vgl. Weiß, Christoph, „Royaliste, Antirépublicain, Antijacobin et Antilluminé“. Johann Georg Zimmermann und die „politische Mordebrennerey in Europa“, in: Weiß, Christoph (Hrsg.), Von „Obscuranten“ und „Eudämonisten“. Gegenaufklärerische, konservative und antirevolutionäre Publizisten im späten 18. Jahrhundert, St. Ingbert 1997, S. 367–401. Stitzl, Julius (= Goetz, Georg Joseph), Die Jesuiten in Leipzig, oder Professor Flasche’s Katastrophe. Ein Jammer-, Trauer- und Lustspiel mit einem Prologe, 1 Akte, 6 Auftritten, 3 Szenen und in zierlichen Reimen, Augsburg 1833, S. 3f. Zur Auflösung des Pseudonyms und zu Götz vgl. Kehrein, Joseph, Biographischliterarisches Lexikon der katholischen deutschen Dichter, Volks- und Jugendschriftsteller, Bd. 1, Zürich 1868, S. 120f.

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ben würde“.47 Andere Kritiker, so der spätrationalistische Theologe und Radeberger Pfarrer Heinrich Christoph Krause, wollten solche Satire nicht auf die leichte Schulter genommen wissen und wiesen in bewährter konspirationstheoretischer Manier jegliche Ironisierung der Jesuitenfurcht als „jesuitischen“ Versuch einer Verschleierung und Abwiegelung zurück: „Man schwätze nicht von Jesuitenriecherei [...]! Besser man riecht das verderbliche mit gesundem Organe und vermeidet es, als daß man [...] die bittern Früchte der jesuitischen Umtriebe schmecken und fühlen muß, aber wenn’s vielleicht zu spät ist und das Gift schon wirkt.“48

II. Sowohl bei Krug wie auch bei Krause wurde hier die paradoxe konfessionelle Entgrenzung des Jesuitismus-Begriffs deutlich, die seine Verwendung im 19. Jahrhundert kennzeichnete: Bezeichnend für die nach außen wie nach innen abgrenzende Stoßrichtung neukonfessionalistischer Stellungnahmen richtete sich der antijesuitische Argwohn dieser Protagonisten auch auf den Protestantismus selbst. In neologisch-spätrationalistischer und liberaler Perspektive war der Erweckungsbewegung und dem Neupietismus sowie dem „Mystizismus der höheren Stände“, die sich, wie der Erlanger Historiker Karl Wilhelm Böttiger 1831 schrieb, auch in Sachsen breitmachten, zuzutrauen, „freilich ohne diese Absicht zu hegen, selbst den Jesuiten den Weg in’s Land zu bahnen“. 49 Solche „Jesuitismus“-Vorwürfe waren Teil eines Hegemonial-Diskurses des liberalen Protestantismus, der gegenüber theologisch oder auch kirchlich-institutionell abweichenden Strömungen innerhalb des protestantischen Konfessionsaggregates ähnlich wie gegenüber dem Katholizismus „repressive Toleranz“ auf seine Fahnen schrieb. So geriet in Sachsen selbst die pietistische Prägung Herrnhuter Brüdergemeine ins Visier der „Jesuitenriecher“; Böttiger zitierte nicht ohne Zustimmung die Bemerkung, die „wirklich ein denkgläubiger 47

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Krug, [Wilhelm Traugott], Rezension zu „Die Jesuiten in Leipzig“, in: Neues allgemeines Repertorium der neuesten in- und ausländischen Literatur für 1833, hrsg. von einer Gesellschaft gelehrter Männer unter Redaction von Karl Heinrich Ludwig Pölitz, Erster Bd., Leipzig 1833, S. 186–188, hier S. 186. Haurenski, Erich (= Heinrich Christoph Krause), Der Teufel ein Bibelerklärer?! Oder Beitrag zur Entscheidung über das Zwingende einer vernünftigen Christenthums- und Bibelansicht sowie das Staats- und Sittengefährliche des Gegentheils, Altenburg 1834. Zur Auflösung des Pseudonyms und zu Krause vgl. Schmidt, Andreas Gottfried, Gallerie deutscher pseudonymer Schriftsteller vorzüglich des letzten Jahrzehents. Ein Beitrag zur neuesten Literaturgeschichte, Grimma 1840, S. 80–83. Einige seiner Streitschriften veröffentlichte Krause im Verlag von Johann Karl Gottfried Wagner in Neustadt an der Orla, der ein bedeutsamer Publikationsort für rationalistische Theologie und Pädagogik im mitteldeutschen Raum war. Vgl. Greiling, Werner, „Dem sittlichen und religiösen Unterricht gewidmet“. Der Verlag J.K.G. Wagner in Neustadt an der Orla. Mit einem Anhang: Systematische Verlagsbibliographie J.K.G. Wagner 1799–1831, in: Ders./Seifert, Siegfried (Hrsg.), „Der entfesselte Markt“. Verleger und Verlagsbuchhandel im thüringisch-sächsischen Kulturraum um 1800, Leipzig 2004, S. 129–175, hier bes. S. 155. Böttiger, Geschichte des Kurstaates und Königreichs Sachsen, S. 603.

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Geistlicher“ einem „längst verstorbenen hohen Staatsbeamten“ gegenüber gemacht habe: „Ob er nicht wisse, daß der Weg nach Rom über Herrnhut gehe?“50 „Jesuitismus“ und „Mystizismus“ avancierten zu eng verknüpften Schlagworten dieser innerprotestantischen Differenzierungen; 1844 hieß es im Zusammenhang der Auseinandersetzungen um den Bau der katholischen Kirche in Annaberg, die „Bewohner unseres sächsischen Erzgebirges sind […] zur Frömmigkeit geneigt, nicht selten zu einer Frömmigkeit, die von einem mystischen Anfluge nicht frei ist. Grund genug für einen Jesuit [!] zu hoffen, dass mit der Zeit hier reiche Ernte zu halten sei.“51 Kritik von Jesuitenfurcht und Antijesuitismus, diese Erfahrung mussten protestantische Theologen und Publizisten im 19. wie im 20. Jahrhundert machen, führte in den so gezogenen Grenzen schnell dazu, selbst des „Jesuitismus“ geziehen zu werden. Christoph Gottlieb von Murr, der sich nach der Aufhebung des Ordens in der protestantischen Publizistik durch einen Widerspruch gegen die überbordenden „Jesuiten-Fabeln“52 isolierte,53 musste ebenso mit dem schwerwiegenden Vorwurf des „Kryptojesuitismus“ leben wie der Schriftsteller Victor Naumann, der 1902 öffentlich gegen die nationalistisch getönte Jesuitenhetze des ehemaligen Jesuiten Paul Graf Hoensbroech auftrat und 1905 eine umfangreiche Darstellung zur Entwicklung des Ordens und zum Antijesuitismus vorlegte.54 In Leipzig sorgte 1830 das Verbot einer Zeitschrift für Aufregung, die Alexander Müller, der im selben Jahr aus dem Staatsdienst des Großherzogtums SachsenWeimar-Eisenach ausgeschieden war, in der Universitätsstadt unter dem Titel „Der canonische Wächter. Eine antijesuitische Zeitschrift für Staat und Kirche und für alle christliche Konfessionen“ herausgab.55 Müller, aus Zell bei Fulda gebürtig und selbst 50 51 52

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Ebd., S. 604. Die Umtriebe der Jesuiten, S. 14. So der von Bernhard Duhr geprägte Begriff, der die Vielfalt antijesuitischer Polemik unter diesem Titel in einer umfänglichen Darstellung erstmals 1891 zusammenführte. Vgl. Duhr, Bernhard, Jesuiten-Fabeln. Ein Beitrag zur Culturgeschichte, Freiburg i. Br. 1891. Vgl. Eines Protestanten, Herrn Christoph Gottlieb von Murr, der Reichsstadt Nürnberg Zollamtmanns, und Mitglieds des königlichen historischen Instituts zu Göttingen, und der naturforschenden Gesellschaft in Berlin etc. Acht und zwanzig Briefe über die Aufhebung des Jesuitenordens, o. O. 1774. Zu Murr vgl. Wolf, Protestantischer „Jesuitismus“. Vgl. Pilatus (= Naumann, Victor), Was ist Wahrheit? Eine Frage gestellt an den Grafen Paul Hoensbroech, 2. Aufl., Augsburg 1903; Ders., Quos ego! Fehdebriefe wider den Grafen Paul Hoensbroech, Regensburg 1903; Ders., Der Jesuitismus. Eine kritische Würdigung der Grundsätze, Verfassung und geistigen Entwicklung der Gesellschaft Jesu mit besonderer Beziehung auf die wissenschaftlichen Kämpfe und auf die Darstellung von antijesuitischer Seite. Nebst einem literarhistorischen Anhang: Die antijesuitische Literatur von der Gründung des Ordens bis auf unsere Zeit, Regensburg 1905. Vor seinem Tod konvertierte Naumann zum Katholizismus. Zu Müller und den Vorgängen um die Zeitschrift vgl. Bülau, Friedrich, Geschichte des sächsischen Staates und Volkes von Dr. C. Gretschel fortgesetzt, Bd. 3, Leipzig 1853, S. 700f.; Conversations-Lexikon der neuesten Zeit und Literatur. In vier Bänden, Bd. 3, Leipzig 1833, S. 185.

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Katholik, wollte mit dieser Zeitschrift, die den Antijesuitismus buchstäblich im Titel trug, zu einer Loslösung des deutschen Katholizismus von Rom und zur Verschärfung protestantischer „Wachsamkeit“ gegen die „Ultramontanen“, aber auch gegen den „Jesuitismus“ in den eigenen Reihen beitragen. Folgerichtig bezog er sich in den vorab veröffentlichten Auskünften zur „Tendenz dieser Zeitschrift“ auf das Dasein einer „finstern im Finstern und auf Finsterniß hinarbeitenden Partei“, die konfessionell nicht eindeutig definiert war.56 Tendenz und Titelwahl verweisen so einmal mehr darauf, wie stark der Terminus des „Jesuitismus“ sich im 19. Jahrhundert von der konkreten Organisation und Spiritualität des Jesuitenordens abzulösen begann und zur liberalen Chiffre nicht nur für das, was man polemisch unter „Ultramontanismus“ fasste, sondern auch für den Konservatismus wurde. Im Hauptfokus aber blieben die Jesuiten: „Das ganze System, das die Jesuiten verfolgen […] soll mit allen seinen offenbaren und versteckten Kniffen und in seiner ganzen Blöße zur Schau gelegt werden.“57 Zugleich, bezeichnend für die Selbstwahrnehmung Müllers, sollte seine Polemik nicht polemisch sein, wobei er in der Ankündigung dieser „unpolemischen Polemik“ implizit die üblichen Exklusionen des liberalen Antijesuitismus vornahm: Wer nicht gegen die Jesuiten war, konnte kein „redlicher Deutscher“ sein oder hatte einen mentalen, zumindest intellektuellen Defekt; das war eine „Tatsache“ und keiner weiteren Reflexion bedürftig. „Der tiefe Haß, den ich mit allen redlichen Deutschen und mit allen Denkern von gutem Gemüth gegen das abscheuliche Jesuitensystem von Jugend auf getheilt habe, soll meiner Darstellung darum nicht die Farbe geben.“58 Zugleich aber gelte es unermüdlich die in Vergessenheit geratenen oder neu hinzugekommenen Erkenntnisse über die „verwegenen Veteranen der päpstlichen Armee“ in die Öffentlichkeit zu bringen. Nichts sei „für die bedrohten großen Interessen der Menschheit und des Vaterlandes wichtiger, als das Andenken an diese unsere Erbfeinde, an ihre alte Schande und eingeteufelte Verworfenheit in allen Gemüthern frisch zu erhalten, damit schon an den bloßen Namen sich die Verachtung so hefte, dass von den Vogesen bis zum Belt jeder Deutsche sich schäme, mit einem Jesuiten nur umzugehen“.59 Hatte schon in den Auseinandersetzungen nach dem Dresdner Jubiläumsanschlag von 1824 und um die Rechtsverhältnisse der sächsischen Katholiken ein königliches Reskript jede konfessionelle Polemik zu unterbinden versucht,60 verbot auch jetzt die evangelische Kirchenbehörde die Zeitschrift noch vor ihrem erstmaligen Erscheinen. Nachdem dieses Verbot auf eine Beschwerde des Verlegers Friedrich Arnold Brockhaus hin wieder aufgehoben wurde, unterstellte man die – daraufhin nach Halle abwandernde – Zeitschrift des Katholiken Müller der nach den Regelungen von 1827 gesetzmäßigen Zensur des apostolischen Vikariates, was ebenso als Zei56 57 58 59 60

[Müller, Alexander], Fernere Ankündigung. Der canonische Wächter. Eine antijesuitische Zeitschrift für Staat und Kirche und für alle christliche Confessionen, hrsg. von Alexander Müller, Leipzig [1830], Sp. 1–8, hier Sp. 7. Ebd. Ebd. Ebd., Sp. 8. Vgl. Böttiger, Geschichte des Kurstaates und Königreichs Sachsen, S. 605.

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chen eines wachsenden und überhandnehmenden Einflusses des Katholizismus und „Jesuitismus“ gedeutet wurde wie eine 1828 erhobene Beschwerde des Vikariates gegen Wilhelm Traugott Krug, der in seiner Schrift „Was sollen jetzt die protestantischen Katholiken in Deutschland thun“ zur Gründung einer deutsch-katholischen Kirche aufgerufen hatte.61

III. Als eine solche deutschkatholische Bewegung Mitte der 1840er Jahre auch in Sachsen tatsächlich vorübergehend Wirklichkeit wurde, zeigte ein überall in Deutschland wahrgenommener Konflikt in der sächsischen Bergstadt Annaberg, welches Mobilisierungs- und Unruhepotenzial dieser politisierte Konfessionalismus und Antijesuitismus barg – ein Potenzial, das die vormärzliche Regierung jenseits aller Erwägungen zur konfessionellen Parität mit Sorge betrachten musste. Die schon in Müllers Beschwörung der Jesuiten zu einer Gefahr nicht nur für die Nation, sondern für die gesamte Welt und Menschheit aufscheinende Radikalisierungstendenz der verschwörungstheoretischen Welterklärung, die stets die Gefahr in sich birgt, den Rahmen einer interessengeleiteten politisch-sozialen Instrumentalisierung zu sprengen und letztlich jeden der „Herrschaft des Verdachts“ zu unterstellen, wurde in den Auseinandersetzungen um die neue katholische Kirche in Annaberg überdeutlich. Genau in dieser, vom Staat über die Störung des konfessionellen Friedens hinaus als ernsthafte politische Bedrohung aufgefassten Gefahr lag auch das selbstlimitierende Element solcher konfessionalistischen Mobilisierung im 19. Jahrhundert. Schon bevor es zu den Annaberger Auseinandersetzungen kam, war die öffentliche Jesuitenfurcht durch die Meldung angeheizt worden, in Dresden sei einem Sammler ein Jesuitensiegel angeboten worden. Selbst durch den Hinweis, das Siegel stamme aus der Zeit vor der Aufhebung des Ordens, ließ sich die öffentliche Erregung kaum besänftigen. Auch hier, so argumentierte eine Flugschrift von 1844, sei, ähnlich wie 1829/30 bei den Gerüchten über eine geplante Jesuitenniederlassung in Dresden, kein ausdrücklicher Widerspruch erfolgt und es gelte deshalb: „Qui tacet, consentit.“62 1843 hatte das restriktive Vorgehen des Kultusministeriums gegen die auf dem Gut der Grafen Stolberg-Stolberg in Brauna bei Kamenz angesiedelte HerzMariä-Bruderschaft, der der öffentlich erhobene Vorwurf, eine jesuitische Tarnorganisation zu sein, nicht nachgewiesen werden konnte, gezeigt, dass die Regierung weder bei der protestantischen Mehrheit noch bei der kleinen katholischen Minderheit bereit war, die Ausweitung konfessioneller Differenzen zu politischer Unruhe hinzunehmen.63 61 62 63

Vgl. Krug, Wilhelm Traugott, Was sollen jetzt die protestantischen Katholiken in Deutschland tun? Eine kirchenpolitische Frage beantwortet, Leipzig 1827. Die Umtriebe der Jesuiten, S. 21. Vgl. auch Bauer, Eduin, Geschichte der Gründung und Fortbildung der deutsch-katholischen Kirche, Meißen 1845, S. 96. Vgl. dazu Meier, Die katholische Kirche in Sachsen, S. 96f.

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Gegenstand der Auseinandersetzung in Annaberg war eine Tafel, die beim dortigen, am 20. Oktober 1844 eingeweihten katholischen Kirchenneubau an der Rückseite des Altarsteins angebracht worden war und mitteilte, dass im Altar neben den Reliquien anderer Heiliger auch solche der beiden Jesuitenheiligen Ignatius von Loyola und Franz Xaver deponiert seien. Als das bekannt wurde, wandten sich die Annaberger Stadtverordneten angeführt von dem Rechtsanwalt Hermann Haustein und von Johann August Gräfe mit einer Protestadresse an die Dresdner Regierung und forderten, dass die Verbindung der Kirche zu den Jesuiten aufgedeckt und die Verantwortlichen auf der Grundlage des in der Verfassung von 1831 niedergelegten Jesuitenverbotes bestraft würden. Haustein und Gräfe boten in ihrem Antrag und in der Debatte der Stadtverordneten am 1. November 1844 eine Zusammenschau der antijesuitischen Polemik des 19. Jahrhunderts, die offenbar durch intensives – wohl nicht erst im Herbst 1844 einsetzendes – Studium der zeitgenössischen Antijesuitika grundgelegt war.64 Der Kirchenbau erschien als immense Gefahr; der Anlass als Chance, dem angeblich überall in Sachsen sprießenden Jesuitismus „entgegen zu arbeiten“.65 Obgleich oder wohl gerade weil das Dresdner Kultusministerium die Forderungen zurückwies und zum konfessionellen Frieden mahnte66 und obwohl ein späterer Versuch der Stadtverordneten, die Baugenehmigung zurückzunehmen, scheiterte, war das Echo gewaltig: Unterstützungsadressen sächsischer Städte erreichten die Annaberger Volksvertreter, überall in Deutschland war das Annaberger Kirchlein Gegenstand erregter Publizistik. Die Zwickauer Stadtverordneten versicherten ihren Annaberger Kollegen, sie hätten über den „Fund“ in der katholischen Kirche „getrauert“, weil „wir dadurch die Gewißheit erhalten mußten, der Feind […] habe die Grenzen Sachsens überschritten“.67 „Mitten im schönen Sachsenlande, der Wiege des Protestantismus“, so eine Flugschrift, „weithin bekannt und gerühmt wegen seiner geistigen Bildung und Mündigkeit seiner Bewohner, beneidet wegen 64

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Ausführlich dokumentiert sind die betreffenden Verhandlungen der Annaberger Stadtverordneten in: Vollständige Mittheilung der Verhandlungen bei den Stadtverordneten zu Annaberg in den öffentlichen Sitzungen vom 1. November und 2. Dezember 1844 in Betreff der Weihe der katholischen Kirche verbürgt von Adv. Hermann Haustein, Stadtverordneten zu Annaberg. Zum besten der Gustav-Adolph-Stiftung, Annaberg 1844; Haustein, Hermann, Zweiter Bericht über die weiteren Verhandlungen bei den Stadtverordneten zu Annaberg in den öffentlichen Sitzungen am 17. Dec. 1844 und 16. Jan. 1845 in Betreff der Beziehungen der dasigen römisch-katholischen Kirche zu dem Jesuitenorden und dem Jesuitismus, Annaberg 1845. Auch Bauer, Geschichte und Gründung, S. 62–114 gibt weite Teile der Verhandlungen auf der Grundlage dieser Berichte wieder. Vgl. ebd., S. 88. Ein warnender Ton war im Reskript des Kultusministeriums vom 17. November 1844 nicht zu überhören: „Wie daher das Ministerium seinerseits nichts unterlassen wird, was die sorgfältige Pflichttreue irgend fordern kann, so gibt sich dasselbe andrerseits aber auch der zuversichtlichen Erwartung hin, daß nicht aus einseitigem Glaubenseifer, wie achtbar dessen Quelle auch an sich sein möge, ohne vorgängige genaue Prüfung, Besorgnisse geäußert, dadurch aber Unruhe und Aufregung im Lande verbreitet werden, welche, zur Zeit wenigstens, alles und jedes Grundes entbehren.“ So zit. in: ebd., S. 96. So zit. in: ebd., S. 98.

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seiner freien Verfassung und herrlichen Fürsten“ würden, wie der Vorgang in Annaberg zeige, „die Angriffe des Feindes gefährlicher und offener“.68 Es gehe, so der Advokat Haustein in der Annaberger Stadtverordnetenversammlung in bezeichnender Wendung für den politisierten Konfessionalismus gemäßigt-liberaler Couleur, der sich selbst als „tolerant“ imaginierte, bei dem Vorgehen gegen die vermeintliche Jesuitenkirche keineswegs um Antikatholizismus, sondern „um die Bekämpfung eines politischen Unfuges“.69 Worin dieser eigentlich bestehe, blieb in Annaberg während der gesamten Affäre im Vagen; der Verweis auf das „Gift des Jesuitismus“, das nun von Annaberg auszuströmen drohte,70 genügte, um die beabsichtigte Kommunikation in Gang zu setzen. Verschwörungstheoretische Argumente in Reinkultur ergänzten das Bild: Die zwei Birken, die rechts und links vom Eingang der neuen Kirche gepflanzt worden waren, seien ein untrügliches Erkennungszeichen für Jesuitenkirchen,71 eine rote Fahne, die bei der Einweihung aufgezogen gewesen sei, könne ein Signal des Jesuitenordens sein,72 die zwei leeren Nischen über dem Eingang der Kirche seien für Statuen des heiligen Ignatius und des heiligen Franz Xaver bestimmt.73 Die Tatsache, dass das Patrozinium der Kirche nicht auf Ignatius von Loyola, sondern Maria und das heilige Kreuz lautete, beweise nichts, sondern verstärke eher den Verdacht einer Verbindung zu den Jesuiten, sei Ignatius doch ein glühender Marienverehrer gewesen und müsse das Kreuz ganz besonders als jesuitisches Zeichen gelten, weil der Gründer der Gesellschaft Jesu in einer Vision, die ihm die Schaffung und Anerkennung des Ordens verhieß, Christus mit einem Kreuz gesehen habe.74 Hier, wie in der Forderung Hausteins, den Altar aufzubrechen, um überprüfen zu können, welche Reliquien sich außer den bereits bekannten im Altar befänden, offenbarte sich tatsächlich eine paranoide Tendenz, die – z. B. in der Überlegung, man müsse noch den Inhalt der Urkunden kennenlernen, die sich im Grundstein der Kirche befinden – auch ein verdecktes Gewaltpotenzial erkennen ließ.75 In der Selbstwahrnehmung der Annaberger Antijesuiten, die den Sturm von 1844 entfesselten, waren es jedoch sie selbst, denen mit den Altarreliquien der neuen katholischen Kirche Gewalt angetan wurde: Besonders Reminiszenzen an das konfessionelle Zeitalter, an die Reformation und den Dreißigjährigen Krieg dienten der antijesuitischen Phantasie zur Selbststilisierung als Opfer. „Was haben denn all die Kämpfe genutzt“, so hieß es, „welche die Menschheit seit fast Zwei Tausend Jahren für evangelisches Licht und Wahrheit und Freiheit geführt hat? […] Warum hast du, Gottesmann Luther gelebt, gekämpft, gestritten […] warum habt ihr Tausend und aber Tausend den blutigen Religionskampf dreißig Jahr gekämpft? […] Magdeburg und all ihr dreißig Tausend Erwürgte und Hingemordete, die unter seinen Trüm68 69 70 71 72 73 74 75

Die Umtriebe der Jesuiten, S. 6. So zit. in: Bauer, Geschichte und Gründung, S. 88. Ebd. Vgl. Die Umtriebe der Jesuiten, S. 9. So zit. in: Bauer, Geschichte und Gründung, S. 103. Vgl. Die Umtriebe der Jesuiten, S. 10. So zit. in: Bauer, Geschichte und Gründung, S. 100–102. Zu diesen Forderungen vgl. ebd., S. 109.

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mern begraben lagen, stehet auf und leget Zeugniß ab an diesem Tage den gegenwärtigen Geschlecht, warum ihr dieses Unglück, diese Drangsal erlittet“.76 Solche historischen Bezüge verbanden sich nicht nur mit dem liberalen Bewusstsein, im Vorgehen gegen das, was man als „Jesuitismus“ ansah, für die „Freiheit“ der Katholiken selbst zu wirken, sondern auch der Stabilität und Sicherheit des Staates zu dienen. Sei es doch, so wiederholte eine andere Flugschrift zu den Annaberger Ereignissen einen schon im konfessionellen Zeitalter erhobenen Vorwurf, Methode der Jesuiten, „Meuterei, Aufruhr und Bürgerkriege“ anzuzetteln,77 um ihrem Hauptziel näher zu kommen: eine vollständige Rekatholisierung zu erreichen und „diejenigen auszurotten, welche ihre Lebenswurzel – Nacht, Finsterniß, Knechtschaft – zu gefährden drohen“.78 Auch die antijüdischen Elemente des antijesuitischen Diskurses, z. B. der Vergleich der Jesuiten mit dem „ewigen Juden“ – die die katholische und jesuitische Apologetik nicht selten ihrerseits mit antijüdischen und antifreimaurerischen Argumenten beantwortete –, wurden in den sächsischen Diskussionen der Jahre 1844 und 1845 vielfach bemüht.79 Oftmals wurde in der Publizistik zum Annaberger Ereignis der Deutschkatholizismus als Mittel gegen „Ultramontanismus“ und „Jesuitismus“ empfohlen und damit zugleich auf eine wesentliche Trägergruppe der antijesuitischen Welle in Sachsen in der Mitte der 1840er Jahre verwiesen: Der Protest des schlesischen Priesters Johannes Ronge gegen die auch in der sächsischen Jesuiten-Diskussion häufig erwähnte Heilig-Rock-Wallfahrt in Trier 1844 ließ in Sachsen als einem der Schwerpunkte des Deutschkatholizismus schnell ein Netz katholischer Dissidenten entstehen, die sich unter der Bezeichnung der „Deutschkatholiken“ als katholische deutsche Reformkirche begriffen und – man denke an in Sachsen tätige Deutschkatholiken wie Robert Blum – in den letzten Jahren des Vormärz und in der Revolution von 1848/49 in enger Beziehung zum demokratischen Flügel des Liberalismus standen. Für sie schienen der Kampfbegriff des „Jesuitismus“ und die Jesuitenfurcht Anknüpfungspunkte für den – sich schon in den 1850er als erfolglos herausstellenden – Versuch zu bieten, eine nicht-römische, nationalkirchlich-deutsche katholische Identität auszubilden.80 Auch in Annaberg wandte sich ein Teil der katholischen Einwohnerschaft dem Deutschkatholizismus zu, was aber, anders als die deutschkatholische Publizis76

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Die Umtriebe der Jesuiten, S. 16. Zur Bedeutung der Zerstörung Magdeburgs in den konfessionellen Diskursen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts jetzt ausführlich und aufschlussreich: Wald, Martin C., Die Gesichter der Streitenden. Erzählung, Drama und Diskurs des Dreißigjährigen Krieges, 1830 bis 1933, Göttingen 2008, S. 109–198. Habt Acht!, S. 39. Die Umtriebe der Jesuiten, S. 5. Vgl. z. B. ebd., S. 17. Zum Deutschkatholizismus vgl. u.  a. Holzem, Andreas, Kirchenreform und Sektenstiftung. Deutschkatholiken, Reformkatholiken und Ultramontane am Oberrhein (1844–1866), Paderborn u. a. 1994; Paletschek, Sylvia, Frauen und Dissens. Frauen im Deutschkatholizismus und in den freien Gemeinden 1841–1852, Göttingen 1990; Graf, Friedrich Wilhelm, Die Politisierung des religiösen Bewußtseins. Die bürgerlichen Religionsparteien im deutschen Vormärz. Das Beispiel der Deutschkatholizismus, Stuttgart/Bad Cannstadt 1978.

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tik glauben machen wollte, nicht zum Zusammenbruch der örtlichen katholischen Gemeinde führte.81

IV. Wie überall im protestantischen Europa war der Antijesuitismus auch im Sachsen des 19. Jahrhunderts integraler Bestandteil einer sich zunehmend politisierenden Konfessionalität. In dieser Politisierung, mit seinen Bezügen zum konfessionellen Zeitalter des 16. und 17. Jahrhunderts, seiner Reaktivierung auch in der Aufklärungsepoche tradierter konfessioneller Signaturen und mit seinen konspirationstheoretischen Elementen diente er sowohl der Abwehr und Abgrenzung des im paritätischen Staat als zunehmend bedrohlich empfundenen konfessionell Anderen als auch – für den politischen Liberalismus – der Mobilisierung gegen eine den liberalen Forderungen ablehnend gegenüberstehende, vor 1831 antikonstitutionelle, nach der Verfassungsgebung staatskonservativ-autoritäre Regierungspolitik. Für den Liberalismus stellte der Terminus des „Jesuitismus“ eine vom Konfessionellen abgelöste aber zugleich auf den politischen Konfessionalismus zurückverweisende Chiffre dar, in der Reaktion und „ultramontaner“ Katholizismus, Konservatismus und geistig-kulturelle Inferiorität zu einem griffigen und popularisierbaren Feindbild verschmolzen wurden. Der politische und gesellschaftliche „Mehrwert“ des so konstruierten „Jesuitismus“ schwand allerdings dort, wo dieses Mobilisierungsinstrument den liberalen politischen Eliten zu entgleiten drohte und im Zeichen verschwörungstheoretischer Fanatisierungsdynamik auch in den protestantischen Mehrheitsgesellschaften nicht mehr politisch integrierte, sondern zentrifugale Kräfte freisetzte. Der gemäßigte sächsische Liberale Karl Biedermann war sich dieser Ambivalenzen 1846 bei seiner Einordnung der Annaberger Ereignisse von 1844/45 wohl bewusst, wenn er zwar „wohl gegründete Besorgnisse“ vor dem „Jesuitismus“ anerkannte und von den vorgeblichen Absichten des sächsischen Katholizismus zu einer „Katholisirung der protestantischen Bevölkerung“ sprach, zugleich aber auch die Angst vor einer Radikalisierung jener Mehrheit der Gesellschaft erkennen ließ, die aus der Sicht des gemäßigten Liberalismus ihre Partizipationsfähigkeit noch erwerben, sich noch zu „Bürgern“ „bilden“ musste: Wenn auch viele antijesuitische Gerüchte in Sachsen, so 81

Bauer, Geschichte und Gründung, S. 222 behauptet, die katholische Kirche in Annaberg habe schon im Februar 1845 „schließen“ müssen, weil sämtliche ortsansässigen Katholiken sich dem Deutschkatholizismus angeschlossen hätten. Robert Blum sprach im März 1845 im deutschkatholischen Organ „Katholische Kirchenreform“ davon, 70 Annaberger Katholiken hätten sich für den Deutschkatholizismus erklärt, und bezeichnet diese Zahl als „die volle Hälfte der dortigen Gemeinde“, geht also von ca. 140 Katholiken aus. Vgl. Blum, R[obert], Die deutsch-katholische Kirche in Sachsen, in: Katholische Kirchenreform. Monatsschrift 1 (1845), S. 70f. Der Berichterstatter des „Schlesischen Kirchenblattes“ dagegen nannte für Annaberg im Oktober desselben Jahres eine Gemeindegröße von 300 Seelen; die deutschkatholische „Gemeinde“ bestehe nur aus 13 „längst abgestandenen Katholiken“. Schlesisches Kirchenblatt 11 (1845), Nr. 43, 25. Oktober 1845, S. 555.

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Biedermann, „zuletzt […] als unwahr oder entstellt sich ausweisen“ mussten, „so waren sie doch begierig geglaubt worden; was aber das Volk einmal glaubt und gern glaubt, Das läßt es sich nicht so leicht wieder ausreden.“82

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Biedermann, Karl, Sächsische Zustände, in: Ders. (Hrsg.), Unsere Gegenwart und Zukunft, Bd. 1, Leipzig 1846, S. 284–355, hier S. 309f.

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Lutherische Urängste im Königreich Sachsen zwischen Wiener Kongress und Verfassung Wolfgang Flügel

Die säkularisierungstheoretische Annahme vom Niedergang der Religion seit dem 18. Jahrhundert gilt zunehmend als widerlegt.1 Stattdessen verweist die geistes- und sozialwissenschaftliche Forschung immer mehr auf Wirkungen, welche die Religion bis in die Gegenwart hinein auch außerhalb der Gebetsräume in den verschiedensten Bereichen der Gesellschaft besitzt. Sie formt kulturelle Wahrnehmungsmuster oder habituelle Prägungen ebenso wie gesellschaftliche Normierungen.2 Dadurch beeinflusst sie zugleich Entwicklungsprozesse, insofern sich die kulturelle Überformung der Gesellschaft in besonderem Maße auf der Grundlage bestimmter religiös interpretierter Ideen vollzieht.3 Hier verbindet sie die Überzeugung vom göttlichen Wirken mit dem Glauben an eine normativ bestimmte Welt.4 Die spezielle Leistung der Religion besteht in diesem Zusammenhang darin, dass sie in gesellschaftlichen Konstellationen Stellung bezieht und sich etwa in öffentlichen Wertedebatten zur Geltung bringt. Sie fungiert demnach als institutionalisierte Weltdeutung, als Selbstbeobachtung und liefert dadurch Handlungsorientierung. Damit kann sie einerseits zur Konstituierung und zur Stabilisierung, ja sogar zur Modernisierung5 von sozialen und politischen Ordnungen beitragen, andererseits

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3 4 5

Gegen die Säkularisierungsthese argumentiert z.B. Blaschke, Olaf, Der „Dämon des Konfessionalismus“. Einführende Überlegungen, in: Ders. (Hrsg.), Konfessionen im Konflikt. Deutschland zwischen 1800 und 1970: Ein zweites konfessionelles Zeitalter, Göttingen 2002, S. 13–69. Ähnlich auch die Haltung in anderen Fachwissenschaften; vgl. die Beiträge in: Minkenberg, Michael/Willems, Ulrich (Hrsg.), Politik und Religion, Wiesbaden 2003; Weyel, Birgit/Gräb, Wilhelm (Hrsg.), Religion in der modernen Lebenswelt, Göttingen 2006. Bereits Soziologen wie Èmile Durkheim und Niklas Luhmann haben wiederholt die Verbindung von Kultur und Religion betont; vgl. allgemein Graf, Friedrich Wilhelm/ Tanner, Klaus, Das religiöse Fundament der Kultur. Zur Geschichte der neueren protestantischen Kulturdebatte, in: Ziegert, Richard (Hrsg.), Protestantismus als Kultur, Bielefeld 1991, S. 7–66; Homann, Harald, ‚Kulturprotestantismus’ – zum Problem moderner Religion, in: Bergmann, Jörg/Hahn, Alois/Luckmann, Thomas (Hrsg.), Religion und Kultur, S. 167–190, hier S. 173. Speziell für den politischen Bereich vgl. Röhrich, Wilfried, Die Macht der Religionen. Glaubenskonflikte in der Weltpolitik, 2. Aufl., München 2004, bes. S. 9–14. Vgl. ebd., S. 9. Auf die Modernisierungsleistungen von Religion verweist auch Rolf Schieder (HumboldtUniversität Berlin); vgl. [Zugriff am 12.2.2010.]

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jedoch auch als Katalysator Konflikte befördern.6 Das heißt, Religion wirkt nur selten selbst konfliktauslösend, vielmehr überformt sie andere Konflikte und tendiert dazu, diese zu verschärfen.7 Letzteres ist vor allem dann zu beobachten, wenn zwischen den kulturellen und religiösen Objektivierungen etwa im Ergebnis von politischen Wandlungsprozessen Dissonanzen entstanden sind, die sich durch Wechselwirkungen noch ausgleichen müssen.8 Welche Wirkmächtigkeit solche langfristigen, religiös geprägten Handlungsorientierungen in Wechselwirkung mit gesellschaftlichen Veränderungen entwickeln können, lässt sich am Beispiel jener Auseinandersetzungen belegen, die im Königreich Sachsen – und ebenso in vielen anderen deutschen Territorien – ausbrachen, nachdem im frühen 19. Jahrhundert die rechtliche Gleichstellung von Angehörigen der lutherischen und katholischen Konfession erfolgte. Dass dieser Akt Unruhepotenzial generierte, verwundert nicht. Schließlich zählt er zu den größten Brüchen der sogenannten Sattelzeit, indem er das Ende des monokonfessionellen Staates der Frühen Neuzeit markiert. Die Einheit von Konfessionalität und Territorialität hatte eine wesentliche Stütze frühneuzeitlicher staatlicher Integration gebildet.9 Deren Auflösung und die damit verbundene Entwicklung vom konfessionellen hin zum paritätischen Gemeinwesen10 bilden letztendlich einen Schritt hin zur Entstehung des modernen, pluralistischen Staates, in dem die Kirchen als Teil der Gesellschaft Subsysteme11 neben anderen bilden. Dabei fußt die Gleichberechtigung der Konfessionen im frühen 19. Jahrhundert auf zwei Dingen: Einerseits beruht sie auf aufgeklärtem Gedankengut. Andererseits war sie notwendig geworden, als infolge der territorialen Gewinne während der napoleonischen Ära und des Wiener Kongresses in Preußen, Bayern und anderen Staaten die alte konfessionelle Homogenität aufgebrochen war. In Hinblick auf die Frage nach Ursachen und Verlauf der Unruhen, die im Ergebnis der Gleichstellung der lutherischen und der katholischen Konfession entstanden, eignet sich das Königreich Sachsen in besonderer Weise als Untersuchungsfeld. Verantwortlich dafür ist der Umstand, dass sich die konfessionelle Struktur der sächsischen Bevölkerung auch im Ergebnis des Wiener Kongresses 1815 nicht änderte, so dass hier im Vergleich zu Bayern und Preußen ein wesentliches Konfliktpotenzial nicht existierte. Zwar hatte das Land etwa zwei Drittel seines Territoriums und rund die Hälfte seiner mehrheitlich evangelisch-lutherischen Einwohner verloren, doch 6 7 8 9 10 11

Vgl. etwa Röhrich, Macht; Müller, Harald, Kampf der Kulturen – Religion als Strukturfaktor einer weltpolitischen Konfliktformation?, in: Minkenberg/Willems, Politik und Religion, S. 559–581. Vgl. H. Müller, Kampf, S. 575. Einen Extremfall bildet hier die Entwicklung des religiösen Fundamentalismus als Reaktion auf die kulturelle Moderne; vgl. Röhricht, Macht, S. 9. Vgl. Schlögl, Rudolf, Glaube und Religion in der Säkularisierung. Religiosität der katholischen Stadt. Köln – Aachen – Münster 1700–1840, München/Wien 1995, S. 128. Vgl. Köhle-Hezinger, Christel, Evangelisch-katholisch. Untersuchungen zu konfessionellem Vorurteil und Konflikt im 19. und 20. Jahrhundert, vornehmlich am Beispiel Württembergs, Tübingen 1976, S. 130. Vgl. dazu Schlögl, Glaube, S. 127f.

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auch nach diesem Aderlass bildete die katholische Minderheit, die bereits im 18. Jahrhundert infolge der Konversion der Dynastie vom Luthertum zum Katholizismus v. a. in Dresden und Leipzig entstanden war, lediglich einen Bevölkerungsanteil von knapp zwei Prozent.12 Ungeachtet dessen kam es auch in Sachsen – wenngleich mit zeitlicher Verzögerung – zu konfessionell konnotierten Verwerfungen und Unruhen. Diesen Umstand gilt es zu hinterfragen. In den Blickpunkt geraten hierbei die zugrunde liegenden Strukturkonflikte und deren konfessionelle Ausdeutung. Hier schließt sich die Frage an, welche Rolle konfessionell geprägte festgefügte, unabhängig von der individuellen Erfahrung tradierte Stereotypen und Vorurteile als Deutungsschemata und Identitätsmarker spielten13 bzw. welche Funktion ihnen bei der Steuerung der Konfliktaustragung zufällt14

I. Luthertum und Katholizismus: Gleichberechtigung und konfessioneller Frieden im Jahr 1807 Im Ergebnis des am 11. Februar 1806 unterzeichneten Friedensvertrages von Posen, der den Krieg zwischen Frankreich und Sachsen beendete, wurde das Kurfürstentum Sachsen zum Königreich erhoben und musste dafür dem von Napoleon initiierten Rheinbund beitreten. Außerdem entsprach der sächsische König Friedrich August I. dem 5. Artikel dieses Vertragswerkes, indem er mit dem Mandat vom 16. Februar 1807 verfügte, dass fortan die Ausübung der römisch-katholischen Messe der des evangelisch-lutherischen Gottesdienstes in Sachsen vollständig gleichstellt sei und dass die Untertanen beider Konfessionen ohne Einschränkungen die gleichen bürgerlichen und politischen Rechte genießen sollen.15 In Anlehnung an die Religions12

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Sachsen besaß nach der Teilung von 1815 noch 1.182.744 Einwohner; vgl. Meier, Heinrich, Die katholische Kirche in Sachsen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Leipzig 1974, S. 23. Diese Zahl erhöhte sich bis zum Jahr 1843 auf 1.757.800 Einwohner. Davon waren 1.719.342 Protestanten (= 97 %) und 30.375 Katholiken (= 1,73 %); vgl. Ortloff, Christian, Das staatskirchenrechtliche System Wilhelm Traugott Krugs. Glaubens- und Gewissensfreiheit – eine Forderung der Vernunft, Frankfurt am Main/Berlin/Bern u. a. 1998, S. 29. Die Zahlen beziehen sich auf die Erblande unter Ausschluss der Oberlausitz. Neben der katholischen Minderheit existierte noch eine reformierte Gemeinde. Zur katholischen Gemeinde vgl. Saft, Paul Franz, Der Neuaufbau der katholischen Kirche in Sachsen im 18. Jahrhundert, Leipzig 1961; Seifert, Siegfried, Niedergang und Wiederaufstieg der katholischen Kirche in Sachsen. 1517–1773, Leipzig 1964; Wetzel, Christoph, Kirche und Religion, in: Groß, Reiner/John, Uwe (Hrsg.), Geschichte der Stadt Dresden, Bd. 2: Vom Ende des Dreißigjährigen Krieges bis zur Reichsgründung, Stuttgart 2006, S. 104–149, 370–39, hier S. 141–149, 385–389. Zur reformierten Gemeinde jüngst Middell, Katharina, Hugenotten in Dresden im 18. Jahrhundert, in: Dresdner Hefte 28 (2010), Heft 103: Frankreich und Sachsen. Spurensuche in Dresden, S. 51–62. Zur Bedeutung der Stereotypen als festgefügte Leitbilder vgl. Köhle-Hetzinger, Evangelisch-katholisch, S. 38f., 57f. Vgl. H. Müller, Kampf, S. 576. Vgl. Meier, Die katholische Kirche, S. 15. Ein Abdruck des Mandates ebd., S. 170. Die rechtliche Gleichstellung der Reformierten erfolgte erst 1811; vgl. Wetzel, Kirche und

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versicherungsdekrete, welche die sächsischen Landesherren seit der Konversion der Dynastie mehrfach erlassen hatten, garantierte er den Protestanten zugleich den ungeschmälerten Fortbestand ihrer Konfession. Weitreichende Folgen ergaben sich aus dieser Regelung sowohl für den einzelnen Katholiken als auch für die katholische Kirche. Da aufgrund der konfessionellen Gleichstellung keine Rechte mehr exklusiv an das lutherische Bekenntnis gekoppelt waren, durften Katholiken nun erstmals z. B. das Bürgerrecht und damit Grundbesitz oder als Handwerker das Meisterrecht erwerben, ebenso war nun die Aufnahme in den Landtag möglich.16 Die katholische Kirche, die zuvor lediglich als private Einrichtung des Landesherren und der Dynastie anerkannt war, erhielt nun den Status eines Rechtsträgers. Daraus ergaben sich verschiedene Privilegien, von denen besonders zwei zu erwähnen sind: Erstens durften Pfarreien mit eigenem Parochialrecht gegründet werden,17 womit die katholische Kirche eine wenngleich punktuelle aber dennoch deutlich wahrnehmbare Präsenz in Sachsen entfalten konnte. Nicht minder wichtig war zweitens, dass Entscheidungen, die der apostolische Vikar als Ordinarius der katholischen Kirche in Sachsen18 im Kontext der geistlichen Gerichtsbarkeit fällte, nicht mehr wie bisher als dessen reine Privatangelegenheit betrachtet wurden. Stattdessen erfuhren sie rechtliche Anerkennung. Dies besaß insofern öffentliche Relevanz, als diese Gerichtsbarkeit nicht nur Angelegenheiten des Klerus, sondern vor Einführung der Zivilehe auch alle Eheangelegenheiten betraf.19 Sowohl die Erlaubnis, Pfarreien zu gründen, als auch die staatliche Anerkennung der rechtlichen Entscheidungen des apostolischen Vikars besitzen eine hohe Symbolik, insofern sie deutlich sichtbar die bis dato unangefochtene Monopolstellung der lutherischen Kirche konterkarierten. Umso auffallender ist es, dass diese rechtliche Gleichstellung der Katholiken anders als ein Jahrhundert zuvor die Konversion der Dynastie keine heftigen Proteststürme mehr ausgelöst hat. Im Gegenteil: Es herrschte eine Art Tauwetter zwischen beiden Konfessionen, das sich etwa darin dokumentiert, dass dem Reformationsjubiläum 1817 im Gegensatz zu vorangegangenen

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Religion, S. 385. Die Religionsfreiheit war auch im Art. 16 der Deutschen Bundesakte von 1815 festgeschrieben. Vgl. Meier, Die katholische Kirche, S. 5. Weitere Reskripte vom 26.5. und 27.7.1807 räumten das den Rittergütern zustehende Jus patronatus über Kirchen und Schulen auch Lehensinhabern römisch-katholischer Konfessionszugehörigkeit ein; vgl. ebd., S. 15. Vgl. Wetzel, Kirche und Religion, S. 387. Allerdings konnte aus finanziellen Gründen dieses Recht erst nach der Überwindung der Folgen der Besatzung sowie der Hungersnot von 1816/17 in Anspruch genommen werden. Erste katholische Pfarreien wurden etwa 1820 in Zwickau und 1823 in Dresden-Friedrichstadt gegründet; vgl. auch Meier, Die katholische Kirche, S. 26f. Dieses Amt existierte in Sachsen seit 1743. Vgl. Meier, Die katholische Kirche, S. 3. In weiteren Reskripten wurden dem apostolischen Vikar etwa die Zensur des katholischen Schrifttums übertragen (Reskripte vom 3. bzw. 9.9.1807) bzw. Fragen zur Beerdigung geregelt (5.7.1811) sowie festgelegt, dass Geistliche keine Wechselgeschäfte tätigen dürfen (9.1.1808).

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Säkularfeiern jegliche antikatholischen Akzente fehlten.20 Stattdessen stilisierte der Dresdner Pfarrer Johann Friedrich Heinrich Cramer eine „christliche Verträglichkeit gegen fremde Religionsverwandte“21 zum Charakteristikum der evangelischen Christenheit, vice versa nahmen vielerorts Katholiken an den Feierlichkeiten teil.22 Die Gründe für diese Entspannung sind vielfältig und liegen sowohl in der allgemeinen Situation der beiden Konfessionen als auch in den speziellen sächsischen Konstellationen. Entscheidend war zunächst, dass allgemein die Lutheraner die Katholiken aus einer neuen Perspektive wahrnahmen. Nachdem die katholische Kirche infolge der Säkularisation nicht nur ihr Vermögen, sondern mit der Auflösung der geistlichen Territorien auch ihre Machtstruktur in Deutschland verloren hatte,23 ging von ihr nach protestantischer Auffassung keinerlei Gefahrenpotenzial mehr aus. Zur Entspannung trug zusätzlich eine Entwicklung bei, die sich vor allem im Protestantismus, in geringerer Ausprägung aber auch im Katholizismus bemerkbar machte: Seit dem 18. Jahrhundert ist eine Tendenz der Entkirchlichung zu konstatieren. Gemeint ist damit ein Strukturwandel des religiösen Lebens, der sich z. B. in der absinkenden Teilnahme der Kirche am öffentlichen Leben mitteilte. Der Gottesdienstbesuch wurde selektiver,24 die Kirchgemeinde wandelte sich zum sozialen Verband, wobei unabhängig von der konfessionellen Zugehörigkeit die traditionelle Frömmigkeit bei den unteren sozialen Schichten stärker ausgeprägt blieb als bei den gehobenen.25 Damit einher ging eine zunehmende Individualisierung von Religion. Viele Rituale gelangten in die Wohnzimmer und erfuhren dort eine emotionale Aufladung. Gerade die bürgerliche protestantische Frömmigkeit erscheint in den Jahren um 1800 als verinnerlichte Religiosität der Moral und Tugend – nicht zuletzt im Ergebnis einer 20 21 22

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Vgl. Meding, Wichmann von: Kirchenverbesserung. Die deutschen Reformationspredigten des Jahres 1817, Bielefeld 1986, S. 59. Predigt von Johann Friedrich Heinrich Cramer in: Darstellung der bei dem dritten Reformations-Jubelfeste 1817 in Dresden stattgefundenen Feierlichkeiten. Aus authentischen Quellen gesammelt, Dresden o. J. [1817], S. 20. Vgl. Schreiber, Christian/Veillodter, Valentin Carl/Hennings, Wilhelm, Allgemeine Chronik der dritten Jubel-Feier der deutschen evangelischen Kirche im Jahr 1817. 1. Band, welcher die Beschreibungen der kirchlichen Feierlichkeiten nebst einer Sammlung von Miscellen enthält, Erfurt/Gotha 1819, S. 380. In Folge der Säkularisation verloren zwei geistliche Kurfürstentümer, 19 Reichsbistümer, 44 Reichsabteien ihre Reichsunmittelbarkeit und gerieten unter eine weltliche Landesherrschaft; vgl. Martin, Matthias, Staat, Recht und Kirche. Der Weg der katholischen Kirche in Mitteleuropa bis ins 19. Jahrhundert, Berlin 2000, S. 298. Einen Gradmesser dafür bildet die sinkende Zahl der Kommunikanten: 1800: 43.113, 1806: 34.928; vgl. Meier, Die katholische Kirche, S. 377. Zu dieser Tendenz vgl. Mergel, Thomas, Zwischen Klasse und Konfession. Katholisches Bürgertum im Rheinland 1794–1914, Göttingen 1994, S. 71, 74; Hölscher, Lucian, Religion der Bürger. Bürgerliche Frömmigkeit und protestantische Kirche im 19. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift 250 (1990), S. 595–630, hier S. 598; Holzem, Andreas, Die Konfessionsgesellschaft. Christliches Leben zwischen staatlichem Bekenntniszwang und religiöser Heilshoffnung, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 110 (1999), S. 53–89, hier S. 84.

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übersteigerten Aufklärungstheologie, die immer öfter die Verkündigung der Offenbarung zugunsten moralischer und ökonomischer Sachverhalte vernachlässigte.26 Angesichts dieser Konstellation schwand das Konfliktpotenzial, so dass interkonfessionelle Kooperationen während der Sattelzeit keine Seltenheit bildeten.27 Zu diesen konfessionellen Befindlichkeiten traten in Sachsen zwei weitere landesspezifische Momente: Einerseits ist auf die konfessionsübergreifenden Erfahrungen von Krieg, Fremdherrschaft und Besatzung, der Gefahr eines drohenden finis saxoniae sowie einer seit 1815 andauernden Hungersnot zu verweisen, die andere Konfliktpotenziale zurücktreten ließen. Andererseits besaß die Bevölkerung positive Erfahrungen mit einem bereits seit Jahrzehnten regierenden Landesherrn. Dessen katholische Bekenntniszugehörigkeit wurde offenkundig längst nicht mehr als drückend empfunden.28 Im Gegenteil: Die sprichwörtliche Gerechtigkeit des Monarchen garantierte nach zeitgenössischer Meinung den Schutz und den weiteren Bestand des Luthertums.29 Das konfessionelle Feindbild, das seit dem 16. Jahrhundert im kulturellen Gedächtnis der Protestanten verankert war, schien für die Deutung der Gegenwart irrelevant und bedeutungslos.

II. Lutherische Urängste Nur wenige Jahre nach der Gleichstellung der Konfessionen führte allerdings um 1820 eine Veränderung im ausbalancierten und von der Bevölkerung weitgehend akzeptierten konfessionellen Gleichgewicht dazu, dass nicht nur in Sachsen der Frieden zwischen Protestanten und Katholiken brüchig wurde. Der Auslöser dafür lag in einer Verbindung verschiedener religiöser und politischer Entwicklungen.

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Vgl. Flügel, Wolfgang, Konfession und Jubiläum. Zur Institutionalisierung der lutherischen Gedenkkultur in Sachsen 1617–1830, Leipzig 2005, S. 223f. Hier auch zahlreiche Nachweise. Vgl. Dietrich, Tobias, Der Zwang zum Frieden? Dörflicher Interkonfessionalismus in Deutschland, Frankreich und der Schweiz zwischen Aufklärung und Hungersnot (1780–1830), in: Haag, Norbert/Holtz, Sabine/Zimmermann, Wolfgang (Hrsg.), Ländliche Frömmigkeit. Konfessionskulturen und Lebenswelten 1500–1850, Stuttgart 2002, S. 309–324, hier S. 319. Vgl. Hasse, Hermann Gustav, Abriss der meissnisch-albertinischen sächsischen Kirchengeschichte, Leipzig 1846, Bd. 2, S. 253. Vgl. Stadtarchiv Dresden [im Folgenden: StadtA Dresden], Tit. VII B.140c: Varia, die Katholiken und ihr Verhältniß zu den Protestanten betr. 1790–1827, fol. 23–44: Bedenken und Wünsche eines Protestanten in Beziehung auf das Verhältnis der evangelischen Kirche zu der römisch-katholischen im Königreich Sachsen mit besonderer Rücksicht auf die Mandate vom 19. und 20. Februar 1827, hier fol. 23r. In diesem Sinne lobte auch Schleiermacher, dass der katholische König nicht daran dächte, die konfessionellen Verhältnisse in Sachsen abzuändern, obgleich er dazu das Recht hätte; vgl. Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst, Kritische Gesamtausgabe. Zweite Abteilung. Vorlesungen. Bd. 16: Vorlesungen über die kirchliche Geographie und Statistik, Berlin/New York 2005, S. 349.

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Prinzipiell ist in beiden Konfessionen – nicht zuletzt als Abwehrreaktion auf die napoleonische Zeit – eine Tendenz der Rechristianisierung bzw. Rekonfessionalisierung und damit eine Gegenbewegung zum anhaltenden Prozess der Entkirchlichung zu verzeichnen.30 Einen wichtigen Anstoß lieferten auf evangelischer Seite jene 95 Thesen zur aktuellen Lage des Luthertums, in denen der Kieler Archidiakon Claus Harms anlässlich des Reformationsjubiläums 1817 ganz im Sinne einer lutherischen Orthodoxie die preußische Kirchenunion und den theologischen Rationalismus ablehnte. In Sachsen fand diese Entwicklung, die schließlich in die neulutherische Erweckungsbewegung einmündete, einen Ausdruck in den – erfolgreichen – Gesuchen der Bevölkerung an den Landesherrn, den Reformationstag als ganztägigen kirchlichen Feiertag aufzuwerten, oder in der Entstehung von Bibel- und Missionsvereinen.31 Auf katholischer Seite war die Rekonfessionalisierung auf das engste verbunden mit einer Restaurierungspolitik, mit welcher Papst Pius VII. und ab 1823 sein Amtsnachfolger Leo XII. der politischen und ökonomischen Entmachtung der katholischen Kirche erfolgreich entgegensteuerten. Diese Politik war notwendig geworden, weil auf dem Wiener Kongress lediglich der Kirchenstaat in den engen Grenzen von 1797, nicht aber die säkularisierten geistlichen Territorien in Deutschland restituiert wurden. Dadurch schieden Erzbischöfe und Bischöfe endgültig aus dem Kreise der Landesherren aus, womit auch die alten kirchlichen Territorialinteressen wegfielen.32 Damit war der Weg frei für eine organisatorische Sammlung, Vereinheitlichung und Ausrichtung der katholischen Welt auf den Papst. Die katholische Kirche wandelte sich so von der Bischofs- zur Papstkirche und somit zu einer supranationalen Organisation. Als solche trat sie den einzelnen Staaten als Verhandlungspartner gegenüber, wobei sie, z. B. bei Konkordatsverhandlungen mit Bayern, ein erstarktes politisches Selbstbewusstsein demonstrierte. Dort versuchte die Kurie etwa ihre Entscheidungshoheit auch auf die staatliche Gesetzgebung auszudehnen,

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Zur Problematik von Säkularisierung und Resakralisierung vgl. exemplarisch Lehmann, Hartmut (Hrsg.), Säkularisierung, Dechristianisierung, Rechristianisierung im neuzeitlichen Europa. Bilanzen und Perspektiven der Forschung, Göttingen 1997; Wallmann, Johannes, Kirchengeschichte Deutschlands seit der Reformation, 5. Aufl., Tübingen 2000, S. 188–198; Nipperdey, Thomas, Deutsche Geschichte 1800–1866. Bürgerwelt und starker Staat, Sonderausgabe München 1998, S. 404, 431. Vgl. StadtA Dresden, RA D.XXXVIII.8a: Acta die allerhöchst genehmigte Erhebung des Reformations-Festes zu einem ganzen Feyertage betr. 1822f.; zur Erweckungsbewegung und zum Missionsverein vgl. Wetzel, Kirche und Religion, S. 379–382. Damit einher ging eine Entfeudalisierung der Kirche: Bistümer und Klöster dienten nun nicht mehr der standesgerechten Versorgung von Angehörigen des Adels, der Klerus verbürgerlichte. Damit korrespondierte, dass nunmehr die Vergabe der Ämter nach dem Laufbahnprinzip erfolgte; vgl. Müller, Winfried, Zwischen Säkularisation und Konkordat. Die Neuordnung des Verhältnisses von Staat und Kirche. 1803–1821, in: Brandmüller, Walter (Hrsg.), Handbuch der bayerischen Kirchengeschichte. Bd. 3: Vom Reichsdeputationshauptschluß bis zum zweiten Vatikanischen Konzil, St. Ottilien 1991, S. 85–130, hier S. 87–89.

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indem sie alle dem kanonischen Recht widersprechenden Anordnungen als ungültig erklärt sehen wollte.33 Abgesehen davon, dass diese Regelung im Widerspruch zur konfesionellen Parität gestanden hätte, verweist dieses Vorgehen auf ein allgemeines Problem: Es ging weniger darum, das Verhältnis zwischen zwei völkerrechtlichen Souveränen – nämlich Staat und Kurie – zu regeln. Vielmehr versuchte der Papst aus einem berechtigten Interesse heraus, die Lebens- und Glaubensbedingungen der Katholiken in einem fremden Staat im Sinne der eigenen kanonischen Rechtsvorstellungen zu regeln. Prinzipiell bildete dieser Zustand einen vom Leipziger Superintendenten Heinrich Gottlob Tzschirner kritisch kommentierten Eingriff einer „fremden Macht“ in innerstaatliche kirchliche Rechtsverhältnisse und damit in die staatliche Souveränität, weshalb es an diesem Punkt selbst in mehrheitlich katholischen Ländern wie Bayern zu Auseinandersetzungen kam.34 Hinzu kam als ein weiterer Teil der katholischen Erneuerung eine Konzentration auf das geistliche Kernanliegen der Kirche, womit die Rückkehr zu traditionellen Grundsätzen, zum alten Kirchenverständnis und der Theologie der Scholastik einherging. Das Gedankengut und die Wertvorstellungen der Aufklärung, die mit der Erinnerung an Napoleon verbunden vor allem konservativen Kreisen als Niedergangsepoche christlichen Lebens galt, spielten hier keine Rolle mehr. Vor diesem Hintergrund symbolisierte der Rückgriff auf augenscheinlich Bewährtes der katholischen Christenheit die Fähigkeit ihrer Kirche, Krisen zu überwinden, und vermochte somit in der Phase der Neuorientierung einen Beitrag zur Restabilisierung zu leisten.35 Letztendlich liegt hier der Anfang einer Entwicklungslinie, die im Laufe des 19. Jahrhunderts in den Ultramontanismus hineingeführt und eine neue Massenreligiosität im Sinne einer konfessionsorientierten Kirchlichkeit36 generiert hat. Diese Entwicklung markierte für den in Sachsen zu den geistigen Wegbereitern des konstitutionellen Liberalismus zählenden Leipziger Philosophieprofessor Wilhelm Traugott Krug und den einem gemäßigten Rationalismus zuzurechnenden Superintendent Tzschirner den Beginn neuer konfessioneller Feindseligkeiten. Beide kommentierten, die katholische Kirche stelle „sich in ihrer sichtbaren Beschränktheit und hochmüthigen Anmaßlichkeit“ der lutherischen entgegen, indem sie auf alte Dogmen zurückgreifend „noch immer jenen bösen Geist in sich hegt und pflegt“ und sich „alleinseligmachende“ nennt, wodurch sie die „Fackel der Zwietracht unter 33 34

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Vgl. Listl, Josef, Die konkordatäre Entwicklung von 1817 bis 1988, in: ebd., S. 427–464, hier S. 431f. Vgl. Tzschirner, Heinrich Gottlob, Protestantismus und Katholizismus aus dem Standpuncte der Politik betrachtet, Leipzig 1822, S. 79. Allgemein vgl. Link, Christoph, Kirchliche Rechtsgeschichte. Kirche, Staat und Recht in der europäischen Geschichte von den Anfängen bis ins 19. Jahrhundert. Ein Studienbuch, München 2009, S. 125–128. Vgl. Rehberg, Karl-Siegbert, Die stabilisierende Fiktionalität von Präsenz und Dauer. Institutionelle Analyse und historische Forschung, in: Blänkner, Reinhard/Jussen, Bernhard (Hrsg.), Institution und Ereignis. Über historische Vorstellungen gesellschaftlichen Ordnens, Göttingen 1998, S. 381–407. Vgl. Schlögl, Glaube, S. 12.

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die Christen schleudert“.37 Nun bildete die Selbstcharakterisierung als alleinseligmachend einen integralen Bestandteil des katholischen Selbstverständnisses. Dieser Sachverhalt verweist auf ein Differenzbewusstsein zu anderen Konfessionskirchen, das im 19. Jahrhundert auch als Ausdruck einer Selbstbehauptung in einer fremd gewordenen Welt zu verstehen ist und das damit als unabdingbar für die Restaurierung nach 1815 erschien.38 Doch gerade vor dem Hintergrund der Wiedererstarkung der katholischen Kirche erblickten die Protestanten in der erneuten Betonung dieses Alleinstellungsanspruches eine ernstzunehmende Bedrohung, weil ihnen damit abgesprochen wurde, Teil der christlichen Kirche zu sein. Verschiedene Ereignisse der Folgejahre sollten dieses noch latente Gefühl zur Gewissheit werden lassen. Dadurch fand es im Sinne eines Deutungsschemas erneut Eingang in das kollektive Gedächtnis der Lutheraner. Maßgebliche Einprägearbeit hierbei leistete besonders Krug, der sich in zahlreichen Publikationen wiederholt mit dem Katholizismus auseinandersetzte. Es darf davon ausgegangen werden, dass Pastoren wie Tzschirner auch in diesem Kontext als Multiplikatoren wirkten. Im Ergebnis stand die Gewissheit, von der katholischen Kirche ginge eine Bedrohung aus, als Bewertungsmaßstab für die Interpretation aller Äußerungen und Handlungen der katholischen Kirche zur Verfügung. In ihrer Argumentation, mit der die genannten Gelehrten auf den Rückfall der katholischen Kirche in längst überwunden geglaubte Verhaltensmuster und Dogmen reagierten, lassen sich zwei vielfach miteinander verwobene Stränge verfolgen. Erstens sind vor dem Hintergrund, dass zunächst weniger Sachsen als vielmehr katholische Territorien von der katholischen Erneuerung betroffen waren, die Äußerungen von Krug und Tzschirner als implizite protestantische Selbstbeschreibung sowie als Standortbestimmung und Abgrenzung zu verstehen. Auffallend ist, dass beide Gelehrte entsprechend des sich seit der Aufklärung herausbildenden Wissenschaftsverständnisses von Geschichte argumentierten, indem sie unter Abkehr von heilsgeschichtlichen Prämissen unter dem Diktat der Chronologie frühere historische Entwicklungen zur Erklärung der Gegenwart nutzten.39 Im Sinne dieser Kausalität verknüpften sie allerdings traditionelle Elemente des lutherischen Selbst37

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[Krug, Wilhelm Traugott], Mahnung der Zeit an die protestantische Kirche bei der Wiederkehr ihres Jubelfestes. Nebst einer Nachschrift an die katholische Kirche und deren Oberhaupt. Für Kleriker und Laien von einem Laien [1817], in: Ders., Krug’s gesammelte Schriften. Erster Band. Erste Abtheilung. Theologische Schriften. Erster Band, Braunschweig 1830, S. 371–398, hier S. 397; vgl. dazu auch Ders., Apologie der protestantischen Kirche gegen die Verunglimpfungen des Herrn v. Haller [1821], in: ebd., Zweiter Band. Erste Abtheilung. Theologische Schriften. Zweiter Band, Braunschweig 1830, S. 1–36; Ders., Darstellung des Unwesens der Proselytenmacherei durch eine merkwürdige Bekehrungsgeschichte. Der Hohen Deutschen Bundesversammlung ehrerbietigst zugeeignet [1822], in: ebd., S. 55–115, hier S. 86; Schreiber/Veillodter/ Hennings, Chronik, S. 380. Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte, S. 409. Vgl. Hardtwig, Wolfgang, Die Verwissenschaftlichung der Geschichtsschreibung zwischen Aufklärung und Historismus, in: Ders., Geschichtskultur und Wissenschaft, München 1990, S. 58–91, 75–83.

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bildes mit den seit der Aufklärung hinzugekommenen Facetten, nicht zuletzt, um sich positiv von der katholischen Kirche abzugrenzen: Während die katholische Kirche noch immer versuche, die Wissenschaft und universitäre Lehre zu beeinflussen, um beide ihrem Dogma zu unterwerfen sowie über das Gewissen zu herrschen,40 habe die Reformation die Lehre vom Ablass und zahlreiche weitere Irrtümer der katholischen Kirche aufgedeckt und überwunden. Zugleich habe sie den Staat von der Übermacht des Papstes befreit. Dadurch sei das Luthertum zum Träger von Entwicklung und Fortschritt nicht nur innerhalb des Christentums, sondern auch in allen Bereichen der Gesellschaft geworden.41 Somit sei der Protestantismus nicht nur eine Religionsform, sondern darüber hinaus eine Verkörperung der Wahrheit und des Fortschritts und stünde so für geistige und bürgerliche Freiheit, der Katholizismus dagegen für Zwang und Knechtschaft.42 Damit griffen Krug und Tzschirner einen Gedankengang auf, der seit der Aufklärung immer wieder formuliert worden war und der auf eine zunehmende Politisierung der Konfessionen verwies. Mit Hinweis auf diesen Fortschrittsgedanken konnten Krug und Tzschirner zudem eine Entwicklungsabfolge konstruieren, in der jede Kirche einen festen Epochenplatz in der Geschichte einnimmt: Die katholische Kirche stehe für das Kinderalter des Christentums, habe sich also bereits überlebt. Die evangelische hingegen markiere das Jünglingsalter und führe in eine zukünftige Kirche des reinen Evangeliums.43 Unter Ausblendung der inneren Diversität des zeitgenössischen Katholizismus44 haben Krug und Tzschirner dadurch mitgeholfen, die alte konfessionelle Frontstellung neu zu konstruieren. Die Grenzlinie verlief zwischen den als modern und zukunftsfähig postulierten protestantischen Kirchen auf der einen und der als antimodern stigmatisierten katholischen auf der anderen Seite.45 Zweitens zielt die Argumentation der beiden Gelehrten darauf, die Bevölkerung für die erkannte Gefahr zu sensibilisieren und die katholische Kirche als Störer, das Luthertum hingegen als Bewahrer der herrschenden Ordnung darzustellen. Gerade an dieser Stelle wird ein Argumentationszusammenhang des zeitgenössischen Protestantismus besonders deutlich: Krug und Tzschirner nutzten vor allem Argumente aus der geschichtsphilosophischen, juristischen und politischen Sphäre, griffen aber

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Vgl. Tzschirner, Protestantismus, S. 49f.; zum Vorwurf, das Gewissen des Einzelnen zu beherrschen vgl. Krug, Mahnung, S. 377. Vgl. Tzschirner, Protestantismus, S. 95–97. Hier der Hinweis insbes. auf Bildung, Schule, Universität und Wissenschaft. Zur Politisierung der Konfessionen und den sich ergebenden Deutungsmustern vgl. Nowak, Kurt, Geschichte des Christentums in Deutschland. Religion, Politik und Gesellschaft vom Ende der Aufklärung bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, München 1995, S. 64–79, hier auch Verweise auf weitere zeitgenössische Stimmen. Vgl. auch Schulz, Christiane, Spätaufklärung und Protestantismus. Heinrich Gottlieb Tzschirner (1778– 1828). Studien zu Leben und Werk, S. 188. Vgl. Tzschirner, Protestantismus, S. 100. Vgl. dazu Mergel, Klasse, S. 2–5. Die katholische Kirche stehe im Widerspruch zur Zeit; vgl. Krug, Mahnung, S. 393.

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kaum auf konfessionell-religiöse Wahrheiten zurück und luden damit die Konfessionsaggregate Protestantismus bzw. Katholizismus weiter politisch auf.46 Mit Verweis auf den zeitgenössischen Erfahrungshorizont konnten beide zunächst behaupten, dass alle Unruhen in der jüngsten Vergangenheit von katholischen Ländern ausgegangen sind.47 Die Ursache dafür liegt vor allem in strukturellen Gründen, nämlich in einer aus lutherischer Sicht „mangelnden Paßform für den paritätischen“, von protestantischer Weltfrömmigkeit geprägten Staat:48 Die katholische Priesterschaft bilde eine geschlossene, hierarchische Korporation, die „ein über alle weltliche Macht erhabenes Oberhaupt an der Spitze hat und so ein förmlicher Status in statu“49 sei, der, wie das Beispiel der Konkordatsverhandlungen in Bayern zeigt, auch zu Lasten des Staates Sonderinteressen verfolge. Während die katholische Kirche für den Staat demnach eine störende fremde Macht sei, fördere das Luthertum aufgrund seiner Verflechtung mit dem Staat den „Staatszweck“,50 was sich mit Verweis auf Sachsen erhärten ließ: Die Monarchie stehe für die lutherische Bevölkerung nicht zur Disposition, obgleich der Landesherr Katholik ist.51 Angesichts der von der Kurie erhobenen Vorwürfe, der Protestantismus sei seit seiner Entstehung potenzieller Träger von Unruhe,52 kann diese Argumentation auch als Loyalitätssignal an den König verstanden werden. Das staatsbejahende Verhalten der Lutheraner beruhe nach Krug und Tzschirner auf den sich selbst zugeschriebenen Grundprinzipien der Toleranz sowie der Glaubens- und Gewissensfreiheit. Auf diesen Prinzipien baute aber auch das neue entspannte Verhältnis zwischen den Konfessionen auf. Nicht umsonst verwiesen die protestantischen Theoretiker auf die entwicklungsgeschichtlich bedingte Vielgestaltigkeit des Christentums und im Zusammenhang damit auf die im Vergleich zum konfessionellen Zeitalter neue Bereitschaft des Protestantismus, die katholische Kirche zwar nicht zu lieben, aber zumindest als eine Kirche zu achten, die das Evangelium verbreitet.53 Deshalb unterbreite das Luthertum nach wie vor Friedensangebote,

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Vgl. Nowak, Christentum, S. 64. So auch Tzschirner, Protestantismus, S. 16, 44. Dabei verweist er nicht nur auf Frankreich, sondern auch auf die Situation in Spanien. Köhle-Hetzinger, Evangelisch-katholisch, S. 157. Krug, Wilhelm Traugott, Die geistlichen Umtriebe und Umgriffe im Königreich Sachsen und dessen Nachbarschaft [1826], in: Krug’s gesammelte Schriften. Erste Abtheilung. Theologische Schriften. Zweiter Band, Braunschweig 1830, S. 271–299, hier S. 274. Tzschirner, Protestantismus, S. 66, 79. Ähnlich Krug, Mahnung, S. 392. Danach stehe der Protestantismus für die bürgerliche Ordnung. Vgl. Tzschirner, Protestantismus, S. 44. Vgl. ebd., S. 5. Vgl. Krug, Apologie, S. 8. Dabei unterscheidet Krug explizit zwischen der katholischen Kirche und den einzelnen Katholiken, unter denen es zahlreiche achtbare Personen gäbe; vgl. pars pro toto Ders., Die Kirchenverbesserung und die Gefahren des Protestantismus. Zur Vorfeier des Reformazionsfestes [1826], in: Ders., Krug’s gesammelte Schriften. Zweiter Band. Erste Abtheilung. Theologische Schriften. Zweiter Band, Braunschweig 1830, S. 117–172, hier S. 163.

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wenngleich wider besseres Wissen.54 Die katholische Kirche hingegen, deren Wertvorstellungen dem Toleranzgedanken diametral entgegenstehen würden,55 verweigere bis in die eigene Gegenwart hinein die Anerkennung der evangelischen Kirche. Stattdessen werde sie versuchen, so die Befürchtung, ihren Ausschließlichkeitsanspruch durch ihre Expansion zu Lasten des Protestantismus durchzusetzen:56 Kaum habe sich die katholische Kirche in Europa wieder gefestigt, so schrieb Krug, breite sie ihre Netze aus und die alten Verfolgungen begännen erneut.57 Dass diese Befürchtung protestantisches Allgemeingut war, belegt eine ähnlich lautende Aussage des Berliner Philosophieprofessors Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Es „ist das Bestreben der Römischen Kirche sehr groß, Alles in den Schoß der seligmachenden Kirche hineinzuziehen […] und ist ein ganz natürliches Product von der Vorstellung der allein seligmachenden Kirche“.58 Diese Behauptung verifizierte Krug mit Verweis auf ein historisches Ereignis. Dabei griff er geschickt auf ein altes lutherisches Feindbild zurück, das jedoch wieder an Aktualität gewonnen hatte. Gemeint sind die Jesuiten, die für das zeitgenössische Luthertum aufgrund ihres gegenreformatorischen Engagements noch immer negativ konnotiert waren und die nach der im Jahr 1773 erfolgten Aufhebung ihres Ordens 1814 im Kontext der Neuausrichtung der katholischen Kirche wieder zugelassen worden waren.59 Welche Gefahr von der Societas Jesu ausgehe, belege die geglückte Rekatholisierung Böhmens im 17. Jahrhundert.60 Anzumerken bleibt, dass Krug mit diesem Verweis geschickt auf die sächsische Lebenswirklichkeit rekurrierte, insofern

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Der Papst solle die Hand annehmen, die ihm die Protestanten zum Reformationsjubiläum ausstreckten. Der Protestantismus denke nicht mehr an einen Kampf, weder offen noch geheim; vgl. Krug, Apologie, S. 8; Krug, Mahnung, S. 398; Tzschirner, Protestantismus, S. 83. Ungeachtet dessen sei der Protestantismus bereit, sich zur Wehr zu setzen; vgl. Krug, Mahnung, S. 396–398; Tzschirner, Protestantismus, S. 82. Der evangelische Dresdner Oberhofprediger Christoph Friedrich von Ammon fasste noch einmal dahingehend zusammen, dass die „katholische Kirche ihren Alleinbesitz der Seligkeit“ nicht aufgeben wird, weshalb alle Friedensvorschläge sinnlos erscheinen; vgl. Ammon, Christoph Friedrich von, Die gemischten Ehen namentlich der Katholiken und Protestanten nach den Ansichten des Christentums, der Geschichte, des Rechts und der Sittlichkeit, mit besonderer Rücksicht auf das religiöse Zeitbedürfnis, Dresden 1839, S. VIII. Vgl. Krug, Mahnung, S. 387; Tzschirner, Protestantismus, S. 13. Vgl. Ammon, Ehen, S. VIII. Vgl. Krug, Apologie, S. 30; vgl. Tzschirner, Protestantismus, S. 4. Schleiermacher, Vorlesungen, S. 261. Der Orden galt dem zeitgenössischen Protestantismus als Verkörperung sämtlicher Negativeigenschaften, die der katholischen Kirche zugeschrieben wurden; vgl. Frey, Manuel, Toleranz und Selektion. Konfessionelle Signaturen zwischen 1770 und 1830, in: Blaschke, Konfessionen im Konflikt, S. 113–154, hier S. 120. Zum zusätzlichen Verweis auf Inquisition und Ketzergericht vgl. Tzschirner, Protestantismus, S. 49f. Siehe außerdem den Beitrag von Stefan Gerber in diesem Band. Vgl. Neueste Geschichte der Proselytenmacherei in Deutschland, nebst Vorschlägen gegen dieses Unwesen [1827], in: Krug’s gesammelte Schriften. Zweiter Band, S. 301–339, hier S. 335f.

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in Dresden und anderen Städten seit dem 17. Jahrhundert böhmische Exulantengemeinden existierten.61

III. Verifizierungen und Publizität lutherischer Urangst in Sachsen Erschien das von Krug und Tzschirner beschworene Bedrohungsszenario der breiten Öffentlichkeit zunächst als nicht sonderlich relevant, so änderte sich dies schlagartig gegen Ende des Jahres 1824. In Dresden publizierte der apostolische Vikar Ignaz Bernhard Mauermann in einem öffentlichen Aushang am Portal der katholischen Hofkirche das von Papst Leo XII. ausgerufene Heilige Jahr 1825, was zu massiven Protesten der Bevölkerung führte.62 Dieser galt weniger dem theologischen Anliegen des Heiligen Jahres, das auf jenen Ablass abzielte, an dem sich einst die Reformation entzündet hatte. Folgt man einem Protestschreiben, das der Viertelmeister in Dresden-Neustadt, Wilhelm Leonhard, im Auftrag verschiedener Bürger verfasst und an den vorgesetzten Dresdner Stadtrat eingesandt hatte, dann galt die Empörung vielmehr dem in Mauermanns Aufruf enthaltenen Passus, die sächsischen Katholiken sollen „um Ausbreitung der katholischen Kirche“ und „für Aufhörung der Ketzerei“ beten.63 Vor dem Hintergrund ihrer Angst vor einer katholischen Ausbreitung glaubten die sächsischen Lutheraner diese „ehrenkränkende“ Bezeichnung an ihre Adresse gerichtet. Diese Überzeugung bestätigend argumentierten sie, dass entsprechend der katholischen Dogmen jeder ein Ketzer sei, der sich nicht zum römisch-katholischen Ritus bekenne. Vor dem Hintergrund der konfessionellen Situation in Sachsen könne dort diese Beschreibung zwangsläufig nur auf die Protestanten zielen. Dieses Argument scheint insofern nachvollziehbar, als offizielle Verlautbarungen der katholischen Kirche seit der Bannbulle „Exsurge Domini“ den Protestantismus immer wieder als Ketzerei charakterisierten.64 61 62

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Vgl. Metasch, Frank, Exulanten in Dresden. Einwanderung und Integration von Glaubensflüchtlingen im 17. und 18. Jahrhundert, Leipzig 2010. Zum Vorgang vgl. Wetzel, Kirche und Religion, S. 388. Ein Abdruck in: Allgemeine Kirchenzeitung. Ein Archiv für die neueste Geschichte und Statistik der christlichen Kirche nebst einer kirchenhistorischen und kirchenrechtlichen Quellensammlung 4 (1825), Nr. 4, Spalte 28f. (Ausgabe vom 9.1.1825). Die Ankündigung Mauermanns ist datiert auf den 20.11.1824. Ein allgemeiner Überblick zum Heiligen Jahr 1825 bei: O‘Grady, Desmond, Alle Jubeljahre. Die „Heiligen Jahre“ in Rom von 1300 bis 2000, Freiburg/Basel/Wien 1999, S. 163–173. Siehe hierzu und zum Folgenden, falls nicht anders erwähnt: StadtA Dresden, RA, B.I.79q: Acta den Bischoff Mauermann gedruckten Anschlag wegen des ausgeschriebenen catholischen Jubel-Jahres und dergl. mehr betreffend, ergangen Dresden 1825, unfol. Einlage: Schreiben des Viertelsmeisters Wilhelm Leonhard an den Stadtrat vom 23.0.1825. Vgl. dazu auch Krug, Kirchenverbesserung, S. 162. Außerdem erfolgte der Verweis auf eine in der Presse 1821 publizierte päpstliche Note vom 10.8.1819, in der es u. a. geheißen habe, es seien Feinde der Religion, die den Primat des Papstes bekämpfen würden; vgl. Tzschirner, Protestantismus, S. 102f.

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Mit der Empörung über ihre Verunglimpfung als Ketzer und dem auf dem aufgeklärten Gedankengut aufbauenden Unverständnis, dass ein christlicher Theologe eine andere Konfession überhaupt in dieser Art abqualifizieren könne, verbanden die Lutheraner zugleich den Vorwurf, Mauermann würde als geistiger Brandstifter agieren: Indem er die Katholiken aufforderte, für die Abschaffung der Ketzerei zu beten, trüge er dazu bei, dass zwischen den Konfessionen die alte Zwietracht wieder aufbreche. Mit Hinweis auf die Ermordung des Diakons der Dresdner Kreuzkirche Hermann Joachim Hahn durch einen Konvertiten am 21. Mai 1726, die als Topos im kulturellen Gedächtnis der sächsischen Lutheraner verankert war,65 wurde die Frage gestellt, wie weit der Schritt von der im Gebet ausgesprochenen Überzeugung bis zur Tat sei. Dass dieser womöglich unmittelbar bevorstehe, wird mit dem Hinweis auf die Geschwindigkeit suggeriert, mit der sich die katholischen Kirche gegenwärtig entwickelt: Seit der rechtlichen Gleichstellung der Katholiken seien keine 20 Jahre vergangen, und schon treten katholische Geistliche dem Luthertum feindlich gegenüber. Insofern habe Mauermann bei vielen Bürgern Besorgnis „für die künftige ungestörte Ausübung unseres geläuterten Glaubens erwecket“.66 Damit verbunden war ein Gefühl einer allgemeinen Benachteiligung: „Wir zweifeln sehr, ob es in irgend einem katholischen Land den protestantischen Geistlichen erlaubt seyn würde, durch öffentlichen Anschlage […] den Katholizismus für Ketzerey zu erklären, und alle Protestanten aufzufordern um Vertilgung des Katholizismus zu bitten.“ Diese Reaktionen der Lutheraner, die auf eine Verschlechterung der interkonfessionellen Beziehungen deuten, erscheinen aus mehreren Gründen als vorhersehbar: Einerseits konnte, wie die Erwähnung Hahns zeigt, das Wissen um die verschiedenen konfessionellen Konflikte, die das Zusammenleben von Lutheranern und Katholiken im Sachsen des 18. Jahrhunderts prägten, reaktiviert werden. Andererseits verweisen sowohl die Schriften von Krug und Tzschirner als auch das Beharren der Landstände auf ständige Wiederholung der Religionsversicherungsdekrete67 darauf, dass alte konfessionelle Vorurteile und Ängste noch immer Bestandteil des kulturellen Gedächtnisses waren und subkutan wirkten. Damit stellt sich die Frage, warum der apostolische Vikar in seiner Ankündigung jene provokanten Formulierungen benutzte und dadurch eine Verschärfung der Situation billigend in Kauf nahm. Einen ersten Hinweis gibt ein weiterer Anschlag, mit dem Mauermann am 13. April 1826 die Modalitäten bekannt gab, mit denen in Anschluss an das Heilige Jahr 1825 eine lokale Variante dieser Feierlichkeiten in

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Vgl. Leibetseder, Mathis, Die Hostie im Hals. Eine ‚Schröckliche Bluttat‘ und der Dresdner Tumult des Jahres 1726, Konstanz 2009 sowie den entsprechenden Beitrag in diesem Band. StadtA Dresden, RA, B.I.79q, unfol.: Schreiben von 102 Bürgern aus Dresden und Dresden-Neustadt an ihre Viertelsmeister und Richter, 2.1.1825. Hier auch das Folgende. Etwa nach dem Landtag 1811, als die Stände die vollständige Erfüllung der Religionsversicherung forderten, die Landeskirche bei ihren Freiheiten zu erhalten; vgl. Wetzel, Kirche und Religion, S. 387.

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Sachsen stattfinden sollte.68 In diesem Text liefert Mauermann eine genaue Anleitung, wie der Ablass zu erwerben sei, wobei er die strittigen Passagen – vor allem das Gebet für die Ausbreitung der katholischen Kirche – entschärfte. Offenkundig waren also diese Gebete für den Erhalt des Ablasses theologisch nicht notwendig, ihre Verwendung in der Bekanntmachung von 1824 kann demnach als unüberlegte, reflexhafte Wiederholung von traditionellen Floskeln verstanden werden. Diese verweisen auf hermetische Elemente in der Vorstellungswelt der zeitgenössischen katholischen Kirche, sie liefern aber keine Anhaltspunkte für akute und massive Rekatholisierungsversuche seitens Mauermanns. Im Gegenteil scheint es sogar Indizien dafür zu geben, dass der apostolische Vikar, der einerseits die Rechte seiner Kirche stärken, aber andererseits auch auf die konfessionelle Situation Rücksicht nehmen musste, in den Augen der Kurie bei der Stärkung des Katholizismus in Sachsen nicht entschlossen genug vorging.69 Einen zweiten Hinweis gibt der Viertelmeister Wilhelm Leonhard aus Dresden. In seinem bereits erwähnten Schreiben an den Stadtrat kommentierte er die Aufforderung, die Katholiken mögen Gott um die „Aufhörung der Ketzerei“ bitten, empört, die Bittenden würden nur einen Bruchteil der sächsischen Gesamtbevölkerung ausmachen. Demgegenüber sei, so ein Ergebnis seiner Nachforschungen, die katholische Kirche diesbezüglich in mehrheitlich katholischen Territorien viel toleranter. Nun hat die Wissenschaft schon längst auf die affirmative Kraft verwiesen, die Feierlichkeiten, Riten und Symbole als „Vermittlungsinstanzen kultureller Sinnproduktion“ gerade im Zusammenhang mit Religion besitzen.70 In diesem funktionalen Kontext ist auch das Heilige Jahr mit seinen komplexen Inszenierungsformen und theologischen Angeboten einzuordnen. Die gemeinsame Teilnahme der Gläubigen an den vorgeschriebenen Festgottesdiensten generierte ein Wir-Gefühl, ebenso wie der Erwerb des Strafablasses zur Herausbildung positiver Selbstgewissheit führte. Handelt es sich hierbei um Inklusionsmechanismen, so stellt die Verketzerung eines Gegners einen Exklusionsmechanismus dar. Dabei diente die Konstruktion des Feindbildes als eine die Selbstwahrnehmung verstärkende Kontrastfolie. Sie half, moralische Distanz zu schaffen, und diente dadurch der Homogenisierung, Stabilisierung und Außenabgrenzung der katholischen Gemeinde. Für deren Verstetigung 68

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Ein Abdruck in Krug, Umtriebe, S. 276–279. Krug kritisierte dieses Schreiben Mauermanns erneut. Er betrachtete es z. B. als Anmaßungen, dass der apostolische Vikar in Sachsen Dinge im Namen des Papstes und nicht in dem des Landesherren anordne oder dass er fälschlich Kapellen als Pfarrkirchen bezeichnet. Meier verweist – leider ohne Inhaltsangabe – auf zwei Briefe der Glaubenskongregation, in denen Mauermann ob seines Verhaltens zurechtgewiesen wurde; vgl. Meier, Die katholische Kirche, S. 35. Vgl. etwa Durkheim, Émile, Elementare Formen Religiösen Lebens, Frankfurt am Main 1981; Maurer, Michael, Prolegomena zu einer Theorie des Festes, in: Ders. (Hrsg.), Das Fest. Beiträge zu seiner Theorie und Systematik, Köln/Weimar/Wien 2004, S. 19–54, hier S. 38–42; Zitat: Rehberg, Karl-Siegbert, Institutionen als symbolische Ordnungen. Leitfragen zur Theorie und Analyse institutioneller Mechanismen (TAIM), in: Göhler, Gerhard (Hrsg.), Die Eigenart der Institutionen. Zum Profil politischer Institutionentheorie, Baden-Baden 1994, S. 47–84, hier S. 57.

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konnte eine solche Strategie gerade in Territorien wie Sachsen, wo der Bestand der katholischen Kirche aufgrund der spezifischen Diasporasituation latent gefährdet war, hilfreich erscheinen. In diesem Sinn kann das Verhalten des apostolischen Vikars auch als Versuch der Binnenstabilisierung einer religiösen Minderheit verstanden werden. Ausgehend von den von Mauermann angeheizten Befürchtungen stellt sich im Folgenden die Frage danach, wo und wie die katholische Kirche nach Ansicht der Protestanten versuchte, ihren Einfluss zu Lasten des Luthertums in Sachsen auszubauen.

IV. Ein Rechtskonflikt in konfessioneller Perspektive Im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts erfasste eine spätromantische Konversionswelle die soziale und intellektuelle protestantische Elite. So konvertierten etwa die Maler Friedrich Overbeck und Julius Schnorr von Carolsfeld, der Dichter Graf Friedrich Leopold von Stolberg-Stolberg, der Philosoph Karl Wilhelm Friedrich von Schlegel oder der Staatsrechtler Karl Ludwig von Haller zur katholischen Kirche – ein Beleg für deren steigende Anziehungskraft. In derartigen Konversionen erblickten Krug und Tzschirner die Bestätigung ihrer Befürchtungen, die Kurie forciere aktiv und unter Ausnutzung aller Mittel die Verbreitung des Katholizismus zu Lasten des Luthertums. Nach ihrer Vorstellung sei es im Rahmen der protestantischen Glaubens- und Geistesfreiheit möglich, dass Lutheraner aufgrund reichlicher Überlegung meinten, in der katholischen Kirche ihr Seelenheil zu finden, und deshalb konvertierten. Ausgeschlossen von diesem Verständnis war jedoch die sogenannte „Proselytenmacherei“.71 Deren Wesen bestehe im Versuch der katholischen Kirche, Leute durch Überredungskunst, durch finanzielle Versprechen72 oder auch durch Drohungen zur Konversion zu überreden. Wie skrupellos und heimtückisch dieses Verhalten dem Luthertum erschien, erläutert Krug am Beispiel der Konversion Hallers:73 Als Beamter und Mitglied des Großen Rates der Stadt Bern hätte er deren Gesetze beachten und dementsprechend seine Konversion den vorgesetzten Behörden bereits im Vorfeld anzeigen müssen. Jedoch habe er diese Mitteilung mit Einverständnis des zuständigen Bischofs unterlassen, d. h. seinen Beamteneid verletzt, um heimlich zu konvertieren.74 Dies erscheint Krug in mehrfacher Hinsicht als gefährlich: Einerseits impliziert der Fall Haller einmal mehr den Vorwurf, um eigene Interessen durchzusetzen verletze die katholische Kirche weltliches Recht, generiere Aufruhr und sei eine ständige

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Krug, Apologie, S. 7, 32. Diesen Vorwurf erhob beispielsweise der Dresdner Rat 1826 in einem Schreiben an den sächsischen König, vgl. StadtA Dresden, RA, D.XIX7, fol. 14. Haller konvertierte 1820; Krugs Apologie erschien im Folgejahr in mehreren Auflagen. Auf die vermutete Heimlichkeit der Proselytenmacherei in protestantischen Ländern verweist auch Schleiermacher, siehe Ders., Vorlesungen, S. 261.

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Gefahrenquelle für jegliche, insbesondere aber für protestantische Staatswesen.75 Andererseits könne das Luthertum einem heimlich vorbereiteten und vollzogenen Konfessionswechsel nicht wirksam begegnen, sondern werde vielmehr vor vollendete Tatsachen gestellt. Hinzu komme schließlich, dass Konversionen für Misstrauen und Unruhe nicht nur im Umfeld des Konvertiten sorgten. Zunächst besaß jeder Glaubensübertritt gerade von Angehörigen der Elite eine Signalwirkung, die von der katholischen Kirche propagandistisch ausgeschlachtet wurde.76 Außerdem generiere, so Krug, jeder einzelne Konfessionswechsel weitere Folgeprobleme für die lutherische Gesellschaft: In einem besonderen Glaubensbekenntnis, in dem z. B. erneut mit dem Ketzerbegriff operiert wird, müssten die Konvertiten schwören, möglichst viele Leute zum Glaubensübertritt zu überzeugen.77 Da aber die sogenannten Proselyten sich aus psychologischen Gründen ihrer neuen Kirche gegenüber besonders erkenntlich zeigen wollten, entfalteten sie nicht nur bei den Versuchen, entsprechend ihres Eides ihre Mitbürger zur Konversion zu überreden, einen besonderen Fanatismus. Hier fügt sich die Äußerung Schlegels ein: „Die Protestanten sind Rebellen gegen das Oberhaupt der Kirche, ja gegen die Kirche selbst.“78 Letztendlich zielt der Vorwurf also dahin, dass die katholische Kirche für ihre Ausbreitung mit dem Instrument der Proselytenmacherei eine Art Schneeballsystem installiert habe. Zusammenfassend bestätigte aus lutherischer Sicht die Proselytenmacherei die Auffassung, wonach die katholische Kirche sich auf Kosten der Protestanten ausbreiten wolle und sich dabei unlauterer, durchaus aggressiver Methoden bediene. Dies korrespondiert zugleich mit den auf die katholische Kirche bezogenen, negativen Stereotypen wie Scheinheiligkeit, Heimlichtuerei und Agieren im Lieblingselement „Dunkelheit“.79 Diesen Versuchen aber sei das Luthertum, dessen einzige Waffen Wort, Verstand und Überzeugungskraft seien, hilflos ausgesetzt, weshalb der Staat als Inhaber des Summepiskopats per Gesetzeskraft Hilfestellung leisten müsse.80 Doch wie realisierte sich dieses bedrohliche Vorgehen in Sachsen? Bereits allgemein gilt, dass in Deutschland während des gesamten 19. Jahrhunderts mit steigender Tendenz und mit großem Übergewicht mehr Katholiken konvertierten als

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Krug, Umtriebe, S. 274. In diesem Sinne auch der Hinweis Tzschirners auf das Konkordat in Bayern, dem der Landesherr nach Ansicht des Papstes zuzustimmen habe; vgl. Tzschirner, Protestantismus, S. 103; zum Sachverhalt vgl. Listl, Entwicklung, S. 431f. Zu den unterschiedlichen Positionen vgl. auch W. Müller, Säkularisation, S. 117–130. Vgl. dazu Nowak, Christentum, S. 65–68. Ein Abdruck des Glaubensbekenntnisses in: Krug, Proselytenmacherei, S. 66–69. Danach sind ausdrücklich diejenigen verflucht, die das Abendmahl unter beiderlei Gestalt reichen oder am römischen Glauben zweifeln, wohingegen der Konvertit u. a. schwört, die „verfluchte evangelische Lehre“ zu verfolgen (ebd., S. 69). Einige Drucknachweise aus den Jahren 1718, 1738, 1787, 1819 in: ebd., S. 66. Zit. nach Nowak, Christentum, S. 68. Vgl. Frey, Toleranz, S. 118–124, Köhle-Hezinger, Evangelisch-katholisch, S. 102. Zur „Dunkelheit“ vgl. Krug, Umtriebe, S. 299. Vgl. Krug, Neueste Proselytenmacherei, S. 330.

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Protestanten.81 Speziell im Königreich Sachsen spielten Konversionen von Lutheranern nur eine marginale Rolle, nicht zuletzt weil die sozialen Verhältnisse tatsächlich die Katholiken benachteiligten: So resümierte denn der Autor einer anonym publizierten Abhandlung über die katholische Lehre, in Sachsen könnten die Lutheraner in allen Berufen sehr viel leichter als die Katholiken Fuß fassen.82 Auch aus diesem Grund stieß eine Denkschrift, mit der Krug den Landtag zu Maßnahmen gegen die Proselytenmacherei bewegen wollte, auf keine Resonanz.83 Allerdings konnte überall dort, wo Protestanten und Katholiken unmittelbar zusammentrafen, eine Konstellation entstehen, aus der sich der wichtigste, bis in die jüngste Vergangenheit Brisanz besitzende interkonfessionelle Streitpunkt überhaupt entwickelte: Gemeint ist die sogenannte Mischehe zwischen Angehörigen der beiden Konfessionen.84 Auch in Sachsen war diese spezielle Form der Ehe zu finden. Sie bildete jedoch aufgrund des äußerst geringen katholischen Bevölkerungsanteils nur ein quantitatives Randphänomen, was zugleich auf die nur minimale konfessionelle Durchmischung der Bevölkerung verweist: In Dresden, das im Untersuchungszeitraum immerhin rund 60.000 Einwohner zählte, sind in den drei Jahren zwischen 1827 und 1829 insgesamt nur 63 Mischehen geschlossen worden.85 Die Ehepartner gehörten zumeist unteren sozialen Schichten an,86 wohingegen das mittlere und höhere Bürgertum weniger für Mischehen prädestiniert erschien. Verantwortlich dafür mögen eine stärkere Distinktion gegenüber der fremden Konfession sowie soziale Abgrenzungsstrategien gewesen sein.87 Im Widerspruch zu ihrer nur marginalen quantitativen Verbreitung in Sachsen steht das beträchtliche Konfliktpotenzial, das diese Ehen auch hier entfalteten. Die 81 82 83 84

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Vgl. Nowak, Christentum, S. 68f. Zuverlässige Statistiken dazu erst ab etwa 1880. Freimüthige Beurtheilung der Unruhen welche im Juni und September 1830 zu Dresden stattgefunden haben. Aus der Feder eines Vaterlandsfreundes, Nürnberg 1830, S. 21–33, besonders S. 21f. Die Denkschrift ist: Krug, Proselytenmacherei. Zum Misserfolg dieser Schrift vgl. Ders., Neueste Proselytenmacherei, S. 306f. Allgemein zum Thema vgl. Bendikowski, Tillmann, „Eine Fackel der Zwietracht“. Katholisch-protestantische Mischehen im 19. und 20. Jahrhundert, in: Blaschke, Konfessionen im Konflikt, S. 215–242; Köhle-Hezinger, Evangelisch-katholisch, S. 206–226. Die Mischehe explizit als Dauerbrenner bezeichnet bei Mergel, Klasse, S. 82; als das wichtigste gesellschaftliche Problem zwischen den Konfessionen benannt bei Schnabel, Franz, Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Die katholische Kirche in Deutschland, Basel/Freiburg/Wien 1965, S. 156. Eine ähnliche Einschätzung aus Sicht des Juristen und auf die Rheinprovinz bezogen vgl. Link, Rechtsgeschichte, S.129. Für Bayern vgl. W. Müller, Säkularisation, S. 101–106. Davon 1827: 22 Eheschließungen, davon 13 in der evangelischen Kirche, 1828: 35, 16 und 1829: 6, 2; vgl. StadtA Dresden, Tit. VII B. 140c: Varia, die Katholiken und ihr Verhältniß zu den Protestanten betr. 1790–1827, Bl. 47. Ein ähnliches Bild ergibt sich für Preußen, wo der Anteil der Mischehen in den Jahren zwischen 1840 und 1852 bei lediglich 3,7 % lag; vgl. Bendikowski, Fackel, S. 220. Mischehen, bei denen beide Partner dem Adel angehören, können hierbei nicht betrachtet werden, da Adlige das Privileg besaßen, vom Aufgebot befreit zu sein; vgl. Mandat vom 1827, § 46; vgl. Meier, Die katholische Kirche, S. 211. Mit Blick auf die Rheinprovinz in diesem Sinne Mergel, Klasse, S. 83f.

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Erklärung dafür liegt darin, dass in den Mischehen, egal ob sie in Bayern, Preußen oder Sachsen geschlossen wurden, diametral verschiedene Praxen und Rechtsvorstellungen unmittelbar aufeinanderprallten. Hierbei erfolgte insofern eine „affektive Einbeziehung“ der Bevölkerung, als intimste Bereiche des persönlichen konfessionellen Selbstbildes betroffen waren.88 Außerdem kommunizierten die Pfarrer beider Konfessionen das Mischehenproblem in ihren Gemeinden und dienten so als Multiplikatoren. Die Konflikte entzündeten sich sowohl auf einer konfessionellen als auch auf einer rechtlichen Ebene: Bekanntlich weist das Eheverständnis beider Konfessionen grundlegende Unterschiede auf. Erscheint die Ehe im protestantischen Verständnis eher als ein „bürgerlicher Vertrag“, so gilt sie im katholischen Verständnis als Sakrament.89 Nach kanonischem Recht besteht deshalb für konfessionsverschiedene Ehen ein Ehehindernis, so dass sich die katholische Kirche eigentlich gegen diese Mischehen ausspricht.90 Dieses Hindernis kann jedoch mit einem besonderen Dispens aufgehoben werden. Als Voraussetzung dafür musste sich jedoch der katholische Ehepartner – in abgemilderter Form noch heute – verpflichten, wenn schon nicht den Ehepartner zur Konversion zu führen, so doch alle Nachkommen in seiner Konfession zu erziehen.91 Für Krug war dieses Zwangsversprechen der Kindererziehung ein Eingriff in die Glaubensfreiheit und damit im Widerspruch zu den Grundprinzipien des Protestantismus stehend. Angesichts dieser Konstellation verwundert nicht, dass die Mischehe auf protestantischer Seite als Musterbeispiel für katholische Proselytenmacherei schlechthin galt.92 Anzumerken bleibt, dass vice versa die katholische Kirche in Territorien, in denen sie wie im Rheinland die dominierende Kirche war, die Mischehe als Versuch der protestantischen Minderheit erblickte, ihre Dominanz zu unterminieren.93 Unter dieser dominanten Konfliktebene verbirgt sich ein weiterer rechtlicher Konflikt, der als eine Folgeerscheinung der konfessionellen Gleichberechtigung an88 89 90

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Köhle-Hezinger, Evangelisch-katholisch, S. 331; vgl. auch Dietrich, Zwang, S. 323. Vgl. Ammon, Ehen, S. 131. Den sakramentalen Charakter der Ehe wies Ammon mit theologischen Argumenten zurück; vgl. ebd., S. 133. Als Beleg zitiert Ammon verschiedene Breven, u. a. zwei Breven Pius’ VII. an Generalvikariat zu Ehrenbreitenstein, 23.4.1817/31.10.1817, wonach Katholiken von gemischten Ehen abzuhalten sind; weiterhin Breve Pius’ VIII. vom 25.3.1830, wonach solche Ehen wider das göttliche und das menschliche Gesetz seien; vgl. Ammon, Ehen, S. 157– 159. Ähnlich noch 1970; vgl. „matrimona mixta“, 1970, Pkt. 4, vgl. Deutsche Bischofskonferenz, Ausführungsbestimmungen zum Motu proprio „Matrimonia mixta“ vom 31.3.1970, Abs. 2a. Aber auch in protestantischer Sicht erschienen die Mischehen als problematisch: Sie sei für einen Protestanten dann ein „lebenslanges Fegefeuer und eine lebenslängliche Verdammnis“, wenn der katholische Partner den katholischen Wahn teile, dass nur die eigene Kirche alleinseligmachend sei; vgl. Ammon, Ehen, S. X. Vgl. Bischofskonferenz, Ausführungsbestimmungen, Abs. 2a. Schon seit dem 18. Jahrhundert versuche die katholische Kirche, verlorenen Boden gutzumachen. Sie arbeite zu diesem Zweck daran, den protestantischen Ehepartner zur Konversion zu bewegen; vgl. Ammon, Ehen, S. 151f.; vgl. zudem Tzschirner, Protestantismus, S. 83–86. Vgl. Mergel, Klasse, S. 82.

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zusehen ist. Da nun neben dem lutherischen auch das katholische Eherecht staatliche Anerkennung fand, trafen auch hier zwei grundlegend verschiedene Rechtsauffassungen aufeinander. So dürfen z. B. nach kanonischem Recht Ehen auch zwischen konfessionsverschiedenen Partnern im Regelfall nicht geschieden werden, vielmehr erfolgt lediglich eine Trennung von Tisch und Bett. Da die Ehe aber nicht als geschieden galt, war auch eine erneute Heirat des protestantischen Partners nicht möglich.94 Das bedeutet aber, dass auch ein Lutheraner sowohl den Glaubens- als auch den Rechtsprinzipien der katholischen Kirche unterworfen sein konnte – ein Zustand, der den lutherischen Behörden als nicht hinnehmbar erschien. Sowohl Katholiken als auch Lutheraner empfanden diese Situation als tiefen Eingriff in eigene Belange. Zumeist Geistliche beider Bekenntnisse beschwerten sich immer wieder darüber, dass z. B. der Pfarrer der jeweils anderen Konfession heimlich konfessionsverschiedene Paare getraut habe oder dass er Aufgebote verweigert und damit die Ehe verhindert habe. Dass hierbei auch finanzielle Aspekte eine Rolle gespielt haben, belegt ein Vorwurf von katholischer Seite, wonach ein protestantischer Pfarrer Stolgebühren erhoben habe, obgleich die Trauung in der Kirche der katholischen Braut vollzogen wurde.95 Ähnlich wie bei den heimlich erfolgten Konversionen lag auch in diesem Konflikt – zumindest aus protestantischer Sicht – der Vorteil klar auf katholischer Seite: Schleiermacher verwies darauf, dass die katholischen Priester mit Beichte und Absolution, d. h. mit Zulassung zur bzw. Ausschluss von der Kommunion, ein probates Mittel zur Steuerung ihrer Gemeindeglieder besäßen, dem die Protestanten nichts Adäquates entgegensetzen konnten.96 Folgerichtig wachten die lutherischen Pfarrer eifersüchtig über ihre Gemeinden und schienen tatsächlich bereit, genau wie ihre katholischen Amtsbrüder vollendete Tatsachen zu schaffen, d. h. konfessionsverschiedene Paare ohne vorherige Rückmeldung an den zuständigen Geistlichen der anderen Konfession zu trauen. Damit trugen sie zwangsläufig zur Perpetuierung des Konfliktes bei. Klagen, die in Sachsen deswegen von katholischer Seite an das lutherische Oberkonsistorium gerichtet wurden, endeten oft damit, dass sich diese Behörde schützend vor die jeweiligen Pfarrer stellte. Zur Begründung verwies sie erstens darauf, dass katholische Geistliche Belange anderer Konfessionen nicht berücksichtigten, weshalb die Pastoren sich streng an die Gesetze der lutherischen Kirche halten und im Zweifelsfall ihrem Gewissen folgen müssten.97 Eine solche Argumentation ist gleichermaßen als Rechtfertigungsstrategie und als Ausdruck der Furcht vor einer Ausbreitung der katholischen Kirche zu werten. Zweitens monierte das sächsische Oberkonsistorium das Fehlen von Geset94 95

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Vgl. Meier, Die katholische Kirche, S. 32. Vgl. ebd., S. 20, 27–30; vgl. Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden [im Folgenden: Sächs. HStA Dresden], Loc. 4603, Kinder-Taufen, insofern zwischen der Römischkatholischen und Evangelischen Geistlichkeit … Beschwerden entstanden sind, 1826; EphA Leipzig, Schrank III, Fach S., Nr. 49: Acta katholische Angelegenheiten betr., 1819–1831. Vgl. Schleiermacher, Vorlesungen, S. 340. Vgl. Meier, Die katholische Kirche, S. 30.

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zen, die das Verhältnis der beiden Konfessionen regelten.98 Zwar hatten die Stände solche Regelungen seit 1811 mehrfach angemahnt, und auch Krug hatte entsprechende Vorschläge99 unterbreitet. Es verweist jedoch auf die Schwere des Problems, dass anhaltende Diskussionen und ein langwieriger Austausch von Gutachten der katholischen und protestantischen Behörden eine schnelle Umsetzung verhinderten. Erst die beiden Mandate vom 19. und 20. Februar 1827100 regelten Aufgabenbereiche und den Rechtsstatus des apostolischen Vikars einschließlich der ihm unterstellten Behörden. Außerdem enthielten sie Vorschriften bezüglich der Konversionen, der Trauungen konfessionsverschiedener Paare usw. Dabei kam der Gesetzgeber auch den Vorstellungen der lutherischen Seite deutlich entgegen,101 indem er z. B. den Konfessionswechsel an schärfere Bedingungen gebunden hatte. Er musste nun mit einem Monat Vorlauf angekündigt werden, damit der Pfarrer, aus dessen Gemeinde der Konversionswillige ausschied, Überzeugungsarbeit leisten konnte. Zudem wurde festgelegt, dass Pfarrer Personen, die noch keine 21 Jahre alt sind, nicht zur Konversion annehmen durften. Heimliche Übertritte wurden hingegen mit der Amtsenthebung des annehmenden Pfarrers geahndet. Eine nahezu salomonische Regel wurde bezüglich der Konfessionszugehörigkeit von Kindern aus Mischehen getroffen, indem die Entscheidung der Taufe den Eltern überlassen wurde, ein Konfessionswechsel des Elternteils aber nicht automatisch die Konversion des Kindes nach sich zog, wenn dieses bereits sein 14. Lebensjahr vollendet hatte.102

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Vgl. ebd. Vgl. Krug, Neueste Proselytenmacherei, S. 330–334. Danach sollte die Konversion nur öffentlich möglich sein, zuwiderhandelnde Geistliche sollen bestraft werden, die Anzeige der Konversion müsse bei geistlichen und weltlichen Behörden erfolgen, Geistliche dürfen nicht für Konversionen werben oder Mischehen dafür nutzen. Vgl. Meier, Die katholische Kirche, S. 41. Wichtig vor allem: „Mandat, die Ausübung der katholisch-geistlichen Gerichtsbarkeit in den hiesigen Kreislanden und die Grundsätze zu Regulierung der gegenseitigen Verhältnisse der katholischen und evangelischen Glaubensgenossen betreffend; vom 19. Februar 1827.“ (Gesetz- und Verordnungsblatt für das Königreich Sachsen 1827, S. 13–29), Abdruck ebd., S. 203–214. „Alle diese Maßnahmen sind offenbar gegen die katholische Kirche gerichtet“. Schleiermacher, Vorlesungen, S. 354. Solche Regelungen bildeten jedoch nur einen labilen Kompromiss, wie ein Blick auf das Rheinland zeigt. In einer landesherrlichen Deklaration von 1803 war festgelegt, dass bei Mischehen alle Kinder der Konfession des Vaters zu folgen hätten – falls keine gütliche Einigung der Eltern vorläge. Doch bei konfessionsverschiedenen Ehen im Rheinland war der Vater zumeist ein preußischer Beamter oder Militär und damit Protestant. Folglich empfand die katholische Kirche diese Regelung als Benachteiligung. Bischöfe und Regierung gelangten jedoch 1834 zu einem geheimen Kompromiss. Das im katholischen Recht verlangte Versprechen, die Kinder katholisch zu erziehen, wurde abgemildert. Zur Erteilung des notwendigen Dispenses war es nun ausreichend, dass die vage Hoffnung auf eine katholische Erziehung der Kinder bestand. Erst als ein neuer Kölner Erzbischof diese Aufweichung katholischen Kirchenrechts zurückwies, eskalierte der Konflikt erneut und führte 1837 in den Kölner Kirchenstreit; vgl. Bendikowski, Fackel, S. 224–227; Mergel, Klasse, S. 82; Nipperdey, Deutsche Geschichte, S. 418f.; Ortloff, System, S. 59–61.

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Doch es gelang dem Gesetzgeber nicht, jene Widersprüche zu überbrücken, die aus konträren Rechtsauffassungen beider Konfessionskirchen sowohl untereinander als auch zwischen den Auffassungen der Kurie und des Staates erwuchsen. Das Hauptproblem bestand darin, dass sich beide Kirchen in ihrem rechtlichen Verhältnis zum Staat unterschieden. Genau aus diesem Grund hatte die Theologische Fakultät der Universität Leipzig in einem Gutachten davor gewarnt, aus der bürgerlichen und rechtlichen Gleichstellung der Konfessionen eine Gleichstellung der Kirchenverfassungsrechte, d. h. der Stellung der Kirchen zum Staat, abzuleiten.103 Entscheidend für die rechtlichen Verhältnisse zwischen beiden war, dass der Staat gegenüber der lutherischen Kirche mit dem staatlichen Hoheitsrecht (jus circa sacra) und dem Kirchenregiment (jus sacra) zwei im Laufe der Jahrhunderte miteinander verschmolzene Aufsichtsebenen besaß.104 In Übereinstimmung damit war nach protestantischem Verständnis die eigene geistliche Gerichtsbarkeit vom Staat entlehnt, d. h. den Landesgesetzen unterworfen. Damit korrespondiert, dass die lutherische Geistlichkeit ebenso wie weltliche Beamte neben dem Untertaneneid auch einen Diensteid leisten musste. Es ist gleichermaßen eine Folge der konfessionellen Gleichberechtigung sowie Ausdruck einer rechtlichen Egalisierung im modernen Staat und damit der Herstellung der vollen staatlichen Souveränität, dass nun vom apostolischen Vikar und den ihm nachgeordneten Behörden dasselbe verlangt wurde.105 Hier zeichneten sich jedoch insofern Probleme ab, da der Staat gegenüber der katholischen Kirche nur das Hoheitsrecht (jus circa sacra) besaß, während das Kirchenregiment natürlich beim Papst lag.106 Dies besaß Konsequenzen nicht nur für die Personalpolitik, die in die päpstliche Kompetenz, d. h. vor Ort in die des apostolischen Vikars fiel,107 sondern auch für die geistliche Gerichtsbarkeit, die in Sachsen ebenfalls Mauermann ausübte. Diese beanspruchte zwar, wie oben bereits erwähnt, staatliche Anerkennung als Bestandteil der freien Religionsausübung, sie war aber nach kanonischer Vorstellung nicht den Landesgesetzen unterworfen, da das päpstliche Recht die ausschließliche Grundlage allen kirchlichen Handelns bilde.108 Dementsprechend monierte der Vatikan das Ansinnen, katholische Kleriker sollten dem Landesherrn den Dienst- und Untertaneneid leisten.109 Ebenso unwillkommen war, dass alle öffentlichen Verlaut103 104 105 106 107

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Vgl. Meier, Die katholische Kirche, S. 35. Vgl. Ortloff, System, S. 30. Vgl. Link, Rechtsgeschichte, S. 125. Aus diesem Grund wurde diese Pflicht auch in das Bayerische Religionsedikt eingefügt; vgl. Listl, Entwicklung, bes. S. 434. Vgl. Ortloff, System, S. 30. Die Ernennung des apostolischen Vikars bedurfte der Zustimmung des Landesherrn, ähnlich besaß der apostolische Vikar das Vorschlagsrecht für die Besetzung in den ihm nachgeordneten Behörden; vgl. Mandat 1827, § 2 und 5; Abdruck in: Meier, Die katholische Kirche, S. 203f. Vgl. ebd., S. 35–37. Ortloff, System, S. 27. Eine Ablehnung dieser Forderung seitens der Kurie auch in Bayern. Im Zusammenhang mit den Verhandlungen mit dem bayerischen Staat äußerte der Nuntius, nach katholischer Auffassung sei ein bedingungsloser Verfassungseid für Katholiken nicht erlaubt; vgl. W. Müller, Säkularisation, S. 127.

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barungen des apostolischen Vikars ein landesherrliches Placet benötigten. Können diese staatlichen Forderungen als Zeichen eines staatlichen Kontroll- und Eingriffsrechtes verstanden werden, so zeigt das Verhalten der Kurie, dass die katholische Kirche sich auch vom staatlichen Hoheitsrecht (jus circa sacra) zu emanzipieren suchte.110 Nun hätte zwar der Versuch, die katholischen Behörden durch den doppelten Eid an die Landesgesetze zu binden, zur Beruhigung der Lutheraner dienen können. Doch bei der Bevölkerung lösten die Mandate offenkundig das Gegenteil aus. Ausgehend von der Überzeugung, wonach „die Erfahrung der Jahrhunderte lehrt, daß die katholische Kirche überall, wo sie anderen Kirchen gleichgestellt wird, mit der Parität sich nicht begnügt, sondern sofort nach Superiorität und, wenn irgend möglich, nach Alleinherrschaft strebt: so hätten unter den protestantischen Sachsen allerdings nicht ganz ungegründete Besorgnisse rege werden können“, befürchtete etwa der anonyme Verfasser einer Denkschrift, dass dieses Mandat ein Versuch darstelle, die evangelische Kirche der römisch-katholischen unterzuordnen.111 In diesem Sinn verband er mit dem Hinweis, in der geistlichen Gerichtsbarkeit bilde nicht der Landesherr, sondern der Papst die höchste Appellationsinstanz, den Vorwurf, dass sich der apostolische Vikar in Ausübung der geistlichen Gerichtsbarkeit mehr nach geistlichen Dogmen und nicht nach den Landesgesetzen richten werde. Dem werde zusätzlich durch die Bestimmung des Mandats Vorschub geleistet, da der katholische Klerus „nur in so fern nach den Vorschriften der Landesgesetze sich zu achten hat, in so weit nicht in Ehesachen die Dogmen der katholischen Kirche entgegen stehen, oder die Vorschriften des canonischen Rechts zugleich von ihm in Obacht zu nehmen sind“.112 Damit dürfte, so die Einschätzung, kein Geistlicher Bedenken haben, trotz gegenteiliger landesherrlicher Anordnung etwa gemischtkonfessionellen Ehepartnern das Versprechen abzunehmen, die Kinder der katholischen Kirche zuzuführen, während die Ahndung von Unregelmäßigkeiten bei der Trauung solcher Paare folglich nur evangelische Pastoren treffen könne. Aus diesen Konstellationen leitet der Verfasser der Denkschrift folgende Bedenken ab: Erstens ergibt sich die faktische „Subordination evangelischer Landesbehörden unter katholische Geistliche“. Diesen Sachverhalt sieht er zusätzlich in der Symbolik der Titulaturen bestätigt. So steht dem katholischen Konsistorium der Titel „Hochwürdiges“, dem lutherischen Pendant dagegen nur die Bezeichnung „Hochlöbliches“ zu. Analog dazu darf sich der erste katholische Geistliche „Hochwürdigster“, sein lutherischer Amtsbruder hingegen nur „Hochwürdiger“

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Vgl. dazu Link, Rechtsgeschichte, S. 125, 131. Zu ähnlichen, allerdings deutlich später einsetzenden Bemühungen um Emanzipation auf protestantischer Seite vgl. ebd., S. 136. Stadtarchiv Leipzig [im Folgenden: StadtA Leipzig], Tit. VII B. 140c: Varia, die Katholiken und ihr Verhältniß zu den Protestanten betr. 1790–1827, Bl. 23–44: Bedenken und Wünsche eines Protestanten in Beziehung auf das Verhältnis der evangelischen Kirche zu der römisch-katholischen im Königreich Sachsen mit besonderer Rücksicht auf die Mandate vom 19. und 20. Februar 1827, hier Bl. 23r. Ebd., Bl. 27r. Hervorhebung im Original.

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nennen.113 Zweitens beklagt er ganz im Sinne eines modernen Staatsverständnisses, dass die Dogmen einer Religionsgesellschaft über die Landesgesetze gestellt werden, wodurch diese nicht für alle Landesbewohner gleichermaßen Geltung besäßen. Diese bedeute zugleich eine Unterordnung des Staates unter die Kurie. Angesichts dieser Situation und mit Hinweis darauf, dass sich die Kurie noch in der Gegenwart weigere, den Rechtszustand der evangelischen Kirche anzuerkennen, wurde schließlich – jedoch vorerst vergeblich – auf den Schutz des Status quo und eigener Grundsätze bestanden.

V. Konfessionelle Deutung politischer Konstellationen Das im Laufe der 1820er Jahre popularisierte Deutungsschema eines rückwärtsgewandten Katholizismus, der eine umfassende Bedrohung für das Luthertum darstelle, konnte schließlich auch zur Interpretation der politischen Situation genutzt werden. Immerhin schien sich dieses Bild in den Zuständen im Königreich Sachsen zu verifizieren. Bereits während der Regierung König Friedrich Augusts I. war das Land in politische Stagnation verfallen. Bildete das frühe 19. Jahrhundert in anderen Staaten eine Reformära, so blieb in Sachsen ein altständisches System bestehen.114 Sämtliche Regierungsverantwortung lag in den Händen des ultrakonservativen Kabinettsministers Detlev Graf von Einsiedel, den die moderne Forschung zu Recht als „Symbolfigur der politischen Stagnation in Sachsen von 1815 bis 1830“ bezeichnet hat.115 Der kleinsten Reform abgeneigt, galt dessen Interesse, so zumindest die Wahrnehmung vieler Zeitgenossen, nicht der Förderung des Allgemeinwohls, sondern vornehmlich der Stärkung seiner eigenen metallverarbeitenden Betriebe, die seit der sächsischen Teilung von 1815 auf preußischem Territorium lagen. In Verbindung mit den ihm zugeschriebenen Eigenschaften wie Herrschsucht, Heuchelei und Frömmelei116 ergab sich der Verdacht, Einsiedel habe ein umfassendes System von Korruption und Nepotismus errichtet, in dem alle Verwaltungsebenen willfährige Werkzeuge des Kabinettsministers waren. Die Situation verschärfte sich, als nach dem Tod König Friedrich Augusts I. im Mai 1827 mit dessen Bruder Anton ein für die Regierungsgeschäfte wenig geeigneter Monarch an die Regierung kam und dringend erhoffte Veränderungen ausblieben.117 113 114 115 116 117

Ebd., Bl. 26r. Eine ausführliche Darstellung bei Hammer, Michael, Volksbewegung und Obrigkeiten. Revolution in Sachsen 1830/31, Weimar/Köln 1997. Hammer, Volksbewegung, S. 33. Vgl. Freimüthige Beurtheilung, S. 15. Diese Negativeinschätzung teilten auch die späteren sächsischen Monarchen Friedrich August II. und Johann; vgl. Lippert, Woldemar, Friedrich Augusts II. Entwicklungsgang. Fragmente einer Selbstbiographie, in: Neues Archiv für Sächsische Geschichte 45 (1924), S. 80–103, hier S. 97f.; Kretzschmar, Hellmut (Hrsg.), Lebenserinnerungen des Königs Johann von Sachsen. Eigene Aufzeichnungen des Königs über die Jahre 1801 bis 1854, Göttingen 1958, S. 88.

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Die permanenten Unzufriedenheiten mit der politischen Konstellation fanden deutliche Artikulation während des Augustana-Jubiläums, das im Jahr 1830 anlässlich des 300. Jahrestages der Übergabe des Augsburger Bekenntnisses an Kaiser Karl V. zelebriert wurde. Ganz banale Anlässe führten dazu, dass am 25. Juni, dem ersten Feiertag, etwa in Leipzig Krawalle ausbrachen.118 Auslöser war, dass der städtische Polizeipräsident Freiherr Karl Heinrich Konstantin von Ende der Studentenschaft, die zusammen mit der Universitätsleitung und dem Stadtrat an einer feierlichen Prozession teilnehmen sollten, am Vorabend der Feier das Tragen von Uniformen untersagt hatte.119 Er begründete sein Verbot damit, es würde sich um jene Burschenschaftsuniformen handeln, deren Symbolik seit dem Wartburgfest 1817 auf nationalliberales Selbstbewusstsein eines lutherischen Bürgertums verwies und die deshalb in den Karlsbader Beschlüssen vom 20. September 1819 unter Strafe gestellt wurden.120 Das Verbot des Polizeipräsidenten widersprach allerdings einer Erlaubnis, die der Universitätsrektor – kein Geringerer als Krug! – bereits erteilt hatte. Die verärgerten Studenten boykottierten daraufhin den Festzug, der ohne die größte Teilnehmergruppe sehr „kleinlich“121 ausfiel. Stattdessen zogen sie protestierend durch die Innenstadt. Ähnliches wiederholte sich am Abend, als sie einem geplanten Fackelzug die Teilnahme versagten und vor die Wohnungen des Rektors und des Polizeipräsidenten zogen, um dort lautstark dem Erstgenannten ihre Sympathie und Letzterem ihre Antipathie zu bekunden. Dabei erhielten sie Unterstützung von zahlreichen 118

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Eine ausführliche Darstellung in: Beschreibung aller beim 300jährigen Jubelfeste der Übergabe der Augsburger Confession am 25. Juni 1830 bei dessen Nachfeier am Reformationsfeste am 31. Oct. 1830 in Leipzig stattgefundenen Feierlichkeiten. Nebst einem illustrierten Kunstblatt, [Leipzig 1830], S. 433–446; Hammer, Volksbewegung, S. 123–125; Flügel, Konfession, S. 237–259. Vgl. Sächs. HStA Dresden, Oberkonsistorium, Loc. 1783, Bl. 30: Bericht v. Ende an König Anton, 3.8.1830. Ebd. Hinzu kam, dass von Ende zugleich die Funktion des Königlichen Beauftragten bei der Universität bekleidete. Als solcher besaß er die Aufgabe, die zahlreichen Privilegien und Sonderrechte der Alma Mater zu nivellieren und sie der staatlichen Rechtshoheit verbindlich unterzuordnen. Dieses Ziel war mit der vom Kabinett beschlossenen Strukturreform vom 3. März 1830 fast erreicht. Der Polizeibehörde erschien nun ein universitärer Protest gegen die Staatsmacht als durchaus denkbar. In dem Kontext erschienen dem Polizeipräsidenten jegliche akademische Umzüge als ein Relikt der alten universitären Selbständigkeit, weshalb er sie prinzipiell verbieten wollte. Hier fügt sich das Uniformverbot nahtlos ein: Es desavouierte die Kompetenzen des Rektors, beschränkte die universitäre Selbständigkeit und verwies auf die strikte Kontrolle des Festverlaufs durch die staatliche Obrigkeit; vgl. Zwahr, Hartmut, Die Universitätsreform von 1830. Zum 175. Jahrestag der Anordnung durch die Sächsische Staatsregierung vom 3. März 1830, in: Jubiläen. Personen. Ereignisse. Universität Leipzig, Leipzig 2005, S. 25–30; Ders., Die Universität Leipzig im Revolutionsjahr 1830. Durchbrüche zu einem neuen Wissenschaftsverständnis und zu bürgerlicher politischer Praxis, in: Ders., Revolutionen in Sachsen. Beiträge zur Sozial- und Kulturgeschichte, Weimar/ Köln/Wien 1996, S. 94–108. Sächs. HStA Dresden, Oberkonsistorium, Loc. 1783, Bl. 7: Bericht des akademischen Senats der Universität Leipzig an König Anton, 29.6.1830.

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Leipzigern, die sich darüber empört zeigten, dass die Kommunalbehörden sowohl auf eine Illumination des Rathauses als auch auf eine eigene Ratsprozession verzichtet hatten. Verschärft wurde die Unzufriedenheit, weil sich die Bevölkerung nun zusätzlich „in der Erwartung eines grossen und die Gemüther ergreifenden [Fackel-] Aufzuges getäuscht sah“.122 Die Situation eskalierte schließlich, als einige Personen vor dem Wohnhaus des Polizeipräsidenten das Straßenpflaster aufrissen, um mit den Pflastersteinen dessen Fenster einzuwerfen. Die daraufhin eingesetzten Polizeikräfte versuchten mit brutaler Härte, die Menschenansammlung aufzulösen. Daraus entwickelte sich eine Hetzjagd durch die Innenstadt, in deren Verlauf Unschuldige verhaftet und eine Person von der Polizei tödlich verletzt wurde. Da der Uniformstreit letztendlich nur eine Angelegenheit zwischen der Universität und dem Polizeipräsidenten war, stellt sich die Frage, warum die Leipziger den studentischen Protest unterstützt haben. Die Erklärung dafür liegt in den starken Vorbehalten gegenüber den kommunalen Behörden und dem restaurativen Staatswesen, als dessen Verkörperung der Polizeipräsident galt.123 Die allgemeine Unzufriedenheit wurde durch das Verhalten der Kommunalbehörden im unmittelbaren Vorfeld der Säkularfeier weiter geschürt. Die Bürger monierten, dass die Behörden ihrem Wunsch nach einer repräsentativen Würdigung des Luthertums und damit der eigenen Bürgergemeinde nicht entsprachen. Voller Unverständnis heißt es, der Stadtrat habe zwar etwa anlässlich der Huldigungsfeier für König Anton eine Stadtbeleuchtung angeordnet, „nicht aber für den großen Glaubenshelden Martin Luther“.124 Hinzu kam, dass die Kommunalbehörden anders als üblich keine eigene Prozession vom Rathaus in die Kirche veranstaltet, sondern sich für diesen Zweck mit der Universität vereinigt hatten. Zwar hätte die Verbindung beider Züge eine gesteigerte Repräsentation zur Folge gehabt, jedoch verkehrte sie sich durch das Scheitern der Universitätsprozession ins Gegenteil. Mit Stadtillumination und Festprozession fehlten aber die beiden eindrucksvollsten Bestandteile, die das Festrepertoire überhaupt zu bieten hatte. Die auf diese Weise eingeschränkte Feier erschien der Bevölkerung als Benachteiligung gegenüber der katholischen Kirche und damit als ein Verstoß gegen die konfessionelle Gleichberechtigung.125 Mit Hinweis auf die konfessionelle Gleichberechtigung und auf die Ereignisse von 1825 kommentierten die Leipziger, diese feiere ihre Kirchenfeste, „ohne dass die Gewissen der römischkatholischen Evangelischen so zart wären zu befürchten, es würde den Evangelischen ein Ärgerniß geben“.126 Ihre 122 123

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Ebd. Vgl. hierzu etwa: Zwahr, Hartmut, Vom feudalen Stadtregiment zur bürgerlichen Kommunalpolitik. Eine historisch-soziologische Studie zum Beginn der bürgerlichen Umwälzung in Sachsen 1830/31, in: Ders., Revolutionen in Sachsen, S. 53–85, besonders S. 57, 63. Zu König Anton vgl. Beschreibung aller beim 300jährigen Jubelfeste, S. 442; Zitat aus: Der Eremit. Blicke in das Leben, die Journalistik und Literatur der Zeit 5 (1830), Sp. 667–671, hier Sp. 669. Vgl. Beschreibung aller beim 300jährigen Jubelfeste, S. 1–8. Ebd., S., 6.

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Schuldzuweisung richtete sich sowohl gegen Christian Gottlob Leberecht Großmann, der dem verstorbenen Tzschirner im Amt des Leipziger Superintendenten folgte, da er sich aus „übertriebener Toleranz“ nicht für eine repräsentative Feier eingesetzt habe, als auch gegen die lokalen Behörden.127 Deren Verhalten sei ein Beleg dafür, dass „der evangelisch-protestantische Magistrat nichts wissen [wolle] vom Glaubensjubelfeste der evangelischen Protestanten“.128 Die politische Komponente dieses Vorwurfs zeigte sich in der Anschuldigung, „die Unterlassung [...] sei in Folge höherer Befehle“ erfolgt.129 In diesen Kontext fügte sich auch das Uniformverbot ein, das der Polizeipräsident aufgrund „höherer Anweisung“ ausgesprochen habe, weil er aus „geheimer Antipathie gegen die protestantische Kirche [...] eine für jene Kirche so wichtige Jubelfeier“ stören wollte.130 Kein Geringerer als Krug verwies jedoch auf die Haltlosigkeit dieser Anschuldigungen.131 Tatsächlich haben die Leipziger Behörden weder aus persönlichen Befindlichkeiten noch aufgrund erhaltener Anordnungen die Säkularfeier behindern wollen. Vielmehr erfolgte der Verzicht auf eine repräsentative Ausschmückung im Rückgriff auf das Reformationsjubiläum 1817. Um dessen ungestörten Ablauf zu wiederholen, hatte der Leipziger Rat „in Erwähnung gebracht, was bey dem Reformations-Jubelfeste im Jahre 1817 vom Magistrat veranstaltet worden“.132 Indem die Leipziger Behörden dessen Feier weitgehend kopierten, zielten ihre Vorbereitungen automatisch auf eine Gedenkfeier ohne „allerley äußeres Gepränge, das [...] dem Hauptzwecke einer religiösen Feier vielleicht mehr schädlich als nützlich sein dürfte“.133 Doch genau diese Vorstellung, die auch Großmann teilte, entsprach nicht mehr den Erwartungen der Leipziger Bürgerschaft. Die Ruhe, die nach dem Augustana-Jubiläum wieder einkehrte, war nur eine trügerische. Im September kam es zu erneuten Protesten gegen den Leipziger Magistrat, die zu einer Volksbewegung anwuchsen, die ganz Sachsen überrollte. In ihrer Gewalt übertrafen diese Unruhen die Ereignisse vom Juni bei weitem. Volksaufstände brachen die Macht der alten Magistrate und erzwangen den Sturz des Kabinettsministers Detlev von Einsiedel sowie die Einsetzung des Prinzen Friedrich August zum Mitregenten.134 Diese neue politische Ordnung fand erneut Ausdruck in einem lutherischen Feiertag, nämlich dem Reformationsfest am 31. Oktober 1830. Als jährlicher Kirchen127 128 129 130 131 132 133 134

Ebd., S. 4. Hervorhebung im Original. Ebd., S. 44. Ebd. Sächs HStA Dresden, Oberkonsistorium, Loc. 1783, Bl. 7: Bericht des akademischen Senats der Universität Leipzig an König Anton, 29.6.1830. Vgl. Krug, Wilhelm Traugott, Leipziger Freuden und Leiden im Jahre 1830. Oder das merkwürdigste Jahr meines Lebens. Ein Nachtrag zur Lebensreise, Leipzig 1831, S. 19. StadtA Leipzig, Tit. XLVII.31, Bl. 24: Protokoll des Oberstadtschreibers Gottlieb Wilhelm Werner, 7.6.1830 Sächs. HStA Dresden, Loc. 1891, Acta, die im Jahre 1817 zu begehende Feyer des dritten ReformationsJubilaei, Vol. I, Bl. 2: Bericht des Oberkonsistoriums an Geheimen Rat, 18.10.1817. Zu den Ereignissen vgl. Hammer, Volksbewegung, S. 98, 123–146.

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feiertag besaß es zwar eine bis in das Jahr 1667 zurückreichende Tradition, seine aufwändige Feier war jedoch nur in jubiläumsrelevanten Zeiträumen vorgesehen und zuletzt 1817 begangen worden. 1830 wichen die Behörden hiervon signifikant mit der Begründung ab: „was konnte wohl geeigneter seyn, die Herzen des Volkes mehr zu gewinnen als eine Feier, welche ihrem eigentlichen Wesen nach jener ähnlich war, die am 25. Junius hätte statt haben sollen“?135 Der Reformationstag gewann somit den Charakter eines Ersatzjubiläums für das gestörte Gedenken im Juni, womit der Forderung einer repräsentativen staatlichen Anerkennung des lutherischen Bekenntnisses als der gesellschaftstragenden Konfession explizit Rechnung getragen wurde. Das Ersatzjubiläum wurde, so Krug, „nicht nur als ein kirchliches, sondern auch als ein bürgerliches [...] Fest“136 begangen und bildete somit ein Symbol für den durch den politischen Wandel wiederhergestellten Konsens zwischen Obrigkeit und Bevölkerung. Ausdrücklich wurde das Reformationsfest im Namen des Königs und seines Mitregenten zum Glaubensfest und zum „Fest der wiederhergestellten Ordnung“ deklariert, bei dem sich „bürgerliche Freiheit und die Religion schwesterlich die Hand reichen“.137 Ein deutliches Signal für diese Gleichsetzung von bürgerlicher Freiheit und lutherischem Bekenntnis ging hierbei von Dresden aus: Auf dem Altmarkt der Residenzstadt erfolgte am Reformationstag die feierliche Amtseinführung der Stadtverordneten, deren Amt als Folge des Septemberaufstandes als Gegengewicht zum Rat neu geschaffen wurde.138 Diese politischen Veränderungen waren Bestandteil eines politischen Modernisierungsprozesses, der letztendlich mit den Unruhen vom 25. Juni 1830 eingesetzt hatte und der mit dem Übergang des Landes zur konstitutionellen Monarchie mit der Verabschiedung der Verfassungsurkunde vom 4. September 1831 seinen Endpunkt fand. Die neue Verfassung enthielt zahlreiche Bestimmungen, die eindeutig die Stellung der lutherischen Kirche sicherten. Zusätzlich zu den bereits in den Mandaten von 1827 enthaltenen Bestimmungen verfügte sie etwa, dass sich keinerlei Orden, insbesondere die Jesuiten, in Sachsen niederlassen dürften. Dies hatte nicht nur Auswirkungen auf die Krankenpflege, eine Aufgabe, auf die sich verschiedene weibliche Orden spezialisiert hatten, sondern auch auf Volksmission und Exerzitien, die ein Privileg männlicher Orden darstellten. Die einschneidendsten Verfügungen markierten aber die neuen Regelungen zur geistlichen Gerichtsbarkeit: Zunächst konnten nun Klagen über den Missbrauch kirchlicher Gewalt auch vor die obersten Staatsbehörden gebracht werden. Diese Vorschrift betraf zwar beide Konfessionen, bedeutete aber vor allem einen Einschnitt in die katholische Verfahrensweise, insofern nun nicht mehr der apostolische Vikar die letzte Instanz bildete. Schließlich baute der Staat seine eigene Souveränität aus, indem er die geistlichen Behörden de135 136 137 138

Beschreibung aller beim 300jährigen Jubelfeste, S. 4. Krug, Freuden, S. 34f. EphA Leipzig West, Nr. 52, unfol.: Hermann Wilhelm Müller, Konsistorium Leipzig an Superintendent Großmann, 19.10.1830; Leipziger Tageblatt, Nr. 125, 2.11.1830, S. 1274; ähnlich auch Krug, Freuden, S. 34f. Vgl. Hammer, Volksbewegung, S. 155.

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zidiert „aller“ Konfessionen dem Ministerium für Kultus unterstellte. Der Kultusminister aber musste zwingend Lutheraner sein. Nicht thematisiert wurde jedoch die Finanzierung der katholischen Kirche und damit ein Thema, an dem sich in den 1830/40er Jahren neuer Konflikt entzünden sollte.

VI. Resümee Im Königreich Sachsen bildete das Luthertum die mit großem Abstand dominierende Konfession, die Katholiken befanden sich hingegen in einer Diasporasituation. Dennoch fühlten sich die Protestanten von den Katholiken massiv bedroht. Nach ihrer Meinung zielte die katholische Kirche im Rahmen ihres erfolgreichen Restrukturierungsprozesses darauf, den eigenen Alleinvertretungsanspruch zu realisieren. Nicht zuletzt durch vordergründig religiös motivierte Differenzen zwischen den beiden Konfessionen, etwa die Frage der konfessionsverschiedenen Ehen, verfestigte sich diese Meinung und konnte somit zum Erklärungsschema für jegliches Verhalten der katholischen Kirche werden. Doch gerade die um diese Mischehen entbrannten Streitigkeiten verweisen auf einen großen Unterschied zu jenen konfessionellen Auseinandersetzungen, die zwischen Reformation und Aufklärung ausgetragen wurden. Es ging nämlich nicht mehr um konfessionelle Wahrheiten, sondern um Differenzen im rechtlichen und politischen Bereich, die im Ergebnis eines vielschichtigen Modernisierungsprozesses Brisanz erhielten. Entscheidend war, dass diametral verschieden konfessionell geprägte Traditionen, Rechts- und Ordnungsvorstellungen und kulturelle Praxen infolge der Veränderungen der politischen Landkarte im frühen 19. Jahrhundert nun nicht nur unmittelbar aufeinandertrafen, sondern auch jeweils staatliche Anerkennung infolge der rechtlichen Gleichstellung zu beanspruchen hatten. Hier war ein umfassender Interessensausgleich zwischen den drei Konfliktparteien – nämlich lutherischer und katholischer Kirche sowie paritätischem Staat – erforderlich. Dies erwies sich jedoch als schwierig. Immerhin hatten diese Strukturkonflikte eine besondere Aufladung erfahren, insofern ihre Deutung aufgrund festgefügter konfessioneller Wahrnehmungsmuster erfolgte, die sich auf alle Bereiche der Gesellschaft erstreckten.

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Johann der Ultramontane und Johann der Kirchliche Das konfessionelle Image eines Fürsten der katholischen Diaspora im 19. Jahrhundert Silke Marburg

I. Das konfessionelle Image des Fürsten als Problem für seine öffentliche Wirkung und für die bisherige historiographische Interpretation Kaum einem sächsischen Fürsten des 19. Jahrhunderts hat die ihm nachfolgende Biographik so deutliche Vermittlungsbemühungen gewidmet wie König Johann (1801–1873, Kg. 1854).1 Dabei warb man u.  a. für Johanns religiöse Prägung um Verständnis, spielte doch auch sie in seiner öffentlichen Biographie die Rolle einer veritablen Barriere. Während die Publikationen des 19. und 20. Jahrhunderts auf den konfessionellen Hiatus zwischen dem katholischen Wettiner und der protestantischen Bevölkerungsmehrheit Sachsens Bezug nahmen und man diese Opposition durch Hinweise auf die Johann eigene Toleranz zu mildern suchte,2 mühten sich die Erklärungsversuche um die Wende zum 21. Jahrhundert eher an der verbreiteten säkularen Verständnislosigkeit für eine Religiosität überhaupt ab, wie gerade der wiederentdeckte Johann sie offenbarte. Indem man sich aber wiederum um die Rekonstruktion individueller Überzeugungen bemühte, folgte man allerdings dem Vorgehen der älteren Biographik. An dieser Stelle der Lektüre macht sich das Bedürfnis spürbar, die Interpretation dieses Fürsten am Verständnis der Konfessions1

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Er galt beispielsweise als erster Leidtragender seiner spröden Art, als Gefangener seiner fürstlichen Herkunft und höfischer Zwänge, aber auch als ein durch seinen Intellekt verhinderter Machtpolitiker und in manch anderer Hinsicht eben als ein Opfer der Zeitläufte. Zur persönlichen Art Johanns beispielsweise wieder Zimmermann, Ingo, Zwischen Pflicht und Neigung, Der bedeutendste sächsische König des 19. Jahrhunderts, in: König Johann von Sachsen, Zwischen zwei Welten, hrsg. von der Sächsischen Schlösserverwaltung und dem Staatlichen Schlossbetrieb Weesenstein, Halle/S. 2001, S. 25–31, hier S. 30; zu Johanns angeblich bürgerlicher Identität vgl. die Untersuchungen von Matzerath, Josef, Johann von Sachsen – ein „bürgerlicher“ König? Eine konstruktive Kritik gängiger historiografischer Deutungskonzepte, in: Müller, Winfried/Schattkowsky, Martina (Hrsg.), Zwischen Tradition und Modernität, König Johann von Sachsen 1801–1873, Leipzig 2004, S. 33–44; zum Intellekt vgl. Kretzschmar, Hellmut, Das sächsische Königtum im 19. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Typologie der Monarchie in Deutschland, HZ 170 (1950), S. 457–493; als Opfer der Zeitumstände sieht ihn Blaschke, Karlheinz, Der Fürstenzug zu Dresden, Leipzig/Jena/Berlin 1991, S. 202–205. Die später oft wiederholten Argumente bereits bei Falkenstein, Johann Paul von, Johann König von Sachsen. Ein Charakterbild, Dresden 1879. S. 109–116.

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kultur des 19. Jahrhunderts zu schulen, um Johann so gleichzeitig als Akteur wie als Figur des dynamischen öffentlichen Diskurses wahrnehmen zu können. Johann Herzog zu Sachsen war Katholik.3 Die geistliche Erziehung des Kindes beeinflussten zunächst sein Vater Maximilian (1759–1838) und ein mit der Erziehung beauftragter katholischer Militär. Dann wurden ein protestantischer und ein katholischer Adliger gemeinsam mit der Erziehung der Prinzen beauftragt, denn die Wahl der Prinzenerzieher stand in Dresden seit der Konversion Augusts des Starken im Zeichen konfessioneller Empfindlichkeiten. Später tendierte Johann offenbar zu jener aufklärerischen Tradition am Dresdner Hof, die sich an Bernard Bolzano (1781–1848) orientierte.4 Insbesondere der 1833 zum Religionslehrer für Johanns Kinder und 1841 zu seinem Beichtvater berufene Joseph Dittrich (1794–1853) und ebenso sein späterer Beichtvater Emil Heine (1806–1873) müssen als Bolzanisten gelten. Und auch der langjährige apostolische Vikar Bernhard Mauermann (1786– 1841), der dem jungen Johann u. a. Unterricht im Versbau erteilt hatte und ebenfalls lange Jahre sein Beichtvater war, war Absolvent des bolzanisch geprägten Wendischen Seminars in Prag.5 Die durch diese Geistlichen vertretenen Auffassungen von Konfessionalität leisteten möglichen Polarisierungen keinerlei Vorschub und wirkten so stabilisierend auf die Verhältnisse der Dynastie. Johann scheint insbesondere auch die Intellektfreundlichkeit dieser Strömung entgegengekommen zu sein.6 Hier löst sich auch die lang gehegte Frage nach der pseudonymen Selbstinterpretation Johanns als Philalethes, als Freund der Wahrheit.7 Der Begriff der Wahrheit genoss bei Bolzano eine erkenntnistheoretische und theologische Zentralstellung,8 3

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Vgl. Seifert, Siegfried, Ein überzeugter Christ, in: Zwischen zwei Welten, S. 71–73. Wenig plausibel erscheinen seine Bewertungen von Johanns „barocker Frömmigkeit und Religiosität“, den „starken romanischen Einflüssen“ oder dem „antireformatorischen Affekt“, S. 71. Vgl. außerdem Ders., Zur Religiosität und Frömmigkeit Johanns von Sachsen, in: Sächsische Heimatblätter 38 (1992), Heft 1, S. 10–12. Vgl. Keller, Katrin, Zur politischen Relevanz des Bolzanismus in Sachsen: Das Beispiel des Oberhofpredigers Emil Heine (1806–1873), in: Rumpler, Helmut (Hrsg.), Bernard Bolzano und die Politik. Staat, Nation und und Religion als Herausforderung für die Philosophie im Kontext von Spätaufklärung, Frührationalismus und Restauration, Wien/Köln/Graz 2000, S. 281–310. Marburg, Silke, Europäischer Hochadel, König Johann von Sachsen und die Binnenkommunikation einer Sozialformation, Berlin 2008, S. 121–131. Zu Dittrich vgl. Meier, Heinrich, Das Apostolische Vikariat in den sächsischen Erblanden, Leipzig 1981, S. 53–65, aber auch Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden [im Folgenden: Sächs. HStA Dresden], 12561 Fürstennachlass Johann, Nr. 7c, Heft H, pag. 37 beschreibt Johann Dittrich als von „tiefer Bildung“ und von „Ansichten, die man in kirchlicher Hinsicht heutzutage vielleicht zu freisinnig nennen würde“. Zu Heine vgl. Keller, Zur politischen Relevanz. Vgl. Marburg, Europäischer Hochadel, S. 123f. Vgl. Ostermann, Patrick ,Philalethes – zur Genese der Verwendung von König Johanns Pseudonym als Dante-Übersetzer, in: Müller/Schattkowsky, Zwischen Tradition und Modernität, S. 217–251. Erstmals nachgewiesen ist das Pseudonym in einem Schreiben Johanns an Ludwig Breuer vom 13. September 1829, vgl. von Falkenstein, Charakterbild, S. 72. Vgl. Simons, Peter, Bolzano über Wahrheit, in: Moschner, Edgar (Hrsg.), Bernard Bolzanos geistiges Erbe für das 21. Jahrhundert, St. Augustin 1999; Gieske, Carsten, Bolzano

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die er im interkonfessionellen Dialog zwischen Rationalisten auch zu pointieren wusste: Gerade den Katholiken sah Bolzano mehr als den Protestanten „zu Allem verpflichte[t], was nur von Menschen versucht werden kann, um zur Erkenntnis der Wahrheit zu gelangen“. 9 Zur Wahrheitssuche durch das Unfehlbarkeitsdogma seiner Kirche viel eher animiert als von ihr abgehalten, diene dem Katholiken nicht allein die Bibel als Erkenntnisquelle, sondern er habe sich einem weit umfangreicheren Schriftenstudium zu unterziehen. Dass Johann seine philologische Annäherung gerade an den Jenseitsentwurf Dantes als einen solchen Weg religiöser Erkenntnis begriff, entspricht einerseits ganz den hermeneutischen Prämissen Bolzanos und ist andererseits ein weiteres Beispiel für die Vorliebe des Prinzen, sein Tun unter eine umfassende fromme Symbolik zu stellen.10 Demnach könnte das Pseudonym eine konfessionelle Markierung der Autorschaft beinhalten, wobei aber nachzuweisen wäre, dass die einer solchen Interpretation zunächst entgegenstehenden Quellen als Resultate vorsätzlicher Dekonfessionalisierungsstrategien zu begreifen sind.11 Auch jenseits des theologischen Einflusses ist die Ideenwelt des Prinzen derzeit nicht ausgelotet. So bleibt bislang unklar, welche Werke genau er während seiner Ausbildung unter Anleitung von Christoph Karl Stübel (1764–1828) als „nach damaliger Methode konstruiertes Naturrecht“ rezipierte.12 Ebenso wenig bewertet Johann den Ertrag seiner Herder-Lektüre.13 Allenfalls weist er auf einen dauerhaften Einfluss der Staatswirtschaftslehre von Johann Friedrich Eusebius Lotz (1771–

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über den Sinn von „Wahrheit“. Eine exegetische Untersuchung zu den Paragraphen 24, 25 und 28 der Wissenschaftslehre, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 55 (2001), Nr. 4, S. 556–570; Löffler, Winfried (Hrsg.), Bernard Bolzanos Religionsphilosophie und Theologie, St. Augustin 2002. Röhr, Johann Friedrich/Bolzano, Bernard, Religionsbekenntnisse zweier Vernunftfreunde nämlich eines protestantischen und eines katholischen Theologen, Sulzbach 1835. Ein umfassende Untersuchung etwaiger Resonanzen der Konzepte Bolzanos in den reichhaltig überlieferten Traktaten Johanns erscheint wünschenswert. Vgl. unten auch zum Motto Johanns für sein Wirken im Landtag. Von den Teilnehmern an Johanns Dante-Lektürezirkeln zumindest ist keine konfessionelle Perspektive des Prinzen auf seine Übersetzung überliefert. Die bisherige Identifizierung konfessioneller Motive bleibt überhaupt im Unklaren. So gibt etwa weder das bei Seifert, Ein überzeugter Christ, angeführte Zitat über Johanns Blick auf St. Peter 1838 eine konfessionelle Lesart her, noch ist das Reisetagebuch misszuverstehen: „Der vorwaltende Eindruck bei allem Gesehenen war der historische.“ Rom sei ein „aufgeschlagenes Buch der Weltgeschichte“, Ebenso wenig beinhaltet Johanns Parallelisierung der in ihren baulich-künstlerischen Manifestationen greifbaren Kirchengeschichte mit der biblischen Parabel vom Senfkorn eine konfessionalisierte Interpretation, vgl. von Falkenstein, Charakterbild, S. 121–128, Zitate 126f. Dass entweder der autobiographische Johann selbst oder eben von Falkenstein als Verwalter des Andenkens des Monarchen hier bewusst einen dekonfessionalisierenden Akzent setzten, ist keineswegs ausgeschlossen, bedürfte aber des Nachweises. Kretzschmar, Hellmut (Hrsg.), Lebenserinnerungen des Königs Johann von Sachsen. Eigene Aufzeichnungen des Königs über die Jahre 1801–1854, Göttingen 1958, S. 57. Stübel selbst publizierte lediglich strafrechtliche Schriften. Vgl. Kretzschmar, Lebenserinnerungen, S. 57.

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1838) hin.14 Die angebliche Ambivalenz liberaler und konservativer Elemente, die sich nach bisheriger Diagnose bei Johann als „eigentlich unvereinbare Tendenzen durchkreuzen“,15 muss doch viel eher als typisch für einen Rezipienten der facettenreichen Spätaufklärung gelten. Dabei wird man den Systematisierungsgrad der Vorstellungen des Prinzen nicht zu hoch ansetzen dürfen, arbeitete er selbst doch keine staatswissenschaftlichen, philosophischen oder theologischen Entwürfe aus, sondern betätigte sich vielmehr eifrig als Dichter und Übersetzer. Eine Rekonstruktion aus dem Tagesgeschäft in Verwaltung, Parlament und Regierung muss daher auch nicht unbedingt wissenschaftlich genau definierte Positionen ergeben. Zudem weist Johann selbst darauf hin, dass sich seine politischen Auffassungen im Lauf der Jahre veränderten. Seine 1848 getroffene Formulierung „konservative liberale Partei, zusammengesetzt aus der alten liberalen Opposition“ für diejenige Gruppierung, in der er sich auch selbst verortete, macht deutlich, dass er sich als durchaus typischen Teilnehmer an einem generellen Umbau des Spektrums der „Meinungsabteilungen“ sah.16 Mit seinen eigenen Worten ausgedrückt, sympathisierte er in den 30er Jahren mit einem „aufgeklärten Conservatismus“.17 Prinz Johann lässt sich vor der Hand als Frühkonservativer bezeichnen und ab 1848 dem sich in Sachsen neu formierenden Hochkonservativismus zurechnen.18 Seine Ideenwelt gehört dem Spektrum des konservativen Rationalismus an.19 Bestimmte konfessionelle bzw. konfessionspolitische Prämissen beinhaltet dies jedoch noch nicht. 14

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19

Ebd., S. 73, identifiziert als „Lotze‘s Staatswirthschaft“ fälschlicherweise den erst ab 1856 erschienenen „Mikrokosmus“ von Rudolph Hermann Lotze (1817–1881). Die Lektüre fällt allerdings bereits in die 1820er Jahre. Weitere Implikationen ergeben sich nicht aus der äußerst kurzen Titelliste in Sächs. HStA Dresden, Fürstennachlass Johann, Nr. 12a, Poetica IX, pag.1. Diese ist übrigens nicht zwangsläufig als Lektüreprotokoll zu verstehen, wie etwa interpretiert Wyduckel, Dieter, Das frühe rechtliche Wirken Johanns von Sachsen in seiner Bedeutung für Sachsen und Deutschland, in: König Johann von Sachsen 1801/1854–1873, Ein Blick auf Deutschland, Dresden 2000, S. 34–52, hier S. 36, und auch Ders., Prinz Johann als Jurist und Mitglied der Ersten Kammer des Sächsischen Landtags, in: König Johann von Sachsen, Zwischen zwei Welten, S. 125– 129, hier S. 125. Wyduckel, Das frühe rechtliche Wirken, S. 50. Ähnlich Ders., Prinz Johann als Jurist und Mitglied der Ersten Kammer, S. 128f. Brief Johanns an George Ticknor vom 3. September 1848, zit. nach von Falkenstein, Charakterbild, S. 148f. Kretzschmar, Lebenserinnerungen, S. 138. Dies gilt ungeachtet der Tatsache, dass Johann natürlich nicht selbst Mitglied des hochkonservativen Sächsischen Vereins war. Vgl. Neemann, Andreas, Landtag und Politik in der Reaktionszeit. Sachsen 1849/50 bis 1866, Düsseldorf 2000. Zum Sächsischen Verein vgl. auch Marburg, Silke, ...sub estos signis militamus. Adlige Selbstsymbolisierung in der Genossenschaft des Johanniterordens im Königreich Sachsen, in: Dies./Matzerath, Josef (Hrsg.), Der Schritt in die Moderne, Sächsischer Adel zwischen 1763 und 1918, Köln/Weimar/Wien 2001, S. 17–44. Vgl. Garber, Jörn, Die politische Literatur des gegenrevolutionären Frühkonservativismus, in: Ders., Spätabsolutismus und bürgerliche Gesellschaft, Studien zur deutschen Staats- und Gesellschaftstheorie im Übergang zur Moderne, Frankfurt am Main 1992, S. 315–330 sowie Ders., Drei Theoriemodelle frühkonservativer Revolutionsabwehr, Alt-

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Johanns Glaubensprägung kann nicht ohne den Zusammenhang mit seiner dynastischen Prägung skizziert werden. So war er etwa mit seiner Auffassung von der inneren konfessionellen Homogenität des albertinischen Fürstenhauses wie auch in seinem nachgewiesenen Bemühen um deren Erhalt ein typischer Vertreter seiner Dynastie. Denn das königliche Haus Sachsen verstand und präsentierte sich im 19. Jahrhundert auch in dieser Hinsicht als geschlossene Einheit. Sowohl die Dynastie mit spezieller konfessioneller Tradition als auch die jeweils in Dresden lebende wettinische Fürstenfamilie wurden als „katholisches Fürstenhaus“ gesehen. Diese Traditionslinie begann bei der Konversion des sächsischen Kurfürsten Friedrich August I. (1670–1733, Kf. 1694, Kg. von Polen 1697) 1696, gewann ihren Geltungsanspruch für das albertinische Haus mit Konversion (1717) und Heirat (1719) seines Sohnes Friedrich August II. (1696–1763, Kf. 1733/Kg. von Polen 1734) und verlief von dort in dezidiert katholischer Stabilität. Aus diesem eindeutigen Selbstverständnis des Hauses leiteten sich Prioritäten für die Vernetzung innerhalb des europäischen Hochadels ab. Konfession erwies sich hier als relevantes ordnungsleitendes Prinzip innerhalb des dynastischen Systems. Diesem war in den Augen Johanns vor allem Kontinuität hinzuzufügen.20 Darauf, dass die konfessionelle Grenze auch Teil des Abgrenzungs- und Stabilisierungskonzepts zwischen Dynastie und Öffentlichkeit war, weisen bereits die Heiratsstrategien hin. Wenn das königliche Haus Sachsen in den Entwicklungen des 19. Jahrhunderts immer wieder genötigt war, sich um Stabilisierung seiner verfassungsrechtlich und sozial höchst exklusiven Position zu bemühen, dann blieb es eine für Stellung und Legitimation des Fürstenhauses stets sensible Option, dass Popularitätskonjunkturen der Monarchie einerseits und Konfessionalisierungsschübe andererseits interferierten. Hinter dem Leitbild hieratischer Katholizität verliefen allerdings auch innerhalb des Hauses Differenzierungen, die mit zeitgenössischen Strömungen des Katholizismus korrespondierten. Liberal-aufklärerische Kräfte fanden ebenso Eingang, wie es zumindest bis zum Tod König Antons (1755–1836, Kg. 1827) auch einen nennenswerten ultramontan orientierten Einfluss gab. Gerade in den Fragen der Gesetzgebung für die katholische Kirche nahmen die Dresdner katholischen Kleriker sogar antagonistische Positionen ein. Während sich in der sogenannten Staatsreform der 1830er Jahre sowohl König Anton als auch Prinz Maximilian unter dem deutlichen Einfluss von ultramontan orientierten Beichtvätern gegen die parlamentarisch kontrollierten Reformen stellten, versuchte der Mitregent und spätere König Friedrich August II. in Kooperation mit den apostolischen Vikaren einer entsprechenden Kirchengesetzgebung zur Durchsetzung zu verhelfen.21 Dies führte fallweise zum Ringen um Unterschrift des Monarchen bzw. sogar um Publikation eines bereits

20 21

ständischer Funktionalismus, spätabsolutistisches Vernunftrecht, evolutionärer „Historismus“, in: ebd., S. 331–363. Vgl. Marburg, Europäischer Hochadel, S. 260–297, hier insbes. S. 279–284. Dieses Feld harrt der genaueren Aufarbeitung. Einstweilen bezeichnen den Forschungsstand noch immer Meier, Heinrich, Die katholische Kirche in Sachsen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Leipzig 1974 und Ders., Das Apostolische Vikariat. Ein Überblick bei Keller, Katrin, Landesgeschichte Sachsen, Stuttgart 2002, S. 357–361.

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unterschriebenen Gesetzes. Zu diesem Problem kam eine weitere Differenzierung, nämlich die zwischen der katholischen Geistlichkeit der sächsischen Erblande und der der Oberlausitz. Die kirchlichen Rechtsverhältnisse und Interessenlagen in beiden Landesteilen waren traditionell so unterschiedlich, dass die anvisierte kirchenorganisatorische Integration zu Auseinandersetzungen innerhalb des katholischen Klerus führte. Fürsten und Regierung sahen sich demnach einer katholischen Minderheitskirche gegenüber, die intern unter starken Spannungen stand. Da Gottesdienst und sakrale Kultur zum traditionellen Kanon der höfischen Repräsentation gehörten, waren sie stets mehr als prächtige Manifestationen individueller Frömmigkeit, sondern trugen wesentlich zur Auratisierung des Monarchen und seiner Familie bei. Dass das Patronat über die Hofkirche, aber auch über die anderen von Kurfürst Friedrich August I. begründeten katholischen Kirchen auch im 19. Jahrhundert als unveräußerlich begriffen wurde, wird aus dieser hohen Valenz für die höfische Repräsentationskultur plausibel. Dies betrifft sowohl die Ausübung der kirchlichen, durch Gründung, Bau und Ausstattung erworbenen Patronatsrechte als auch die sich aus dem landesherrlichen Patronat ergebenden Ehrenrechte.22 Allgemein ist von einer besonderen „Förderung“ der katholischen Kirche in Sachsen durch das Regentenhaus die Rede.23 Galt die Frömmigkeitspraxis des Dresdner Hofes in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bereits bei den einheimischen Katholiken als „übertrieben“,24 so lässt auch ein genauerer Vergleich mit anderen katholischen Fürsten und Höfen eine vergleichsweise Fülle an „äußeren Religionsübungen“ und eine wichtige Rolle der Geistlichkeit erwarten.25 Es ist daher vor der Hand von besonderen Ausprägungen der religiösen Praxis bei Hof und des hier kultivierten frommen Denkens auszugehen, ohne dass sie allein durch eine spezielle Traditionsfixiertheit begründet werden soll.26 Wenn trotz aller Konfessionalisierungsschübe des 19. Jahrhunderts die sakralen Akzidentien der monarchischen Kultur auch in Sachsen bis zu deren Ende 1918 22 23 24

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Vgl. Langer, Gottfried, Landesherrliches Patronatsrecht und staatliches Oberaufsichtsrecht gegenüber der katholischen Kirche Sachsens, Leipzig 1929, S. 2f. sowie für den sächsischen Fall im Einzelnen S. 50–57. Meier, Die katholische Kirche, S. 12. Ähnlich Langer, Landesherrliches Patronatsrecht, S. 54f. So Johanns Formulierung, vgl. Kretzschmar, Lebenserinnerungen, S. 56, hier über die von Johann als typisch angesehene Meinung des Erziehers Major Clemens Franz Xaver von Cerrini di Montevarchi (1785–1852), der als „nicht unreligiös“, aber „nach der Art vieler sächsischer Katholiken damaliger Zeit mehr oder weniger gleichgültig und von der Ansicht durchdrungen [war], daß Vieles in der katholischen Kirche und namentlich in den katholischen Gebräuchen des Hofes übertrieben sei“. So umschreibt Johann diesbezügliche Schwierigkeiten seiner 1822 in den Dresdner Hof eintretenden Ehefrau Amalie Prinzessin von Bayern (1801–1877). Vgl. Kretzschmar, Lebenserinnerungen, S. 72f. Für sie benennt er „die vielen Religionsausübungen am Dresdner Hofe und der Einfluß der Geistlichen auf denselben“ als ungewohnt und befremdlich. Eine Studie zum Dresdner Hof wie auch vergleichende Untersuchungen hierzu stehen aus. Auch die verfassungsrechtliche Entwicklung der katholischen Kirche behandelt als Sonderfall Meier, Die katholische Kirche.

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erhalten blieben, wären daher von der Forschung künftig die Bedingungen dafür nachzuzeichnen und auch die damit einhergehenden konfessionellen Koordinierungsprozesse in ihrer Dynamik zu beschreiben. Bislang ist jedoch diese Perspektive auf Fürstenhaus und Hof nicht untersucht. Mit Erkundungen in dieser Sache bei Johann Herzog zu Sachsen anzusetzen, eignet sich einstweilen in besonderer Weise, um sowohl Möglichkeiten als auch Grenzen konfessioneller Koordination auszuleuchten. Zum einen weil Johann selbst aktiv (und quellenproduktiv) in Foren der zeitgenössischen Öffentlichkeit eintrat. Zum anderen agierte er hinsichtlich seines konfessionellen Images teilweise friktionsarm, fand sich in anderen Phasen dagegen auch in lebhafte Antagonismen verstrickt. Ziel ist hier nicht, dem Protagonisten – wie häufig in historischer und auch in zeitgenössischer Bewertung – Fehler nachzuweisen, die ihn unter Druck brachten, oder gelungene Stabilität lobend anzuerkennen. Vielmehr soll er als ein Akteur neben anderen gezeigt werden, die zur historischen Entwicklung von Konfessionalität im Konfliktaustrag beisteuerten.27 Das Beispiel Johann bietet dabei individuelle Positionen dar und gibt gleichzeitig einen Blick insbesondere auf politische Prozesse frei, die leider wiederum zumeist nicht als gut erforscht zu bezeichnen sind. Insofern kann der vorliegende Beitrag durchaus als Sondierung zu einer noch zu schreibenden Geschichte der Konfessionalität im Sachsen des 19. Jahrhunderts dienen.

II. Kirchenpolitik und konfessionelle Ordnung – Prinz Johann in und außerhalb der ersten Kammer des Sächsischen Landtags Im August 1845, auf dem katastrophalen Tiefpunkt von Johanns öffentlicher Reputation, suchte auch der Dresdner Zeitgenosse Carl von Weber (1806–1879) – selbst mit Johann bekannt und sowohl mit den politischen Entwicklungen als auch den Vorgängen vor und hinter den Kulissen der Dresdner Gesellschaft vertraut28 – in seinen Tagebuchaufzeichnungen nach den Gründen für das seiner Meinung nach falsche Urteil über den Prinzen: „Unbegreiflich ist mir nur diese Unbeliebtheit des Pr[inzen] Johann. Er ist bigott, das ist wahr, aber ultramontan[,] Beschützer der Jesuiten ist er doch wahrlich nicht: aber freilich hat er durch seine, für den Regierungsnachfolger gewiß nicht paßende ständische Thätigkeit, übles Blut gemacht und es scheint, daß er nicht versteht mit den Leuten umzugehn. Ich kann nur sagen es scheint, denn so oft ich mit ihm gesprochen habe, habe ich die Bemerkung nicht

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Und damit auch zur viel diskutierten Konfessionalisierung des 19. Jahrhunderts, die jedoch erst nach Johann in ihre heiße Phase eintritt, vgl. Blaschke, Olaf, Konfessionen im Konflikt. Deutschland zwischen 1800 und 1970: Ein zweites konfessionelles Zeitalter, Göttingen 2002; Ders. Das 19. Jahrhundert: Ein zweites konfessionelles Zeitalter?, in: Geschichte und Gesellschaft 26 (2000), S. 38–75; Steinhoff, Anthony J., Ein zweites konfessionelles Zeitalter? Nachdenken über die Religion im langen 19. Jahrhundert, in: Geschichte und Gesellschaft 30 (2004), S. 549–570. Vgl. Kretzschmar, Hellmut, Karl v. Weber, Berlin 1958.

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gemacht.“29 Gerade dieses problematische Image hatte Johann den üblen Empfang in Leipzig beschert, der bis zu einem Truppeneinsatz mit Todesopfern eskalierte und der in der sächsischen Öffentlichkeit große Aufregungen nach sich zog. Die Stimmung vor Ort stand im Zusammenhang mit der aktuellen Kirchengesetzgebung und wies dem Prinzen eine Sonderrolle im Konflikt um die deutschkatholische Bewegung zu. Auch drei Jahre später, 1848, zielten radikale Flugblätter auf einen solcher Art konfessionell spezifisch markierten Johann, wenn sie forderten: „Nieder mit dem König! und dem Jesuiten Hans!“30 Jesuitenfurcht war auch in Sachsen eine traditionelle Figur bei der Projektion konfessioneller Polarisierung, das bestätigt sich hier ein weiteres Mal an der Person Johanns.31 Um die Herkunft seines problematischen bis prekären öffentlichen Images zu erklären, wird im Folgenden der These nachgegangen, dieses sei vor allem die Folge seines Auftretens in der Ständeversammlung gewesen.32 Die mehr als zwei Jahrzehnte parlamentarischer Arbeit werden anhand der Hinweise auf entsprechende Konflikte im Landtag erschlossen, die Johann selbst autobiographisch überliefert hat. Hinzu kamen seine angebliche Verwicklung in die Entlassung des Ministers Bernhard August von Lindenau (1779–1854) im Jahr 1843 oder seine umstrittene Position zur Pressegesetzgebung 1845,33 sowie das Auftreten des Prinzen bei einer Leipziger Kommunalgardenparade zum 25. Jahrestag der Völkerschlacht 1838 , das als öffentliche Fehlleistung galt.34 In der ersten Kammer der sächsischen Ständeversammlung stand jedem volljährigen Prinzen des königlichen Hauses ein Sitz zu, so sah es die Verfassung von 1831 vor.35 Da es aber Johanns bereits hoch betagtem Vater Maximilian fernlag, eine sol29 30 31 32 33

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Sächs. HStA Dresden, 12801 Personennachlass Carl v. Weber, Tagebuch Band 1, Eintragung vom 17. August 1845. Abbildung des Flugblattes bei Lauterbach, Werner, Otto Leonhard Heubner (1812– 1893). Sein Leben in seiner Zeit, in: Mitteilungen des Freiberger Altertumvereins 82 (1999), S. 16. Vgl. dazu den Beitrag von Stefan Gerber in diesem Band. Einen solchen jesuitischen Ruf hatte insbesondere auch Prinz/König Anton. So auch Hellmut Kretzschmar, vgl. Kretzschmar, Lebenserinnerungen, Einleitung, S. 24. So ein inkriminierter, mehrfach abgedruckter Artikel, untersucht von John, Uwe, Majestätsbeleidigung und Öffentlichkeit. Presseprozesse wegen Beleidigung des Andenkens König Johanns von Sachsen 1873/74, in: Hettling, Manfred/Schirmer, Uwe/Schötz, Susanne (Hrsg.), Figuren und Strukturen, Historische Essays für Hartmut Zwahr zum 65. Geburtstag, München 2002, hier S. 648. Lindenaus Rücktritt skizziert anders Matzerath, Josef, „…das Vertrauen zwischen Regierung und Ständen“. Bernhard v. Lindenau und seine Konflikte mit dem sächsischen Landtag, in: Ders., Aspekte sächsischer Landtagsgeschichte, Umbrüche und Kontinuitäten 1815–1868, S. 33–36. Vgl. Groß, Reiner, Ein Prinz mit Beruf, in: Zwischen zwei Welten, S. 93–96, hier S. 95. Ebenso unberücksichtigt bleiben Johann-Bilder, wie sie etwa in der Presse präsent waren, in Flugblättern oder anderen Quellen. Den Forschungsbedarf zu Bildquellen skizziert Kania-Schütz, Monika, Das Bild König Johanns in der populären Druckgrafik, in: Müller/Schattkowsky, Zwischen Tradition und Modernität, S. 313–333. Zu den Prinzipien der Zusammensetzung der Ersten Kammer vgl. Andreas Denk/ Josef Matzerath, Drei Dresdner Parlamente, Die sächsischen Landtage und ihre Bauten:

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che Betätigung aufzunehmen, und sein Bruder Friedrich August (1797–1854, Kg. 1836) zum Mitregenten König Antons berufen worden war, kam Johann als erster und zunächst auch einziger Albertiner für eine Beteiligung an der Kammer in Frage. Er entschied sich, an den Ständeversammlungen aktiv teilzunehmen, und war überdies Mitglied der 1. Deputation für Gesetzgebung.36 Die Problematik dieser Entscheidung lag in der Gefahr, dass Johann als Parlamentarier in eine öffentliche Opposition gegenüber der Regierung geraten konnte. War dies für ein Mitglied des Königshauses generell nicht wünschenswert, so hätte es im Fall von Johanns Thronfolge sogar eine politische Krise auslösen können.37 Georg August Ernst von Manteuffel (1765–1842) benannte neben dieser Schwierigkeit aber durchaus auch eine mögliche konfessionelle Angriffsfläche, als er den „ersten Prinzen des Königlichen Hauses“ auf die „monarchische Würde“ hinwies und davor warnte, „mit Anderen öffentlich in Debatten oder wohl gar in Wortwechsel zu gerathen etc. Mögen es Minister oder Superintendenten sein […]“38 Der Prinz sollte sich demnach in keiner Weise dazu anbieten, die in den Kammern untersagte Debatte über die Person des Königs stellvertretend auszutragen. Seine parlamentarische Arbeit stellte Johann unter den Wahlspruch „pro fide rege et lege“, d. h., er verpflichtete sie in erster Linie der paulinischen göttlichen Tugend des Glaubens,39 dann dem König und schließlich dem weltlichen Gesetz.40 Von den ständischen Geschäften zeichnen Johanns autobiographische Schilderungen ein je nach Quelle unterschiedliches Bild. Bereits ein kursorischer Vergleich der Manuskripte bzw. deren Abschriften mit der bis heute einzigen Textausgabe von Hellmut Kretzschmar zeigt, dass in der – auch von der neueren Forschung ausschließlich benutzten – Druckfassung gerade bezüglich der hier interessierenden Fragen wesentliche Passagen fehlen. Ohne an dieser Stelle Kretzschmars Textauswahl und ihre Motive ausleuchten zu wollen, so kann doch festgestellt werden, dass

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Indikatoren für die Entwicklung von der ständischen zur pluralisierten Gesellschaft, Wolfratshausen 2000, S. 90. Die Landtage, an denen Prinz Johann teilnahm, verzeichnet Matzerath, Josef, Aspekte sächsischer Landtagsgeschichte, Präsidenten und Abgeordnete 1833–1952, Dresden 2001, S. 49. Vgl. Kretzschmar, Lebenserinnerungen, S. 22, 125. Zitiert nach von Falkenstein, Charakterbild, S. 96. Manteuffel hielt allenfalls das Präsidium der ersten Kammer für eine dem Prinzen angemessene Position. Die Übersetzung von „fides“ hier also anders als bisher mit „Treue“, vgl. Matzerath, Josef, pro fide, rege et lege. Prinz Johann auf dem Landtag 1848, in: Ders., Aspekte sächsischer Landtagsgeschichte. Umbrüche und Kontinuitäten, S. 58–61, hier S. 61. Wie viele andere Parlamentarier auch ließ Johann dieses Motto unter jenes Bild setzen, das anlässlich des ersten konstitutionellen Landtags in einer Porträtsammlung aller seiner Mitglieder veröffentlicht wurde. Die Sammlung der Zeichnungen von Carl Lutherer ist abgedruckt bei Matzerath, Josef, Aspekte sächsischer Landtagsgeschichte, Dresden 1998, S. 71–81, Johanns Porträt S. 72. Dass Johann das Motto jemals anderweitig verwendete, ist nicht bekannt. Der Wahlspruch dürfte demnach ausschließlich für die parlamentarische Arbeit gegolten haben.

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er u. a. diese Thematik ausklammerte.41 Daher wird im Folgenden das umfangreichere Manuskript zu Rate gezogen.42 Die Feststellung, Johann habe sich als Landtagsmitglied in konfessionellen Fragen gezielt zurückgehalten, galt vor allem für die Ständeversammlungen von 1845 und 1848. Da Johanns Position gerade auf dem Landtag von 1845 durch die (kirchen-)politischen Entwicklungen, primär aber durch die mit diesen zusammenhängende Leipziger Katastrophe von vornherein hoch prekär war, enthielt er sich in betreffenden Debatten von vornherein jeglicher Äußerung und trat auch seiner gewohnten Deputation erst bei, nachdem dieser die Behandlung der aktuellen Kirchenfragen abgenommen worden war. Diese Zurückhaltung ist als „Reparatur“ eines Angeschlagenen zu verstehen.43 Sie hingegen für das eherne Gesetz des gesamten öffentlichen Auftretens des Prinzen zu halten, wäre voreilig. Beim Blick auf Johanns Auftreten in konfessionell sensiblen Debatten der vorhergehenden Landtage ist zunächst seiner Behauptung zu widersprechen, er habe sich lediglich bei einer einzigen im Landtag behandelten Thematik hinter den Kulissen der Kammer- und Deputationssitzungen für ein eigenes politisches Konzept engagiert, nämlich bei der anvisierten Abschaffung der Patrimonialgerichtsbarkeit. Prinz Johann, der diesen privilegierten Gerichtsstand dringend beibehalten wissen wollte, unternahm „Separatbesprechungen“ mit den gleich gesinnten Otto Victor Fürst von Schönburg (1785–1859) und Albert von Carlowitz (1802–1874). Gemeinsam konnten sie das vom Ministerium beabsichtigte Gesetz schließlich verhindern.44 Auch in kirchenpolitischen Fragen wurde Johann jenseits der Kammer aktiv. Hier handelte er allerdings im Auftrag seines Bruders, des Mitregenten Friedrich 41

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Aus Johanns ursprünglichen Landtagsschilderungen werden aber durchaus auch weitere Themen ausgelassen. Um Kretzschmars Zuschnitt der Edition zu erschließen, ist die Forschung auf Textvergleiche angewiesen, da weder im Nachlass Hellmut Kretzschmars (Sächs. HStA Dresden) noch im Archiv der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig Unterlagen überliefert sind, die Auskunft über die Intentionen des Herausgebers geben. Für Auskünfte und Einsichtmöglichkeiten in Archivalien Kretzschmars bin ich Dr. Nils Bruebach, Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden, verbunden. Für Negativauskunft hinsichtlich einer Überlieferung zum Publikationsprozess der Lebenserinnerungen König Johanns in den Schriften der Sächsischen Akademie der Wissenschaften danke ich dem Archivar der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Prof. Dr. Detlef Döring. Sächs. HStA Dresden, 12561 Fürstennachlass Johann, Nr. 7a, 7b „Lebenserinnerungen“, eigenhändige Aufzeichnungen des Prinzen Johann 1801–1854 sowie Nr. 7c Abschriften der unter 7b aufgeführten Lebenserinnerungen. Zitiert wird hier aus der Originalakte nur dann, wenn die Textpassage in Kretzschmars Ausgabe nicht enthalten ist. So Johann selbst, vgl. Kretzschmar, Lebenserinnerungen, S. 177, und die ihnen folgende Biographik. Der entsprechende Befund an Hand der Landtagsprotokolle vgl. Matzerath, pro fide, rege et lege. Die privatim entworfenen Vorschläge an die Deputation gelangten in Form eines Separatvotums in die Kammer – vorgetragen von von Carlowitz und leidenschaftlich verteidigt von Prinz Johann – und gewannen dort die Mehrheit, so dass Minister von Könneritz mit seinen Reformplänen das Nachsehen hatte. Vgl. Kretzschmar, Lebenserinnerungen, S. 132f.

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August, der hinsichtlich der Kirchengesetzgebung auf der Suche nach Kompromisslösungen war. Johann versuchte, informell einen Vorschlag zur Neugestaltung der Ehegerichtsbarkeit zu vermitteln, der einerseits den ständischen Vorstellungen insofern entsprach, dass er die katholische geistliche Gerichtsbarkeit wenn nicht gänzlich aufheben, so doch empfindlich beschneiden würde, andererseits aber die Zustimmung König Antons erreichen konnte.45 Auf diese Weise war zumindest die Politik gegenüber der katholischen Kirche bis 1836 in gewissem Maße auch eine Beichtväterpolitik. Bereits bei der Verfassungsgebung war es in der Frage der staatlichen Oberhoheit über die katholische Kirche zu Kontroversen mit Antons damaligem Beichtvater Ignaz Kunitz gekommen, der sich im Nachhinein gegen die unterzeichneten Bestimmungen gewandt hatte.46 Im Vorfeld hatten sich Johann und Friedrich August gemeinsam dafür eingesetzt, die Zustimmung von Kunitz und damit die Unterschrift des Monarchen zu erhalten. Bei der Ehegesetzgebung wiederholte sich nun die Konstellation. Allerdings war der Beichtvater diesmal der Jesuitenpater Bartholomäus Gracchi (1776–1845), entschiedener Gegner bereits des 1827 noch von König Friedrich August I. (1750–1827, Kf. 1768, Kg. 1806) erlassenen Mandats über die Ausübung der katholisch-geistlichen Gerichtsbarkeit.47 Da die Unterschrift des sächsischen Königs auch unter konstitutionellen Verhältnissen unerlässlich für jedes Gesetz war, unternahm der Mitregent wegen neuralgischer Punkte mehrere Sondierungen bei Bischof Bernhard Mauermann. Dieser hatte im Verfahren eigentlich keine immediate Mitsprache, so dass der Mitregent dem Ministerium versicherte, der apostolische Vikar sei lediglich herangezogen worden, um die Zustimmungsfähigkeit des Gesetzentwurfs vor allem beim königlichen Beichtvater abzuschätzen. Dass Prinz Johann diese weiteren Vermittlungen schließlich übernahm, erklärte er so: „Da ich es nun in meiner Stellung nicht für rathsam hielt, auf Vermittlungsvorschläge mich einzulassen, wodurch ich gewissermaßen als gebunden hätte erscheinen können, so überließ ich einen solchen Versuch meinem Bruder, und aus dieser für mich in jeder Hinsicht ganz unverfänglichen Unterhandlung ist der Ihnen mitgetheilte Vorschlag hervorgegangen.“48 Über einen solchen Besuch Mauermanns bei seinem Kammerkollegen Prinz Johann vom 20. Mai 1834 heißt es in einer Art protokollarischer Niederschrift: „Nachdem sich Se. Hochwürden der Herr Bischof Mauermann am heutigen Tage in des Unterzeichneten [i. e. Prinz Johanns] Wohnung eingefunden hatte gab letzterer zu vernehmen wie er seiten Sr. K[öniglichen] 45

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Vgl. Sächs. HStA Dresden, 12557 Fürstennachlass Friedrich August II., Nr. 27 Eigenhändige Bemerkungen des Prinzen-Mitregenten Friedrich August wegen der vorgeschlagenen Aufhebung der geistlichen Gerichtsbarkeit in Ehesachen, pag. 11v; 12561 Fürstennachlass Johann, Nr. 253 Korrespondenz mit Ignaz Bernhard Mauermann. Vgl. Kretzschmar, Lebenserinnerungen, S. 121. Zu Gracchis Person vgl. Archiv der Deutschen Provinz der Jesuiten München, Abt. 251, Nr. 118–230 Cöthen, Mission Anhalt-Cöthen, 1817–1880, pag. 1v/2, nach freundlicher Mitteilung von Johannes Mertens. Sächs. HStA Dresden, 12557 Fürstennachlass Friedrich August II., Nr. 27 Eigenhändige Bemerkungen des Prinzen-Mitregenten Friedrich August wegen der vorgeschlagenen Aufhebung der geistlichen Gerichtsbarkeit in Ehesachen, pag. 12.

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H[oheit] des Prinzen Mitregenten beauftragt sey S[einer] Hochwürden Erklärung über die verschiedenen in den Gesetzentwürfen über die gemischten Ehen u. die Aufhebung der privilegierten Gerichtsstände sich zu Tage legenden Schwierigkeiten sich zu erbitten; damit wenn Uebereinstimmung der Meinungen erlangt werde man gemeinschaftlich auf deren Beseitigung hinwirken könne[,] im entgegengesetzten Falle mindestens der Stand der Frage genau zu übersehen sey.“49 War Johann zunächst reiner Mittelsmann, so versuchte er später nochmals, den Bischof zu einer Revision seiner ablehnenden Position zu bewegen, indem er ihm als mögliche Konsequenz vor Augen hielt: „Entweder das gegenwärtige Ministerium legt seine Stellen nieder ehe es zum Treffen käme oder es bricht das Gesetz bei den Ständen nicht durch und würde dann warscheinlich ebenfalls genöthigt seyn abzutreten. Ich meiner Seits würde es daher keines Falls wagen die Verantwortlichkeit eines solchen Schritts auf mich zu nehmen und dringend muß ich Ew. Hochwürden bitten; diese möglichen und warscheinlichen Folgen recht zu erwägen wenn Sie je um Ihre Meinung in dieser Sache gefragt werden. Es hängt das Wohl des Staats, es hängt aber auch das Wohl der Kirche davon ab.[…] Vortheilhaftere Bedingungen zu erhalten scheint mir ohnmöglich.“50 Die Mitarbeit Johanns in dieser Frage zog aber noch weitere Kreise, indem er auch den zu diesem Zeitpunkt lediglich als Hofprediger und Religionslehrer seiner Kinder fungierenden Joseph Dittrich in die Überlegungen einbezog.51 Weil sich aber auch mit Bernhard Mauermann – obwohl dieser, wie dem Mitregenten bewusst war, „noch zu den am wenigsten ultramontanischen unter unseren katholischen Geistlichen gehört[e]“52 – keine umfassende Kompromisslösung finden ließ, liefen die Verhandlungen letztlich darauf hinaus, strittig bleibende Punkte auszuklammern. Dies geschah aber nicht in der von König Anton erwarteten Vollständigkeit, so dass dieser unter den ihm schließlich vorgelegten Entwurf eine im Einzelnen wohl unbeabsichtigte Unterschrift setzte. Die Publikation des Gesetzes unterblieb allerdings bis nach dem Regierungsantritt Friedrich Augusts II. und erfolgte erst am 1. November 1836. Das Verfahren sorgte bei König Anton, Beichtvater Gracchi und in der Familie für helle Aufregung.53 Kenntnis vom beabsichtigten Vorgehen hatte Prinz 49 50 51 52 53

Sächs. HStA Dresden, 12561 Fürstennachlass Johann, Nr. 23a Aufsätze, Denkschriften u. dergl. zu allerhand Gesetzentwürfen 1834–67: Zu den Gesetzentwürfen über die gemischten Ehen und die Aufhebung der privilegierten Gerichtsstände 1834, pag. 1. Sächs. HStA Dresden, 12561 Fürstennachlass Johann, Nr. 253 Korrespondenz mit Ignaz Bernhard Mauermann, pag. 9v. Vgl. Sächs. HStA Dresden, 12557 Fürstennachlass Friedrich August II., Nr. 122 Korrespondenz mit Prinz Johann, undatierte Schreiben pag. 10 und 11. Ebd., Nr. 27 Eigenhändige Bemerkungen des Prinzen-Mitregenten Friedrich August wegen der vorgeschlagenen Aufhebung der geistlichen Gerichtsbarkeit in Ehesachen, pag. 12. So Meier, Die katholische Kirche, S. 73, der im Wesentlichen den Berichten des päpstlichen Unterstaatssekretärs Capaccini von 1837 folgt, vgl. die von Meier zitierte Literatur. Anders die anekdotenhafte Version des involvierten Ministers Julius Traugott von Könneritz (1792–1866), überliefert bei Carl von Weber, vgl. Sächs. HStA Dresden, 12801 Personennachlass Carl v. Weber, Tagebuch Band 1, Eintragung vom 9. April 1845.

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Johann im Vorfeld zweifellos, an der zweifelhaften Unterschriftenangelegenheit scheint er dagegen nicht beteiligt gewesen zu sein.54 Bei seiner Initiative für die Ehegesetzgebung betonte Johann in einer Art Devotionsgeste, dass er selbst sich in seinen persönlichen Verhältnissen der Autorität der katholischen Behörden stets unterwerfen werde.55 Auch scheint Johann niemals individuelle Positionen eingebracht zu haben, sondern als Agent seines Bruders Friedrich August aufgetreten zu sein. Er beabsichtigte offenbar mit juristischen Zuarbeiten und politischem Einsatz zur Gesetzgebung beizutragen, ohne jedoch eigenständige Entwürfe zu entwickeln. Änderungen etwa an dem Gesetzentwurf über die gemischten Ehen hielt er für unumgänglich und formulierte das Ziel der Kompromisslösung dahin, „daß sie die Meinung beruhigen [solle,] ohne die wichtigen Zwecke der Aufrechterhaltung der Heiligkeit der Ehe und der Gewißensfreiheit der verschiedenen Religionsparteien aus den Augen zu verlieren“.56 Johann brachte hier auch ein Konzept über das Verhältnis von Staat und Kirche vor: „Die Kirche und der Staat sind coordinierte Gesellschaften deren jede ihr eigenthümliches Gebiet hat; die aber wechselseitig ihre Zwecke befördern und sich daher einander [!] unterstützen müßen. Der Zweck der Kirche ist Beförderung der Sittlichkeit und Religiosität, ihr eigentliches Gebiet ist der innere Mensch[,] sie hat daher auch keine anderen Mittel in ihrer Gewalt als Ueberzeugung und im äuersten Fall Misbilligung aus ihrer Mitte. Der Zweck des Staats ist Herstellung eines äußeren Rechtszustands und Beförderung äußerer Wohlfahrt; daher ihm auch äußerer Zwang zu Gebot stehen muß. Aber so wie die Kirche die Zwecke des Staats unterstützt indem sie die Achtung für die Obrigkeit und Gesetze zu Christensache macht; ebenso unterstützt der Staat die Zwecke der Kirche, indem er ihre Gesetze so viel er sie seinen Zwecken entsprechend findet zu bürgerlichen Gesetzten macht und ihre Vollziehung daher durch äußeren Zwang zu sichern bemüht ist. Es scheint mir daher klar daß dem Staat hierüber ein freies Ermeßen zustehen müße, umsomehr da der eigentliche Zweck der kirchlichen Gesetze an sich durch seine Zwangsverbote nicht erreicht werden kann – naemlich innere Besserung.“57 Eine Hierarchisierung von Staat und Kirche vermied Johann damit. Wenn er die Kirche mit der „inneren Natur“ des Menschen, den Staat dagegen mit seiner „äußeren Natur“ in Beziehung setzte, dann lief dies in der hier virulenten Frage der geistlichen Gerichtsbarkeit darauf hinaus, die von kirchlicher Seite vorgebrachten dogmatischen Prämissen zu relativieren.

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Zur Resonanz Prinz Maximilians vgl. Sächs. HStA Dresden, 12557 Fürstennachlass Friedrich August II., Nr. 124 Korrespondenz mit Prinz Maximlian 1831–1837. Vgl. ebd., Nr. 122 Korrespondenz mit Prinz Johann, pag. 12 Schreiben Johanns an seinen Bruder Friedrich August vom 26.10.[1835]. Im Zusammenhang mit der erwarteten Freigabe der Unterschrift durch den Beichtvater weist Johann auf jenen Passus hin, den der König als getilgt erwartete. Auf eine Beteiligung Johanns fehlt jeder Hinweis, für die Vorlage von Gesetzentwürfen zur Unterschrift wäre er überdies ja auch in keiner Weise zuständig gewesen. Vgl. Sächs. HStA Dresden, 12561 Fürstennachlass Johann, Nr. 253 Korrespondenz mit Ignaz Bernhard Mauermann, pag. 3f. Ebd., pag. 6v. Ebd., pag. 3v/4.

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Auch Johanns Verhalten in der Kammer widerspiegelt keine Zurückhaltung, sondern den Willen zur parlamentarischen Mitwirkung an der Kirchengesetzgebung. Als Deputationsmitglied entschloss er sich in der Frage der Ehegesetzgebung zur Abgabe eines Separatvotums, mischte sich in die Kammerdebatte ein und votierte schließlich gegen das Gesetz. Die geplante Entziehung der Ehegerichtsbarkeit aus dem Aufgabenkreis der katholischen Kirchenbehörden griff die katholische Grundüberzeugung vom ausschließlich geistlichen Charakter und Gerichtsstand der Ehe an. Mit seinem Votum sicherte sich Johann die Legitimation vor den Geistlichen. Denn bereits im Zuge der Verfassungsgebung hatte Bernhard Mauermann die individuelle Stimmabgabe für das Kriterium gewissenhaften Handelns gemacht, nicht etwa die Beteiligung an den Beratungen oder deren Ausgang. Damals hatte er formuliert: „Daß es auch bei dem besten Willen von Ew Königlichen Hoheit höchstschwierig seien wird das zu erhalten, was Sie wünschen, bin ich überzeugt; aber ein ruhiges Gewissen wird Ihnen bleiben, wenn Sie auch nicht durchdringen; Ew Königliche Hoheit haben nicht beigestimmt. Gott stärke Sie, mein Gebet wird Sie begleiten.“58 Dem Monarchen hingegen wurde im Gesetzgebungsverfahren mit seiner Unterschrift nochmals eine ungeteilte Verantwortung zugewiesen. König Anton ließ daher problematische Bestimmungen für die lutherischen Untertanen allein im Namen des protestantischen Konsistoriums und ohne seine eigene Unterschrift veröffentlichen. Friedrich August hingegen fand trotz der Drohung, mit seiner Unterzeichnung für alle künftigen, nun gesetzlich sanktionierten „Ehebrüche“ verantwortlich zu werden,59 und trotz des Vorschlags, es lieber so zu halten wie sein Onkel Anton, zu einer neuen Handhabung. Er vertrat die Ansicht, „daß der Fall, wo ein katholischer Regent, protestantische Grundsätze, die er als Katholik verwirft, dennoch als König unter seiner Unterschrift, als für die protestantischen Unterthanen gültig ergehen lassen muß, oft vorkommen kann“.60 Prinz Johann gegenüber hat es von Seiten der katholischen Geistlichkeit wohl keine expliziten Drohungen mit kirchlichen Konsequenzen gegeben, auch wenn man die Implikationen einer Formulierung wie der folgenden in einem Brief Mauermanns nicht überhören kann: „Die Lehre daß die Ehe ein Sacrament sey, und daß die sie betreffenden Angelegenheiten nur vor den geistlichen Richter gehören, ist für den Katholiken unumstößlicher Glaubens und Gewissenssatz, dergestalt, daß derjenige Katholik, der ein anderes behaupten, oder diejenige katholische Behörde, die ein anderes zugeben wollten sich selbst ipso facto excommuniciren würde.“61 Damit begründete Mauermann nicht nur seine eigene Position, sondern wies auch den Katholiken Johann auf die von römischer Seite gesetzten Schranken hin. Dass Johanns Image in der Kammer im Zusammenhang mit dem Ehegesetzesvorhaben Schaden nahm, folgte jedoch nicht allein aus seiner inhaltlichen Positionie58 59 60 61

Ebd., Nr. 21e Zwei [eigentlich aber drei] Schreiben des Bischofs u. apostolischen Vikars D. I. B. Mauermann an den Prinzen Johann wegen der Stellung der katholischen Geistlichkeit zur Verfassung und zur Frage der Eidesleistung auf dieselbe, pag. 8. Sächs. HStA Dresden, 12557 Fürstennachlass Friedrich August II., Nr. 124 Korrespondenz mit Prinz Maximilian 1831–1838, undatiertes Schreiben, pag. 9v. Ebd., undatiertes Schreiben, pag. 15. Sächs. HStA Dresden, 12561 Fürstennachlass Johann, Nr. 21e, pag. 4v/5.

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rung oder seinem Abstimmungsverhalten. Die Kammerkollegen fühlten sich zudem durch eine Indiskretion des Prinzen brüskiert: „Ich beging […] die Unvorsichtigkeit, meinen Vater, der sich sehr für diese Sache interessirte, durch einen Englisch geschriebenen offenen Zettel von diesem Erfolg in Kenntniß zu setzen. Dies wurde bekannt und wirkte nicht günstig für die Abstimmung in den übrigen Punkten, in welchen ich beinahe durchgängig den Kürzeren zog, so daß ich zuletzt gegen das ganze Gesetz stimmte; doch hatte ich die Satisfaction, daß mir Minister Könneritz in einem wichtigen Punkte erklärte, er hätte gern sich für meine Ansicht verwendet, wenn es thunlich gewesen wäre.“62 Inwiefern das Abstimmungsverhalten in der ersten Kammer von diesem Vorkommnis tatsächlich beeinflusst wurde, bleibt hier dahingestellt. Schwerer dürfte gewogen haben, dass Johann als Informant des Prinzen Maximilian erschien und damit auch des Jesuitenpaters Gracchi, der neben dem König auch dessen jüngeren Bruder geistlich betreute.63 Dadurch war Johann als Zuträger der dem Gesetzesvorhaben feindlichen Seite am Hof dekuvriert. In den parlamentarischen Debatten gab Johann seine – bekannte – konfessionelle Position aktiv zu erkennen. Er erwähnte im kirchenpolitischen Zusammenhang eigene katholische Glaubensüberzeugungen und gab mitunter theologische Kenntnisse zum Besten, wobei er durchaus auch anwesende evangelische Theologen zu belehren versuchte. Auf eine solche Auseinandersetzung weist Johann selbst in seinen Lebenserinnerungen hin. Er gibt an, er habe sich auf dem Landtag 1842/43 „durch eine Äußerung des Domherrn Günther zu einer etwas leidenschaftlichen Entgegnung hinreißen lassen“.64 Als man auf diesem Landtag über die noch immer ungeklärte Frage eines Oberhoheitsgesetzes über die katholische Kirche heftig debattierte, illustrierte der Leipziger Juraprofessor Dr. Carl Friedrich Günther (1786–1864)65 seine Warnungen vor Eingriffsmöglichkeiten von kirchlicher Seite mit einem historischen Beispiel aus dem Venedig des 12. Jahrhunderts. Dazumal hatte Papst Alexander  III. Bandinelli, um seine Suprematieansprüche gegenüber Kaiser Friedrich I. durchzusetzen, versucht, die Macht des Magistrats von San Marco per Intervention bei den Geistlichen zu brechen. Der Magistrat wiederum drohte den Geistlichen ultimativ an, sie bei fortgesetzter Verweigerung der Absolution zu hängen. Prinz Johann rief Günther daraufhin zu: „Es ist Vieles im Staate gestattet, was vor dem Richterstuhl der Kirche als sündlich erscheint. Wenn solche Fälle in Sachsen vorkommen sollten, so gebe ich ihm die Erlaubniß, alle sächsischen Geistlichen 62 63

64 65

Ebd., Nr. 7c, Heft F, pag. 4v. Wilhelm Haan, Kirchlich-statistisches Handbuch für das Königreich Sachsen, oder Verzeichniß derin dem Königreiche Sachsen angestellten Geistlichen, Schulmeister, Schullehrera, Cantoren etc. aller Confessionen, Dresden 1838, S. 336, nennt Gracchi als Beichtvater beider Fürsten. Sächs. HStA Dresden, 12561 Fürstennachlass Johann, Nr. 7c, Heft I, pag. 7. Vgl. Matzerath, Aspekte sächsischer Landtagsgeschichte, Präsidenten und Abgeordnete, S. 42. Obwohl Günther hier von Johann als Domherr tituliert wird, was sich auf Günthers Funktion im seit der Reformation evangelischen Domstift Merseburg bezieht, saß der Juraprofessor in seiner Eigenschaft als gewählter Exponent der Leipziger Universität in der Kammer.

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hängen zu lassen.“66 Dieses pittoreske „Angebot“ wirkte gerade aus dem Mund eines potenziellen Regenten erschreckend unüberlegt, die Unterstellung der Mordsucht an das protestantische Gegenüber war darüber hinaus der dringend gebotenen Sachlichkeit der Debatte überaus abträglich. Auch auf dem Landtag 1836/37 hatte es bereits Debatten über das sogenannte ius circa sacra gegeben. Bei den Beratungen über ein Regulativ zur Ausübung dieses Rechtes gegenüber der katholischen Kirche behandelte man auch die Frage des sogenannten „placet“, einer ministeriellen Genehmigungspflicht für kirchliche Verkündigungen. Johann schreibt dazu: „In den meisten Punkten war man einig, nur in Betreff des placet verlangte die 2te Kammer eine gegen die bisherige Uebung und den Vorschlag der Regierung hinausgehende größere Beschränkung der geistlichen Behörde mit sich führende Bestimmung. Ich bin von jeher ein Gegner des placet gewesen, das nicht nur eine Beschneidung der Freiheit der Kirche involvirt, sondern auch der Regierung, in der Art wie die Censur der Druckschriften, eine Verantwortung für Dinge auflegt, welche unbedenklich sind, wenn sie dazu schweigen kann, während ihre Stellung besser ist, wenn sie das den Staatsgesetzen entgegenlaufende Gebahren zeigt und untersagt, wenn dasselbe wirklich erfolgt ist. Um so weniger konnte ich einer Ausdehnung des Bestehenden das Wort reden. Die Kammer lehnte auf Antrag der Deputation – ich war nicht Referent – den Antrag der 2. Kammer ab, und ich brachte es auch dahin, daß bei anderweiter Berathung dem Bemühen der 2. Kammer gegenüber auf der Ablehnung stehen geblieben wurde, wodurch die ganze Angelegenheit zu Falle kam. Ich muß gestehen, daß mir dies nicht unlieb war, da ich an der ganzen Vorlage keine große Freude hatte; aber die Kammer war beinahe überrascht, als sie sah, was ihr Beharren für eine Folge gehabt hatte.“67 Damit legt Johann selbst den Gedanken nahe, dass er in der Frage des Oberhoheitsgesetzes ab einem gewissen Punkt womöglich auch in der Kammer als Agent einer gezielten Obstruktionspolitik aufgetreten sein könnte. Generell wäre die schwindende Dynamik hinter dem Willen der einzelnen Beteiligten, gerade in der Oberhoheitsfrage tatsächlich zu einer Gesetzgebung zu gelangen, künftig näher zu untersuchen. Denn nach dem Scheitern des Regulativentwurfs über die Ausübung des weltlichen Hoheitsrechtes über die katholische Kirche 1845 wurde das Vorhaben von der Regierung offenbar nicht mehr betrieben. Obwohl kirchlicherseits kritisiert und vor allem ohne parlamentarische Zustimmung und damit ohne Rechtskraft geblieben, wird angegeben, das Papier habe dennoch im Wesentlichen in der Praxis als Richtschnur gedient.68 Entsprechend fasste der apostolische Vikar Joseph Dittrich die Situation 1852 so zusammen: „Wie groß die Schwierigkeiten sind, […] kann man daraus entnehmen, daß sie die Veranlassung waren, weshalb seit dem 25-jährigen Bestehen der katholisch-geistlichen Behörden und seit der vor 21 Jahren stattgefundenen Errichtung des Ministerial-Departements es noch zu keinem Abschluß 66 67 68

Mittheilungen über die Verhandlungen des Ordentlichen Landtags im Königreiche Sachsen 1. Kammer, 1842/43, Bd. 3, S. 1809f. Sächs. HStA Dresden, 12561 Fürstennachlass Johann, Nr. 7c, Heft F, pag. 40v–41. Vgl. Meier, Die katholische Kirche, S. 79.

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in der Gesetzgebung über die Hoheitsrechte gekommen ist. Die Folge davon war, daß sich […] in diesem langen Zeitraume eine Praxis herausgebildet hat, welche die Stelle der Gesetzgebung vertritt. Die Normen und Formen derselben sind bisher mit soviel gegenseitiger Duldung und Mäßigung beobachtet worden, daß sich Staat und Kirche wohl dabei befunden haben, und da die Befürchtung von Überschreitungen von irgendeiner Seite her anerkanntermaßen weniger vorliegt denn je, so dürfte die Fortführung jener Praxis und ihre fernere Ausbildung wohl gerechtfertigt und besonders auch deshalb vorzuziehen sein, weil […] die Vorlegung eines Gesetzes und die parlamentarische Debatte über dasselbe von sehr gewichtigen Übelständen begleitet ist. […]“69 Es war gerade die parlamentarische Öffentlichkeit, die aus Dittrichs Sicht nicht nur die Gesetzgebung verhindert, sondern dabei gleichzeitig auch interkonfessionelle Spannungen geschürt hatte: „[…] Bei den bisher stattgefundenen Kammerverhandlungen hat sich die mißliche Erfahrung sehr in den Vordergrund gestellt, daß die Mehrzahl der versammelten Kammermitglieder die rechtliche Stellung, welche die katholische Kirche nach innen und nach außen einnehmen muß, sowie das Maß der Selbstständigkeit, ohne welches sie zu bestehen und segensreich zu wirken außer Stande ist, als einen ihnen völlig fremden Gegenstand weder mit der genügenden Klarheit übersehen, noch mit der sehr nötigen Unparteilichkeit beurteilen, weshalb sie […] der Meinung Eingang gestatten, daß lediglich dasjenige Gesetz als das vorzüglichere zu betrachten, welches die größere Anzahl von beschränkenden Bestimmungen enthalte. Andererseits haben aber die bisherigen Kammerverhandlungen, weil der Gegenstand zur parlamentarischen Debatte sich nicht eignet, die traurige Folge gehabt, daß der Geist der Zwietracht unter den verschiedenen Konfessionen durch sie immer wieder angeregt worden ist und überreiche Nahrung erhalten hat.”70 Dittrich versuchte daher, „das königliche Ministerium dahin zu bewegen, die Einbringung des Gesetzes über die Ausübung der weltlichen Hoheitsrechte über die katholische Kirche ganz oder für die nähere Zukunft beruhen und es bei der zeitherigen praktischen Behandlung dieser Angelegenheiten bewenden zu lassen”.71 Dass das Bemühen dahin ging, konfessionell Aufgeladenes aus den Kammern herauszuhalten, lässt sich allerdings auch an anderen Themen wahrnehmen. So wurde auf dem Landtag 1842/43, auf dem die vormärzlichen Konfessionsfragen zuerst für Unruhe sorgten, auch die Frage der Kniebeugung diskutiert.72 Die bekannte bayerische Kniebeugungskontroverse zog sich von 1838 bis 1844 und entstand durch eine Order, die sowohl vom Heer als auch von der Bürgermiliz das Niederknien während der Wandlung und des Vorbeitragens des Sanctissimum bei Kirchen- und

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Schreiben des Apostolischen Vikars, Bischof Dittrich, das Regulativ betreffend, an das Ministerium des Kultus und öffentlichen Unterrichts vom 24. Januar 1852, zitiert nach Meier, Die katholische Kirche, S. 293f. Ebd., S. 293f. Ebd., S. 296. Die Diskussion der ersten Kammer über die betreffende Petition auf diesem Landtag und auch die Redebeiträge Johanns in: ebd., S. 86–93.

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Fronleichnamsprozessionen verlangte, und zwar auch von den Protestanten. 73 In Dresden dagegen handelte sich um ein Geschehen, das im Innern der Hofkirche stattfand: Die sogenannte Herrenwacht kniete im Moment der Elevation der Hostie nieder. Überdies ging es nicht um eine Neuerung, sondern eine mehr als 140-jährige zeremonielle Tradition, die in Zweifel gezogen wurde. Die erste Kammer verabschiedete nach eingehender Diskussion einen „Wunsch” an die Regierung (keinen Antrag, wie ihn die zweite Kammer beabsichtigte), „daß künftig keine evangelischprotestantischen Militairs mehr zur Kniebeugung in die katholische Kirche commandirt werden mögen“.74 Auch Prinz Johann stimmte für den Wunsch (und gegen den Antrag), „indem ich den Schein einer gewissen Beeinträchtigung stets zu vermeiden wünsche”.75 Und ebenso wie dies die Regierungsvertreter taten, versuchte auch Johann, das Problem vom Dogmatischen ins Praktische zu ziehen. Eine theologische Belehrung an den lutherischen Oberhofprediger von Ammon konnte er sich in diesem Zusammenhang zwar nicht ersparen. Bezeichnend ist allerdings, dass es offenbar gerade ihm aufgetragen war, den Standpunkt der zu jener Zeit im Landtag nicht vertretenen katholischen Dresdner Geistlichkeit zu übermitteln. Johann ließ wissen, „der Vorstand der katholischen Kirche [habe] erklärt, es sei das Niederknien des Militairs eine bloße Ceremonie, […] sie sei nicht nöthig, und es würde auch kein Bedenken haben, wenn sie wegfiele”.76 Dahin hatte sich also der apostolische Vikar Laurenz Mauermann ausgesprochen. Dass die Stände schließlich lediglich einen Wunsch an die Regierung formulierten, ließ der Regierung in der Sache „freie Hand”.77 Und so findet sich auch keine weitere Resonanz des Anliegens.78 In der ersten Kammer klang einiges Unbehagen darüber an, dass das Thema überhaupt in 73 74 75

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Staatsminister von Wietersheim gibt allerdings für Bayern einen Befehl von 1831 als Ausgangspunkt der Querelen an, vgl. Mittheilungen I 1843, S. 1842. Ebd., Bd. 3, S. 1845. Ebd., S. 1843. Dass Johann in der mündlichen Rede vermutlich eigentlich von einer „Gewissensbeeinträchtigung“ gesprochen hat, wird von der in den Diskussionen als stehenden Terminus gebrauchten „Gewissenszwang“. Die mutmaßlich vorsätzliche Variante „gewissen Zwang“ im Protokoll könnte auf die Absicht zurückgehen, auch terminologisch eine größere Distanz von diesem Diskurs zu erlangen. Ebd., S. 1843. Nach dem Tod von Bernhard Mauermann 1841 hatte das Bautzner Domkapitel nicht den Apostolischen Vikar gleichzeitig zu ihrem Dekan und Vertreter in der Kammer gemacht. Während Mauermann noch beide Funktionen ausgeübt hatte, saß nun Matthäus Kutschank (1776–1844) in der Kammer, während als Apostolischer Vikar der Bruder des verstorbenen Amtsinhabers folgte, Franz Laurenz Mauermann (1780– 1845). In der Folge trat – seit der Berufung bzw. der Wahl Joseph Dittrichs (1794–1853) in beide Positionen 1845 – bis zum Jahr 1900 wieder die Personalunion ein. Vgl. auch Meier, Die katholische Kirche, S. 65–70. So Minister von Nostitz-Wallwitz wörtlich in der Diskussion der zweiten Kammer, er bevorzugte aus diesem Grund einen ständischen „Antrag“ vor der Formulierung einer „zuversichtlichen Erwartung“, vgl. Mittheilungen über die Verhandlungen des Ordentlichen Landtags im Königreiche Sachsen 2. Kammer, 1842/43, Bd. 3, S. 2444. Noch weniger bindend erscheint in dieser Beziehung natürlich der schließlich ausgesprochene „Wunsch“. Denn 1900 wurde er wieder zum Thema, die Lösung war dieselbe wie bereits 1833/34 und 1842/43 vorgeschlagen.

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die Öffentlichkeit geraten war. Überdies kam zur Sprache, dass das Problem bereits 1833/34 diskutiert worden sei. Was dazu auf dem ersten konstitutionellen Landtag gesagt wurde, lässt sich jedoch nicht mehr nachvollziehen, weil – wie der Abgeordnete Superintendent Dr. Großmann ein Jahrzehnt später monierte – das Thema in den Landtagsprotokollen fehlt. Großmann pochte daher auf die Erinnerungskraft der Anwesenden und erhielt keinen Widerspruch, so dass man den Fakt als richtig annehmen muss. Das Bemühen, konfessionell Prekäres auszuklammern, hätte demnach sogar dazu geführt, entsprechende Passagen aus dem offiziellen Parlamentsgedächtnis zu tilgen. Dann wäre allerdings zu bestreiten, dass die sächsische Auseinandersetzung um die Kniebeugung ausschließlich ein bayerischer „Import” gewesen sei, wie in der Debatte 1843 behauptet.79 Mit der Anregung, protestantische Militärs nicht mehr zu dem fraglichen Dienst heranzuziehen, griff man übrigens auf die angebliche Zusage des Kriegsministers von 1833/34 zurück und nahm andererseits die Lösung des Jahres 1900 vorweg.80 Ohne dem Landtagsgeschehen oder der Gesetzgebung hier weiter folgen zu wollen, sei erwähnt, dass das Stillhalten in Gesetzgebungsfragen bis in die 70er Jahre hinein offenbar probate Strategie war.81 Erst nachdem Sachsen 1866 seine staatliche Souveränität verloren hatte, verfügte im Land niemand mehr über eine Handhabe, z. B. die als neuralgisch betrachtete Einführung der in Sachsen sogenannten Notzivilehe zu verhindern. Die unvermeidliche Anpassung an die Gesetzgebung des Norddeutschen Bundes im Zuge der Zweiten Staatsreform machte eine Eheschließung erstmals auch gänzlich ohne kirchliche Beteiligung möglich. Die auch unter protestantischen Kirchenvertretern dominierende Gegenstimmung konnte an der Tatsache selbst nichts mehr ändern.82 Dass der gesetzliche Schwebezustand neben konfessioneller Befriedung auch eine gewisse Unbeweglichkeit mit sich brachte, wird am Beispiel der sogenannten Barmherzigen Schwestern deutlich. Ihre verfassungsrechtlich als unbedenklich eingeschätzte Einführung zur Förderung der Krankenpflege unterblieb. Eine Vertagung nach den künftigen Erlass eines Oberhoheitsgesetzes sah der nunmehrige König Johann 1857 aber als eine durchaus langfristige an, denn für ein solches Gesetz sei, so ließ er wissen, „der geeignete Zeitpunct wohl nicht gekommen u[nd] kaum sobald zu erwarten“.83 Sogar bei der in kirchenrecht79 80

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Mittheilungen I 1843, Bd. 3, S. 1839, 1842. Vgl. Sächs. HStA Dresden, 11125 Ministerium des Cultus und des öffentlichen Unterrichts, Nr. 11096/23 Heranziehung von evangelisch-lutherischen Militärpersonen zu den römisch-katholischen Zeremonien 1900. Vgl. auch Blanckmeister, Franz, Sächsische Kirchengeschichte, 2. Aufl., Dresden 1906, S. 460, der die Kniebeugungsfrage überhaupt erst auf 1900 datiert. Die Festlegung dazu kann Meier offenbar in den Quellen nicht nachweisen, doch scheint es denkbar, dass sich die mündlichen Abreden vor der Berufung Joseph Dittrichs zum apostolischen Vikar 1846 hierauf bezogen, vgl. Meier, Das Apostolische Vikariat, S. 55. Vgl. Haase, Martin, Dein Einfluss des Kulturkampfes auf die kirchlichen Verhältnisse im ehemaligen Königreich Sachsen, Diss. Leizpig 1951, pag. 33–40, Zitat S. 35. Sächs. HStA Dresden, 11125 Ministerium des Cultus und des öffentlichen Unterrichts, Nr. 11097 Miscellanea Catholica 1869–1920, pag. 6v. Das in § 56 der Verfassungsurkunde von 1831 enthaltene Verbot von geistlichen Orden an sich gab also nicht den

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licher Sicht problematischen Publikation des Dogmas der päpstlichen Unfehlbarkeit meinte man 1871 eine Kompromisslösung finden zu können, indem die Verlesung des bezüglichen Fuldaer Hirtenbriefes gestattet und durchgeführt wurde, bevor das Kultusministerium das „placet“ für die allerdings zuerst beantragte Verkündung des Dogmas offiziell versagte.84 Die Resonanzen dieses Ereignisses auf dem folgenden Landtag setzten dann allerdings den Erlass eines Oberhoheitsgesetzes 1876 durch. Die vom mittlerweile verstorbenen Johann noch mitgetragene gesetzgeberische Ruhe war zu Ende. Für die Frage, warum Prinz Johann in der Bevölkerung als konfessionseifernder politischer Drahtzieher erschien, sei hier noch auf Zweierlei hingewiesen. Zum einen ist nochmals auf die oben angeführte Diagnose Carl von Webers – der ja eigentlich um Entlastung des Prinzen von Unterstellungen bemüht war – einzugehen, Johann sei bigott gewesen. Ein solcher Eindruck muss auf einen deutlich wahrgenommenen Überschuss an religiöser Energie zurückgehen. Das Empfinden einer präsentativen Frömmigkeit gerade bei diesem Agnaten scheint allerdings erklärlich zu werden, wenn man Johanns durchaus individuelle Legitimationstechniken berücksichtigt. Stets ist gerade für diesen Wettiner auf die Omnipräsenz der Begriffe Pflicht und Gewissen hingewiesen worden.85 Und auch die damit verknüpften rationalen Prozesse sind heute im Wesentlichen erschlossen.86 Beide Begriffe, insbesondere aber der des Gewissens, stellten zeitgenössisch eine primär religiöse Referenz her.87 Für den Wettiner wurde das Gewissen zur Instanz der Abwehr gegen kirchenpolitische Beschränkungen der katholischen Seite. Die Gläubigen, vor allem aber auch die Geistlichen sollten damit vor einer Normsetzung bewahrt werden, die sie mit den kanonischen Vorgaben in Widerspruch brachte. Johann band auch sein eigenes Handeln auf diese Art besonders häufig an religiöse Normen zurück und widmete der sorgfältigen rationalen Destillation praktischer Handlungs- und Entscheidungsorientierungen einen breiten Raum. Verteilung und Häufigkeit der Begriffe von Pflicht und Gewissen in Texten Johanns erwecken den Eindruck, dass mit ihrer Hilfe eine religiöse Folie über nahezu alle Lebens- und Denkbereiche des Wettiners gebreitet war. Aktuelle Lebensverhältnisse wie historische Entwicklungen sah Johann göttlich bestimmt. Sowohl die juristischen Normen des bürgerlichen Gesetzes als auch die ständische Herkunft und der Beruf formten insgesamt einen aus seiner Sicht heilig

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Ausschlag dafür, dass die Krankenpflegekräfte in Sachsen nicht Einzug hielten, wie angegeben bei Meier, Die katholische Kirche, S. 49. Vgl. Blanckmeister, Sächsische Kirchengeschichte, S. 452f. Entsprechend werden die Begriffe in der Literatur auch wiederholt, vgl. aus der Fülle der Belege etwa Zimmermann, Zwischen Pflicht und Neigung, S. 25–31, oder Groß, Reiner/Wyduckel, Dieter, Pflichten eines Gewissenhaften, in: Zwischen zwei Welten, S. 93–134. Vgl. Marburg, Europäischer Hochadel, S. 109–131. So handelte es sich bei den Forderungen nach Gewissensfreiheit, Glaubensfreiheit bzw. Religionsfreiheit um ein Kernthema der Grundrechtsdebatte, auch in Deutschland, vgl. Borowski, Martin, Die Glaubens- und Gewissensfreiheit des Grundgesetzes, Tübingen 2006.

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zu haltenden Pflichtenkatalog.88 Darüber hinaus kann Johann zumindest ein religiöser Eifer verbaler Art attestiert werden, mit dem er die Mitwelt auf den christlichen Charakter seiner Weltdeutung und seiner Handlungsprämissen beständig hinwies. Dieser Worteifer – auch der religiöse – war ihm übrigens selbst ein Problem, das er immer wieder einzudämmen versuchte.89 Im Fall religiöser Meinungsäußerung stand dem aber ein normativer Bekenntnisdruck entgegen, den Johann durch seine prominente Stellung noch verstärkt sah. Während er eine generelle Linie durch Abwägung verschiedener Umstände zu finden versuchte, stand ihm für sich selbst das Argument vor Augen, es könne gerade „meiner Seits ein Schweigen fast stets als eine Verleugnung gedeutet, freimüthiges Reden u. Handeln von großem Einfluß auf andere seyn“ – in dubio pro oratione.90 Des Weiteren ist der bislang kaum erwähnte Fakt anzuführen, dass Prinz Johann gewissermaßen in Fortsetzung seines Beisitzes im Geheimen Rat auch im konstitutionellen Gesamtministerium einen Beisitz erhalten hatte. Seine Teilhabe an diesem Gremium war, im Gegensatz zu seinem von der Regierung durchaus in Frage gestellten Eintritt ins Parlament, in keiner Weise strittig. Gerade für Johann als direkten Thronfolger war ein solcher Beisitz schon deswegen sinnvoll, weil der Regent Friedrich August selbst psychisch immer wieder stark angeschlagen und zuweilen bis an die Grenzen der Regierungsfähigkeit beeinträchtigt war. Während sich die Sitzungsperioden des Landtags auf einige Monate beschränkten, war Johann durch den Beisitz im Gesamtministerium am politischen Prozess prinzipiell ständig beteiligt.91 Insofern konnte auch Johann mit einigem Recht als Regierungsmitglied gelten. Wenn Carl von Weber im Frühjahr 1845 auch angibt, die öffentliche Meinung, Johann sei der treibende Keil hinter der sächsischen Politik gegenüber den Deutschkatholiken, entbehre jeder Grundlage,92 so erlebte er den Prinzen doch gerade in dieser Angelegenheit durchaus als einen verbalen Aktivposten. Über eine Sitzung des Gesamtministeriums schreibt von Weber: „Die Deutschkatholischen Angelegenheiten fangen an die Regierung sehr zu beschäftigen[.] Neulich hatten wir die erste Sitzung – nach mehreren Besprechungen der Minister ohne den König – deshalb in Gegenwart des letztern und des Pr[inzen] Johann, der allerdings sehr entschieden dagegen ist und ganz lebhaft und erbittert war zumal darüber, daß man der neuen Seite hier den Saal der Stadtverordneten – ein öffentliches Local – eingeräumt hat. Inzwischen 88 89

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92

Beispielhaft die Betrachtung „Über die Wichtigkeit meiner öffentlichen Berufspflichten“, in: Marburg, Europäischer Hochadel, S. 303–305. Vgl. Sächs. HStA Dresden, 12561 Fürstennachlass Johann, Nr. 56 Allerhand moralische Betrachtungen, darin vor allem „Wann ist es des Christen Pflicht seine sittliche und religiöse Ueberzeugung ungescheut an den Tag zu legen?“, pag. 17–18. Hier versucht der Prinz eine Linie zwischen Bekenntnisfreude und verbaler Zurückhaltung zu definieren. Ebd., pag. 18. In welcher Häufigkeit Johann die Sitzungen des Gesamtministeriums tatsächlich besuchte und ob dies parallel zu Landtagsverhandlungen der Fall war, ist allerdings bislang völlig unklar und müsste anhand der überlieferten Sitzungsprotokolle überprüft werden. Vgl. Sächs. HStA Dresden, 12801 Personennachlass Carl v. Weber, Tagebuch Band 1, Eintragung vom 13. August 1845.

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hat man sich darauf beschränkt öffentliche Versammlungen zu verbieten, wozu man auch vollkommen berechtigt ist.“93 Das Versammlungsverbot war also ganz im Sinne des entrüsteten Prinzen. Die Leipziger Demonstrationen richteten sich daher zumindest richtig an einen vehementen Gegner der freikirchlichen Bestrebungen und ebenso richtig an ein involviertes, wenn auch nicht mit Stimmrecht ausgestattetes Regierungsmitglied. Ein knapper Ausblick soll abschließend darauf hinweisen, dass eine häufig und auch hier benutzte Quelle, nämlich Johanns Lebenserinnerungen, erst aus den späten 1860er Jahren stammt und daher das für die Reaktionsperiode typische Konzept der Kirchlichkeit erkennen lässt. Rückblickend projiziert Johann es auch auf seine früheren parlamentarischen Aktivitäten. Entsprechend schildert er etwa seinen Einsatz im noch jungen konstitutionellen Parlament 1833/34 für das Volksschulgesetz, wo er als Referent auftrat und mit seinen Vorschläge ein mögliches Auseinanderdriften von weltlichen und geistlichen Bildungsinstanzen zu verhindern suchte.94 Angesichts der gerade vor sich gehenden grundlegenden Ausgliederung der Schule aus dem Kirchenwesen weist Johann der Landtagsdebatte in dieser Hinsicht ein konservatives Verdienst zu: „Besonders ist die Aufrechterhaltung der Verbindung zwischen Kirche und Schule zu empfehlen, die auch vielleicht durch die Ständischen Verhandlungen noch schärfer accentuirt worden ist.”95 Dasselbe Motiv hinterlegte Johann seinem Engagement bezüglich der Veränderung der protestantischen Konsistorialgerichtsbarkeit. Johann schwebte vor, sie in das Kultusministerum zu integrieren, scheiterte damit aber. Das nach der endlichen Trennung der inneren und äußeren Kompetenzen für die ersteren verbleibende Landeskonsistorium machte allerdings einen traurigen Eindruck, auch auf den Prinzen. Trotz seiner Niederlage gibt er an, geradezu als Kämpfer für die protestantische Kirche angesprochen worden zu sein. Dieses Streben nach Kongruenz bzw. enger Verflechtung zwischen Staat und Kirche unter dem Begriff der Kirchlichkeit konnte prinzipiell von allen staatlich garantierten Glaubensrichtungen gewährleistet werden. In der Tat findet sich eine entsprechende systemische Argumentation bei Johann auf dem Landtag 1833 zu Gunsten der Judenemanzipation. Hier führt er eine seines Erachtens drohende Irreligiosität als ernste Gefährdung für Staat und Gesellschaft ins Feld und argumentiert damit zu Gunsten einer, gemessen an den christlichen Konfessionen, hinsichtlich der bürgerlichen Rechte benachteiligten nichtchristlichen Religion.96 In der Praxis der Reaktionszeit kam eine solche Kirchlichkeit aber selbstverständlich vor allem bei der lutherischen Mehrheitskirche zur Geltung. Das Ziel „der kirchlich Gesinnten” wurde von Gegnern spöttisch eine „wahrhaft königlich sächsische Religion” ge93 94 95 96

Ebd., Eintragung vom 24. März 1845. Vgl. Sächs. HStA Dresden, 12561 Fürstennachlass Johann, Nr. 7c, Heft F, pag. 5v–6. Ebd., pag. 6. Er argumentiert, „Leute ohne Glauben“ seien „die gefährlichsten Mitglieder der Gesellschaft“. Auch hier führt Johann übrigens die „Gewissensfreiheit“ ins Feld. Zitate vgl. von Falkenstein, Charakterbild, S. 116. Allerdings muss bemerkt werden, dass Johann nicht nur in dieser Debatte auf seines Erachtens deutliche sittliche Defizite bei Juden hinwies.

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nannt.97 Unter anderem propagierte man von streng konservativer Seite auch in Sachen Frömmigkeit eine Orientierung am albertinischen Herrscherhaus. In diesem Zusammenhang trat konfessionelle Unterschiedlichkeit in den Hintergrund, ja fand kaum noch Erwähnung. Die Schrift „Die Unkirchlichkeit der Residenz. Ein Nothruf der evangelischen Kirche in Sachsen” etwa, die 1850 anonym in Dresden erschien, kam nach vielen Klagen über den Verfall des kirchlichen Lebens zu dem bemerkenswerten Schluss: „Verloren ist noch nichts, wenn Alle, denen das Wohl des Ganzen am Herzen und nicht bloß auf der Zunge liegt, sich stillschweigend das Versprechen geben, nicht bloß die Ihrigen zu öfterem Kirchenbesuche zu veranlassen, sondern auch selbst, durch das erhebende Beispiel unseres königlichen Hauses ermuntert, an der öffentlichen Gottesverehrung sich fleißig zu betheiligen.”98 Die religiöse Praxis der katholischen Fürsten wurde hier zum Leitbild für das konfessionell überwiegend anders orientierte Sachsen gesetzt. Eine solche von religiösem Pathos getragene Fürstentreue war für die sächsischen Hochkonservativen offenbar typisch und setzte unvermeidlich dekonfessionalisierende Spotlights auf das Herrscherhaus.99

III. Fazit Aus der Sicht des Hauses Wettin albertinischer Linie formuliert war das 19. Jahrhundert ein Jahrhundert mit zahlreichen, teils ernsten Klippen. Zu den Schwierigkeiten trug auch seine konfessionelle Minderheitssituation bei. Gerade die Exklusivitätsprämissen des frühneuzeitlichen Fürstenhofes waren die Grundvoraussetzung für die Etablierung dieser katholischen Minderheitskirche in Sachsen gewesen. Die seit 1815 anstehenden Neuordnungsprozesse des Staatswesens mussten u.  a. auch die Gleichordnung aller nun staatlich garantierten Religionsgemeinschaften herstellen. Dabei musste die katholische Kirche zum einen eine konfessionelle Neupositionierung vor allem außerhalb der von Herrscherhaus und Hof garantierten juristischen Residualbereiche und exklusiven Repräsentationsräume vornehmen. Zum anderen war sie sekundär von Veränderungen betroffen, die sich aus dem konstitutionellen Differenzierungsprozess zwischen Staatsapparat und Hof ergaben. Da auch die sächsische Monarchie sakrale Akzidentien niemals verlor, waren das Fürstenhaus und seine einzelnen Exponenten stets wichtige Akteure einer staatsbezogenen konfessionellen Ordnung. Die Regelungen für die katholische Kirche erwiesen sich dabei als bleibend problematisch. Gesetzgeberisch blieben sie teilweise sogar ungelöst, obwohl sich die albertinischen Fürsten und die sächsischen Regierungen auf dieser Ebene um kon97 98 99

So in Protesten gegen die umstrittenen Bekanntmachungen vom 17. und 19. Juli 1845, vgl. Sachsens Regierung, Stände und Volk, Mannheim 1846, S. 13. Die Unkirchlichkeit der Residenz, Nothruf der evangelischen Kirche in Sachsen, Dresden 1850. Vgl. Neemann, Landtag und Politik.

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fessionelle Ordnung und gesellschaftliche Befriedung bemühten. Die Integration der katholischen Kirche erscheint in Sachsen geradezu als Synonym für das Gelingen einer allgemeinen konfessionellen Ordnung. Die zunehmende konfessionelle Aufladung der emanzipatorischen Bewegungen des Vormärz erschwerte jedoch eine solche konfessionelle Pazifizierung nach herkömmlichem, lediglich auf die staatlicherseits zugelassenen Kirchen bezogenen Muster. Mit Prinz Johann betrachtete der Beitrag einen Albertiner, der eine präsentative individuelle Frömmigkeit pflegte und der sich gleichzeitig auf verschiedenen Ebenen am sächsischen Gesetzgebungsprozess aktiv beteiligte. Seit 1831 vereinte er eine neuartige öffentliche Position im Parlament mit einer eingeschränkten Beteiligung an der Ministerialregierung und brachte sich überdies gerade bei kirchenpolitischen Fragen auch informell ein. Damit stellte er sich als Konservativer in eine Öffentlichkeit, die vormärzlich von starker konfessioneller Polarisierung erfasst wurde und in der gleichzeitig die Exklusivität fürstlicher und höfischer Residualbereiche generell in Frage gestellt wurde. Da Presse und öffentlicher Raum für die Repräsentation der Monarchie des 19. Jahrhunderts hoch relevant waren, aber weit weniger kontrollierbar als etwa noch ein Zweikammerparlament, erscheint es erklärlich, dass dabei gerade die öffentliche Person dieses Agnaten eine stark gefährdete war und in der Praxis auch ganz erheblich litt. Angriffe gegen Johann wurden dementsprechend konfessionell deutlich markiert und zeitigten das Bild von Johann dem Ultramontanen. Die Reaktionsperiode installierte in einer Art Gegenbewegung Johann den Kirchlichen – eine dekonfessionalisierende Argumentation, die zu seiner Stabilisierung als Monarch beitrug.

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Zwischen Konflikt und Konsens Christliche Gemeinsinnsvorstellungen in sächsischen Unternehmenskonzepten des 19. Jahrhunderts Swen Steinberg

Die früh einsetzende Industrialisierung Sachsens äußerte sich in vielerlei Gestalt. Neben quantitativ zu erfassenden Phänomenen wie der raschen Abnahme landwirtschaftlichen Erwerbs oder der Bevölkerungszunahme zeigten sich gerade hier frühzeitig die sozialen Verwerfungen, aber auch die Konzepte, mit denen man diesen zu begegnen suchte. Auf dieser knappen Zusammenfassung ruht das vom Verfasser im Sonderforschungsbereich 804 „Transzendenz und Gemeinsinn“ aktuell bearbeitete Projekt auf, in dem christliche Gemeinsinnsvorstellungen in der protestantischen Lebens- und Arbeitswelt untersucht werden. Im Fokus der Untersuchung stehen dabei das vor allem in Sachsen und Mitteldeutschland früh etablierte Genossenschaftswesen und dessen christliche Fundierung.1 Überdies werden christliche Unternehmenskonzepte untersucht,2 die im vorliegenden Beitrag in Konsistenz und Wirkung vorgestellt sowie auf den Zusammenhang von Konflikt und Konsens hin befragt werden. Der damit korrespondierende Zusammenhang von Wirtschaft und Religion ist dabei keinesfalls neu, die kulturalistisch ausgerichtete Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte blickt vielmehr auf eine lange Tradition zurück.3 Und sie wurde, so scheint es zumindest, gerade bei solchen kulturellen Fragestellungen vor allem von Phasen konjunkturellen Wachstums inspiriert. Max Weber publizierte seine „Protestantische Ethik“ mitten in die Phase der deutschen Hochindustrialisierung,4 und als in den 1980er Jahren der ‚asiatische Tiger‘ gerade wieder zum Sprung ansetzte, meinten Wirtschaftswissenschaftler die Gründe hierfür im Konfuzianismus gefunden zu haben.5 1

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Vgl. hierzu Hardtwig, Wolfgang, Genossenschaft, Sekte, Verein in Deutschland, 2 Bde., München 1997, sowie zum Begriff Mitteldeutschland, mit dem die heutigen Bundesländer Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt gefasst werden, die Beiträge in John, Jürgen (Hrsg.), „Mitteldeutschland“. Begriff, Geschichte, Konstrukt, Rudolstadt 2001. Vgl. hierzu die Beispiele für den mitteldeutschen Raum in Kranich, Sebastian/RengerBerka, Peggy/Tanner, Klaus (Hrsg.), Diakonissen – Unternehmer – Pfarrer. Sozialer Protestantismus in Mitteldeutschland im 19. Jahrhundert, Leipzig 2009. Vgl. etwa Thalheim, Karl Christian, Sozialkritik und Sozialreform bei Abbe, Rathenau und Ford (Wirtschaft und Wissen, Schriften zur Wirtschaftstheorie und Wirtschaftspraxis 1), Berlin o. J. [wohl 1928]. Weber, Max, Die protestantische Ethik, Bd. 1: Eine Aufsatzsammlung, Bd. 2: Kritiken und Antikritiken, hrsg. von Johannes Winckelmann, Gütersloh 1981 und 1982. Vgl. hierzu die umfassende Darstellung bei Conrad, Sebastian, Arbeit, Max Weber, Konfuzianismus. Die Geburt des Kapitalismus aus dem Geiste der japanischen Kultur?,

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Wenn im Folgenden von christlichen Unternehmen die Rede ist, dann sind damit solche Unternehmen gemeint, in die die Unternehmenseigner christliche Grundsätze in die Organisation ihrer Fabriken einfließen ließen – Unternehmen also, in denen die unverfügbare Ordnung des Göttlichen in ein industriell-gemeinsinniges Ordnungsprinzip integriert wurde. Erster Ansatzpunkt einer solchen Analyse ist die Gruppe der Unternehmer selbst, die als gesellschaftliche Akteure im Hinblick auf ihre volkswirtschaftliche Funktion, ihre gesellschaftliche Rolle oder ihre sozialethische Verantwortung analysiert werden können,6 wobei diese Kategorien nicht unabhängig voneinander stehen, sondern vielmehr einer gemeinsame Betrachtung unterzogen werden müssen, da gesellschaftliches Engagement, geleitet von sozialethischen Prinzipien, im 19. Jahrhundert durchaus in einem engen Zusammenhang mit wirtschaftlichem Erfolg stehen konnte. Dies nicht zuletzt, da, wie Hartmut Berghoff konstatierte, insbesondere die „Pionierunternehmer der Industrialisierung“ noch über „geschlossene, relativ klare Weltbilder“ verfügten und sich gerade Religion als ein „stabiles ethisches Referenzsystem“ anbot.7 Fraglich ist demnach nicht, ob ein erfolgreicher Unternehmer auch ein gläubiger Christ sein konnte. Vielmehr ist von Belang, ob ein Unternehmer angesichts der gesellschaftlichen Herausforderungen des 19. Jahrhunderts langfristig überhaupt wirtschaftlichen Erfolg haben konnte, wenn er nicht über fundierte Wertvorstellungen verfügte,8 und ob nicht gerade die christlich geprägten Unternehmer deshalb Startvorteile besaßen – eine Frage, die Max Weber positiv beantwortete. Weber ging in seiner „Protestantischen Ethik“ von der These aus, dass die Lehre von der göttlichen Vorherbestimmung verbunden mit dem Grundsatz innerweltlicher Askese, welcher vor allem im reformierten Bekenntnis zu finden ist, von zentraler Bedeutung für erfolgreiches ökonomisches Handeln sei.9 Dabei gilt es allerdings, den Hintergrund der Etablierung eines christlichen Ordnungs- und Vergemeinschaftungsprinzips zu analysieren, konnte dies doch unterschiedlichen Motivationen folgen. Womit auch die ersten Fallstricke der Analyse aufgezeigt werden: Die Gründung des bekannten und umfassend erforschten Handelshauses Abraham Dürninger & Co. im Jahr 1747 folgte beispielsweise dem grundlegenden Ansatz der wirtschaftlichen Erhaltung einer Religionsgemeinschaft, der Herrnhuter Brüdergemeine.10 Ein ähnlich gelagertes Beispiel findet sich im

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in: Berghoff, Hartmut/Vogel, Jakob (Hrsg.), Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte. Dimensionen eines Perspektivenwechsels, Frankfurt am Main/New York 2004, S. 219–239. Vgl. Schinzinger, Francesca (Hrsg.), Christliche Unternehmer (Deutsche Führungsschichten in der Neuzeit 19), Boppard 1994, S. 13f. Berghoff, Hartmut, Moderne Unternehmensgeschichte. Eine themen- und theorieorientierte Einführung, Paderborn/München/Wien/Zürich 2004, S. 164, 172. So auch formuliert bei Schinzinger, Unternehmer, S. 13, 19. Vgl. Weber, Max, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1, Tübingen 1988, S. 202, 207. Vgl. zur Wirtschaftsethik bei Abraham Dürninger & Co. v. a. Philipp, Guntram, Wirtschaftsethik und Wirtschaftspraxis in der Geschichte der Herrnhuter Brüdergemeine, in: Buijtenen, Mari P. van/Dekker, Cornelius/Leeuwenberg, Huib L. Ph. (Hrsg.), Unitas

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schwäbischen Reutlingen – dort kaufte der pietistisch geprägte Theologe Gustav Werner (1809–1887) im Jahr 1850 eine Papierfabrik und verband diese mit einem Rettungshaus. Werner wollte mit diesem Unternehmen den sozialen Folgen des Industriezeitalters einen christlich-genossenschaftlichen Ansatz entgegensetzen, der allerdings aufgrund seiner fehlenden Gewinnorientierung scheiterte.11 Gleichzeitig besaß Werners Unternehmen aber eine gewisse Strahlkraft auf andere Unternehmer, die in seinen Fabriken angestellt waren und sich später selbständig machten – etwa Gottlieb Daimler (1834–1900), der während seiner Zeit in Reutlingen auch Wilhelm Maybach (1846–1929) kennengelernt hatte.12 Ein Werner ganz ähnliches Organisationsprinzip leitete der von der badischen Erweckungsbewegung geprägte Seidenfabrikant Carl Mez (1808–1877) in Freiburg von seinen Glaubensvorstellungen ab: Seine Arbeiter galten ihm als mündig und gleichberechtigt, auch waren sie in den genossenschaftlich, fast republikanisch organisierten Betrieben bzw. in seiner „Bundesfabrik“ am Gewinn beteiligt.13 Und als der Quäker John Cadbury (1801–1889) im Jahr 1824 in Birmingham das nach ihm benannte Unternehmen gründete, wollte er durch entsprechende Nahrungsmittelangebote erzieherisch wirken und beispielsweise den Konsum von Alkohol eindämmen; ein Ansatz, der auf die religiösen Grundlagen der Quäker selbst zurückging – hier wurde das Produkt folglich zum Medium der christlich fundierten Botschaft.14 Allerdings konnte das Verhältnis von christlicher Fundierung und Produkt auch in einem konfligierenden Verhältnis stehen – dies ist zumindest bei der 1872 gegründeten und ebenfalls christlich geführten Waffenfabrik Gebr. Mauser im württembergischen Oberndorf zu vermuten.15 Ne-

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Fratum. Herrnhuter Studien, Utrecht 1975, S. 401–463; Zimmerling, Peter, Christliche Maßstäbe für das Wirtschaftsleben bei Zinzendorf und der Herrnhuter Brüdergemeine, in: Bockmuehl, Markus/Burkhard, Helmut (Hrsg.), Gott lieben und seine Gebote halten, Gießen/Basel 1991, S. 107–121; Homburg, Heidrun, Ein kaufmännisches Unternehmen in der Oberlausitz: Abraham Dürninger & Co., in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1996, Heft 2, S. 199–221; Dies., Abraham Dürninger & Co. Management und Unternehmenskultur in der Herrnhuter Brüdergemeine als Faktor in der wirtschaftlichen Entwicklung der Oberlausitz im 18. und 19. Jahrhundert, in: Heß, Ulrich/Listewnik, Petra/Schäfer, Michael (Hrsg.), Unternehmen im regionalen und lokalen Raum 1750–2000 (Beiträge zur Wirtschaftsgeschichte Sachsens 5), Leipzig 2004, S. 271–288; Mettele, Gisela, Kommerz und fromme Demut. Wirtschaftsethik und Wirtschaftspraxis im „Gefühlspietismus“, in: Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 92 (2005), Heft 3, S. 301–321. Vgl. Krauss, Paul, Gustav Werner: Werk und Persönlichkeit, Stuttgart 1959; Kriedte, Peter, Wirtschaft, in: Lehmann, Hartmut (Hrsg.), Glaubenswelt und Lebenswelt (Geschichte des Pietismus 4), Göttingen 2004, S. 584–616, hier S. 599. Vgl. Siebertz, Paul, Gottlieb Daimler. Ein Revolutionär der Technik, Berlin 1940, S. 37–43. Vgl. hierzu v. a. Orde, Klaus vom, Carl Mez. Ein Unternehmer in Industrie, Politik und Kirche, Gießen 1994, S. 165–198. Vgl. Berghoff, Unternehmensgeschichte, S. 164. Zur Firma Mauser liegt bisher keine umfassende Untersuchung vor, lediglich aus der Sekundärliteratur erschließen sich die genannten christlichen Bezüge, die auch den Unternehmensgründern zugeschrieben werden. Vgl. Deutelmoser, Otto K., Kilian Steiner – ein württembergischer Bankier aus Laupheim, in: Löwenbrück, Anna Ruth (Hrsg.),

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ben diesem breiten Fächer an Motivationen und auch Branchen sei zudem auf einen weiteren Aspekt hingewiesen, der für die Frage des Zusammenhangs von Religion und Wirtschaft für das Industriezeitalter von Belang ist: Es ist dies der „kulturelle Überhang“16 der Frühen Neuzeit, der beispielsweise einzelne Berufsgruppen noch im 19. Jahrhundert mit einer christlichen Konnotation und einer entsprechenden Lebens- bzw. Arbeitspraxis versah. Als exponiertes Beispiel sei hier der Bergbau genannt, der auch in Sachsen bis ins frühe 20. Jahrhundert durch vitale christliche, aber auch heidnische und volksfrömmige Praxen gekennzeichnet war.17 Und gleich den christlichen Unternehmensansätzen scheinen hier das Zeitalter der Aufklärung und der als Sattelzeit bezeichnete Übergang ins 19. Jahrhundert keineswegs einen die Säkularisierung umfassend befördernden Bruch darzustellen.18 Vielmehr, so auch die These dieses Beitrages, nahmen in der Phase der Industrialisierung christliche Gemeinsinnsvorstellungen für bestimmte gesellschaftliche Gruppen eine zunehmend wichtige Rolle ein. Im vorliegenden Beitrag werden die Grundsätze und Wirkungen von christlichen Unternehmenskonzepten vorgestellt, wobei der Fokus auf sächsischen, deswegen protestantischen und zumeist ländlich verorteten Unternehmen liegt; den Schwerpunkt der Untersuchung bildet das 1856 im sächsischen Kriebstein gegründete Papierunternehmen Kübler & Niethammer.19 Das Phänomen des christlichen Unter-

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Jüdische Unternehmer und Führungskräfte in Südwestdeutschland. Die Herausbildung einer Wirtschaftselite und ihre Zerstörung durch die Nationalsozialisten (Laupheimer Gespräche 2002), S. 103–114, hier S. 113. Vgl. weitere Beispiele christlich geprägter Unternehmer und Unternehmen bei Dittrich, Erich, Zur sozialen Herkunft des sächsischen Unternehmertums, in: Neues Archiv für sächsische Geschichte 63 (1942), S. 130–152; Mehl, Christoph, Reich-Gottes-Arbeit. Der christliche Unternehmer Ernest Mehl (1836–1912) als Wegbereiter der Gemeinschaftsbewegung. Eine diakoniegeschichtliche Untersuchung (Einzelarbeiten aus der Kirchengeschichte Bayerns 78), Neustadt 2001, S. 19–36. Vgl. zum Begriff des Überhangs in religiöser Hinsicht Nipperdey, Thomas, Religion und Gesellschaft: Deutschland um 1900, München 1988, S. 5f. Vgl. hierzu die Beiträge in Löden, Sönke (Hrsg.), Montanlandschaft Erzgebirge. Kultur – Symbolik – Identität (Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde 7), Leipzig 2003. Vgl. hierzu Brunner, Otto/Conze, Werner/Koselleck, Reinhart (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 1, Stuttgart 1972, S. XIVf. Bisher sind nur einige Aufsätze zu speziellen Aspekten der Unternehmensgeschichte von Kübler & Niethammer erschienen, zu allen weiteren im Text genannten Beispielen aus Sachsen liegen hingegen bisher keine Arbeiten vor: Rudloff, Michael, Von den Nationalliberalen zur Deutschen Volkspartei. Der Umbruch im sächsischen Parteiensystem im Spiegel der Korrespondenz des Kriebsteiner Unternehmers Dr. Konrad Niethammer, in: Hettling, Manfred (Hrsg.), Figuren und Strukturen. Historische Essays für Hartmut Zwahr zum 65. Geburtstag, München 2002, S. 699–735; Ders., Die Fabrik im Dorf. Interessenkonflikte zwischen industriellen und agrarischen Eliten am Beispiel der Firma Kübler & Niethammer in Kriebstein, in: Heß/Listewnik/Schäfer, Unternehmen im regionalen und lokalen Raum, S. 289–299; Ders., Unternehmenskultur und Sozialpolitik am Beispiel der Kriebsteiner Papierfabrik Kübler und Niethammer, in: Boch, Rudolf/

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nehmens war allerdings keineswegs auf die protestantische Konfession beschränkt, wie das Beispiel des katholisch geprägten Unternehmens Villeroy & Boch zeigt.20 Wie die Funktionsfelder und Funktionsweisen christlicher Organisationsansätze innerhalb des sozialen Arrangements Unternehmen genauer zu erfassen sind, wird im Folgenden in drei Schritten vorgestellt, die gleichsam analytische Schwerpunkte einer möglichen Systematisierung des Phänomens christliche Unternehmen darstellen. Im ersten Abschnitt wird dabei die Ebene der individuellen Religiosität der Unternehmer und ihrer Familien thematisiert, die die Grundlage bzw. den Ausgangspunkt für die Etablierung eines christlichen Unternehmenskonzeptes darstellt. Im zweiten Teil werden mögliche daraus resultierende gemeinsinnige Ableitungen für die Organisation von Fabrik und Gemeinschaft vorgestellt. In einem letzten Abschnitt steht dann die Rezeptionsebene im Mittelpunkt – und damit auch die Problematik konfligierender bzw. konsensualer Gemengelagen in den christlichen Gemeinsinnsvorstellungen sächsischer Unternehmenskonzepte.

I. Die individuelle Ebene der Unternehmerpersönlichkeit Die Analyse christlicher Unternehmenskonzepte muss stets auf der individuellen Ebene ansetzen, ergaben sich doch die betrieblichen Ableitungen überhaupt erst aus den individuellen religiösen Dispositionen – aus Erziehung und Sozialisation genauso wie aus der Verstetigung des Glaubens im weiteren Ausbildungs- und Lebensweg. Allerdings ist dies zumeist mit einer schwierigen Quellenlage verbunden, da persönliche Unterlagen oftmals nicht erhalten sind. In welcher Tiefenschärfe es aber dennoch möglich ist, einem Unternehmer des 19. Jahrhunderts näherzukommen, sei exemplarisch an Albert Niethammer (1833–1908) gezeigt, der 1856 im sächsischen Kriebstein das Unternehmen Kübler & Niethammer gründete.21

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Listewnik, Petra/Pietsch, Eva/Schäfer, Michael (Hrsg.), Unternehmensgeschichte heute: Theorieangebote, Quellen, Forschungstrends (Beiträge zur Wirtschaftsgeschichte Sachsens, Bd. 6), Leipzig 2005, S. 229–243; Mutz, Mathias, Naturale Infrastrukturen im Unternehmen. Die Papierfabrik Kübler & Niethammer zwischen Umweltabhängigkeit und Umweltgestaltung, in: Saeculum. Jahrbuch für Universalgeschichte 58 (2007), S. 61–89; Steinberg, Swen, Jubiläen und Jubiläumsfeiern in der ländlichen Industrie Sachsens am Beispiel Kübler & Niethammer in Kriebstein (1856–1918), in: Volkskunde in Sachsen 18 (2006), S. 207–234; Ders., Wirtschaftlich, politisch, sittlich-religiös – Motive betrieblicher Sozialpolitik am Beispiel des Papierfabrikanten Albert Niethammer in Kriebstein (1856–1908), in: Fässler, Peter/Schötz, Susanne (Hrsg.), Wirtschafts- und Sozialgeschichte in Diskussion. Beiträge des Dresdner Kolloquiums 2005/2006, Frankfurt am Main 2008, S. 121–146; Ders., „Mit Kopf und Hand im Vertrauen auf Gott.“ Zum Zusammenhang von Konfession und Fabrik im Papierunternehmen Kübler & Niethammer in Kriebstein (1856–1918), in: Kranich/Renger-Berka/Tanner, Diakonissen – Unternehmer – Pfarrer, S. 129–153. Vgl. Gorges, Karl-Heinz, Der christlich geführte Industriebetrieb im 19. Jahrhundert und das Modell Villeroy & Boch, Stuttgart 1989. Der Bestand U 47 Kübler & Niethammer, der seit 1998 im Sächsischen Wirtschaftsarchiv Leipzig verwahrt wird [im Folgenden: SWA, U 47], umfasst etwa 55 laufende

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Albert Niethammer wurde als Sohn eines württembergischen Forstmeisters in eine Familie der oberen Mittelschicht des Bürgertums geboren,22 die durch mehrere Pastorengenerationen stark evangelisch geprägt war.23 Auch Albert Niethammer wollte ursprünglich Theologie studieren und strebte den Pfarrerberuf an, von 1847 bis 1849 besuchte er das evangelische Seminar Maulbronn.24 Und gerade der Besuch dieser evangelischen Bildungseinrichtung deutet auf einen bürgerlich-religiösen Hintergrund hin, wie auch das pietistisch geprägte Umfeld in Württemberg Einfluss auf seine Sozialisation hatte. Jedenfalls offenbaren sich diese religiösen Dispositionen in Habitus und Alltag des Unternehmers überaus deutlich: So ließ er beispielsweise 1871 an den Wänden seiner Villa Sinnsprüche seines Vaters anbringen, in seinem Arbeitszimmer war der Spruch „Auf Gottes Gnad’, der Welt zum Trutz, Trau ich allzeit, Er ist mein Schutz“ zu lesen.25 Und zahlreiche Zeitgenossen versicherten ihm, „es sei doch ein guter Pfarrer an ihm verlorengegangen“.26 Die zweite Ehe Albert Niethammers hatte dann im Hinblick auf seine Religiosität besondere Bedeutung: 1859 heiratete er die Pfarrerstochter Jenny Crusius (1837–1922) aus dem sächsischen Hartha, deren Familie ebenfalls auf eine lange Pastorenlinie zurückblickte.27 Die Heirat einer ebenso christlich erzogenen Frau bildete offensichtlich die Grundlage für die Verstetigung der eigenen Religiosität, die sich in der alltäglichen Frömmigkeit der Familie, der christlich geprägten Erziehung der Kinder und nicht zuletzt eben in der Umsetzung religiöser Wertvorstellungen im Unternehmen selbst widerspiegelte. Wie stark der Zusammenhang zwischen familiärer Religiosität und dem Lebenswandel der Arbeiter dabei sein konnte, wird anhand der 1875 als freiwillige Sozialmaßnahme eingeführten 18-stündigen Sonntagsruhe deutlich.28

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Meter, wovon allein 13 laufende Meter private, politische und geschäftliche Korrespondenzen beinhalten, und hat eine Laufzeit von 1823 bis 1994. Zuordnung nach Schüren, Reinhard, Soziale Mobilität. Muster, Veränderungen und Bedingungen im 19. und 20. Jahrhundert, St. Katharinen 1989, S. 33f., 335. Vgl. Papier aus Kriebstein, Darmstadt 1956, S. 5. Allerdings unterscheiden sich die Deutungsangebote der Familienhistorie bezüglich Niethammers Austritt aus dem Seminar deutlich: Während ein von Fabrikdirektor Paul Riecke 1899 angefertigter Lebenslauf von einem freiwilligen Abgang vom Seminar und dem „Drange seines Herzens“ nach einer technisch-kaufmännisch Ausbildung berichtet, ist in der Firmenfestschrift aus dem Jahre 1956 von wirtschaftlichen Sachzwängen die Rede – der Ernährung der Schwestern Albert Niethammers –, die eine Ausbildung als Papierarbeiter notwendig machten. SWA, U 47, 1365, Lebenslauf Albert Niethammer im Schreiben Paul Rieckes an Camillo Drache, Dresden vom 20.3.1899; Papier aus Kriebstein, S. 6. Festgabe zum 15. März 1881, Dresden 1881, S. 20. Albert Niethammer, in: Sächsische Kommission für Geschichte (Hrsg.), Sächsische Lebensbilder. Dreiundvierzig Lebensbilder hervorragender sächsischer Männer des 19. Jahrhunderts, Dresden 1930, S. 286–293, hier S. 287. Vgl. SWA, U 47, 368, Rede Konrad Niethammers bei der Trauerfeier für Jenny Niethammer, geb. Crusius am 30.11.1922. Vgl. SWA, U 47, 463/3, Bekanntmachung Weihnachten 1875. Vgl. hierzu allgemein Pribyl, Herbert, Der Sonntag als Tag der wöchentlichen Arbeitsruhe, in: Weiler, Rudolf (Hrsg.), Der Tag des Herrn. Kulturgeschichte des Sonntags, Wien/Köln/Weimar 1998,

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Schließlich besaß der sonntägliche Gottesdienst einen hohen Stellenwert in der Unternehmerfamilie und wurde gemeinsam mit den Angestellten der Firma gefeiert.29 Und jene Angestellten waren auch jeden Morgen bei einer von Albert Niethammer persönlich abgehaltenen Morgenandacht in der Kriebsteiner Fabrikantenvilla zugegen, generell stellte die Religionszugehörigkeit bei dieser Gruppe im Unternehmen ein Einstellungskriterium dar.30 In seiner persönlichen Religiosität und in der Ehe mit einer Pfarrerstochter dürfte auch die Grundlage der Verbindungen Albert Niethammers zur sächsischen evangelischen Kirche zu suchen sein. Niethammer unterhielt enge Kontakte zu den Pfarrern der nahe Kriebstein liegenden Orte und war mit seinen Söhnen, aber auch mit seinen Angestellten über mehrere Jahrzehnte in den lokalen Kirchenvorständen aktiv.31 Überdies unterstützte er zahlreiche religiöse Vereine und Institutionen,32 immer wieder war er mit religiösen Vorträgen auf Konferenzen präsent, die er in gedruckter Form auch in seinem Unternehmen verteilte.33 Ebenso findet sich in einer Vielzahl seiner Reden im Sächsischen Landtag eine religiös fundierte Argumentation. Welche Stellung sich Niethammer hier innerhalb weniger Jahre erarbeiten konnte, zeigt seine Wahl zur ersten evangelischlutherischen Landessynode 1871, bei der er sogar mehr Stimmen erhielt als der mit ihm angetretene Superintendent.34 Wie ähnlich die Unternehmerbiographien im Hinblick auf die Ausprägung individueller religiöser Dispositionen sein konnten, sei an dieser Stelle knapp anhand

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S. 95–139; Holly, Johannes, Sonntagsheiligung. „Tag des Herrn“, Gebot der Kirche, in: ebd., S. 41–93. Vgl. exemplarisch SWA, U 47, 1365 Schreiben Paul Rieckes an den Kirchenvorstand Waldheim vom 10.2.1900; ebd., 1362, Schreiben der Firma an die Amtshauptmannschaft Döbeln vom 15.12.1904. Rückfrage nach der Konfession und „was Ihre Eltern sind“ wurde auf sämtliche Bewerbungen rückgestellt, welche diese Angaben nicht erhielten. Vgl. exemplarisch SWA, U 47, 969, Schreiben Konrad Niethammers an Hermann Bernhardt, Delitzsch vom 4.3 1897; ebd., Schreiben Albert Niethammer jun. an Rudolf Wiesner, Hirschberg in Schlesien vom 7.5.1897; ebd., Schreiben Albert Niethammer jun. an Rudolf Staudemayer, Barmen vom 7.5.1897. Vgl. SWA, U 47, 1365, Schreiben Paul Rieckes an das Kirchenvorstandsmitglied Becker, Beerwalde vom 11.12.1901. Dieses Schreiben enthielt eine Liste mit Kriebsteiner Kandidaten für den Beerwalder Kirchenvorstand, auf der sich neben Albert Niethammer und dessen Sohn Albert jun. auch drei Angestellte und ein Arbeiter der Firma fanden. Ebd. Dies beschränkte sich nicht auf den Bereich der finanziellen Unterstützung. Der Stadtverein für Innere Mission Dresden erhielt beispielsweise zum 25-jährigen Jubiläum 1900 von Kübler & Niethammer kostenlos das Papier für den entsprechend umfangreichen Jahresbericht gestiftet. SWA, U 47, 483/3, Schreiben von Hugo Rosenkranz an Konrad Niethammer, Dresden vom 8.12.1908. Niethammer, Albert, Das deutsche Volk und der Sonntag. Vortrag, gehalten auf dem 17. Congreß für innere Mission in Dresden am 6. und 7. October 1875, Waldheim 1875; Ders., Das wirtschaftliche und sittlich-religiöse Verhältnis zwischen den Arbeitnehmern u. Arbeitgebern. Vortrag gehalten auf der Pastoral- und Kirchenkonferenz zu Meißen am 21. Juni 1898, Leipzig 1898. Vgl. Verhandlungen der ersten evangelisch-lutherischen Landessynode im Königreich Sachsen 1871, Nr. 2, 12. Mai 1871, S. 17.

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des fast gleichaltrigen Schokoladefabrikanten Otto Rüger (1831–1905) im Lockwitzgrund bei Dresden gezeigt, dessen Familie auch aus Württemberg stammte und auf eine ähnliche Pastorentradition blickte. Auch Rüger heiratete eine evangelisch geprägte Frau – in der Familie von Amalie Uhlich (1837–1900) existierte ebenfalls eine Pfarrertradition – und pflegte im Kreis der Familie eine entsprechende religiöse Praxis: Neben dem gemeinsamen Gottesdienstbesuch las Rüger der Familie beispielsweise jeden Sonntag „erbauende Abschnitte aus der Haus-Postille“ vor. Zudem pflegte auch er enge Kontakte zu den örtlichen Geistlichen, der Pfarrer von Lockwitz hielt bei der Beschenkung der Arbeiterkinder an Weihnachten stets „eine feierliche Ansprache.“ Als Rüger starb, betonte der örtliche Geistliche, ihm sei die Fürsorge für seine Arbeiter mehr als „eine soziale Mode“ gewesen, vielmehr habe er sie als „eine heilige Pflicht“ angesehen.35 Insbesondere in der Verbindung zu kirchlichen Strukturen – beispielsweise durch die Mitgliedschaften in entsprechenden Vereinen und Gremien – besteht ein möglicher Zugang zum Zusammenhang von Religion und Fabrik, der sich auch in anderen sächsischen Unternehmen findet; so konstatierte Erich Dittrich schon 1942, dass das sächsische Pfarrhaus „Ausgangspunkt so mancher tüchtiger Unternehmerpersönlichkeit“ war.36 Die Feier des 100-jährigen Bestehens des Bautzener Kupferhammers im Jahr 1920 begann beispielsweise mit dem gemeinsamen Choral „Lobe den Herrn“, den die über 1.000 Arbeiter intonierten. Im weiteren Verlauf sprach ein Bautzener Pfarrer, dessen „Freundschaft“ für die Unternehmerfamilie explizit erwähnt wurde37 und die sich im Nachlass der Familie so auch spiegelt – so heißt es in einem Nachruf auf den Unternehmenseigner Rudolph Moritz Reinhardt aus dem Jahr 1889, dieser sei „kein Frömmler und Finsterling“ gewesen, „aber er hatte ein tief religiöses Gemüth. [...] Was für ihn Geltung haben sollte, das musste klar, das musste der unnennbaren Größe Gottes und dem Lichte, das er uns gegeben hat, nicht entgegen, das musste fruchtbringend sein.“38 Neben der bisweilen sehr vielseitigen individuellen Religiosität äußerte sich Niethammer auch zum Verhältnis zwischen Religion und Fabrik. So war er als „evangelischer Christ und Protestant“, wie er sich selbst bezeichnete, davon überzeugt, dass „man sich einen guten wirtschaftlichen Betrieb kaum anders denken kann, als daß er auf christlichen Anschauungen aufbaut“;39 eine Einschätzung, die er mit seinem Kompagnon Fritz Kübler teilte – dieser hatte bereits in seiner Antrittsrede als Direktor in der Kriebsteiner Fabrik im Jahre 1855 die gesellschaftliche Bedeutung 35 36

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Rüger, Conrad Georg Frank, Otto Rüger – ein Leben für die Schokoladenindustrie, Stuttgart 1975, S. 3, 16, 49, 57, 87. Dittrich, Herkunft, S. 141. Auch wenn die bisherigen Befunde zum Forschungsfeld christlicher Unternehmenskonzepte Dittrichs Aussage stützen, so gilt es, diesen Zusammenhang noch tiefenschärfer zu analysieren – nicht zuletzt auch im Hinblick auf die konkreten Auswirkungen im unternehmerischen Handeln. Gerade dies unterlässt Dittrich bei den zur Stützung dieser These herangezogenen sächsischen Beispielen. Festschrift zur Feier des 100jährigen Bestehens der Firma C.G. Tietzens Eidam in Bautzen am 9. Oktober 1920, Bautzen 1920, S. 11, 37. Freimaurer-Zeitung 51 vom 21.12.1889. Niethammer, Verhältnis, S. 2.

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einer christlichen Lebensführung jenes Arbeiters hervorgehoben, „welcher seine Pflicht und seine Würde als Mensch und Christ kennt, mit Kopf und Hand im Vertrauen auf Gott arbeitet, in seinem Berufe auch weiter zu kommen sucht und seine freien Stunden, namentlich die Sonntage, weislich benutzt“. Überdies stellte man auch in Kriebstein den eingangs erwähnten Zusammenhang zwischen Produkt und christlicher Botschaft her. Kübler äußerte zumindest 1855 seine Ansicht, „daß die Ausbreitung der Religion rascher und besser vor sich gegangen [ist], seitdem man viel und billiges Papier zum Drucke von Bibeln und religiösen Büchern fabrizieren kann“.40 Die beiden Unternehmensgründer einte folglich auch eine ähnliche religiöse Fundierung – ein Konsens, aus dem sie ähnliche Ableitungen für die Organisation ihrer Fabriken trafen.

II. Religiöse Ableitungen von Gemeinsinn für das Unternehmen Für Albert Niethammer bildeten seine Glaubensvorstellungen die Grundlage zur Herleitung der hierarchischen Struktur der Gesellschaft, die spiegelbildlich auch in seinem Unternehmen zu finden war. So war er beispielsweise der Auffassung, „daß allen Religionen der eine Glaube an eine sittliche Weltordnung und das Bedürfniß der Übertragung dieser Ordnung auf die gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen unter sich zu Grunde liegt“, wovon er direkt die „Unterordnung des Individuums“ ableitete.41 Religion gab dem Unternehmer Niethammer folglich eine Struktur gesellschaftlicher Abhängigkeit vor, die in erster Linie seine Position im Unternehmen bestätigte und festigte – der Rekurs auf die unverfügbare göttliche Ordnung stellte ihn als Zentrum der Fabrikgemeinschaft gleichsam unverfügbar. Seine religiöse Vorstellungswelt stand damit in einem engen Zusammenhang mit der patriarchalischen Leitung seiner Betriebe, die in Familienunternehmen des 19. Jahrhunderts keineswegs eine Besonderheit darstellte.42 Hinsichtlich der Sozialisation Albert Niethammers erscheint dies aber durchaus als ein bedenkenswerter Aspekt, da die Grundlagen patriarchalischer Unternehmensorganisation offenbar nicht in jedem Fall oder nicht im absoluten Sinne aus der vormodernen Arbeitswelt herleitbar 40 41

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Alle Zitate in: Anrede an die Arbeiter der Gustav Pohl’schen Papierfabrik in Waldheim von Director Friedrich Kübler bei der Übernahme seiner Stelle am 15. October 1855, Waldheim 1855, S. 4, 6f. Beide Zitate in: SWA, U 47, 593, Undatiertes Manuskript. Gerade an dieser Ansicht zeigt sich die stark religiöse und vor allem vormoderne Prägung Niethammers. Die von den Arbeitern verlangte Einordnung in die Gesellschaft und die Akzeptanz der eigenen Rolle galten hier im eigentlichen Sinne auch für ihn selbst und standen damit konträr zu den Emanzipationsbestrebungen des liberalen Bürgertums. Vgl. hierzu Barran, Jördis, Zwischen Ethik und Interesse. Soziale und pädagogische Motive der Gründer der Farbenwerke Hoechst AG, Frankfurt am Main 1997, S. 162. Vgl. hierzu Wischermann, Clemens, Unternehmenskultur, Unternehmenskommunikation, Unternehmensidentität, in: Ders. (Hrsg.), Unternehmenskommunikation deutscher Mittel- und Großunternehmen. Theorie und Praxis in historischer Perspektive, Münster 2003, S. 21–40, hier S. 22.

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sind. Vielmehr scheint es hier Anknüpfungspunkte an das lutherische Hausväterverständnis43 und die in Webers „Protestantischer Ethik“ beschriebenen Phänomene zu geben. Überdies sind aber gerade bei Niethammer und dessen patriarchalischem Unternehmenskonzept noch weitere Einflüsse erkennbar, die diese Fabrikorganisation bedingt haben dürften – hier vor allem seine bürgerliche Herkunft aus einer Beamtenfamilie sowie die vormoderne Prägung des Umfeldes und damit vor allem der Arbeiter der Kriebsteiner Fabriken durch die adligen Rittergüter Ehrenberg und Kriebstein.44 Religion stellte für Albert Niethammer folglich nicht nur einen Ansatz zur Lösung gesellschaftlicher Probleme dar. Sie war vielmehr auch ein Mechanismus, um die bestehende Ordnung – im Staat wie im Unternehmen – zu bestätigen. Und jene Ordnung wies laut Niethammer jedem Mitglied eine bestimmte Rolle zu, die stets auf die Gemeinschaft ausgerichtet war. Während Niethammer hiervon eine Verantwortung der Arbeitgeber für ein direktes Verhältnis zum Arbeitnehmer ableitete, übertrug er den Arbeitern vor allem die „Aufgabe treuer Pflichterfüllung“.45 Für die Arbeiter hieß dies, dass sie die Arbeit als eine „heilige Sache“ verstehen sollten, „denn durch die Arbeit werden die körperlichen und sittlichen Kräfte des Menschen geweckt und für ihn und die Gesamtheit nutzbar gemacht“.46 Dieser nüchternen, besonders dem Pietismus eigenen Arbeitsethik setzte Albert Niethammer 1885 ein regelrechtes Denkmal, als er im Kriebsteiner Stammwerk eine Glocke mit der Aufschrift „Bete und arbeite“ anbringen ließ. Die Glocke läutete zum Schichtwechsel morgens und abends mit der Bestimmung, „durch das Ein- und Ausläuten der Arbeit die Gedanken zu dem Ewigen zu erheben.“47 Gleichzeitig wohnte dem Ansatz Niethammers auch eine gemeinsinnige Vorstellung inne, die auf die Bildung einer Gemeinschaft ausgerichtet war. Und gerade das religiöse Fundament dieser Gemeinschaft versuchte Albert Niethammer immer wieder bewusst zu inszenieren. So fand im Rahmen des 50-jährigen Jubiläums des Unternehmens 1906 in Waldheim ein gemeinsamer Gottesdienst mit allen Arbeitern statt, über den berichtet wurde: „Der Jubilar hat an seinem 50jährigen Ehrentage für seine Erfolge nicht sich selbst gepriesen, sondern Gott gedankt und um seinen weiteren Segen für seine in der Kirche

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Vgl. hierzu Jähnichen, Traugott, Vom Industrieuntertan zum Industriebürger. Der soziale Protestantismus und die Entwicklung der Mitbestimmung (1848–1955), Bochum 1993, S. 40–54; Schmidt, Heinrich R., Hausväter vor Gericht. Der Patriarchalismus als zweischneidiges Schwert, in: Dinges, Martin (Hrsg.), Hausväter, Priester, Kastraten. Zur Konstruktion von Männlichkeit in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, Göttingen 1998, S. 213–236, hier S. 214–218; Janz, Oliver, Das evangelische Pfarrhaus, in: François, Étienne/Schulze, Hagen (Hrsg.), Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 3, München 2001, S. 221–238, hier vor allem S. 223f. Vgl. hierzu v. a. Staatsarchiv Leipzig, Vorwort zu den Findbüchern Rittergut Kriebstein und Ehrenberg. Niethammer, Verhältnis, S. 11. Niethammer, Volk, S. 6f. SWA, U 47, 1480/7, Schreiben Horst Niethammers an Wilhelm Niethammer, Gröditz vom 21.4.1933; Papier aus Kriebstein, S. 43.

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um ihn versammelte große Arbeiterfamilie gebeten“,48 was sich in ähnlicher Diktion auch in den Festschriften anderer Unternehmen findet, so beispielsweise in der des schon erwähnten Kupferhammers Bautzen.49 Diese religiöse Fundierung der Gemeinschaft bei Kübler & Niethammer kommunizierte der Unternehmer über verschiedene Mechanismen in die Betriebe. Dies geschah einerseits über Inszenierungen: Die erwähnten frommen Sprüche der Fabrikantenvilla fanden sich auf den Wänden der Fabriken und sogar auf den Maschinen. Zum anderen etablierte Niethammer ein ‚System der Belohnung’ des christlichen, in seiner Sicht richtigen Lebenswandels. Schließlich wurden religiöse Handlungen, etwa die kirchliche Eheschließung von Arbeitern oder die Konfirmation von Arbeiterkindern, durch das Unternehmen finanziell oder durch Geschenke wie obligatorische Traubibeln honoriert.50 Überdies wurden Dresdner Diakonissen51 als Fabrikschwestern eingestellt, auch initiierte Niethammer Sakralbauten – so ließ er 1889 in Gröditz, wo sich die Zellulosefabrik der Firma befand, eine Kirche mit Friedhof errichten.52 1894/95 wurde zudem die nahe dem Stammwerk Kriebstein liegende Kirche Beerwalde renoviert und mit neuem Gestühl und einer neuen Orgel ausgestattet. Und gerade diese Ausdrucksformen eines Zusammenhangs von Religion und Fabrik lassen sich auch in anderen Unternehmen nachweisen: 1901 richtete der ebenfalls evangelisch geprägte Papierfabrikant Max Schroeder in seiner Fabrik im mittelsächsischen Golzern einen Betsaal ein, „damit Gottesfurcht und Glaube in den Herzen seiner Beamten und Angestellten wie in deren Häusern eine gute Stätte fände“53. Und auch er verteilte wie Niethammer christliche Zeitschriften an seine Arbeiter. Ähnlichen lebensweltlichen Intentionen folgten die sozialen Einrichtungen der Tuchfabrik Herrmann im sächsischen Bischofswerda – eine Abendmahlstiftung belohnte den christlichen Lebenswandel, der auch den jungen Arbeitern in Form von „angemessener Konfirmationskleidung“ suggeriert wurde.54 Und die bereits erwähnten Diakonissen arbeiteten auch in anderen sächsischen Unternehmen: Das vom Landesverein für Innere Mission Sachsen 1902 publizierte „Handbuch der Liebesthätigkeit“ verweist beispielsweise auf acht Betriebskindergärten, in denen 48 49 50 51 52 53

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Böhmert, Victor, Die Papierfabriken der Firma Kübler & Niethammer in Kriebstein und ihr 50jähriger Betrieb von 1856–1906, in: Der Arbeiterfreund. Zeitschrift für die Arbeiterfrage 24 (1906), S. 1–22, hier S. 21f. Vgl. Festschrift, S. 15. Vgl. SWA, U 47, 463/3, Bekanntmachung vom 26.4.1887; Sonderabdruck, S. 3. Vgl. hierzu Renger-Berka, Peggy, Zwischen Erweckungsbewegung und Neuluthertum. Das Dresdner Diakonissenhaus in den ersten 30 Jahren seines Bestehens, in: Kranich/ Dies./Tanner, Diakonissen – Unternehmer – Pfarrer, S. 35–46. Vgl. SWA, U 47, 1349, Vollmacht Albert Niethammers für Carl Gasterstädt, Gröditz vom 4.2.1889. Predigt beim Trauergottesdienst zu Ehren des am 23. Mai 1901 in Grimma entschlafenen Herrn Kirchenpatrons, Kommerzienrat Max Adolf Schroeder, Ritter I. Kl. D. K. S. A. O. im Betsaal zu Bahren am Trinitatisfeste gehalten von Pf. Dr. Otto, Hohnstädt, Grimma 1901, S. 7. Vgl. F.G. Herrmann & Sohn Fein-Tuchfabrik (Geschichten um Bischofswerda 45), Bischofswerda 2008, unpag.

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Dresdner Diakonissen als Kindergärtnerinnen angestellt waren;55 ein Phänomen, das sich auch außerhalb Sachsens findet, so etwa in den Borsigwerken in Hindenburg, wo 1902 eine fabrikeigene Diakonissenstation mit zwei Schwestern bestand.56

III. Zwischen Konflikt und Konsens Geht man vom Ansatz Albert Niethammers aus, dass eine Fabrikgemeinschaft christlich definiert werden konnte, so muss zwangsläufig nach der Rezeption der durch verschiedene Mechanismen und Institutionen in das Unternehmen getragenen christlichen Wertvorstellungen gefragt werden – und damit eben nach dem Verhältnis von Konflikt und Konsens. Und gerade diese Kommunikation der christlichen Fundierung offenbart dann am Beispiel Kriebstein die klare Sanktionierung des aus Unternehmersicht abweichenden Verhaltens, wobei insbesondere auf politische Gesinnung und Konfession geachtet wurde. So wurde 1895 beispielsweise ein Kriebsteiner Arbeiter nicht für seine langjährige ununterbrochene Tätigkeit im Unternehmen ausgezeichnet, weil es sich bei ihm nach Niethammers Ansicht um einen „ausgefeimten Jesuiten und verkappten Sozialdemokraten“57 handelte. Hieran wird vor allem deutlich, dass bei Kübler & Niethammer die konfessionelle Zugehörigkeit und auch politische Ansichten im Hinblick auf bestimmte, religiös fundierte Auffassungen menschlichen Zusammenlebens ein integraler Bestandteil der Auswahlkriterien zusätzlicher betrieblicher Sozialleistungen waren. Und dass die Verteilung dieser Leistungen keineswegs nur auf Inklusion und die Herstellung einer ‚Gemeinschaft’ ausgerichtet waren. Religiosität stellte in diesem Unternehmen demnach eine grundlegende Wertvorstellung dar, die Albert Niethammer als Teil einer gemeinsamen Unternehmenskultur verstand.58 Um jenen vielleicht gar nicht in der Tiefe gegebenen religiösen Konsens zu inszenieren, nutzte Niethammer folglich auch Konflikte – in dem Fall das im konfessionell weitgehend homogenen Sachsen eher ungewöhnliche Abweichen der Religionszugehörigkeit. Wie weit die Akzeptanz anderer Konfessionen oder Religionen bei Albert Niethammer reichte, vermag ein weiteres Beispiel zu zeigen. 1898 wies Niethammer die Kritik zurück, man müsse in einem Unternehmen aus Rücksicht auf die verschiedenen Konfessionen den evangelischen Glauben zurückstellen. In Bezug auf die Juden stellte er fest, dass es in Sachsen genügend jüdische Geschäfte gebe, in denen alle jüdischen Arbeiter auch Beschäftigung finden könnten. Dass sie dennoch in „christlichen Unternehmen“ arbeiteten, „beweist […] auf beiden Seiten nach meiner Meinung eine gewisse Gleichgültigkeit“. Der Katholizismus sei hingegen in manchen Regionen Sachsens stark vertreten, was allerdings für die Rücksichtnahme auf „das 55 56 57 58

Vgl. Landesverein für Innere Mission (Hrsg.), Handbuch der Liebesthätigkeit im Königreich Sachsen, Dresden 1902, S. 109–135. Vgl. Krause, Max, A. Borsig Berlin 1837–1902. Festschrift zur Feier der 5000ten Lokomotive, Berlin 1902, S. 123. SWA, U 47, 969, Schreiben Konrad Niethammers an Carl Gasterstädt vom 21.8.1895. Vgl. hierzu Steinberg, Jubiläen, S. 226.

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konfessionelle Bedürfnis“ kein Problem darstelle. „Ich habe unter meiner Arbeiterschaft ein paar Katholiken, welche, so viel mir bekannt, die evangelische Kirche besuchen, eine evangelische Frau heiraten und sich im gegebenen Fall auch evangelisch trauen lassen. Ihnen gegenüber scheint eine Rücksicht nicht notwendig.“59 So betrachtet gab es dann natürlich in konfessioneller Hinsicht auch keine Konflikte. Und Niethammer wusste dies mit solchen Äußerungen auch entsprechend zu steuern – das letztgenannte Zitat stammte aus einem der erwähnten Vorträge, die er unter seinen Arbeitern verteilte. Möglicherweise waren solch restriktive Maßnahmen nur in ländlichen, mithin religiös homogenen Regionen möglich.60 Denn im Bautzener Kupferhammer findet sich keine Sozialmaßnahme, die auf die gezielte Förderung eines christlichen Lebenswandels hindeutet, ebenso fehlen Belege für entsprechende Disziplinierungen; dafür war die Stadt zu groß; sie hatte um 1900 mit ca. 10 Prozent eine erkennbare katholische Bevölkerung,61 die sich vermutlich auch in der Belegschaft des Kupferhammers abbildete. Eine dem Unternehmenseigner Reinhardt zugeschriebene Charaktereigenschaft deutet aus diesen Faktoren heraus auf ein weitaus moderateres Verhältnis hin, als es beispielsweise Niethammer vertrat: Denn Reinhardt habe „mit Männern, die in religiöser Hinsicht nicht mit ihm übereinstimmten, wenn sie nur sonst gute und aufrichtige Menschen waren, in herzlicher Freundschaft gestanden“.62 An diesen Beispielen wird vor allem deutlich, dass in der Sozialisation der Arbeiter und des Unternehmensumfeldes ein Schlüssel für die Analyse christlich-unternehmerischer Vergemeinschaftungskonzepte liegt. Und diese leiten sich von der Lage des Unternehmens ab, hatten doch gerade ländlich gelegene Unternehmen, auch wenn sie bei der betrieblichen Expansion bisweilen mit massiven Arbeitskräfteproblemen konfrontiert waren, weit weniger ‚Probleme’ mit der vor allem im ,roten Königreich’ Sachsen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Platz greifenden Emanzipation der Arbeiter.63 Allerdings ist bisher über Lebenswelt oder Frömmigkeitspraxis der ländlichen Bevölkerung Sachsens im 19. Jahrhundert wenig

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Niethammer, Verhältnis, S. 19. In diese Richtung deuten auch die Befunde von Karl-Heinz Gorges, der den Standort von Villeroy & Boch in Mettlach an der Saar als „eine in sich geschlossene Region mit einer bodenständigen katholischen Bevölkerung“ beschreibt. Auch hier existierte folglich ein religiös homogenes Fabrikumfeld, in dem sich die als Betriebsgrundlage gefassten christlichen Wertvorstellungen bestätigt haben. Gorges, Industriebetrieb, S. 5. Vgl. hierzu Seifert, Siegfried, Die katholische Kirche nach der Reformation, in: Stadtarchiv Bautzen (Hrsg.), Von Budissin nach Bautzen. Beiträge zur Geschichte der Stadt Bautzen, Bautzen 2002, S. 110–121. Freimaurer-Zeitung 51, 1.12.1889. Vgl. hierzu Karsten, Rudolph, Die sächsische Sozialdemokratie vom Kaiserreich zur Republik (1871–923), Köln/Weimar/Wien 1995; Ders., Das „rote Königreich“: Die sächsische Sozialdemokratie im Wilhelminischen Deutschland, in: Lässig, Simone/Pohl, Karl-Heinrich (Hrsg.), Sachsen im Kaiserreich. Politik, Wirtschaft und Gesellschaft im Umbruch, Weimar/Köln/Wien 1997, S. 87–99.

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bekannt,64 ebenso steht die Untersuchung von entsprechenden Organisationen und Institutionen der christlichen Arbeiterkulturbewegung noch aus.65 Und gerade in Bezug auf diese Prägung gilt es, genauer zu differenzieren bzw. diese insbesondere für ländliche Regionen noch detailliert herauszuarbeiten. So berichtete 1902 der sozialreformerische Theologe Paul Drews (1858–1912), in der Arbeiterwohnung im sächsischen Erzgebirge könne man „neben dem schön gestickten frommen Haussegen eine Photographie Lasalles finden, […] König Albert und Bebel oder Liebknecht zieren oft friedlich nebeneinander dieselbe Wand.“66 Dieses Beispiel zeigt, dass ‚der christliche Unternehmer’ und die entsprechenden christlichen Vergemeinschaftungskonzepte nur dann Kontur bekommen, wenn die Bedeutung von Religion für die Arbeiter als Trägergruppe der Unternehmenskultur eingehend analysiert und die hier angeführten, vielleicht auch nur vermeintlichen Konfliktlagen aufgelöst werden.

V. Schlussbetrachtung Ziel dieses Beitrages war es, Funktionsfelder und Funktionsweisen christlicher Organisationsansätze innerhalb des sozialen Arrangements Unternehmen offenzulegen. Mit Blick auf die formulierte Definition christlicher Unternehmer bleibt zunächst festzuhalten, dass Religiosität, jedenfalls in der ersten Phase der Industrialisierung, sicherlich keine Besonderheit einer Unternehmerpersönlichkeit darstellte. Allerdings gab es, wie anhand der angeführten Beispiele deutlich wurde, in der Tat Unternehmer, die einen direkten Zusammenhang zwischen individuellen Glaubensvorstellungen und der Organisation ihrer Fabriken herstellten und die Religionszugehörigkeit als integralen Bestandteil einer in dem Falle christlich konnotierten Unternehmenskultur verstanden. Die angeführten Beispiele haben dabei gezeigt, dass zur Rekonstruktion dieses Zusammenhangs der Bereich der individuellen Religiosität der handelnden Unternehmer zwar zwangsläufig in den Blick genommen werden muss; dies nicht zuletzt, da sich hierin auch ‚religiöse Spielarten’ verbergen können,67 64

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Vgl. hierzu Paul Drews, Das kirchliche Leben der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche des Königreichs Sachsen, Tübingen/Leipzig 1902, S. 347–375. Dies gilt auch für andere Industrieregionen Deutschlands. Vgl. für Oberschlesien Bjork, James, Industrial Piety. The Puzzeling Resilience of Religious Practice in Upper Silesia, in: Geyer, Michael/Hölscher, Lucian (Hrsg.), Die Gegenwart Gottes in der modernen Gesellschaft. Transzendenz und religiöse Vergemeinschaftung in Deutschland (Bausteine zu einer europäischen Religionsgeschichte im Zeitalter der Säkularisierung 8), Göttingen 2006, S. 144–176 sowie für das Ruhrgebiet Tenfelde, Klaus, Religion und Religiosität der Arbeiter im Ruhrgebiet, in: Ders. (Hrsg.), Religion in der Gesellschaft. Ende oder Wende?, Essen 2008, S. 9–38. Vgl. hierzu Steinberg, Swen, Christlich, liberal, sozialistisch. Zur Geschichte der Bautzener Gewerkschaften im Deutschen Kaiserreich (1871–918), in: Neues Lausitzisches Magazin 12 (2009), S. 95–120. Drews, Leben, S. 354. Vgl. für den Pietismus die Beispiele bei Kriedte, Wirtschaft, S. 601–607.

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die – wie im Falle Niethammer – den zugrunde liegenden Organisationszusammenhang erklären bzw. deutlicher machen können. Es zeigt sich aber auch, dass es im Bereich der betrieblichen Sozialpolitik stärker zu differenzieren gilt, finden sich doch gerade hier religiöse Ausdrucksformen mit zumeist erzieherischem Impetus, die ebenfalls Rückschlüsse auf entsprechende Unternehmenskonzeptionen zulassen. Schließlich wurde die Einrichtung eines Betriebskindergartens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend sozialpolitische Normalität in den Unternehmen – hinter den zur Erziehung der Arbeiterkinder angestellten Dresdner Diakonissen stand allerdings ein anderes Gesellschaftsbild als bei Kindergärtnerinnen mit Ausbildung an einer staatlichen Einrichtung. Und wie eine solche, christlich konnotierte betriebliche Sozialmaßnahme wirken sollte, dies beschrieb beispielsweise Albert Niethammer 1898 selbst, als er betonte, dass die Diakonisse „zunächst zwar nur als Krankenpflegerin Dienste leisten soll, aber in dieser Stellung auf die Gestaltung des Lebens in den Arbeiterfamilien einen höchst wohlthätigen Einfluß ausübt“.68 Bislang lässt sich die Frage, ob die christlich fundierte Organisation eines Unternehmens eine stabilisierende, gewinnbringende oder sozial befriedende war, noch nicht beantworten. Das Beispiel Niethammer deutet allerdings auf zwei Wirkungsfelder hin, in denen zweifelsohne für den Unternehmer positive Effekte erzielt wurden: Zum einen war die Religiosität Grundlage für ein patriarchalisches Führungskonzept, welches die Struktur von Abhängigkeit und Loyalität determinierte. Dem religiösen Ansatz wohnte damit eine Ordnungs- und Stabilisierungsleistung inne, die mit Blick auf das Funktionieren der Fabriken wie auch der Bindung („Treue“) zweifelsohne positiv wirkte – durch eine Definition von Gemeinschaft bzw. den damit verbundenen religiösen Wertekonsens sollten Konflikte verhindert werden. Zum Zweiten deuten die politischen und in dem Falle obrigkeitsstaatlichen Ableitungen auch darauf hin, dass der religiös fundierte Organisationsansatz gesamtgesellschaftliche Bezüge aufwies und die hier bestehende Ordnung legitimieren und stärken sollte – wodurch beispielsweise horizontale Organisationsbestrebungen der Arbeiter unterbunden wurden. In dieser Hinsicht waren christliche Gemeinsinnsvorstellungen folglich auch geeignet, das Verhältnis von Konflikt und Konsens auszutarieren bzw. die besondere Situation der weitgehend konfessionellen Homogenität Sachsens gruppenkonstituiv-stablisierend zu nutzen. Um Funktionsweise, Effektivität und Grenzen des Zusammenhangs zwischen Religion und Fabrik detaillierter zu erfassen, bedarf es weiterer Vergleichsstudien, welche die möglicherweise gruppenspezifischen Handlungsmuster offenlegen können. Erst der Ausbau dieses komparatistischen Feldes wird dann die Wirkung christlicher Unternehmenskonzepte deutlich und die christlichen Unternehmer als Gruppe erkennbar machen können. Möglicherweise lassen sich dann auf der Grundlage breiterer Befunde die hier vorgestellten Schwerpunkte zu einem tatsächlichen Analysekonzept für christliche, oder besser: für religiöse Organisationsansätze ausbauen. Diese Systematisierung sollte dann auch andere konfessionelle Gemengelagen und generell auch andere Konfessionen umfassen. Und sie sollte keinesfalls ausschließ68

Niethammer, Verhältnis, S. 10.

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lich von dem hier mehr oder minder gestärkten Ansatz des zweiten konfessionellen Zeitalters ausgehen,69 deuten die Beispiele doch an, dass Religion in zahlreichen sächsischen Unternehmen des 19. Jahrhunderts als „unsichtbare Ordnungsmacht“ fungierte.70 Diesen Unternehmen steht aber einerseits eine große Unternehmensgruppe entgegen, in der dies nicht der Fall war. Und andererseits gab es auch Unternehmen, in denen christliche Gemeinsinnsvorstellungen im Sinne der Säkularisierungsthese für das 19. Jahrhundert tatsächlich bedeutungslos wurden. Zumindest erscheint es bemerkenswert, dass im Gröditzer Eisenwerk – einer 1779 durch den in pietistischer Tradition stehenden Grafen Detlev von Einsiedel (1773–1861) gegründeten Fabrik – 1858 die tägliche „Betstunde für die Werksangestellten“ abgeschafft wurde;71 ein Beispiel also, das zum Konzept Niethammer zeitlich parallel liegt, diesem im Ansatz der christlich definierten Betriebsgemeinschaft aber vollständig entgegensteht. Solchen Gegensätzen gilt es durch eine detailliertere Erforschung des Zusammenhangs von Konfession und Fabrik in Zukunft verstärkt nachzugehen.

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Vgl. hierzu Blaschke, Olaf, Der „Dämon des Konfessionalismus“. Einführende Überlegungen, in: Ders. (Hrsg.), Konfession im Konflikt. Deutschland zwischen 1800 und 1970: ein zweites konfessionelles Zeitalter, Göttingen 2002, S. 13–69. Kritisch hierzu Steinhoff, Anthony J., Ein zweites konfessionelles Zeitalter? Nachdenken über die Religion im langen 19. Jahrhundert, in: Geschichte und Gesellschaft 30 (2004), Heft 4, S. 549–570. Müller, Winfried, Konfession als unsichtbare Ordnungsmacht. Konfessionskulturelle Ausprägungen und Differenzen historischer Erinnerungskonstruktionen, in: Melville, Gert (Hrsg.), Das sichtbare und das Unsichtbare der Macht. Institutionelle Prozesse in Antike, Mittelalter und Neuzeit, Köln/Weimar/Wien 2005, S. 45–66, hier S. 45. Vgl. Die Geschichte des Eisenwerkes Gröditz, Zweigwerk der Aktiengesellschaft Lauchhammer in Lauchhammer 1779 bis 1915, Niedersedlitz 1916, Abschnitt Historische Daten aus der Geschichte des Eisenwerkes Gröditz, Eintrag 1858.

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Die Autorinnen und Autoren

Lutz Bannert M.A., Sonderforschungsbereich 804 „Transzendenz und Gemeinsinn“ der TU Dresden, Teilprojekt G Dr. Stefan Dornheim, Sonderforschungsbereich 804 „Transzendenz und Gemeinsinn“ der TU Dresden, Teilprojekt G Dr. Wolfgang Flügel, Reformationsgeschichtliche Sozietät der Universität HalleWittenberg Prof. Dr. Dagmar Freist, Professorin für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Universität Oldenburg Dr. Stefan Gerber, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts an der Universität Jena Dr. Mathis Leibetseder, Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin Dr. Kornél Magvas, Evangelisches Kreuzgymnasium Dresden Dr. Silke Marburg, Historikerin, Dresden Prof. Dr. Josef Matzerath, ao. Professor für Geschichte an der TU Dresden Dr. Frank Metasch, Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde Dresden Prof. Dr. Winfried Müller, Professor für Sächsische Landesgeschichte an der TU Dresden PD Dr. Gerhard Poppe, Katholische Akademie des Bistums Dresden-Meißen PD Dr. Ulrich Rosseaux, Geldgeschichtliche Sammlung der Deutschen Bundesbank Frankfurt am Main, bis 2010 Hochschuldozent für Neuere Geschichte und Sächsische Landesgeschichte an der TU Dresden Prof. Dr. Alois Schmid, Professor für Bayerische Geschichte und vergleichende Landesgeschichte an der Universität München Prof. Dr. Gerd Schwerhoff, Professor für Geschichte der Frühen Neuzeit an der TU Dresden Swen Steinberg M.A., Sonderforschungsbereich 804 „Transzendenz und Gemeinsinn“ der TU Dresden, Teilprojekt G Dr. Klaus Wolf, Historiker, Görlitz

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