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German Pages 444 [446] Year 2023
Kompromissfindung in der Literatur und Kultur des Mittelalters
Kompromissfindung in der Literatur und Kultur des Mittelalters
Strategien und Narrative zwischen Zweifel, Dissens und Aporie Herausgegeben von Christiane Witthöft Unter redaktioneller Mitarbeit von Sandra Hofert
Gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) (Projektnummer 419298316)
ISBN 978-3-11-079222-5 e-ISBN (PDF) 978-3-11-079273-7 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-079280-5 Library of Congress Control Number: 2023940905 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2023 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Coverabbildung: francescoch / iStock / Getty Images Plus (#1207310171) Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Vorwort Die Idee für das Thema dieses Sammelbandes, der die Ergebnisse einer interdisziplinären Tagung aus dem Herbst 2021 präsentiert, lässt sich auf zwei Ursprünge zurückführen: Der eine, aktuellere liegt in dem DFG-Projekt ‚Literarischer Zweifel. Skeptizismus und das Dilemma der Wahrheitsfindung in der mittelhochdeutschen Epik (12. bis 14. Jahrhundert)‘ und einem damit einhergehenden Forschungssemester, das es mir ermöglichte, den Blick über das Phänomen des Zweifels und des Skeptizismus auf das gesellschaftlich relevante Feld des Kompromisses zu lenken. Der andere ‚Ursprungsmythos‘ beginnt weitaus früher im Kontext meines Studiums in Bonn und insbesondere im Rahmen des Münsteraner Sonderforschungsbereiches 496 über ‚Symbolische Kommunikationsformen und gesellschaftliche Wertesysteme vom Mittelalter bis zur französischen Revolution‘. Hier wurde mein Interesse an gesellschaftspolitisch relevanten Fragen und den gütlichen Konfliktlösungsmechanismen in der Literatur und Kultur des Mittelalters durch Prof. Dr. Gerd Althoff geweckt und geprägt. Im Zwischenraum der Disziplinen gewährte mir Gerd Althoff beständig einen größtmöglichen Freiraum für eigene Gedanken und stellte die wesentlichen Weichen für meinen weiteren Weg in die Wissenschaft. In großer Verbundenheit und als ein Zeichen meines tiefen Dankes sei ihm dieser Band zu seinem runden Geburtstag in diesem Jahr gewidmet. *** Abschließend möchte ich an dieser Stelle weiteren Dank aussprechen: Zum einen bei den Beitragenden und Moderierenden, die durch ihre anregenden Vorträge und Diskussionen das thematische Spektrum in seiner ganzen Vielfalt zum Leben erweckt haben. Zudem habe ich sowohl für die Organisation der Tagung als auch für die Drucklegung des Bandes mannigfaltige und große Unterstützung erfahren: Ein Dank für die finanzielle Unterstützung gilt der Deutschen Forschungsgemeinschaft, deren großzügige Förderung die Tagung und den Band ermöglichte. Ein Dank geht auch an den De Gruyter Verlag, namentlich an Eva Locher und Robert Forke, für die sehr gute Zusammenarbeit. Helfende Hände und mitdenkende Köpfe gab es zudem zahlreiche, besonders möchte ich mich bei Johann Roch für seine gelungene Projektarbeit und bei Altyn Trummer für ihr organisatorisches Engagement bedanken. Für die zahlreichen redaktionellen Mithilfen geht mein großer Dank an Sandra Hofert und Sarah Scharrer. Nürnberg, im Juli 2023
Christiane Witthöft
Inhalt Christiane Witthöft Im Zweifel für den Kompromiss: Einige konzeptionelle Überlegungen zur Einführung
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I Religiöser Zweifel und Kompromiss Susanne Köbele Zugeständnisse der Vernunft: Der Zweifel als Möglichkeitssinn bei Raimundus Lullus
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Gerd Althoff Wie artikuliert sich im Mittelalter Zweifel am Eingreifen Gottes in die Welt? 77 Jörg Oberste Wer ist ein Ketzer? Öffentliche Wahrheitssuche und individuelle Glaubenszweifel in Streitgesprächen zwischen Kirchenleuten und Andersgläubigen in Okzitanien 93 um 1200 Bruno Quast Heilige Kompromisse: Über Dilemmata im Marienleben Bruder Philipps
121
Coralie Rippl Zu spät? Eine komparatistische Studie zu Zeit-Aspekten des Zweifel(n)s bei Konrad von Heimesfurt und in der Brandanlegende 135 Beatrice Trînca Zensur und Kompromiss: Elsbeth von Oye, Offenbarungen
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VIII
Inhalt
II Politischer Kompromiss und Zweifel / Aporie Hermann Kamp Kompromisse vor dem Kompromiss: Friedensstiftung im hohen Mittelalter
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Claudia Garnier Von Mittlern und Sühneleuten: Konflikt und Kompromiss im spätmittelalterlichen Kurköln
233
Andreas Fischer Verzicht vor der Entscheidung: Das compromissum in der ars notariae und im Kirchenrecht des 261 13. Jahrhunderts Michael Grünbart Eindeutige Wege aus der Aporie: Strategien kaiserlichen Entscheidens in Byzanz
279
III Literarischer Zweifel und Kompromiss (Erzählen als Kompromiss) Florian Kragl Kompromittierender Zweifel und Verzweifeln am Kompromiss: Vergils Götterszenen und ihre Rezeption in den Eneasromanen des 12. Jahrhunderts 295 Andreas Hammer Heroische Kompromisse? Über Kompromiss(losigkeit) in der Heldenepik
355
Friedrich Michael Dimpel Fort mit Lehrmeinungen: Zum zweifelhaften Widerruf von Trevrizent im Parzival
379
Lea Braun Arbeit an der Zukunft: Prophetische Voraussagen als Motor von Erkenntnis- und Entscheidungsprozessen in der mittelhochdeutschen Literatur um 1200 (Nibelungenlied und Parzival) 405 Register (Autoren, Werke, Personen/Figuren)
435
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Im Zweifel für den Kompromiss: Einige konzeptionelle Überlegungen zur Einführung Doch so laufen die Dinge nicht. Vielmehr müssen immer neue Kompromisse ausgehandelt werden. Man schließt mehr als einen Vertrag in seinem Leben, mehr als einen Frieden.¹
‚Zweifel, Dissens und Aporie‘ – diese begriffliche Triade verheißt auf den ersten Blick nichts Gutes. Auf den zweiten aber bieten gerade widerstreitende und aporetische Positionen Anlass für durchaus konstruktive, zweifelbasierte Reflexionsvorgänge, die Kompromisse zur Folge haben können. Diese ‚Janusköpfigkeit‘ des Zweifelns und Streitens ist daher Anlass, die epochenspezifische Relevanz und Akzeptanz vormoderner Strategien der Kompromissfindung in der mittelalterlichen Kultur und Literatur zu konturieren: sei es als kulturelle Technik, ethische Handlungsnorm oder literarische Argumentationsstrategie in religiösen, ästhetischen, (gesellschafts‐)politischen und rechtshistorischen Diskursen. Von Interesse ist dafür insbesondere der Zweifel (mhd. zwî-fel) in seiner relevanten Bedeutung eines abwägenden Prüfens und Hinterfragens in Vorgängen des Wählens, Unterscheidens und Beurteilens, ja als Methodik der Urteils- und Entscheidungsfindung.² Der vorliegende Band steht somit im thematischen Kontext des DFG-Projektes ‚Li-
Anmerkung: Unter dem Titel ‚Zwischen Zweifel, Dissens und Aporie: Strategien und Narrative der Kompromissfindung in der mittelalterlichen Literatur und Kultur‘ fand die interdisziplinäre Tagung vom 28. bis 30. September 2021 im Kloster Irsee statt. 1 Michel de Montaigne: Über den Dünkel. In: Ders.: Essais. Erste moderne Gesamtübersetzung von Hans Stilett. Frankfurt a. M. 1999, 2. Buch, Kap. 17, S. 314–329, hier S. 322. 2 Vgl. in Auswahl: Dorothea Weltecke: „Der Narr spricht: Es ist kein Gott“. Atheismus, Unglauben und Glaubenszweifel vom 12. Jahrhundert bis zur Neuzeit. Frankfurt a. M. 2010 (Campus Historische Studien 50), bes. S. 1–22 und S. 257–448; Dominik Perler: Zweifel und Gewissheit. Skeptische Debatten im Mittelalter. 2., durchges. Aufl. Frankfurt a. M. 2012, hier bes. S. 1–31; Walter Dietz: Wahrheit – Gewißheit – Zweifel. Theologie und Skepsis. Studien zur theologischen Auseinandersetzung mit der philosophischen Skepsis. Frankfurt a. M. 2013, bes. S. 37–67; Stefan Lorenz: Art. Zweifel. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 12. Hrsg. von Joachim Ritter, Karlfried Gründer. Berlin 2004, Sp. 1520–1527, hier Sp. 1520; Hans-Georg Gradl: Glaubwürdiger Zweifel. Neutestamentliche Portraits. In: Glaube und Zweifel. Das Dilemma des Menschseins. Hrsg. von dems. [u. a.]. Würzburg 2016, S. 55– 94, hier S. 57; Melanie Beiner: Art. Zweifel. I. Systematisch-theologisch. In: Theologische Realenzyklopädie. Bd. 36. Hrsg. von Gerhard Krause, Gerhard Müller. Berlin/New York 2004, S. 767–772, bes. S. 767 f.; Sabina Flanagan: Doubt in an Age of Faith: Uncertainty in the Long Twelfth Century. Turnhout 2008 (Disputatio 17). https://doi.org/10.1515/9783110792737-001
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terarischer Zweifel. Skeptizismus und das Dilemma der Wahrheitsfindung in der mittelhochdeutschen Epik (12. bis 14. Jahrhundert)‘, das sich mit den Funktionen eines kritischen Zweifelns und den Ansätzen eines skeptischen Denkens für die Wahrnehmung des Wahren in der weltlichen Epik auseinandersetzt.³ Ganz gezielt wird nach den Konsequenzen der zweifelbasierten Reflexionsvorgänge angesichts von Dissens (Handlungs- und Meinungsalternativen) oder aporetischen Positionen (gleichwertige Geltungsansprüche konträrer Vorstellungen) gefragt. Während die Aporie im wahrsten Sinne des Wortes die „Ausweglosigkeit“ festschreibt („griech. a ‚nicht‘, und poros, ‚Weg, Brücke‘“),⁴ eröffnet der methodische Zweifel den Weg der abwägenden Reflexion. Der Kompromiss wiederum, um in den Bildbereichen des Weges und der Waage zu bleiben, kann als Prozess und/oder als Ergebnis eines sprichwörtlichen Entgegenkommens ‚auf halbem Wege‘ (splitting the difference)⁵ oder auch als das Resultat von Abwägungen verstanden werden.⁶
3 Zu ersten thematischen Überlegungen vgl. Christiane Witthöft: Zweifel, Skeptizismus und das Dilemma der Wahrheitsfindung in der höfischen Epik des Mittelalters. Skizze eines Forschungsfeldes. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 62 (2021), S. 33–66; sowie dies.: Zur Ideengeschichte eines ‚höfischen Skeptizismus‘: Petitcreiu und der literarische Zweifel im Tristan Gottfrieds von Straßburg. In: Nach der Kulturgeschichte. Perspektiven einer neuen Ideen- und Sozialgeschichte der deutschen Literatur. Hrsg. von Maximilian Benz, Gideon Stiening. Berlin 2022, S. 125–157. 4 Lorenz (Anm. 2), Sp. 1520; Justus Streller: Philosophisches Wörterbuch. Stuttgart 111951, S. 27. Vgl. zum methodischen Zweifel aus altgermanistischer Sicht Sabine Seelbach: Concordia discordantium. Zur Methodisierung des Zweifels bei Hartmann von Aue am Beispiel des ‚Gregorius‘. In: Mlat. Jb. 39 (2004), S. 71–85; dies.: Calculus Minervae. Zum prudentiellen Experiment im Iwein Hartmanns von Aue. In: Euphorion 95 (2001), S. 263–285; Hubertus Fischer: Zweifel und Reue – Formen der Reflexion in späthöfischer Dichtung: Mauritius von Craûn. In: Selbstbewußtsein und Person im Mittelalter. Symposium des Philosophischen Seminars der Universität Hannover vom 24. bis 26. Februar 2004. Hrsg. von Günther Mensching. Würzburg 2005 (Contradictio 6), S. 119–133; ders.: Ritter, Schiff und Dame. Mauritius von Craûn: Text und Kontext. Heidelberg 2006, bes. S. 85–100; sowie bereits Ingrid Kasten: Studien zu Thematik und Form des mittelhochdeutschen Streitgedichts. Hamburg 1973, bes. S. 14–39; Heinrich Hempel: Der zwivel bei Wolfram und anderweit. In: Ders.: Kleine Schriften. Zur Vollendung seines 80. Lebensjahres am 27. August 1965. Hrsg. von Heinrich Matthias Heinrichs. Heidelberg 1966, S. 277–298. 5 Vgl. dazu kritisch Martin Benjamin: Splitting the Difference: Compromise and Integrity in Ethics and Politics. Lawrence 1990, hier S. 7: „Strictly speaking, a compromise does not end the disagreement. It makes the best of what both parties regard as a bad situation“. Vgl. auch Avishai Margalit: Über Kompromisse und faule Kompromisse. Berlin 2011, S. 61–64 über „[w]echselseitige Zugeständnisse“: „Der sprichwörtliche Kompromiß des Einander-auf-halbem-Wege-Entgegenkommens setzt jedoch keine Symmetrie zwischen beiden Seiten voraus. […], aber er setzt dennoch eine Teilung der Differenz voraus“. Ebd., S. 62. Véronique Zanetti: Spielarten des Kompromisses. Berlin 2022 (stw 2374), S. 19, verweist zudem auf das französische Sprichwort couper la poire en deux. 6 Bereits auf der ersten Seite der Einleitung pointiert Zanetti (Anm. 5), S. 11: „Die Wäge-Metapher ist im Ausdruck ‚Abwägung‘ erhalten.“ Um dann skeptischer hinsichtlich der Vergleichbarkeit der
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In ethischer und (gesellschafts‐)politischer Hinsicht mutet der Kompromiss auf den ersten Blick wie eine zentrale Errungenschaft offener, demokratischer Gesellschaften an, wenn Flexibilität (Anpassungs- und Wandlungsfähigkeit) an die Stelle starrer Dogmen und Ideale tritt, Aushandlungsprozesse höher geschätzt werden als einseitig-autoritäre Machtentscheidungen mittels Gewalt, das Prinzip ‚sozialer Reziprozität‘ zur Maxime erhöht wird, oder wenn Vorgänge der Willensbildung von einem starren Wahr-falsch-, Gut-böse-, Entweder-oder-Dualismus abweichen und stattdessen der Blick auf das zukünftige gemeinsame Dritte gerichtet wird.⁷ In der Moderne hat sich beispielsweise das „Verhältnismäßigkeitsprinzip“ etabliert,⁸ in der Vormoderne spielt hier die ethische Tugend der ‚Angemessenheit‘ eine entscheidende Rolle. Einen Kompromiss zu schließen bedeutet aber auch zu akzeptieren, darauf hat zuletzt Zanetti hingewiesen, dass „[k]eine Lösung […] optimal“ sei, da immer auch „Verzichte und Verluste“ entstehen oder ‚Halbherzigkeit‘ und „Willensschwäche“ zugrundliegen können.⁹ Kurzum: Der Kompromiss ist nicht nur „ein zweideutiger Begriff“, so Margalit,¹⁰ sondern Kompromisse gelten auch „in der Ideengeschichte als hoch umstritten“, da sie aus Konflikten hervorgehen und selbst „weder notwendig prinzipienorientiert noch regelgeleitet“ seien.¹¹ Daraus ergibt sich die Frage, wie es sich mit der Bedeutung von Kompromissfähigkeit in der mittelalterlichen Kultur verhält. Aus mediävistischer Perspektive handelt es sich bei dem Kompromiss um ein ‚modernes‘ Phänomen vor seiner konkreten Begrifflichkeit. Lateinisch compromissum ist begriffsgeschichtlich allererst eine rechtshistorische Kategorie und bezeichnet die Institution der Schiedsgerichtsverfahren per compromissum („gegenseitiges Versprechen streitender Parteien, sich dem Spruch e. Schiedsrichters zu unterwerfen“) oder eine Form des Wahlverfahrens durch die Bestellung von so-
abzuwägenden Güter etc. fortzufahren: „Gibt es nicht, wie auf der Waage, ein gemeinsames Maß für die gegeneinander abzuwägenden Güter, werden sie unvergleichbar und die Metapher des Abwägens lässt uns im Stich.“ Zum Konnex von Kompromiss und Abwägungen vgl. ebd., S. 31–33. 7 Zum Kompromiss als soziales, gesellschaftliches und politisches Paradigma der Demokratie vgl. Martin Greiffenhagen: Kulturen des Kompromisses. Opladen 1999, bes. S. 189–214, hier S. 210 f.; vgl. auch Zanetti (Anm. 5), die die negativen Seiten des Kompromisses beleuchtet. Margalit (Anm. 5), der sich mit modernen Fragen von Frieden und Gerechtigkeit befasst, zeigt auch die Grenzen auf, wo „bestimmte Abwägungen für tabu erklärt“ werden müssen (vgl. bes. S. 36–50, Zitat S. 39). Begrifflich unterscheidet er zwischen Kompromissen und „faulen Kompromissen“, letztere gelte es zu verhindern (S. 33, S. 39 u. a.). Vgl. zudem J. Roland Pennock, John W. Chapman (Hrsg.): Compromise in Ethics, Law, and Politics. New York 1979 (Nomos XXI). 8 Zanetti (Anm. 5), S. 11 f. 9 Zanetti (Anm. 5), S. 12 und S. 14. 10 Margalit (Anm. 6), S. 14 f. und S. 68 f. (Zitat S. 14). 11 Zanetti (Anm. 6), S. 16 (Zitat) und S. 32.
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genannten Kompromissaren im Kirchenrecht.¹² Gerade auch Wahlverfahren zielen dabei grundlegend auf eine „friedensstiftende[] Funktion“ und Fähigkeit.¹³ Der juristische Begriff fand seit dem 15. Jahrhundert ersten, seit dem 16. Jahrhundert beständigeren Eingang in die Volkssprache und weist im Mittelhochdeutschen kein konkretes Synonym auf. In den einschlägigen Wörterbüchern und Nachschlagewerken finden sich anelâz und hinderganc als rechtshistorische Begriffe:¹⁴ Der „Anlaß“ bezeichnet unter anderem die „Abmachung“ oder den „Schiedsgerichtsvertrag“, „Hintergang“ den „Schiedsvertrag und Schiedsspruch“,¹⁵ die Kompromissurkunde wiederum wird auch als hindergancbrief angeführt.¹⁶ Darüber hinaus lässt sich onomasiologisch der Begriff des ‚Kompromisses‘ epochenübergreifend als „das Ergebnis der Angleichung verschiedener Standpunkte“ oder als der gewaltfreie „Modus zur Lösung von Konflikten“ verstehen, wenn die beteiligten Parteien bereit sind, eigene Ansprüche oder Forderungen aufzugeben, anzupassen oder zu minimieren.¹⁷ Es lässt sich aber zu Recht fragen, inwiefern die Bedeutungswelten von
12 Art. Kompromiß. In: Deutsches Rechtswörterbuch. Wörterbuch der älteren deutschen Rechtssprache. Bd. 7. Bearb. von Günther Dickel, Heino Speer. Weimar 1983, Sp. 1203–1204, hier Sp. 1203. Vgl. zudem Hendrik Baumbach, Claudia Garnier: Konzepte und Praktiken der Schiedsgerichtsbarkeit im römisch-deutschen Reich vom 12. bis zum 15. Jahrhundert. Zur Einführung. In: Konzepte und Praktiken der Schiedsgerichtsbarkeit im römisch-deutschen Reich vom 12. bis zum 15. Jahrhundert. Hrsg. von dens. (Blätter für deutsche Landesgeschichte [155] 2019), S. 235–249, bes. S. 236–249; Bernd Kannowski: Schiedsgerichtsbarkeit nach sächsisch-magdeburgischem Recht. In: ebd., S. 275–284; Anna Rad: Die Paarformel minne oder recht in der königlichen Gerichtsbarkeit von Kaiser Karl IV. und König Wenzel. In: ebd., S. 299–309, bes. S. 304 f. 13 Zum „Wunsch und [] Fähigkeit, bei Wahlen zu Kompromissen zu finden und selbst kompromißbereit zu sein“ s. Reinhard Schneider: Zur Einführung. In: Wahlen und Wählen im Mittelalter. Hrsg. von dems., Harald Zimmermann. Sigmaringen 1990 (Vorträge und Forschungen 37), S. 9–14, hier S. 14. Vgl. etwa den grundlegenden Beitrag von Werner Maleczek: Abstimmungsarten. Wie kommt man zu einem vernünftigen Wahlergebnis? In: ebd., S. 79–134. 14 Vgl. dazu Erwin Koller, Werner Wegstein, Norbert Richard Wolf: Neuhochdeutscher Index zum mittelhochdeutschen Wortschatz. Stuttgart 1990, S. 243. Im Teutsch-Lateinischen Wörter-Buch von J. L. Frisch aus dem Jahr 1741 ist der Hinweis „anelâʒ stm. compromissum“ zu finden, s. Mittelhochdeutsches Wörterbuch von Benecke, Müller, Zarncke, digitalisierte Fassung im Wörterbuchnetz des Trier Center for Digital Humanities, Version 01/23, https://www.woerterbuchnetz.de/BMZ [Zugriff: 30.01. 2023]. 15 Art. Anlaß. In: Deutsches Rechtswörterbuch online, https://drw-www.adw.uni-heidelberg.de/drwcgi/zeige [Zugriff: 10.12. 2022]; Art. Hintergang. In: ebd. [Zugriff: 10.12. 2022]. 16 Mittelhochdeutsches Handwörterbuch von Matthias Lexer, digitalisierte Fassung im Wörterbuchnetz des Trier Center for Digital Humanities, Version 01/23, https://www.woerterbuchnetz.de/ Lexer [Zugriff: 30.01. 2023]. 17 Klaus-Dieter Osswald: Art. Kompromiß. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 4. Hrsg. von Joachim Ritter, Karlfried Gründer. Darmstadt 1976, Sp. 941–942, hier Sp. 942. „Das bedeutet die
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‚Konsens, Toleranz oder Kooperation‘ oder von ‚Versöhnung, Sühne und Gnade‘ begrifflich nicht ausreichen, um die Idee von Kompromissen zu erfassen. In der mediävistischen Konfliktforschung hat sich nicht zuletzt aufgrund der Forschungen von Gerd Althoff über die ‚Spielregeln der Politik‘ ein begriffliches Inventar an Modellen zur Beschreibung gütlicher Einigung etabliert.¹⁸ Was verbirgt sich also hinter dem Phänomen, das ein Versprechen für die Zukunft gibt und für das es jahrhundertelang keines eigenen Wortes bedarf? Vereinzelt hat der Begriff des ‚Kompromisses‘ Eingang in die mediävistische Forschung gefunden: In Auseinandersetzung mit den performativen Akten in der Konfliktregulierung gilt etwa der Münchener Vertrag von 1325 als ungewöhnliches Dokument eines politischen Kompromisses zweier Gegenkönige.¹⁹ Bislang aber gibt es keine interdisziplinäre Studie, die den Kompromiss als eine zentrale Kulturtechnik der Vormoderne systematisch in den Blick nimmt. Es fehlt vielmehr an einer diskursübergreifenden Auseinandersetzung mit den epochenspezifischen Eigenheiten dieser Idee des Ausgleichs von Kontroversen (der Angemessenheit, Vermittlung). So ist es ein Ziel dieses Bandes, sich ‚zwischen alle Disziplinen‘ zu begeben, um anhand heterogener Diskurse den Blick für die genuin vormoderne Akzeptanz und Varianz tugendethischer, ästhetischer, (gesellschafts‐)politischer und rechtshistorischer Kompromisse zu schärfen und allererst ein Bewusstsein für Strategien der Kompromissfindung in unterschiedlichen Kontexten herauszuarbeiten.²⁰
Preisgabe voller Zielverwirklichung durch Teilverzicht[es] aller Parteien zugunsten einer für alle akzeptablen, zur Konfliktlösung führenden Regelung“. 18 Vgl. in Auswahl: Gerd Althoff: Kontrolle der Macht. Formen und Regeln politischer Beratung im Mittelalter. Darmstadt 2016; ders.: Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Frieden und Fehde. Darmstadt 1997. 19 Vgl. Claudia Garnier: Im Zeichen von Krieg und Kompromiss. Formen der symbolischen Kommunikation im frühen 14. Jahrhundert. In: Die Königserhebung Friedrichs des Schönen im Jahr 1314. Krönung, Krieg, Kompromiss. Hrsg. von Matthias Becher, Harald Wolter-von dem Knesebeck. Köln [u. a.] 2017, S. 229–253, hier S. 250–253. Vgl. zudem in Auswahl: Stephen D. White: „Pactum … Legem Vincit et Amor Judicium“. The Settlement of Disputes by Compromise in Eleventh-Century Western France. In: Ders.: Feuding and Peace-Making in Eleventh-Century France. Farnham/Burlington 2005 (Variorum collected studies series 817), S. 281–308; Knut Görich: Konflikt und Kompromiss: Friedrich Barbarossa in Italien. In: Staufer und Welfen. Zwei rivalisierende Dynastien im Hochmittelalter. Hrsg. von Werner Hechberger, Florian Schuller. Regensburg 2009, S. 79–97. 20 2022 wurde ein großer Forschungsverbund des Landes NRW ‚Kulturen des Kompromisses‘ der Universitäten Duisburg-Essen, Münster und Bochum eingerichtet, der dem Thema Strahlkraft verleiht und zukünftig weitere Forschungsergebnisse bieten wird. Das weite Forschungsfeld sei daher hier nur oberflächlich angedeutet: Der Kompromiss ist allererst Untersuchungsgegenstand der Politikwissenschaften; er interessiert aber auch die Erziehungswissenschaften hinsichtlich eines Erlernens von Kompromiss- und Empathiefähigkeit im Kindes- und Jugendalter. Die Kognitions-
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In aller Vorläufigkeit lassen sich einführend zwei Aspekte nennen, die für diese zeitlosen reziproken Verfahren der Urteilsbildung und Konfliktregulierung besonders relevant erscheinen: zum einen die intendierte/inszenierte Akzeptanz der Aporie und die Aufrechterhaltung des ‚Schwebezustandes‘ zwischen zwei Positionen (s. Ambiguitätstoleranz).²¹ Entscheidung und Kompromiss würden dann als Gegensatz und der Zweifel als Phase vor der Entscheidungsfindung zu verstehen sein.²² Zum anderen kann der Kompromiss darauf zielen, aus antagonistischen Vorgaben ein ‚gemeinsames Drittes‘ zu schöpfen – im Sinne einer win-win-(loselose‐)Situation.²³ Dies kann die Übernahme einer dritten Perspektive meinen, um klare Dichotomien zu überwinden. Das gemeinsame Dritte ließe sich dann als Akt der Toleranz, des Konsenses oder auch der Kooperation verstehen.²⁴ Mit dem Kompromiss verbinden sich daher Superlative, wenn etwa Greiffenhagen formuliert, dass dieser „zu den ältesten sozialen Erfindungen des Menschen“ gehöre und
wissenschaften wiederum interessieren sich für ihn, wenn es um Fragen der künstlichen Intelligenz und um die Kompromissfähigkeit von Maschinen geht. Diese scheinen nicht kompromissfähig zu sein, aber wie sieht es mit den Tieren in den Ergebnissen der Verhaltens- und Evolutionsforschung aus? Zu letztem Punkt vgl. Greiffenhagen (Anm. 7), S. 48–51. 21 Zur „Ambiguitätstoleranz“ vgl. Greiffenhagen (Anm. 7), S. 40 und S. 110–114; aus mediävistischer Sicht grundlegend Thomas Bauer: Ambiguität in der klassischen arabischen Rhetoriktheorie. In: Ambiguität im Mittelalter. Formen zeitgenössischer Reflexion und wissenschaftlicher Rezeption. Hrsg. von Oliver Auge, Christiane Witthöft. Berlin 2016 (TMP 30), S. 21–47; sowie Christel Meier: Unusquisque in suo sensu abundet (Rom 14,5). Ambiguitätstoleranz in der Texthermeneutik des lateinischen Westens? In: ebd., S. 49–82. 22 Vgl. Theodor Wilhelm: Traktat über den Kompromiß. Zur Weiterbildung des politischen Bewußtseins. Stuttgart 1973, S. 84. Vgl. auch die Forschung zu den Entscheidungsfindungen von Martina Wagner-Egelhaaf, Bruno Quast, Helene Basu (Hrsg.): Mythen und Narrative des Entscheidens. Göttingen 2020 (Kulturen des Entscheidens 3). 23 Vgl. Eva Eßlinger [u. a.] (Hrsg.): Die Figur des Dritten. Ein kulturwissenschaftliches Paradigma. Berlin 2010 (stw 1971); Georg Simmel: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Gesamtausgabe. Bd. 11. Hrsg. von Otthein Rammstedt. Frankfurt a. M. 21995, S. 63–159 (Die quantitative Bestimmtheit der Gruppe). 24 Vgl. Theodore M. Benditt: Compromising Interests and Principles. In: Pennock, Chapman (Anm. 7), S. 26–37, hier S. 30: „compromise is possible only if one recognizes a plurality of interests or some principle of tolerance.“ Zanetti (Anm. 5), S. 278: „Die Bereitschaft zum Kompromiss teilt mit der toleranten Haltung den Umstand, dass man eine Situation akzeptiert, die man im Grunde ablehnt. Ein wesentlicher Unterschied scheint mir jedoch darin zu bestehen, dass in einem Kompromiss die Parteien aktiv entscheiden“. Zum Toleranzgedanken vgl. auch ebd., S. 83–102. Zu Kompromiss und Toleranz in modernen Demokratien vgl. Margalit (Anm. 5), S. 194–200. Vgl. auch Hans-Josef Wilting: Der Kompromiss als theologisches und ethisches Problem. Düsseldorf 1975 (Moraltheologische Studien 3).
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es ohne „Kompromisse […] kein soziales Leben“ gäbe,²⁵ oder wenn Simmel den Kompromiss als „eine der größten Erfindungen der Menschheit“ ansieht, insofern das Auftreten des Dritten „Übergang, Versöhnung, Verlassen des absoluten Gegensatzes“ bedeute.²⁶ Im Fokus des vorliegenden Bandes stehen sowohl die performativen als auch die diskursiven Formen der Kompromissfindung, die sich in Ausgleichs- oder Abwägungsprozessen offenbaren. Von einem zentralen Interesse sind retardierende, literarische Szenen/Erzählverfahren und historische Ereignisse/Verfahren, in denen ein Moment der Unbestimmtheit – der Zustand zwischen Aporie und eindeutigem Urteil – zu greifen ist und die Handlungs- und/oder Argumentationsstruktur um ein ‚Schwanken‘ zwischen wahr und unwahr, richtig und falsch etc. bereichert wird. Es geht um Ereignisse und Erzählformen, die ein situatives Ermessensurteil einfordern, in denen Normen und Werte reflektiert und gegeneinander abgewogen werden, also um situationsadäquate Gewissensentscheidungen, Urteilsfindungen, Streitschlichtungen oder Wahlen. Angesichts von Dissens und Aporien ergänzt das zweifelnde Abwägen oder der abwägende Kompromiss die Kategorien von Sieg und Niederlage oder von Über- und Unterordnung. Literarhistorische Narrative sind zu vermuten im Kontext der Ehre und der (Tugend‐)Ethik (mâze, modestio, temperantia, mesotes), in politischen Konflikten und diplomatischen Missionen, in agonalen Streitformen (Zweikampf; jeux-partis), in Wahlvorgängen und (juristischen oder politischen) Urteilsfindungen, etwa in Form der Billigkeit (aequitas), oder der Gerechtigkeit (iustitia); darüber hinaus auch in literarischen Erzählverfahren, die im Sinne einer ambigen Poetologie auf die Entsagung von Eindeutigkeit und somit auf die erkenntniskritische Leistung in Abwägungsprozessen oder aber Entscheidungsfindungen zielen.²⁷ Hier lässt sich diskutieren, inwiefern der Kompromiss angesichts starrer Normen nur als ein zeitliches Konstrukt zu denken ist, als die vorübergehende Akzeptanz von Normhierarchien oder als vermeintliches Nachgeben (s. dilatorischer Formelkompro-
25 Greiffenhagen (Anm. 7), S. 13 und S. 67. Er geht auf die „biologische[] Grundstruktur von Gegenseitigkeit“ zurück und „verändert aber sein Erscheinungsbild in wechselnden politischen Kulturen und historischen Epochen“ (S. 13). 26 Simmel (Anm. 23), S. 284–382 (Der Streit), hier S. 375; sowie S. 63–159 (Die quantitative Bestimmtheit der Gruppe), hier S. 124. Vgl. auch Albrecht Koschorke: Ein neues Paradigma der Kulturwissenschaften. In: Eßlinger [u. a.] (Anm. 23), S. 9–34, hier S. 25, zur Bereitschaft und zu den Voraussetzungen in sozialen Gruppen, „dritte Optionen zu denken“. Vgl. auch ebd., S. 11–13. 27 Vgl. Cornelia Vismann, Thomas Weitin (Hrsg.): Urteilen / Entscheiden. München 2006 (Literatur und Recht); Wagner-Egelhaaf, Quast, Basu (Anm. 22); Anselm Hertz: Die thomasische Lehre vom bellum justum als ethischer Kompromiß. In: Die Wahrnehmung und Darstellung von Kriegen im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Horst Brunner. Wiesbaden 2000 (Imagines medii aevi 6), S. 17–30.
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miss).²⁸ In Gottfrieds Tristan etwa lässt sich die Figur des zweifelnden Königs Marke aufgrund seiner Fähigkeit zur „bewahrenden Zwietracht“ und zum Alternationszweifel im Kontext eines dilatorischen Prozesses verstehen: Jedwede Entscheidung hieße, sowohl seinen Neffen Tristan als auch seine Ehefrau Isolde zu verlieren.²⁹ In zeitlicher Hinsicht schafft das Zweifeln also angemessene Reflexionsräume, um Entscheidungen ohne Voreiligkeit zu treffen.³⁰ In den Narrationen ist das Zweifeln daher mit dem Zaudern zu vergleichen: Demnach unterbricht das Zaudern Handlungsketten und wirkt als Zäsur, es potentialisiert die Aktion, führt in eine Zone der Unbestimmtheit zwischen Ja und Nein, exponiert eine unauflösbare problematische Struktur und eröffnet eine Zwischen-Zeit, in der sich auch die Kontingenz des Geschehens artikuliert.³¹
In diesen Zwischen-Zeiten und Zwischen-Räumen, in denen abgewogen und vermessen wird, in denen Gewissheiten ins Schwanken geraten, lässt sich auch das „Abwägen“ von Argumenten oder Meinungen als „‚absolute Metapher[]‘ für das ethische Überlegen“ verstehen.³² Eine Position der Mitte wiederum, der Balance, des Sowohl-als-auch kann im allgemeinsten Sinne als Tugend, aber auch Schwäche, als kognitive Leistung oder psychologische Prämisse (Empathie, Altruismus),³³ als ein poetologisches Verfahren oder auch als eine politische Maxime angesehen
28 Zu dilatorischen Formelkompromissen und deren Ziel eines „Zeitgewinnes in der Hoffnung auf günstigere Umstände“ s. Greiffenhagen (Anm. 8), S. 206 f. 29 Odo Marquard: Skeptiker. In: Archiv für Begriffsgeschichte 26 (1982), S. 218–221, hier S. 220: Es lässt sich an eine skeptische Position denken, wenn Probleme bewahrt, aber nicht gelöst werden. Nur zwei Beispiele: er arcwânde sî und in / und zwîvelte sî ouch beide (V. 13768 f.); er wägt ab: mit disem zwîvel enweste er war; / er wânde her, er wânde dar (V. 15253 f.) usw. 30 Zum „Lob des Zögerns“ bei Johannes von Salisbury s. auch Peter von Moos: Geschichte als Topik. Das rhetorische Exemplum von der Antike zur Neuzeit und die historiae im „Policraticus“ Johanns von Salisbury. Hildesheim [u. a.] 21996 (Ordo 2), S. 305. Vgl. dazu Witthöft: Zweifel (Anm. 3), S. 51 f. 31 Joseph Vogl: Über das Zaudern. Zürich 22014, S. 73. 32 Uta Müller, Philipp Richter, Thomas Potthast: Einleitung. In: Abwägen und Anwenden. Zum ‚guten‘ Umgang mit ethischen Normen und Werten. Hrsg. von dens. Tübingen 2018 (Tübinger Studien zur Ethik 9), S. 7–16, hier S. 11. Andreas Luckner: Abwägen als Moment klugen Handelns. In: ebd., S. 19–26; ders.: Erwägen als Moment klugen Handelns. In: Suchprozesse der Seele. Die Psychologie des Erwägens. Hrsg. von Gerd Jüttemann. Göttingen 2008, S. 157 mit Anm. 2; sowie ders.: Klugheit. Berlin 2005 (Grundthemen Philosophie). 33 Zur „Denk- und Handlungsmaxime des Entweder-Oder“ als „Gegenposition zum Kompromiß“ s. Greiffenhagen (Anm. 7), S. 13. Zum reziproken Altruismus vgl. ebd., S. 62–68: „eine kognitive Empathie als Fähigkeit, sich in die Lage eines anderen Wesens zu versetzen, ohne die Unterscheidung zwischen dem eigenen und dem anderen selbst aufzugeben“. Ebd., S. 66. Zur Empathiefähigkeit vgl. auch Margalit (Anm. 5), S. 55: „Dazu bedarf es der Empathie – eines aufmerksamen Bemühens, die Interessen des Feindes aus seiner Perspektive nachzuvollziehen“.
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werden. Die Zwischenräume vor einer Urteils- oder Entscheidungsfindung, diese Vorstellungswelten des ‚Dazwischen‘, werden uns in diesem Band immer wieder begegnen, wenn sich Kompromisse zu formieren versuchen.³⁴ Zielen also Kompromisse auf einen „maßvollen Ausgleich der Extreme“ – und wäre dann im Umkehrschluss ein guter Kompromiss immer nur ‚Mittelmaß‘?³⁵ Wie steht es um das Verhältnis von mâze und Kompromiss? Und wo beginnen „faule Kompromisse“, dies im (ethischen) Sinne als ein „sign of weakness or lack of integrity“ oder eines „resignierend[] relativistischen Denkens“?³⁶ *** Da Kompromisse immer dort zu finden sind, wo Aporien, Dilemmata und Widersprüche auftauchen, wo Konflikte und Streitigkeiten einer Lösung harren, wo der Zweifel die Zwischenphase vor einer Urteilsfindung markiert, ist die Literatur ein Tummelplatz für diese Idee und die mit ihr verbundenen sozialen, ethischen, politischen und auch poetologischen Implikationen. In der Literatur wird von abgewiesenen, ‚alternativen Wahrheiten‘ erzählt, es werden Fragen aufgeworfen und ein durchaus dynamisches Tugendsystem einer genuin höfischen Ethik aufgezeigt.³⁷
34 Zur Vorstellungswelt des „Dazwischen“ […], „das, was zwischen den Regeln, zwischen der Pluralität der Menschen, zwischen der Vielfalt der Lebensformen und Positionen steht“, s. Markus Gabriel, Gert Scobel: Zwischen Gut und Böse. Philosophie der radikalen Mitte. Hamburg 2021, S. 49. Vgl. auch Vogl (Anm. 31), S. 73; sowie grundlegend Wolfram Hogrebe: Das Zwischenreich (τὸ μεταξύ). Frankfurt a. M. 2020. 35 Gabriel, Scobel (Anm. 34), S. 205 f.: Gerade in der „abendländischen Philosophie ist ‚Mitte‘ „ethisch konnotiert“. Die „primär ethische Motivation des skeptischen Zweifels“ wiederum dient der Mäßigung, der „aristotelischen Nichts-im-Übermaß-Lehre von der ‚areté‘, der Lebenskunst als ‚mesotes‘ – die ‚Mitte‘ zwischen zwei Lastern […]“. Marquard (Anm. 29), S. 218 f. Vgl. auch in Auswahl Maß und Maßlosigkeit im Mittelalter. Hrsg. von Isabelle Mandrella, Kathrin Müller. Berlin 2018 (Das Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung. Zeitschrift des Mediävistenverbandes 23,1). 36 Benjamin (Anm. 5), S. 1; Gabriel, Scobel (Anm. 34), S. 241. Für diese Fragen vgl. neuerdings den Band von Zanetti (Anm. 5). Vgl. auch Margalit (Anm. 5), S. 14 f., der in seiner Studie vor ‚faulen Kompromissen‘ warnt und auf die Zweideutigkeit des Begriffes und dessen Grundidee verweist: „Ist es eine gute Sache – wie Freundschaft und Frieden – oder eine schlechte Sache – wie Ängstlichkeit und Mangel an Rückgrat?“ Ebd., S. 15. 37 Zum engen Zusammenhang von Wahrheits- und Kompromissfindung vgl. Greiffenhagen (Anm. 7), S. 37–40. Zu dem Begriff der Nachsichtigkeit im Kontext der höfischen Ethik vgl. Sandra Linden: Tugendproben im arthurischen Roman. Höfische Wertevermittlung mit mythischer Autorität. In: Höfische Wissensordnungen. Hrsg. von Hans-Jochen Schiewer, Stefan Seeber. Göttingen 2012 (Encomia Deutsch 2), S. 15–38, hier S. 16 und S. 32; sowie dies.: wildiu rede und ethische Funktion. Zum Konzept der wildekeit im ‚Wilhelm von Österreich‘ Johanns von Würzburg. In: wildekeit. Spielräume literarischer obscuritas im Mittelalter. Zürcher Kolloquium 2016. Hrsg. von Susanne Köbele, Julia Frick. Berlin 2018 (Wolfram-Studien XXV), S. 135–156, hier S. 153–155.
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Im Fokus der Literatur steht somit immer auch das „normative Rückgrat“ von Kompromissen: Die Bereitschaft zur Suche und Annahme eines Kompromisses belegt also schon per se eine Reihe von Tugenden: den guten Willen, mit dem die Parteien aufeinander zugehen; den Vorrang, den sie der Suche nach einer friedlichen Lösung zuerkennen, den Respekt, den sie der abweichenden Position zollen.³⁸
Für die höfische Epik des 12. und 13. Jahrhunderts konstatiert Jan-Dirk Müller eine grundlegend „kompromißhafte Struktur“, wobei er den Begriff als übergreifende Beschreibungskategorie nutzt, um die spannungsreichen Phänomene heterogener Zuschreibungen von Bedeutung und Sinn (Hybridisierungen etc.) in Auseinandersetzung mit dem literarischen und kulturellen Imaginären zu analysieren.³⁹ Auch für den Kompromiss im konkreteren Sinne war es Müller, der auf einen Präzedenzfall des namengebenden, ursprünglich aus dem römischen Zivilprozess stammenden Verfahrens in den feudalpolitischen Erzählzusammenhängen der mittelalterlichen Literatur hingewiesen hat: Im späthöfischen Legendenroman Wilhalm von Wenden finden sich die Institution eines Schiedsgerichtsverfahrens, die Wahl per compromissum, und die Bestellung eines ‚Kompromissars‘.⁴⁰ Geschildert wird,
38 Zanetti (Anm. 5), S. 15 und S. 17. „Bleiben die Forderungen unverträglich, muss sich eine Ethik des Kompromisses auf eine Theorie gründen, die sich von einer besonderen Konzeption von Werten, Prinzipien oder Gut-Böse-Unterscheidungen freimacht und doch ein Instrument an die Hand gibt, mit dem sich begründbare Entscheidungen fällen lassen.“ Ebd., S. 13. 39 Jan-Dirk Müller: Höfische Kompromisse. Acht Kapitel zur höfischen Epik. Tübingen 2007, S. 4. Unter der Überschrift „Erzählen als Widerspruch und als Kompromiss“ widmen sich Armin Schulz und Gert Hübner diesem Ansatz: „Höfische Romane neigen zur Thematisierung von axiologischen Widersprüchen – und zur Auflösung dieser Widersprüche in einem Kompromiss“. Armin Schulz, Gert Hübner: Art. Mittelalter. In: Handbuch Erzählliteratur. Theorie, Analyse, Geschichte. Hrsg. von Matías Martínez. Stuttgart 2011, S. 184–205, hier S. 193. Vgl. auch die Rezension von Burkhard Hasebrink zu: Jan-Dirk Müller, Höfische Kompromisse. Acht Kapitel zur höfischen Epik, Tübingen 2007. In: Arbitrium 28,2 (2010), S. 145–155; sowie Hartmut Bleumer: Oblique Lektüren. Ein Versuch zu: JanDirk Müller, Höfische Kompromisse. Acht Kapitel zur höfischen Epik, Niemeyer, Tübingen 2007. In: ZfdPh 131 (2012), S. 103–115. Vgl. auch die Überlegungen bei Elisabeth Lienert: Widerspruch als Erzählprinzip in der Vormoderne? Eine Projektskizze. In: PBB 139 (2017), S. 69–90; sowie die Beiträge in Poetiken des Widerspruchs in vormoderner Erzählliteratur. Hrsg. von Elisabeth Lienert. Wiesbaden 2019 (Contradiction Studies). 40 Vgl. Jan-Dirk Müller: Landesherrin per compromissum. Zum Wahlmodus in Ulrichs von Etzenbach ‚Wilhelm von Wenden‘ V. 4095–4401. In: Sprache und Recht. Beiträge zur Kulturgeschichte des Mittelalters. Fs. Ruth Schmidt-Wiegand zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Karl Hauck [u. a.]. Berlin 1986, S. 490–514; sowie Mathias Herweg: Wege zur Verbindlichkeit. Studien zum deutschen Roman um 1300. Wiesbaden 2010 (Imagines Medii Aevi. Interdisziplinäre Beiträge zur Mittelalterforschung 25), S. 385–403. Aus historischer Sicht und zu vergleichbaren Wahlverfahren in rechtshistorischen
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wie ein herrscherloses Land über Jahre in einem zerstörerischen strît (V. 4095 f.; kriec, V. 4134) versinkt.⁴¹ Man befindet sich in einer blutigen Pattsituation, auch ein einberufener Hoftag führt zu keinem Konsens: dô stuont ir wille ungelîch (V. 4113).⁴² Dann aber greift ein kluger und beredter Bürger ein, der zum Schiedsmann (compromissarius) ernannt wird (sie wolden an den wîsen man / die kür umb einen herren lân, V. 4173 f.). Dieser schlägt ein komplexes, aber kluges Wahlverfahren vor, um die Pluralität aller konträrer Meinungen zu berücksichtigen: Gebildet wird ein 28köpfiges Gremium, aus dessen Mitte ein Viererrat gewählt wird; sollte man unter den 24 zu keiner Einigung kommen, verpflichten sich alle, den Rat der vier als Entscheidung anzuerkennen.⁴³ Soweit vielleicht auch aus anderen Quellen bekannt. Interessant ist nun, auf was für ein gemeinsames Drittes man sich in diesem deliberativen und offenen Verfahren einigt: Denn der kluge Bürger, der dem Viererrat angehört, agiert billîchen (billîchen er daz tete, V. 4231; „Mit Fug und Recht tat er dies“). Das Konzept der Billigkeit (aequitas) ist für Kompromissfindungen wichtig, beruht es doch auf der Rechtsidee, dass alle Beteiligten das Ergebnis als gerecht empfinden sollen (s. die Formeln ‚recht und billig‘ oder ‚mit Fug und Recht‘).⁴⁴ Der entscheidende und situativ angemessene Vorschlag zielt daher auf eine wahre Kompromisskandidatin. Es ist die Hauptfigur, die landfremde Herzogin Bene, die nur vorübergehend im Amt bleiben soll.⁴⁵ Es handelt sich also um eine Besetzung auf Probe einer vereinzelten Frau ohne Seilschaften: Das ist eine probate Lösung, alle Streitparteien verzichten auf die je eigenen Kandidaten. In diesem literarischen Präzedenzfall eines deliberativen Verfahrens im Zeichen des billîch wird der Kompromiss als Form einer klugen Angemessenheit verstanden, der in einer richtigen, da wahren Entscheidung mündet (‚ir râtet uns wâr‘, V. 4305). Betont werden die gegenseitige Bereitschaft zu Verzichtsleistungen und Zugeständnissen,
Quellen vgl. die Beiträge in Anm. 12 und 13; sowie Maleczek (Anm. 13), bes. S. 130–134; Bernhard Schimmelpfennig: Papst- und Bischofswahlen seit dem 12. Jahrhundert. In: Schneider, Zimmermann (Anm. 13), S. 173–195. 41 Hier und im Folgenden zitiert nach Ulrich von Etzenbach: Wilhalm von Wenden. Text, Übersetzung, Kommentar. Hrsg. und übers. von Mathias Herweg. Berlin/Boston 2017. 42 Zum Prinzip der Einstimmigkeit und zum Mehrheitsprinzip, welches seit dem Hochmittelalter deutlich an Einfluss gewann, vgl. Müller (Anm. 40), S. 497 f.; Herweg (Anm. 40), S. 387 f.; sowie Maleczek (Anm. 13), bes. S. 81–127. 43 ‚welt ir der sache ein ende hân, / sô welt iu aht und zwênzic man! / ûz den kieset viere: / sô endet sich diz schiere. / den vier und zwenzic gebt den rât!‘ (V. 4177–4181). 44 Vgl. Anna Rad: minne oder recht. Konflikt und Konsens zur Zeit Karls IV. und König Wenzels. Köln 2020 (Forschungen zur deutschen Rechtsgeschichte 33), S. 78 f; sowie Harun Maye: Die Paradoxie der Billigkeit in Recht und Hermeneutik. In: Vismann, Weitin (Anm. 27), S. 56–71, hier bes. S. 59–66. 45 Vgl. dazu Müller (Anm. 40), S. 495; sowie Herweg (Anm. 40), S. 389 f. und S. 394 f.
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zur Kooperation statt Konkurrenz,⁴⁶ zur Angemessenheit und zu gemeinsamen Abwägungen aufgrund von Billigkeit. Auffallend ist die positive Konnotation des friedengenerierenden Verfahrens, auch lässt sich ein Bezug zur Klugheitsthematik feststellen: Sowohl der entscheidungsfreudige Bürger als auch die Herrscherin zeichnen sich durch ihre ethischen und kognitiven Fähigkeiten aus: alsô grôze bescheidenheit / und sô volkomene wîsheit (V. 4273 f.).⁴⁷ Klugheit (prudentia) und Kompromiss gehören in diesem Erzählkontext zusammen: Die Kompromissfähigkeit wird hier zum Bestandteil der prudentia und den damit verbundenen Eigenschaften und Emotionen, wie Anpassungsbereitschaft oder eine angemessene Abwägungskompetenz.⁴⁸ Jenseits der feudalpolitischen Erzählkontexte finden sich Kompromisse gerade in dilemmatischen und kasuistischen Situationen, etwa in der rhetorischen Tradition des Minnekasus.⁴⁹ Ein minnekasuistisches Dilemma, das zu einer Urteilsfindung drängt, steht etwa im Mittelpunkt der mittelalterlichen Novelle Die Heidin B. Hier handelt es sich nicht um einen politisch-rechtlichen Erzählkontext, sondern um einen ethischen Konflikt. Eine Heidin steht zwischen ihrem Ehemann und einem christlichen Minneritter und ist somit dem Einfluss zweier widerstreitender Prinzipien ausgesetzt: dem Eherecht einerseits und der Minnedoktrin andererseits.
46 Zur vermittelnden Funktion des Kompromisses zwischen Konkurrenz und Kooperation vgl. auch Margalit (Anm. 5), bes. S. 48–53. „Der Kompromiß, der sich etymologisch von co-promissum, dem gegenseitigen Versprechen, herleitet, ist eine auf gegenseitigen Versprechen basierende Kooperation.“ Ebd., S. 49. 47 rehten muot und willen vesten / hât sie ûf rehte tugende, / guotes râtes sich vermugende / ûf alle sache, ûf alle tât / die diu werlt ze handen hât; / vollen rât sie kan geben / ûf daz heizet fürsten leben (V. 4278–4284). Über den Bürger heißt es: grôzer wîsheit man im jach, / er was wol ein geredic man (V. 4120 f.); der tet als sîner wîsheit zam (V. 4215); der werde wîse (V. 4267). 48 Zur Verbindung von Klugheit (prudentia) und Kompromiss über die literarische Vorstellungswelt der Abwägungen s. zukünftig auch Christiane Witthöft: Im Zwischenreich des Zweifels: Urteilsfindungen und Abwägungsprozesse in der höfischen Epik und Ethik des 13. und 14. Jahrhunderts (in Vorbereitung); sowie grundlegend Christel Meier: Prudentia (Phronesis) als Erkenntnisvermögen in Dichtung und Philosophie des Hochmittelalters. In: Phronesis – die Tugend der Geisteswissenschaften. Beiträge zur rationalen Methode in den Geisteswissenschaften. Hrsg. von Gyburg Radke-Uhlmann. Heidelberg 2012 (Studien zu Literatur und Erkenntnis 3), S. 131–165, hier bes. S. 135– 140; sowie die Beiträge in dem Band von Franz-Josef Bormann, Christian Schröer (Hrsg.): Abwägende Vernunft. Praktische Rationalität in historischer, systematischer und religionsphilosophischer Perspektive. Berlin/New York 2004. Zur erkenntnistheoretischen Seite des Kompromisses vgl. auch Greiffenhagen (Anm. 7), S. 39. 49 Zur Kasusstruktur vgl. grundlegend Coralie Rippl: Erzählen als Argumentationsspiel. Heinrich Kaufringers Fallkonstruktionen zwischen Rhetorik, Recht und literarischer Stofftradition. Tübingen 2014 (Bibliotheca Germanica 61), bes. S. 19–28. Vgl. zu weiterer Literatur zusammenfassend Witthöft: Zweifel (Anm. 3), S. 54 f.
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Das Dilemma ist gesetzt, die Heidin, die den Namen Dêmuot trägt (V. 753), betitelt sich selbst als zweifach unglückliche Frau (ich zwir uns#lic wîp!, V. 1280) und sucht in einem Zwie-Gespräch (schœnen strît, V. 1265) nach einer Lösung.⁵⁰ Im Laufe des inneren Abwägens im Rahmen eines klassischen Zweifelmonologes (ein wîle sprâch si ‚jâ‘, ein wîle ‚nein‘,V. 1267) ist es nun schön zu beobachten, wie sich eine Idee ihren Weg bahnt, indem das Herz der Ehefrau zu Wachs wird, als sie ihren Entscheidungsgedanken formt: unz ir daz herze smielz / als daz wahs gegen dem viure (V. 1270 f.). Sie schlägt, nachdem sie einen reinen muot […] gewan (V. 1283),⁵¹ eine Zweiteilung ihrer selbst vor – ganz konkret körperlich: Der Gürtel soll die Mitte bezeichnen, und der Ritter möge zwischen ihrer oberen und unteren Körperhälfte wählen (V. 1347–1370). Das teilbare Gut ist der weibliche Körper, der hier in Art einer realisierten Metaphorik zweier Körperhälften über und unter der Gürtellinie den Kompromissgedanken zu narrativieren scheint. Sinnbildlich wird das Sentenzenwissen über das Entgegenkommen ‚auf halbem Wege‘ (splitting the difference) oder das ‚Treffen der rechten Mitte‘ (couper la poire en deux) umgesetzt.⁵² Zugleich ist die Kehrseite angesprochen, indem alle Seiten Verzicht leisten: Dieser sinnbildlich inszenierte „Teilverzicht“ auf der Suche nach einem Mittelweg ist wahrlich eine „unbehagliche[] Entscheidung“,⁵³ ein bedauerlicher Zustand für alle Beteiligten, wie sich im Handlungsverlauf zeigen wird: Die Frau erleidet Versehrungen und das körperliche Liebesstreben des Mannes bleibt unerfüllt; der Kompromiss, der hier in actu umgesetzt wird, währt nicht lange. Auch in der Gedankenwelt des wählenden Ritters wird schnell deutlich, dass es sich um eine lose-lose-Situation handelt: dû kiustest zu schaden oder zu vlust (V. 1440). 50 Nû sulle wir an diesem wîbe / merken einen schoenen strît (V. 1264 f.). Hier und im Folgenden zitiert nach Die Heidin (B). In: Novellistik des Mittelalters. Märendichtung. Hrsg., übersetzt und kommentiert von Klaus Grubmüller. Frankfurt a. M. 1996 (Bibliothek des Mittelalters 23), S. 364–469. 51 Vgl. zum Adjektiv rein im Kontext des Maßhaltens, des Angemessenen, auch die Nennung im huote-Exkurs im Tristan. Vgl. dazu die Hinweise in Anm. 57 und 58. 52 Vgl. dazu grundlegend Karl-Heinz Schirmer: Stil- und Motivuntersuchungen zur mittelhochdeutschen Versnovelle. Tübingen 1969, bes. S. 193–202; Kasten (Anm. 4), S. 39; Cordula Kropik: Ich wil dir zwei geteiltiu geben. Der Disput um die Liebe in der ‚Heidin‘ B. In: Disputatio 1200–1800. Form, Funktion und Wirkung eines Leitmediums universitärer Wissenskultur. Hrsg. von Marion Gindhart, Ursula Kundert. Berlin 2010 (TMP 20), S. 331–362, bes. S. 372–380; Katharina Philipowski: Aporien von dienst und lôn in lyrischen und narrativen Texten am Beispiel von Mauritius von Craûn und Heidin. In: GRM 59/2 (2009), S. 211–238, bes. S. 217–220, S. 232 f.; Friedrich Michael Dimpel: iuwer rede habe nie so grôze kraft. Dienst, Lohn und die Kraft der Worte in der ‚Heidin‘ B. In: Poetica 45 (2013), S. 41–65, hier S. 56–61. 53 Zanetti (Anm. 5), S. 21 und S. 15 f., zum „Mittelweg“ als „die schlimmste aller denkbaren Lösungen“ (ebd., S. 16). Margalit (Anm. 5), S. 17, verweist etwa auf die Gefahren des „‚Halb und halb‘“, denn der „Geist des Kompromisses könne uns auch blind für die Tatsache machen, daß man zwischen konkurrierenden Gütern wählen muß“.
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Dieser gezielt fragmentarische Einblick in zwei heterogene Erzählwelten einer mittelalterlichen Novelle und eines Legendenromans sollte einen Einblick in die Weite der literarischen Reflexionen ermöglichen. Kleinster gemeinsamer Nenner ist, dass es zu Kompromissentscheidungen kommt, sobald kein eindeutig richtiges, absolut wahres oder einstimmiges Urteil gefunden werden kann: In der diegetischen Welt der höfischen Literatur werden Lösungen nicht dezisionistisch festgelegt, sondern Begründungen für Urteile und Meinungen gesucht und Aushandlungsprozesse und deliberative Verfahren gezeigt.⁵⁴ Der Tristan Gottfrieds von Straßburg wiederum, wie bereits kurz angedeutet, eröffnet ein ganzes Spektrum an anschlussfähigen Phänomenen. Dass dieses Werk für Fragen des Zweifels, der Aporien und schwankenden Urteilsfindungen in der höfischen Epik besonders interessant und geradezu singulär ist, erscheint evident.⁵⁵ Der Text fordert bereits im Prolog eine zweifelaffine und somit auch im weiteren Sinne kompromissbereite und ambiguitätstolerante Leserschaft. Gottfried setzt in vielfältiger Hinsicht auf die Mitte zwischen den Extremen, etwa wenn er formuliert, dass er mit seinem Werk die Not seiner idealen Rezipienten zur Hälfte beruhigen möchte: daz sî mit mînem mӕre / ir nâhe gênde swӕre / ze halber senfte bringe (V. 73– 75).⁵⁶ Für das Textverständnis spielt bekanntlich die Akzeptanz des ‚Dazwischen‘ in der Minne, zwischen Liebe und Leid, eine zentrale Rolle. Bereits hier verweigert sich der Text einem starren Entweder-oder-Dualismus, wie auch in den religiösen und tugendethischen Reflexionsfeldern. Zu erinnern ist an den ‚wendigen‘ Christus (daz der vil tugenthafte Krist / wintschaffen alse ein ermel ist,V. 15739 f.), dessen Urteil der vuoge, der aequitas, der Billigkeit entspringt.⁵⁷ Die Idee der Billigkeit wird auch 54 Zu Aspekten des Dezisionismus und der Kompromissfeindschaft in politischer Hinsicht vgl. Greiffenhagen (Anm. 7), S. 19–48. 55 Zur Forschungslage, gerade auch zu den ambigen Erzählverfahren, vgl. zusammenfassend Witthöft: Ideengeschichte (Anm. 3), bes. S. 133–135. In Auswahl seien hier genannt: Florian Kragl: Gottfrieds Ironie. Sieben Kapitel zum figurenpsychologischen Realismus im ‚Tristan‘. Mit einem Nachspruch zum ‚Rosenkavalier‘. Berlin 2019; Susanne Köbele: Mythos und Metapher. Die Kunst der Anspielung in Gottfrieds Tristan. In: Präsenz des Mythos. Konfigurationen einer Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von Udo Friedrich, Bruno Quast. Berlin/New York 2004 (TMP 2), S. 219–246; Harald Haferland: Gottfrieds Erzählprogramm. In: PBB 122 (2000), S. 230–258; sowie Rüdiger Schnell: Suche nach Wahrheit. Gottfrieds „Tristan und Isold“ als erkenntniskritischer Roman. Tübingen 1992. 56 Hier und im Folgenden zitiert nach Gottfried von Straßburg: Tristan. Hrsg. von Karl Marold. Bd. 1: Text. Unveränderter fünfter Abdruck nach dem dritten, mit einem auf Grund von Friedrich Rankes Kollationen verbesserten kritischen Apparat besorgt und mit einem Nachwort versehen von Werner Schröder. Berlin 52004. Vgl. auch Aaron E. Wright: Petitcreiu. A Text-Critical Note to the Tristan of Gottfried von Strassburg. In: Colloquia Germanica 25 (1992), S. 112–121, hier S. 118. 57 Vgl. auch Müller (Anm. 39), S. 312 f. Zur Wortneuschöpfung wintschaffen vgl. Walter Haug: Gottfried von Straßburg: Tristan und Isold. Mit dem Text des Thomas, hrsg., übersetzt und kom-
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im Kompromissgeschehen des Wilhalm von Wenden relevant. Angesichts der Aporie zweier Wahrheiten wird der höfische Gott im Tristan nicht wie eine dogmatische Urteilsinstanz geschildert, stattdessen neigt er zur Kooperation mit den Ehebrechern und somit vielleicht auch zur Kompromissbereitschaft. In aller Vorsicht lassen sich daher die folgenden literarischen Metaphern für einen skeptischen Zweifel und eine Kompromissbereitschaft andeuten: neben den bereits genannten Bildspendern ‚Weg‘, ‚Wachs‘, ‚Waage‘ nun noch die ‚Wendigkeit‘.⁵⁸ Diese alliterierenden Bildfelder des Abwägens, der Wahl des Weges sowie des Schmelzens und Drehens (wâge, wec, wahs, wintschaffen) scheinen zu den durchaus positiv konnotierten Imaginationen einer beweglichen Tugendethik zu zählen. Auch im Tristan gilt es in ethischer Hinsicht abzuwägen, wenn Gottfried etwa im huote-Exkurs über das Ideal der reinen Frau nachdenkt, wie sich diese, vor die Wahl zwischen êre (Ansehen) und lîp (Körperlichkeit) gestellt, zu verhalten habe. Hier sticht die Diskussion ins Auge, dass die reine Frau die Balance zwischen beiden Ansprüchen halten möge: nâch ietweders rehte / des lîbes unde der êren! / si sol den kampf sô kêren, / daz sî den beiden rehte tuo (V. 17994–17997). Die Wahl fällt eindeutig zweideutig aus, das Ideal ist, daz sî si beidiu behabe (V. 18005). So wird an entscheidender Stelle dem starren Modell der huote das Ideal eines Sowohl-alsauch, eines Kompromisses, an die Seite gestellt, im Sinne eines Ausgleichs, der mâze, der moderantia. ⁵⁹ Es gibt nun aber eine Eigenschaft, die jedwede Anpassungsfähigkeit oder auch die Akzeptanz von Kompromissen verhindert, die ich noch kurz andeuten möchte. Mhd. nît ist ein schwer zu fassender Begriff, der aber neben Feindseligkeit oder Hass,⁶⁰ eine weitere Bedeutungsnuance im Mittelhochdeutschen aufweist, eine Disposition, vor der etwa Gottfried im Tristan zweifach warnt: sowohl im Prolog in Hinsicht auf die Rezipienten (geherberget nît zuo zin, / er leschet kunst unde sin, V. 35 f.) als auch im Handlungsverlauf auf Figurenebene, denkt man an Melot und
mentiert von Walter Haug. Bd. 2. Berlin 2011 (Bibliothek des Mittelalters 11), S. 612–616. Vgl. auch Ruth Schmidt-Wiegand: Dichtung und Recht im Blickfeld von Literaturwissenschaft und Rechtsgeschichte. Zu Gottfried von Straßburg, Tristan (V. 15.278 f.). In: Literatur – Geschichte – Literaturgeschichte. Beiträge zur mediävistischen Literaturwissenschaft. Fs. für Volker Honemann zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Nine Miedema, Rudolf Suntrup. Frankfurt a. M. 2003, S. 167–174. Vgl. zu weiteren Forschungshinweisen Witthöft: Ideengeschichte (Anm. 3), S. 153–157. 58 Vgl. zur Metaphorik Witthöft: Zweifel (Anm. 3); dies.: Ideengeschichte (Anm. 3), S. 132–140. 59 Vgl. dazu die Hinweise im Kommentar von Haug (Anm. 57), S. 695 f. 60 Vgl. zur Semantik Klaus Grubmüller: Historische Semantik und Diskursgeschichte: zorn, nît und haz. In: Codierungen von Emotionen im Mittelalter / Emotions and Sensibilities in the Middle Ages. Hrsg. von C. Stephen Jaeger, Ingrid Kasten. Berlin/Boston 2003, S. 47–69; sowie Martin Baisch, Evamaria Freienhofer, Eva Lieberich (Hrsg.): Rache – Zorn – Neid. Zur Faszination negativer Emotionen in der Kultur und Literatur des Mittelalters. Göttingen 2014 (Aventiuren 8).
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Marjodo.⁶¹ Im übertragenen Sinne, so eine interessante Studie von Paris, steht der Neid für eine unreflektierte schädigende Selbstbezogenheit: Urteile, die im Neid getroffen werden, beruhen immer auf zu eindeutigen Abgrenzungen: „Es gibt immer ein simples Entweder-Oder, Gewinn und Verlust, Vor- oder Nachteil“.⁶² Der Neid verhindert daher, aufgrund der inhärenten „Egozentrik“, ein angemessenes (Text‐)Verstehen,⁶³ denn im Neid fehlt eine ganz grundlegende Fähigkeit, die ich zum Abschluss dieses kurzen Exkurses in die höfische Literatur mit ‚Kompromissfähigkeit‘ bezeichnen möchte. *** Im Kontext des vorliegenden Bandes wird das Finden von Kompromissen sowohl in einem engeren juristischen als auch in einem weiteren Wortsinn als Denk- und Urteilsmuster, als ethische oder pragmatische Reflexions- und Handlungsfähigkeit verstanden. Um der kultur- und literarhistorischen Relevanz des Themenkomplexes gerecht zu werden, zielt der methodische Ansatz auf die vergleichende Auseinandersetzung mit Fallbeispielen und Narrativen aus der höfisch-weltlichen, geistlichen Epik, aus Urkunden, Bündnisverträgen, historiographischen oder rechtshistorischen Quellen. Formen der Kompromissfindung lassen sich in den Bereichen von Krieg und Frieden, Politik und Ethik, Glauben, Macht und Legitimation greifen. Ganz gezielt versammelt dieser Band diskursgeschichtlich orientierte Beiträge, die sich dem Kompromiss aus einer rechts- und kirchengeschichtlichen, (gesellschafts‐) politischen oder auch ethisch-philosophischen Perspektive nähern, sowie Beiträge zur poetologischen und narratologischen Ausrichtung (Figurendarstellungen, Erzählverfahren, Zeitaspekte, rhetorische Gestaltung). Inwiefern bieten historische Quellen überhaupt Einblick in die Abläufe und Legitimierung von Kompromissen, lassen sich zirkulierende Episteme greifen? Welche Distinktionen, welche Rangordnungen, welche Indizes zählen in den Vorgängen der Kompromissfindung? Wie werden die Güter/Werte/Ansprüche abgewogen und differenziert, wie die Relationen austariert oder die Wertprioritäten gesetzt? Zu welchen Zeiten, an welchen Orten und in welchen (narrativen) Kontexten hatte der Kompromiss einen guten oder schlechten Leumund? Für dieses Fragenkonglomerat bieten sich weite Untersuchungsfelder an, die sich folgendermaßen skizzieren lassen:
61 Vgl. ausführlicher Witthöft: Ideengeschichte (Anm. 3), S. 139 und S. 152 f. 62 Rainer Paris: Neid. Von der Macht eines versteckten Gefühls. Waltrop/Leipzig 2010, S. 14. 63 Paris (Anm. 62), S. 29. „Er ist gewissermaßen auch intellektuell unterentwickelt und verharrt in seiner bösartigen Dumpfheit. […] Wo weder sozialer Austausch noch eine Aussicht auf gemeinschaftliche Anerkennung und Legitimität bestehen, kann sich kein […] kognitives Talent entwickeln.“ Ebd., S. 41.
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Diskursive Praktiken und Argumentationsstrategien (Rat und Beratung) – Argumentationen und Positionswechsel in/von Rat- und Beratungsszenen, inneren Entscheidungsmonologen (Soliloquien) und Lehrgesprächen – Disputationen und Streitgespräche als (rhetorische) Austragungsorte eines intellektuellen Abwägens von Argumenten und gegensätzlichen Standpunkten – argumentative und persuasive Strategien politischer Rede, bspw. ‚beratende Rede‘ (deliberatio) Kompromiss und Urteilsfindung (Wahl und Urteil) – Willensfindungen im Kontext von Wahlverfahren: Kompromisswahl, Ernennung der Kompromissare – Verfahren der Urteilsfindung per compromissum (Schiedsgericht, Schiedsspruch) – Phänomene der Billigkeit im Sinne einer gerechten Anpassungsfähigkeit (aequitatis iudicium, Epikie) – (gerichts‐)urkundliche Paarformel von ‚Minne oder Recht‘ – literarische Gerichts- oder Gottesurteilsszenen, Motiv der Blankobitte – dilemmatische Streitgedichte um einen Zweifelsfall (jeu-parti; Partimen) – kasuistische Erzählformen (Minnekasuistik, Rechtskasuistik) Kompromiss und Konfliktregulierung (Macht und Ehre) – Kompromissformen in Netzwerken der politischen Eliten, nationalen/internationalen Konflikten, städtischen Milieus oder in Prozessen der religiösen Gemeinschaftsstiftung – Substitutions- oder Vertretungsvorgänge durch vermittelnde Dritte (Prokuratoren, Vermittler, Richter) – Legitimierungsstrategien und Beurteilungskategorien von Kompromissen in den historischen Quellen – Differenzen zwischen Kompromiss, Konsens und Kooperation – scheiternde Kompromissfindungen – Ehrkonflikte: Generierung von Ansehen bzw. Prozesse zur Gesichtswahrung (Relativieren von Absolutheitsansprüchen) – Ehrdiskurs in der höfischen Literatur: Kompromiss(un‐)fähigkeit der ritterlichen Protagonisten
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Kompromiss und Tugendethik – zentrale Tugenden der Kompromissfähigkeit in politischen, rechtlichen, literarischen und philosophischen Diskursen – Tugend der mâze, das Lob der Mitte, zwischen christlicher temperantia und ethisch-aristotelischer Lehre – aristotelische Ethik des Mittelmaßes, der richtigen Mitte zwischen zwei Extremen: areté, mesotes-Lehre; Nikomachische Ethik – Tugend der aequitas (Billigkeit), moderatio – mittelhochdeutsche Phänomene und Tugendbegriffe: billîch, vuoge und bescheidenheit vs. hôchmuot, wille – Konzept des ‚gerechten Krieges‘ als ethischer Kompromiss Erzählen als Kompromiss, Erzählen vom Kompromiss (Poetologie, Rhetorik) – Narrative des Kompromissbildens als Denk- und Urteilsmuster, als ethische oder pragmatische Reflexionsfähigkeit – agonale Situationen der Unentschiedenheit (Zweikampf ) – Figuren des Kompromisses (s. Nestor) oder kompromissbereite Figuren: Richter, Vermittler, Ratgeber, Boten; Figuren der Kompromisslosigkeit – Kompromissfreudigkeit als Attribut der Weisen, der Ratgeberfiguren, der Herrscherfiguren – triadische Konstellationen und literarische Dreiecksbeziehungen: die (Un‐) Teilbarkeit der Ehefrau; Figur des Dritten – Erzählformen und -verfahren, Stilmittel sowie rhetorische Strategien einer ambigen Poetologie: Perspektivenwechsel, Wiederholungen, Antithesen, Isosthenien – Appellationsfragen (Urteilsfrage, Apostrophe) des Erzählers an das Publikum – Motivtraditionen und Erzählverfahren des Sowohl-als-auch in hybriden Gattungen mit konkurrierenden Normhorizonten (Exkurse vs. episches Geschehen) – der Kompromiss als zeitliches Konstrukt; ungelöste Konfliktfälle über lange Erzählpassagen hinweg (‚dilatorische Formelkompromisse‘) Im vorliegenden Band zeigen nun die Beiträge des ersten Teils deutlich, dass angesichts multireligiöser Kulturkontakte, religiöser Diversität oder aber dogmatischer Paradoxien des christlichen Glaubens gerade auch religiöse Fragen und theologische Argumentationen für das Thema von maßgeblicher Relevanz sind. Allerdings blieb dieser Bereich bislang in der aktuellen Forschung, so Susanne Köbele, eher unberücksichtigt: „Noch in der jüngsten einschlägigen Literatur sind überwiegend Kompromisse in Moral, Recht und Politik behandelt, der Religions-
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diskurs bleibt weitgehend ausgespart.“⁶⁴ Der zweite Teil des Bandes befasst sich mit den politischen Aspekten in historiographischen und rechtshistorischen Quellen sowie mit den spezifischen Wandlungsprozessen vom Hoch- zum Spätmittelalter. Im dritten Teil steht die erzählerische Produktivität von Kompromissen und das narrative Potential des Zweifels für intertextuelle Fragen an Erzählstrukturen, Figurenkonstituierungen und Zeitmodellierungen im Mittelpunkt.
I Religiöser Zweifel und Kompromiss Ausgehend von der grundlegend „negative[n] Axiologie von Zweiheit im christlichen Mittelalter“ führt der Beitrag von Susanne Köbele in das Zentrum des intellektuellen und ästhetisch produktiven Zusammenhangs von Zweifel- und Kompromissfähigkeit (S. 33). So wird anhand der theologischen Auslegungen der Schöpfungsgeschichte aus dem 13. Jahrhundert deutlich, inwiefern Adams kluge Kompetenz zum Zweifeln im entscheidenden Moment zur sündigen ‚Kompromissbereitschaft‘ wird. ‚Adams Kompromiss und Evas Zweifel‘ offenbaren die ganze „Ambivalenz des Unterscheidungsvermögens“ und die nur vorübergehende Wirkung von Kompromissen angesichts paradoxer Situationen (S. 35 f.). Vor diesem Hintergrund werden die Schriften des experimentierfreudigen Philosophen Raimundus Lullus analysiert. Dieser sei ein Kronzeuge für die Thematik, verstehe er doch „den Zweifel als integralen Teil einer neuen, universalen Metamethode“, um sein religionspolitisches Ziel eines interreligiösen Dialogs zu verfolgen: In dem von ihm entworfenen theologischen „Schutzraum kann die zweifelnde Vernunft alternative Denk- und Urteilsmöglichkeiten abwägen“, die Köbele in ihrem Beitrag dezidiert als eine Art „Möglichkeitssinn“ aufzeigt (S. 39). Im Kontext einer entdifferenzierten Wahrheitssuche werde gerade auch die Fähigkeit zum Kompromiss deutlich. Analysiert werden die iterativen Erzählstrukturen von „‚Was wäre wenn‘Geschichten“ (S. 40) in Gottesbeweisen des hybriden Romans Felix oder Das Buch der Wunder, die zu einem „zweifelgetriebene[n] Typus ‚demonstrativen Erzählens‘“ (S. 43) führen. Herausgestellt werden retardierende Zeitaspekte, wenn der Zweifel im Abwägen von Alternativen immer auch Erzählzeit generiere. So lassen sich in Lullus innovativer Erzähllogik, die auf die Kunst des Unterscheidens ziele, „Ansätze zu einem erzählten epistemischen Perspektivismus erkennen“, ohne aber ahistorische Konsequenzen im Sinne einer „Revisionsoffenheit“ zu unterstellen (S. 47 f.). Anhand ausgewählter Schriften zur Logik werde zudem deutlich, inwiefern Lullus den Zweifel als ein dynamisches Prinzip des schwebenden Schwankens, als actus
64 Köbele, in diesem Band, S. 36 mit Anm. 9.
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confusus, verstehe. In Lullus’ Ringen um ergebnisoffene Erkenntnis „wird der Zweifel selbst zu einer Kompromißfigur, im vorläufigen ‚Zugestehen‘ noch unsicherer Möglichkeiten“ (S. 54). Gerade die Rahmengeschichte des Religionsdialoges (Das Buch vom Heiden und den drei Weisen) zeige, wie die Gleichwertigkeit religiöser Ansprüche auf offene, vorläufige Lösungen ziele und der Heide zugleich zu bekehrendes Objekt, Moderator und Schiedsrichter sei (vgl. S. 68 f.). Der symmetrisch angeordnete Dialog lässt sich als „vernunftstrategischer Kompromiß“ eines in seiner Methodik „singuläre[n] Denk- und Erzählexperiment[s]“ beschreiben (S. 75). Der Beitrag von Gerd Althoff widmet sich den vielfältigen Vorstellungen eines Einwirkens transzendenter Mächte in das irdische, soziale und politische Geschehen, die in den Quellen von Zweifel begleitet und von intendiertem Dissens geprägt werden. In den politischen Narrativen der Historiographie des 11. und 12. Jahrhunderts werde deutlich, welche flexiblen Deutungen der transzendenten Interventionen konstruiert wurden, um eine intendiert positive Interpretation zu ermöglichen (vgl. bes. S. 78 f.). Die Verfügbarkeit Gottes bringe in den politischen Erzählkonstellationen unterschiedliche Deutungen und Wertungen hervor, denn die Möglichkeit, ein und dasselbe Ereignis als Strafe oder Belohnung Gottes zu verstehen, erweise sich als eine wiederkehrende Argumentationsform. Ein Beispiel bietet der plötzliche und katastrophale Heeresverlust Kaiser Friedrich Barbarossas im Jahr 1167, der in päpstlichen bzw. stauferfreundlichen Quellen völlig konträre Deutungen hervorrief. Zahlreiche weitere Beispiele können belegen, dass die „Vorstellung vom göttlichen Eingreifen in die Welt“ keine „konkurrenzlosen Interpretationsmuster“ liefere – ganz im Gegenteil (S. 80): Komplexe Situationen führen zu Zweifel und Aporien; Ereignisse oder Wunder böten beständig alternative Interpretationsmuster. Gerade auch die Konflikte während der Regierungszeit Heinrichs IV. schufen zahlreiche kämpferische Narrative um die Deutungshoheit, wie sie etwa bei Bruno von Merseburg, Lampert von Hersfeld oder auch bei dem Gregorianer Bernold zu finden seien (vgl. S. 84–87). Dass der Tod des Herrschers je nach Parteinahme positiv oder negativ ausgelegt werden könne, zeige sich angesichts des Schlachtentodes König Rudolfs von Rheinfelden, der bei den Heinricianern als Strafe Gottes verstanden werde. Die Seite der Gregorianer hingehen sähe sich bemüht, etwa durch Bernold von Konstanz oder den Bischof Bonizo von Sutri, seinen Tod und den Verlust seiner Schwurhand positiv auszulegen (vgl. S. 87). Während also die Vorstellung vom Eingreifen Gottes in die Welt unzweifelhaft wahr bliebe, evozieren die Auslegungen Widersprüche und führen in Aporien, die wiederum eine große Bereitschaft zum Kampf für eine Version des Geschehens erzeugen, die den je eigenen Interessen nützte. Jörg Oberste verfolgt Aushandlungsprozesse und (autoritative) Verfahren in der Auslegung von Glaubensfragen im Dienst der Wahrheitsfindung. In seinem Beitrag wird deutlich, dass die zweifelnde Suche nach Alternativen immer schon grund-
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legender Bestandteil von Religiosität ist. Die Definitionsfrage, wer ein Ketzer sei, werde „zum Gegenstand von Aushandlungsprozessen“ (S. 96) zwischen ganz unterschiedlichen Autoritäten der katholischen und der heterodoxen Seite in Okzitanien zwischen 1165 und 1209. Analysiert werden Kommunikationssituationen unter Zweifelnden: sei es in Form rechtlicher Schiedsverfahren (Kolloquium von Lombers) oder aber in Form von Scheininszenierungen. Auch die Spannungen zwischen religiösen Zweifeln und (landes‐)politischen Loyalitäten sowie die wichtige Rolle der ‚öffentlichen Meinung‘ für Kompromisse sind Untersuchungsfelder. Interessant ist es zu beobachten, mit welchen Mitteln um die vermeintlich kompromisslosen Glaubensfragen verhandelt und gerungen werde – in rhetorischer und auch performativer Hinsicht. Deutlich werden Versuche der katholischen Bischöfe, religiöse Kompromisse aporetisch auszuschließen, während die heterodoxen Laien gerade derartige Lösungen anstrebten. Der Kampf um die Deutungshoheit finde zu Beginn des 13. Jahrhunderts unter anderem in öffentlichen Religionsgesprächen Ausdruck, von denen die aus kirchlicher Perspektive verfassten Quellen berichten. Kompromisse in Form von Notlügen und Scheininszenierungen seien angesichts der „neuartigen, geschulten“ Aktivitäten der Dominikaner und Zisterzienser nicht mehr denkbar (S. 112). Aus dem eher spielerischen Umgang mit formaler Autorität entwickelten sich grundlegende Diskussionen um theologische Argumente und ihre Glaubwürdigkeit. Individuelle Kompromisse aber seien angesichts konträrer Lehren weiterhin denkbar (zur „Doppelreligiösität“ s. S. 114). Gewalteskalationen, wie in Bézier im Jahr 1209, zeigen die zunehmende Relevanz politischer Loyalitäten und Überlegungen. Der Beginn der Albigenserkriege und die Inquisition lassen schließlich Kompromisse undenkbar werden, obgleich eine zweifelnde Suche nach Alternativen auch fortan bestehen bliebe: „Zweifel gehören zum Wesen von Religion, und die Suche nach Alternativen ist darauf eine durchaus plausible Antwort“ (S. 120). Das Heilige „als entschiedene Kompromissfigur“ (S. 121) steht im Fokus des Beitrages von Bruno Quast, der sich mit den Dilemmata im Marienleben Bruder Philipps auseinandersetzt. Quast untersucht die Grenzen dessen, was denk- und sagbar sei, wenn es um die literarischen Inszenierungen der Menschlichkeit von Maria und Jesus gehe. Gerade die Protagonisten des Marienlebens lassen sich als Kompromissfiguren verstehen, die sowohl am Menschlichen als auch am Göttlichen oder der heilsnotwendigen Exorbitanz partizipieren. Der Kompromiss wird hier als eine Strategie oder auch als Typus der Konfliktlösung verstanden. In relevanten, ja überlebensrelevanten Entscheidungssituationen des Werkes agiere Gott als finaler Schiedsrichter (s. compromittere): Zum einen führe das Dilemma der keuschen Ehe zwischen Maria und Josef, in dem das Gesetz der Jungfräulichkeit mit dem Gesetz der Ehe kollidiere, zu einer„Externalisierung der Entscheidung“ und der Akzeptanz eines „Teilverzicht[es]“ aller beteiligter Seiten (S. 125). Zum anderen sei in einer
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erzähllogisch interessanten Szene einer Entscheidung an einem Scheideweg, während der Flucht der Heiligen Familie nach Ägypten, eine göttliche Intervention in Form eines Engels zu finden. Dieser träte in der Funktion eines compromissarius auf und revidiere eine falsche Entscheidung Mariens durch ein Reisewunder. Darüber hinaus werde in der Kreuzigungsszene Johannes als „Kompromissfigur des Dritten“ eingeführt, der für Maria sowohl die Leerstelle des Ehemannes als auch des Sohnes vertreten solle (S. 130). Abschließend wird deutlich, wie in dieser literarischen Biographie Mariens gerade die Kompromisskonstellationen eigene Bedeutung und auch Kohärenz entwerfen: Das ganz grundlegende mariologische Dilemma – Erlöserin, Fürsprecherin, Heiligkeit – führe zu erzählerischen Kompromissen. Maria und Christus werden einander angeglichen, es finde eine Verähnlichung statt, um „Differenz einzuebnen“, ohne diese aber zu negieren (S. 132). Gerade in dieser intendierten „Unschärfe“ liegt eine große erzählerische Kraft von Kompromissen (S. 133). Coralie Rippl fragt nach dem zeitlichen Aspekt des Zweifel(n)s und danach, inwiefern dessen narratives Potential gerade darin liege, Erzählzeit zu schaffen: Im Sinne eines Noch-nicht ebne der Zweifel allererst den Weg für die Erzählung. Ausgehend von den durchaus ambigen Entwürfen des Zweifels in der mittelalterlichen Bibelexegese und bildenden Kunst widmen sich ihre Überlegungen den erzähltechnischen Implikationen des Zweifels in der Brandanlegende (lateinische Navigatio Sancti Brendani und europäische Reise-Fassung) und in Unser vrouwen hinvart von Konrad von Heimesfurt. Die Vorstellung der temporal relevanten Erzählfigur ‚Zweifel‘ wird anhand der Figur des „‚Urzweiflers‘ Thomas“ entwickelt (S. 135). So werde deutlich, wie Konrad den Zweifel über eine Umakzentuierung der Thomasfigur in ein positives Licht rücke, indem diese zum Zeugen Gottes werde; auch die wiederholte Abwesenheit bei Mariens Himmelfahrt sei daher nicht als sündiger Glaubenszweifel anzusehen (vgl. S. 147 f.). Durch eine exklusive Augenzeugenschaft der Auferstehung und durch die Gürtelspende Mariens werte Konrad die Figur des Thomas deutlich auf. Rippl verdeutlicht dies anhand apokrypher Neukombinationen, die im Gegensatz zum Johannesevangelium oder auch zum Transitus des Pseudo-Joseph von Arimathia stehen. In unterschiedlichen Fassungen der Brandan-Tradition wiederum werde die Rahmenerzählung aufgrund des Zweifelmotivs, aufgrund der „Zweifelbuße als Aventiure“ (S. 158), „zur tragenden Struktur“ (S. 160); auch sei eine Prominenz von Zweiflerfiguren festzustellen (s. neutrale Engel). Sowohl für Brandan als auch für Thomas, so ein Ergebnis der komparatistischen Lektüre, sei das epistemologische Zweifeln als „Aufschub einer Entscheidung zwischen Alternativen, das Hinauszögern eines eindeutigen Bekenntnisses zu Gott“, zu verstehen (S. 167). Die Dialektik von ‚Zweifel und Glaube‘ schlägt sich narratologisch also gerade auch in hybriden Erzählformen nieder, da der Zweifel Erzählzeit für „Gottes-, Welt- und Selbsterfahrung“ generiere (S. 172).
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Im Beitrag von Beatrice Trînca führen Fragen nach dem Zusammenhang von Zensur und Kompromiss in die materielle Welt zensierter Schriftwerke der mittelalterlichen Mystik. Der Zusammenhang erschließe sich, wenn man die kommunikativen Akte der (Selbst-)Zensur als „text- und diskursverändernde Verfahren der Kontrolle und Selektion auf Grund gefällter Urteile“ verstehe (S. 176), die im weitesten Sinne kompromissbereit sein können. Exemplarisch wird das Thema anhand eines frauenmystischen Zeugnisses, der Offenbarungen Elsbeths von Oye, aufbereitet, in denen anatomisch detailliert von der Selbstkasteiung des Sprecher-Ichs berichtet wird. Die Zensur (erkennbar an Einschwärzungen, Durchstreichungen, Rasuren) hat im Zürcher Codex eine Apologie zur Folge. Die Rhetorik der Verteidigungsschrift sei zunächst ex negativo für die Frage nach Kompromissen interessant, wenn gleich zu Beginn die besondere Gnade Elsbeths und ihre Autorität als Vermittlerin des göttlichen Wortes festgelegt werden (vgl. S. 183 f.): Bibelzitate sollen ihre Imagination eines verlangenden Gottes, der gespeist und gesäugt werden muss, legitimieren. In den Offenbarungen selbst werde deutlich, wie gerade das „SkandalVerb“ sugen der Zensur zum Opfer falle (S. 198). Die inkonsequenten Eingriffe in den Text – vereinzelt bleibt das Verb in unverfänglich vagen Formulierungen lesbar – lassen sich als Zufall, Willkür, als „Seismograph“ eines Zögerns in der Selbstzensur (S. 198), oder aber auch als eine mögliche Form der Kompromissfindung verstehen, wenn man die vereinzelte Nachgiebigkeit inhaltlich über eine Mutter-Kind-Beziehung oder theriomorphe Anspielungen begründe. Auch in der Apologie werde die Drastik dieses Bildfeldes abgemildert – es handele sich also um „ein Zensur-Muster mit Unschärfen“ (S. 200).
II Politischer Kompromiss und Zweifel/Aporie Mit Blick auf die durch Frederic L. Cheyette, Stephen White und Gerd Althoff etablierten Modelle zur Beschreibung gütlicher Konflikteinigung im Mittelalter prüft der Beitrag von Hermann Kamp zunächst die Relevanz des modernen Begriffes ‚Kompromiss‘ für die Konfliktforschung. Ex negativo geht Kamp von den Verfahren und Prinzipien der Friedensstiftung des hohen Mittelalters vor der Zeit der Schiedsgerichtsbarkeit aus, die keine Kompromisse im Simmel’schen Sinne seien: Die in den Quellen häufig berichtete (gerichtliche wie außergerichtliche) Praxis der Wiedergutmachung über Sühnezahlungen seien genauso wenig als Kompromiss zu verstehen wie die symbolischen Unterwerfungsakte (deditiones). Obgleich beide Verfahren eine Gewaltfreiheit implizieren, handele es sich um einseitige Verzichtsleistungen aufgrund deutlicher Hierarchien unter den Beteiligten: Weder die „Suche nach Genugtuung [noch] die Logik der Versöhnung“ sei den Kompromissen zuträglich, wohingegen sich die Entschädigungen im Sinne des Ausgleichs (Strate-
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gien der Kompensation) einem modernen Kompromissverständnis annähern (S. 216). So könne man etwa die Verträge zu den fränkischen Erbteilungen „als modellhafte Kompromisse ansehen“, da sie einen ausgewogenen Verzicht beider Seiten erfordern (S. 225). Aufschlussreich erscheinen zudem jene Fälle, in denen Friedrich Barbarossa als Friedensstifter agierte: Im Konflikt um das Herzogtum Bayern liege der Schlüssel im Schlichtungsakt etwa in der „Verdoppelung der Herrschaftstitel“ und in der Aufteilung des umstrittenen Gutes unter beidseitigem Verzicht (S. 223). Auch Barbarossas Schlichtung des Konfliktes zwischen Bischof Otto von Freising und dem bayerischen Herzog Heinrich dem Löwen um Zoll- und Münzrechte lasse sich als ein Kompromiss verstehen. Aushandlungen von Kompensationsleistung mögen also an den Kompromiss im heutigen Sinne erinnern, aber nur, wenn sie beiderseits erfolgen. Streit um teilbare Güter wiederum lassen Kompromisse am ehesten zu, in Ehrangelegenheit sei es diffiziler. Mit dem Fehlen der konkreten Begrifflichkeit im frühen und hohen Mittelalter geht, so Kamp, auch der fehlende normative Anspruch einher, durch „wechselseitigen Verzicht zur Beilegung eines Konfliktes zu gelangen“: Ein Äquivalent finde sich aber in dem Prinzip der Entschädigung für Verzichtsleistungen (S. 231). Unter Einbezug der Thesen von Zanetti pointiert Kamp daher, dass „Kompromisse nicht zu einer Veränderung der Überzeugungen, wohl aber zu einem Wandel der Haltung“ beitragen, der es ermögliche, Relationen neu zu akzentuieren und einen Ausgleich zu finden (ebd.). Ausgehend von begriffsgeschichtlichen Überlegungen einerseits und kulturwissenschaftlichen Modellbildungen andererseits diskutiert Claudia Garnier die „Bedeutung des Schiedswesens für die Strategien und Narrative spätmittelalterlicher Kompromissfindung“ (S. 234). Exemplarisch werden anhand eines dichten Quellenmaterials aus dem spätmittelalterlichen Kurköln der Facettenreichtum der ursprünglich dem kanonischen Recht entstammenden Schiedsgerichtbarkeit und ihre sukzessive Entwicklung seit dem 12. Jahrhundert verdeutlicht. Der Mehrwert dieser ‚triadischen Verfahren‘ basiere auf der Freiwilligkeit aller beteiligten Parteien und auf der Bereitschaft, Maximalforderungen durch Kooperationsbereitschaft auszugleichen. So bezeichne die Kompromissurkunde nicht das Endergebnis der Verhandlungen, sondern das ‚Versprechen‘ (lat. com-promittere) bzw. „die Bereitschaft, einen solchen Weg einzuschlagen“ (S. 238). Deutlich werde, dass die Begrifflichkeiten der Kompromissfindung von weiteren Formen friedlicher Konfliktlösungsmechanismen zu unterscheiden seien (s. arbiter, arbitrator für das Schiedspersonal, während mediator für das Amt des Vermittlers stehe, vgl. S. 240). Pointiert werden die einflussreiche Funktion unparteiischer Schiedsleute, die Suche nach dem passenden Verhandlungsort, mitunter sinnbildlich ‚auf halbem Wege‘, oder auch die Reflexion der topischen Formel per iustitiam vel amorem, von ‚Minne und Recht‘, die auf derartige Verfahren im Sinne eines angemessenen Ausgleichs
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abziele. Dass wiederum auch die Ablehnung der Einigung eines Schiedsverfahrens als Kriegserklärung verstanden werden könne, zeige deutlich, welche Relevanz und Verbindlichkeit die Verfahren gehabt haben, deren Garantien durch Einlagerbürgen oder Geiseln gewährleistet wurden. Die Suche nach dem gemeinsamen Dritten in den „Zwischenzonen“, ja auch Zwischenzeiten des Kompromissverfahrens, markiere einen durchaus kreativen Spielraum für Details, der sich unter anderem in ‚dilatorischen Formelkompromissen‘ oder in Fassaden des Konsenses äußern könne (S. 254 f.). Eine Verlagerung von kritischen Fragen auf andere Entscheidungsgremien sei eine durchaus pragmatische Strategie, um Konflikte ‚einzufrieren‘ und vorläufige Lösungswege aufzuzeigen (vgl. S. 256). Als repräsentativ könne die Erkenntnis gelten, dass Kompromisslösungen angesichts komplexer und divergierender Interessenkonflikte nicht unbedingt in der Lage gewesen seien, die Kontroverse zu beseitigten, aber die freiwillige Kooperationsfähigkeit und das Vertrauen zu schärfen vermochten. Hier liege die Relevanz eines „Willen[s] zu Verhandlungen“ zugrunde, der als Kompromiss zu verstehen sei (S. 258). Andreas Fischer befasst sich in seinem Beitrag mit dem compromissum in der ars notariae und im Kirchenrecht des 13. Jahrhunderts, genauer noch mit einem Vergleich zweier zeitgenössischer Stimmen, die ganz unterschiedliche Einblicke in die geistlich-kirchliche Verfahrenswelt einerseits und in das weltlich-kommunale Prozedere andererseits bieten. Im Mittelpunkt stehen sowohl der Traktat über die Bischofswahl des englischen Kanonikers Laurentius von Somercote als auch die Summa totius artis notariae des italienischen Rechtsgelehrten Rolandinus Passagerii. Ausgehend von der Rechtsfigur des compromissum im römischen Recht analysiert Fischer, was die Eigenheit dieses Verfahrens auszeichne, dessen „Offenheit im terminologischen Sinne“ gerade auch die Vielzahl an Möglichkeiten in der Umsetzung spiegele (S. 265). So bieten die Schriften von Rolandinus Passagerii und anderer zur Ausbildung von Notaren einen interessanten Einblick in die Vorgänge der Wahl per compromissum, da diese sich sowohl mit den „Unwägbarkeiten“ dieser Rechtsfigur, aber auch mit ihrer praktischen Anwendbarkeit im Sinne eines „außergerichtlichen und dennoch verbindlichen Modus der Konfliktlösung“ auseinandersetzen (S. 262, S. 267): „Für Rolandinus Passagerii war compromissum ein Synonym für pax und concordia“ (S. 269). Auch für das Wahlprozedere, sei es in italienischen Kommunen oder in der Kirche, lasse sich seit dem 12. Jahrhundert die Idee des Verzichts im Kontext der Mehrheitsentscheidungen finden. Diese gefährdeten das Prinzip der Einhelligkeit, das sich im Ergebnis einer Wahl niederschlagen sollte. Das galt ebenso für Wahlverfahren per compromissum. Daher strebte man auch in diesem Prozedere danach, dass sich die Minorität letztlich dem gegnerischen Votum anschloss (vgl. S. 274 f.). Deutlich werde so zudem, inwiefern sich das Kompromisswahlverfahren gerade für das Prozedere der Papstwahl seit Mitte des 13. Jahrhunderts instrumentalisieren lasse. „Im Kern des compromissum lag die
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Selbstverpflichtung, eigene materielle Interessen oder persönliche Ambitionen auf ein Amt zurückzustellen und persönliche Ansprüche gegenüber anderen in die Hände Dritter zu legen“ (S. 276). Es gehe im Kern darum, durch den „Verzicht vor der Entscheidung“, so Fischer resümierend, „die Risiken des Zusammenlebens [zu] minimieren“ (S. 277). Der Beitrag von Michael Grünbart untersucht anhand griechischer Quellentexte die Formen der Entscheidungsfindung am byzantinischen Kaiserhof und dessen Administration, die das Tagungsthema um eine byzantinische Perspektive bereichern. Die Fähigkeit, klug zu entscheiden, um Wege aus der Aporie zu finden, sei Herrschertugend und zähle zum „Grundinventar paränetischer Texte“ (S. 280). Gerade im byzantinischen Militärwesen finden sich normative und narrative Quellen, die einige Parameter des solitärischen Entscheidens reflektieren, wenn angesichts von Meinungsvielfalt in Entscheidungssituationen der Zweifel Grund und Anlass gebe, die Überlegungen zu revidieren oder neu auszurichten. Für die Suche nach Problemlösungen seien Beratung und Erfahrung wichtige wiederkehrende Momente. Diese finden sich etwa in einer Schrift des 10. Jahrhunderts, Sylloge tacticorum, die dem Kaiser Leon VI. zugeschrieben werde. Vorgelegt werden Abstimmungsmodalitäten und Verfahren zur Konsensfindung, wobei ein besonderes Augenmerk auf dem richtigen und passenden Zeitpunkt eines Lösungsvorschlags liege: „Kairos ist der Moment, in dem sich entscheidet, ob eine Handlung ein gutes oder schlechtes Ergebnis bringt, wie der Entscheider wahrgenommen wird, wie er sich profiliert und wie er scheitert!“ (S. 283). Um Lösungsstrategien in Situationen von Dissens und Aporie zu finden, spielen zudem Informationen und ihre Verifikation eine wichtige Rolle. So zeige sich in spätantiker und frühbyzantinischer Zeit ein hohes Bewusstsein für die Gefahr von Falschinformationen etwa in der Etablierung eines imperialen Wissensmonopols oder aber im Umgang mit prognostischen und mantisch-divinatorischen Techniken. In der Verwaltung und im Zeremonienwesen schien die zeitliche Verifizierung, etwa die Terminisierung von bestimmten Vorhaben, immens wichtig. Für einen zweifelnden Kaiser wiederum, Alexios I., diene das regelmäßig stattfindende Marienwunder in Konstantinopel „als ein entscheidungsunterstützendes Werkzeug“ (S. 290). Zudem lasse sich so ein zeitgenössisches Bewusstsein für die psychologische Wirkung derartiger Hilfen nachweisen. Um Zweifel zu zerstreuen und um sichere Lösungen zu finden, haben sich Kaiser, wie etwa Manuel I. Komnenos, intensiv darum bemüht, Zeichen richtig einzuordnen und neue Meinungen und Deutungen zu hören – und sie haben sogar selbst Expertise in den sogenannten Geheimwissenschaften entwickelt. Die Wege aus der Aporie, Formen der Beratung und Abstimmung, können daher eine Kompromissbereitschaft spiegeln.
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III Literarischer Zweifel und Kompromiss (Erzählen als Kompromiss) Der Beitrag von Florian Kragl führt anhand von Vergils Aeneis und der volkssprachlichen Eneasromane des 12. Jahrhunderts in ganz grundlegende, narrative und auch kulturpolitische Systeme des Zweifels und der Kompromissfindung. Für den engen Zusammenhang von Zweifel und Kompromiss wird pointiert, dass „erst im Zweifel […] eine Position so weit auf[weicht], dass ein Kompromiss sein kann“ (S. 295). Im Mittelpunkt stehen Szenen des göttlichen Ratschlusses und der Gespräche unter Göttern, die ungeachtet der unbezweifelbaren Handlungsgewissheit der Aeneis nicht durch jene Absolutheit ausgezeichnet seien, wie dies den Menschenfiguren und Rezipienten suggeriert werde. Auf Götterebene scheine einiges verhandel- und bezweifelbar. Die Analyse der vier zentralen Göttergespräche (Jupiters Prophetie; Venus und Juno; Götterrat; Jupiter und Juno) zeige, wie diese durch menschliche Interaktionsmuster geprägt seien, wie sich Juno und Venus als begnadete Rhetorinnen in Formen der Gerichtsrede erweisen oder aber, wie der humanisierte Jupiter, zwischen Tochter und Ehefrau stehend, einen Kompromiss suche und die Entscheidung meide. Intensiv werde um die Deutungshoheit über das Geschehen gerungen: Die „Koinzidenz von absoluter Handlungsfinalität auf Menschen- und kontingenter Kompromissfindung auf Götterebene“ (S. 327) generiert den Zweifel somit als einen rezeptionsästhetischen Effekt; die Götter aber finden einen rhetorischen Kompromiss zwischen den trojanischen und italischen Interessen. Aufgezeigt werden können sowohl narratologische, kulturpolitische, theologische und auch rezeptionsästhetische Konsequenzen, die sich aus den kalkulierten Störungen und Irritationen der vergilischen Erzählwelt und deren Ironie ergeben, die auch den „Zweifel als nichts weniger denn als ein poetisches und ästhetisches Prinzip eigenen Rechts“ versteht (S. 334). Die Entwicklungen und Änderungen in der mittelalterlichen Antikenrezeption werden unter dem Aspekt „Verzweifeln an Vergil“ exemplarisch analysiert: In der „poetische[n] Tektonik“ des altfranzösischen Roman d’Eneas und des mittelhochdeutschen Eneasromans Heinrichs von Veldeke zeigen sich aufgrund des Fehlens der „olympische[n] Kompromissfindung“ weitreichende Konsequenzen einer schleichenden und einer klaren Entproblematisierung der Handlungsführung (S. 335 f.). Gerade unter dem Einfluss einer „höfische[n] Homogenisierung“ (S. 351) entstehe bei Veldeke eine neue Teleologie, wenn aus schillernden Kompromissen eindeutig Sieg und Niederlage werden und ungelöste Aporien an die Stelle der Kompromisse treten: Gerade das Bedürfnis, die Paradoxa in absolute Klarheit aufzulösen, fördere somit Aporien.
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Andreas Hammer stellt sich der Frage, inwiefern die vermeintlich kompromisslose Handlungsweise der heldenepischen Figuren, die sich dem Agonalen und der Konfliktlösung mittels Gewalt verschrieben habe, doch auch Mechanismen des Ausgleichs und der Mäßigung inkludiere. Untersucht werden Beispiele sowohl der skandinavischen Isländersagas als auch der mittelhochdeutschen aventiurehaften Dietrichepik. In der Bósa-Saga aus dem späten 14. Jahrhundert, die zu den sogenannten Fornaldasögur zählt, werde etwa deutlich, wie ein ‚erzwungener‘ Kompromiss narrativ notwendig für die Abenteuerfahrt zweier Helden sei: „[E]r motiviert die Ausfahrt und hält die Handlung in Gang“ (S. 361). In der Saga von Ragnar Lodbrok aus dem 13. Jahrhundert wiederum, die an die Völsungasaga anknüpft, werden Kompromisse im Umfeld der Ausgleichszahlungen als Wer- oder Blutgeld anstelle der Blutrache deutlich. Rechtshistorisch lasse sich die Institution des Wergeldes im weitesten Sinne als Kompromiss verstehen, wenn Herrscher zwar nicht auf Bußleistungen, aber auf eine beginnende Gewaltspirale durch Blutfehde verzichten. Letztlich werde diese Möglichkeit des Kompromisses zum Bestandteil einer klugen Herrscherlist und entpuppe sich als Scheinkompromiss, der narratologisch ein interessantes Irritationspotential entfalte. Im Eckenlied wiederum lasse sich die hybride Figur Ecke, der sowohl höfische als auch heroische Wertvorstellungen und Eigenschaften eingeschrieben seien, über die „Denkfigur des Kompromisses“ als eine „Art heroische Kompromissfigur verstehen“ (S. 372). Auch die unterschiedlichen Konzeptionen der Figur Dietrichs seien von der Sinnfigur eines ‚Weder-noch‘ geprägt. Geschaffen werde ein neues Drittes, indem die Exorbitanz Dietrichs höfisch kontrollierbar erscheine. Unterschiedliche Werte und Handlungsweisen treffen sich in der Mitte und seien verbunden, sodass Dietrich immer auch politisch pragmatisch interagieren könne: „Das Eckenlied zeigt beispielhaft, worin dieser Kompromiss gründet, der das Außergewöhnliche der Figur Dietrichs ausmacht, zugleich aber die Kompromissfigur Eckes scheitern lässt“ (S. 378). Friedrich Michael Dimpel befasst sich mit einer zweifelhaften Schlüsselszene, genauer mit dem Widerruf Trevrizents im Parzival Wolframs von Eschenbach: Der Widerruf werfe einige Fragen auf, für die in der Forschung durchaus unterschiedliche Antworten gefunden worden seien. In seinem Beitrag geht es daher auch um eine kritische Auseinandersetzung mit Interpretationsleistungen, die Aporien und Widersprüche nicht immer aushalten (wollen). Im Mittelpunkt steht die Auslegungsvielfalt der pointierten, aber uneindeutigen Rede der Autoritätsfigur, die unter anderem das offene Schicksal der neutralen Engel betreffe: Worauf bezieht sich die vermeintliche Lüge im XVI. Buch – auf die Gralssuche Parzivals oder nur auf das Schicksal der Engel? Aufgezeigt werden Harmonisierungsversuche und Plausibilisierungsstrategien der Forschung, die angesichts der paradoxen Aporie im unsicheren Ratschluss Trevrizents kritisch hinterfragt werden und zu „Zweifel am Argumentationsweg“ (S. 391) führen. Der Widerruf wird im Kontext einer „Poetik
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und einer Weltauffassung“ des Parzival verstanden, die an Relativierungen von Autoritäten interessiert und „von einer Kritik an Autorität und Autoritäten geprägt“ sei (S. 393). Gerade im Bogengleichnis und in dem Verfahren einer „sich-selbst-entlarvenden Erzähltechnik“ werde diese Position Wolframs deutlich (S. 398), indem das Scheitern autoritativer Vorgaben für einen Verstehensprozess narrativ vorgeführt werde. Der Irr- und Umweg des Erzählens werden gepriesen, da nur über das partielle Unwissen ein Erkenntnisprozess angeregt werde und die Rede von Autoritätsfiguren unzuverlässig sein könne. Angesichts von Wolframs weltanschaulicher Kritik an Lehrmeinungen sei ein Urteil insbesondere gefragt. Auch Parzival muss das Zweifeln durch seine Erfahrungen in der Textwelt lernen, um (zu) dogmatische Ratschläge und Lehrmeinungen situativ angemessen umzusetzen, ja um Kompromisse zu finden. Kategorische Gültigkeit von einer Perspektive oder von Dogmen seien keine Werte im Parzival, sehr wohl aber das eigene Urteil der Rezipierenden. Lea Braun befasst sich mit prophetischen Voraussagen zweier Schlüsselstellen der Entscheidungsfindung in der höfischen Heldenepik (Nibelungenlied) und im höfischen Roman (Parzival). Die untersuchten Voraussagen seien, anders als man vermuten könne, nicht durch ein klares, feststehendes Wissen um das Zukünftige geprägt, seien kein Garant für konkrete Handlungsanweisungen im Sinne eines „transzendente[n] Diktat[s] des Vorherbestimmten“, sondern stießen vielmehr Abwägungsprozesse an (S. 406). Prophetische Voraussagen legen somit Aporien mitunter allererst offen und regen zu Urteilsfindungen an. Es finden sich „Techniken der Ambiguisierung“ (S. 407), die der Kompromissbildung dienen. Die Analyse der merewîp-Erzählung im Nibelungenlied verdeutlicht, dass sowohl die Doppelung der Prophetie als auch die Doppelung der Figuren bzw. die widersprüchlichen Aussagen der prophetischen Frauen zur Verunklarung ihrer Botschaft beitragen. Hagens langsamer Erkenntnisprozess lasse sich somit auch als eine „produktive Arbeit an der vorausgesagten Zukunft“ verstehen (S. 416). So zeigt Braun auf, dass ein Ausweg gerade in einer dritten Option liege: Ehre im Tod. Im zweiten Teil befasst sich der Beitrag mit dem prophetischen Lachen der Cunnewâre in Wolframs Parzival; auch hier finden sich Doppelungen, auch hier finden sich gezielte Verunsicherungen hinsichtlich der Bedeutung und der Auslegung des Zukünftigen: Der prophetische Kommunikationsakt sei gezielten Tendenzen der Ambiguisierung ausgesetzt. Ein abwägendes Prüfen des Aussagegehaltes werde allererst angestoßen und dann aufgrund des Konfliktgeschehens nicht beendet. Die Prophetie diene somit der Meinungs- und Konsensbildung in der höfischen Epik.
I Religiöser Zweifel und Kompromiss
Susanne Köbele
Zugeständnisse der Vernunft: Der Zweifel als Möglichkeitssinn bei Raimundus Lullus I Sündenfall des Geistes. Evas Zweifel, Adams Kompromiß Es liegt auf der Hand, daß die Begriffe ‚Zweifel‘, ‚Zwietracht‘ und ‚Dilemma‘ schon etymologisch von etwas zusammengehalten werden, das dem christlichen Mittelalter zutiefst verdächtig sein muß: Zweiheit. Wie alle monistischen Systeme, die von der Priorität des Einen vor dem Vielen ausgehen,¹ erzählt auch das Christentum Zweiheit als Verlust- und Konfliktgeschichte. Zweiheit bedeutet Abfall vom Einen, entzweite Einheit, Spaltung. Zwar bricht in christlicher Perspektive schon mit der Schöpfung Differenz auf (‚Himmel und Erde‘), doch steht hinter dieser Ur-Differenz ein universales Prinzip, das alles Seiende durch Unterscheidung zugleich verbindet. Erst als die geschaffene Welt fällt – wieder in eine Differenz (‚Gut und Böse‘) –, gilt die Einheit der Gegensätze als verloren. Der Verlust erzeugt Dissens zwischen Himmel und Erde, anders gesagt: Vermittlungsbedarf. Ikonisch für die negative Axiologie von Zweiheit im christlichen Mittelalter ist die Erzählung vom verlorenen Paradies. So ißt Eva von der verbotenen Frucht aus Lust auf Unterscheidungswissen (scientes bonum et malum): „[…] und sie nahm von seiner Frucht und aß und gab davon auch ihrem Mann, und er aß auch“ ([…] et comedit deditque viro suo qui comedit, Gen 3,5 f.). Doch was die biblische Erzählung (Gen 2,4–3,24) lakonisch als gemeinsamen Fall in die Sünde inszeniert („und er aß auch“), lassen die Kirchenväter so nicht stehen. Um Adams im Vergleich mit Eva überlegene Einsicht zu retten, konstruieren sie überraschende Argumente:
1 Werner Beierwaltes: Denken des Einen. Studien zur neuplatonischen Philosophie und ihrer Wirkungsgeschichte. Frankfurt a. M. 1985; Carlos Steel: The One and the Good: Some Reflections on a Neoplatonic Identification. In: The Neoplatonic Tradition. Jewish, Christian and Islamic Themes. Hrsg. von Arjo Vanderjagt, Detlev Pätzold. Köln 1991 (Dialectica Minora 3), S. 9–25; Jens Halfwassen: Der Aufstieg zum Einen. Untersuchungen zu Platon und Plotin. 2., um einen Forschungsbericht erweiterte Auflage. München/Leipzig 2006; Dirk Cürsgen: Henologie und Ontologie. Die metaphysische Prinzipienlehre des späten Neuplatonismus. Würzburg 2007. https://doi.org/10.1515/9783110792737-002
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Adam […] aß nur um seiner Frau willen, er wollte sie nicht allein lassen. Er biß zu, nolens eam contristare. Er sündigte aus ‚freundschaftlichem Wohlwollen‘ für Eva, amicabili quadam benevolentia, wie Augustin schrieb. Adam […] hielt den Apfelbiß für falsch, hoffte aber, während er sündigte, auf Vergebung. Thomas schrieb: Adam war zu klug, um das Versprechen der Schlange zu glauben; er aß zweifelnd.²
Im klerikalen Diskurs des 13. Jahrhunderts wird die Geschichte vom Sündenfall der Ureltern also keineswegs symmetrisch erzählt. Nur die unentschlossene Eva traut der Schlange, aus Leichtgläubigkeit. Adam hingegen zweifelt an der Schlange, aus Klugheit. Genau im heillosen Moment des Auseinandertretens von Gut und Böse wägt er ein moralisches Dilemma ab, schwankend zwischen Gehorsamspflicht gegenüber Gott und freundlicher Solidarität mit Eva. „Beide Imperative besitzen Recht und Geltung, aber auf entgegengesetzten Seiten der durch den Sündenfall erfolgten Spaltung der Welt.“³ Im selben Moment treten auch Wissen und Glauben auseinander. Denn Adam hat in den Augen der Kirchenväter nicht nur Klugheit genug, um zu zweifeln, sondern auch Heilszuversicht genug, um zu sündigen. Den
2 Kurt Flasch: Eva und Adam. Wandlungen eines Mythos. München 22005, S. 84, mit Bezug auf Augustinus, De Gen. ad litt. 11,42,59, und Thomas von Aquin, In 2 Sententiarum 32,1,3 ad 1. Flasch ist vermutlich ein Zahlenverdreher unterlaufen: Statt 2 Sententiarum 32,1,3 ad 1 nimmt er wohl auf 2 Sententiarum 22,1,3 ad 1 Bezug. Die zitierte Passage amicabili quadam benevolentia findet sich außerdem in Thomas’ Summa Theologiae (IIª-IIae, q. 163 a. 4 co.; Mulier enim credidit verum esse quod serpens suasit, […] Sed vir non credidit hoc esse verum. […] quod peccatum viri diminutum est ex hoc quod in peccatum consensit amicabili quadam benevolentia, qua plerumque fit ut offendatur Deus ne homo ex amico fiat inimicus, quod eum facere non debuisse divinae sententiae exitus indicavit, ut Augustinus dicit, XI Sup. Gen. ad litteram. Et sic patet quod peccatum mulieris fuit gravius quam peccatum viri.) Zur Auslegungsgeschichte mit Tendenz zu fortschreitender Positivierung des mythischen Sündenfallnarrativs vgl. u. a. Klaus Schreiner: Adams und Evas Griff nach dem Apfel – Sündenfall oder Glücksfall?. In: Der Fehltritt. Vergehen und Versehen in der Frühmoderne. Hrsg. von Peter von Moos. Köln/Weimar/Wien 2001 (Norm und Struktur 15), S. 151–176. Das thomistische Argument funktioniert, diesseits der felix culpa-Perspektive, biologisch: Hätte Adam widerstanden, hätte sein erfolgreicher Zweifel Evas Fall zwar nicht revidiert, jedoch – Adam gilt als Samenträger, der allein die Gattung Mensch repräsentiere – die Übertragung der ‚Erbsünde‘ in die Welt verhindert; zu diesem Hintergrund Elaine Pagels: Adam, Eva und die Schlange. Die Theologie der Sünde. Reinbek 1991 (engl. 11988); Paula Fredriksen: Sin. The Early History of an Idea. Princeton/ Oxford 2012; Stephen Greenblatt: Die Geschichte von Adam und Eva. Der mächtigste Mythos der Menschheit. München 2018 (engl. 12017). 3 Albrecht Koschorke: Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie. Frankfurt a. M. 22012, S. 372. Zur christlichen Paradoxie von Heilsmedialität vgl. Christian Kiening: Einleitung. In: Medialität des Heils im späten Mittelalter. Hrsg. von Carla Dauven-van Knippenberg, Cornelia Herberichs, Christian Kiening. Zürich 2009 (Medienwandel, Medienwechsel, Medienwissen 10), S. 7–20 („wie Transzendentes im Modus der Vermittlung und zugleich als dessen Grenze erscheint“, hier S. 9).
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Apfelbiß hält er für falsch, hofft aber, während er sündigt, auf Vergebung. Die Synchronie ist auffällig. Kaum ist durch Eva und die Schlange moralisches Unterscheidungswissen in der Welt, steckt Adam in Unterscheidungsnot. Sein Zweifel läßt ihn konkurrierende moralische Ansprüche abgleichen.⁴ Kurz: Adams Überlegenheit besteht in Zweifelskompetenz, doch diese nützt ihm wenig, denn seine Sünde heißt Kompromißbereitschaft.⁵ Zwischen zwei unvereinbaren Optionen schwankend, tut Adam nicht nichts wie die neutralen Engel, sondern greift zu und ißt. Die Folgen sind bekannt. Was für eine Geschichte! Adams Zweifel an der Schlange – so dürfen wir die zitierte Auslegung verstehen – wäre die heilsgeschichtliche Chance gewesen, doch seine Kompromißbereitschaft ruiniert alles. Der Zweifel der Stammeltern im Paradies, so unterschiedlich ihn man jeweils motiviert sieht, bleibt ambivalent: Gegenüber Evas Zweifel, der nicht mehr sein darf als ignorantes Zaudern, wird Adams Zweifel zwar als kluge Kunst der Unterscheidung zur Geltung gebracht, doch fällt auch auf seinen (vernünftigen) Zweifel ein Schatten, da es genau diese kompromißbereite Differenzierungsbereitschaft ist, die seine Verführbarkeit herstellt und ihn nachgeben läßt. Im Sündenfallmythos tritt der paradoxe Kern der christlichen Erlösungsreligion unübersehbar zutage. Erzählt ist in harter Fügung, daß Entzweiung aufzulösen, Differenz zu überbrücken nur gelingen kann durch wiederum Differenzherstellung. In der gefallenen Welt bleibt Distinktion, und sei sie noch so ‚klug‘, unvermeidlich zwiespältig und konfliktträchtig. Es liegt auf der Hand: Wenn die Einheit der Gegensätze sich vollständig erst am Ende der Welt wiedereinstellen darf, muß der spekulative Rückweg über Synthesen der Vernunft störanfällig bleiben. Der Kompromiß, auch wenn er nur zweitbeste, instabile Lösungen erreicht, macht sich gleichwohl unentbehrlich, indem er die differenzierten Bedingungen, die für den Umgang mit unvereinbaren Optionen erforderlich sind, überhaupt erst herstellt. Die zitierte Geschichte von Evas Zweifel und Adams Kompromiß führt genau diese paradoxe Dynamik vor Augen: daß die Ambivalenz des Unterschei-
4 Dagegen Eva, durch die Schlange verführte Verführerin, zweifle aus Angst vor dem Sterbenmüssen; vgl. für den Bereich mittelhochdeutscher Erzählungen etwa Gundackers von Judenburg Christi Hort, aus der Wiener Handschrift hrsg. von J. Jaksche. Berlin 1910 (DTM XVIII),V. 96–102 (‚wir sterben lîcht dar umbe / ob wir daz obz ezzen / unt Gotes gebot vergezzen.‘ / do si [=Eva] so zweiflichen sprach / und er [=Adam] sei in dem wanche sach, / zehant er sei bechort, / du er den zweivel horte.) 5 „Weil der Kompromiss eine Entscheidung für einen Weg impliziert, den man sonst nicht eingeschlagen hätte, führt er unvermeidlich zu Konzessionen, in die man sich nur mit Bedauern schickt, obwohl man sie als notwendig erachtet. Weist er einen Ausweg aus dilemmatischen Situationen, so bringt er Personen doch in Lagen, in denen sie ihr Gesicht verlieren […].“ Véronique Zanetti: Spielarten des Kompromisses. Berlin 2022 (stw 2374), S. 278.
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dungsvermögens (mhd. underscheit, lat. distinctio, discretio ⁶) den Zweifel ebenso betrifft wie die Kunst seiner Auflösung. Zwar können Kompromisse durch das Zurückstellen von Unbedingtheitsansprüchen Widersprüche handhabbar machen. Zwar gelingt es ihnen, akute Denk- und Handlungsblockaden zu lösen durch die Unterscheidung von Mittel und Zweck oder das Abwägen von Verhältnismäßigkeit.⁷ Doch diese Zugeständnisse der Vernunft reichen nicht weiter als bis zum nächsten Kompromißbedarf. In christlicher Perspektive gelingt dauerhafte Rückkehr in die verlorene Einheit von Einheit und Differenz erst am Ende der Zeit. Differenztheoretisch formuliert: Paradoxien sind durch Kompromisse nicht heilbar, allenfalls für den Moment operationalisierbar. Die kulturelle Leistung solcher letztlich unvereinbaren „Appellstrukturen“ ist enorm. Insbesondere religiöse Paradoxien, gerade weil sie „eine nicht zu überwindende Insuffizienz erzeugen“, üben eine um so stärkere Bindekraft aus und eröffnen darüber hinaus neue Denk- und Verhaltensspielräume. In diesem Sinn lassen sie sich als „kulturell dynamisierende Dilemmata“ beschreiben, „die in ihrer Kombinatorik, zumal in der Bildung von Kompromissen, erfinderisch sind“.⁸ Um so mehr überrascht, daß die interdisziplinär beeindruckend weit ausgreifende Forschung zur Kompromißtheorie religiöse Aspekte eher zurückstellt.⁹ Das könnte 6 Klugheit (prudentia) wird im 12. Jahrhundert als Unterscheidungsvermögen definiert (discretio). Vgl. exemplarisch für den Kontext der Morallehre Peter Abaelard: Collationes sive Dialogus inter Philosophum, Iudaeum et Christianum. Gespräch eines Philosophen, eines Juden und eines Christen. Lateinisch–deutsch. Übersetzt und hrsg. von Hans-Wolfgang Kraut. Frankfurt a.M./Leipzig 22005 (Verlag der Weltreligionen 5): Nach seinem gleichsam unentschiedenenen, indifferenten primären Status sei der Mensch „zum Alter des Unterscheidungsvermögens“ geleitet worden (ad discretionis aetatem ipse perductus, S. 142), zum „Unterscheidungsvermögen der Klugheit“ (prudentiae discretionem, S. 148). Auch der andere Pol, Einheit, erscheint damit innerweltlich ambivalent: Undifferenziertheit eben als ‚Indifferenz‘ oder auch ‚Konfusion‘. 7 Als intersubjektive oder intrasubjektive Differenzierung; vgl. Zanetti (Anm. 5), S. 13–16 zur grundsätzlichen Ambiguität von (politischen, moralischen, argumentativen) Kompromissen. 8 Koschorke (Anm. 3), S. 372 f. Mit Bezug auf kulturell fruchtbare Dilemmata dieser Art: „Zwar drängen sie auf einen Spannungsausgleich innerhalb der aufgegebenen Paradoxie; aber was sie antreibt, ist in Wahrheit die Unmöglichkeit ihrer Schlichtung, von der eine fortdauernde Restunruhe ausgeht“ (ebd., S. 373). 9 Vgl. Theodor Wilhelm: Traktat über den Kompromiß. Zur Weiterbildung des politischen Bewußtseins. Tübingen 1973. Die Abhandlung ist für politische, konfliktsoziologische und rechtstheoretische Zusammenhänge nach wie vor lesenswert, doch Kapitel V („Auf der Glaubensebene“, S. 67– 88) eilt von historisch pauschal behandelten Glaubenskonflikten gleich zur konfessionell gespaltenen katholisch-protestantisch liberalen Moraltheologie der Neuzeit (zur katholischen Lehre vom ‚kleineren Übel‘ und zur protestantischen ‚Sterilisierung‘ des Kompromißproblems); die gefallene Natur des Menschen nötige eben zu Kompromissen. Noch in der jüngsten einschlägigen Literatur sind überwiegend Kompromisse in Moral, Recht und Politik behandelt, der Religionsdiskurs bleibt weitgehend ausgespart; so zuletzt noch bei Zanetti (Anm. 5), die die Sicht der politischen Philosophie
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daran liegen, daß die biblische Urszene vom Sündenfall des Geistes auch anders, zuversichtlicher erzählt worden ist: Erst menschliche Fehlbarkeit ermögliche die Demonstration göttlichen Erbarmens. Das theologische felix culpa-Modell¹⁰, seit Augustinus christliche Kernbotschaft, erzählt die Geschichte bekanntlich genau so. Wenn die unheilvoll entzweite Einheit die heilige Dreiheit auf den Plan ruft und mit ihr die Verheißung von Erlösung, scheint sich – fernab von Zweifel und Kompromiß – der Sündenfall als reiner Glücksfall zu erweisen. Doch auch diese Version der Geschichte von zweifelsfrei ‚glücklicher‘ Schuld kann „die Abgründe der erzählerischen Konkretion nicht wirkungsvoll zudecken“, und das gilt insbesondere für die Unruhe, die „vom Skandalon der Existenz der Schlange ausgeht“.¹¹ Gleich, ob die Geschichte vom verlorenen Paradies retrospektiv als Glücksfall (felix culpa) oder aber als akutes Dilemma rekonstruiert wird, als fatale Koppelung von Zweifels- und Kompromißbereitschaft: Sie entfaltet quer durch die Jahrhunderte ein unvergleichliches intellektuelles und ästhetisches Potential.¹² Kehren wir nochmals zurück zur eingangs zitierten Exkulpierung Adams durch die patristische Exegese. Der kompromißbereite, moralisch kompetente männliche Zweifel wurde hier dem verheerend naiven weiblichen Zweifel entgegengesetzt. Daß das Mittelalter, von der erwartbar „misogyne[n] Pointe“ durch ein „dominant männliches Deutungskollektiv“ abgesehen,¹³ bei diesem Versuch der Ehrenrettung Adams ausgerechnet auf den Zweifel zurückkommt, ist kein Zufall. Denn was die Forschung gern pauschal „die scholastische Methode des Zweifelns“¹⁴ nennt, ist als diskursive Praxis seit dem 12. Jahrhundert vielfältig etabliert: der Zweifel als flexibles, innovatives und in seiner Reichweite höchst umstrittenes methodisches Instrument der Widerspruchsauflösung durch Distinktion. Eingeübt in der Basisdisziplin der Ars dialectica und zunächst beschränkt auf den Bereich der
forciert, oder auch bei Alin Fumurescu: Compromise. A Political and Philosophical History. Cambridge 2018. 10 Vgl. Schreiner (Anm. 2), mit weiterer Literatur; zuletzt Peter Schäfer: Die Schlange war klug. Antike Schöpfungsmythen und die Grundlagen des westlichen Denkens. München 2022, S. 327–357. 11 Koschorke (Anm. 3), S. 375. 12 Aus jüdischer Perspektive war die Schlange klug – und der Mensch frei, so pointiert Schäfer (Anm. 10): Der jüdischen Tradition zufolge war nicht nur die Übertretung des Verbots Teil des göttlichen Schöpfungsplans, sondern auch die Schlange als „göttliche Agentin“, die den Menschen überhaupt erst zum Menschen gemacht habe (S. 11). 13 Ebd., S. 376. 14 Vgl. William J. Hoye: Die mittelalterliche Methode der Quaestio. In: Philosophie. Studium, Text und Argument. Hrsg. von Norbert Herold, Bodo Kensmann, Sibille Mischer. Münster 1997 (Münster Einführungen. Philosophie 2), S. 155–178, hier v. a. Punkt 1–3, S. 155–161. Die Quaestio ist etwa bei Boethius definiert als Anzweifelbarkeit einer These: Quaestio vero est dubitabilis propositio (In Topica Ciceronis, lib. I, PL 64, 1048D).
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Schriftexegese, greift die disputative Kunst ‚zweifelnden Fragens‘ (quaestio dubitativa) im Laufe des 13. Jahrhunderts von ihrem genuinen Bereich der formalen Logik zunehmend auf den Bereich der Erkenntnistheorie aus und auch – mit erst recht heiklen Zuständigkeitskonkurrenzen – auf den Bereich der Metaphysik. Debatten über die Reichweite des Zweifels finden daher in einem immer unübersichtlicheren Spannungsfeld konfligierender (logischer, hermeneutischer, dogmatischer, ontologischer) Wahrheitsansprüche statt. Spätestens an diesem Punkt der Argumentation wird klar, daß die anvisierten Diskurs- und Epochenspezifiken von Zweifel- bzw. Kompromiß-Strategien sich erst dann zeigen können, wenn historisch konkret argumentiert und darüber hinaus die Scharnierfunktion der Begriffe zwischen Objekt- und Metaebene mitbeobachtet wird. Das Tagungsexposé¹⁵ weist zurecht auf eine Forschungslücke hin: Die systematische Rekonstruktion der diversen historischen Wort-, Begriffs- und Konzeptgeschichten von Zweifel und Kompromiß im Mittelalter – und ihrer spezifischen Verflechtung – ist ein Desiderat. Nur wenn Begriffsgeschichten nicht auf lexikalische Semantiken reduziert, sondern auch als Konzeptgeschichten in historischsystematischer Doppelperspektive für verschiedene (mediale, rhetorische, narrative, diskursive, performative) Textdynamiken geöffnet werden, läßt sich für die heterogenen Zweifel- und Kompromiß-Phänomene das Risiko historisch unverbindlicher Metaphorisierung kontrollieren.
15 Christiane Witthöft: Einleitung, in diesem Band, S. 1–29, hier S. 5. Zur „Verbindung von zweifelschürendem Erzählverfahren und philosophischer Idee“ und „einem philosophisch-literarischen Toposwissen der Skepsis“ vgl. dies.: Zur Ideengeschichte eines ‚höfischen Skeptizismus‘. Petitcreiu und der literarische Zweifel im Tristan Gottfrieds von Straßburg. In: Nach der Kulturgeschichte. Perspektiven einer neuen Ideen- und Sozialgeschichte der deutschen Literatur. Hrsg. von Maximilian Benz, Gideon Stiening. Berlin/Boston 2022, S. 125–157, hier 157. Zur historischen Semantik von Zweifel vgl. Jacob und Wilhelm Grimm: Art. Zweifel. In: 2DWb 32 (1984), Sp. 996–1006, hier Sp. 997: „zustand des menschen, gespaltenen, zweigeteilten sinnes zu sein; die grundbedeutung der zweiheit tritt als ungewiszheit angesichts zweier möglichkeiten des entscheidens oder handelns bis heute meist noch deutlich heraus.“ Jedoch: Wer zweifelt woran, habituell oder akut, umfassend oder eingeschränkt, methodisch oder existenziell? Im religiösen Wahrheitsdiskurs müssen Zweifel als Defekt gelten (Glaubenszweifel als ‚Sünde‘), nützlich allenfalls als stärkende Herausforderung (‚Versuchung‘). Im Bereich der formalen Logik fungieren kognitive (methodische) Zweifel als Ermittler von Wahrheit im Sinn von Widerspruchsbeseitigung und Herstellung von Plausibilität. Der Moraldiskurs wiederum bewertet Zweifel negativ als dubiose innere Haltung (‚Wankelmut‘, ‚Hoffnungslosigkeit‘) und affektive Disposition (‚Argwohn‘, ‚Verzweiflung‘). Entsprechend heterogen ist das gegenbegriffliche Feld (certitudo, determinatio, constantia, spes, fides).
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Vor dem Hintergrund der angedeuteten erkenntnistheoretischen Ausweitung (‚Epistemologisierung‘¹⁶) des Zweifels im Spätmittelalter interessiert mich in diesem Beitrag ein spezifischer Fall, der Religionsphilosoph und Wissenschaftstheoretiker Raimundus Lullus, der um 1300 den Zweifel der „scholastischen Methode“ auf spektakuläre Weise transformiert. Die besondere Signifikanz dieses Autors für unser Rahmenthema scheint mir darin zu liegen, daß der Zweifel hier gerade nicht bereichsspezifisch begrenzt oder methodenapplikativ beschränkt wird. Statt ihn auf eine texthermeneutische Heuristik oder formallogische Determinationsfunktion festzulegen, konzipiert Lullus den Zweifel als integralen Teil einer neuen, universalen Metamethode. Er erweitert ihn, quer durch verschiedene Diskurse, zur grundsätzlichen Anzweifelbarkeit (dubitabilitas) von Aussagen und bringt dabei den Kompromiß ins Spiel. Denn Lulls Universalisierung des Zweifels basiert auf dem ausdrücklichen Zugeständnis der Vernunft, neben Affirmation (‚wahr‘) und Negation (‚falsch‘) auch eine dritte Option prüfen zu wollen: ‚als ob es wahr wäre‘. Für den Moment ermöglicht der Zweifel die Aussetzung der logisch strikten Binarität ‚wahrer‘ oder ‚falscher‘ Aussagen. In diesem Schutzraum kann die zweifelnde Vernunft alternative Denk- und Urteilsmöglichkeiten abwägen, ohne sich von vornherein an unbezweifelte bzw. unbezweifelbare (‚zwingend‘ wahre) Autoritäten zu binden.¹⁷ Unter der Voraussetzung einer kompromißbereiten, „explorativen Vernunft“¹⁸ entwirft Lullus den Zweifel als eine Art Möglichkeitssinn, der unter Vorbehalt agiert und – das ist neu – in seiner Reichweite sich nicht beschränkt auf Logik oder Schriftexegese. Zu diesen Zugeständnissen der Vernunft gehört für Lullus nicht nur die Anzweifelbarkeit von Glaubenssätzen (‚Mysterien‘ wie Trinität oder Inkarnation), sondern auch die Anzweifelbarkeit des Zweifels selbst. Von ihr erzählt er auf Schritt und Tritt. Genau dieser kompromißbereite, auch auf sich selbst angewandte Zweifel im Kontext entdifferenzierter Wahrheitsdiskurse interessiert
16 Vgl. Dominik Perler: Zweifel und Gewißheit. Skeptische Debatten im Mittelalter. Frankfurt a. M. 2006 (22012) (Philosophische Abhandlungen 92), zusammenfassend zur „Epistemologisierung des Zweifels“ S. 403–416. 17 Andreas Kablitz hat vor ästhetikgeschichtlichem Hintergrund eine Theorie der Literatur als ‚Kunst des Möglichen‘ entworfen (Kunst des Möglichen. Theorie der Literatur. Freiburg i.Br. 2013 [Rombach Wissenschaften. Reihe Litterae 190]). In erkenntnis- und wissenstheoretischer Hinsicht wäre dieser Ansatz ergänzbar um eine Theorie des Zweifels als ‚Kunst des Möglichen‘, für verschiedene Objektbereiche: Zweifel am ‚natürlichen Wissen‘, an ‚absoluter Gewißheit‘, an ‚intuitiver Erkenntnis‘ und ‚demonstrativem Wissen‘ unter dem Eindruck der Aristotelesrezeption. Den Aspekt des Glaubenszweifels greift Dorothea Weltecke heraus: „Der Narr spricht: Es ist kein Gott.“ Atheismus, Unglauben und Glaubenszweifel vom 12. Jahrhundert bis zur Neuzeit. Frankfurt a. M. 2010 (Campus Historische Studien 50). 18 Vgl. Knut Martin Stünkel: Una sit religio. Religionsbegriffe und Begriffstopologien bei Cusanus, Lull und Maimonides. Würzburg 2013, S. 180–185.
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mich im Folgenden. Die historisch neue Voraussetzung einer ontologisch und methodologisch weitreichenden Anzweifelbarkeit von allem Wißbaren erlaubt, wie ich exemplarisch zeigen will, diesem Autor spezifische Denk- und Erzählexperimente. Lullus überblendet das literarisch-fiktionale ‚Als ob es so wäre‘ gezielt mit dem epistemischen ‚Als ob es wahr wäre‘, mit Folgen nicht nur für die Diskursivität, sondern auch für die Literarizität der Texte. Mir geht es darum, wie Lullus dem Zweifel diskursübergreifend Geltung verschafft, sei es im Modus demonstrativen Erzählens, das über‚Was wäre wenn‘-Geschichten Gottesbeweise durchführt (II), sei es im Modus habitueller Anzweifelbarkeit, für die selbst die metaphysische Schlüsselfrage ‚Ob es Gott gibt‘ kein Tabu darstellt (III). Hinter dieser Entgrenzung des Zweifels, die zugunsten des Denk-Möglichen Annahmen unter Vorbehalt zuläßt, steht keine moderne, metaphysikkritische Skepsis, kein epistemischer Relativismus im Sinn einer „Intervention gegen Absolutes“,¹⁹ sondern ein übergreifendes religionspolitisches Ziel: die grundlegende Revision der Voraussetzungen des interreligiösen Dialogs. Lullus will neue Bedingungen herstellen für die Auflösung von Zweifel, Aporie und Dissens in Glaubensfragen (IV). Die Überzeugung einer universalen Anzweifelbarkeit von Aussagen wird schon zeitgenössisch als anmaßende Grenzüberschreitung und Überschätzung der Vernunft wahrgenommen – ein folgenreiches Mißverständnis. Denn Lullus selbst begründet seine virtuose Entdifferenzierung der Diskurse so einfach wie komplex: Um (verzweifelten) Zweifel an Gott zerstreuen zu können, muß (vernünftiger) Zweifel zugelassen werden. Das geht auch hier nicht ohne die Schlange. Zwar spricht sie nicht, wie im Paradies. Doch sie kriecht vorbei und verbreitet puren Schrecken.
II Der Gottesbeweis des Einsiedlers. Felix und die Schlange Der Roman Felix oder Das Buch der Wunder (Fèlix o el Libre de Meravelles),²⁰ wohl zwischen 1287 und 1289 während Lulls erstem Parisaufenthalt entstanden, verbindet eine lange Serie intra- und extradiegetisch gespiegelter Binnengeschichten 19 Odo Marquard: Skeptiker. In: Archiv für Begriffsgeschichte 26 (1982), S. 218–221, hier S. 219. 20 Ramon Lull: Felix oder Das Buch der Wunder. Aus dem Katalanischen übersetzt von Gret Schib Torra. Basel 2007 (von mir zitiert, BdW). Vorlage dieser Übersetzung ist die Textausgabe von Lullus Raimundus: Fèlix o el Libre de Meravelles. In: Antoni Bonner (Ed., introd. i notes): Obres selectes de Ramon Llull, Bd. 2. Palma de Mallorca 1985 (Els treballs I els dies 31–32), S. 19–393. Vgl. außerdem Ramon Llull: Llibre de meravelles. Edicio′crítica de Lola Badia et al. Palma de Mallorca 2011–2014 (Nova Edició de les Obres de Ramon Lull 10–13; zit. LdM) sowie Ramón Lull: Félix o Libro de maravillas. Hrsg. von Julia Butiñá, Fernando Domínguez Reboiras. Madrid 2017.
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mit der Rahmenerzählung von Auszug, Heimkehr und neuem Auszug. Der hybride Text steht unter dem Eindruck der Tradition höfischen und legendarischen Erzählens, islamischer Mystik sowie philosophischer Logik und Wissenschaftstheorie. Felix, der Protagonist, zieht in die Welt mit dem Auftrag des Vaters, sich zu wundern über die laue und verständnislose Gottesverehrung der Menschen (vgl. BdW, Prolog, S. 3). Auf seiner Wanderschaft fällt er von einem Wunder ins andere.Von Anfang an „verstört“ (esbalayts),²¹ staunend, zweifelnd und verzweifelt zugleich, hat er auf seinem Weg durch die Welt einen Einsiedler zur Seite, der auch ein Mann der Bücher ist und sich als eine Art Führer der Unschlüssigen dabei bewährt, Felix je neu von der Versuchung des Zweifels und der Verzweiflung zu befreien. Schon in der ersten Episode des ersten Buchs muß der Einsiedler fundamentale Zweifel zerstreuen („Zweifel […], ob es Gott gebe“, BdW [Anm. 20], S. 6, auch S. 5; dubitació, LdM, Bd. 1, S. 84). Er tut dies zunächst in Form einer Geschichte. Felix hört Folgendes: In einem Land lebte ein gerechter König, der über seinem Thron einen steinernen Menschenarm angebracht hatte. Der Arm hielt einen Degen in der Hand, an dessen Spitze ein Herz aus rotem Stein steckte. Der Einsiedler unterbricht kurz seine Geschichte und liefert zum erzählten Tableau eine lakonische Auslegung, die nur auf das Detail des Degens eingeht: Das Herz des Königs bewege den Arm, der wiederum den Degen bewege, welcher die Gerechtigkeit bedeute. Dann setzt die Erzählung wie folgt fort: Eine große Schlange bedrohte den Palast und machte ihn unbewohnbar. Als ein heiliger Mann auf der Suche nach einem Ort der Buße im leeren Palast den Arm aus Stein mit Degen und Herz erblickte, wunderte er sich. Er dachte so lange nach, bis er die Bedeutung der Figuration gefunden hatte.²² Damit ist die Geschichte aus. Als Felix den Einsiedler, der seinerseits als „heiliger Mann“ eingeführt wurde (sant home, LdM, Bd. 1, S. 84; vgl. BdW, S. 6), um Auslegung seiner Geschichte bittet – die miterzählte Teilallegorese genügt ihm also nicht –, wechselt der Einsiedler den Darstellungsmodus. Ohne auf den konkreten Inhalt der erzählten Geschichte zurückzukommen, führt er einen komplexen Beweis der überlegenen Existenz Gottes gegenüber dem Teufel. Mittels strikt formalisierter Konklusions21 L’ermitá saludá a Felix molt agradablement en son venir, mas | Felix no li poch re dir, mas que tot esbalayts se gitá a sos peus e estech longuament ans que parlar pogués (LdM, Bd. 1, S. 84). Zu den diskursabhängig verschieden ausgeprägten, ambivalenten Formen und Funktionen des Staunens als Grenzphänomen, als Moment produktiver, aber auch täuschbarer, erstarrter Verunsicherung, vgl. Mireille Schnyder: Überlegungen zu einer Poetik des Staunens im Mittelalter. In: Wie gebannt. Ästhetische Verfahren der affektiven Bindung von Aufmerksamkeit. Hrsg. von Martin Baisch, Andreas Degen, Jana Lüdtke. Freiburg i.Br. 2013 (Rombach Litterae 191), S. 95–114. Auch Lulls Erzählen von Zweifel und Zweifelbewältigung konfrontiert uns mit gleitenden Synonymiken und schillernden Bewertungen von Zuständen, für die der lateinische Diskurs der Zeit ein breites terminologisches Spektrum zur Verfügung hatte (u. a. dubitatio, desperatio, perplexitas, stupor, admiratio). 22 Vgl. BdW (Anm. 20), S. 6; destró que aperssebé ço per que aquella figura era feyta (LdM, Bd. 1, S. 85).
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verfahren belehrt er Felix in mehreren Argumentationsschritten über die Differenz von Sein und Nichtsein, Größersein und Unendlichsein, Immanenz und Transzendenz (vgl. BdW, S. 7 f., LdM, Bd. 1, S. 84 ff.), bis die formallogische Herleitung ontologischer Sachverhalte in ein Gleichnis umschlägt. Zu dessen Erläuterung nimmt der Einsiedler einen herumliegenden Ast zu Hilfe und zeichnet mit ihm die Figur eines Kreises auf den Boden. In diesem Moment taucht ein zweites Mal, nun in der epischen Welt der Rahmenhandlung, die Schlange auf: „Während der Einsiedler diese Worte sprach, kroch eine grosse Schlange an Felix vorbei, und er fiel in Angst und Schrecken und wunderte sich sehr, dass der Einsiedler keine Angst hatte.“²³ Daß der Einsiedler gegen den Schrecken der Schlange immun bleibt, läßt wiederum Felix an seiner eigenen Angst und Verzweiflung zweifeln. Der unerschrockene Einsiedler nutzt die Lücke für einen weiteren Logikvortrag. Wieder demonstriert er einen mehrstufigen Gottesbeweis. Aus Felix’ Angst vor der Schlange leitet er zunächst mit Thesen und Gegenthesen die Existenz Gottes ab und zieht dann, unter der Prämisse der Konvertibilität von Gott und Sein, daraus den Schluß, daß der Todesfurcht aus zwingenden Gründen zu widerstehen sei (vgl. BdW, S. 8, LdM, Bd. 1, S. 86 f.). Der Effekt: Felix bricht in Tränen aus. Seine Zweifel scheinen in Einsicht und zerknirschte Bußtränen aufgelöst. Doch sie kehren schon im zweiten Kapitel des ersten Buches wieder („Was Gott ist“, BdW, S. 9–13, LdM, Bd. 1, S. 88–92) und vermehren sich in der Folge mit jeder weiteren der seriell angelegten, ritterromanhaft inszenierten Wunder-Episoden. Immer wieder läßt sich Felix auf das ausdrückliche Wagnis (auf die „Aventiure“) ein, eine Möglichkeit zu suchen, um Gott zu erkennen und zu lieben: per açó me vull aventurar a ençercar manera per la qual Deus puga conexer e amar (LdM, Bd. 1, S. 99; vgl. BdW, S. 19). Die chronischen epistemischen und existenziellen Zweifel seines Schülers heilt der Einsiedler sowohl im Modus logischer Distinktion wie enigmatischer Geschichten. Diese narrativ und syllogistisch demonstrierte Vervielfältigung von Möglichkeiten verweist dabei auf jene Schlüsselmethode (Ars demonstrativa), die Lullus in seinem überbordenden Oeuvre unermüdlich entfaltet, abbreviativ verdichtet und auf die er auch in seinen Erzähl- und Dialogtexten mit Querverweisen anspielt (vgl. BdW etwa S. 93). Die auf zwei Ebenen doppelt erzählte Geschichte von Felix, dem heiligen Mann und der Schlange ist kein Einzelfall in diesem Roman, der zweifel- und verzweiflungsinduzierte Geschichten dieses Typs hundertfach vervielfältigt. So wagt Felix im vierten Kapitel des ersten Buches (=S. 17–24, LdM, Bd. 1, S. 97–104) den Versuch,
23 BdW, S. 8; Dementre que·l hermitá dehia aquestes paraules, una gran serpent passá de costa Felix e Felix hac molt gran pahor de la serpent e maravellá·s fortment com l’ermitá no·n havia pahor (LdM, Bd. 1, S. 86).
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den dreifaltigen Gott nicht nur glauben, sondern auch „verstehen“ zu wollen. Mit insistierenden Zweifelsfragen ringt er dem Einsiedler „zwingende Gründe“ (rahons necessaries) ab, die seine Zweifel widerlegen könnten,²⁴ Vernunftgründe, die in Geschichten münden, die ihrerseits strukturell (z. B. als Disputatio) das Muster logischer Deduktion umsetzen. Der Text als ganzer läßt sich als besondere Kunstform religiösen Erzählens beschreiben: Exemplarische Geschichten, die sowohl der Erzähler als auch die erzählten Figuren vorbringen, haben einerseits logisch strikten Beweisanspruch, anderseits und zugleich führen sie durch uneindeutige Allegorese, lakonische Kürze oder Aussparung ins Offene. Beibehalten wird quer durch den Text auch das Prinzip, daß die von den Protagonisten erzählten Binnengeschichten ihrerseits die epische Welt der Rahmengeschichte spiegeln (wie im Exempel vom Thron mit steinernem Arm, Degen und Herz), mithilfe gleitender oder verdeckter Wechsel zwischen Allegorie und Erzählwelt, intra- und metadiegetischer Ebene. Felix soll, irritiert durch Zweifel, Staunen,Verstörung, je neu die ‚wahren‘ logischen, affektiven und metaphysischen Schlußfolgerungen ziehen. Er soll seine diffuse Angst differenzieren lernen und desolate Todesangst in staunende Gottesfurcht wenden, er soll seine Zweifel anzweifeln, seine Tränen beweinen und auf diese Weise den Einheitsmodus bloßer Indifferenz unterscheiden lernen vom Einheitsmodus der Koinzidenz des Gegensätzlichen. Der spannungsreiche, zweifelgetriebene Typus ‚demonstrativen Erzählens‘ im Überschneidungsbereich von Logik, Legendarik und Mystik²⁵ scheint genau dieses Ziel zu haben: Zweifel soll je neu anzweifelbar, Beweisbarkeit je neu beweispflichtig, Kontemplation in der Betrachtung der Betrachtung je neu betrachtbar werden, als Dauerzustand und einzuübende innere Haltung. Wie diese Dynamik umgesetzt wird, sei im Folgenden anhand weiterer Beispiele aus dem Text verdeutlicht. Das umfassende achte Buch handelt ‚Vom Menschen‘ (BdW, S. 152–386, LdM, Bd. 2, S. 36–307). Vergleichbar dem iterativen, vieldeutigen Sich-Wundern, zeigt im BdW auch iteratives, vieldeutiges Weinen an, daß eine Klärung des intellektuellen und existenziellen Zweifels unabschließbar sei, auch hier gleichermaßen für die 24 BdW, S. 20: „‚Herr‘, sagte Felix zum Einsiedler, ‚ich verstehe wohl Eure Worte […]. Und ich wäre sehr beglückt, wenn ich sie durch zwingende Gründe verstehen und dadurch Zweifel und Versuchung über die Dreifaltigkeit unseres Herrn und Gottes beseitigen könnte, jedesmal wenn sie sich in mein Herz oder in das eines anderen einschleichen […].‘“ Senyer – dix Felix al hermitá –, be enten vostres paraules […]. E molt hauria gran plaher que per necessaries rahons la pogués entendre, per les quals rahons pogués mortificar dubitaçió e temptaçió totes hores que vengués en mi o en altre contra la trinitat de nostre senyor Deu […] (LdM, Bd. 1, S. 100). 25 Vgl. dazu Susanne Köbele: ‚Fraggeschichten‘. Demonstratives Erzählen im Grenzgebiet von Mystik, Legendarik und Logik. In: Mystik und Legende. Mediologische Perspektiven. Hrsg. von Daniela Fuhrmann, Thomas Müller. Zürich 2023 (Medienwandel – Medienwechsel – Medienwissen), S. 141–179.
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Figuren der Rahmengeschichte und der Binnengeschichten. So weint in Kapitel 79 des achten Buches ‚Von Wahrheit und Falschheit‘ erst der Einsiedler (BdW, S. 263, LdM, Bd. 2, S. 163). Dann weint die personifizierte Frau Wahrheit, von der er erzählt. Anschließend weinen, mit verdecktem Wechsel zwischen allegorischer und erzählweltlicher Ebene, einträchtig sowohl die Wahrheit wie auch der Einsiedler (BdW, S. 264, LdM, Bd. 2, S. 164). Am Schluß weint auch noch Felix, und zwar „darüber, was der Einsiedler sagte“ (ebd.; per ço que·l hermitá deya, LdM, ebd.). Seine Zweifel kommen deswegen nicht zur Ruhe, weil die universalen, abstrakten Voraussetzungen allgemeiner Regeln in der Welt der „Zusammensetzungen“²⁶ auf das Besondere, Partikulare angewandt und durch konkretes Handeln bewältigt werden müssen. Das macht alles vieldeutig – zumal, so Lullus, verzweifeltes Weinen in der Welt sich im Jenseits in Glückseligkeit verwandeln könne, wie umgekehrt anmaßendes Lachen in der Welt in ein Weinen vor Gott (vgl. BdW, 8. Buch, Kap. 70, S. 232, LdM, Bd. 2, S. 129), was exemplarisch in der Geschichte vom kranken Geizhals, seinen Hühnern und dem hungrigen Esel erzählt wird („Die Freigebigkeit weinte und der Geiz lachte […]“, BdW, S. 232 f.; Plorá Larguea et ris Avaricia, LdM, Bd. 2, S. 129). Insbesondere vom unabschließbaren „Kampf“ zwischen Hoffnung und Verzweiflung (BdW, S. 209) wird in charakteristischen rekursiven Wiederholungsschleifen als Wettlauf von Sünde und Gnade erzählt. Auffällig wird das in Kap. 64 des achten Buches (‚Von Hoffnung und Verzweiflung‘; De esperança et desesperança, LdM, Bd. 2, S. 103–106). Der Einsiedler erzählt, „es war einmal ein grosser Sünder“, der, am barmherzigen Gott zweifelnd, sich über seine Sündenverzweiflung wunderte, und während er sich wunderte, „wieso er über Gottes Barmherzigkeit verzweifeln könne, die doch grösser als seine Sünde war,“ erkannte, warum er verzweifelte, dann aber – aus Einsicht – Hoffnung schöpfte, als „Sohn der Hoffnung“ sich über das Hoffen wiederum wunderte und diese Verwunderung über das Hoffen dann seinerseits durch Nachdenken verstehen wollte: „Er dachte über sein Erstaunen nach und erkannte, dass die Menschen, die in Sünde leben und an Rettung glauben, keine Hoffnung haben“, sondern nur Angst vor dem Verderben. Bei der Begründung dieses (mehrstöckigen) Verstehenwollens der Verwunderung über die Hoffnung kommt die Kategorie der Möglichkeit ins Spiel: „denn wenn sie [=die in Sünde leben] Hoffnung hätten, würden Hoffnung und Sünde übereinstimmen, was unmöglich (impossible) ist“, ein „Trugschluss“ (falsa openió). ²⁷ Gott sei ein barm26 Vgl. etwa in Kap. 4 des ersten Buches BdW, S. 20 f. zur kompositen Welt in anthropologischer, angelologischer und kosmologischer Hinsicht (=LdM, Bd. 1, S. 100 f.). 27 un home era molt peccador, com se podia desperar de la misericordia de Deu, que es major que son peccat, fill d’esperança, Molt considerá aquell home en ço de que·s maravellava et conech que los homens qui son en peccat et cuyden venir a salvaçió no han esperança; cor si esperança havien,
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herziger und zugleich strafender Gott. Folglich zeige sich die Heiligkeit eines Menschen erst dann, wenn er noch auf seinem Totenbett eingestehe, „er sterbe zwischen Hoffnung und Angst“ (S. 210; Hervorhebung S.K.; que […] moria enfre esperança et temor, LdM, Bd. 2, S. 105). Weitere Zweifeldynamiken dieser Art, die Zeit aufschieben und Differenzierung gewinnen, folgen im selben Kapitel. So sieht im nächsten Exemplum des Einsiedlers (vgl. BdW, S. 211) ein Christ sich einem Juden oder Sarazenen in seiner Hoffnung auf einen barmherzigeren Gott überlegen, was die Zweifelsfrage aufwirft, ob er als Christ dann damit rechnen müsse, daß entsprechend seiner im Religionsvergleich größeren Hoffnung auch seine Zweifel an Gott um so größer sein würden. Der Einsiedler löst die Quaestio dubia einmal mehr mit einer kleinen Geschichte (einem Streitgespräch zwischen König und Knappen), das zugleich in Form eines Syllogismus formallogisch demonstriert wird. Zwischendurch treten, als wäre man im Rosenroman, auch allegorisch-ironische Figuren auf, etwa die von Außeneinschätzungen unbeeindruckbare, personifizierte Demut mit Namen ‚Was kümmert’s mich?‘ und ihr Antipode, die personifizierte Eitelkeit mit Namen ‚Man würde sagen‘, eine aufgetakelte Figur in roten Hosen und bunten, zu engen Schuhen, die auch als personifizierte Unverbindlichkeit auftritt, redet sie doch im unentschiedenen Konjunktiv (im Optativ oder Potentialis) allen nach dem Mund. Beide Figuren streiten sich zu Beginn des achten Buches (vgl. BdW, S. 152 ff., LdM, Bd. 2, S. 35–38), und auch sie überraschen ihrerseits Felix mit Geschichten.²⁸ Ein letzter Punkt: Die Zeit spielt auf Felix’ Suche nach Wunder-Aventiuren eine ambivalente Rolle. Sie wird für den Moment des Zweifels angehalten, erst recht für langwieriges, selbstreflexives Anzweifeln des Zweifels. Zweifel verbraucht also kostbare Zeit, Zweifelauflösung kostet aber auch Zeit, und die ist gut investiert. Nicht wenige Geschichten im BdW erzählen von retardierender Vorbehaltlichkeit in dieser Ambivalenz.²⁹ So reklamiert der Schluß des achten Buches mit Kap. 115 (‚Von Wundern‘, BdW, S. 384–386, LdM, Bd. 2, S. 304–307) Zeit zunächst auf der Objektebene. Als Felix sich nämlich wie folgt an den Einsiedler wendet: „‚Herr […], ich
seguirs’ia que esperança et peccat haguesen concordança, la qual concordança es impossible, falsa openió (LdM, Bd. 2, S. 104, BdW, S. 209). 28 Neben ‚heiligen‘ Einsiedlern können unterwegs auch ‚weise‘ Hirten Felix Parabeln erzählen (etwa zu Beginn des dritten Buches, vgl. BdW, S. 67 ff., LdM, Bd. 1, S. 155 ff.), ein Philosoph, dessen Vorlesung über die Elemente Felix hört (ebd., S. 74–89, LdM, Bd. 1, S. 167–190), oder zwei Ordensmänner, die Felix zu sprechenden Tieren führen (siebtes Buch, BdW, S. 113 ff., LdM, Bd. 1, S. 221 ff.), die in Kap. 37 ihren König wählen wollen, was noch in der erzählten Geschichte seinerseits zu einem Buch von den Tieren wird, das Felix einem König brachte (BdW, S. 151, LdM, Bd. 1, S. 269). 29 Zu einer anderen zweifel- und kompromißgesteuerten Geschichte im BdW Köbele (Anm. 25), S. 149–158. Zu Zeit-Aspekten des Zweifel(n)s vgl. den Beitrag von Coralie Rippl, in diesem Band.
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wundere mich über die Menschen, die sich über Wunder wundern‘“ (BdW, S. 384; – Senyer –dix Felix–, yo·m maravell dels homens qui·s maravellen de miracles, LdM, Bd. 2, S. 304), antwortet dieser mit einer Geschichte von einem Streitgespräch zwischen Christ und Sarazene, in dem es um Temporalität geht. Der Sarazene wundert sich über die Möglichkeit von Zeit und Zeitverlauf in Gott, genauer: über die Vorstellung eines zeitlichen Abstands zwischen Gottvater und Gottessohn (vgl. BdW, S. 384, LdM, Bd. 2, S. 304 f.), doch sein Zweifel verwandelt sich im Gespräch mit dem Christen in Einsicht, und er ließ sich taufen. Auf diese Geschichte hin wundert sich wiederum Felix, warum die Menschen in der Welt sich so wenig und so selten oder über das Falsche wundern. Da erzählt der Einsiedler eine weitere Geschichte (S. 386; LdM, Bd. 2, S. 306 f.). In ihr geht es um einen Philosophen, der sich nachts auf einem hohen Berg über hellen Schein am Himmel wundert. Erneut wird auch in dieser zweiten Geschichte Zeit – Zeitbedarf bzw. Zeitaufschub – thematisch: Danach wunderte er sich, dass er sich über diesen Schein gewundert hatte, denn nachdem er lange darüber nachgedacht hatte, verstand er, dass der Schein eine natürliche Ursache hatte; und deshalb wunderte er sich über sich selbst, dass er sich über etwas Natürliches gewundert hatte, und warum dies so geschehen war. Während er sich so wunderte, verstand er, dass man sich über etwas wundert, was man plötzlich sieht, so dass der Verstand keine Zeit hat nachzudenken (ebd., Hervorhebung S.K.).
Als der Einsiedler seine Geschichte endet, denkt wiederum Felix umgekehrt „lange“ über das Gleichnis nach, […] und wunderte sich darüber, denn es schien ihm ausgeklügelt und schwierig zu verstehen (sobtil et escura a entendre) in Bezug auf seine Frage. Während Felix sich so wunderte, hatte sein Verstand Zeit zu überlegen und gewann Kraft und Stärke, und da verstand er, worüber er sich zuvor gewundert hatte (ebd.).³⁰
Beide Geschichten zusammengenommen demonstrieren, daß erst die Herstellung von Differenz und Proportion verstehen läßt, worüber die verschiedenen Vernunftsubjekte (Felix, der Sarazene, der Philosoph auf dem Berg) sich zuvor „plötzlich“ gewundert haben. Die schwankende Vernunft braucht – und gewinnt – al30 Aprés se maravellá com se era maravellat d’aquella claredat que havia vista. Com molt ach considerat aquella claredat, ell entés que la claredat era estada per cors natural et per açó ell se maravellá de si matex com s’era maravellat de obra de natura ni per qual rahó li era esdevengut. Estant ell en aquesta maravella, lo philosof entés que maravella ve soptosament, en tal manera que l’enteniment no ha deliberaçió a entendre (LdM, Bd. 2, S. 306); […] et maravellá·s d’aquella semblança, cor molt li paria sobtil et escura a entendre ço que ell li havia demanat. Dementre que Felix enaxí·s maravellava, son enteniment ach hauda deliberació et hac presa virtut et força et entés ço de que d’abans se maravellava (LdM, Bd. 2, S. 307).
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so Zeit, um nachzudenken und die Relation von Ursache und Wirkung abwägen zu können. In diesem Sinn fungiert (staunendes, irritiertes, perplexes) Zweifeln als eine Art Moratorium der Vernunft, als Medium allmählichen Verstehens, und zwar gleichermaßen bei meta- und intradiegetischen Figuren, denn der Zweifel generiert auch Erzählzeit.³¹ Abstrahiert man vom Einzelfall, läßt sich festhalten: Kern vieler Erzählungen im BdW sind zweifelgetriebene Zeit- und Differenzierungsgewinne, die einen (meist interreligiösen) Dissens oder Widerspruch auflösen können. Die unschlüssige Vernunft läßt Denk- und Erzählalternativen zu, so lang und so oft, bis die asymmetrische Ausgangssituation in Symmetrie verwandelt, Widersprüche aufgelöst, Vorbehalte ausgeräumt sind – und in der Folgegeschichte die hergestellte Eindeutigkeit erneut anzweifelbar wird. Wenn in diesem Sinn rekursiver Dynamiken der Zweifel je neu bezweifelbar, Beweisbarkeit je neu beweispflichtig wird, schiebt das nicht nur den Horizont des Denkens hinaus. Es verändert – darauf kommt es mir hier vor allem an – auch das Erzählen. So wie es seit dem 14. Jahrhundert in Mären und Novellen Ansätze zu einem erzählerischen Perspektivismus gibt,³² lassen sich gerade bei einem Autor wie Lullus Ansätze zu einem erzählten epistemischen Perspektivismus erkennen. Lulls neue Logik absorbiert die Logik alten Typs. Doch um Mißverständnisse zu vermeiden: Für seine universale Vernunftmethode beansprucht er den Status von Offenbarungswahrheit, wohingegen in der klassischen, aristotelisch geprägten Logik die Ermittlung von Wahrheitswerten keinerlei metaphysische Implikationen hat, nicht einmal auf der Objektebene der verhandelten Aussagen.³³ Wenn Lullus die Diskurse durch die Zusammenführung von formallogischer, dogmatischer und 31 Zum Zweifel als ‚Erzählfigur‘ mit narrativ gesteuerten temporalen Implikationen vgl. Coralie Rippl (in diesem Band). Zweifel (dubitatio) verläuft in der Zeit (hin und her), Staunen (stupor) hält Zeit an, Sich-Wundern (admiratio) steht dazwischen. Die genannten Akte sind erkenntnistheoretisch initiale, aber transitorische Akte, konfrontiert mit Noch-nicht-Entschiedenem, Unbekanntem, Inkommensurablem, aber das Staunen hat nicht wie der Zweifel die Zweiheit (Entzweiungssemantik) in sich, sondern funktioniert als Überwältigungseffekt holistisch. 32 Dazu wegweisend, mit komparatistischer Modellbildung, bereits Coralie Rippl: Erzählen als Argumentationsspiel. Heinrich Kaufringers Fallkonstruktionen zwischen Rhetorik, Recht und literarischer Stofftradition. Tübingen 2014 (Bibliotheca Germanica 61). Zu einem genuin mittelalterlichen literarischen Skeptizismus vgl. Christiane Witthöft: Zweifel, Skeptizismus und das Dilemma der Wahrheitsfindung in der höfischen Epik des Mittelalters – Skizze eines Forschungsfeldes. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch N.F. 62 (2021), S. 33–66. Zur ästhetischen Relevanz von Zweifel und frühneuzeitlicher Literatur vgl. Unsicheres Wissen. Skeptizismus und Wahrscheinlichkeit 1550– 1850. Hrsg. von Carlos Spoerhase, Dirk Werle, Markus Wild. Berlin 2009 (Historica Hermeneutica 7). 33 Vgl. unten Anm. 37 und 38. Im Überblick dazu Alexander Fidora: Einführung. In: Raimundus Lullus: Ars brevis. Lateinisch-deutsch. Übersetzt, mit einer Einführung hrsg. von dems. Hamburg 1999 (Philosophische Bibliothek 518), bes. S. XVIII.
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ontologischer Wahrheit so weitgehend entdifferenziert, muß sich das zwangsläufig auf den Gegenpol des Zweifels auswirken. Das BdW überblendet denn auch im programmatisch wiederkehrenden Sich-Wundern der Erzählfiguren und erzählten Figuren gezielt den Typus des scholastisch-intellektuellen Zweifels mit dem des metaphysisch-existenziellen Zweifels. Der narrativ und diskursiv ‚demonstrierte‘ Zweifel bei Lullus ist also kein neuzeitlicher, kein methodisch ‚autonomer‘ Zweifel, seine Idee universaler Anzweifelbarkeit keine methodologische Skepsis im Sinn totaler Revisionsoffenheit. Gleichwohl erzeugt Lullus konsequent eine unaufgelöste Spannung zwischen den Polen vorbehaltloser (‚zwingender‘) und vorbehaltlicher Vernunft. Die Geschichten des Einsiedlers konfrontieren Felix immer wieder mit entdifferenzierten Wahrheitsdiskursen, was den Spielraum des Zweifels beziehungsreich erweitert und Risiken erzeugt – selbst dann, wenn der Protagonist Glück und Glückseligkeit von Anfang an im Namen trägt. Auch der kurze Blick auf Lulls eigene spektakuläre Biographie belegt Risiken nach allen Richtungen: Wohl adliger Herkunft, steht Lullus in enger Verbindung mit den Höfen. Doch er verkauft seinen Besitz, vertauscht die höfische Kleidung mit grober Kutte, lernt Arabisch und Latein, absolviert als Autodidakt ein stupendes Lektüreprogramm (Bibel, Koran, Talmud, antike, persische, patristische Philosophie) und verfaßt rund 280 Werke auf katalanisch, lateinisch, arabisch. Allgegenwärtiges Zentrum seines Oeuvres ist jene berühmte, von ihm selbst mehrfach revidierte und kondensierte universale Meta-Wissenschaft (Ars generalis). In Paris reüssiert er damit nicht. Als gelehrter Laie und Autodidakt sucht er dort einen von vornherein „unmöglichen Dialog“.³⁴ Die Vergeblichkeit seiner Versuche, die Universitätstheologie, die Päpste und Könige von seiner Ars zu überzeugen, stürzt ihn in eine Krise. Er bereist den gesamten Mittelmeerraum, gründet Missionarsschulen, doch öffentlich vorgetragene Trinitätsspekulation trägt ihm in Nordafrika Kerkerhaft ein. In den letzten Lebensjahren verkämpft er sich überwiegend in innerchristlichen Konflikten, vor allem mit den Averroisten.³⁵ Für das ‚demonstrative Erzählen‘ im BdW läßt sich verallgemeinern: Lulls schillernder Programmbegriff der Demonstratio erzeugt auf beiden Ebenen der
34 Ruedi Imbach: Der unmögliche Dialog. Lull und die Pariser Universitätsphilosophie 1309–1311. In: Ders.: Laien in der Philosophie des Mittelalters. Hinweise und Anregungen zu einem vernachlässigten Thema. Amsterdam 1989 (Bochumer Studien zur Philosophie 14), S. 102. 35 Legendarische Inszenierungen seines Lebens geben sich alle Mühe, das institutionelle Scheitern Lulls ex post religiös umzubesetzen als Inversion von Weltbezug und Weltaskese (Troubadour, Visionär, Pilger, Missionar, Einsiedler, Lehrer, politischer Diplomat und – gesteinigt von Andersgläubigen – Märtyrer). Mit dieser traditionellen Rolleninversion kann Lulls Scheitern in der Welt als Heilsgewinn erscheinen: durch Hagiographisierung, universitätstheologische Assimilierung und missionspolitische Priorisierung.
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Rahmenhandlung und der Binnengeschichten Vieldeutigkeit. Logisch strikte Beweisverfahren werden zugleich narrativ umgesetzt, und dieses Erzählen im Logikmodus soll darüber hinaus zusammenfallen mit dem, was sich als Offenbarungswahrheit (‚Wunder‘) evident zeigt. Diese Mehrdeutigkeit seriell ‚demonstrierter‘ Koinzidenz von Wahrheitsansprüchen ist autorspezifisch.³⁶ Sie zielt im BdW, wie wir sahen, auf eine kontinuierliche Einübung (Habitualisierung) der Kunst der Unterscheidung, mit der Felix der eigenen und fremden Ungewißheit je neu zu begegnen lernt. Anders gesagt: Es braucht den Zweifel, um ihn aus der Welt zu schaffen. Wer war klüger, Adam – oder die Schlange? Mit dem Sündenfall des Geistes und seinen Paradoxien hatten wir begonnen. Sie wirken sich bei Lullus auch in der Gattung Logik-Abhandlung aus.
III actus confusus? ‚Habituelle‘ Vorbehaltlichkeit und ‚explorative‘ Vernunft bei Lullus Utrum? Regula ista est de possibilitate. „Ob? Diese Regel erforscht die Möglichkeit.“ (Raimundus Lullus, Logica Nova)
Das ambivalente Prinzip, das schon im biblischen Urmythos den Sündenfall des Geistes verantwortet – Unterscheidungslust –, kehrt im Mittelalter mit eminenter Macht wieder. War der Zweifel als Instrument der Widerspruchsauflösung noch im 12. Jahrhundert für den Bereich der Schriftauslegung und Texthermeneutik reserviert, weiten sich im Lauf des Spätmittelalters die Grenzen seines Zuständigkeitsbereichs. In seinem genuinen Bereich von der universitären Logik kennzeichnet den Zweifel das unbestimmte Auseinandertreten zweier gegensätzlicher Positionen. Mit dem Index diffuser Vermischung (Zwiespältigkeit statt Eindeutigkeit, Widersprüchlichkeit statt Übereinstimmung) gilt der Zweifel als Denkblockade. Er ist, in der Sprache der formalen Logik, determinationsbedürftig; ein Knoten in der Vernunft, den man kennen muß, um ihn lösen zu können. Prototypisch übt im Logik-Lehrbetrieb des 13. Jahrhunderts die sog. Quaestio dubitativa diese Doppel-
36 Die Forschung hat das, wenn ich recht sehe, mehr für die Staunen-Wunder-Diskussion ausgewertet, weniger für die Rolle des Zweifels. Vgl. Jan Glück: Animal homificans. Normativität von Natur und Autorisierung des Politischen in der europäischen Tierepik des Mittelalters. Heidelberg 2021 (GRM-Beih. 104), S. 203: „‚Sich Wundern‘ (‚meravellar-se‘) meint dabei nicht nur, dass Felix die Schöpfung Gottes ehrfuchtsvoll ‚bewundert‘. Zugleich bezeichnet ‚sich wundern‘ hier eine erkenntnistheoretisch dimensionierte Neugier, das ‚Erstaunen‘, ‚überrascht Sein‘ oder auch ‚erschrocken Sein‘, das Felix auf seiner Reise kontinuierlich erfährt […].“
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kompetenz von Knotenschürzen und Knotenlösen ein. Die Herbeiführung des Zweifels im Dreischritt von These, Gegenthese, Solutio gilt als Kernelement scholastischer Pädagogik. Parallel zur Kunst der Zweifelherstellung wächst die Kunst der Zweifelbewältigung. distinguendum est ist die klassische Differenzierungsformel im gelehrten Disput. In mehr oder weniger virtuos umgesetzter Kunst der Distinktion besteht die Macht des scholastischen Zweifels. Seine Ohnmacht liegt in der Begrenzung seiner Reichweite. Noch bei Thomas von Aquin ist die Hypothesenbildung der ‚zwingenden‘ Vernunft durch auctoritates diszipliniert. Die Präsentation gegensätzlicher Positionen im Ausgang von einer Streitfrage will selbständige Urteilsbildung der Vernunft fördern, indem sie Tradition zur Geltung bringt. Doch im Laufe des Spätmittelalters verschieben sich die Koordinaten. Unter dem Eindruck neu entdeckter Aristoteles-Schriften wird Anzweifelbarkeit (dubitabilitas) als Indiz eines zu überwindenden Auseinanderfallens von ‚wahr‘ und ‚falsch‘ zunehmend kontrovers diskutiert, zumal dann, wenn der Zweifel als Modell der Widerspruchsauflösung sich auch für widerspruchstolerante Diskurse wie die Theologia mystica öffnet, was v. a. Albertus Magnus metakritisch reflektiert. Vor diesem Hintergrund läßt sich die Kühnheit ermessen, mit der um 1300 Lullus auctoritas-Argumente ausdrücklich und nahezu vollständig zurückstellt hinter Vernunftargumente, mit dem Anspruch, sämtliche Wahrheiten mit der Vernunft beweisen zu wollen. Damit kommen auch insolubilia (in der Sprache der Theologie: mysteria) wie Inkarnation oder Trinität als dubitabilia auf den Prüfstand der distinktiven Vernunft.³⁷ Statt innerlogische Fragen strikt abzugrenzen von außerlogischen (metaphysischen), öffnet er die Zuständigkeit der Logik maximal.³⁸ Um diese Überblendung verschiedener Wahrheitsdiskurse, der wir schon im BdW begegnet sind, genauer identifizieren zu können, werfen wir einen Blick auf Definitionen und Funktionsbeschreibungen des Zweifels in ausgewählten Logik-Schriften von Lullus. Welchen Raum bekommt der Zweifel dort?
37 Für seine ‚ultimativ‘ neue, ‚allgemeine‘ Beweiskunst, die er mehrfach reformuliert, aber von Anfang an als Meta-Wissenschaft maximal entgrenzt (Ars demonstrativa 1283, Logica nova 1303, Ars brevis 1308, Ars generalis ultima 1305–08), beansprucht Lullus statt formaler, aussagenlogisch begrenzter Richtigkeit den Status von Offenbarungswahrheit. Seine Ars bietet eine ontologisch durchlässige Methode, die umfassend kombinatorisch angelegt ist und erst in der Frühen Neuzeit auf eine universale Topik eingeschränkt wird. Vgl. zusammenfassend Wilhelm Schmidt-Biggemann: Topica universalis. Eine Modellgeschichte humanistischer und barocker Wissenschaft. Hamburg 1983 (Paradeigmata 1), S. 155–211. 38 Die klassische, aristotelisch geprägte Logik behandelt Aussagen und deren Verknüpfung durch Junktoren, ausgehend von nicht weiter teilbaren Elementaraussagen, denen ein Wahrheitswert zugeordnet wird. Über bestimmte (formale) Transformationsregeln wird jeder Aussage genau einer der zwei Wahrheitswerte „wahr“/ „falsch“ zugeordnet. Der abschließend bestimmte Wahrheitswert der Aussage hat keine metaphysische Implikation.
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In einer seiner Programmschriften für die Entwicklung einer universalen Wissenschaftslehre, Logica Nova, die mit Felix oder Das Buch der Wunder auch zusammen überliefert ist,³⁹ definiert Lullus ‚Zweifel‘ (dubitatio) wie folgt: 26. Dubitatio est actus confusus ⁴⁰ in intellectu, ut intellectus habitum credulitatis habere possit, affirmando vel negando. 26. Zweifel ist ein verworrener [wertneutraler wäre die Übersetzung: vermischter, gemeint ist ‚undeterminierter‘, unbestimmter, S.K.] Akt in der Vernunft, damit diese durch Bejahung oder Verneinung den Habitus des Glaubens haben kann.⁴¹
Diese Definition ist Teil einer Reihe von 100 Definitionen aus dem IV. Abschnitt der Logica Nova (S. 150–185), in denen Fragen „impliziert und angezeigt“ seien (Et in istis centum quaestiones implicitae et significatae sunt), die der Vernunft eine „Fülle an Material“ bieten sollen „zur Erlangung eines umfangreichen Habitus an Wissen“ ([…] magna materia intellectui ad habendum magnum habitum scientiae, S. 184). Zweifel als Differenzkategorie, sprachlogisch markiert durch den Junktor ‚oder‘, trägt in der oben zitierten Definition Nr. 26 als actus confusus den Index schwankender („gemischter“, undeterminierter) Ungewißheit. Zugleich wird der Zweifel funktional bestimmt als elementares dynamisches Prinzip, das der unentschiedenen Vernunft den Zustand des Glaubens (habitus credulitatis) verschaffe qua Affirmation oder Negation. In diesem Sinn setze der Zweifel als ‚gemischter‘ Schwebezustand das ‚inventive‘⁴² Potential der Vernunft frei.
39 Zu Überlieferungssymbiosen Glück (Anm. 36), S. 202, Anm. 123. 40 In der Suppositionstheorie der mittelalterlichen Logik werden Termini im Syllogismus unterschiedlich vorausgesetzt, z. B. als ‚bestimmte‘ Supposition (suppositio determinata; Umformung des Satzes durch ‚und‘-Verknüpfung), als konfus-distribuierte Supposition (suppositio confusa distributiva; ‚oder‘-Verknüpfung) oder als bloß konfuse Supposition (suppositio confusa tantum; weder Umformung in Konjunktion noch in Disjunktion) umgeformt. Auch die Affirmation selbst kann, wo sie bloße Meinung (opinio) ist, actus confusus sein. Vgl. Raimundus Lullus: Die neue Logik. Logica Nova. Hrsg. von Charles Lohr, übersetzt von Vittorio Hösle, Walburga Büchel. Hamburg 1985 (Philosophische Bibliothek 379), S. 172 f., Nr. 34: Opinio est actus confusus affirmationis […]), ebenso wie Verdacht (suspicio) ein actus confusus der erzürnten Vernunft (ebd., Nr. 35). 41 Logica Nova (Anm. 40), IV, 26, S. 170 f. Lulls eigenwilliges Latein ist nicht immer einfach zu übersetzen, nicht zuletzt, weil er als Latein-Autodidakt überwiegend auf lateinische Philosophie und Theologie des 12. Jahrhunderts zurückgreift für Problemstellungen und Begriffe, mit ihnen aber zugleich auf zeitgenössische Debatten der spätmittelalterlichen Scholastik reagiert. Glauben (credere), zweifeln (dubitare) und Annehmen (supponere) gelten Lullus als Erkenntnisakte der Vernunft. 42 Logica Nova (Anm. 40), S. 26: intellectus, qui est investigativus; intellectus [potentia] inventiva est.
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Rund 60 Definitionen später definiert Lullus nach dem Muster seiner korrelativen Definitionspraxis⁴³ seinerseits das Zweifel-definierende Detail der confusio, erneut nicht mit negativen Implikationen, sondern axiologisch neutral, hier als dynamisches Prinzip von kosmischer Dimension: 87. Confusio est principium, in quo motus generationis et corruptionis inceptus est. […] 87. Mischung ist ein Prinzip, von dem die Bewegung des Entstehens und Vergehens ihren Ausgang nahm. […] (Ebd., 87, S. 180 f.)
Berücksichtigt man beide von mir zitierten (dubitatio- und confusio‐)Definitionen aus Lulls Logica Nova in ihren axiomatischen Kontexten jeweils noch genauer, ergibt sich: Der Zweifel ist als actus confusus gewissermaßen von sich selbst befallen, kann er doch ein kontrollierter oder unkontrollierter, geordnet-gemischter oder ungeordnet-gemischter Akt sein,⁴⁴ und ist schon deswegen je neu zu prüfen. Indem er Distinktion erzeugt, löst er sich auf. Diese unendliche Operation übernahmen im BdW, wie wir sahen, im Wechsel Felix und der Einsiedler. Zweifel ist Lulls programmatisch Neuer Logik zufolge eine unhintergehbare Tätigkeit (actus) der Vernunft, die erkennen will. Im Ausgang von ‚gemischten‘ Situationen erzeuge sie eine spezifische Dynamik (in der oben zitierten Confusio-Definition Nr. 87 eine buchstäbliche „Motorik“: motus generationis et corruptionis), und zwar durch Multiplikation möglicher Relationen sowohl für die Erkenntnisgegenstände wie für die
43 Vor dem oben skizzierten Hintergrund einer ‚neuen‘ Logik transformiert Lullus auch die Praxis der Axiomatik: Während in der klassischen Aussagenlogik, um Beweisführung zu verkürzen, axiomatische Formeln vorausgesetzt werden, die, semantisch gesehen, Tautologien sind, also rein formal immer zutreffen, wendet sich Lulls ‚neue‘ Definitionspraxis von der aristotelischen Tradition ab. Seine Definitionen zielen nicht mehr auf die differentia specifica, sondern (‚korrelativ‘) auf die Tätigkeit (actus) im Verhältnis zur Möglichkeit (potentia). Vgl. zusammenfassend für die Ars brevis Fidora (Anm. 33), S. IX–XLV, hier S. XXXVII. Außerdem Anthony Bonner: The Art and Logic of Ramon Llull. A User’s Guide. Leiden/Boston 2007 (Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters 95).Vgl. etwa die Definition von Diffusio in der Ars brevis: 33. Diffusio est forma, cum qua diffundens diffundit diffusibile (X 33, S. 82). In Lulls Logik „sind Bestimmendes und Bestimmtes dasselbe; Objekt- und Metaebene – die Kategorien und die Aussagen über die Kategorien – fallen zusammen; die Kategorien werden wesentlich voneinander und damit von sich selbst ausgesagt.“ Mit Bezug auf die Logica Nova Hösle (Anm. 40), S. LXVI. Außerdem Kurt Flasch: Zur Rehabilitation der Relation. Die Theorie der Beziehung bei Johannes Eriguena. In: Philosophie als Beziehungswissenschaft. Festschrift für Julius Schaaf. Hrsg. von Wilhelm Friedrich Niebel, Dieter Leisegang. Frankfurt a. M. 1974, S. 5–25. 44 Für die kontrollierte, geordnete Verknüpfungsleistung der Vernunft als mixtio […] condicionata et ordinata vgl. Ars brevis (Anm. 33), VIII, S. 50.
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„Bedingungen“ des Erkennens.⁴⁵ Der Zweifel, selbst ein Phänomen von Spaltung und konfundierter ‚Mischung‘, wird so beherrschbar als vernünftiges Instrument korrelativer Vervielfältigung möglicher Perspektiven – und zurückgelassen.⁴⁶ Indem er universalen Unterscheidungsbedarf generiert und bewältigt, erhält der Zweifel bei Lullus einen verblüffend hohen Stellenwert. Formallogisch gezähmt von der syllogistisch „zwingenden“ Vernunft, fungiert er zugleich als Vorstoß ins Unbekannte. Die Vernunft könne nur im Durchgang durch den Zweifel diesen hinter sich lassen, „ruhig“ und zustimmend werden (Et sic intellectus expellit […] dubitationes et consistit […] quietus et assertivus, Ars brevis [Anm. 33], VI, S. 44 f.); andernfalls bleibe sie der Versuchung ausgesetzt, sich vorschnell beruhigen zu wollen im bloßen Glauben, unbeweglich, unkommunikativ, obstinat.⁴⁷ Eben diese dynamische, zugleich transitorische und transformatorische Energie von dubitatio bringt ein anderes Zitat aus der Ars brevis auf den Punkt, das
45 intellectus multiplicat condiciones, Ars brevis (Anm. 33), XI, 9, S. 110, auch bei der Einübung (habituatio) der Methode gehe es darum, Fragen und Lösungen zu vervielfältigen, ebd., XII, S. 136. Mit je neuer Differenzierung, so daß nicht verwundert, daß Lullus differentia selbst eigenwillig differenziert (sunt plures differentiae).Vgl. Logica Nova (Anm. 40), II, c. 3 De differentia, S. 58–65, hier S. 62, wo differentia propria abgehoben wird von differentia appropriata („eigentümliche“ von „vermittelt eigentümlicher“, ebd.). Distinktion und universale Anzweifelbarkeit geraten später v. a. bei den Humanisten folgenreich in Mißkredit, die nur auf Exzesse und Fehlentwicklungen der Quaestio disputata-Praxis schauen und für das intellektuelle Potential der scholastischen Methode im Zusammenspiel von dubitatio und determinatio keinen Sinn mehr haben. 46 Im vierten Teil der Ars brevis (Anm. 33), in dem die ‚Regeln‘ erläutert werden, mit denen ‚Fragen‘ deduktiv gelöst werden können, faßt Lullus abschließend zusammen: Die Vernunft verwerfe die zweifelhafte Seite der Frage (illam quaestionem dubitabilem) und wähle, durch das Erkennbare erkennend, die Bejahung oder Verneinung der Frage (affirmantem aut negantem). „Dies geschieht, damit die Vernunft vom Zweifel geschieden wird.“ (et quod ipse intellectus sit a dubitatione separatus, IV, S. 34–37). Die Vernunft, so Lullus, komme zur „Ruhe“, indem sie unterscheide (intellectus quiescit distinguendo, ebd., X, S. 86. 47 Daß Zweifel und Verzweiflung zusammenhängen, begründet Lullus indirekt genau damit: während im Erkennen (intelligere) die Vernunft zur„Ruhe“ komme (quiescit), sei sie im Zustand der ignorantia in „Not“ (in labore).Vgl. Logica Nova (Anm. 40), Nr. 99 IV, S. 184.Vgl. zur kognitiv-affektiven Doppelsemantik von Zweifel auch Abaelard: Collationes (Anm. 6), S. 110. Abaelard formuliert programmatisch die Nützlichkeit des Zweifels, mit Bezug auf Aristoteles, am Schluß des berühmten Sic et non-Prologs, vgl. Peter Abailard: Sic et non. A Critical Edition. Hrsg. von Blanche B. Boyer, Richard McKeon. Chicago/London 1977, S. 103, Z. 333 (§95: Widersprüche provozieren Zweifel und Fragen, was für die Erfassung der Wahrheit Scharfsinn hervortreibe), Z. 334 f. (§96: Hartnäckiges und häufiges Fragen sei der Schlüssel zur Weisheit), vgl. auch Z. 337 f. Text, Übersetzung und Kommentar bei Cornelia Rizek-Pfister: Petrus Abaelardus: Prologus in Sic et non. In: Sinnvermittlung. Studien zur Geschichte von Exegese und Hermeneutik. Hrsg. von Paul Michel, Hans Weder. Zürich 2000, S. 207– 252, hier S. 215–252.
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anläßlich der Definition dreier Arten von ‚ob?/utrum?‘-Fragen folgende Differenzierung vornimmt: ‚Utrum?‘ habet tres species, videlicet dubitativam, affirmativam et negativam, ut in principio intellectus supponat utramque partem esse possibilem, et non liget se cum credere, quod non est suus actus, sed intelligere. ‚Ob?‘ besitzt drei Arten, nämlich den Zweifel, die Behauptung und die Verneinung, so daß die Vernunft zunächst beide Seiten für möglich hält und sich nicht daran bindet, nur zu glauben, was nicht der ihr eigene Akt ist, sondern zu erkennen.⁴⁸
Hier scheint mir ein Schlüsselzitat für die Rolle des Zweifels bei Lullus vorzuliegen. Das Zitat reformuliert die Entzweiungssemantik von Zweifel (wahr/falsch-Binarität) triadisch: Der Zweifel wird als ergebnisoffene Erkenntnishaltung zugelassen, als Zugeständnis der Vernunft, die „zunächst beide Seiten für möglich hält“. Dabei wird der Zweifel selbst zu einer Kompromißfigur,⁴⁹ im vorläufigen „Zugestehen“ noch unsicherer Möglichkeiten. Nur dann bleibe die Vernunft nicht im Habitus des Glaubens (credulitas, credere) stehen, „binde“ Erkennen sich nicht an den Glauben. Dabei markiert die oben zitierte nhd. Übersetzung des Zitats den Zweifel als zeitliches Konstrukt ausdrücklicher als der lateinische Text durch den verdeutlichenden Zusatz eines Zeitadverbs („zunächst“). Noch deutlicher wird eine Parallelstelle zur Rolle von ‚ob‘-Fragen aus Lulls Logica Nova (auch im BdW waren wir im übrigen schon auf eine Reihe kapitelgliedernder Ob-Fragen gestoßen, vgl. oben S. 41). Wieder expliziert die nhd. Übersetzung mit Zeitadverbien die Temporalität („zunächst“–„erst später“), während der lateinische Text den Zeitverlauf nicht ausdrücklich markiert: Utrum? Regula ista est de possibilitate […]. Conditio istius regulae talis est, quod homo investigans veritatem, affirmando et negando quamlibet partem esse possibilem, debet concedere hoc, per quod sua memoria habet maiorem actum recolendi, intellectus suus intelligendi, sua voluntas diligendi. Ob? Diese Regel erforscht die Möglichkeit […]. Diese Regel hat also zur Bedingung, daß der Mensch, der die Wahrheit erforscht, zunächst in seinen positiven und negativen Urteilen beide
48 Ars brevis (Anm. 33), IV B, S. 28 f. Hervorhebung S.K. 49 Das Wort ‚Kompromiß‘ hat seine Wurzel bekanntlich im lateinischen compromissum, compromittere („sich gegenseitig versprechen, eine Entscheidung dem Schiedsrichter zu überlassen“ (Wolfgang Pfeifer: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen. 2 Bde. München 1993, s.v. Kompromiß, Bd. 1, S. 701). Die römische Rechtsprechung versteht Kompromisse als Vereinbarung von Konfliktparteien, den Spruch eines selbstgewählten Schiedsrichters (hier: des Schiedsrichters der Vernunft) zu akzeptieren (bzw. bezeichnet diese schiedsrichterliche Entscheidung selbst). Vgl. zusammenfassend Zanetti (Anm. 5), S. 20.
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Möglichkeiten zuläßt und (erst später) das zugesteht, woran sich sein Gedächtnis besser erinnert, was seine Vernunft besser erkennt und was sein Wille besser liebt (Hervorhebung S.K.).⁵⁰
Was im vorausgehenden Zitat zum selben Typus der ‚ob‘-Frage aus der Ars brevis noch pauschal als Erkenntnisakt (intelligere) benannt war, wird hier im Logica Nova-Parallelzitat nach drei Richtungen von memoria, intellectus und voluntas ausgefaltet. Um auf der Suche nach der Wahrheit aus dem Zweifel kognitiv und affektiv herauszufinden, muß man sich erst gründlich in ihn hineindenken. „Der Zweifel ist für Lull die erkenntniskritische Grundhaltung schlechthin. […] Die Vernunft darf sich nicht daran binden zu glauben, sondern muß zunächst beide Seiten für möglich halten.“⁵¹ Erst dann kann sie, so Lullus, im Verbund mit den Seelenkräften Erinnerung und Wollen urteilen und vor allem: sich mitteilen. Im Fortgang des Zitats aus der Logica Nova (Anm. 40) wird unübersehbar, daß Anzweifelbarkeit (Vernunfthaltigkeit) für Lullus die unabdingbare Voraussetzung für eine intellektuell bewegliche, kompromißfähige Gesprächsfähigkeit ist: Würde sich die Vernunft zu schnell „binden“, würde sie sich selbst einschränken, bliebe sie unwissend und verstockt (remanet ignoranter obstinatus). Mit so jemandem sei nicht zu diskutieren: Et cum tali ligante et impediente intellectum suum non est disputandum (ebd., S. 26). Nur die Bereitschaft zum Zweifel ermögliche Wahrheitsund Dialogfähigkeit. Die Reichweite der zweifelnden Vernunft ist hier deswegen so groß, weil Lullus seine Ars nicht einschränkt auf Satz- bzw. Aussagenlogik, sondern mit dieser zugleich auf die Wahrheit der Propositionen und verhandelten Sachverhalte zielt, wie ich oben bereits angedeutet habe. Wir können nun konkreter beschreiben, was damit gemeint ist. Hinter der eingangs zitierten Zweifeldefinition als actus confusus steht einerseits die implizite Voraussetzung, daß Gott selbst als actus purus, als „ontologische Garantie“ und epistemische Basis, jeden actus confusus in der Welt der Zusammensetzungen fundiere.⁵² Gleichzeitig bildet die Sonderterminologie der mittelalterlichen Suppositionslogik (suppositio determinata gegenüber suppositio
50 Logica Nova (Anm. 40), I, Nr. 6: De quaestione, S. 26 f. 51 Fidora: Ars brevis (Anm. 33), S. XXIII. Daß eine universale Zweifelsenergie (universalis dubitatio) die Vernunft aus „Bindungen“ des bloßen Meinens „befreie“, hatte auch Thomas bereits formuliert. Der herausragende Status der Vernunft bei Lullus liegt nicht (wie noch bei Anselm oder auf seine Weise auch bei Abaelard) in ihrer formalen Anschließbarkeit, sondern vor allem in ihrem Anspruch illuminierter Offenbarungswahrheit. Eben weil beides zugleich gilt, müssen die sei es dialogisch, sei es formallogisch arrangierten Denk- und Erzähl-Kompromisse je neu verstetigt (habitualisiert) werden. 52 Wilhelm Schmidt-Biggemann: Philosophia perennis. Historische Umrisse abendländischer Spiritualität in Antike, Mittelalter und Früher Neuzeit. Frankfurt a. M. 1998, S. 137.
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confusa distributiva oder suppositio confusa tantum, vgl. Anm. 40) den evidenten Ausgangspunkt der zitierten Definition. Die beanspruchte Einheit von Wissen und Offenbarung wertet die zweifelnde Vernunft als schiedsrichterliche Kompromißinstanz auf. Sie führt aber auch zu Ambivalenzen, denn Vernunft ist eben nicht nur instrumental eingesetzt, als prozedurales (kommunikatives) Mittel, sondern zugleich substanziell verstanden als Teil der sich selbst mitteilenden Offenbarungswahrheit. Diese wenigen Beispiele aus Lulls Logik-Schriften lassen erkennen, warum der Zweifel als Zugeständnis der Vernunft eine solch verblüffende Reichweite erhält: Durch den Zweifel werde aufgedeckt, was „möglich“ sei.⁵³ Den umfassenden Einsatz der Vernunft rechtfertigt Lullus mit dem „gänzlich ungewöhnlichen“ Argument, der Glaube könne irren, weil er glaube, ohne zu zweifeln, dagegen die Vernunft irre niemals, weil sie prüfe.⁵⁴ Nur die zweifelnde, distinktive Vernunft könne sich zur Allgemeinheit erheben und routiniert (multis habitibus) ‚mögliche‘ Objekte und Erkenntnisse vervielfachen.⁵⁵ Auch wenn Lullus, wie in der mittelalterlichen Schlüsseldisziplin zur Verhandlung zweifelhafter Fragen, der Logik üblich, einschlägige Begriffe in langen axiomatischen Begriffskatalogen hypergenau definiert (Begriffe von Dingen, Begriffe von Begriffen), bleiben sie bei ihm noch in ihrer definitorisch determinierten Gestalt offen. Das liegt erstens daran, daß Lullus im Modus rekursiv angelegter Definitionsketten metaphysische Fragen mit formallogischen Prozeduren verknüpft, zweitens ein autodidaktisches eigenwilliges Latein verwendet, das Begriffs- und Denktraditionen sehr selektiv aufnimmt und verwandelt. Mit seiner ambivalenten Universalisierung des Zweifels (dessen Rationalisierung und Ontologisierung) geht Lullus mit dem Rücken voran. Kein Wunder, daß es ihm nur Konflikte einbringt: von Seiten der ‚modernen‘ Nominalisten den Vorwurf von Rückständigkeit und Verrücktheit (er vermische Logik und Metaphysik), von Seiten der ‚Traditionalisten‘ den Vorwurf überzogener Vernunftgläubigkeit. Mir kommt es hier vor allem auf die Folgen für die jeweiligen Textinszenierungen an. Wenn der Zweifel quer zu ‚wahr‘/‚falsch‘-Alternativen die Kategorie des Möglichen ins Spiel bringt, die Vernunft unter Vorbehalt alternative Möglichkeiten
53 Vgl. Stünkel (Anm. 18), S. 180 (zur „explorativen Vernunft“ bei Lullus S. 180–186). Die formale Vernunft hält sich Möglichkeiten offen. Epochenübergreifend verschiedene Modelle des Möglichen, v. a. im Blick auf Kunst und Ästhetik, zuletzt bei Niklaus Largier, Anja Lemke: Theorien des Möglichen. Berlin 2022. 54 Vgl. Hösle: Logica Nova (Anm. 40), S. XXXIV mit Bezug auf Lulls Libre de contemplació en Déu, Kap. 154, n. 5. 55 Et uideas, per quem modum intellectus multiplicat condiciones, cum quibus multiplicat obiecta et suum intelligere, ut per multas et magnas scientias sit generalis et multis habitibus indutus. Ars brevis (Anm. 33), S. 110.
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‚konzedieren‘ darf, erzeugt das in verschiedenen Texten dieses Autors schwankende Verhältnisse: paradoxe Vorgänge der Re- und Entdifferenzierung, der Symmetrieund Asymmetrieherstellung.⁵⁶ Die Nagelprobe für undeterminierte (‚konfuse‘) Zweifelsfragen ist im Fall Lullus nicht der inner-, sondern interreligiöse Konflikt. Er hatte auf seiner Heimatinsel Mallorca, die erst 1229, also nur drei Jahre vor seiner Geburt, durch Jakob den I. aus muslimischer Herrschaft zurückerobert worden war, ausreichend Gelegenheit gehabt, sich von der dringenden politischen Notwendigkeit religiöser Eintracht und zugleich vom Versagen der zeitgenössischen apologetischen Praxis zu überzeugen.⁵⁷
Lullus konzipiert seine gesamte Philosophie mit dem Ziel, Juden, Moslems und Christen im Dialog zusammenzuführen. Seine Überlegungen zur Sicherung des politischen Friedens durch den Entwurf einer neuen Missionstheorie weisen weit voraus. Es geht Lullus dabei nicht um einen destruktiven Überbietungskampf, nicht um Polemik oder um die Beschämung des Gegners, sondern um eine interreligiös vermittelbare (dialogfähige) Wahrheits-‚Demonstration‘. Vernunft und Glauben müssen dabei stabil ‚konvenieren‘, so Lullus im Unterschied zum defensiven „thomanischen Minimal-Rationalismus“, dem es (nur) um Vernunft-„Kompatibilität“ des Glaubens gehe.⁵⁸ Subjektive „Gewißheit“ des Glaubens sei für den vernunftbegabten Menschen „ebensowenig Garant für die Wahrheit wie die Berufung auf Autoritäten“, zumal auch Juden und Moslems sich in der Wahrheit glauben.⁵⁹ Indem er die vernünftige Methode seiner Ars selbst zur offenbarten auctoritas erklärt, kann Lullus wie kaum ein anderer mittelalterlicher Denker exklusiv auf Vernunftargumente setzen statt (auch) auf Glaubensautoritäten. Erleuchtet von Gott auf dem Berg Randa, habe er seine Methode erhalten: […] formam et modum
56 Zur gezielten terminologischen Distinktion beim Lullus-Enthusiasten Nicolaus Cusanus vgl. Isabelle Mandrella: Reformhandeln und spekulatives Denken bei Nicolaus Cusanus. Eine Verhältnisbestimmung. In: Renovatio et unitas – Nikolaus von Kues als Reformer. Theorie und Praxis der „reformatio“ im 15. Jahrhundert. Hrsg. von Thomas Frank, Norbert Winkler. Göttingen 2012 (Berliner Mittelalter- und Frühneuzeitforschung 13), S. 37–51, bes. S. 40: „Die ratio repräsentiert das Vermögen, das diskursiv und syllogistisch vorgeht, das – gebunden an das Widerspruchsprinzip und die Regeln der Logik – Widersprüche aufzeigt, schlussfolgert, forscht und sucht, und so sukzessive Erkenntnisgewinn ermöglicht. Der Intellekt hingegen […] ist in der Lage, zur Koinzidenz der Gegensätze zu gelangen.“ Bei Lullus sind beide Semantiken überblendet. 57 Fidora: Ars brevis (Anm. 33), S. XI. 58 Hösle: Logica Nova (Anm. 40), S. XXXII, zur Grundspannung zwischen absoluter und relativer Geltung ‚desselben‘ Prinzips, die seine Texte und Terminologie prägt. 59 Hösle: Logica Nova (Anm. 40), S. XXXV. Zu Konvenienz von Glauben und Vernunft bei Lullus, ebd., S. XXIII–XLIII, in Abgrenzung zu Thomas.
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faciendi librum […] contra errores infidelium. ⁶⁰ Dieses Zitat aus der Vita coaetanea markiert nicht nur den Offenbarungsanspruch seiner Vernunft-Methode, sondern auch sein missionstheologisches Kernanliegen. Es führt uns im letzten Schritt zu Lulls berühmtem Religionsdialog Liber de gentili et tribus sapientibus (1274, Libre del gentil e los tres savis),⁶¹ dessen Dialog-Arrangement in verschiedener Hinsicht als vernünftiger Kompromiß gelten kann. Ausdrücklich werden Symmetrien von den Akteuren verhandelt (Kompromisse, Kooperation, Konsensbedingungen), wo implizit Asymmetrien gelten und bewältigt werden wollen.⁶² Auf diesen erzählten Spannungsausgleich zwischen verschiedenen Strategien impliziter und expliziter Symmetrisierung kommt es mir an. Warum sollte ein so obsessiver Unterscheidungskünstler wie Lullus, der mit einer eigenwillig umgedeuteten Intentionenlehre das Ziel einer Handlung (‚erste Intention‘: Gott) und das Medium zu deren Ver-
60 Raimundus Lullus: Vita coaetanea. In: ROL = Raimundi Lulli Opera Latina. Turnhout 1959 ff. Hrsg. von Friedrich Stegmüller (Corpus Christianorum. Continuatio Mediaevalis), VIII, S. 280 (jene berühmte autobiographische Konstruktion, die Lullus während seines letzten Parisaufenthalts 1311 einem Kartäuser aus Vauvert diktiert haben will. 61 Raimundus Lullus: Liber de gentili et tribus sapientibus. In: Ders.: Opera latina 10–11. Liber contra Antichristum. Liber de gentili et tribus sapientibus. Hrsg. von Pamela M. Beattie, Óscar de la Cruz Palma. Turnhout 2015 (Corpus Christianorum. Continuatio Mediaevalis 264), S. 231–476; vgl. Ramon Lull: Llibre del gentil e dels tres savis. A cura d’Antoni Bonner. Palma de Mallorca 1993 (Nova Edició de les Obres de Ramon Lull 2); Deutsche Übersetzung: Ramon Lull: Das Buch vom Heiden und den drei Weisen. Übersetzt und hrsg. von Theodor Pindl. Stuttgart 2007 (RUB 9693). Im Folgenden stütze ich mich auf die lateinische Version (zit. Liber gentilis). 62 Lulls zentrales Paradigma ‚Heiden/Christen‘ gehört zu den klassischen ‚asymmetrischen Gegenbegriffen‘; im Folgenden setze ich den ‚Heiden‘ der Einfachheit halber nicht konsequent in distanzierende Anführungszeichen. Vgl. zuletzt Bent Gebert: Agon – Faszination – Dialog. Religionsgespräche im Willehalm Wolframs von Eschenbach und in der Arabel Ulrichs von dem Türlin. In: Vielfalt des Religiösen. Mittelalterliche Literatur im postsäkularen Kontext. Hrsg. von Susanne Bernhardt, Bent Gebert. Berlin/Boston 2021 (Literatur – Theorie – Geschichte 22), S. 275–312; Udo Friedrich: Mythische Narrative und rhetorische Entscheidungskalküle im „Dialogus miraculorum“ des Caesarius von Heisterbach. In: Mythen und Narrative des Entscheidens. Hrsg. von Martina Wagner-Egelhaaf, Bruno Quast, Helene Basu. Göttingen 2020 (Kulturen des Entscheidens 3), S. 23–45; zur „Überführung von Unentschiedenheit in Entschiedenheit“ vor dem Hintergrund konkurrierender Wertrelationen: „Während in der Moral- oder Heilslehre die Konfrontation asymmetrischer Werte die Richtung der Entscheidung implizit immer schon vorgibt – Herkules am Scheideweg, Himmel oder Hölle –, sind im Rechtsdiskurs die Verhandlungen institutioneller Normen schon komplexer, meist umstritten, und es können über dilemmatische Konstellationen Normenkonflikte zum Vorschein kommen, die eine Entscheidung erschweren oder gar unmöglich machen. […] Wo Konfliktsituationen unter Rekurs auf vielfältige Normensysteme ausgehandelt werden, wie in der Politik, unterliegen Entscheidungen noch einmal komplexeren Bedingungen“ (S. 23).
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wirklichung (‚zweite Intention‘) differenziert,⁶³ für sein vornehmstes Ziel, die Bekehrung der Andersgläubigen, Mittel und Fernziel nicht zu verbinden wissen?
IV Ein Heide, drei Weise und die ‚Bedingungen der Bäume‘ Lullus, der an der Wende vom 13. zum 14. Jahrhundert mit seiner dezidiert ‚neuen‘ Erkenntnismethode die drei großen Kulturen des Mittelmeerraums (Islam, Judentum, Christentum) in Dialog bringen will, setzt sich dabei so gründlich zwischen alle Stühle, daß er nicht nur zu Lebzeiten, sondern auch in der Folgezeit als Raimundus phantasticus fasziniert und abstößt zugleich: auf „phantastische“ Weise unverständlich, dilettantisch, mit anmaßenden Vernunftansprüchen.⁶⁴ Man stößt sich vor allem an Lulls Zwischenstatus zwischen Laie und Gelehrtem: scharfsinnig, aber illiterat und zu vernunftgläubig; innovativ, aber undeutlich und zu kompliziert, vom deplorablen Latein zu schweigen. Das schwankende Urteil schon der Humanisten über Lullus ist kein Zufall. Widersprüchliche Prädikate kehren noch in der LullusForschung der Gegenwart wieder, die ihm etwa „abwägendes, tastendes, ausschweifendes und flexibles Denken“ zuschreibt.⁶⁵ Zugleich abwägend und ausschweifend zu denken kann vielleicht nur so gelingen: mit einem geradezu obses-
63 Fidora: Ars brevis (Anm. 33), S. XVII. 64 Zitat von Rudolf Agricola: De inventione dialectica libri tres. Drei Bücher über die Inventio dialectica. Auf der Grundlage der Edition von Alardus von Amsterdam [1539]. Kritisch hrsg., übersetzt und kommentiert von Lothar Mundt. Tübingen 1992 (Frühe Neuzeit 11), S. 202, V. 121–129: Fuit patrum nostrum memoria Raimundus quidam cognomento Lullus, Hispanus vel (quod proximum est) Balearis, qui artem quandam, quam ex nomine illius Lulli vocant, extulit: acuti, quod equidem non negaverim, et non segnis ingenii indicium; sed quoniam […] non literas sciebat, non ullam aliam dignam docti viri nomine perceperat doctrinam, et hoc ipsum, quod invenerat, quale esset, perspicere, et si forte perspexit, eloquendo aperire […] consequi nequibat. Übersetzt auf S. 203: „Zur Zeit unserer Altvorderen lebte ein gewisser Raimundus mit dem Zunamen Lullus, ein Spanier, oder richtiger: Baleare, der eine gewisse Kunst aufgebracht hat, die man mit dem Namen dieses Lullus benennt, eine Kunst, die, was ich freilich nicht bestreiten möchte, Zeugnis eines scharfsinnigen und beweglichen Geistes ist; da er aber […] keine gelehrte Bildung besaß, hatte er sich keinerlei andere Wissenschaft angeeignet, die des Namens eines Gelehrten würdig wäre, und konnte nicht einmal das, was er herausgefunden hatte, in seiner Besonderheit deutlich erkennen – und wenn er es vielleicht erkannt hat, dann vermochte er es sprachlich nicht zum Ausdruck zu bringen“. 65 Exemplarisch die brillante Untersuchung von Anita Traninger: Mühelose Wissenschaft. Lullismus und Rhetorik in den deutschsprachigen Ländern der frühen Neuzeit. München 2001 (Humanistische Bibliothek. Reihe 1. Abhandlung 50), S. 255.
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siven Vernunftanspruch. Wofür sind die notorisch widersprüchlichen Urteile ein Symptom? Schauen wir nochmals genauer auf den Autor und die lebensweltlichen, biographisch-historischen Kontexte seiner enormen literarischen Produktivität.⁶⁶ Geboren in Mallorca, einem multireligiösen Kulturkontaktraum mit großem muslimischen Bevölkerungsanteil und jüdischer Minderheit, hat Lullus religiöse Pluralität gewissermaßen als „historischen Normalfall“ um sich herum. Man arrangiert sich in pragmatischen Kompromissen. Zwischen „kompromisslos“ feindseliger Missionspolitik⁶⁷ (der Praxis der Durchsetzung religiöser Uniformität) und kompromißbereiter interreligiöser Dialogbereitschaft,⁶⁸ zwischen Polemik und Irenik besteht kein strikter Gegensatz. Täuschen wir uns also nicht. Lullus war bei aller Dialogbereitschaft ein Machtpolitiker, der parteiisch agierte; die apologetische, sprach- und schwertmissionarische Funktion seiner Dialoge liegt auf der Hand: Zwar war Llull zweifellos eine bedeutende Gestalt des Austausches, jedoch ebenso ein Repräsentant der grundsätzlichen Asymmetrie, die einem solchen Austausch zueigen ist. Ebendieser Umstand macht seine Texte phänomenologisch bedeutsam. Llulls Denken dient der Ausarbeitung, Darstellung und Verbreitung der Ars, und diese dient wiederum explizit der Bekehrungsmission insbesondere der Muslime des westlichen Mittelmeerraumes, aber perspektivisch der Mission aller bekannten Völker.⁶⁹
Im Folgenden interessiert mich der umstrittenste der insgesamt 26 Dialoge Lulls, der Liber de gentili et tribus sapientibus (Buch vom Heiden und den drei Weisen), ein Frühwerk, das Lullus in den Jahren 1271–1274 auf Katalanisch verfaßt hat, 1289 wurde der Text ins Lateinische übersetzt (vgl. Anm. 61). Der Text kann als Sonderfall
66 Fernando Domínguez Reboiras, Jorge Uscatescu Barrón: § 39. Ramon Lull. In: Grundriss der Geschichte der Philosophie. Hrsg. von Hermut Holzhey. Begründet von Friedrich Ueberweg. Völlig neu bearbeitete Aufl. Basel 2017 (Die Philosophie des Mittelalters 4), S. 1051–1107. 67 Dorothea Weltecke: Mü ssen monotheistische Religionen intolerant sein? Drei Ringe, Drei Betrü ger und der Diskurs der religiö sen Vielfalt im Mittelalter. In: Die Gewalt des einen Gottes. Die Monotheismus-Debatte zwischen Jan Assmann, Micha Brumlik, Rolf Schieder, Peter Sloterdijk und anderen. Hrsg. von Rolf Schieder. Berlin 2014, S. 301–323, hier S. 301; vgl. auch S. 312–319 zur Unterscheidung von exklusivistischen (‚außer mir irren sich alle‘, inklusivistischen (‚die anderen haben zum Teil recht‘) und pluralistischen Modellen (‚jeder hat recht‘) interreligiöser Gespräche. Zum politisch-kulturellen Kontext eines ‚Grenzraums‘ auch Georges Tamer (Hrsg.): The Trias of Maimonides. Jewish, Arabic, and Ancient Culture of Knowledge = Die Trias des Maimonides. Jüdische, arabische und antike Wissenskultur. Berlin/New York 2005 (Studia Judaica 30), S. 2–39. 68 Eusebio Colomer: Raimund Lulls Stellung zu den Andersgläubigen: Zwischen Zwie- und Streitgespräch. In: Religionsgespräche im Mittelalter. Hrsg. von Bernard Lewis, Friedrich Niewöhner. Wiesbaden 1992 (Wolfenbütteler Mittelalter-Studien 4), S. 217–236. 69 So Stünkel (Anm. 18), S. 160, in Abgrenzung von ‚Toleranz‘-Mißverständnissen.
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der (reich beforschten) Gattung Religionsgespräche⁷⁰ gelten. Er verfolgt laut Prolog die ausdrückliche Absicht, mithilfe einer neuen ‚demonstrativen‘ Vernunftmethode Irrende vom Weg des Irrtums abzubringen (scientia […] demonstratiua ac intellectualis, Liber gentilis [Anm. 61], 232, 24 f.). Lulls metaphysisch fundierte Logik affiziert auch die Gattung Religionsgespräch; herauskommt ein hybrider Text, der (darin vergleichbar dem BdW) Narration und logische Deduktion, literarisches und epistemisches Als-ob so mischt, daß implizite und explizite Kohärenzmuster jeweils gegenläufig wirken, mit dem Effekt einer unabschließbaren Vorläufigkeit von Lösungen. Meine These im Folgenden: Religiöse Pluralität ist bei Lullus weder reine Diskursillusion, noch reine ästhetische Illusion (‚Fiktion‘), vielmehr ein Möglichkeitshorizont, der sich für die ‚explorative Vernunft‘⁷¹ unter Vorbehalt öffnet, trotz vorausgesetzter asymmetrischer Rahmenbedingungen und selbstaffirmativer (apologetischer) Ziele.⁷² Ich beschränkte mich für meine Zwecke auf die ausführliche Rahmengeschichte des Textes: Ein philosophisch gebildeter ‚Heide‘,⁷³ desorientiert und deso-
70 Aus der reichen Literatur: Burghart Wachinger: Religionsgesprä che in Erzä hlungen des Mittelalters. In: Die Aktualitä t der Vormoderne. Epochenentwü rfe zwischen Alteritä t und Kontinuitä t. Hrsg. von Klaus Ridder, Steffen Patzold. Berlin 2013 (Europa im Mittelalter 23), S. 295–315; zuletzt Gebert (Anm. 62) mit reicher Literatur. 71 Vgl. Stünkel (Anm. 18), S. 180–185. 72 Die systematische Frage, inwiefern die Kategorie impliziter und expliziter Vermittlung schon zeitgenössisch eine prominente Rolle spielt, wäre ein lohnendes Forschungsfeld, das hier nicht weiterzuverfolgen ist. So belegt etwa der Begleittext zur vorletzten Miniatur des Zyklus, wo Lulls riesiges Oeuvre mit dem folgenden Raimundus selbst in den Mund gelegtem Satz gerechtfertig wird: Vbi omnis uel multitudo ordinatur ad unum finem principalem, licet uiae sint diuersae et modi multiplices, non obest, sed intellectum multipliciter subtiliat et eleuat, et uoluntatem excitat ad uerum multipliciter diligendum, honorandum, et ita explicite uel implicite ad conuertendum infideles ad fidem catholicam tendunt. Wo die ganze Vielfalt (multitudo) auf das missionarische Hauptziel hingeordnet sei, schade es nicht, daß die Wege unterschiedlich (diversae) und die Methoden vielfältig (multiplices) seien. Denn Vielfalt verfeinere den Intellekt, erhebe und affiziere zur Liebe zum Wahren und erreiche so – implizit oder explizit – ihr Ziel. Raimundus Lullus: Opera latina. Supplementi Lulliani I: Breviculum seu Electorium parvum Thomae Migerii (Le Myésier). Hrsg. von Charles Lohr, Theodor Pindl-Büchel, Walburga Büchel. Turnhout 1990 (Corpus Christianorum. Continuatio Mediaevalis 77), S. 1–407, hier XI, S. 46, 60–65 [Hervorhebung S.K.]. 73 Die grundsätzliche Ausgrenzungssemantik der Kategorie ‚Heiden‘ (Andersgläubige als Ungläubige, Irrende) ist im Prolog markiert; der Heide als der prinzipiell Tauf- und Heilsbedürftige. Auch wenn paratextuell also eine Makroposition formuliert wird, die die dann erzählten parallelen Teilpropositionen integriert, die Nichtchristen im Gespräch sich implizit als weniger erkenntnisfähig zeigen, dominieren im Text symmetrische Beziehungen. Zur bereits bei Abaelard etablierten spezifischen Rolle des ‚Heiden‘ im Religionsgespräch zusammenfassend Volker Leppin: Fiktive Religionsgespräche im Mittelalter. Petrus Abaelard – Raimundus Lullus – Nikolaus von Kues. In: Apologie, Polemik, Dialog. Religionsgespräche in der Christentumsgeschichte und in der Religi-
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lat, weil die Fülle der Welt ihn an deren Vergänglichkeit und den eigenen Tod denken läßt, zieht in die Fremde. Er irrt herum, um ein Remedium zu finden, aber er entkommt der sinnlichen Schönheit und Fülle der Welt nicht. Fern der Heimat stößt er wieder auf Üppigkeit, einen Locus amoenus mit Quellen und fruchttragenden Bäumen, der bei ihm erneut Angst vor dem Sturz ins Nichts (annihilatio) auslöst.⁷⁴ Wie ein Narr (homo debilis) zieht er weiter. Genau gleichzeitig brechen drei ‚Weise‘ aus einer großen Stadt auf, ein Jude, ein Christ und ein Muslim, um vor den Toren der Stadt Rekreation zu finden. Sie gelangen in denselben Wald, in dem der Heide herumirrt. Der Erzähler ruft nicht erneut das ganze Inventar des ersten Naturorts auf, sondern hebt nur eine Quelle und fünf Bäume hervor, die nun nicht „lebensverlängernde“ Früchte tragen, sondern unterschiedlich beschriftete Blüten.⁷⁵ Erzählt wird so, daß die konkrete Szenerie als erzählweltlich-reale Natur-
onsgeschichte. Hrsg. von Mariano Delgado, Gregor Emmenegger, dems. Basel 2021 (Studien zur christlichen Religions- und Kulturgeschichte 29), S. 207–230, bes. S. 208–216. 74 Cum gentilis in huius considerationis labore persisteret, intra se definiuit natale solum dimittere et ad aliquas partes extraneas se transferre, si forte afflictionis suae posset remedium inuenire; aestimauitque ire ad quoddam nemus inhabitabile, quod erat abundans in multis formosis fontibus et multis arboribus diuersos fructus ferentibus copiosum, per quarum recreationem humani corporis uita poterat elongari. […] Cum autem gentilis supradictorum delectatione se consolari satagit et sui cordis tristitiam impellere, ipsum mortis timorosa cogitatio et sui esse annihilatio apprehendunt multiplicanturque anxietas, dolor atque tristitia sui cordis. „Während er so in seinem Leid hin und her überlegte, kam es ihm in den Sinn, seine Heimat zu verlassen und in fremde Länder zu ziehen. Vielleicht würde er dort ein Heilmittel gegen seine Niedergeschlagenheit finden. So beschloß er, sich in einen unbewohnten Wald zurückzuziehen, in dem reichlich sprudelnde Quellen und viele Bäume mit den verschiedensten Früchten vorhanden wären, durch deren Genuß das Leben des Menschen verlängert werden könnte. […]. Doch während der Heide sich auf diese Weise trösten und die Traurigkeit seines Herzens vertreiben wollte, ergriff ihn plötzlich wieder der furchterregende Gedanke an den Tod und die Vernichtung seines Daseins, worauf sein Gemüt stärker als zuvor von Angst, Schmerz und Trauer erfüllt wurde.“ Liber gentilis (Anm. 61), hier S. 234, 62–236, 87; deutsche Übersetzung: Pindl (ebd.), S. 6 f. 75 vsque quo deuenerunt in illam forestam, per quam gentilis praedictus oberrabat. […] ubi erat quidam fons ualde decorus, cuius aqua rigabat quinque arbores […] Ad fontem fuit quaedam domina mirabilis pulchritudinis atque formae, praetiosissimis induta uestibus, equitans palefridum quodam pulcherrimum, cui in fonte praehabito dabat potum. […] Interrogauerunt autem sapientes dominam, quod erat eius nomen. Respondit eis domina, quod ipsa erat Intelligentia. Deprecanturque sapientes dominam, quod placeret ei docere eos naturam et proprietatem illarum arborum, quid etiam significabant litterae, quae in cuiuslibet arboris floribus erant scriptae. (Ebd., S. 239, 140–240, 159) „Nach einer Weile gelangten sie in eben den Wald, in dem der Heide umherirrte. […] dort, wo eine frische Quelle fünf Bäume bewässerte. […] An der Quelle befand sich eine edel gekleidete Frau von wunderbarer Schönheit und anmutiger Gestalt. Sie ritt ein prächtiges Pferd, das sich an der Quelle labte. […] Die Weisen fragten sie nach ihrem Namen. Sie sei die Intelligenz [das Verstehen, die Einsicht], erwiderte sie ihnen. Da baten sie die Weisen, ihnen das Wesen und die Eigenart der fünf Bäume zu
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kulisse gleitend übergeht in ein abstraktes Programm: die bereits im Prolog angekündigte spezifische Erkenntnismethode. Die Bedeutung der Schriftzeichen auf den Blüten (significationes litterarum) erschließt sich den drei Wanderern nicht aus sich selbst, sondern durch eine schöne Dame auf dem Pferd (domina mirabilis). Es ist die Einsicht in Person, Frau Intelligentia, die herbeireitet. Sie grüßt freundlich und instruiert die Weisen über die ‚Bedingungen der Bäume‘ (conditiones arborum). Gemeint sind spezifische Denk- und Argumentationsvoraussetzungen, zwei pro Baum, die die Reiterin als Verbindungen (Korrelationen) erläutert: ausweislich der Beschriftung der Baumblüten als Reihen absoluter (evidenter, intuitiv erfaßter) und relativer Kategorien, die alles Seiende determinieren, indem sie sich kombinatorisch ausfalten.⁷⁶ Die Dame Intelligentia erläutert sich also selbst als universale Erkenntismethode, im Sinn einer performativ strikten Personifikation. Das nimmt im Text viel Raum ein. Die Abbildung unten läßt erkennen, wie man sich im 18. Jahrhundert diese Ausgangsszene vorgestellt hat; sie findet sich in der ersten gedruckten Mainzer Lullus-Edition von 1722⁷⁷: Man erkennt die Akteure, die Szenerie mit den 5 beschrifteten Bäumen, unterhalb des Bildes sind die je zwei ‚Bedingungen‘ pro Baum notiert (A–E), z. B. Konsonanz oder Widerspruchsfreiheit. Im Vergleich mit der Textvorlage sind im Bild die Zahl der Blüten jeweils reduziert (so hat Baum A statt 21 nur 6 Blüten, Baum B statt 49 nur 7, etc.). Zu den drei Weisen stößt exakt an diesem Ort der (herum)-„irrende“, verwirrte und verzweifelte Heide. Die Akteure kommen sich hier buchstäblich entgegen. Der Vorstoß ins Unbekannte führt für den Heiden topographisch in Wildnis, die für die Weisen ein amoener Ort ist. Schon an diesen Details wird klar: Auch im Liber gentilis verbinden sich wie in Lulls BdW Beweisführung und Narration, auch hier wird mit fließenden Übergängen zwischen intra- und metadiegetischen Erzählebenen eine Szenerie entworfen, die „poetologisch und epistemisch auf der Voraussetzung fußt“, daß Figuren und Kulisse „nicht a priori in Allegoresen aufgelöst
erklären, sowie die Bedeutung der Worte, die sie auf den Blüten jedes Baumes geschrieben sahen.“ (Pindl, ebd., S. 9). 76 Zu Lulls sog. Korrelativenlehre, derzufolge das gesamte Sein trinitarisch/triadisch strukturiert ist (durch den Akt, sein Subjekt und Objekt) vgl. Fidora: Ars brevis (Anm. 33), S. XXI. Außerdem Alexander Fidora: Ramon Llull – Universaler Heilswille und universale Vernunft. In: Juden, Christen und Muslime. Religionsidaloge im Mittelalter. Hrsg. von Matthias Lutz-Bachmann, Alexander Fidora. Darmstadt 2004, S. 119–135. 77 Raymundus Lullus: Opera. Hrsg. von Ivo Salzinger. Bd. 2. Mainz 1722, Nachdruck Frankfurt a.M. 1965 (= MOG), S. 20. Die traditionelle diagrammatische Abbildfunktion des Baumes (allegorisch als Tugend-/Lasterbaum, enzyklopädisch wissensordnend als arbor scientiae) wird hier zwar als ikonische Konstante zitiert, aber als Darstellungsmodell zugleich überschritten und auch erzählerisch neu integriert.
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Abb.1: Raymundus Lullus, Opera II, Mainz 1722, Ndr. 1965, 20. Prag, Národní knihovna České republiky, 37 A 1 / T.2, S. III–IV.
werden“.⁷⁸ Gerade das Beispiel der Bäume konfrontiert uns mit irritierender Überdetermination: Die Bäume sind mit gleitenden Übergängen Teil der erzählweltlich konkreten Szenerie (Locus amoenus), repräsentieren zugleich methodisch abstrakte, diagrammatisch verstehbare Figurae multiplicationis der lullschen Ars, spielen aber drittens auch, ohne daß das explizit wird, auf den Sündenfallmythos an (der Baum mit lebensverlängernden Früchten im ersten Fall, beschrifteten Blüten im zweiten). Blickt man nochmals vergleichend auf beide zitierten Naturort-Beschreibungen, so haben sie eine implizit wertende Kontrastfunktion: im ersten Fall als Ort verführerischer sinnlicher Fülle, im zweiten Fall als Ort vernunfthaltiger, korrelativer Argumentationsfülle. Wenn die Forschung den Naturort „bewußt
78 Glück (Anm. 36), S. 219, auch S. 209 zum Zusammenspiel von meta-metadiegetischen und intradiegetischen Apfelbäumen in der Geschichte in BdW (Anm. 20), V, S. 94.
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metaphorisch“⁷⁹ nennt und die einzelnen Elemente auf Bedeutungen festlegt (die Quelle als „Symbol der Weisheit“, etc.), ist das nicht falsch, aber angesichts der vieldeutigen Gesamtsituation des Textes vielleicht zu robust. Implizite Kohärenzbildung erfaßt nicht nur verschiedene Textebenen, sondern kann sich auch auf die Beziehung zwischen diesen Textebenen erstrecken (hier: die Ebene der Narration und der Proposition). Mit Hilfe der ‚Kunst der Bäume‘ läßt sich der Heide in den folgenden vier Bücher im Dialog mit den Weisen jeweils die Wahrheitshaltigkeit der drei Glaubensrichtungen demonstrieren, was ich hier ausklammern muß. Im ersten Buch werden mithilfe der Blüten der fünf Bäume (jenem metaphysisch fundierten Ordnungssystem von Reihenstrukturen und kombinatorischen Operationen) die unter den Dreien konsensfähigen Basisartikel geklärt: Gott existiert, die menschliche Seele wird auferstehen. In den drei folgenden Büchern erläutert, wiederum in ‚hyperstrukturierter‘ Vielfalt (korrelativer multiplicatio),⁸⁰ jeder der drei Weisen jeweils einzeln für seine Religion sprechend, vernunftgerecht seinen Glauben: mit einer Differenzierungskunst, die auf Entdifferenzierung zielt (eben auf Wahrheits‚Übereinstimmung‘). Und auch hier, wie im BdW, gibt es parallel zur demonstrierten expliziten Vervielfältigung von Relationen eine Kunst des Impliziten, die performativ wirksame Spannung von rationalem Beweisen und Zeigen dessen, was sich zeigt. Beides fällt zusammen im Lullschen Leitbegriff der im Liber gentilis-Prolog programmatisch genannten scientia demonstratiua (vgl. oben S. 61). Als Gesprächsform wird unter den Beteiligten dann ausdrücklich ein Kompromiß vereinbart: ein reziprokes, für alle Seiten verbindliches Reglement, wer wann wem
79 Markus Enders: Das Gespräch zwischen den Religionen bei Raimundus Lullus. In: Wissen über Grenzen. Arabisches Wissen und Lateinisches Mittelalter. Hrsg. von Andreas Speer, Lydia Wegener. Berlin/New York 2006 (Miscellanea Mediaevalia 33), S. 198 und S. 199. (Im Textverlauf wird der Sarazene „sein“ Paradies als quantitative Überhöhung weltlicher Sinnenfreude ähnlich synästhetisch beschreiben, wie der Erzähler eingangs den verführerisch-schönen, auf undeutliche Weise lebensverlängernden Naturort für den Heiden dargestellt hat, während das Jenseitskonzept, das der Christ als „Schau der Glorie“ erläutern wird, auffällig parallel zu den anschaubaren göttlichen Eigenschaften auf den Baumblüten der zweiten Naturortschilderung konstruiert ist, den vernunftnahen Sehsinn privilegierend.) 80 Die überdeterminierten Strukturen rekonstruiert Roger Friedlein: Der Dialog bei Ramon Llull. Literarische Gestaltung als apologetische Strategie. Berlin/New York 2004 (Beihefte zur Zeitschrift fü r romanische Philologie 318). Lullus erzeugt mit stupendem Aufwand eine je neue Vervielfältigung von Aspekten auf allen Ebenen (als figura multiplicationis), mit Regeln, Definitionen, Distinktionen, eine zugleich wuchernde und kontrollierte Vielfalt, die um so verwirrender wirkt, je mehr Lullus sie in immer neuen Anläufen kürzt und komprimiert. Explizite Äußerungen und implizite Voraussetzungen kommen nicht immer zur Deckung, trotz der im Voraus abgestimmten (regulierten, konditionierten) Diskursvoraussetzungen.
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zuhören muß, sprechen darf, Widerspruch anmelden kann,⁸¹ ein Kompromiß also, der Zeit aufschiebt und Differenzierung gewinnt. Jeder Weise trägt dem Heiden ausführlich und detailreich seine Position einzeln vor, die jeweils anderen müssen zuhören. Der Heide ist dabei nicht nur Objekt der Bekehrung, sondern zugleich selbst Moderator des Gesprächs, und zwar von Anfang an. Nur der Heide darf nachfragen oder Widerspruch anmelden (in den Handschriften ist das oft durch Rubrizierung markiert). Auch der Erzähler greift, von Sprecherindizierung abgesehen, nicht kommentierend ein: Auf Vorschlag des Heiden einigten sich die Weisen darauf, daß keiner dem anderen während seiner Darlegungen widersprechen dürfe; denn durch den Widerspruch entsteht in den Herzen der Menschen Unwillen, und dadurch wird die Tätigkeit des Geistes behindert. Allerdings bat der Heide die drei Weisen darum, ihm als einzigem zu erlauben, während ihrer Darlegungen auf ihre Argumente einzugehen.⁸²
Widerspruch, Polemik, Ressentiments werden ausgeschlossen; implizit erzeugt dieses Reglement die Gleichberechtigung einer symmetrischen Situation. Ebenso einvernehmlich wird die Reihenfolge der Wortmeldungen (wer von den drei Wei-
81 Die Sprechsituation ist also „hochgradig geregelt“, sie verzichtet auf Konfrontation abweichender Meinungen, ist auf Konsenssuche: „Das heißt aber, daß ein direkter Religionsdialog nicht stattfindet“, so Stünkel (Anm. 18), hier S. 221 bzw. S. 217. Gebert (Anm. 62), hier S. 285–289, spricht von der doppelten „Konditionierung“ inklusiver und exklusiver Strategien; der Begriff ist bei Lullus selbst freilich anders verwendet: jeder Baum hat zwei ‚Bedingungen‘, Argumentations- und Denkbedingungen. Die Zweifelsfigur des Heiden steht dabei im Zentrum, dessen Unbestimmtheit die Situation mehrfach schwanken läßt. Zum Heiden als Figur „methodische[r] Störung“ vgl. Stü nkel (ebd.), S. 214 f. Der Heide schlägt sich stellenweise auch auf eine Seite des Religionsvergleichs; zu seinen überproportional vielen Einwänden gegenü ber dem Sarazenen im 4. Buch vgl. Annemarie C. Mayer: Ramon Lull. Das Buch vom Heiden und den drei Weisen. In: Die drei Ringe. Entstehung, Wandel und Wirkung der Ringparabel in der europäischen Literatur und Kultur. Hrsg. von Achim Aurnhammer, Giulia Cantarutti, Friedrich Vollhardt. Berlin/Boston 2016 (Frühe Neuzeit 200), S. 24. 82 Pindl (Anm. 61), S. 57. Et per uoluntatem gentilis inter tres sapientes ordinatum extitit, quod unus non obstaret alteri, dum alter suam diceret rationem; nam per contradictionem oritur interdum odium in cordibus hominum, et per odium impeditur operatio intellectus. Gentilis uerumtamen supplicabat tribus sapientibus, quod ipse solum posset respondere eorum rationibus […] (ebd., Liber gentilis I, S. 294, 1053–1059). Vgl. Friedlein (Anm. 80), hier S. 76; außerdem Annemarie C. Mayer: Drei Religionen – ein Gott? Ramon Lulls interreligiöse Diskussion der Eigenschaften Gottes. Freiburg i.Br. 2008; dies.: Llull and Inter-Faith Dialogue. In: A companion to Ramon Llull and Lullism. Hrsg. von Amy M. Austin, Mark D. Johnson. Leiden/Boston 2018 (Brill’s companions to the Christian tradition 82), S. 146–175; Fernando Dominguez: Der Religionsdialog bei Raimundus Lullus. Apologetische Prämissen und kontemplative Grundlage. In: Gespräche lesen. Philosophische Dialoge im Mittelalter. Hrsg. von Klaus Jacobi. Tü bingen 1999 (SrciptOralia 115), S. 263–290.
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sen bekommt das erste Wort?) vorab geregelt und vom moderierenden Heiden nicht nur begründet, sondern auch durchgesetzt. Keiner kompromittiert sich auf diese Weise. Trotzdem wäre dieser Kompromiß der ‚kommunikativen Vernunft‘ beinah zerbrochen. Denn als der Sarazene aus seiner Sicht die christliche Trinitätskonzeption, wie sie ihm vorgetragen wurde, rekapituliert, droht der Christ ihm ins Wort zu fallen: Kaum hatte der Sarazene dies geäußert, wollte der Christ widersprechen. Doch der Heide hielt ihn davon ab, indem er ihm zu verstehen gab, daß er nicht an der Reihe sei, und daß nur ihm selber erlaubt sei, Einwände vorzubringen. So sagte der Heide zum Sarazenen: ‚[…] Aus dem, was Du sagst, und aus dem, was ich vom Christen gehört habe, entnehme ich, daß der Christ auf eine bestimmte Art an die göttliche Dreifaltigkeit glaubt und daß Du der Meinung bist, er glaube auf eine andere Art. […] Doch lassen wir diesen Punkt jetzt beiseite.‘⁸³
Vorausgesetzt sind hier gleich zwei klassische Mittel zur Lösung von Konflikten: perspektivische Differenzierung und Ausklammerung von Konsens-Blockaden. Wie geht die Geschichte aus? Der in seiner Vernunft ‚erleuchtete‘ Heide bestätigt am Schluß durch konkludentes Handeln nicht die Plausibilität der Methode (die steht ohnehin von Anfang an fest). Vielmehr bestätigt er performativ, daß aus Vernunfteinsicht Wahrheit (‚wahre‘ Frömmigkeit) und Trost folgen – der Traum aller rationalistischen Glaubenslehren. Er betet nämlich, erschüttert, tränenüberströmt, mit „vom Weg des Heils“ erleuchtetem Geist und liebendem Herz (vgl. Pindl, Anm. 61, S. 237 f.). Und: Er betet mit implizit trinitarischen Formeln („Mit Dir, in Dir und durch Dich“ hoffe ich, ebd., S. 239⁸⁴), in alle „Gewissenszweifel“ besiegender Liebe (S. 241). Zugleich reflektiert er seine Tränen, indem er sie ausdrücklich unterscheidet: „Wie groß ist der Unterschied zwischen den Tränen von einst und jetzt!“ (S. 243). Als die drei Weisen das sehen, „tief erstaunt […] über die Erhabenheit seines Gebets“, bekommen sie Gewissensbisse, „weil sie erkannten, daß der Heide in kurzer Zeit zu einer größeren Frömmigkeit und Anbetung Gottes gelangt war als
83 Pindl (Anm. 61), S. 196. Cum Saracenus haec dixit uerba, Christianus respondere uoluit Saraceno. Gentilis tamen dixit ei, quod non erat tempus, quod ipse loqueretur, sed ipse responderet Saraceno. Et ideo gentilis dixit Saraceno: […] Vnde ex his, quae tu dicis et quae ego a Christiano recolligere potui, notitiam habeo, qualiter Christiani uno modo in diuinam trinitatem credunt, et tu putas ipsos aliam credere trinitatem. […] Sed desistamus ab hac ratione […]. (Liber gentilis, ebd., IV, S. 422, 41–423, 50). 84 Renate Lachmann: Die Rolle der Triaden in sprachbezogenen Disziplinen. In: Die Figur des Dritten. Ein kulturwissenschaftliches Paradigma. Hrsg. von Eva Eßlinger [u. a.]. Frankfurt a. M. 2010 (stw 1971), S. 94–109. Vgl. zu verschiedenen Strategien, wie das Trinitätskonzept bei Wolfram die Durchsetzung des Christlichen als Inklusionsmodell strukturiert: Haiko Wandhoff: Triumph der Trinität. Erzählen unter dem Dach der Heilsgeschichte im „Willehalm“ Wolframs von Eschenbach. In: Figuren der Ordnung. Beiträge zu Theorie und Geschichte literarischer Dispositionsmuster. Festschrift fü r Ulrich Ernst. Hrsg. von Susanne Gramatzki, Rüdiger Zymner. Köln [u. a.] 2009, S. 37–52.
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sie selbst, die sie Gott doch schon so lange kannten“ (S. 244). Der leidenschaftlich betende Heide blamiert am Ende die drei Weisen, und genau in dem Moment, als er ihnen auf den Knien „die Religion, deren Anhänger er sein wollte“, kundtun will, sieht er in der Ferne zwei Heiden auf sich zukommen, die aus seinem Land kommen und die er kennt (S. 245). Auf sie wolle er noch warten, um auch ihnen die Religion seiner Wahl mitteilen zu können. Doch die drei Weisen warten das Ergebnis ihrer Bekehrungsbemühungen nicht mehr ab: […] bevor die drei Weisen weggingen, fragte der Heide sie voller Erstaunen, warum sie denn nicht abwarten wollten, wie seine Wahl der Religion ausfalle. Die drei Weisen antworteten, sie wollten es nicht wissen, damit ein jeder von ihnen glauben könne (opinionem habeat), er habe seine Religion gewählt. ‚Zudem gibt es nun für uns ein Thema, über das wir diskutieren können, um kraft unserer Vernunft und unserer Geistesgaben herauszufinden, welcher Religion Du den Vorzug geben wirst. Denn wenn Du hier vor uns die Religion, die Du vorziehst, bekunden würdest, hätten wir kein so gutes Diskussionsthema, und auch keinen so guten Anlaß für die Wahrheitsfindung.‘⁸⁵
Für die Weisen geht also Anzweifelbarkeit (d. h. Diskutabilität) weiter. Auch der erleuchtete Heide hat gleich eine neue Aufgabe. Die drei Weisen bringen ihn ein letztes Mal zum Staunen durch ihren Entschluß, auch künftig sich die Chance für eine ergiebige materia disputationis bewahren zu wollen. Von der Konversion, einem der prominentesten christlichen Entscheidungsnarrative,⁸⁶ ist allenfalls indirekt erzählt. Wie dem Nebeneinander von inklusiver und exklusiver Tendenz gerecht werden, wenn einerseits religiöse Vielfalt inklusiv zur Geltung gebracht, anderseits an asymmetrisch-hegemonialen Voraussetzungen festgehalten wird?⁸⁷ Wie die Forschung herausgearbeitet hat, ist der Heide auf vielschichtige Weise Katalysator des Gesprächs, Bekehrungsobjekt (impliziter Christ) und zugleich Gesprächsmoderator 85 Pindl (Anm. 61), S. 245 f. Ante tamen, quam tres sapientes ab illo loco recederent, gentilis eos interrogat dicens, quod de ipsis mirabatur non modicum, cur non spectabant, ut audirent, quam legum ipse eligeret inter alias esse ueram. Responderunt autem tres sapientes et dixerunt, quod: Pro eo, quod quilibet opinionem habeat, ut suam legem eligas, nolumus scire, quam legem tu uis eligere, et maxime cum sit nobis occasio et materia, quod nos inter nos disputemus, ut secundum uim uiuae rationis et naturam intellectus uideamus, quam legem tu debes eligere per naturam. Et si tu coram nobis ostenderes, quam legem plus diligis, non haberemus sic bene materiam, qualiter disputare possemus et inquirere ueritatem (Liber gentilis, ebd., S. 472, 283–294). 86 Friedrich (Anm. 62), S. 23–45. 87 Gebert (Anm. 62) rekapituliert diese grundsätzliche Spannung von Religionsdialogen, deren paradoxe „Konditionierung“ (S. 285–289 und S. 309) und pointiert die damit verbundene methodische Herausforderung S. 278: „Mit welchen Kategorien sind vormoderne Texte angemessen zu beschreiben, die ‚vielstimmiges Sprechen‘ über Religionen inszenieren, während sie gleichzeitig ‚die Einheit der Religion als höchstes Ideal‘ der Argumentation beschwören?“
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mit Schiedsrichter-Funktion,⁸⁸ indem er 1. kompromißbereite Dialogsymmetrie vorschlägt und im Gesprächsverlauf auch einklagt sowie 2. den Grad der Übereinstimmung mithilfe der ‚Bedingungen der Bäume‘ beurteilt, d. h. auf der Basis eben jener illuminierten Vernunft, die er schiedsrichterlich selbst verkörpert.⁸⁹ Und die zitierte Begründung der Weisen, „sie wollten es nicht wissen, damit ein jeder von ihnen glauben könne, er habe seine Religion gewählt“? Hinter diesem Konjunktiv steht kein literarisch-fiktionales, auch kein diskursethisch-fiktionales ‚Als ob‘. Der Schluß des Textes zeigt ja doch: Die sorgfältige Aushandlung und Umsetzung der Dialogsymmetrie ist nicht bloß „vorgebliche“, „simulierte“, „fingierte“ Gleichbe-
88 Diese Koinzidenz ist der entscheidende Unterschied zu Abaelards Religionsdialog Collationes sive Dialogus inter Philosophum, Iudaeum et Christianum von der Mitte des 12. Jahrhunderts (Anm. 6) – auch wenn bei Abaelard viele Parallelen begegnen: gleichfalls zweifelnde und zwingende Vernunft Hand in Hand gehen, auch er für seine religionsvergleichende Kontroverse, die den Religionsvergleich (collatio) als ‚Kampf‘ (pugna, conflictus disputationis, altercatio, controversia, vgl. S. 111) vor dem ‚Gericht‘ der Vernunft faßt, einen „Schiedsrichter“ zwischen Heide, Jude, Christ einsetzt (hier: das erzählende Ich, vgl. S. 10: arbiter, auch iudex) und wie bei Lullus unter verbindlich verabredeten Bedingungen eine Einigung von gleich zu gleich beschlossen wird. Vgl. S. 14; S. 89: „gemäß der Bedingung unseres Vorhabens“, secundum propositi nostri conditionem. Auch bei Abaelard wird der Kompromisse fordernde Zeitdruck thematisch (vgl. S. 237: wir haben keine Zeit zum Ausdenken komplexer Definitionen) und immer wieder die Ambivalenz des Zweifelns vorgeführt (dubitare, ambigere, S. 99), machen alle Parteien je neu und ausdrücklich argumentative „Zugeständnisse“. So bittet in der zweiten Collatio der Philosoph darum, seine vorausgehende vorschnelle Argumentation korrigieren zu dürfen, was der Christ wie folgt zugesteht: „Ich billige und gestehe zu, was du sagst. Denn es ziemt sich nicht für uns, die wir mit der Erforschung der Wahrheit vollauf beschäftigt sind, nach der Art von Kindern oder mit unpassender Deklamation miteinander zu zanken, ebensowenig, wenn manches zu wenig bedacht zugestanden wird, daß deshalb derjenige, der beabsichtigt, zu lehren oder sich belehren zu lassen, die Gelegenheit ergreift, in Scham zu versetzen, wo es doch um des Argumentierens willen sogar erlaubt sein soll, bisweilen Falsches zuzugestehen. Daher geben wir jede Freiheit, entweder die Auffassung völlig zu ändern oder sie zu berichtigen.“Approbo et concedo, quod dicis. Non enim nobis circa inquisitionem veritatis penitus occupatis more puerili vel importunae declamationis corrixari convenit nec, si qua minus provide conceduntur, hinc eum, qui doceri vel docere intendit, erubescentiae inferendae occasionem sumere, ubi etiam argumentandi gratia liceat nonnumquam concedere falsa. Omnem itaque licentiam vel mutandae penitus vel corrigendae sententiae damus (ebd., S. 130). (Abaelards Religionsgespräch weist zwar, anders als Lullus, keine ausführliche Rahmenerzählung auf, aber eine narrative Kurzexposition, die den Dialog als Vision präsentiert: iuxta visionis modum, S. 10). 89 Zur Aufwertung der Rolle des Heiden am Ende des Dialogs vgl. Mayer: Drei Religionen (Anm. 82), S. 314: „Doch spielt der Heide nun eine entscheidende Rolle als Indikator fü r die Plausibilität einer Religion. Seine Rolle hat sich im Vergleich zum Prolog und zum ersten Buch subtil gewandelt. Er ist vom Zuhörer, der belehrt wird, und vom Suchenden, dem man helfen will, zum eigentlichen Adressaten und zum kritischen Schiedsrichter geworden, der Rationalitätsmängel in den Religionen aufdeckt […].“
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rechtigung der Dialogpartner.⁹⁰ Sie ist aber auch nicht die ideale ‚Geschäftsordnung‘⁹¹ des Gesprächs im Licht der modernen Diskursethik, trotz suggestiver Parallelen. Abschließend seien daher bezüglich der Dialogregie im Liber gentilis zwei Abgrenzungen zur Moderne festgehalten: Der eine Punkt betrifft die die Nähe zur Diskursethik, der andere die Relation von Kompromißbereitschaft und Toleranz⁹². Lullus sieht die zitierten Verfahrensregeln der Diskussion, die Gleichbehandlung garantieren, als formale Bedingung einer gemeinsamen Einigung und Lösung. Doch die an Konsensrationalität und symmetrischer Verteilung der Kommunikation orientierte Dialoganlage hat nur scheinbar eine diskursethische Dimension. Zwar will auch die Diskurstheorie bei Apel/Habermas mit vernunftbasierter ‚kooperativer‘ Argumentation perspektivische Verzerrungen in der Bewertung der jeweils eigenen Interessen durch andere vermeiden, um für Wahrheits- und Gerechtigkeitsfragen eine konsensfähige Metaebene zu erreichen: Wenn die Geltung unserer Argumente nicht unter Verweis auf eine von uns allen als objektiv anerkannte und unabhängige Quelle von Wahrheiten begründet werden kann, müssen wir uns mit prozeduralen Bedingungen begnügen, die wenigstens die Fairness der Verhandlungsführung sicherstellen.⁹³
Jedoch: Die Verschiedenheit der Wahrheitsbegriffe liegt auf der Hand. Apel/Habermas behandeln ihre ‚apriorisch‘ genannten Diskursbedingungen nur ‚wie‘ Wahrheitsansprüche von Propositionen. Ihre Basis ist eine letztlich konstruktivistische Wahrheitstheorie. Dagegen Lullus faßt die dialogische Kooperation als Selbstdurchsetzung der göttlichen Wahrheit. Er fundiert die ethischen Normen seiner Dialog-Vernunft konsequent ontologisch. Zweifelnde Vernunft kann daher, im Liber gentilis wie in Felix oder Das Buch der Wunder, unvermittelt in illuminierte 90 Friedlein (Anm. 80), hier S. 90 und S. 96, hat subtil herausgearbeitet, wie in Lulls Dialog die Ebene der Argumentation auf die Handlungsebene (Rahmennarratio) vermittelt wird. Erzählform und Erzähltes sind verschränkt: Fruchttragende Bäume als Locus amoenus hier, fünf Bäume mit beschrifteten Blüten dort, beides Orte einer mehrdeutigen Rekreation, und genauso greifen auch Argumentationsform (Methode) und Inhalte (Glaubensartikel) ineinander, etwa mit den Ternaren, durch den Anspruch auf Wahrheitshaltigkeit der Vernunft. Nur in dem einem Punkt der ‚Fiktion‘ würde ich mit Friedlein (performative Dialogfunktion) gegen ihn argumentieren. 91 Johann Hafner: Welche Geschäftsordnung braucht das Religionsgespräch? Zur Konstruktion idealer Dialoge bei Lessing, Lullus und Cusanus. In: Islam und Christentum. Religion im Gespräch. Hrsg. von Klaus Kienzler, Gerda Riedl, Markus Schiefer Ferrari. Mü nster [u. a.] 2001 (Augsburger Schriften zu Theologie und Philosophie 1), S. 171–188. 92 Vgl. zuletzt Zanetti (Anm. 5), 83–102: „Toleranz und Kompromißbereitschaft: Eine begriffliche Unterscheidung“. 93 Zanetti (Anm. 5), S. 17.
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Vernunft umschlagen, der Beweis ins Gebet, und umgekehrt. Denn die Dialogvoraussetzungen sind paradox. Wahrheit soll als Resultat bewiesen werden und zugleich als Kriterium der Einigung im gewaltfreien Dialog gelten. Kein Wunder, daß die Differenzierungsanstrengung aller Beteiligten an kein Ende kommt. Die Vernunft „beruhigt“ sich zwar durch Dinstinktion, aber wird je neu nervös. Lulls Dialog-Arrangement ‚fingiert‘ nicht Symmetrie, auch als Performanz nicht. Ich würde für das gesuchte Verfahren Lulls eigenen Begriff vorziehen, der die Komplexität präzise abbildet: Der Text demonstriert (beweist, erweist, offenbart) seinen persuasiven Erfolg, verzichtet jedoch darauf, ihn als Sieg zu explizieren. Er verbindet die epochen- und diskurstypisch asymmetrische Ausgangssituation (christliche Voreingenommenheit) mit Symmetrisierungs-Strategien. Als Effekt des spezifischen Dialogarrangements können alternative Möglichkeiten zugestanden und zugleich überschritten werden. Beides hängt eng zusammen, da Lullus die Vernunft als Voraussetzung, Kriterium und Ziel dialogischer Wahrheitsfindung einsetzt. Vor dem Hintergrund dieser maximalen Entsprechung von Erkenntnismethode, Erkenntinissubjekt und Erkenntnisobjekt sind die Zugeständnisse der Vernunft bei Lullus zugleich Zugeständnisse an die Vernunft. Bei Lullus wird das Problem interreligiöser Pluralität so unter der Hand zu einem innerreligiösen Problem konkurrierender Wahrheitsansprüche. Seine Vorstellung einer Koinzidenz von Wahrheitsansprüchen war entsprechend umstritten. Man hat gerade dem Liber gentilis eine undeutliche perspektivische Offenheit schon zu Lebzeiten vorgeworfen.⁹⁴ noch in der Lullus-Forschung zu diesem Text war die Diskussion lange Zeit bestimmt von Extrempositionen: hier Kronzeuge religiöser
94 Mit dem Effekt, daß Lullus retrospektiv mitten im eingangs von mir besprochenen BdW (auch andernorts) eine der erzählten Figuren die Intention seines früheren Liber gentilis-Dialogs selber festlegen läßt als ‚demonstrative‘ Wahrheit BdW, VIII, c. 79 Von Wahrheit und Falschheit, S. 262: „Indem sie unter den vorbestimmten Bedingungen diskutierten, bewies der Christ, dass seine Religion in der Wahrheit sei, wie es im Libre del Gentil e dels tres Savis (Buch vom Heiden und den drei Weisen) dargestellt und in der Ars demonstrativa (Kunst der Beweisführung) enthalten ist.“ Dazu Leppin (Anm. 73), S. 221. Doch der Autorkommentar ex post sollte uns nicht dazu verleiten, die verblüffenden Spannungen zwischen impliziten und expliziten Textdynamiken zu übersehen. Peter Walter: Muss(te) Raimundus Lullus scheitern? Die Möglichkeiten des Religionsdialogs damals und heute. In: Abrahams Erbe. Konkurrenz, Konflikt und Koexistenz der Religionen im europäischen Mittelalter. Hrsg. von Klaus Oschema, Ludger Lieb, Johannes Heil. Berlin/München/Boston 2015 (Das Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung. Beiheft 2), S. 50–68.Vgl. auch Eusebio Colomer: Raimund Lulls Stellung zu den Andersgläubigen. Zwischen Zwie- und Streitgespräch. In: Religionsgespräche im Mittelalter. Hrsg. von Bernard Lewis, Friedrich Niewöhner. Wiesbaden 1992 (Wolfenbü tteler Mittelalter-Studien 4), S. 217–236.
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Toleranz in der ‚Vor- und Frühgeschichte der Ringparabel‘,⁹⁵ dort Inbegriff apologetischer Glaubenspropaganda. Mittlerweile ist man vorsichtiger geworden mit ahistorischen Vereinnahmungen. Lullus lebte in einer geradezu exemplarischen „Kompromißkultur“,⁹⁶ die die monotheistischen Religionen durchaus pragmatisch koexistieren ließ. Aber diese Einsicht in historisch-lebensweltliche, kompromißkulturelle Voraussetzungen ist es nicht allein. Die argumentativen und literarischen Strategien seiner Texte sollten mit in den Blick fallen, die Literaturwissenschaft könnte sie noch intensiver untersuchen.⁹⁷ Gerade dieser frühe Dialog hat hohe Problemsignifikanz. Er stellt apologetische Explizitheit – missionarische Ausgrenzungs- und Durchsetzungsansprüche –zurück, ohne umgekehrt aufzugehen in Irenik, und ist trotzdem keine reine Versöhnungs-‚Fiktion‘. Lullus entwirft eine in der aristotelisch geprägten Nominalismus-Epoche des 14. Jahrhunderts wie aus der Zeit gefallene Metaphysik der logischen Vernunft. Die Lull-Rezeption nimmt deshalb Abspaltungen vor und vereinnahmt ihn einseitig als ‚progressiven‘ Vernünftler oder ‚reaktionären‘ Metaphysiker und Logik-‚Realisten‘. Das unterschätzt Lulls historisch singuläres Denk- und Erzählexperiment, das den Zusammenfall von metaphysischer und formallogischer Wahrheit vorführt und weder auf die Durchsetzung religiöser Uniformität zielt noch auf interreligiöse ‚Toleranz‘ im neuzeitlichen Sinn.⁹⁸
95 Die drei Ringe (Anm. 81), u. a., mit weiterer Literatur. Hier auch zum Spannungsfeld von Fundamentalismus (exklusivistische Position) und Indifferenz (Nivellierung) sowie zur Abgrenzung zu moderner (aufklärerischer) Toleranzerwartung. Zur Dialogform als mehrstimmiger Wechselrede ohne privilegierte Makro-/Metaproposition vgl. Klaus Hempfer: Lektü ren von Dialogen. In: Mö glichkeiten des Dialogs. Struktur und Funktion einer literarischen Gattung zwischen Mittelalter und Renaissance in Italien. Hrsg. von dems. Stuttgart 2002 (Text und Kontext. Romanische Literaturen und Allgemeine Literaturwissenschaft 15), S. 1–38. Vgl. auch Hans-Wolfgang Krautz: Zum interreligiösen Dialog. Zwischen Boethius, Lullus, Cusanus und Lessing. Streiflichter auf Abaelards Collationes. In: Peter Abaelard. Leben – Werk – Wirkung. Hrsg. von Ursula Niggli. Freiburg i.Br. [u. a.] 2003 (Forschungen zur europäischen Geistesgeschichte 4), S. 151–168. 96 Martin Greiffenhagen: Kulturen des Kompromisses. Wiesbaden 1999 (für die Vormoderne sehr dünn); Weltecke (Anm. 17). 97 Allgemein: Stefan Schick: Das Religionsgespräch und seine Grü nde. Randbemerkungen zur Rezeption eines literarischen Genres. In: FZPhTh 60 (2013), S. 424–434; zu Lullus Friedlein (Anm. 80) und Glück (Anm. 36). Unter dem Aspekt der ‚Fiktion‘ Leppin (Anm. 73). 98 Wenn Glaubenswahrheiten wie die Trinität als anzweifelbare, beweisbare Vernunftwahrheiten gelten und zugleich mit der göttlichen Offenbarungswahrheit zusammenfallen sollen, gehört das zu jenen Paradoxien, mit denen religiöse Kulturen sich in unentrinnbare Begründungs- und Glaubwürdigkeitsaporien verstricken. „Die scheinbare Enthaltung Llulls, ein Ergebnis des Dialogs in Form einer expliziten Entscheidung des Heiden zu formulieren, hat immer wieder das Lob der Nachwelt hervorgerufen, die in diesem Offenlassen Ansätze einer Entscheidungstoleranz und ähnlichem
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Weder Toleranzschrift noch apologetisches Manifest, sondern Methodendemonstration: Der Liber gentilis ist ein Text, der auf engem Raum maximale explikative und implikative Energie aufwendet, quer zu den genannten Extrempositionen. Die Methode der fünf Bäume, die das, worauf sie mit ihren zwingenden Vernunftargumenten zielt (Übereinstimmung mit der Wahrheit), selbst apriorisch voraussetzt, überzieht den Text mit einer Übercodierung, die, nur scheinbar ‚rein‘ formallogisch determiniert, auf Schritt und Tritt Unbestimmtheit erzeugen. Ausdrückliche asymmetrische Axiologien treten zurück. Es sind die symmetrischen Kompromißstrukturen, die die impliziten Asymmetrien in Schach halten. Nicht nur Erzählen und Erzähltes greifen dabei ineinander, sondern auch Erkennen (Erkenntnismethode, Vernunft-Konsonanz) und Erkanntes. Das schließt eine heikle Zeitregie ein (nicht zu schnell und leichtgläubig Zweifel aufgeben, nicht zu zögerlich). Der bekehrte Heide mit seiner besonderen Hingabe an Methode und Gebet scheint zum Schluß den drei Weisen überlegen, von denen immerhin zwei ‚irren‘. Nur die Dame auf dem Pferd darf zügig wieder aus der Geschichte verschwinden. Als Verkörperung des rechten Verstehens macht sie sich mit ihrer Explikation der Axiome selbst überflüssig. Und so ist der Dialog im Ergebnis nicht unentschieden, und doch offen. Hauptgrund für die Indexierung Lullscher Schriften sind die aus Kirchensicht dubiosen Koinzidenzen von Wahrheitsansprüchen (Glaubenswahrheit, Vernunftwahrheit, Offenbarungswahrheit), die in seinen Texten die Begriffssemantiken und Diskurszuständigkeiten jeweils schillern lassen.⁹⁹ Schon im 14. Jahrhundert bezeugen Gregors XI. Bulle von 1376 und eine Reihe antilullistischer Schriften den zeitgenössischen Häresievorwurf.¹⁰⁰ Scharfe Kritiker Lulls finden sich noch bis weit ins 18. Jahrhundert. Umgekehrt hat Lullus die Philosophiegeschichte nachhaltig beeinflußt. Noch bevor Leibniz 1676 über Lullus seine Dissertation ‚Dissertatio de Arte Combinatoria‘ schreiben wird,¹⁰¹ läßt Nikolaus Cusanus sich im 15. Jahrhundert – historisch folgenreich in der europäischen Denkgeschichte – vom ‚Außenseiter‘ und gelehrten Autodidakten Lullus faszinieren,¹⁰² der in seiner eigenen Epoche so sehen möchte. In der Tat fehlt die Entscheidung des Heiden. Diese aber war nicht das Ziel der Llullschen Erzählung.“ Stünkel (Anm. 18), S. 224. 99 Erst der frühneuzeitliche Lullismus hat diese (aus emphatischer Ontologisierung der Logik resultierende) Brisanz wieder reduziert durch Einschränkung der ‚Ars‘ auf rhetorische Topik, Alchemie und Magie. 100 Zusammenfassend Hösle: Logica Nova (Anm. 40), S. XXXIf. und S. LXXVf. mit weiterer Literatur. 101 Gottfried Wilhelm Leibniz: Die philosophischen Schriften von Gottfried Wilhelm Leibniz, Bd. VI. Hrsg. von Carl Immanuel Gerhardt. New York 1978 (Nachdruck). 102 Kein anderer Autor war in seiner Bibliothek in Kues öfter vertreten; die Forschung rekonstruiert aus seinem Handschriftenbesitz die Bekanntschaft mit 68 Lullus-Schriften, die er breit exzerpiert und glossiert. Vgl. Hösle (ebd.), S. LXXVIf. Lullus wirkt indirekt auf Montaigne, der den
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sperrig wirkt, anachronistisch nach beiden Richtungen. Cusanus hat nicht nur den Zusammenhang von Glauben und Wissen, die Korrelativenlehre und die Bemühung um interreligiösen Dialog aufgegriffen und transformiert, sondern auch die bei Lullus so wichtige Relation implizit/explizit als metaphysische Schlüsselkategorien seiner Einheitsspekulation ausgebaut (complicatio/explicatio). Außerdem hat er die paradoxe Dynamik der Lullschen Wahrheitssuche (insolubilia als dubitabilia) mit seinem Konzept der ‚Mutmaßlichkeit‘ (coniectura) spekulativ weitergedacht. Und auch Cusanus, unter dem Eindruck der Eroberung Konstantinopels 1453, schreibt einen Religionsdialog (De pace fidei).¹⁰³ Doch der ist nicht an einem hybriden locus amoenus angesiedelt, sondern „im Himmel der Vernunft“ (in caelo rationis)¹⁰⁴ ausdrücklich eschatologisch ausgelagert. Zugleich ist das himmlische Konzil auch erzählerisch (nämlich als Traumvision) in Distanz gebracht (vgl. De pace fidei 4,5–7). Im visionär vergegenwärtigten Vernunft-Himmel diskutieren bereits verstorbene Vertreter verschiedenster Nationen und Glaubensrichtungen. Eine Dame auf dem Pferd tritt nicht auf, wohl aber das Ewige Wort selbst. Es spricht ausdrücklich und performativ strikt ‚wahr‘. Auch zum Schluß bleibt nichts implizit. Stattdessen wird per himmlischem Dekret die Wahrheit verkündet, die schon im Eingangsgebet des Erzengels vorweggenommen worden war (I,6,9–11). Am Schluß werden die nach Nationen sortierten Vertreter der Weltreligionen wieder auf die Erde zurückgeschickt. Mit ihrem Missio-Auftrag suchen sie friedenstiftende ‚Einheit in der Verschiedenheit‘: religio una in rituum varietate (I,7,10 f.),¹⁰⁵ eine berühmte Formulierung, die auf eigene Weise als Kompromißformel gelten kann. Lulls Utopie war, bei aller vielbesprochenen Nähe der Texte,¹⁰⁶ eine andere. Die Vorrangstellung der Vernunft ist zwar auch bei Abaelard oder eben Cusanus als unter dem Eindruck Lulls konzipierten Liber creaturarum des Raimundus Sibiuda 1569 ins Französische übersetzt hat. 103 Nicolai de Cusa: De pace fidei. Hrsg. von Raymund Klibansky, Hildebrand Bascour. Hamburg 1970 (Nicolai de Cusa Opera Omnia 7). Im Überblick: Leppin (Anm. 73), mit derselben Zusammenstellung Walter Andreas Euler: Mittelalterliche Religionsgespräche: Abaelard, Lullus, Cusanus. In: „Es strebe von euch jeder um die Wette“. Lessings Ringparabel – ein Paradigma fü r die Verständigung der Religionen heute? Hrsg. von Jan-Heiner Tü ck, Rudolf Langthaler. Freiburg i.Br. [u. a.] 2016, S. 95–110. 104 Mit Bezug auf biblische Vorbilder dieser Szenerie (1 Kön 22,19–22 und Offb 4 f.); die Forschung dazu resümiert Leppin (Anm. 73), S. 225, Anm. 133. 105 Zusammenfassend Leppin (ebd.), S. 225 mit Anm. 138; hier auch zu rechtlichen, konziliengeschichtlichen Kontexten dieser Formel. 106 Theologie- und philosophiegeschichtlich: Kurt Flasch: Nikolaus von Kues. Geschichte einer Entwicklung.Vorlesungen zur Einführung in seine Philosophie. Frankfurt a. M. 1998. Walter Andreas Euler: Unitas et Pax. Religionsvergleich bei Raimundus Lullus und Nikolaus von Kues. 2. Aufl. Würzburg/Altenberge 1995 (Würzburger Forschungen zur Missions- und Religionswissenschaft: Abt. 2, Religionswissenschaftliche Studien 15).
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gemeinsame Referenzebene im Streit der Religionen beansprucht. Doch die Spielräume und Grenzen einer rationalen Gotteslehre zeigen sich je verschieden, was ich nicht mehr ausführen kann. Nur bei Lullus ist der erzählte Dialog als vernunftstrategischer Kompromiß zugleich ontologisch qualifiziert. Nur bei ihm fungiert die Dialog-Rationalität einerseits als Kompromißfigur, indem sie alle Akteure Zugeständnisse machen läßt und Alternativen für denkmöglich bzw. diskutabel hält, anderseits und zugleich als absolute (göttliche) Instanz, mit jeweils gleitenden Übergängen.¹⁰⁷ Absolute und relative Vernunft-Bedingungen werden auch im BdW gezielt überblendet, mit dem Effekt schwankender Verhältnisse. Auf diese Weise kann der Zweifel als eine Art explorativer Möglichkeitssinn maximale Reichweite erlangen. Lulls historisch singuläre Denk- und Erzählexperimente erschließen sich, wie ich zeigen wollte, erst über dieses enge Zusammenspiel impliziter und expliziter Verfahren. Auch wenn in christlicher Perspektive die asymmetrische Axiologie immer schon vorgegeben ist, dominieren in den hier besprochenen Texten unabsehbare Situationen und unabgeschlossene Prozesse. Diese offene Dynamik braucht rezeptionsseitig vor allem: Zeit. Auf dem Spiel steht alles Wißbare: scientia de omni scibile. ¹⁰⁸ Wie Lullus sich gegen seine Kritiker verteidigt? Ach, klagt er, würden sie meine Texte nur gründlich lesen, […] doch man liest sie wie eine Katze, die schnell über die Glut läuft; daher erreiche ich bei ihnen in meiner Angelegenheit fast nichts. Aber wenn es jemanden gäbe, der sich an sie erinnern würde und sie verstünde und nicht an ihnen zweifeln würde, dann könnte man mit Hilfe meiner Bücher die Welt in einen guten Zustand versetzen.¹⁰⁹
107 Schon Bernhard von Clairvaux hat Abaelard vorgeworfen, er sei bereit, für alles Begründungen zu suchen (zwingende Vernunftgründe), auch für das, was die Vernunft übersteige; zu dieser Vergleichsrelation Leppin (Anm. 73), S. 211 mit Anm. 31. „Die Form des Dialogs dient nicht dem Austausch divergierenderAnsichten, sondern ist eine besonders artifizielle Weise, die eigene Lehre adäquat und im Widerspiel der Argumente darzustellen – sie ist insofern nicht allein von der Praxis des interreligiösen Dialogs her zu verstehen, sondern, insbesondere bei Abaelard auch von der akademischen Form der quaestio her, in welcher die Frage jeweils dazu dient, Probleme einer Ansicht aufzudecken und einer Lösung zuzuführen“ (mit Bezug auf den Liber gentilis, ebd., S. 227). 108 Wilhelm Schmidt-Biggemann: Apokalypse und Philologie. Wissensgeschichten und Weltentwürfe der frühen Neuzeit. Hrsg. von Anja Hallacker, Boris Bayer. Göttingen 2007 (Berliner Mittelalter- und Frühneuzeitforschung 2), S. 253–256. 109 Ramon Lull: Lo Desconhort = Der Desconhort. Auf Grundlage der Ausgabe von Josep Romeu i Figueras und einschließlich der Varianten der Ausgabe von Amédée Pagès, übersetzt und mit einer Einführung versehen von Johannes und Vittorio Hösle. München 1998, S. 70–71, V. 260–264: […] jo·n fóra conegut; mas com gat qui passàs tost per brases los ligen; per què ab ells no faç quaix res de mon negoci. Mas si fos qui·ls membràs e qui los entesés e que en ells no dubtàs, hom pogra per mos libres posar lo món en bon cas.
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Nicolaus Cusanus war auch in diesem Punkt konzilianter. „Absolute Präzision“ sei nicht von dieser Welt.¹¹⁰
110 […] cum praecisio non sit de hoc mundo. Nicolai de Cusa: Idiota de sapientia. Der Laie über die Weisheit. Auf der Grundlage des Textes der kritischen Ausgabe neu übersetzt und mit Einleitung und Anmerkungen hrsg. von Renate Steiger. Lateinisch–deutsch. Hamburg 1988 (Philosophische Bibliothek 411), II, 39,15.
Gerd Althoff
Wie artikuliert sich im Mittelalter Zweifel am Eingreifen Gottes in die Welt? Mediävisten jeder Fachrichtung dürfte die Ansicht vertraut sein, dass nach den Vorstellungen des Mittelalters transzendente Mächte häufig und aktiv in das irdische Geschehen eingriffen. Sie konnten zu diesem Eingreifen durch Bitten, Gebete, Gaben oder die Frömmigkeit der Gläubigen veranlasst werden, aber auch durch deren sündhaftes Verhalten. Das Eingreifen hatte also die Intention der Belohnung oder der Bestrafung, wurde zudem aber auch als Prüfung eingesetzt, um die Standhaftigkeit der Gläubigen auf die Probe zu stellen.¹ Die heiligen Schriften des jüdischen wie christlichen Bekenntnisses sind reich an Präzedenzfällen und exempla, in denen himmlische wie teuflische Mächte aktiv wurden, um Menschen zu belohnen, zu prüfen oder zu strafen. Orientiert an diesen Vorbildern rezipierten die Menschen auch im Mittelalter ungewöhnliche Ereignisse und werteten bestimmte Indizien als Beweise dafür, dass transzendente Mächte die Verursacher dieser Ereignisse waren.² Dies hat wahrscheinlich nicht wenig zu der Gewissheit der Moderne beigetragen, dass es sich beim Mittelalter um eine abergläubische und ‚finstere‘ Zeit handele. Aber erst die lange Erfahrung mit unerklärlichem Leid in der Welt hat die Vorstellung von einem Deus absconditus hervorgebracht, der nicht versucht, durch sein Eingreifen schon in dieser Welt für Gerechtigkeit zu sorgen.³ Noch weit länger hielt und hält sich aber in den genannten Religionen die Vorstellung vom Urteil Gottes über das Leben der Gläubigen beim Jüngsten Gericht, das über ihre ewige Seligkeit im Himmel oder aber die ewige Verdammnis in der
1 Der Beitrag beruht auf einem gerade publizierten Buch des Verfassers, Gott belohnt, Gott straft. Religiöse Kategorien der Geschichtsdeutung im frühen und hohen Mittelalter. Darmstadt 2022, dessen zentrale These lautet, dass die mittelalterlichen Menschen sich nicht bedingungslos dem Glauben an das Eingreifen transzendenter Mächte in die Welt unterwarfen, sondern Zweifel äußerten und Deutungsanstrengungen unternahmen, die von ihren sozialen und politischen Bindungen angeregt wurden. 2 S. dazu bereits ausführlich Hans-Werner Goetz: Gott und die Welt. Religiöse Vorstellungen des frühen und hohen Mittelalters. 3 Bde. Berlin 2011 (Orbis mediaevalis 13,1), 2012 (Orbis mediaevalis 13,2), 2016 (Orbis mediaevalis 16), hier Bd. 1, S. 95–152 mit weiteren Hinweisen. 3 Vgl. dazu Klaus von Stosch: Gott – Macht – Geschichte. Versuch einer theodizeesensiblen Rede vom Handeln Gottes in der Welt. Freiburg 2006, S. 89–174; Volker Leppin: Deus absconditus und Deus revelatus. Transformationen mittelalterlicher Theologie in der Gotteslehre von „De servo arbitrio“. In: Berliner Theologische Zeitschrift 22 (2005), S. 55–69. https://doi.org/10.1515/9783110792737-003
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Hölle entscheidet.⁴ Durch diesen Hintergrund bekommen die Vorstellungen von den Eingriffen transzendenter Mächte in die Welt ihren Charakter als Vorzeichen, die als Mahnungen, Warnungen und Drohungen äußerst ernst zu nehmen sind, weil sie nicht zuletzt auf die Gefährdung des Seelenheiles hinweisen. Lässt sich daraus aber eine weitgehend geteilte Überzeugung der Menschen des Mittelalters folgern, dass diese Eingriffe stetige Begleiter ihres Lebens waren? Oder ist die Intensität, mit der Kleriker, die vor allem die Verfasser der uns zur Verfügung stehenden Quellen waren, Geschehnisse in diese Richtung deuteten, zunächst einmal nur ein Zeichen dafür, welche Mittel die Hirten einsetzten, um ihre Herde auf dem rechten Weg zu halten? Die Häufigkeit einschlägiger Versuche könnte ja auch ein Hinweis darauf sein, dass sie nicht immer erfolgreich waren. Eine genauere Analyse einschlägiger Zeugnisse zu den Belohnungen, Prüfungen und Strafen Gottes aus dem Zeitraum des frühen und hohen Mittelalters ergab denn auch einen Befund, der es meines Erachtens wert ist, gerade angesichts der Fragestellungen und Ziele dieses Bandes auch hier zur Diskussion gestellt zu werden. Er machte nämlich deutlich, dass die Vorstellungswelt vom Eingreifen transzendenter Mächte in irdisches Geschehen durchaus von Zweifeln geprägt war. Die bisher wohl herrschende Auffassung, dass man im Mittelalter allgemein davon überzeugt gewesen sei, Gott greife zu vielen Gelegenheiten belohnend oder strafend in irdisches Geschehen ein, ja er könne zu diesem Eingreifen durch ein entsprechendes Verhalten veranlasst werden, hat sich durch diese Untersuchungen nicht bestätigt, sondern deutlich an Evidenz eingebüßt.⁵ Zwar rechnete man grundsätzlich mit einem solchen Eingreifen übernatürlicher Mächte, doch waren die Vorstellungen und Wertungen auf diesem Gebiet sehr stark von innerweltlichen Bindungen und Parteiungen abhängig. Überdies verfügte man über verschiedene Deutungsmöglichkeiten, die diametral unterschiedliche Wertungen erbringen konnten. Zugespitzt gesagt, man thematisierte einschlägige Geschehnisse so, dass sie Freunden nutzten und Gegnern schadeten. Verwandten und Freunden attestierte man vorrangig Belohnungen und allenfalls Prüfungen Gottes, Feinden und Gegnern dagegen Gottes Strafen. Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang die Beobachtung, dass bei einem unterstellten Eingreifen Gottes in Konflikte die Konfliktparteien nicht selten unterschiedliche Narrative produzierten, die ein göttliches Eingreifen jeweils im Sinne ihrer Partei deuteten: Eine Seite diagnostizierte eine Strafe, die andere machte daraus eine Belohnung Gottes, wie sich noch zeigen wird.
4 Vgl. dazu Arnold Angenendt: Geschichte der Religiosität im Mittelalter. Darmstadt 1997, S. 725–750. 5 Vgl. dazu Althoff (Anm. 1), zusammenfassend S. 271 ff.
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In den untersuchten Quellen werden also Voreingenommenheit, Zweifel, Aporie und Dissens fassbar, die zu einer unterschiedlichen Bewertung des Geschehens führten. Plötzliche Todes- oder Unglücksfälle wurden etwa von der Gegenseite argumentativ als Strafen Gottes ausgeschlachtet; von der betroffenen Partei jedoch verschwiegen, unbeachtet gelassen oder durch eine andere Deutung ‚bewältigt‘. So streute man Zweifel gegen die Deutung der anderen Seite. Hierzu zwei erste Beispiele: Selbst als im Jahre 1167 Kaiser Friedrich Barbarossa bei seinem Angriff auf Rom und der Vertreibung des Papstes an einem einzigen Tag durch eine plötzlich ausbrechende Seuche fast sein ganzes Heer verlor, vermieden alle stauferfreundlichen Quellen eine Wertung dieses Vorfalls als Bestrafung des Herrschers, während die päpstliche Seite und ihre Anhänger nicht müde wurden, den Vorgang als Beweis von ‚Gottes Rache‘ zu beschreiben, mit der dieser auf Friedrichs Sakrileg, den Angriff auf Rom und Papst Alexander III., reagiert habe.⁶ Ausführlich beschreibt und wertet etwa ein Anonymus aus Lodi das Geschehen in diesem Sinne: Als dies zu Rom geschah, siehe, da brach eine sehr schlimme und wunderbare tödliche Seuche über den Kaiser und sein ganzes Heer durch göttliches Wunder [divino miraculo, G.A.] herein; am nächstfolgenden Mittwoch, als am Morgen der Himmel ganz heiter war, begann es wunderbarerweise in einem Augenblick zu regnen; dann nach dem Regen wurde es sehr heiter und übermäßig klar. Sofort entstand eine solche Krankheit im Heer des Kaisers, dass Ritter und Fußvolk und Schildträger so dahinsiechten und starben, daß man sie kaum während des ganzen Tages begraben konnte, denn wenn sie am Morgen gesund und heil ihren Weg gingen, so starben sie sofort unterwegs und kaum daß sie lagen. Daher gingen viele Bischöfe, Erzbischöfe, Grafen, Markgrafen und Herzöge sowie viele Adlige und Nichtadelige im Heer zugrunde.⁷
6 Vgl. dazu Althoff (Anm. 1), S. 236–239; zu den Ereignissen ausführlich Knut Görich: Friedrich Barbarossa. Eine Biographie. München 2011, S. 413–420. 7 Vgl. dazu Otto Morena und seiner Fortsetzer Buch über die Taten Kaiser Friedrichs. In: Italische Quellen über die Taten Kaiser Friedrichs I. in Italien und der Brief über den Kreuzzug Kaiser Friedrichs I. Hrsg. von Franz-Josef Schmale. Darmstadt 1986 (Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe 17a). S. 234–239, hier S. 228 f.: Interea dum hec Rome agitabantur, ecce quedam maxima et mirabilis atque mortalis pestilentia super imperatorem eiusque totum exercitum divino miraculo accidit, videlicet quod in sequenti die proxima Mercurii, cum in mane maxima celi serenitas foret, statim quasi in ictu oculi mirabiliter pluere cepit; deinde post aquam serenitas magna atque pernimium clara facta est. Statimque infirmitas super imperatoris exercitum talis excrevit, quod equites et pedites atque scutiferi ita corruebant atque moriebantur, quod vix per totam diem sepeliri poterant, quia, cum in mane sani ac salvi per viam ambulabant, statim per viam eundo vel parum iacendo moriebantur. Ob quam rem multi episcopi, archiepiscopi, comites, marchiones ac duces aliique multi nobiles et ignobiles, qui in ipso fuerant exercitu, corruerant.
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Danach schildert der Autor noch die eilige und ruhmlose Flucht des Kaisers in Richtung der Berge: „Aber dennoch starben, bevor er die Lombardei erreichte, mehr als 2000 Ritter neben Bischöfen, Grafen, Markgrafen, Herzögen, sonstigen Fürsten, Adligen und Schildknappen während des Marsches allein durch Gottes Schwert.“⁸ Stauferfreundliche Quellen und der Staufer selbst enthielten sich dagegen jeder Deutung der Katastrophe, wenn sie sie überhaupt erwähnten. Interessant ist auch der Befund beim Tod des 23-jährigen Kaiser Ottos III., der plötzlich starb, als er gleichfalls einen Rachefeldzug gegen Rom, seine Bürger und den Papst unternahm: Seine Anhänger, wie der Erzbischof Brun von Querfurt, kannten und erwähnten die Vorwürfe, die gegen den Kaiser angesichts dieser Situation erhoben werden konnten. Sie legten gerade dennoch aber größten Wert darauf, detailliert zu beschreiben, dass er einen ‚guten Tod‘ gestorben und seine Seele im Augenblick dieses Todes „weißer als Schnee“ gewesen sei. So konterkarierten sie die Interpretation, dass der frühe Tod eine Strafe Gottes bedeute. Ihre Gewissheit resultierte aus folgender Beobachtung: Er habe vollkommen ruhig wie im Schlaf seine Seele ausgehaucht.⁹ Hiermit nutzte Erzbischof Brun zur Rechtfertigung Kaiser Ottos die verbreitete Vorstellung, dass man an der Art des Hinscheidens erkennen könne, ob Engel die Seele des Verstorbenen in Empfang nähmen und zum Himmel trügen, oder eben Teufel im Falle der ewigen Verdammnis sich dieser Seele bemächtigten, um sie in die Hölle zu stürzen.Verhielt sich der Sterbende ruhig und gefasst, sprach dies sicher für Engel, die seinen Tod begleiteten; während jede Unruhe und jedes Sträuben auf die Teufel verwies, die sich gewaltsam in den Besitz der Seele setzten. Bis heute bekannt sind die Bilder der Seelenwaage, die diesen Moment vermitteln, in dem Engel und Teufel die guten und die bösen Taten der Verstorbenen wiegen, um die anstehende Frage gerecht zu entscheiden.¹⁰ Die Vorstellung vom göttlichen Eingreifen in die Welt, so kann man als Hauptergebnis meiner Untersuchungen formulieren, besaß auch schon im Mittelalter keineswegs die Evidenz, die sie zum konkurrenzlosen Interpretationsmuster für außergewöhnliche Vorfälle machte. Dazu verteilten sich die Schicksalsschläge wohl zu unsystematisch, um sie als Beleg für ein göttliches Kausalgesetz wahrzunehmen, das zuverlässig tugendhaftes Verhalten belohnte und sündhaftes schon in dieser Welt bestrafte. Die Vorstellungswelt von den Eingriffen Gottes war vielmehr
8 Ebd., S. 230 f.: Sed tamen, antequam Longobardiam attingeret, plus de duobus milibus inter episcopos, comites et marchiones seu duces aliosque principes atque nobiles et scutiferos in ipso itinere gladio solummodo Dei obierunt. 9 Vgl. dazu Brun von Querfurt: Vita quinque fratrum. Hrsg. von Reinhard Kade. Hannover 1888 (MGH SS 15,2), cap. 7, S. 723: Dicunt autem qui presentes fuere, quod tanta suavitate moriens emisisset spiritum, ut nihil differret, nisi quasi dormiens exhalaret. 10 Vgl. dazu Angenendt (Anm. 4), S. 669–672: „Seelenreise und Geisterkampf“.
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eine Option, die mit Zweifeln und Widerspruch derjenigen zu kämpfen hatte, die sich den betroffenen Personen verbunden fühlten, und sich deshalb dagegen wehrten, solche Schicksalsschläge als Strafen Gottes anzuerkennen. Dass die unterschiedlichen Wertungen eines solchen Eingreifens transzendenter Mächte dagegen zu einer Suche nach Kompromissen und vermittelnden Lösungen geführt hätten, wie man auf anderen Feldern feststellen kann, ist mir nicht begegnet. Das ist auch nicht wirklich überraschend: Zwischen den Alternativen Himmel oder Hölle, ewiger Seligkeit oder ewiger Verdammnis ließ sich ja kaum eine Kompromisslösung denken. Ich möchte denn auch eine Auswahl von Fällen vorführen, mit denen man verdeutlichen kann, welche Argumente genutzt wurden, um das jeweilige Narrativ so zu gestalten, dass es die eigenen Parteigänger überzeugte. Und das hieß zugleich: den eigenen Leuten ein günstiges Zeugnis ausstellte und den Gegnern ein schlechtes. Die Beispiele stammen vorrangig aus dem 11. und 12. Jahrhundert, weil hier angesichts der fundamentalen Auseinandersetzungen zwischen Königtum und Kirche die Unterschiede der überlieferten Narrative deutlicher zu fassen sind als etwa im Frühmittelalter. Ein frühes Beispiel für Zweifel und Aporien, die eine komplexe Situation hervorrufen konnte, bietet Thietmar von Merseburg am Anfang des 11. Jahrhunderts, der als Bischof von Merseburg nicht unparteiisch auf die Auflösung und Wiedererrichtung seines Bistums Merseburg und die Folgen schaute, die sich aus diesen Maßnahmen zu ergeben schienen. Vielmehr wurde er von seinen Verpflichtungen gegenüber dem Bistum Merseburg und dem ottonischen Königsgeschlecht hin und her gerissen.¹¹ Kaiser Otto II. hatte nämlich das erst 968 eingerichtete Bistum 981 auflösen lassen und seinen Besitz anderen Neugründungen zugeschlagen, wohl weil für die vier von seinem Vater, Otto dem Großen, gegründeten Bistümer die gestifteten Lebensgrundlagen nicht ausreichten. Giselher, der Merseburger Bischof, war hierdurch zum Erzbischof von Magdeburg aufgestiegen. Thietmar nannte ihn „nicht einen Hirten, sondern einen stets aufs Emporkommen erpichten Krämer“.¹² Den ganzen Vorgang wertete er dagegen so: „Gottes Entscheidungen sind den Menschen dunkel, wenngleich niemals ungerecht. Und so lege ich es nicht nur ihm [Giselher] zur Last, sondern unser aller Sünden, denen wir ja mit Recht jedes Unglück zuschreiben müssen, das uns betrifft.“¹³ Die weitere Entwicklung war nämlich durch
11 Vgl. dazu Helmut Lippelt: Thietmar von Merseburg. Reichsbischof und Chronist. Köln 1973 (Mitteldeutsche Forschung 72), S. 89–115, S. 141–149. 12 S. Thietmar von Merseburg: Chronicon. Hrsg. von Robert Holtzmann. Berlin 1955 (MGH SS rer Germ. NS 9), III, 4, S. 114: non pastor sed mercenarius, ad maiora semper tendens. 13 Ebd.: Sed quia Dei iudicia sunt hominibus occulta, numquam autem iniusta, non illo solum, sed communibus nostrimet inputo peccatis, quibus, domesticis quicquid adversi accidit, iuste asscribitur.
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massive Katastrophen gekennzeichnet: Nachdem Kaiser Otto II. zu einem Italienzug aufgebrochen war, erhoben sich 983 die Slawenstämme östlich der Elbe erfolgreich gegen die Sachsen und zerstörten damit die ottonischen Expansions- und Missionsbemühungen. Der Kaiser selbst erlitt zudem 982 in Unteritalien mit seinem Heer eine vernichtende Niederlage gegen die Sarazenen und rettete nur mit Mühe sein Leben. Zweimal hatte so nach der Aufhebung des Bistums Gott Heiden über Christen siegen lassen. Im Dezember 983 starb Otto II. dann zudem in Rom als 28Jähriger. Dies waren genügend Katastrophen, um die Zeitgenossen fragen zu lassen, was den so offensichtlichen Zorn Gottes gegen Otto und sein Reich verursacht haben könnte. Thietmar von Merseburg stellte sein aus dieser Frage resultierendes Dilemma in Versen sogar vor das Buch seiner Chronik, das diese Zeit behandelte: Glücklich war [Ottos II.] Jugend, jedoch am Ende des Lebens Suchte Unglück ihn heim, da schwer wir alle gesündigt. Damals büßte die schlimme Welt für Missachtung der Wahrheit. Vielen im Reich wurde das rächende Schwert zum Verderben. Keinen Anlass zwar kann mit voller Gewissheit ich nennen, Allen Kundigen ist jedoch klar: Seit Merseburg kläglich Einbuße leiden musste, da wich der heilige Friede weit aus unserem Lande, und überall herrschten die Feinde. Wer vermag ihr erbarmungsloses Morden zu schildern, wie sie selbst Christi, des Lebensspenders, Kirchen nicht schonten! […] Gläubige, bete ein jeder zu dem, der Himmel und Erde einte, dass er ein Ende setze den schrecklichen Strafen.¹⁴
Thietmar vermeidet hier eine persönliche Schuldzuweisung an den Kaiser, der die Aufhebung Merseburgs letztlich verantwortete, indem er die Sünden aller als Ursache für Gottes Zorn namhaft macht, die das furchtbare Unglück verursacht hätten. Eine „volle Gewissheit“ über die Ursache dieses Zorns hat er zwar nicht, aber allen Kundigen ist nach ihm bewusst, dass die Aufhebung Merseburgs das Ende des Friedens im Land markierte. Implizit ist damit mehr als angedeutet, dass die Auflösung des Bistums der Grund für den Zorn Gottes und für seine Strafen war. Aber eben nur implizit.
14 Ebd., III, Prologus, S. 94–96: Huius prima bonis laetantur, triste supremis / Advenit, nostris criminibus undique magnis. / Tunc luit hic mundus, quod sprevit recta malignus. / Ultrici gladio perierunt plurima regno. / Nulla patet nobis certissima causa, peritis / Cunctis est visum, Mersburgi flebile damnum / Ex quo sustinuit, quod pax pia longe recessit / Finibus e nostris, late regnabat et hostis. / Quis valet effari, seviret, ut iste crudeli / Funere, cum Christi templis nec parceret almi. […] / Qui caelos terris coniuncxit, ponat ut istis / Finem suppliciis, optet modo quisque fidelis.
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Fast versteckt lässt Thietmar Kaiser Otto in seiner folgenden Erzählung einem byzantinischen Schiffskommandanten, der ihn vor den Sarazenen gerettet hatte, zudem aber bekennen, eine persönliche Schuld an den Vorgängen zu haben: „Meine Sünden haben mich mit Recht in dieses Unglück gebracht“,¹⁵ soll der Kaiser dem fremden Kapitän anvertraut haben. Den Merseburger Bischof hatte seine Verehrung für das sächsische Kaisergeschlecht der Ottonen, dem er und sein Geschlecht viel verdankten, offensichtlich dazu gebracht, die heikle Thematik der Auflösung des Bistums und die darauffolgenden, gravierenden Niederlagen zwar in ein ausführliches Narrativ zu fassen und dabei die Strafen Gottes, die auf die Auslösung folgten, deutlich beim Namen zu nennen. Jedoch hat er darauf verzichtet, Kaiser Otto II. als den Hauptverantwortlichen anzuklagen. Die gleiche Tendenz zeigte sich noch einmal, als Thietmar auf den Tod Ottos zu sprechen kam. Er bescheinigte ihm zunächst einen guten Tod, weil der Kaiser noch Zeit fand, in einem Testament die Kirche, die Armen, seine Schwester Mathilde sowie seine Diener und Kriegsleute mit je einem Viertel seines Vermögens zu beschenken. Danach habe der Kaiser noch öffentlich vor Papst, Bischöfen und Priestern in lateinischer Sprache gebeichtet und von ihnen die Absolution erhalten.¹⁶ Es war also ein guter Tod, weil er alles getan hatte, was er konnte und was die Kirche vorsah, um für sein Seelenheil zu sorgen. Thietmar selbst schloss an diesen Bericht aber auch noch eine persönliche Bemerkung an, die zeigt, wie sehr er seine ganze Haltung und Darstellung darauf ausrichtete, Kaiser Otto II. vor Hinweisen auf die ewige Verdammnis zu bewahren: Nun aber flehe ich demütig, eingedenk des menschlichen Schicksals und selbst der Nachsicht sehr bedürftig, zum Gott und Herrn des Himmels und der Erde. Er möge ihm [Otto II.] gnädig nachsehen, was er jemals hier gegen meine Kirche gesündigt hat. Für seine guten Werke aber empfange er hundertfältig Gaben; kraft der mir unverdient übertragenen Vollmacht spreche ich ihn los. Ich bitte auch dich, meinen Nachfolger, inständig: Verzeih ihm immer von ganzem Herzen, wie es in der letzten Not keinem verweigert werden darf.¹⁷
Thietmars persönliche Gebetsbitte macht deutlich, dass es für die mittelalterlichen Zeitgenossen, zumal für die Kleriker unter ihnen, in ihren Narrativen über Gottes Belohnungen, Prüfungen oder Strafen vorrangig darum ging, dass die Betroffenen die ewige Seligkeit erlangten und nicht ewiger Verdammnis ausgeliefert wurden.
15 Ebd., III, 21, S. 124: peccatis meis id promerentibus ad hanc veni miseriam. 16 Ebd., III, 25, S. 128. 17 Ebd., S. 128–130: Equidem sortis memor humanae multumque indigens indulgentiae, caeli terraeque Deum et Dominum supplex efflagito, ut quicquid hic in mea umquam peccaverit aecclesia, clemens remittat, pro beneficiis autem centuplum largiatur, potestateque inmerito mihi concessa indulgeo, te obnixe successorem postulans, ut huic veniam nemini in ultimis denegandam semper ex corde tribuas.
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Diese stets im Hintergrund stehende Alternative erklärt wohl die deutliche Tendenz, die Narrative für die eigene Partei gänzlich anders zu gestalten als für eine gegnerische. Ein weiteres Beispiel mag die Bedeutung der religiösen Denkweisen bei diesem Thema noch einmal unterstreichen, indem es verdeutlicht, dass und wie in Krisenzeiten alles Auffällige und Unnatürliche als Zeichen und Wirken transzendenter Mächte gewertet wurde. Zugleich kommen wir damit in die lange Phase der Auseinandersetzungen in der Regierungszeit Heinrichs IV., in der die Konfliktparteien eine neue Dimension der argumentativen Angriffe auf ihre Gegner und die entsprechenden Narrative dazu entwickelten. Die Beispiele aus dieser Zeit zeigen, welche Anstrengungen man machte, sozusagen im Kampf der Narrative die Oberhand zu behalten. Ein Protagonist solcher Autoren ist Bruno von Merseburg, dessen Buch vom Sachsenkrieg eine flammende Argumentation gegen den Tyrannen König Heinrich IV. darstellt. Hierzu hat er vermeintliche Aktivitäten und Zeichen transzendenter Mächte immer wieder zu Narrativen ausgearbeitet. So schildert er etwa bereits für die Zeit vor dem Beginn der Sachsenkriege eine ganze Reihe von Begebenheiten, die für ihn Vorzeichen des kommenden Unheils waren: Zur gleichen Zeit sahen wir in Sachsen viele Zeichen geschehen, aus denen wir das kommende Übel schon erkennen konnten. Dass wir nämlich auf der Magdeburger Wiese die Raben so heftig miteinander kämpfen sahen, so dass mancher von ihnen tot auf dem Platz blieb, davon will ich gar nicht einmal reden, weil ich heiligere Zeichen zu berichten habe, in denen sich nicht minder die Zukunft offenbarte. Die Hirtenstäbe unserer Bischöfe wurden bei heiterer, ja sogar von Sonnenhitze durchglühter Witterung in den Kapellen, in denen sie standen, so nass, dass sie jedem, der sie anfasste, die Hand mit Wasser füllten. In Steterburg gab es ein hölzernes Kruzifix, das um die gleiche Zeit an sommerlichen Tagen derart Schweiß verströmte, dass es nicht einmal zu schwitzen aufhörte, nachdem man es mit Tüchern abgewischt hatte, so dass es einige Näpfchen mit Schweiß füllte. Als Bischof Werinher von Magdeburg die heilige Messe feierte und nach gewohnter Weise eine Partikel vom Leib Christi in das Blut des Herrn tauchte, sank dieses Stück auf den Boden des Kelches, als wenn der Leib Christi in Blei verwandelt wäre. Als ein Priester in Weddigen […] beim Vollzug des Sakraments bis zur Kommunion gelangt war, sah er bei der Erhebung des Kelchs den Wein nicht nur geistig, sondern sichtbar in Blut verwandelt. Durch dessen Röte und Dichte erschreckt, wagte er nicht, davon zu nehmen, vielmehr trug er es mit großer Furcht nach Magdeburg, wo es noch heute ehrfurchtsvoll verwahrt wird. Was sollte alles das nach unserer Meinung anderes bedeuten als die Drangsal, die wir nachher erfahren haben?¹⁸
18 Brunos Buch vom Sachsenkrieg. Neu bearb. von Hans-Eberhard Lohmann. Leipzig 1937 (MGH Deutsches MA 2), cap. 40, S. 40: Angesichts der Länge und der Fiktionalität der Berichte wird hier auf die Wiedergabe des Originaltextes verzichtet.
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Man kann und muss sich vorstellen, welche Krisenstimmung erzeugt wurde, wenn eine politisch angespannte Situation mit den eben genannten Erscheinungen in Verbindung gebracht und diese als Warnzeichen vor der künftigen Entwicklung gedeutet wurden. Ein anderer Autor der Gregorianer, Lampert von Hersfeld, schilderte denn auch entsprechende Reaktionen der sächsischen Seite: Nun halten sie überall in Sachsen und Thüringen zahlreiche Versammlungen ab, um zu beraten, was zu tun sei […] und sie beschließen einmütig, da sich ihnen kein Strahl der Hoffnung auf menschliche Hilfe zeige, künftig bei Gott Hilfe zu suchen, der allein den verstockten, unbändigen Zorn des Königs besänftigen und die Verstrickung entwirren könne. Sie ordnen daher an, dass man überall in Sachsen und Thüringen die feine Kleidung ablege, nur härene Bußgewänder trage, sich an bestimmten Tagen des Essens und Trinkens enthalte, den Armen jeder nach seinem Vermögen Almosen gebe und, barfuß durch die Kirchen wallend, Gott in gemeinsamer Wehklage anflehe, seine Hand…zu ihrer Rettung auszustrecken. Ferner beschließen sie […], die Ohren des Königs und der Fürsten mit immer und immer wiederholten Bitten zu bestürmen und, wenn sie damit Erfolg hätten, Gott zu danken, anderenfalls des Königs Ankunft an diesem Ort abzuwarten, eine Schlacht zu liefern und Gott, dem allgerechten Richter, ihre Sache anheimzustellen.¹⁹
Lampert schließt diesen Bericht überdies mit einem verzweifelten Fazit: „Aber Gottes Zorn, der gegen sie entbrannt war, war zu groß, als dass er durch Tränen ausgelöscht, durch Opfer und Weihegeschenke getilgt werden konnte.“²⁰ Der Tatsache, dass solche Geschehnisse von beiden Autoren gesammelt und ausführlich aufgezeichnet wurden, mag man einerseits entnehmen, welche Bereitschaft herrschte, ungewöhnliches Geschehen als Warnzeichen übernatürlicher Mächte wahrzunehmen. Andererseits schürte man diese Stimmung auch noch aktiv, indem öffentlich Bitten an Gott und die Heiligen gerichtet wurden, den Gegner zu strafen. So verband etwa Papst Gregor VII. seine zweite Bannung König Heinrichs IV. im Jahre 1080 mit folgender Bitte an die Apostelfürsten Petrus und Paulus:
19 Lampert von Hersfeld: Annales. In: Lamperti monachi Hersfeldensis Opera. Hrsg. von Oswald Holder-Egger. Hannover/Leipzig 1894 (MGH SS rer. Germ. 38), S. 3–304, hier a. 1075, S. 213 f.: Exin crebra per Saxoniam Turingiamque conventicula faciunt, quid facto opus sit, consulunt […] [et] statuunt unanimiter a Deo sibi deinceps querendum esse subsidium, qui solus tam obstinatam regis ferocitatem emollire et rem implicitam expedire queat. Iubent ergo, ut per totam Saxoniam et Turingiam, depositis cultioribus indumentis, sacco et laneis vestiantur, cibo et potu statutis diebus abstineant, sumptus in pauperes pro sua quisque re familiari conferant et per aecclesias nudis pedibus discurrentes Deum communi lamentatione deprecentur, ut manum suam […] ad ereptionem eorum extendat. Preterea placet […] iterum atque iterum repetitis supplicationibus aures eius et principum eius obtundentes, si evincerent, gratias Deo, sin autem, in eodem loco venientem prestolati, collatis signis equissimo iudici Deo rem committerent. 20 Ebd., S. 214 f.: Sed ira Dei, quae in eos exarserat, maior erat, quam ut lacrimis restingui, hostiis et muneribus mitigari posset.
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Alle Könige und Fürsten dieser Welt mögen nun lernen, wie groß ihr seid, was ihr vermögt, und sie mögen fürchten, den Befehl eurer Kirche gering zu achten. Und vollstreckt möglichst bald euer Urteil an dem genannten Heinrich, damit alle wissen, dass er nicht zufällig, sondern durch eure Macht stürzen und zuschanden werden wird: hoffentlich zur Buße, damit seine Seele gerettet werde am Tage des Herrn.²¹
Wenige Tage nach dieser Bitte präzisierte er sie noch, indem er einen konkreten Termin nannte, bis zu dem dieser Sturz des Königs stattfinden solle, „damit niemand glaube, dass der Zufall, sondern eure Stärke diesen Sturz verursacht habe.“²² Das gleiche Gottvertrauen, das hier in den Aktivitäten Papst Gregors fassbar wird, zeigt sich aber auch in den Narrativen der gregorianischen wie der heinricianischen Parteigänger, die ihrer Partei emphatisch die Hilfe Gottes im Kampf gegen die Heinricianer bescheinigten. Neben den Historiographen Bruno und Lampert ist dies bei den Gregorianern vor allem bei dem Schwaben Bernold zu beobachten, der Schlachten zwischen den Heinricianern und Gregorianern so beschreibt: Die Getreuen des heiligen Petrus […] vertrauten nicht so sehr auf ihre Anzahl als auf die Barmherzigkeit Gottes und die Gerechtigkeit des heiligen Petrus und nicht so sehr auf ihre Waffen als auf die Kraft des heiligen Kreuzes. Deshalb ließen sie auch ein sehr hohes Kreuz, das auf einem Wagen aufgerichtet und mit einer roten Fahne geschmückt war, bis auf das Schlachtfeld mit sich führen […]. Als man aber soeben kämpfen wollte, warfen sich alle auf die Erde und durchdrangen den Himmel mit einem Gebet, welches der sehr ehrwürdige Magdeburger Erzbischof dort für sie unter vielen Tränen und Seufzern darbrachte. Als sie deshalb im Namen des Herrn angriffen, richteten sie unter den Feinden ein unglaubliches Gemetzel an, so dass man neun ziemlich große Leichenhaufen sah.²³
21 Das Register Gregors VII. Hrsg. von Erich Caspar. Berlin 1923 (MGH Epistolae selectae 2,2),VII, 14a, S. 487: Addiscant nunc reges et omnes seculi principes, quanti vos estis, quid potestis, et timeant parvipendere iussionem ecclesiae vestre. Et in predicto Heinrico tam cito iudicium vestrum exercete, ut omnes sciant, quia non fortuitu sed vestra potestate cadet, confundetur, utinam ad penitentiam, ut spiritus sit salvus in die Domini. 22 Vgl. dazu Gerd Althoff: Heinrich IV. Darmstadt 2006 (Gestalten des Mittelalters und der Renaissance), S. 170 f. mit Anm. 103 und Hinweisen auf Quellen und Literatur. 23 Vgl. Bernoldi Chronicon. In: Die Chroniken Bertholds von der Reichenau und Bernolds von Konstanz 1054–1100. Hrsg. von Ian S. Robinson. Hannover 2003 (MGH SS rer. Germ. NS 14), S. 383–540, hier a. 1086, S. 459: fideles sancti Petri […] non tam multitudine sua quam misericordia Dei et iustitia sancti Petri, non tam armis quam virtute sanctae crucis confisi processerunt. Unde et crucem altissimam in quodam plaustro erectam et rubro vexillo decoratam usque ad locum certaminis secum deduci fecerunt. […] Cum autem iam iam congressuri essent, omnes in terram prostrati celum oratione penetraverunt, quam pro eis ibidem reverentissimus Magideburgensis archiepiscopus cum multis lacrimis et gemitibus effudit. Igitur in nomine Domini congressi, incredibilem hostium stragem fecerunt, ita ut VIIII nimium altae congeries cadaverum ibi viderentur […].
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Er geht dann noch ins Detail und beziffert die eigenen Verluste auf lediglich 15 Tote, von denen jedoch nur drei auf dem Schlachtfeld selbst verstorben seien, die anderen erst später. Selbst wenn man die Verwundeten noch mitzähle, komme man insgesamt nur auf die Zahl 30, was allein der göttlichen Kraft und Hilfe zuzuschreiben sei, denn die Heeresstärke auf der eigenen Seite habe nur 10.000 Mann betragen, die der Feinde dagegen 20.000.²⁴ Vergleicht man diese entschiedene Argumentation und Parteinahme für eine Seite mit derjenigen Thietmars von Merseburg, wird unmittelbar einsichtig, wie stark erstere von der Lagerbildung geprägt ist, der sie alles unterordnet. Diese Einseitigkeit führte sogar dazu, dass Bernold Todesfälle seiner Partei, die eigentlich andere Interpretationen nahelegten, nun auf folgende Weise zu ‚bewältigen‘ versuchte: „Aber der allmächtige Gott wollte nicht, dass sein Knecht, Papst Gregor, sich noch länger abmühe; um ihn für seine Mühe würdig zu belohnen, rief er ihn aus dem Zuchthaus dieses Lebens ab.“²⁵ Dass der Tod nicht nur als Strafe Gottes, sondern auch als Belohnung für ein Leben im Dienste für Gott aufgefasst werden konnte, finden wir nicht nur hier. Diese Vorstellung resultierte aus der christlichen Überzeugung vom Weiterleben nach dem Tode, das zweifellos als Belohnung interpretiert werden konnte, wenn es im Himmel stattfand.²⁶ So etwas attestierte man aber nur den Protagonisten der eigenen Partei, bei den Gegnern war der gleiche Vorgang eine Strafe Gottes. In dieser Frage haben beide Parteien denn auch geradezu einen Kampf der Narrative ausgetragen, als im Jahre 1080 König Rudolf von Rheinfelden in einer Schlacht an der Elster gegen Heinrich IV. fiel. Damit schien die Frage, wessen Anspruch auf den Königsthron Gottes Unterstützung genoss, zugunsten Heinrichs entschieden. An den Argumentationen der beiden Parteien kann man aber leicht ablesen, dass die Gregorianer nicht dieser Meinung waren. Sie versuchten nämlich trotz der scheinbar eindeutigen Situation mit ihren Narrativen vom Makel dieses Todes abzulenken oder ihn zu bewältigen. König Rudolf von Rheinfelden war in der Schlacht gegen Heinrich IV. nämlich nicht nur getötet worden, sondern man hatte ihm außerdem die rechte Hand, die Schwurhand, abgeschlagen. Dies ließ sich leicht als
24 Ebd., S. 460: In illa igitur congressione quot milia adversariorum occubuerint, nondum explorare potuimus. Ex parte autem fidelium sancti Petri nonnisi XV homines mortuos invenire potuimus […] et ipsorum XV nonnisi tres in loco certaminis obierunt, nam reliqui aliquot diebus postea vixerunt. Inter mortuos autem et vulneratos nonnisi XXX reperire potuimus ex nostris. Et hoc utique nulli humanae virtuti, sed potius divinae ascribendum est, cum fideles sancti Petri vix X milia habuerint, adversarii autem etiam XX milia excessisse referantur. 25 Ebd., a. 1085, S. 454: Sed iam Deus omnipotens famulum suum Gregorium papam nolens diutius laborare, immo pro laboribus suis digne remunerare, de huius vitae ergastulo eum evocavit. 26 Vgl. dazu Angenendt (Anm. 4), S. 721–750.
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Strafe Gottes für den Treue-Eid deuten, den er Heinrich IV. zunächst geschworen, dann aber durch die Übernahme des Königtums gebrochen hatte. Ich beginne den Vergleich der Versionen beider Parteien mit der Lebensbeschreibung Heinrichs IV., die ein unbekannter Verfasser erst nach Heinrichs Tod 1106 niederschrieb. Sie steht für die Wertung des Vorfalls durch die Heinricianer: Bei seinem letzten Einfall (in Sachsen) aber errang er [sc. Heinrich] einen bemerkenswerten und glücklichen Sieg und gab der Welt die gewichtige Lehre, dass niemand sich gegen seinen Herrn erheben darf. Denn Rudolf veranschaulichte durch seine abgehauene Rechte die gerechte Strafe für den Meineid, da er sich nicht gescheut hatte, den seinem Herrn und König geschworenen Treueid zu brechen, und gleichsam, als hätte er nicht genug Todeswunden erhalten, traf ihn auch noch die Strafe an diesem Glied, damit durch die Strafe die Schuld offenbar werde. Aber noch etwas anderes Bemerkenswertes ereignete sich bei diesem Sieg: sowohl das siegreiche wie das besiegte Heer flohen. Das göttliche Erbarmen hatte es so angeordnet, dass nach dem Fall des Hauptes durch die beiderseitige Flucht der Frevel gegenseitigen Hinmordens verhindert werde.²⁷
Die Argumentation ist weniger dadurch auffällig, dass mit ihr der Meineid Rudolfs als Auslöser für die Strafe Gottes in den Vordergrund gerückt wird, als durch ihren zweiten Teil. Mit ihm wird nämlich die Tatsache angesprochen und bewältigt, dass Heinrichs Heer und er selbst in der Schlacht die Flucht ergriffen hatten. Dieser Vorwurf der Feigheit wird nun dadurch bewältigt, dass die Flucht beider Heere auf göttliches Erbarmen und seine Anordnung zurückzuführen sei. Damit wird implizit betont, dass Gott selbst nach Rudolfs Tod den Konflikt beendete, weil das schändliche Verhalten Rudolfs die alleinige Konfliktursache gewesen sei. Mehrere Gregorianer hatten sich zuvor jedoch schon bemüht, dem Tod Rudolfs seinen scheinbar eindeutigen Charakter als Strafe Gottes zu nehmen. Dies gelang dem unmittelbar zeitgenössisch schreibenden Bruno von Merseburg noch nicht sehr überzeugend: Als Rudolf jedoch erfahren hatte, dass sein Volk den Sieg gewonnen hatte, da sagte er: ‚Nun werde ich im Leben und im Sterben mit Freuden erdulden, was der Herr über mich verhängt hat‘. Obgleich ihm die rechte Hand abgehauen war und er eine schwere Wunde in den Unterleib gegen die Weichen hin erhalten hatte, sagte er doch, um die zu trösten, die er um seinen Tod bangen sah, er werde bestimmt noch nicht jetzt sterben, und ohne Rücksicht auf sich selbst
27 Vgl. Vita Heinrici IV. imperatoris. Hrsg. von Wilhelm Eberhard. Hannover/Leipzig 1899 (MGH SS rer. Germ. 58), cap. 4, S. 19: […] sed ad ultimum reversus, tam notanda quam felici victoria vicit, magnumque mundo documentum datum est, ut nemo contra dominum suum consurgat. Nam abscisa Rodulfus dextera dignissimam periurii vindictam demonstravit, qui fidem domino suo regi iuratam violare non timuit; et tamquam alia vulnera non sufficerent ad mortem, accessit etiam huius membri pena, ut per poenam agnosceretur et culpa. Sed et aliud notandum in illa victoria contigit, videlicet quod tam victor quam victus exercitus fugit; nimirum hoc ordinante desuper divina clementia, ut post ruinam capitis ex alterna fuga tolleretur nefas alternae cedis.
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zeigte er seinen verwundeten Männern, welche Heilmittel sie jeweils nehmen müssten. Von solcher Tapferkeit und Güte tief bewegt versprachen ihm unsere Fürsten alle einmütig: wenn der allmächtige Gott ihm das Leben erhalten wolle, dann würde Sachsen zu seinen Lebzeiten – auch wenn er beide Hände verliere – niemals einen anderen König wählen. Hocherfreut über solche Treue entschlief er eines seligen Todes.²⁸
Spätere Bemühungen haben dagegen besser einleuchtende Argumente für eine Vorwärtsverteidigung gefunden, so etwa Bernold von Konstanz, der das Schicksal des Judas Makkabäus als Parallele zu Rudolfs Tod zum Ausgangspunkt seiner Wertung macht: Da jener, mit Sicherheit ein zweiter Makkabäer, in der vordersten Reihe die Feinde bedrängte, verdiente er es, im Dienst des hl. Petrus zu fallen; danach lebte er noch einen Tag, ordnete alle seine Angelegenheiten richtig und ging am 15. Oktober zweifellos zum Herrn ein […]. Er war nämlich ohne Zweifel der Vater des Vaterlandes gewesen, äußerst bedacht auf Gerechtigkeit und ein unermüdlicher Verteidiger der heiligen Kirche.²⁹
Gänzlich neue Perspektiven eröffnete dagegen noch später Bischof Bonizo von Sutri, der neben Rudolfs Erfolgen im Kampf den Teufel und seine Motive als Verursacher von Rudolfs Tod in die Diskussion brachte: Rudolf sei nicht wie die Feigen gestorben, sondern von den Seinen aufgefunden worden, tot auf einer großen Menge toter gegnerischer Krieger liegend. Das beweise, dass er sehr erfolgreich gekämpft habe. Rudolfs Tod aber habe nicht Gott, sondern der Teufel veranlasst, damit sein Gegner Heinrich zu der schweren Sünde des Hochmuts verführt würde, seine eigenen Sünden würden Gott gefallen.³⁰ Damit endeten die geradezu verzweifelten Versu-
28 Vgl. Brunos Buch vom Sachsenkrieg (Anm. 18) cap. 124, S. 117 f.: Sed cum [Rodulfus] cognovisset, quod suus haberet victoriam populus: ‚Nunc‘ ait, ‚laetus patiar vivus et moriens, quicquid voluerit Dominus!‘ Quamvis autem dextera manus illi fuisset amputata et grave vulnus haberet venter, ubi descendit ad ilia, tamen, ut illos, quos de sua morte videbat dolentes, consolaretur, se non in praesenti moriturum fidenter pollicetur; suique postponens curam, suis vulneratis ostendebat, quam deceret adhiberi medicinam. Qua fortitudine simul et pietate nostri principes valde commoti, concorditer omnes ei spoponderunt ut, si Deus omnipotens illius vitam servare vellet, eo vivo, etiamsi utraque manu careret, Saxonia nullum alium rectorem eligeret. Qua fide multum ille laetatus, felici est morte resolutus. 29 Vgl. Bernoldi Chronicon (Anm. 23) a. 1080, S. 426: Ille, inquam, alter Machabeus cum inter primos hostibus instaret, in servitio sancti Petri occumbere promeruit, et postea uno die superstes, omnibus suis rite ordinatis, ad Dominum migrasse non dubitatur Idibus Octobris. […] Erat enim procul dubio pater patriae, servantssimus iusticiae, indefessus propugnator sanctae aeclesiae. 30 Vgl. Bonizo von Sutri: Liber ad amicum. Hrsg. von Ernst Dümmler. Hannover 1891 (MGH Libelli de Lite 1), S. 568–620, Lib. VIIII, S. 613: Qui [Heinricus] mox extollens in altum cornu suum et loquens adversus Deum iniquitatem, non regnoscens sathane calliditates, credidit Deo suum placuisse peccatum.
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che der Parteigänger Rudolfs, die Ursachen seines Todes ins Positive zu wenden, keineswegs. Der Kardinal Boso verstieg sich in der Vita Papst Alexanders III. sogar zu der Erklärung, Rudolf sei versehentlich von den Seinen getötet worden, die ihn nicht erkannt hätten.³¹ An die Stelle des göttlichen Eingreifens war so der absichtslose Zufall getreten, der keine Intention kannte. Ähnlich kontrovers wie bei Rudolf von Rheinfelden waren im 13. Jahrhundert die Narrative, die anlässlich des Todes Kaiser Friedrichs II. entwickelt wurden. An ihrem Beispiel verdeutlicht sich noch einmal die Arbeit am Narrativ, die desto intensiver wurde, je umstrittener die jeweilige Person zu Lebzeiten gewesen war. Die vor allem päpstlichen Gegner Friedrichs II. bescheinigten ihm einen ‚schlechten Tod‘ und beschrieben ihn wie folgt. Nicolaus von Calvi etwa nutzte in seiner Vita Papst Innozenz IV. altbekannte Stereotype des Tyrannentodes: Schließlich aber blickte Gott von seinem heiligen Thron in der Höhe herab und sah das Schifflein Petri von brandenden Wellen umtost und von Widrigkeiten bedrängt. Daher ließ er, Gott selbst, den Tyrannen Friedrich, den Sohn des Verderbens, im Jahr 1250, am Fest der hl. Luzia, im 8. Jahr des Pontifikats Innozenz IV. sterben. In Apulien, im Kastell Fiorentino, hauchte er an schweren Durchfällen leidend, unter Zähneknirschen mit Schaum vor dem Mund sich zerreißend, gewaltige Schreie hinausbrüllend, als Exkommunizierter und Abgesetzter seinen Atem aus, auf dass dieser so schändliche, harte und grausame Tod bezeuge, was sein verruchtes Leben verdiente: Der Tod der Sünder ist nämlich äußerst schlecht und ihr Ende ist die Vernichtung.³²
Ein anderer Gegner, der Franziskaner Salimbene de Adam, legte Wert darauf zu beweisen, dass Friedrichs schlechter Tod biblische Weissagungen erfüllt habe: Er konnte wegen des allzu großen Gestanks, den seine Leiche ausströmte, nicht in die Stadt Palermo überführt werden, in der sich die Grabmäler der Könige von Sizilien befinden und in der diese gewöhnlich beigesetzt werden. Der Ursachen aber, warum er einer Grabstätte unter den Königen Siziliens verlustig ging, waren viele. Einmal die Erfüllung der Schrift: ‚Wie ein zertretenes Aas wirst du im Grab nicht jenen beigesellt (Jes 14.19 f.) nämlich den Königen Siziliens, die in Palermo ruhen. Zweitens, weil seinem Leichnam ein solcher Gestank entströmte, dass es unerträglich war, so wie ‚Würmer wuchsen aus des Verruchten Leib und das Fleisch stückweise unter Schmerzen und Qualen abfiel, das ganze Heer aber durch seinen Fäulnis-
31 Vgl. Boson: Gregorius VII. In: Le Liber pontificalis. Texte, Introduction et Commentaire. Hrsg. von Louis Duchesne. 2 Bde., hier Bd. 2. Paris 1892, S. 360–368, hier S. 367: Rodulfus autem, sicut vir fortissimus et famosus et in armorum exercitatione probatus, nequaquam fugit, set victor et triumphator occubuit, quia eum sui non cognoscentes exitialiter vulneraverant. 32 Vgl. Klaus van Eickels, Tania Brüsch: Kaiser Friedrich II. Leben und Persönlichkeit in Quellen des Mittelalters. Darmstadt 2000, S. 427 f. Lat. Text im Archivio storico della Società Romana di Storia Patria 21 (1898), cap. 29: De morte pessima Frederici, S. 102.
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geruch belästigt wurde.‘ (2 Makk 9,9), von Antiochus gesagt, erfüllte sich jedoch alles buchstäblich an Friedrich.³³
Matthaeus Paris dagegen setzte andere Akzente, die nicht zuletzt ebenfalls mittels Stereotypen zeigten, dass Friedrich einen guten Tod gestorben war und sich das ewige Leben verdient hatte: Um diese Zeit aber starb Friedrich, der größte unter den Fürsten der Erde, das Staunen und der Verwandler der Welt, losgesprochen von dem Urteil (der Exkommunikation), das ihn band, nachdem er, wie man sagt, das Ordensgewand der Zisterzienser angelegt hatte, in wunderbarerweise zerknirscht und demütig. Er starb aber am Tage der heiligen Luzia, so dass das Erdbeben an jenem Tage nicht ohne Bedeutung und nichtssagend gewesen zu sein schien. Nach seinem Tod verschwand die Hoffnung der Franzosen auf Hilfe für ihren (im Heiligen Land kämpfenden) König. Friedrich aber hatte ein herrliches Testament gemacht, demzufolge die durch ihn geschädigten Kirchen Ersatz erhalten sollten.³⁴
Die Beispiele sollen und müssen genügen, um die zentrale Frage dieses Beitrags zu beantworten: Wie artikulierten sich im Mittelalter Zweifel am Eingreifen Gottes in die Welt. Die Antwort lautet: Es gab keine grundsätzlichen Zweifel daran, dass transzendente Mächte in das weltliche Geschehen belohnend, prüfend und strafend eingriffen. Das war Teil der christlichen Glaubensüberzeugung, die im Laufe der Jahrhunderte einen geregelten Umgang mit diesen Phänomenen bewirkt hatte. Die Zweifel erhoben sich jedoch im Einzelfall, wenn sich konkret die Frage stellte, wessen Schuld die Eingriffe Gottes, der Heiligen oder auch der Dämonen hervorgerufen habe. Dann unterlag die religiöse Vorstellung häufig den sozialen Bindungen und man wandte ein ganz unterschiedliches Maß an, je nachdem, ob Freunde oder Gegner betroffen waren. Hierbei war man sehr erfinderisch in der Bewertung dieser Eingriffe, deren Charakter als Belohnung, Prüfung oder Strafe je nach Sachlage anders gedeutet werden konnte. So konnten ein plötzlicher Tod oder der Tod in einer Schlacht als Heimsuchung oder Rache Gottes und damit als Strafe gedeutet werden; man hatte aber auch die Option, ihn als Heimrufung eines verdienten Kämpfers und als Belohnung aufzufassen. Die Deutung des menschlichen Lebens als zeitlich sehr begrenzter Aufenthalt im ‚irdischen Jammertal‘ oder auch ‚Zuchthaus‘ gewann angesichts der folgenden ewigen Seligkeit oder auch der ewigen Verdammnis sehr stark an Evidenz. Die Mühen aber, die man aufwandte, um in Narrativen den eigenen Leuten den Makel eines ‚schlechten Todes‘ mit der Aussicht auf ewige Verdammnis zu nehmen,
33 Vgl. ebd., S. 426 f. mit Hinweis auf das Corpus Christianorum. Continuatio Medievalis 125,2, S. 530 f. 34 Vgl. ebd., S. 425 f. mit Hinweis auf MGH SS 28, S. 319.
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genau dies aber den Gegnern zu bescheinigen, beweisen einmal die tiefe Verwurzelung dieser Vorstellungswelt in der mittelalterlichen Mentalität. Andererseits zeigen die Deutungsanstrengungen aber auch, dass man jede sich bietende Möglichkeit nutzte, um den eigenen Leuten auf diesem Felde zur Seite zu springen.
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Wer ist ein Ketzer? Öffentliche Wahrheitssuche und individuelle Glaubenszweifel in Streitgesprächen zwischen Kirchenleuten und Andersgläubigen in Okzitanien um 1200 I „Wahrheit kennt keine Kompromisse“ Ketzer stehen jenseits der Grenze, die die rechte von der falschen Auslegung der christlichen Lehre trennt. Mit Ketzern schließt man keine Kompromisse. Die rechte Lehre ist schließlich das offenbarte Gotteswort und nichts als die Wahrheit. Darauf verweist schon Paulus, als er im Galaterbrief davon berichtet, dass er den „falschen Brüdern“, die Zweifel an seiner Auslegung der Worte Jesu hegten, kompromisslos begegnet sei. „Wir haben ihnen nicht nachgegeben, damit euch die Wahrheit des Evangeliums erhalten bleibe“ (Gal 2,5).¹ Wahrheit kennt keine Kompromisse.² Trotz dieser philosophischen Feststellung ist die Grenze zwischen Recht- und Andersgläubigen immer schon fließend gewesen. Schon die Apostel stritten redlich um ihre Erinnerungen an die Worte und Taten Jesu und deren Bedeutung; erst recht aber gab es Zweifel und Streit, seitdem die rechte Lehre in Büchern verfasst und einer strikt hierarchisch geordneten Institution, der Kirche, anheimgegeben wurde. Konzile, Kirchenväter, theologische Fakultäten, päpstliche Organe oder auch einfache Kirchenleute waren und sind in diese Streitigkeiten involviert. Das letzte Wort hat dabei immer eine höhere kirchliche Autorität, am höchsten in der Spätantike
1 Gal 2,4–5: „Denn was die falschen Brüder betrifft, jene Eindringlinge, die sich eingeschlichen hatten, um die Freiheit, die wir in Christus Jesus haben, argwöhnisch zu beobachten und uns zu Sklaven zu machen, so haben wir uns keinen Augenblick unterworfen; wir haben ihnen nicht nachgegeben, damit euch die Wahrheit des Evangeliums erhalten bleibe“. Vgl. dazu Hans Klein, Tobias Niklas: Entwicklungslinien im Corpus Paulinum und weitere Studien zu Paulustexten. Göttingen 2016, S. 363: „Seine Botschaft, so der Apostel, kennt keine Kompromisse, die Wahrheit ist hart, weil sie im Himmel angesiedelt ist“. 2 Vgl. zum Zitat Kurt Röttgers: Die Lineatur der Geschichte. Amsterdam [u. a.] 1998, S. 65; Michaela Bauks: Theologie des Alten Testaments. Stuttgart 2018, S. 364. https://doi.org/10.1515/9783110792737-004
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das vom Kaiser einberufene allgemeine Konzil, im lateinischen Mittelalter der Papst, mit oder ohne Konzil.³ Die rechte Auslegung wird also nicht dem freien Disput, dem besseren Argument, der überzeugenderen Verkündung oder den lokalen Gemeinschaften überlassen, sondern in einem autoritativen Verfahren zentral entschieden. In einem langen historischen Prozess, in dem sich unterschiedliche Instanzen kirchlicher Autorität ablösten oder gleichzeitig bestanden, hat sich ein theologisches und kirchenrechtliches Corpus herausgebildet, das voller Widersprüche war. Der Aufstieg der dialektischen Methode hat seit dem 12. Jahrhundert dieses Problem nicht gelöst, aber deutlicher markiert; seit Gratians Concordantia discordantium canonum wurde die Geltung eines Kanons von der Stellung seines Urhebers in der kirchlichen Hierarchie abhängig gemacht.⁴ Das alte und neue Kirchenrecht eröffnete Dekretisten wie auch späteren Dekretalisten dabei durchaus Spielräume bei der Bewertung und Neuaushandlung von Positionen. Auch die universitäre Disputation lebte von Zweifel und Kompromiss, alles im Dienst der Wahrheitsfindung und unter der Kontrolle kirchlicher Autoritäten.⁵ Bei Gruppierungen oder einzelnen Theologen, die bewusst oder gezwungenermaßen außerhalb des von der Kirche definierten Rahmens zur Aushandlung von Auslegungsfragen standen, die also im Zweifelsfalle die kirchliche Autorität an sich in Frage stellten, ist die Lage schwieriger, um nicht zu sagen aporetisch. Denn auch diese Gegner der Kirche wünschten sich in aller Regel nicht einfach mitzudisputieren, sondern traten – genau wie die Kirche – als Vertreter einer alleinseligmachenden Lehre und einer einzigen und unteilbaren Wahrheit auf. Sie beanspruchten, Gegenkirche oder besser vera ecclesia zu sein, während sich die katholische Amtskirche in ihren Augen schon längst – nach einem weit verbreiteten Narrativ hochmittelalterlicher Andersgläubiger exakt seit der Annahme der Geschenke Konstantins durch den römischen Bischof Silvester⁶ – auf dem falschen
3 Vgl. den Band von Elisabeth Müller-Luckner, Gian Luca Potestà (Hrsg.): Autorität und Wahrheit. Kirchliche Vorstellungen, Normen und Verfahren (13.–15. Jahrhundert). München 2012. 4 Vgl. zur Methode Gratians mit der umfangreichen älteren Literatur die jüngere Dissertation von Melodie Fawn Harris-Eichbauer: From Gratian’s „Concordia discordantium canonum“ to Gratian’s „Decretum“. The Evolution from Teaching Text to Comprehensive Code of Canon Law. Washington D.C. 2010. 5 Vgl. dazu den Band von Marion Gindhart, Ursula Kundert (Hrsg.): Disputatio 1200–1800. Form, Funktion und Wirkung eines Leitmediums universitärer Wissenskultur. Berlin/New York 2010 und die ausgezeichnete Studie von Alex Novikoff: The Medieval Culture of Disputation. Pedagogy, Practice, and Performance. Philadelphia 2013. 6 Der Liber supra stella des Arztes Salvo Burci aus Piacenza von etwa 1235 richtet sich gegen die lombardischen Waldenser um einen gewissen Johannes von Ronco, den der Verfasser offenbar persönlich kannte. Dort ist zu lesen, dieser Johannes habe von den benachbarten Katharern von
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Pfad der Sünde befand. Interessant ist an dieser‚Anti-Silvesterlegende‘, dass in einer breiten Tradition von der byzantinischen Historiografie über die lateinischen Actus Silvestri des frühen Mittelalters bis zu den volkssprachlichen Versionen der Silvesterlegende des 12. bis zum späten 14. Jahrhundert gerade der Bischof Silvester und das Medium des Religionsgesprächs für die Darstellung der Überlegenheit des christlichen Glaubens über die heidnischen und jüdischen Gegner instrumentalisiert wurden.⁷ Der römische Bischof Silvester stand in dieser Tradition am Anfang der Christlichwerdung des Kaisertums und des gesamten Reichs. In der kontroversen Bewertung Silvesters werden sowohl fundamentale Auslegungsdifferenzen etwa hinsichtlich der evangelischen Armut als auch abweichende Vorstellungen von Autorität, Hierarchie und Geschichte sowie letzten Endes unterschiedliche Identitätskonstruktionen der mit den Erzählungen verknüpften Gruppierungen sichtbar.⁸ An der Figur des Ketzers lässt sich das Spannungsfeld in diesem Wettstreit um Wahrheit gut erfassen, ein Spannungsfeld, das deutlich über Theologie und Kirchenrecht hinausweist. Mit dem Ketzerbegriff entwickelte die Kirche schon früh ein Instrument, um den Rand des legitimen Diskursraums und die dort geltenden Spielregeln möglichst genau zu bestimmen. Der Ketzer war ein Konstrukt seiner kirchlichen Gegner, die wiederum in aller Regel nicht nur Deutungshoheit in dieser Auseinandersetzung behaupteten, sondern die als ketzerisch verurteilte Überlie-
Concorrezzo die Überzeugung übernommen, Papst Silvester sei durch die Annahme der Konstantinischen Schenkung Verräter an der wahren Kirche Gottes. Anstelle der römischen seien nun sie selbst die wahre Kirche Gottes. Während die offizielle Silvesterlegende aus den Jahren um 500 gleichsam zum narrativen Arsenal der römischen Kirche gehörte, die ihren vollumfänglichen Primat in der christlichen Welt untermauerte, findet sich die zitierte Anti-Silvester-Legende seit dem 12. Jahrhundert in vielerlei Ausprägungen bei unterschiedlichsten heterodoxen Gruppierungen. Dieses Narrativ markierte eindrücklich den entscheidenden Moment, als aus der armen und verfolgten Urkirche die staatstragende, reiche und potenziell korrupte Großinstitution Kirche wurde – und verfügte über ein herausragendes Identifikationspotenzial sowohl für die in der Regel armen und verfolgten Ketzergruppen als auch für das negative Erscheinungsbild vieler mittelalterlicher Prälaten (vgl. mit allen Quellenbelegen Jörg Oberste: Le Pape Sylvestre en Antéchrist. Pauvreté et ecclésiologie dans le débat sur l’hérésie au bas Moyen Âge. In: Les Cathares devant l’histoire. Mélanges offerts à J. Duvernoy. Hrsg. von Martin Aurell. Cahors 2005, S. 389–405). 7 Zur Überlieferung der Actus Silvestri und ihren griechischen Wurzeln grundlegend Wilhelm Pohlkamp: Textfassungen, literarische Formen und geschichtliche Funktionen der römischen Silvester-Akten. In: Francia 19 (1992), S. 115–196. Zu den deutschen Silvesterlegenden und insbesondere zum Religionsdisput in der Silvesterlegende der deutschsprachigen Kaiserchronik aus der Mitte des 12. Jahrhunderts vgl. Christiane Witthöft: Zwischen Wahrheitssuche und Wunderglauben. Die christlich-jüdische Disputation der Silvesterlegende in der ‚Kaiserchronik‘. In: Gindhart, Kundert (Anm. 5), S. 291–310. 8 Jörg Oberste: Heiliger oder Häretiker? Papst Silvester I. und das mittelalterliche Kirchenbild. In: Beiträge zur Theologie. Hrsg. von Karl Josef Wallner. Heiligenkreuz 2010, S. 267–292.
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ferung weiträumig zum Verschwinden brachten. Dies gilt insbesondere für die große religiöse Bewegung heterodoxer Männer und Frauen in Okzitanien, die die ältere Forschung pauschal als ‚Katharismus‘ bezeichnete, die aber viele lokale Spielarten und fließende Übergänge zu anderen religiösen Bekenntnissen kannte.⁹ Kirchenrecht und Theologie, bischöfliche und päpstliche Gerichte, regionale Synoden und große Konzile verwendeten den Ketzerbegriff ohnedies völlig uneinheitlich und häufig situationsbezogen.¹⁰ In die ursprüngliche Frage der rechten Lehre mogelten sich oft sehr dominant kirchen- und allgemeinpolitische Motive hinein, gut erkennbar an dem seit Gregor VII. aufgestellten Verdikt, Ungehorsam gegen den Papst sei Ketzerei.¹¹ Der Preis dafür war, dass der Rand zwischen Orthodoxie und Heterodoxie immer unscharf blieb; der Lohn gewissermaßen, dass unter bestimmten Umständen Kompromisse im Umgang mit Ketzern in Betracht gezogen werden konnten, wenn sie etwa machtpolitisch opportun schienen. Etwa zeitgleich zur Verschärfung der Maßnahmen gegen die okzitanischen Andersgläubigen setzte sich Papst Innozenz III. durch einen Kompromiss in der umstrittenen Frage der Laienpredigt für ein Rekonziliationsangebot an die Waldenser ein, die erst kurz zuvor in der Dekretale Ad abolendam von 1184 als Ketzer verurteilt worden waren.¹² Ein Teil der Waldenser kehrte in den Schoß der Kirche zurück und beteiligte sich hernach an der Predigt und literarischen Polemik gegen Ketzer. Wer ein Ketzer sei, wurde zum Gegenstand von Aushandlungsprozessen. In den folgenden Beobachtungen werden solche Aushandlungsprozesse aus der Zeit um 1200 in den Blick genommen. Diese Zeit war erstens durch dynamisches
9 Zum Paradigmenwechsel in der ‚Katharer‘-Forschung vgl. die beiden Bände Cathars in Question. Hrsg. von Antonio Sennis. York 2016 (Heresy and Inquisition in the Middle Ages 4) und Le „catharisme“ en questions. Fanjeaux 2020 (Cahiers de Fanjeaux 55). In der vorliegenden Arbeit wird eher von heterodoxen oder andersgläubigen Individuen oder Gruppen in Okzitanien um 1200 gesprochen, der in der älteren Forschung etablierte Begriff der Katharer aber nicht völlig ausgeblendet, wenn es beispielsweise darum geht, verschiedene religiöse Bekenntnisse gegeneinander abzugrenzen. 10 Mit weiterführender Literatur Jörg Oberste: Ketzerei und Inquisition. 2. überarb. Aufl. Darmstadt 2012, S. 64–85; und allgemeiner Alexander Patschovsky: Was sind Ketzer? Über den geschichtlichen Ort der Häresien im Mittelalter. In: „… eine finstere und fast unglaubliche Geschichte?“ Mediävistische Notizen zu Umberto Ecos Mönchsroman ‚Der Name der Rose‘. Hrsg. von Max Kerner. Darmstadt 1987, S. 169–190. 11 Othmar Hageneder: Die Häresie des Ungehorsams und das Entstehen des hierokratischen Papsttums. In: Römische Historische Mitteilungen 20 (1978), S. 30–47. Bei D. 81.15 (Decretum Magistri Gratiani. Hrsg. von Emil Fiedberg. Leipzig 1879 [Corpus Iuris Canonici 1], Sp. 284 f.) handelt es sich um einen in Gratians Dekret aufgenommenen Auszug aus einem Brief Papst Gregors VII. 12 Rolf Zerfass: Der Streit um die Laienpredigt. Eine pastoralgeschichtliche Untersuchung zum Verständnis des Predigtamtes und zu seiner Entwicklung im 12. und 13. Jahrhundert. Freiburg i.Br./ Basel/Wien 1974. Im Überblick Oberste: Ketzerei und Inquisition (Anm. 7), S. 59 f.
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Anwachsen heterodoxer Bewegungen im westlichen und mittleren Europa geprägt. Maßnahmen dagegen beherrschten die Synoden, Konzile und päpstlichen Verlautbarungen dieser Zeit. Zahlreiche, zumeist kleinere Gruppierungen sahen sich selbst als Nachfolger der Apostel und Verkünder einer eigenen und wahren Lehre. Zweitens entwickelten sich Kirchenrecht und Theologie seit der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts intensiv weiter. Die Laterankonzile von 1179 und 1215 rangen nicht nur um eine klarere Definition von Ketzerei, sie unterzogen – auf der Grundlage neuer Predigtkonzepte, die vor allem an der Universität von Paris im Umfeld des Theologen Petrus Cantor entwickelt wurden – die Seelsorgepraxis der katholischen Kirche einer Revision und reagierten somit auf den Bekehrungserfolg großer heterodoxer Bewegungen.¹³ Drittens beschritt die Kurie zur Zeit Papst Innozenz’ III. (1198–1216) neue Wege in der Ketzerpolitik, so etwa durch die Androhung der Todesstrafe in der Dekretale Vergentis (1199), durch versöhnliche Schritte gegenüber den Waldensern oder durch die Ausdehnung der Kreuzzugsidee auf die okzitanischen Verbreitungsgebiete der Heterodoxie.¹⁴
II Kommunikation vor Zweifelnden: Religionsgespräche zwischen Andersgläubigen und Katholiken 1165–1207 Die mittelalterliche Philosophie und Literatur kennt religiöse Streitgespräche als etabliertes Genre.¹⁵ Als Merkmal des Religionsgesprächs gilt im monotheistischen
13 Dazu ausführlich Jörg Oberste: Predigt und Gesellschaft um 1200. Praktische Moraltheologie und pastorale Neuorientierung im Umfeld der Pariser Universität am Vorabend der Mendikanten. In: Die Bettelorden im Aufbau. Beiträge zu Institutionalisierungsprozessen im mittelalterlichen Religiosentum. Hrsg. von Gert Melville, dems. Münster 1999 (Vita regularis 11), S. 245–294; ders.: Die Pastoralbeschlüsse des IV. Lateranums und die europäische Ketzerfrage. In: Europa 1215. Politik, Kultur und Literatur zur Zeit des IV. Laterankonzils. Hrsg. von Michele C. Ferrari, Klaus Herbers, Christiane Witthöft. Köln 2018 (Archiv für Kulturgeschichte. Beihefte 79), S. 107–122. 14 Dazu ausführlich mit der älteren Literatur Jörg Oberste: Krieg gegen Ketzer? Die „defensores“, „receptatores“ und „fautores“ von Ketzern und die „principes catholici“ in der kirchlichen Rechtfertigung des Albigenserkrieges. In: Krieg und Christentum. Religiöse Gewalttheorie in der Kriegserfahrung des Westens. Hrsg. von Andreas Holzem. Paderborn 2009, S. 368–391. 15 Ein neuer Band zieht literarische und historische Religionsgespräche, nicht jedoch die hier zu betrachtenden Disputationen in Okzitanien um 1200, in Betracht: Mariano Delgado, Gregor Emmenegger, Volker Leppin (Hrsg.): Apologie, Polemik, Dialog. Religionsgespräche in der Christentumsgeschichte und in der Religionsgeschichte. Basel 2021. Vgl. auch Hartmut Westermann: Wahrheitssuche im Streitgespräch. Überlegungen zu Peter Abaelards ‚Dialogus inter philosophum,
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Kontext des europäischen Mittelalters die Behauptung eines eigenen Wahrheitsanspruchs, der prinzipiell keinen Raum für Verhandlungen oder Kompromisse lässt, sondern sich dem Risiko der Infragestellung oder gar Widerlegung der eigenen Glaubensvorstellung oder Lebenswelt aussetzt.¹⁶ In der historischen Realität sind vor dem 16. Jahrhundert nur wenige Beispiele mündlich geführter Religionsdisputationen zu greifen und dann zumeist zwischen Christen und Angehörigen der anderen Buchreligionen.¹⁷ Insofern ist die Serie öffentlicher Streitgespräche zwischen heterodoxen Gelehrten und katholischen Kirchenleuten in Okzitanien in den Jahren zwischen 1165 und 1209 in formaler und inhaltlicher Perspektive höchst außergewöhnlich. In Okzitanien gab es in diesem Zeitfenster von einem halben Jahrhundert den politischen Schutzraum und offenbar auch das gesellschaftliche Bedürfnis, die solche Disputationen auf Augenhöhe ermöglichten, vielleicht sogar erforderten und die bis dahin üblichen Spielregeln der kirchlichen Ketzerverfolgung außer Kraft setzten. Die Region, in denen diese Streitgespräche stattfanden, waren die Territorien der Grafen von Toulouse von den Pyrenäen bis zur Rhônemündung, die nicht nur politisch und religiös, sondern auch sprachlich und kulturell ihre weit gehende Autonomie gegenüber den umliegenden Königreichen Frankreich und Aragon behaupteten. Auch wenn die ‚katharischen‘ Gruppen hier – wie überall in Europa – immer in der Minderheit blieben, hatten sie hier in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts die größten Zuwächse über alle sozialen Grenzen hinweg. Im unmittelbaren zeitlichen Umfeld des ersten überlieferten Streitgesprächs, um das Jahr 1167, wird in der Forschung über die Weihe von heterodoxen Bischöfen in Okzitanien diskutiert.¹⁸ Alles deutet darauf hin, dass die Grafen von Toulouse wie auch der okzitanische Adel eine Politik der Tolerierung der im Volk beliebten andersgläubigen Prediger und ihres immer größer werdenden Anhangs betrieben – allen Mahnungen durch
Iudaeum et Christianum‘. In: Gespräche lesen. Philosophische Dialoge im Mittelalter. Hrsg. von Klaus Jacobi. Tübingen 1999, S. 157–197. Den Überblicksartikel von Robert G. Warnock: Art. Streitgespräch zwischen Christ und Jude. In: 2VL 9 (1995), Sp. 406–408; und den Beitrag von Burghart Wachinger: Religionsgespräche in Erzählungen des Mittelalters. In: Die Aktualität der Vormoderne. Epochenentwürfe zwischen Alterität und Kontinuität. Hrsg. von Steffen Patzold, Klaus Ridder. Tübingen 2013, S. 295–315. 16 Witthöft: Zwischen Wahrheitssuche und Wunderglauben (Anm. 7), S. 291. 17 Vgl. Ulf Mattejiet [u. a.]: Art. Religionsgespräche. In: LexMA 7 (2003), Sp. 691–696. 18 Michel Roquebert: Die Geschichte der Katharer. Häresie, Kreuzzug und Inquisition im Languedoc. Stuttgart 2012, S. 51–55. Vgl. zur Überlieferung Jacques Dalarun et al.: La „Charte de Niquinta“, analyse formelle. In: Inventer l’hérésie? Discours polémiques et pouvoirs avant l’inquisition. Hrsg. von Monique Zerner. Nizza 1998 (Collection du Centre d’Études Médiévales de Nice 2), S. 135–201 und den Band von Monique Zerner (Hrsg.): L’Histoire du catharisme en discussion. Le „concile“ de SaintFélix (1167). Nizza 2001 (Collection du Centre d’Études Médiévales de Nice 3).
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Päpste, päpstliche Legaten und allen Lippenbekenntnissen bei Spitzentreffen mit der katholischen Elite zum Trotz.¹⁹ In Forschungen zu Toulouse konnte gezeigt werden, dass Anhänger des heterodoxen Glaubens in diesen Jahrzehnten völlig unbedrängt im Konsulat saßen, als Kaufleute enge Geschäftsbeziehungen zu ihren katholischen Mitkonsuln unterhielten und nach den sozialen Spielregeln des Patriziates selbst Eheverbindungen über die religiösen Grenzen hinweg als normal angesehen wurden. Ähnliches ließe sich über den regionalen Adel sagen, bei dem besonders viele adlige Frauen eine offene Affinität zur Heterodoxie zeigten.²⁰ Da nicht zuletzt die okzitanischen Bischöfe um 1200 noch ausnahmslos aus regionalen Adelsfamilien stammten, tauschte der neue und energische Papst Innozenz III. als eine der ersten Maßnahmen gegen die Heterodoxie fast den gesamten okzitanischen Episkopat gegen Angehörige des Zisterzienserordens aus. Genau diesem Orden, der seit der Missionsreise des heiligen Bernhard in die Gebiete Okzitaniens im Jahr 1145 als katholische Speerspitze gegen die Ketzer galt, vertraute Innozenz die entscheidenden Positionen und Machtmittel an, um den innerokzitanischen Burgfrieden zwischen den Religionen zu durchbrechen.²¹ Die Überlieferungen zu den okzitanischen Religionsgesprächen offenbaren ein hohes Interesse der lokalen Öffentlichkeiten am Austausch religiöser Argumente, was auf verbreitete Zweifel an den Heilsversprechen der einen oder der anderen Seite hindeutet. Wie die Protagonisten der Gespräche auf diese Zweifel reagierten, soll in einer möglichst dichten Beschreibung der entsprechenden Kommunikationssituationen sichtbar gemacht werden. Natürlich gilt auch hier der oben formulierte generelle Vorbehalt, dass die heute noch sichtbaren Deutungen und Überlieferungen allesamt aus katholischer Feder stammen.²² Vom ersten überlieferten mündlichen Streitgespräch, das im kleinen okzitanischen Adelssitz Lombers im Jahr 1165 stattfand, sind Dokumente erhalten, die bei Mansi als Konzilsakten ediert wurden.²³ Die ältere Forschung ist seither davon ausgegangen, dass ‚kath-
19 Grundlegend Jean Duvernoy: Le Catharisme. L’histoire des Cathares. Toulouse 1979; und ausführlich Michel Roquebert: L’épopée cathare. L’invasion 1198–1212. Toulouse 1970 (L’épopée cathare 1). 20 Jörg Oberste: Zwischen Heiligkeit und Häresie. Religiosität und sozialer Aufstieg in der Stadt des hohen Mittelalters. Städtische Eliten in Toulouse. Bd. 2. Köln/Weimar/Wien 2003 (Norm und Struktur 17,2). Vgl. auch John Hine Mundy: Men and Women at Toulouse in the Age of the Cathars. Toronto 1990. 21 Jörg Oberste: Prediger, Legaten und Märtyrer. Die Zisterzienser im Kampf gegen die Katharer. In: Studia monastica. Beiträge zum klösterlichen Leben im Mittelalter. Hrsg. von Reinhardt Butz, dems. Münster 2004 (Vita regularis 22), S. 73–92. 22 S. oben bei Anm. 7. 23 Sacrorum conciliorum nova et amplissima collection. Bd. 22. Hrsg. von Giovanni Domenico Mansi. Venedig 1778, Sp. 157–168 (Concilium Lumbariense).
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arische‘ Vollkommene vor einem Konzil okzitanischer Bischöfe und Kirchenleute erschienen sind, um sich zu rechtfertigen. In der neueren Forschung hat sich dagegen als Konsens herausgebildet, der Zusammenkunft von Lombers den Charakter eines rechtlichen Schiedsverfahrens zuzusprechen, wie es im meridionalen Adel zur Beilegung von Konflikten im Hochmittelalter üblich war:²⁴ Auf Einladung des Bischofs Wilhelm von Albi trafen hier mehrere Perfekte unter Vermittlung von Schiedsrichtern auf eine breite klerikale und laikale Öffentlichkeit. Die Besonderheit dieser Veranstaltung besteht – im Unterschied zu allen späteren Disputationen, über die unten zu handeln ist – darin, dass als Schiedsgericht hochrangige katholische Kleriker benannt wurden, die teilweise sogar aktiv in der Ketzerverfolgung tätig waren: Der Bischof von Albi wird als von beiden Seiten anerkannter Schiedsrichter bezeichnet, dem als Beisitzer der Bischof von Lodève, die Äbte von Castres, Ardorel und Candeil sowie ein Schreiber assistierten.²⁵ Nach den Erkenntnissen von Jiménez Sánchez handelte es sich beim Bischof Gaucelm von Lodève um einen früheren Abt von Aniane, der sich als Verfasser antihäretischer Traktate einen Namen gemacht hatte.²⁶ Mit dieser Besetzung des Gerichts war natürlich eine neutrale Bewertung der heterodoxen Vorstellungen im Disput ausgeschlossen. Die Akten geben jedoch Hinweise darauf, aus welchem Grund sich die Perfekten einer solchen öffentlichen Befragung unterzogen haben mögen. Ausdrücklich wird darauf hingewiesen, dass sich die lokale Bevölkerung von Lombers dazu verpflichtet habe, die anreisenden boni homines zu schützen, womit die Vertreter der Heterodoxie gemeint sind.²⁷ Auch die Anwesenheit der Ritter aus benachbarten castra sowie führender weltlicher Adliger Okzitaniens, darunter Konstanze, die Gemahlin Graf Raimunds V. von Toulouse, sowie die beiden Vizegrafen Raymond Trencavel von Albi und Carcassonne und Sicard de Lautrec, dürfte diese Gewährung
24 Pilar Jiménez Sánchez: Les actes de Lombers (1165). Une procédure d’arbitrage? In: Les sociétés méridionales à l’âge féodal (Espagne, Italie et sud de la France Xe–XIIIe siècle); Hélène Débax (Hrsg.): Hommage à Pierre Bonnassie. Toulouse 1999 [http://books.openedition.org/pumi/26633, Zugriff: 15.04. 2022]; Pilar Jiménez Sánchez: Sources juridiques pour l’étude du catharisme. Les actes du „concile“ de Lombers (1165). In: Clío y Crímen 1 (2004), S. 365–379 und Robert Jalby: Le colloque de Lombers en l’an 1165. In: Revue du Tarn 174 (1999), S. 345–356. 25 Concilium Lumbariense (Anm. 23), Sp. 157–158: sententia lata est per manum Giraldi Albiensis episcopi, electis ac statutis judicibus ab utraque parte, et cognoscentibus atque adsidentibus praefato episcopo Gaucelino Lodovensi episcop., et Castrensi abbate, et abbate de Ardurello, et abbate de Candillo, et Arnaldo Bebeno. 26 Sánchez: Les actes de Lombers (Anm. 19). Vgl. Annie Cazenave: Langage catholique et discours cathare. Les écoles de Montpellier. In: L’Art des confins. Mélanges offerts à M. de Gaudillac. Hrsg. von Annie Cazenave, Maurice de Gandillac, Jean-Francois Lyotard. Paris 1985, S. 137–152. 27 Hier und im Folgenden Concilium Lumbariense (Anm. 23), Sp. 158–167.
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des sicheren Geleits glaubwürdig abgesichert haben. Auf kirchlicher Seite nahmen, neben den Schiedsrichtern, der zuständige Metropolit, der Erzbischof von Narbonne, die Bischöfe von Nîmes und Toulouse sowie eine Vielzahl von Äbten, Mönchen und Klerikern am Kolloquium von Lombers teil. Die Akten fahren fort, dass auf Bitten des Vorsitzenden der Bischof von Lodève die anwesenden Perfekten mit sechs Fragen zu ihren Glaubensvorstellungen konfrontiert habe. Nach den Antworten, die nicht im Einzelnen dokumentiert werden, seien der Erzbischof von Narbonne und andere Kirchenleute daran gegangen, diese Lehren mit Hilfe von Bibelstellen als Irrlehren zu charakterisieren. Der Bischof von Albi habe abschließend den ketzerischen Gehalt der Einlassungen seitens der Perfekten festgestellt. Nach der ausführlichen Darlegung der kirchlichen Argumentation geht der Bericht auch auf die Reaktion der heterodoxen Seite ein: Sie hätten mit Nachdruck die Legitimation der katholischen Bischöfe bestritten und diese als Vertreter der „falschen Kirche“ eines unsittlichen Lebenswandels bezichtigt. Bischof Gaucelm habe sie daraufhin mit der Vorladung vor ein Gericht des Papstes oder des französischen Königs bedroht. Darauf hätten sich die Perfekten an die anwesende Menge gewandt und dieser versichert, „aus Liebe zu ihnen“ ihren Glauben zu bekennen. Nach der Ermahnung des Bischofs, das Glaubensbekenntnis sei „aus Liebe zu Gott und nicht aus Liebe zum Volk“ abzulegen, hätten die Beschuldigten ein vollkommen rechtgläubiges Bekenntnis abgelegt. Auf die Forderung Gaucelms, dieses Bekenntnis durch einen Eid öffentlich zu bekräftigen, reagierten die Andersgläubigen bestürzt und warfen dem Bischof von Albi Wortbruch vor. Bischof Wilhelm habe ihnen im Vorfeld versichert, keinen Eid ablegen zu müssen, was dieser energisch bestritt (dixerunt quod episcopus Albiensis fecerat eis pactum quod non cogeret eos jurare. Quod ipse episcopus Albiensis negavit).²⁸ Allen Beteiligten war klar, dass die Verweigerung des Eids als gültiger Beweis der Ketzerei betrachtet wurde. Den anwesenden Adligen und Laien rief der Bischof von Albi ins Gedächtnis, dass sie vor dem Kolloquium zugesagt hätten, beim Erweis der Ketzerei fortan alle Unterstützung der boni homines in ihren Territorien zu unterlassen. Am Ende des Dokuments finden sich die Unterschriften des Schiedsgerichtes sowie weiterer hochrangiger Persönlichkeiten aus Kirche und Adel. Von Maßnahmen gegen die Perfekten ist hingegen nicht die Rede. Es fällt nicht schwer, aus diesem voreingenommenen Bericht die Strategie der katholischen Seite zu entlarven, die anwesenden Andersgläubigen in Widersprüche zu verstricken und zu einer öffentlichen Verurteilung zu kommen, die zwar für die Beschuldigten keine Verhaftung nach sich zog, jedoch zumindest die anwesenden Mitglieder des heterodoxiefreundlichen Adels zum Umdenken animieren sollte. Die
28 Ebd., Sp. 166.
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Einwilligung zum Kolloquium haben sich die Bischöfe durch die Teilnahme dieser Adligen und einfachen Menschen, in deren Gegenwart sich die Perfekten sicher fühlen konnten, und durch die offenbar fälschlich gegebene Zusage, auf die umstrittenen Eidesleistungen zu verzichten, gesichert. Unter der Perspektive von Kompromiss, Zweifel, Dissens und Aporie kann also gesagt werden: Die heterodoxe Seite dürfte durch das vorbereitete orthodoxe Glaubensbekenntnis geplant haben, den bestehenden religiösen Dissens zu überdecken und vor der gemischten, in ihrer Einstellung zur Heterodoxie gespaltenen Öffentlichkeit, bestehend aus katholischem Klerus sowie ‚katharer‘- und kirchenfreundlichen Laien, einen symbolischen Kompromiss mit der katholischen Seite zu erreichen, der ihnen im Alltag die Fortsetzung ihrer Mission erlaubt hätte. Im Kern ging es für die Perfekten darum, ihre bestehenden Netzwerke und Sympathien in der okzitanischen Bevölkerung nicht zu verlieren. Man sollte in Rechnung stellen, dass die meisten der anwesenden Laien die theologische Sprengkraft bestimmter Bibelstellen und -interpretationen ohnehin kaum bewerten konnte und sich eher von der Glaubwürdigkeit des Auftretens der religiösen Protagonisten leiten ließ. Genau in diese Richtung argumentierten auch die durch die Forderung nach einem Eid in Bedrängnis gebrachten Perfekten, die den anwesenden Bischöfen Lüge und falschen Lebenswandel vorwarfen. Für die Kirchenleute kam es in diesem abgekarteten Spiel darauf an, der anwesenden Öffentlichkeit einen möglichst glaubhaften Beweis des Ketzertums der „guten Leute“ zu liefern, um deren Rückhalt in der Bevölkerung zu schwächen. Aus ihrer Sicht diente das Kolloquium einzig dazu, den religiösen Dissens zwischen beiden Positionen klar zu markieren, jeden religiösen Kompromiss als aporetisch auszuschließen und die anwesenden Laien auf den rechtgläubigen Weg einzuschwören. Beiden Seiten war es mithin am wichtigsten, nicht die jeweilige Gegenseite zu überzeugen, sondern die Sympathie oder Unterstützung der anwesenden lokalen und regionalen Bevölkerung zu gewinnen. Diese wiederum hatte offenkundig großes Interesse an solchen Gesprächen, um ihre religiösen Zweifel zu besänftigen, die sich aus dem aktuellen und stark propagierten Angebot zweier widerstreitender Glaubenslehren zwangsläufig ergeben mussten.²⁹ Wie auch Michel Roquebert betont, handelte es sich im Jahr 1165 um eine rein symbolische Verurteilung, die keine tatsächlichen Konsequenzen nach sich zog. Die Vollkommenen und ihre Unterstützer waren freiwillig zu dem Streitgespräch erschienen und durften nicht nur ihren Standpunkt frei vertreten, sondern das Treffen nach Abschluss auch vollkommen frei wieder verlassen.³⁰ Zumindest diese
29 Zu diesen religiösen Zweifeln in der okzitanischen Bevölkerung des 12. und frühen 13. Jahrhunderts vgl. Oberste: Zwischen Heiligkeit und Häresie. Bd. 2 (Anm. 16), S. 258–261. 30 Roquebert: Geschichte der Katharer (Anm. 14), S. 50 f.
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Rahmenbedingungen, die für das Kolloquium von Lombers ausgehandelt wurden, galten ebenfalls für die Disputationen der folgenden Jahrzehnte, wenn auch die späteren Schiedsgerichte nicht mehr aus Kirchenleuten, sondern aus Laien bestanden. Die nächste überlieferte öffentliche Anhörung – es ist kein Streitgespräch im eigentlichen Sinn – spricht ebenfalls Bände über die starke Stellung der Vertreter der Heterodoxie in Okzitanien. Im Jahr 1178 hatte eine päpstliche Gesandtschaft, die fast ausschließlich aus Mitgliedern des Zisterzienserordens bestand, den Auftrag, über die Verbreitung der Ketzerei in der Grafschaft Toulouse einen Bericht für das im nächsten Jahr geplante III. Laterankonzil zu erstellen. Der Bericht, aus der Feder des Kardinals Petrus von Pavia, schildert den Verlauf eines öffentlichen Gesprächs mit Andersgläubigen in der Kathedrale von Toulouse.³¹ Der heterodoxe Bischof von Toulouse, Bernardus Raimundus, und sein Diakon, Raimund von Baimiac, seien vor ihm erschienen, um sich über die jüngst einsetzenden Repressalien zu beschweren. Schon hier schwingt – wie im gesamten Text – das Erstaunen des landesfremden Zisterziensers mit, wie offen und selbstbewusst sich Andersgläubige in Toulouse bewegen konnten. Weil man sonst einen öffentlichen Aufruhr der einfachen Leute (corda simplicium) fürchtete, die von der Reinheit der Vollkommenen überzeugt waren, habe man den beiden ein großzügiges Angebot der Aussöhnung unterbreitet, die durch eine öffentliche Zeremonie besiegelt werden sollte. Zuerst sollten die beiden Männer vor einer unzähligen Menge, darunter der Graf von Toulouse und viele Kirchenleute, in der Kathedrale von Toulouse ihrem Irrglauben abschwören und ein Bekenntnis des rechten Glaubens ablegen. Darauf hätten die beiden eine vorbereitete Schrift laut verlesen. Der Kardinal erläutert, es habe sich bei diesem Text um ein Glaubensbekenntnis gehandelt, das zwar absurderweise in der Volkssprache verfasst worden sei, aber sonst vollkommen der katholischen Lehre genügt habe. In diesem Bekenntnis wurden nicht nur die kirchlichen Dogmen und Sakramente anerkannt, sondern großzügig auch die eher alltäglichen Erscheinungsformen der katholischen Frömmigkeit, beispielsweise die Heiligkeit der katholischen Bischöfe, Mönche, Kanoniker und Ritterorden oder die heilsstiftende Wirkung der Heiligenverehrung und Wallfahrten, von denen ja gerade die Kirche in Toulouse, einer der Knotenpunkte der Jakobswege mit großen Reliquienschätzen, in hohem Maße profitierte. Man darf also – vergleichbar mit dem vorbereiteten Glaubensbekenntnis der Andersgläubigen von Lombers – annehmen, dass die Tolosaner Vollkommenen hier einen Text ganz nach dem Geschmack der örtlichen Kirche verfasst hatten, an dem auch die päpstlichen Gesandten kaum etwas aus-
31 Der Bericht ist überliefert in den Gesta Regis Heinrici II, Rolls Series 49,1. Hrsg. von Wiliam Stubbs. London 1867, S. 204–206.
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setzen konnten. Von religiösem Kompromiss kann natürlich kaum die Rede sein, da die Andersgläubigen ihre Position auf ganzer Linie aufgegeben zu haben scheinen.³² Der Bericht fährt fort, nachdem man das besagte Glaubensbekenntnis verlesen habe, hätten alle anwesenden Andersgläubigen beigepflichtet und behauptet, nie etwas anderes gepredigt zu haben. Daraufhin sei der Graf von Toulouse, der durchaus schon oft anderslautende Predigten vernommen habe, voller Zorn aufgestanden und habe diese der Lüge bezichtigt. Unter dem Beifall der einen und dem Protest der anderen Seite seien schließlich die Kerzen gelöscht und die Exkommunikationsurteile gegen alle Heterodoxen wiederholt worden, da diese auch zuletzt den geforderten Wahrheitseid abgelehnt hätten. Wie in Lombers galt hier die öffentliche Verweigerung des Wahrheitseides als Beweis der Ketzerei. Der Graf und die anderen adligen Herren mussten erneut schwören, die Ketzerei in ihren Ländern zu bekämpfen und auszurotten, die päpstlichen Legaten aber verließen Toulouse fluchtartig, da nach Bekanntwerden der Exkommunikation der Andersgläubigen Unruhen in der ganzen Stadt ausbrachen.³³ Der Text unterstellt, dass eine Versöhnung im Interesse der Tolosaner Andersgläubigen und ein Erfolg der Gesandtschaft in greifbarer Nähe gelegen habe. Er sieht den Grafen von Toulouse in der doppelten Verantwortung, durch seine Intervention die Rückkehr der Andersgläubigen zur Kirche unterbunden und sich durch seinen Eid zu ihrer strengen Verfolgung verpflichtet zu haben. In Toulouse – das zeigen alle politischen Vorgänge nach Abzug der päpstlichen Gesandten – lautete die Interpretation völlig anders: Sowohl das Bekenntnis der ‚katharischen‘ Elite zu den katholischen Dogmen und zur kirchlichen Hierarchie als auch den Eid Graf Raimunds zur Ausrottung der Ketzerei sah man offenbar als notwendige Inszenierung für die auswärtige päpstliche Gesandtschaft an. Graf Raimund bemühte sich so, der mehrfach angedrohten Exkommunikation durch den Papst zu entgehen, während er im Inneren seines Territoriums den sozialen Frieden wahrte und keine einzige Maßnahme gegen die tief verwurzelte Heterodoxie anstrengte.³⁴ Hier zeigen sich bereits zwei unterschiedliche Wahrnehmungen der Situation in Okzitanien, die während des Albigenserkriegs seit 1209 zu einem leitenden Pa-
32 Gesta Regis Heinrici II (Anm. 26), S. 204: Archiepiscopos praeterea et episcopos, presbyteros, monachos, canonicos, heremitas, Templarios et Hospitalarios affirmaverunt esse salvandos. Dignum quoque et justum esse dicebant, ut ecclesias in honore Dei atque sanctorum fundatas, cum summa devotione visitantes adirent; et sacerdotibus et aliis eorum ministris honorem et reverentiam exhibentes, primitias et decimas eis persolvere deberent; et de omnibus parochialibus devote et fideliter respondere. Eleemosynas etiam tam ecclesiis quam pauperibus, necnon et Omnipotenti esse tribuendas, inter caetera laudabiliter asserebant. 33 Ebd., S. 206. 34 Vgl. zum Kontext Roquebert: Geschichte der Katharer (Anm. 14), S. 55–57.
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radigma wurden: Während die kirchliche Seite den Dissens zwischen Katholiken und Ketzern konstruierte, war aus okzitanischer Sicht der Gegensatz zwischen Okzitaniern und Landesfremden prägend. Mit dem Amtsantritt von Innozenz III. im Januar 1198 kam – wie oben angedeutet – eine neue Dynamik in die Ketzerfrage. Hatte bereits das III. Laterankonzil 1179 nach dem beunruhigenden Bericht der päpstlichen Gesandtschaft einen Feldzug gegen die okzitanischen Ketzer beschlossen, der aber 1180 im Sande verlief,³⁵ geriet das gewaltsame Vorgehen der Kirche in diesem Gebiet seit spätestens 1203/04 wieder auf die Tagesordnung. Parallel dazu verstärkte Innozenz auch die Anstrengungen, verlorenes Terrain bei den Gläubigen durch Predigt und Überzeugungsarbeit zurückzugewinnen. Der Papst setzte dabei weiterhin ganz auf die zisterziensische Karte. Er berief zunächst den Zisterzienser Rainer von Fossanova zum Legaten für Spanien und Südfrankreich. Sein Auftrag bestand darin, die örtlichen Bischöfe bei der Ketzerverfolgung zu unterstützen, wie es in einem päpstlichen Rundschreiben von April 1198 hieß.³⁶ Im Jahr 1203 beauftragte Innozenz dann die Zisterzienser Peter von Castelnau und Radulph von Fontfroide aus der gleichnamigen Zisterzienserabtei unweit Narbonnes direkt mit der Predigt gegen die okzitanischen Andersgläubigen und mit Verhandlungen mit den regionalen und lokalen Autoritäten.³⁷ Im Mai 1204 schloss sich die Berufung des Abtes von Cîteaux, Arnold Amaury, zum päpstlichen Cheflegaten in Okzitanien an. Wie ernst der Papst und seine Legaten das Anliegen der Ketzerverfolgung nahmen, lässt sich daran ablesen, dass zwischen 1204 und 1208 insgesamt neun regionale Bischöfe, darunter diejenigen von Carcassonne, Toulouse, Béziers und Narbonne, wegen Untätigkeit abgesetzt und ausnahmslos durch Zisterzienser ersetzt wurden. In diesem Kontext betraten 1204 mit dem Spanier Dominikus und seinem Bischof Diego von Osma auch zwei neue wichtige Akteure das Spielfeld. Unter ihrem Einfluss änderten die kirchlichen Autoritäten in Okzitanien ihre Strategie, bei der öffentlichen Glaubensdisputationen fortan ein zentraler Stellenwert zufiel. Religionsgespräche wurden in einem Moment zu einem probaten Mittel der antihäretischen Kampagne, als die okzitanische Heterodoxie in ihrer vollen Blüte stand, wie das ‚katharische‘ Konzil von Mirepoix von 1206 eindrucksvoll bezeugt, an
35 Lateranum III, can. 27. In: Conciliorum oecumenicorum decreta. Hrsg. von Giuseppe Alberigo [u. a.]; Dt. Ausgabe: Konzilien des Mittelalters. Vom ersten Laterankonzil (1123) bis zum fünften Laterankonzil (1512–1517). Hrsg. von Josef Wohlmuth [u. a.]. Paderborn 2000 (Dekrete der ökumenischen Konzilien 2), S. 224 f. 36 Die Register Innocenz’ III. Das erste Pontifikatsjahr. Bd. 1. Hrsg. von Othmar Hageneder, Anton Haidacher. Graz/Köln 1964, Nr. 93, 94, 165 und 397. 37 Ein großer Teil des Briefwechsels zwischen Innozenz III. und seinen Legaten ist ediert in einem Dossier unter dem Titel: Processus negotii Raymondis comitis tolosani. In: Patr. Lat. 216, Sp. 89–188, hier 137–141.
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dem etwa 600 Vollkommene und viele regionale Unterstützer teilgenommen haben sollen.³⁸ Vor allem aufgrund der späteren Bedeutung des Dominikus, aber auch aufgrund der Aufmerksamkeit, die der 1208 propagierte päpstliche Kreuzzug gegen die okzitanischen Andersgläubigen in der Historiografie auf sich zog, haben sich sechs zeitnahe Berichte, davon zwei aus regionaler okzitanischer und ausnahmslos alle aus kirchlicher Perspektive erhalten.³⁹ Der Libellus de principiis ordinis praedicatorum des dominikanischen Ordensmeisters Jordan von Sachsen aus der Zeit um 1234 hält in Kapitel 17 fest, wie Bischof Diego Cîteaux besucht und dort angeblich das zisterziensische Ordensgewand angelegt habe.⁴⁰ Wir wissen auch aus einer zeitgenössischen zisterziensischen Quelle, der Historia Albigensis von Peter von Vauxde-Cernay, dass sich Diego und Dominikus im Jahr 1206 mit der zisterziensischen
38 Roquebert: Geschichte der Katharer (Anm. 14), S. 107 f. 39 Als dominikanische Quellen stehen zur Verfügung: Jordan von Sachsen: Libellus de principiis ordinis praedicatorum. In: Monumenta historica Sancti Patris nostri Dominici. Hrsg. von Heribert Christian Scheeben. Rom 1935 (MOPH 16), S. 1–88. Vgl. die deutsche Übersetzung und ausführliche Kommentierung in Jordan von Sachsen: Von den Anfängen des Predigerordens. Hrsg. von Wolfgang Hoyer. Leipzig 2002, S. 18–96 (nach dieser Ausgabe wird im Folgenden zitiert). Petrus Ferrandi: Legenda sancri Dominici. In: Monumenta historica Sancti Patris nostri Dominici. Hrsg. von MarieHyacinthe Laurent. Rom 1935 (MOPH 16), S. 197–260; Konstantin von Orvieto: Legenda sancti Dominici. In: Monumenta historica Sancti Patris nostri Dominici. Hrsg. von Heribert Christian Scheeben. Rom 1935 (MOPH 16), S. 286–352; Gerardus de Fracheto: Vitae Fratrum Ordinis Praedicatorum necnon Chronica ordinis ab anno MCCIII usque ad MCCLIV. Hrsg. von Benedikt Maria Reichert. Louvain 1896 (MOPH 1). Vgl. auch die späteren Humberti de Romanis: Legendae sancti Dominici. In: Monumenta historica Sancti Patris nostri Dominici. Hrsg. von S. Tugwell. Rom 2008 (MOPH 30), S. 449–523.Vgl. zur dominikanischen Historiografie über die Frühzeit des Ordens Achim Wesjohann: Mendikantische Gründungserzählungen im 13. und 14. Jahrhundert. Mythen als Element institutioneller Eigengeschichtsschreibung der mittelalterlichen Franziskaner, Dominikaner und Augustiner-Eremiten. Münster 2012 (Vita regularis 49), S. 311–495; und zuletzt Jörg Oberste: Omnibus fuit ipse dilectus. Das Bild des heiligen Dominikus und das Ketzerproblem in der frühen Geschichte des Dominikanerordens. In: Archivum Fratrum Praedicatorum. Nova Series 2 (2017), S. 169–189. Von den nicht-dominikanischen Quellen sind wichtig: Pierre des Vaux-de-Cernay: Histoire albigeoise. Hrsg. von Pascal Guébin, Henri Maisonneuve. Paris 1951. Vgl. die zweisprachige deutsche Ausgabe: Pierre des Vaux-de-Cernay: Historia Albigensis. Kreuzzug gegen die Albigenser. Hrsg. und übers. von Gerhard E. Sollbach. Stuttgart 2021 (nach dieser Ausgabe wird im Folgenden zitiert); Chanson de la croisade albigeoise. Bde. 1–3. Hrsg. von Eugéne Martin-Chabot. Paris 1931–1961; als zweisprachige Ausgabe (mit franz. Übersetzung): La Chanson de la croisade albigeoise. Hrsg. und übers. von Henri Gougaud. Paris 1989 (nach dieser Ausgabe wird im Folgenden zitiert). Guillaume de Puylaurens: Chronique (1145–1275). Chronica magistri Guillelmi de Podio Laurentii. Hrsg. und übers. von Jean Duvernoy. Toulouse 1996. 40 Jordan von Sachsen: Von den Anfängen (Anm. 34), S. 40.
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Führung trafen.⁴¹ Die beiden Spanier werden in beiden Texten als treibende Kraft bei der Einführung einer neuen Strategie der Ketzerbekämpfung in Okzitanien gelobt. Die stilisierte Rede, die Diego nach dem Bericht Jordans von Sachsen vor den in Montpellier versammelten Zisterzienseroberen hielt, ist gänzlich dem Predigtideal des docere verbo et exemplo verpflichtet: Diego war wirklich ein umsichtiger Mann, und er kannte die Wege Gottes. Er begann über die Sitten und den Lebenswandel der Häretiker Nachforschungen anzustellen, und er fragte sich, auf welche Weise sie durch Versprechungen, Predigten und Beispiele einer geheuchelten Heiligkeit zum häretischen Glauben gelockt wurden. Er erkannte, dass der Unterschied im hohen Aufwand der Gesandten an Ausgaben, Pferden und Gewändern lag und er sagte ihnen: ‚So nicht Brüder; so, meine ich, dürft ihr nicht vorgehen. Es scheint mir unmöglich, diese Menschen allein durch Worte zum Glauben zurückführen zu wollen, besser wäre es, sie mit dem eigenen guten Beispiel zu überzeugen‘.⁴²
Die Rede passt so gut zum etablierten dominikanischen Propositum einer neuen und armen Volkspredigt, dass sie von späteren Dominikus-Hagiografen in Abwandlungen Dominikus in den Mund gelegt wurde: Gerardus de Fracheto berichtet etwa, wie Dominikus einen Bischof dazu veranlasste, nicht zu Pferde und mit großem Gefolge zu einer geplanten Disputation mit Andersgläubigen zu reisen, sondern arm und barfüßig, „weil durch das Beispiel der Demut und anderer Tugenden die Ketzer am besten zu überzeugen sind“⁴³. In den wenigen Jahren zwischen dem ersten Auftreten des Diego und Dominikus in Okzitanien und dem Beginn des Albigenserkriegs institutionalisierte sich das Streitgespräch mit den Andersgläubigen, da die beiden Spanier schon bald das Potenzial solcher Veranstaltungen für die Bekehrung und Evangelisierung erkannten. Die zu diesem Zweck gegründete Gemeinschaft mit den in Okzitanien tätigen Zisterziensern gab sich den bezeichnenden Namen Praedicatio Jesu Christi ⁴⁴. Der Libellus berichtet in Kapitel 20 als unmittelbare Reaktion auf das Kapitel von Montpellier: Nachdem die Äbte [sc. des Zisterzienserordens] diesen Rat gehört hatten, wollten sie, durch das Beispiel ermutigt, selbst auch so vorgehen. Jeder einzelne schickte das, was er bei sich hatte, in seine Heimat zurück und behielt nur die Stundenbücher, die Lehrbücher und die Bücher, die er für Streitgespräche notwendig fand. Und sie erkannten den Bischof von Osma als ihren Vorgesetzten und als Oberhaupt des Unternehmens an. Nun begannen sie, zu Fuß, ohne Geld, in
41 Historia Albigensis (Anm. 34), Nr. 20–21, S. 18 f. Vgl. zum Treffen in Montpellier auch Jordan von Sachsen: Von den Anfängen (Anm. 34), S. 18–20. 42 Jordan von Sachsen: Von den Anfängen (Anm. 34), Nr. 19, S. 40–42. 43 Gerardus de Fracheto: Vitae Fratrum (Anm. 34), S. 67 f. Vgl. Wesjohann: Gründungserzählungen (Anm. 34), S. 471 f. 44 Oberste: Prediger, Legaten und Märtyrer (Anm. 17), S. 87–89.
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freiwilliger Armut den Glauben zu verkünden. Als die Häretiker das sahen, begannen sie umso heftiger zu predigen.⁴⁵
Aus dem Bericht Jordans wird deutlich, dass die Mitglieder des neuen Predigtunternehmens Bücher mit sich führten, die sie explizit zur Vorbereitung von Streitgesprächen mit den Andersgläubigen benötigten. Man wollte also vor der okzitanischen Bevölkerung, um deren Gunst und Seelenheil es sowohl den katholischen als auch den heterodoxen Predigern ging, den katholischen Glauben zugleich intellektuell überlegen und glaubwürdig verkünden. Mit dieser Doppelstrategie sollten die kirchlichen Prediger gezielt in die heterodoxen Netzwerke eindringen, wie auch eine weitere zeitgenössische Reaktion auf die Beschlüsse von Montpellier bestätigt: Papst Innozenz III. wies seine okzitanischen Legaten in einem Brief von November 1206 an, dass erprobte Männer, die die Armut Christi nachahmen, in verächtlichem Gewand und feurigem Geist nicht davor zurückschrecken, zu den Verachteten zu gehen und […] zu den Häretikern zu eilen, um diese durch das Vorbild ihres Werkes und die Belehrung der Rede, wenn der Herr es gewährt, wieder von ihrem Irrtum abzubringen.⁴⁶
Auch die zisterziensische Historia Albigensis geht auf die Zielsetzung der neu gebildeten Praedicatio Jesu Christi ein. Die Mönche und Kleriker machten sich in kleinen Gruppen in die Dörfer, Städte und Burgen der Corbières und des Languedoc auf, nicht einfach um zu predigen, sondern um mit den überall beliebten und offenbar auch stets anwesenden Perfekten der Andersgläuigen öffentlich um die Gunst der Bevölkerung zu streiten: Es würde lange dauern, der Reihe nach zu berichten, wie die apostolischen Männer, nämlich unsere Prediger, von einem befestigten Ort zum anderen zogen und überall das Evangelium verkündeten und disputierten.⁴⁷
Jordan von Sachsen behauptet überdies, diese neue Strategie habe in der heterodoxen Elite für Unruhe gesorgt, die nun ihrerseits ihre Predigtmission verstärkte. Diesen Eindruck stützen auch die überlieferten Berichte zu den nun beginnenden Streitgesprächen, die zwar – wie bereits betont – sämtlich einseitig aus kirchlicher
45 Jordan von Sachsen: Von den Anfängen (Anm. 34), Nr. 20, S. 42. 46 Schreiben Innozenz’ III. an den zisterziensischen Legaten Radulph von Fontfroide vom 17. November 1206 (Monumenta diplomatica s. Dominici. Hrsg. von Vladimir-J. Koudelka, Raymond J. Loenertz. Roma 1966 [MOPH 25], Nr. 4, S. 11–13); deutsche Übersetzung nach Jordan von Sachsen:Von den Anfängen (Anm. 40), S. 42. 47 Historia Albigensis (Anm. 34), Nr. 21, S. 19.
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Perspektive verfasst sind, jedoch durchaus den Eindruck vermitteln, dass auch in der lokalen Bevölkerung und bei den Andersgläubigen ein gesteigertes Interesse am öffentlichen Disput bestanden habe.⁴⁸ Jordan von Sachsen berichtet: So fanden in Pamiers, Lavaur, Montréal und Fanjeaux mehrfach Streitgespräche unter dem Vorsitz von Schiedsrichtern statt, zu denen zum festgesetzten Termin Magnaten, Ritter, Frauen und viel Volk zusammenliefen, die bei der Debatte um den Glauben dabei sein wollten.⁴⁹
Die zeit- und ortsnähere okzitanische Chanson de la croisade vermerkt ebenfalls, wie die Menge zu den Glaubensdisputationen eilte.⁵⁰ Eine erste Station nach dem Treffen von Montpellier legte die Gruppe um Diego und Dominikus in Servian ein. In Gegenwart eines heterodoxiefreundlichen Grundherrn und des heterodoxen Bischofs des Carcassès, Bernard de Simorre, wurde sieben Tage lang öffentlich um den rechten Glauben gestritten. Am Ende hätten die katholischen Kirchenleute die Bevölkerung so auf ihre Seite gezogen, dass der Grundherr die anwesenden Andersgläubigen vor der aufgebrachten Bevölkerung habe schützen müssen.⁵¹ Der politische Schutzraum in Okzitanien, der diese Art der Streitkultur erst ermöglichte, funktionierte mithin bis zum Kriegsausbruch im Juli 1209 tadellos. Dies ist übrigens auch der Kirche aufgefallen, denn in Konzilen aus der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts, und verstärkt in der Amtszeit Innozenz’ III., rückten neben den Ketzern selbst ihre defensores und receptatores in den Blickpunkt der Strafandrohungen. Und dies meinte konkret zuerst die Grund- und Territorialherren, die Andersgläubige in ihren Gebieten duldeten, aufnahmen und beschützten.⁵² Nach dem Gespräch in Servian begaben sich die katholischen Prediger in die nahe gelegene Stadt Béziers. Hier habe man zwei Wochen lang mit Vollkommenen gestritten und einige der mehrheitlich auf Seiten der letzteren stehenden Einwohner zum rechten Glauben bekehren können, wie unter anderem die Historia Albigensis berichtet.⁵³ Die bemerkenswerte Länge dieser Veranstaltungen dürfte ein weiterer Beleg dafür sein, dass es den Protagonisten weniger um die Bekehrung ihrer Gegenüber ging als darum, eine möglichst große Menge von Zuhörern zu erreichen.
48 Ähnlich bewertet bei Novikoff: Disputation (Anm. 5), S. 157: „The early Dominicans were spreading the truth of the Catholic faith by virtue of their profound knowledge of Christian authorities and their ability to defeat heretical opponents in open debates for everyone to observe. Here, too, the scenario is dramatic, combative, and public.“ 49 Jordan von Sachsen: Von den Anfängen (Anm. 34), Nr. 21, S. 42. 50 Chanson de la croisade albigeoise (Anm. 34), I, 2, S. 41. 51 Historia Albigensis (Anm. 34), Nr. 22–23, S. 16 f. 52 Vgl. detailliert Oberste: Krieg gegen Ketzer? (Anm. 11), S. 368–391. 53 Historia Albigensis (Anm. 34), Nr. 24, S. 17.
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Eine besondere Stellung in der dominikanischen Historiografie nimmt die 15tägige Disputation von Montréal bei Fanjeaux im Frühjahr 1207 ein, bei der Dominikus die Hauptrolle spielte. Jordans Bericht lässt dabei erkennen, mit welcher Akribie sich die Akteure auf die religiösen Streitgespräche vorbereiteten. Ähnlich einer universitären Disputation an der theologischen Fakultät von Paris wurden die Argumente für die eigene Position schriftlich niedergelegt. Die teilnehmenden katholischen Prediger hätten dabei in einem Wettbewerb zueinandergestanden. Die antihäretischen Traktate dieser Jahrzehnte lieferten das akademische Grundgerüst der kirchlichen Argumentation gegen den heterodoxen Glauben.⁵⁴ In der Kommunikationssituation der religiösen Streitgespräche kam es freilich darauf an, die wissenschaftlichen Erkenntnisse so zu übersetzen, dass sich auch einfache Laien eine Meinung bilden konnten. Jordans Bericht wird auch von den anderen Hagiografen des Dominikus verarbeitet: Schließlich wurde einmal bei Fanjeaux ein feierliches Streitgespräch veranstaltet, zu dem eine große Zahl von Gläubigen und Ungläubigen eingeladen wurde. Die meisten der Gläubigen hatten inzwischen Streitschriften verfasst, in denen die überzeugenden Gründe und Lehrmeinungen zur Verteidigung des rechten Glaubens zusammengefasst waren. Nachdem man alle diese Schriften durchgelesen hatte, wurde die des heiligen Mannes Dominikus allgemein als die beste anerkannt. Gemeinsam mit einer Streitschrift der Häretiker, die diese für sich verfasst hatten, wurde sie den drei Schiedsrichtern vorgelegt, auf die sich die Streitparteien vorher geeinigt hatten. Der Glaube, für den die bessere Streitschrift verfasst worden war, sollte, gemäß dem Urteil der Schiedsrichter, als der bessere gelten. Als sich auch nach langer Diskussion die Schiedsrichter auf keinen Sieger einigen konnten, beschlossen sie, dass beide Schriften in ein Feuer geworfen werden sollten, und falls dann eine davon nicht verbrennen würde, würde diese unzweifelhaft den wahren Glauben enthalten […]. Das Buch des Häretikers brannte wie Zunder, das des Dominikus aber blieb […] unbeschädigt.⁵⁵
Über die Auswahl der Schiedsrichter weiß man in diesem Fall, dass sie aus der lokalen Ritter- und Bürgerschaft stammten.⁵⁶ Dies wirft zunächst die Frage auf, in
54 Zur antihäretischen Literatur des frühen 13. Jahrhunderts grundlegend Christine Thouzellier: Catharisme et Valdéisme en Languedoc à la fin du XIIe et au début du XIIIe siècle. 2. Aufl. Louvain/ Paris 1969. 55 Jordan von Sachsen: Von den Anfängen (Anm. 34), Nr. 21, S. 42 f. Vgl. zum Flammenwunder des Dominikus: Petrus Ferrandi: Legenda sancti Dominici (Anm. 34), Nr. 15, S. 219 f. (ganz nach der Vorlage des Libellus); Konstantin von Orvieto: Legenda sancti Dominici (Anm. 34), Nr. 15, S. 296 (mit der Abwandlung, dass die Schiedsrichter über ihr Urteil zerstritten waren und deshalb die Feuerprobe herangezogen wurde); Humbert de Romanis: Legenda (Anm. 34), Nr. 17, S. 380 f.: Humbert wandelt die Erzählung stark ab. Er geht von einer kleinen Disputation am nächtlichen Lagerfeuer aus, bei dem die Gegner des Dominikus seine Schrift (cedula) schließlich zerrissen und ins Feuer warfen. 56 Roquebert: Die Geschichte der Katharer (Anm. 14), S. 112.
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welcher Sprache und auf welchem akademischen Niveau die Streitschriften verfasst waren. Unter der Fragestellung dieses Beitrags ist aber auch die Situation als solche bemerkenswert: Aus Sicht eines mittelalterlichen Hagiografen mag das hier erzählte Flammenwunder als höchster Wahrheitsbeweis gelten; die in den Dominikus-Viten sonst leitmotivartig wiederholte Befähigung des Ordensgründers zur Bekehrung von Ketzern durch das Wort scheint in diesem Fall aber versagt zu haben. Die Überzeugungskraft der Argumente und das Charisma des jungen spanischen Subpriors reichten jedenfalls nicht aus, um die Zweifel der Schiedsrichter auszuräumen. Die beiden Streitschriften schienen in den Augen der richtenden Laien durchaus ebenbürtig zu sein.⁵⁷ Die Quellen nicht-dominikanischer Provenienz, die zu diesem Ereignis ebenfalls reich sprudeln, lassen weitere Details erkennen. Montréal lag ganz in der Nähe des wenig später von Dominikus gegründeten Frauenkonventes in Prouille. Während sich die dominikanische Bewegung langsam formierte, wuchs offenbar die Beunruhigung bei den okzitanischen Andersgläubigen. Michel Roquebert, einer der besten Kenner dieser Gruppen, geht sogar davon aus, dass die ‚katharische‘ Elite dieses Gespräch als Reaktion auf die verstärkten Predigtbemühungen der Praedicatio Jesu Christi selbst initiiert habe.⁵⁸ Die Historia Albigensis betont jedenfalls. dass sich die meisten Vollkommenen Okzitaniens an dem Ort eingefunden hätten.⁵⁹ Der Verfasser der Historia, der Zisterzienser Petrus von Vaux-de-Cernay, war nicht nur ein glühender Verfechter des gewaltsamen Vorgehens gegen Ketzer, er war seit 1204 als Augenzeuge und Beteiligter vor Ort. In den zwei Wochen der Disputation traten als Wortführer der Andersgläubigen Bischof Guilabert de Castres, der spätere Bischof Benoît de Termes und ein Arnaud Otha auf, sowie Diego, Dominikus und der zisterziensische Legat Radulph von Fontfroide als Wortführer der Katholiken. Thema des Disputs seien hauptsächlich die katholische Kirche und der Ritus der Messe gewesen. Im Unterschied zum oben zitierten dominikanischen Libellus spricht die Historia polemisch von den „Schiedsrichtern der Häretiker“. Diese hätten sich geweigert, ein abschließendes Urteil abzugeben, als ihnen klar geworden sei, dass die Schriften der katholischen Seite überlegen waren. Deshalb sollen sie – entgegen der vorherigen Vereinbarung – die Schriften auch nicht zurückgegeben, sondern den Ketzern ausgehändigt haben, die nach der polemischen Darstellung der Historia das Heft des Handelns in der Hand hatten. Wo die domini-
57 Es ist bemerkenswert, dass diese Form des Gottesurteils zur Entscheidung einer Glaubensdisputation auch in den literarischen Religionsgesprächen, so etwa in der Silvesterlegende in der deutschen Kaiserchronik aus dem 12. Jahrhundert, weit verbreitet ist (Witthöft: Zwischen Wahrheitssuche und Wunderglauben [Anm. 7], S. 292 f.). 58 Hier und im Folgenden Roquebert: L’épopée cathare (Anm. 15), S. 282–287. 59 Historia Albigensis (Anm. 34), Nr. 26, S. 19 f.
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kanischen Quellen das Eingreifen Gottes zugunsten der katholischen Seite durch das Flammenwunder in einer für die neutralen Schiedsrichter nicht entscheidbaren Disputsituation inszenierten, unterstellt der Zisterzienser von Beginn an einen Betrug an der katholischen Sache. Einig sind sich die kirchlichen Quellen darin, dass sich im Anschluss an die Disputation eine große Anzahl von Ketzern zum katholischen Glauben bekehrt habe. Wenn man hier von Kompromiss sprechen möchte, liegt dieser allenfalls darin, dass sich beide Seiten im Vorfeld – ganz im Unterschied zur Disputation von 1165 – auf ein ausgewogenes öffentliches Verfahren einigten, bei dem man sich dem Urteil unabhängiger Richter beugte. Kompromisse in theologischen Fragen nach Art der Notlügen von 1178, bei denen die Andersgläubigen die katholische Position kurzerhand übernommen hatten, kamen 1206 nicht in Betracht, da die Vollkommenen sich offenbar von den neuartigen, geschulten und arm auftretenden Predigern herausgefordert fühlten und vor der Bevölkerung ihre Wertschätzung als glaubwürdige religiöse Alternative verteidigen mussten. So wurden die Streitgespräche zu einer öffentlichen Aushandlung auf Augenhöhe, bei denen es nicht um formale Autorität, sondern um theologische Argumente und Glaubwürdigkeit ging. Die Rolle des Rechtgläubigen und Irrgläubigen war hier nicht von Anfang an klar zugewiesen. Vor diesem Hintergrund lohnt der Blick in die Chronik Guillaumes de Puylaurens aus Toulouse, der seit den 1220er Jahren im Umfeld des Bischofs von Toulouse und später als Kaplan Graf Raimunds VII. tätig war. Guillaume gibt mehrere Wortwechsel aus solchen Disputen wieder. Auch wenn es sich erneut um einen einseitigen und stilisierten Text der katholischen Seite handelt, kommt man hier der oben angesprochenen Popularisierung theologischer Argumente nahe, die für die Streitsituation vor einem laikalen Publikum charakteristisch ist. Der erste Wortwechsel stammt aus einem Disput in Verfeil aus dem Jahr 1206 oder 1207, bei dem Diego von Osma auf einige Perfekte traf. Nachdem man viele Argumente ausgetauscht habe, sei man auf die Textstelle Johannes 3, 13 gekommen: ‚Und niemand ist in den Himmel hinaufgestiegen außer dem, der vom Himmel herabgestiegen ist: der Menschensohn.‘ Der Bischof von Osma habe seine Gegner gefragt, wie sie diese Stelle verstehen. Einer von ihnen antwortete: ‚Jesus bezeichnet sich in seinem Wort als Menschensohn im Himmel‘. Darauf der Bischof von Osma: ‚Ihr glaubt also, dass sein Vater, der im Himmel ist, ein Mensch sei, von dem der Sohn den Namen hat‘. Sie beteuerten, dass sie dies glaubten. Der Bischof sagte ihnen: ‚Da der Herr durch den Mund des Jesaja sagte: ‚Der Himmel ist mein Thron und die Erde der Schemel für meine Füße‘, folgt daraus, dass er ein Mensch sei, der im Himmel sitzt und dessen Füße die Erde berühren, dessen Beine also so lang sind wie der Abstand zwischen Himmel und Erde‘. Sie beteuerten wieder, dass sie das glaubten. Und der Bischof erwiderte: ‚Dass Gott euch verdamme, denn ihr seid schlimme Ketzer. Ich habe euch für subtiler gehalten.‘ Sie versuchten sich in Ausflüchten durch allerlei andere Argumente. Aber durch diese Schriftstelle bewiesen die Katholiken, dass Christus Gott und Mensch sei, der vom
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Himmel herabgestiegen ist, um Mensch zu werden und der dennoch als Gott im Himmel sei, von wo er herabgestiegen ist.⁶⁰
Die gottmenschliche Doppelnatur Jesu Christi, um die es in diesem fiktiven Dialog geht, gehörte zu den katholischen Glaubensrätseln, für die die okzitanischen Andersgläubigen mit ihrem strikten Dualismus eine einfachere und vielen Menschen überzeugendere Erklärung bereit hielten. Wenig plausibel erscheint deshalb die etwas plumpe Antwort der Vollkommenen; viel plausibler ist, dass sich die katholischen Quellen generell hüteten, die bei den Zuhörern etablierten Erklärungsmodelle und Erlösungsstrategien der Andersgläubigen genauer wiederzugeben. Das einhellige Bild, das die hier zitierten kirchlichen Chronisten und Hagiografen zeichnen, indem sie ausnahmslos den kirchlichen Erfolg des neuen Predigt- und Disputationswettbewerbs herausstellen, bekommt überdies schnell Risse, wenn etwa der burgundische Chronist Robert von Auxerre vermerkt, man habe 1206/1207 kaum eine Handvoll Ketzer zum rechten Glauben bekehren können. Und auch die drängenden Aufrufe der päpstlichen Kurie an die okzitanischen Legaten, ihre Anstrengungen in dem Gebiet zu verstärken, weisen auf einen eher mäßigen, für die Kirche nicht befriedigenden Erfolg der Praedicatio hin.⁶¹ Die augenscheinlich geringe Durchschlagskraft der Kampagne von 1206/1207 legt zudem nahe, dass in den Disputen keineswegs immer so eine klare diskursive Überlegenheit der katholischen Seite vorherrschte, wie uns die überlieferten Texte weismachen wollen. Genau vor diesem Hintergrund ist ein weiterer Wortwechsel bei Guillaume de Puylaurens interessant. Auf katholischer Seite, so Guillaume, habe Bischof Fulko von Toulouse, der spätere Vorgesetzte des Chronisten, brillant gegen zwei Andersgläubige argumentiert. Darauf habe ihm ein okzitanischer Ritter, der zugehört hatte, gesagt: ‚Wir hätten niemals gedacht, dass Rom so viele und so gute Argumente gegen diese Leute hat‘. – Bischof Fulko: ‚Erkennt ihr also an, dass sie gegen unsere Einwände machtlos sind?‘ – Der Ritter: ‚Das erkennen wir genauso an‘. – Der Bischof: ‚Warum also werft ihr sie nicht aus euren Ländern hinaus?‘ – Der Ritter: ‚Wir können nicht. Wir sind mit ihnen groß geworden, wir haben Verwandte bei ihnen, und wir sehen sie ehrenhaft leben‘. Und so kommt es, dass der Irrtum allein durch den Anschein eines reinen Lebens die ungebildeten Menschen von der Wahrheit wegreißt.⁶²
60 Guillaume de Puylaurens: Chronique. Hrsg. von Jean Duvernoy. Paris 1996, Kap. VIII, S. 52–55 (deutsche Übersetzung von J.O.). 61 Robert von Auxerre: Chronicon, MGH. Script. 26. Hrsg. von Oswald Holder-Egger. Hannover 1882, S. 271; Innozenz III., Ep. X, Nr. 119. In: Patr. Lat. 215, Sp. 1247. 62 Guillaume de Puylaurens: Chronique (Anm. 54), Kap. VIII, S. 55–57 (Übersetzung J.O.).
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Persönliche Beziehungen und die Glaubwürdigkeit der Verkündung waren die unabweisbaren Pluspunkte der heterodoxen Mission, die mit dem weithin trostlosen Erscheinungsbild des katholischen Klerus kontrastierten. Zumindest Diego und Dominikus hatten das verstanden, konnten jedoch – vielleicht auch wegen fehlender personeller Ressourcen – den langen gewachsenen Beziehungen der lokalen Bevölkerung zu den Vollkommenen mit ihren punktuellen Predigten und Disputationen kaum beikommen. Das hohe Interesse an Religionsgesprächen und die gleichzeitig geringe Zahl von Bekehrungen der Jahre 1206 und 1207 dürften darauf hinweisen, dass die religiösen Zweifel der Bevölkerung durch die geschulten und nun ihrerseits glaubwürdig auftretenden Kirchenleute nicht ausgeräumt, sondern möglicherweise sogar verstärkt wurden. Diese Zweifel gründeten letztlich in dem individuellen Bedürfnis, das eigene Seelenheil zu sichern. Sie wurden dadurch geschürt, dass Kirche und Andersgläubige nicht nur unterschiedliche, sondern gegensätzliche und exklusive Heilsversprechungen propagierten, welche die Verdammung der jeweils anderen Seite einschlossen. Die Kirche beharrte auf ihrem Heilsmonopol: Extra ecclesiam salus non est (Cyprian von Karthago, Ep. 73). Die heterodoxen Lehrer predigten die Sündenvergebung auf dem Totenbett und die Erlösung durch das consolamentum der Vollkommenen.⁶³ Kompromisse auf theologischer Ebene verboten sich vor diesem Hintergrund. Das verhinderte freilich nicht, dass Menschen für ihren individuellen Glaubensweg nach Kompromissen Ausschau hielten, die zum Beispiel darin bestanden, den religiösen Lehren und Praktiken beider Religionen bis zu einem gewissen Grad gerecht zu werden. In den meridionalen Inquisitionsakten, deren Überlieferung in den 1230er Jahren einsetzt, finden sich bemerkenswerte Fälle von Doppelreligiosität: Menschen, die sich vor ihrem Tod im Geheimen von einem heterodoxen Perfekten konsolieren ließen, um danach mit allem Pomp als vorbildlich lebendes Gemeindemitglied bei Franziskanern oder Dominikanern begraben zu werden, oder solche, die dem Stiftskapitel von Saint-Sernin in Toulouse hohe Stiftungen machten, obwohl sie nachweislich einen prominenten Platz in der lokalen Katharergemeinde einnahmen.⁶⁴
63 Zu den widerstreitenden religiösen Heilsversprechen vgl. Jean Duvernoy: Le catharisme. La religion des cathares. Toulouse 1976, S. 93–104. 64 Oberste: Zwischen Heiligkeit und Häresie (Anm. 16), S. 258–261.
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III Epilog: Wer ist ein Ketzer? Religiöse Zweifel und die Eskalation der Gewalt: Béziers 1209 Der offensichtliche Misserfolg der Überzeugungskampagne des Dominikus und seiner Mitstreiter beflügelte die Gewaltlösung gegen die okzitanische Heterodoxie, erst recht, nachdem im Juni 1208 ein päpstlicher Legat in Okzitanien ermordet worden war. Die verwickelten Begleitumstände, die zum päpstlich proklamierten Kreuzzug gegen die okzitanischen Ketzer führten, sind gut erforscht.⁶⁵ Voraussetzung war, dass König Philipp II. von Frankreich seinen langjährigen Widerstand gegen eine militärische Intervention in der Grafschaft Toulouse aufgegeben hatte. Ich möchte mich unter unserer Fragestellung nur einer einzigen Episode aus den Anfangstagen des Kreuzzugs zuwenden, die zweifellos zu den bekanntesten Episoden über diesen Krieg gehört. Die erste große Bewährungsprobe des Kreuzfahrerheeres unter Leitung des Abtes von Cîteaux und päpstlichen Legaten, Arnold Amaury, war die gut befestigte Stadt Béziers, eine der Residenzen des zum Hauptfeind erklärten Vizegrafen Raimund Roger Trencavel. Das Heer zog im Juli 1209 einen Belagerungsring um die Stadt. Alle überlieferten Berichte sprechen zuerst von Verhandlungen, die auf Seiten der Kreuzfahrer der katholische Bischof von Béziers, Rainald von Montpeyroux, führte. Dieser kannte seine Gesprächspartner in der Stadt und genoss bei der Kreuzzugsführung offenbar einen guten Ruf. Nach Peter von Vaux-de-Cernay versammelte Bischof Rainald am Morgen des 22. Juli die Adligen und Repräsentanten der Einwohnerschaft in der Kathedrale Saint-Nazaire, um ihnen ein Ultimatum Arnold Amaurys zu überbringen: Die Unsrigen erklärten, dass sie gekommen seien, um die Häretiker zu vernichten. Sie verlangten daher von den katholischen Bürgern, wenn es solche gebe, dass sie in ihre Hände diejenigen Häretiker auslieferten, die ihnen der ehrwürdige Bischof, der sie alle kenne und ihre Namen auch schon schriftlich aufgezeichnet habe, angeben würde. Falls sie das jedoch nicht tun könnten, sollten sie aus der Stadt gehen und die Häretiker zurücklassen, damit sie nicht zusammen mit ihnen zugrunde gehen müssten.⁶⁶
65 Vgl. Michel Roquebert: L’épopée cathare. Bd. 1–4. Toulouse 1970–1989; Beverly Mayne Kienzle: Cistercians, Heresy and Crusade in Occitania, 1145–1229. Preaching in the Lord’s Vineyard. York 2001; Jörg Oberste: Der „Kreuzzug“ gegen die Albigenser. Ketzerei und Machtpolitik 1209–1229. Darmstadt 2003; Marco Meschini: Innocenzo III e il negotium pacis et fidei in Linguadoca tra il 1198 e il 1215. Roma 2007. 66 Historia Albigensis (Anm. 34), Nr. 89.
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Abt Arnold Amaury wandte also exakt das Verfahren an, das mit Billigung des Territorialherrn, Graf Raimunds VI., 1208 in Saint-Gilles beschlossen worden war. Die Kreuzfahrer stellten Namenslisten mit Ketzern oder der Ketzerei Verdächtigen zusammen, die ihnen bedingungslos auszuliefern waren.⁶⁷ Wenn man bedenkt, dass für den Papst die Vernichtung der Heterodoxie die einzige Rechtfertigung dieses ersten Kreuzzugs auf christlichem Boden darstellte, erklärt sich die überragende Bedeutung dieser Forderung. Dennoch gab es einen politischen und wirtschaftlichen Aspekt dieses Verfahrens, der leicht zu durchschauen war: Die Entscheidung darüber, wer als Ketzer ausgeliefert werden musste, sollte nicht durch einen Gerichtsprozess, wie später bei der Inquisition, sondern allein durch Beschluss der Kreuzzugsführung getroffen werden. Diese bestand aber zum größten Teil aus Landesfremden, die mit der ausdrücklichen Absicht nach Okzitanien gekommen waren, neue Herrschaftsrechte und Güter aus dem konfiszierten Besitz von Ketzern an sich zu bringen. Die päpstlichen Prediger hatten genau mit einem solchen Beuteversprechen geworben. Somit braucht man nicht viel Phantasie, um auf den betreffenden Namenslisten vor allem Barone, Adlige und reiche Bürger zu vermuten, die sowohl im politischen wie im wirtschaftlichen Sinne aus dem Weg geräumt werden mussten. Das spätere Vorgehen in Toulouse, wo die Quellen zu diesem Punkt ausführlicher sind, bestätigt genau diesen Verdacht.⁶⁸ Nach der Historia Albigensis schenkten die Bürger von Béziers ihrem Bischof kein Gehör. „Stattdessen schlossen sie ein Bündnis mit dem Tod und wollten lieber als Häretiker sterben, statt als Christen zu leben.“⁶⁹ In der Weltsicht des Mönchs aus Vaux-de-Cernay kann diese Antwort nicht überraschen, denn zuvor hatte er seine Leser ausführlich darüber in Kenntnis gesetzt, was man von den Einwohnern dort zu halten habe. Béziers sei vollkommen vom Gift der Häresie angesteckt, mehr noch: Die Bürger seien „nicht nur Häretiker, sondern Diebe, Betrüger, Ehebrecher, Landstreicher und Sammler von Sünden“⁷⁰. Es ist für die Deutung der folgenden Ereignisse wichtig, dass der katholische Chronist Guillaume de Tudela aus dem Toulousain, der die Chanson de la croisade albigeoise etwa zeitgleich mit der zisterziensischen Historia Albigensis (um 1212) schrieb, eine deutlich verschiedene Version liefert. Danach übermittelte Bischof Rainald von Béziers seinen Mitbürgern folgende Botschaft: ‚Mitbrüder, ich bitte euch, den Kreuzfahrern die Stadttore zu öffnen. Tut was sie verlangen und euch erwarten nur geringe Strafen. Wenn nicht, wird nicht einer am Leben bleiben, um
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Oberste: Kreuzzug (Anm. 59), S. 58. Roquebert: L’épopée cathare 1 (Anm. 15), S. 349–356. Historia Albigensis (Anm. 34), Nr. 89. Historia Albigensis (Anm. 34), Nr. 87.
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hinterher die Leichen zu zählen.‘ Er sprach langsam und deutlich, fast beschwörend rief er: ‚Brüder, unterwerft euch!‘ Und sein Gesicht errötete, seine Hände zitterten und seine Stimme brach, als er die Antwort der Menge vernahm: ‚Diese Räuber empfangen? Ihnen unsere Stadt aushändigen? Eher schon sterben! Die Kreuzfahrer werden leer ausgehen. Glauben sie, wir haben Angst vor ihnen? Nach zwei Wochen werden sie abgezogen sein. Sie werden sich ihre Hälse an unseren schönen Mauern brechen‘.⁷¹
Dieser Dialog spiegelt fast idealtypisch die Ausgangspositionen für Übergabeverhandlungen bei der Belagerung einer mittelalterlichen Festung wider. Die Belagerer drohen mit einem Massaker für den Fall der Ablehnung und bieten weitgehende Straffreiheit bei sofortiger Übergabe. Die Belagerten vertrauen auf die Stärke ihrer Mauern und darauf, dass dem großen Heer draußen alsbald die Lebensmittel knapp werden. Was im Vergleich zur Historia Albigensis auffällt, ist, dass völlige Fehlen des Häresie-Themas. Die Bürger von Béziers betrachten die Kreuzfahrer als ausländische Invasoren, als „Landräuber“. Nach der Chanson stehen sich nicht Andersgläubige und Katholiken, sondern Franzosen und Okzitanier gegenüber. Diese Akzentverschiebung ist keine Kleinigkeit, da sich der Kreuzzug offiziell nur gegen die Andersgläubigen im Land und nicht gegen das Land selbst richtete. Alle Gewaltmaßnahmen waren nur durch die Vorherrschaft der Heterodoxie in den angegriffenen Orten gerechtfertigt. In diesem Sinne bietet der Bericht Peters von Vauxde-Cernay die nötigen Details, um der päpstlichen Sache Legitimation zu verschaffen. Doch ist es nach allem, was man über die tatsächliche Ausbreitung der Heterodoxie in Okzitanien weiß, undenkbar, dass die Einwohnerschaft einer großen Stadt wie Béziers in ihrer Gänze oder überwiegenden Mehrheit heterodox eingestellt war.⁷² Dies gilt umso mehr, als sich der Herr dieser Stadt, Raimund Roger Trencavel, zwar die Feindschaft der Kirche zugezogen hat, jedoch noch nicht einmal von der polemischen Historia direkt der Ketzerei beschuldigt werden konnte. Wie erklärt sich dann der geschlossene Widerstand der Bürger von Béziers, unter ihnen sogar Mitglieder des Klerus, gegen die Kreuzfahrer? Die einzige plausible Begründung dafür nennt die Chanson de la croisade, wenn sie die politische Seite des Konfliktes in den Vordergrund stellt. Man wehrte sich gegen drohende Eroberung und Fremdherrschaft. Obwohl beide Autoren als papsttreue Kleriker auf derselben Seite zu stehen scheinen, gibt es einen bezeichnenden Unterschied, der sich schon in der Sprachlichkeit ihrer Werke ausdrückt. Peter schrieb als Franzose, Guillaume als Okzitanier. Damit hängt zusammen, dass dem letzteren die gängigen Häresie-Vorurteile des Nordens gegenüber dem Süden, die sich schon aus den Konzilsbeschlüssen von
71 Chanson de la croisade albigeoise (Anm. 34), II, 16, S. 58 f. (Übersetzung J.O.). 72 Vgl. dazu Roquebert: L’épopée cathare 1 (Anm. 15), S. 351–354.
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Reims (1157) und Tours (1163) herauslesen lassen, fremd blieben und er andere, näherliegende Erklärungsmuster für das Verhalten seiner Landsleute finden musste.⁷³ Es gibt eine weitere Quelle über die Belagerung von Béziers, welche der Wahrheit möglicherweise am nächsten kommt, obwohl auch sie alles andere als neutral ist. Es handelt sich um einen Ende August 1209 verfassten Rechenschaftsbericht der päpstlichen Legaten, in dem sie ihr Vorgehen in Béziers begründen.⁷⁴ Arnold Amaury und sein Kollege Milo bestätigen darin zunächst die Version der Historia Albigensis, nach welcher Bischof Rainald die Einwohner zur Auslieferung aller Ketzer oder zum Verlassen der Stadt aufgefordert habe. Allerdings fahren sie fort, dass nach dem Scheitern der Verhandlungen die Bürger von Béziers gemeinsam mit den Ketzern einen Eid abgelegt hätten, ihre Stadt mit vereinten Kräften zu verteidigen. Mit anderen Worten: Auch die guten Katholiken, die gewiss in der Mehrheit waren, verpflichteten sich zum Widerstand. Es stellt sich die Frage, aus welchem Grund allein bei Peter von Vaux-de-Cernay aus ganz Béziers eine „Brutstätte der Häresie“ werden musste. Die Antwort muss in den nachfolgenden Ereignissen dieses 22. Juli gesucht werden. Alle drei Quellen lenken die Aufmerksamkeit zunächst auf eine kaum glaubliche militärische Fehlleistung der Stadtbewohner. Der Bericht der Legaten stellt dazu knapp fest: Während die Kreuzzugsführer über die Aufstellung des Heeres für eine lange Belagerung und ihre Politik gegenüber den eingeschlossenen Katholiken berieten, habe es einen Ausfall der Einwohner gegeben, den die Truppen nahe des betroffenen Tores ausnutzen konnten, um sich Zugang nach innen zu verschaffen. Innerhalb von drei Stunden sei die ganze Stadt erobert gewesen.⁷⁵ Nicht überhören sollte man an dieser Stelle, dass sich die Legaten und die christlichen Fürsten angeblich über das Schicksal der Katholiken in Béziers sorgten, während ihre Truppen – völlig unvorhergesehen – bereits in der Stadt wüteten. Peter von Vaux-de-Cernay und Guillaume de Tudela wissen, diesmal übereinstimmend, mehr Details zu berichten. Nach der Historia Albigensis sei die städtische Miliz überraschend über eine Rotte einfacher Soldaten hergefallen, welche dann – ohne Absprache oder Befehl – mit dem Sturm auf Béziers begonnen habe. Der Mönch von Vaux-de-Cernay fährt fort: „Was soll ich mehr sagen? Die unverzüglich Eindringenden töteten fast alle, von den Jüngsten bis zu den Ältesten, und steckten anschließend die Stadt in Brand […]. In der Kirche der heiligen Maria-Magdalena wurden an dem Tag der Eroberung an die 7.000 Bürger getötet.“⁷⁶ Der Chronist aus Toulouse, Guillaume de Tudela, kann sein
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Im Überblick Oberste: Ketzerei (Anm. 7), S. 66–68. Der Bericht ist abgedruckt in Patr. Lat. 216, S. 137–141. Ebd., S. 138 f. Historia Albigensis (Anm. 34), Nr. 90–91.
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Entsetzen über dieses Ereignis nicht verhehlen: „Seit der Zeit der Sarrazenen habe ich nie von einem solch brutalen Massaker gehört.“⁷⁷ Für den gerade begonnenen Kreuzzug bedeutete das Massaker von Béziers eine schwere Hypothek, ja die Infragestellung seiner Fortsetzung. Alle Zweifel, die moderate Kirchenleute, möglicherweise sogar der Papst selber, im Vorfeld gegen eine militärische Intervention in einem christlichen Gebiet gehegt haben mochten, wurden hier bestätigt. Legaten und katholische Chronisten rangen hernach um Erklärungen und Entschuldigungen: Der offizielle Bericht der Legaten betont die Unwissenheit der Kreuzzugsführer und die Eigenmächtigkeit der niederen Fußtruppen. Nüchtern beziffert er die Zahl der Getöteten auf ungefähr 20.000.⁷⁸ Guillaume de Tudela verurteilt die Ereignisse als zutiefst unchristlich, wohingegen Peter von Vaux-de-Cernay umgekehrt alles tut, um das Massaker als gottgewollt hinzustellen. Nur wenige Jahre nach der Historia griff ein anderer Zisterzienser, der deutsche Novizenmeister Cäsarius von Heisterbach, den Fall von Béziers erneut auf. Allein an dieser Tatsache lässt sich ablesen, dass jenes Ereignis im Abendland die Runde machte und immer wieder zu neuen Deutungen und Diskussionen Anlass gab. Worin sich diese Darstellung von den bislang untersuchten Texten wesentlich unterscheidet, ist die Beurteilung der Ketzerfrage. Cäsarius macht in seiner Geschichte deutlich, dass die Wahrheitssuche unter den Bedingungen des Kriegs nicht mehr in den Händen erfahrener Prediger lag und im Modus der öffentlichen Glaubensdisputation stattfinden konnte. Religiöse Zweifel traten hinter politische Loyalitäten und militärische Notwendigkeiten zurück. Die Frage, wer ein Ketzer sei, wurde apodiktisch auf dem Schlachtfeld entschieden. Wenn es im Zeitalter der öffentlichen Streitgespräche zumindest den Kompromiss über ein Verfahren und damit die Möglichkeit gegeben hatte, den Zuhörern Einsichten in die widerstreitenden religiösen Positionen von Andersgläubigen und Katholiken zu vermitteln, war mit dem Beginn des Albigenserkriegs kein Raum mehr gegeben für Kompromisse oder für den Umgang mit religiösen Zweifeln. Genau dieser Hilflosigkeit des religiösen Arguments gegenüber roher Gewalt verleiht Cäsarius mit seiner berühmt gewordenen Schilderung Ausdruck: [Die Kreuzfahrer] gelangten zu einer großen Stadt, die Béziers heißt und in der 100.000 Menschen gewesen sein sollen. Diese belagerten sie. Die Häretiker urinierten vor ihren Augen auf einen Band des heiligen Evangeliums und warfen ihn von der Mauer den Christen entgegen. Einige vom Glaubenseifer entbrannte Kriegsleute legten daraufhin Leitern an die Mauern und stiegen furchtlos hinauf. Während die Häretiker durch Gottes Fügung vor Schreck zurückwichen, öffneten diese den Nachfolgenden die Tore und nahmen so die Stadt ein. Als sie
77 Chanson de la croisade albigeoise (Anm. 34), II, 21, S. 63–65 (deutsche Übersetzung von J.O.). 78 Patr. Lat. 216, S. 139.
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aus den Geständnissen aber ersahen, dass Katholiken und Ketzer vermischt waren, fragten sie den Herrn Abt [Arnold Amauri]: ‚Herr, was sollen wir tun? Wir können die Guten nicht von den Bösen unterscheiden.‘ Da der Abt befürchtete, dass die Häretiker nur aus Furcht vor dem Tod heucheln würden, sie seien Katholiken, soll er geantwortet haben: ‚Tötet sie alle, der Herr wird die Seinen schon erkennen‘.⁷⁹
Cäsarius macht schonungslos klar: Der Kriegsapparat, der sich im Juli 1209 von Avignon aus in Bewegung setzte, war in keiner Weise darauf vorbereitet, das erklärte Kriegsziel, die Auslöschung der Ketzerei, erreichen zu können, da er über keine Instrumente verfügte, Ketzer zu identifizieren. Wer ein Ketzer sei, war unter diesen Bedingungen eine Frage zynischer Machtpolitik geworden. Der Albigenserkrieg dauerte genau 20 Jahre und hinterließ ein fragiles Machtgefüge in Okzitanien und eine Gesellschaft, in welcher die Heterodoxie nicht mehr offen, jedoch im Verborgenen weiterhin virulent war. Im päpstlichen Inquisitionsverfahren, das unmittelbar nach Ende des Kreuzzugs 1229 Gestalt annahm, bündelte die Kirche ihre Erfahrungen mit dem dornigen Thema, wer als Ketzer zu betrachten sei.⁸⁰ Einerseits mit einem erheblichen Autoritätsvorschuss und Machtapparat ausgestattet, andererseits mit dem persönlichen Profil eines geschulten Theologen und Seelsorgers, entwickelten dominikanische und franziskanische Inquisitoren schnell große Professionalität darin, durch geschickte Verhöre und akribische Aktenführung zu entscheiden, wer als Ketzer zu betrachten sei. Offenkundiger Machtmissbrauch zerstörte aber auch bei der Inquisition schnell jede Hoffnung auf einen dauerhaften Sieg der Kirche gegen die Heterodoxie. Wie auch? Zweifel gehören zum Wesen von Religion, und die Suche nach Alternativen ist darauf eine durchaus plausible Antwort.
79 Caesarius von Heisterbach: Dialogus miraculorum V, 21. Hrsg. von Nikolaus Nösges, Horst Schneider; deutsche Übersetzung in Gerhard E. Sollbach (Hrsg.): Pierre-des-Vaux-de-Cernay (Anm. 34), S. 373 f. Zu dieser Textstelle eingehend Jacques Berlioz: Tuez-les tous, dieu reconnaitra les siens. Portet-sur-Garonne 1994. 80 Die Anfänge der Inquisition beschreibt der Band von Peter Segl (Hrsg.): Die Anfänge der Inquisition im Mittelalter. Mit einem Ausblick auf das 20. Jahrhundert und einem Beitrag über religiöse Intoleranz im nichtchristlichen Bereich. Köln/Weimar/Wien 1993 (Bayreuther Historische Kolloquien 7).
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Heilige Kompromisse: Über Dilemmata im Marienleben Bruder Philipps Das Heilige, allgemein gesprochen, verträgt keinen Kompromiss. In differenztheoretischer Perspektive ist es ausgewiesen als absolut von Profanem Unterschiedenes. Im christlichen Diskurs präsentiert sich das Heilige indes geradezu als entschiedene Kompromissfigur. Zu denken wäre hier in erster Linie an die chalcedonensische Formel. Im Jahr 451 einigen sich die streitenden Parteien auf dem Konzil in Chalcedon nach langen Auseinandersetzungen schließlich auf eine christologische „Kompromissformel“¹: Bei Jesus Christus, dem Mensch gewordenen Logos Gottes, handle es sich um eine Person in zwei Naturen, die in dieser einen Person unvermischt, unverwandelt, ungetrennt und ungeschieden vereint seien. Die Kompromissformel trägt sowohl der Natur der Gottheit als auch der Natur der Menschheit Rechnung, die in Jesus Christus zu einer Person geeint seien. Mit dem Problem, Zugeständnisse in der diskursiven Verhandlung des Heiligen zu kommunizieren, ist nicht nur die dogmatische Theologie konfrontiert. So ringt die literarische Inszenierung des Jesuslebens seit jeher mit der Frage nach der Darstellbarkeit des Gott-Menschen. Die grundsätzliche Lizenz zur Darstellung des Göttlichen ist dabei zu keiner Zeit umstritten. Im Marienleben des Kartäusers Philipp aus der Kartause Seitz², das um 1300 nach der Vorlage der Vita beatae virginis Marie et Salvatoris rhythmica ³ (um 1230) verfasst worden ist und gemessen an der Breite der Überlieferung mit mehr als 120 Überlieferungszeugen als populärstes Werk des Mittelalters zu gelten hat, begegnet diese Problematik in gesteigerter Form. Denn das Marienleben konturiert die zentralen Figuren Maria und Jesus als kongeniale Heilsfiguren. Wie Jesus gilt Maria von vornherein als Erlöserin: „Maria,
1 Vgl. Herbert Vorgrimler: Art. Chalkedon. In: Ders.: Neues Theologisches Wörterbuch. Freiburg i.Br. 2000 (Neuausgabe 2008), S. 111; ders.: Art. Christologie. In: ebd., S. 117 f., hier S. 117. 2 Bruder Philipps des Carthäusers Marienleben. Zum ersten Male hrsg. von Heinrich Rückert. Quedlinburg 1853 (Bibliothek der gesammten deutschen National-Literatur 34). Fortlaufend zitiert: ML. 3 Vita beatae virginis Marie et Salvatoris rhythmica. Hrsg. von A.Vögtlin. Tübingen 1888 (Bibliothek des litterarischen Vereins in Stuttgart 180). Fortlaufend zitiert: Vita. https://doi.org/10.1515/9783110792737-005
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Mutter, Königin, Erlöserin der ganzen Welt“⁴ (MLnhd, V. 1 f.): Mit dieser invocatio zu Beginn einer Inspirationsbitte setzt das Marienleben programmatisch ein. Maria unterscheidet sich im Marienleben Philipps von allen anderen Menschen durch die ihr im Mutterleib im Akt der Beseelung zuteilwerdende Erbsündenfreiheit. „Von dieser Sünde wurde das liebe Kind vom Heiligen Geist noch im Körper seiner Mutter gereinigt und zugleich wurde die Mutter durch ihn geheiligt“⁵ (MLnhd, V. 365–368). Bruder Philipp vertritt somit die Partei derjenigen, die von einer Reinigung Mariens im Mutterleib ausgehen, im Unterschied zu denjenigen, die eine primordiale Sündenlosigkeit Mariens behaupten.⁶ Die Reinigung im Mutterleib stellt ein Zugeständnis an Marias Sonderrolle als zukünftige Gottesgebärerin dar. Zwar Mensch, ist Maria von allen anderen Menschen durch den Akt der Reinigung kategorial unterschieden. Als Mensch bedarf sie wie das ganze menschliche Geschlecht der Erlösung vom Teufel (ML, V. 5163–5165) – und ist zugleich Erlöserin. Mit der soteriologischen Engführung von Mutter und Sohn steht unweigerlich die Frage nach den Grenzen des Sagbaren, des dogmatisch Zulässigen im Raum. Bei aller Exorbitanz werden Mutter und Sohn im Marienleben in ihrer Menschlichkeit vor Augen gestellt. In dieser Hinsicht besonders hervorstechend sind zwei dem Kalokagathia-Denken verpflichtete Schönheitsbeschreibungen der beiden Protagonisten, die Maria als die schönste Frau aller Frauen (ML, V. 819–887) und Jesus als den schönsten Mann (ML, V. 5004–5081) auszeichnen. Die Parallelisierungen in den Schönheitsbeschreibungen zielen auf Verähnlichung der Protagonisten. Die Schönheitsbeschreibungen in Form von Vertikaldeskriptionen fallen erwartbar topisch aus. Ein Detail in der Schönheitsbeschreibung Marias überrascht. Erwähnt werden ihre sauberen Fingernägel. Hier wird das rhetorische Muster zugunsten einer Art von Realitätseffekt durchbrochen: Durch den indirekten Hinweis auf den (nicht vorhandenen) Schmutz scheint das reale Menschsein Marias hindurch. So sehr sie sich von allen anderen Menschen in ihrer Schönheit und Tugend unterscheidet, so sehr bleibt sie noch in ihrer Entrücktheit Mensch: Der indirekte Hinweis auf den Schmutz ist als Zugeständnis an das Menschsein Marias zu werten. Jesu Göttlichkeit manifestiert sich schon in seiner Jugend in Wundern, seine Menschlichkeit hingegen wird unterstrichen, wenn er wie alle Kinder das Spiel
4 Das Marienleben des Karthäusers Philipp von Seitz. Aus dem Mittelhochdeutschen zeilengetreu übersetzt und kommentiert von Eduard Glauser. Basel 2020, 1 f. (ML,V. 1 f.: Marîâ, muoter, küneginne, all der werlde loesaerinne). Fortlaufend zitiert: MLnhd. 5 ML, V. 365–368: von der sünde wart daz liebe / kint in sîner muoter lîbe / mit dem heilegen geist gereinigt, / und wart sî ouch von im geheiligt. 6 Vgl. zu den mittelalterlichen Debatten um die Unbefleckte Empfängnis Mariens Georg Söll: Maria in der Geschichte von Theologie und Frömmigkeit. In: Handbuch der Marienkunde. Hrsg. von Wolfgang Beinert, Heinrich Petri. Regensburg 1984, S. 93–231, hier S. 172–175.
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sucht. Er widmet sich dem kindlichen Spiel, damit „vor den Leuten […] sichtbar werde, dass er ein wirklicher Mensch sei“⁷ (MLnhd, V. 3925 f.). Das Menschlich-Allzumenschliche Jesu erscheint als kalkuliertes Zugeständnis an die Erwartungen, die mit dem Menschsein verbunden sind. Bei den Protagonisten des Marienlebens handelt es sich demnach recht eigentlich um Kompromissfiguren, insofern ihnen situativ Zugeständnisse aus zwei verschiedenen Richtungen eingeschrieben sind, mit Blick auf Maria an die heilsnotwendige Exorbitanz Mariens, aber auch an deren Menschsein; mit Blick auf Jesus an das Menschsein Christi, aber auch an dessen Göttlichkeit. Auch auf der Handlungsebene findet man im Marienleben Bruder Philipps Kompromissfiguren, die unterschiedlich ausfallen. Es sind für alle Parteien akzeptable, von den ursprünglichen Zielvorstellungen der Parteien abweichende Zugeständnisse, die den Konfliktlösungstyp ‚Kompromiss‘ charakterisieren.⁸ Kompromisse stellen im Marienleben die Antwort auf Dilemmata oder zumindest ausweglose Situationen dar, die von einer überbordenden Emotionalität der Akteure begleitet sind. Unter Dilemma soll eine Konstellation gefasst werden, bei der „zwei gleich gewichtige […] Sollensanforderungen aufeinanderprallen, die nicht gleichzeitig befolgt werden können.“⁹ Diese Sollensanforderungen können die Gestalt sich ausschließender gleich gewichtiger Handlungsalternativen annehmen. Buchstäblich wegweisende Stationen des Marienlebens sind von Kompromisslösungen geprägt. Ich stelle drei Stationen vor, in denen sich Entscheidungen zwar unterschiedlich gestalten, in jedem Fall aber in einen göttlich verfügten Kompromiss münden. Ursprünglich bedeutet ‚compromittere‘ „‚sich gegenseitig versprechen, eine Entscheidung dem Schiedsrichter zu überlassen‘“¹⁰. Bruder Philipps Marienleben orientiert sich an dieser ursprünglichen Semantik, wenn Gott oder einem Stellvertreter Gottes der finale Schiedsspruch zuerkannt wird. Mit dieser impliziten oder expliziten Zuerkennung, die einen Dritten ins Spiel bringt, geht einher, dass ein Lösungsmodell, das zwischen Beteiligten selbst ausgehandelt wird, ausgeschlossen ist. Insofern unterscheidet sich ein historisch älteres Kompromissverständnis von aktuellen Semantiken.¹¹ In einer Schlussüberlegung komme ich auf das grundlegende mariologische Dilemma des Marienlebens zu sprechen, zu dem sich das Erzählen verhalten muss. Wie lassen sich Marias Menschsein und ihr Erlöserin-Status zusammendenken? Die Lösung besteht darin, dass das Marienleben eine Option der Verähnlichung entwickelt, der nicht nur funktionalen Angleichung 7 ML, V. 3925 f.: und waer ouch vor den liuten schîn / daz er rehter mensche waere. 8 Vgl. Véronique Zanetti: Spielarten des Kompromisses. Berlin 2022 (stw 2374), S. 21. 9 Ebd., S. 68. 10 Ebd., S. 20. 11 Ebd., S. 20 f.
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Marias an Christus. Der poetisch-performative Ausweg aus dem mariologischen Dilemma besteht in einem erzählerischen Kompromiss.
I Keusche Ehe – Lebensform als Kompromiss (ML, V. 888–1499) Als junges Mädchen lebt Maria im Tempel. Als sie fünfzehn Jahre alt geworden ist, soll sie einem Mann zugeführt werden, um Kinder in die Welt zu setzen. Maria entzieht sich der patriarchalen Reproduktionsmatrix, indem sie auf ihre Treue zu Gott verweist. Niemals wolle sie eines Mannes Frau werden (ML, V. 935), sie sei ihrem Bräutigam in Treue verbunden (ML,V. 1010) und wolle reine Jungfrau bleiben (ML, V. 1014). Die Antwort der Priester, die sich über die Rhetorik der jungen Frau wundern, lässt nicht auf sich warten: Nach dem Gebot Mose sei eine Frau oder Jungfrau, die kein Kind zur Welt bringe, von Gott gänzlich verflucht (ML, V. 1032– 1035). Hintergrund ist hier Deut 28,1–68. Maria entgegnet, dass der Fluch leibliche Freuden und weltliche Ehre betreffe, aber nicht die Seele (ML, V. 1036–1039). Auf diese differenzierte Argumentation mag sich die Tempelelite nicht einlassen. Stattdessen sehen sie die Gefahr, dass Maria mit ihrem Verhalten eine neue Ordnung, eine neue Verhaltensweise begründe und sie damit ein schlechtes Vorbild abgebe für die Töchter und Frauen des Volkes (ML, V. 1054–1061). Die Theokraten sehen in der Jungfräulichkeit als Lebensform ein gesellschaftsgefährdendes Potential. Ein Jude springt Maria bei, indem auch er sich auf das Gesetz Mose bezieht, hier ist die Referenz Num 30: Wenn ein Vater das Jungfräulichkeitsgelübde nicht am selben Tag rückgängig gemacht habe, wie dies bei Maria der Fall sei, dürfe das Gelübde weiterhin Geltung beanspruchen. Dieses Argument leuchtet den Priestern ein. Sie stehen vor einem Dilemma: Göttliches Gesetz steht gegen göttliches Gesetz. Die Entscheidung wird externalisiert, man fastet und bittet darum, dass Gott einen Boten senden möge, um anzuweisen, wie sich Marias Lebensform fortan gestalten solle. Es schließt sich die bekannte Episode vom Staborakel an. Eine Stimme gebietet, dass alle Männer aus dem Geschlecht Davids, die noch keine Ehefrau haben, einen Stab/einen Zweig in den Tempel tragen, der vom ältesten Priester auf den Altar gelegt werden soll. Demjenigen, dessen Stab Blüten treibe, solle Maria zur Ehefrau gegeben werden. Der Heilige Geist werde überdies vom Himmel herabkommen und sich in Gestalt einer Taube auf diesen Stab setzen (ML, V. 1104–1129). Das Gottesurteil muss wiederholt werden, weil Josef beim ersten Mal nicht im Tempel erscheint. Beim zweiten Mal erweist er sich als der von Gott Erwählte, sein Zweig treibt Blüten und Blätter hervor, der Heilige Geist lässt sich auf ihm nieder. Die Priester beauftragen ihn, er solle Maria zur Frau nehmen, ein Hüter ihrer
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Keuschheit sein und ihr eheliche Treue erweisen (ML,V. 1272–1277). Bei Josef wie bei Maria lösen die Anweisungen der Priester größte Not aus. Bevor es zur Eheschließung nach dem Gesetz Mose kommt (ML, V. 1494–1499), müssen Josef und Maria durch zu Hilfe eilende Engel, die ihnen den göttlich eingefädelten Kompromiss auseinandersetzen, getröstet werden. Josef, der sich seinerseits zur Keuschheit verpflichtet hat, wird vom Engel überzeugt, dass eine Ehe mit der Jungfrau Maria seiner Keuschheit nicht im Weg steht (ML, V. 1300–1375). Maria wird wie folgt unterwiesen: Man will dich einem Mann geben: Dagegen sollst du, edle Jungfrau, nicht Widerstand leisten, damit von dir niemand behaupten kann, du wollest die Ehe infrage stellen, zumal du ja bei eben diesem Mann dennoch keusche Jungfrau bleiben wirst. (MLnhd, V. 1446–1451)¹²
Diesem göttlich oktroyierten Kompromiss, der die Gültigkeit der Ehe nicht in Frage stellt und zugleich der Jungfräulichkeit nicht im Weg steht, hat Maria nichts entgegenzusetzen. Lakonisch heißt es: „Und Maria vertraute sich Gott an“¹³ (MLnhd., V. 1493). Ein Dilemma, Gesetz versus Gesetz, führt zu einer Externalisierung der Entscheidung. Vom Dilemma betroffen sind mehrere Parteien, auf der einen Seite die Priester, die auf unterschiedliche Gesetzesvorschriften verweisen, auf der anderen Seite Josef und Maria mit je spezifischen Interessen, die sich als identisch erweisen, ohne dass die beiden sich darüber verständigt hätten. Beide beabsichtigen, ein Leben in Keuschheit zu führen, das mit der sündenbehafteten Reproduktionsmatrix der Ehe inkompatibel ist. Die Priester delegieren einvernehmlich ein Handlungsproblem, das auf der Ebene priesterlicher Amtsausübung keiner Lösung zugeführt werden kann. Ein Gottesurteil in Gestalt eines Kompromisses, eines Zugeständnisses an das Allianzmodell der Ehe wie an das Lebensmodell der Jungfräulichkeit, bildet die Grundlage für Marias zukünftige Lebensform. Josef und Maria, beide auf Einhaltung ihrer Keuschheit bedacht, stimmen – allerdings erst nachträglich – dem göttlich verfügten Kompromiss zu. Damit ist eine Lösung gefunden, die für alle Parteien – die Priester wie Josef und Maria – akzeptabel ist. Ehelicher Allianz wie jungfräulicher Keuschheit wird Tribut gezollt, der „Teilverzicht“¹⁴, dem alle zustimmen, könnte so umschrieben werden, dass die konträren Lebensformen das qua eigener Ordnung Ausgeschlossene in sich aufnehmen. 12 ML, V. 1446–1451: man wil dich einem manne geben: / dâ soltu, vrowe, niht widerstreben, / daz ûf dich niemen müge jên / daz du stoeren wellest di ê / wand du bî dem selben manne / belîbest reiniu magt noch danne. – Auch Josef, der sich seinerseits zur Keuschheit verpflichtet hat, muss vom Engel überzeugt werden, dass eine Ehe mit der Jungfrau Maria seiner Keuschheit nicht im Weg steht (V. 1300–1375). 13 ML, V. 1493: got enphalch Marîâ sich. 14 Zanetti (Anm. 8), S. 21.
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II Die Heilige Familie am Scheideweg (ML, V. 3096–3225) Bruder Philipp inseriert in sein Marienleben eine Episode, die so in anderen apokryphen Erzählungen vom Leben der Maria, vor allem in der Vorlage des Marienlebens, der Vita beate virginis Marie et salvatoris rhythmica (Vita,V. 2293–2321), nicht greifbar ist. Es handelt sich um eine handlungslogisch überflüssige Szene, die in erzähllogischer Hinsicht indes um so bedeutsamer zu sein scheint. Die Heilige Familie muss sich auf der Flucht nach Ägypten, nachdem sie bereits einer Räuberbande in die Hände gefallen und dieser Bedrängnis entkommen ist, entscheiden, ob sie den sicheren Weg zum Meer wählt, wo sie versorgt ist, oder den unsicheren, nicht gangbaren Weg in die Wüste einschlägt. Es existiert offenbar eine viel begangene Straße durch die Wüste nach Ägypten, aber die findet man nicht. Der besorgte Josef plädiert rationalisierend,Vor- und Nachteile der Optionen abwägend, für den sicheren Weg zum Meer, ihm liegt aber an Marias Zustimmung, daher fragt er sie nach ihrem Willen. Diese schweigt und beginnt heftig zu weinen. Josef nimmt Anteil an Marias Weinen. Auf Josefs Nachfrage hin, was denn das Weinen zu bedeuten habe, erklärt sie sich. Sie weine darüber, dass sie ihm von Beginn ihrer Beziehung an Schmerz bereitet habe. Es bereite ihr Leid, dass er ihret- und des Kindes wegen die Flucht in fremde Länder auf sich nehmen müsse (ML, V. 3164– 3177). In der Sache trifft sie zunächst keine Entscheidung, Josef solle unbesorgt sein, Gott werde die Familie wohl behüten. Maria setzt also auf eine Externalisierung der Lösung des sich darbietenden Handlungsproblems. Einem Dritten, Gott, wird die Entscheidung überlassen. Während ihrer Rede liegt das schlafende Kind im Schoß seiner Mutter. Es erwacht, sieht die Tränen auf ihren Wangen, lehnt seinen Kopf an ihren Arm und weint still mit. Die Mutter wiederum tröstet das Kind und küsst es auf seinen Mund. Da greift das Kind mit seiner Hand an die Wangen der Mutter und streift die nassen Tränen ab. Das Abstreifen der Tränen durch das Kind signalisiert eine sich abzeichnende Lösung des Handlungsproblems. Eine Entscheidung ist noch nicht gefallen, das Entscheiden gestaltet sich dilatorisch. Die Dilemmatisierung des Geschehens, die Heilige Familie am Scheideweg, geht mit einer auffälligen Emotionalisierung einher, der Affekt figuriert als körperliche Ausdrucksseite des Dilemmas. Es besteht allerdings nach wie vor die Notwendigkeit, sich entscheiden zu müssen: „Welchen Weg sollen wir gehen, diesen oder den zum Meer?“¹⁵ (MLnhd, V. 3206 f.), will Josef von Maria wissen. Auch er delegiert die Entscheidung. Maria schließt sich dem Rat Josefs an, sie trifft die Entscheidung, die „öden Straßen durch
15 ML, V. 3206 f.: welhen wec sul wir kêren, / disen oder zuo dem mere?
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die Wüste“¹⁶ (MLnhd, V. 3211), also den beschwerlichen Weg, zu verlassen. Wenn man das Gleichnis von den beiden Wegen, vom breiten und vom schmalen Weg nach Mt 7,14 in Erinnerung hat, entscheidet sich Maria hier für den falschen Weg. Denn der breite Weg führt bekanntlich ins Verderben. Und so kommt es, dass, als sie weiterreisen wollen, ein Engel sie aufsucht, der ihnen Trost und nützlichen Rat und Josef Zuversicht vermitteln will. Es gehört zu einer Entscheidung, nicht zu wissen, ob sie ‚richtig‘ ist. Das macht das Kontingenzmoment einer jeden Entscheidung aus. Josef scheint belastet mit der Ungewissheit über die Richtigkeit der getroffenen Entscheidung, wenn ihm Zuversicht geschenkt werden soll. Noch hat man die Entscheidung nicht in die Tat umgesetzt. Es gibt offenbar einen Spielraum für Korrekturen, für göttliche Korrekturen. Die einmal getroffene Entscheidung lässt sich mittels göttlicher Intervention revidieren. Josef, so der Engel, solle die Mutter mit dem Kind nach Ägypten führen, also in die dem Meer entgegengesetzte Richtung. Der Engel will mit ihnen reisen, ihnen Schutz verschaffen, damit zwanzig Tagesreisen in drei Tagen zurückgelegt werden können. Es bewahrheitet sich mit dem Erscheinen des Engels Marias Vertrauen in den göttlichen Beistand. Dennoch wird die Notwendigkeit zur Entscheidung, die Dilemmatisierung des Geschehens erzählerisch nicht ausgespart, was ein Leichtes wäre. Zunächst fällt unter Kontingenzbedingungen die, gemessen an Mt 7,14, falsche Entscheidung durch Maria, die Josefs Rat beherzigt, und erst dann erfolgt die göttliche Korrektur. Die Intervention durch den Engel stellt bezeichnenderweise einen Kompromiss dar. Zwar wird der entbehrungsreiche Weg nach Ägypten gewählt, es fehlt indes nicht an Annehmlichkeiten. Das Reisewunder verkürzt den Weg und in Gestalt des Engels ist Schutz geboten. Erneut ermöglicht hier eine göttliche Kompromisslösung den Ausweg aus einem Dilemma. Indem Maria entscheidet, unterliegt sie der Kontingenz, ein Zugeständnis an ihre Menschlichkeit. Bruder Philipp unternimmt keinen Versuch, diese Seite des Marienlebens abzublenden, im Gegenteil: Der göttliche Kompromiss unterstreicht vielmehr deren Legitimität, indem der entbehrungsreiche Weg verkürzt wird, Marias Entscheidung, so gesehen, in Form eines Kompromisses – zumindest partiell – ins Recht gesetzt wird. Es geht hier nicht um eine Option, auf die man sich untereinander einigen würde. Es ist der Ratschlag des Engels, des compromissarius, dem strikt Folge geleistet wird. Von Bedeutung ist in dieser Episode die Revision der menschlichen Entscheidung durch den göttlichen Schiedsspruch, auf den alles hinausläuft und dem sich das Paar unterwirft. Er ist der Entscheidungsgewalt der Figuren übergeordnet und bringt die unvereinbaren Entscheidensoptionen durch Abstriche, die sich auf die Qualität der Optionen beziehen (Annehmlichkeit versus
16 ML, V. 3211: durch die wüest die oeden strâzen.
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Entbehrung), auf einen gemeinsamen Nenner: das Reisewunder (Annehmlichkeit des entbehrungsreichen Weges).
III Johannes: Die Figur des Dritten (ML, V. 7254–7559) Die Marienklage unter dem Kreuz nimmt bei Bruder Philipp breiten Raum ein. Sie wird eingeleitet mit einem Appell an die compassio der Leser*innen, Marias Schmerz und ihre große Not zu bedauern. Marias Klage richtet sich dabei nicht nur auf das Schicksal ihres einzigen Sohnes am Kreuz, Maria ist zugleich erfüllt von der Sorge um sich selbst, um die eigene Zukunft. So klagt sie unter dem Kreuz: Was soll deine arme Mutter tun? Wer wird mir an deiner statt Trost spenden, wer Hilfe und Rat? […] Ich verbleibe allen Trostes beraubt, weil der aufrichtige und ebenso gütige Josef, den du mir zur Aufsicht bestimmtest, damit er Beschützer und Bewahrer meiner Keuschheit sei, nun leider auch tot ist und weil du, liebstes Kind, in der Bedrängnis tiefen Leids von mir scheidest und den bitteren Tod erleidest. (MLnhd, V. 7461–7477)¹⁷
Weder kann sie auf ihren verstorbenen Ehemann zurückgreifen, noch auf ihren Sohn. Sie will mit ihrem Sohn sterben. Man möge sie an dasselbe Kreuz hängen, an dem ihr Sohn den Tod erleide, und ihrem Leben ein Ende bereiten. Jesu Schweigen am Kreuz veranlasst sie zu einer kühnen Drohung: Dann müsse sie sich eben selbst töten. Sie hofft, wenigstens diese Drohung möge ihrem Sohn zu Herzen gehen. Und in der Tat: Die Drohung verfehlt ihre Wirkung nicht. Jesus beginnt ob ihres Kummers heftig zu weinen, die Verzweiflung, die er an ihr sehe, breche sein Herz mehr als all die Marter. Unter dem Kreuz befindet sich auch Johannes der Evangelist, der den bevorstehenden Tod seines Meisters beweint. Als Jesus ihn erblickt, richtet er sich an seine Mutter: Johannes werde sie an seiner Stelle als Mutter annehmen. Liebste Mutter, keusche Jungfrau, ich lass dich nicht allein zurück, weil dein Neffe Johannes dich anstelle meiner als Mutter annehmen und dir an meiner Stelle Trost, Hilfe und Rat geben wird. (MLnhd, V. 7530–7535)¹⁸
17 ML, V. 7461–7477: waz sol dîn armiu muoter tuon? / wer so mir an dîner stat / geben trôst, helfe unde rât? […] verweist alles trôstes ich belîbe, / wand der reine und ouch der guote / Jôsep den du mir ze huote / gaebe, daz er mîner kiusche waere / hüeter unde kameraere, / der ist leider ouch nu tôt / und du mit grôzer jâmers nôt, / vil liebez kint, von mir scheidest / und den bittern tôt du lîdest. 18 ML, V. 7530–7535: süeziu muoter, maget reine, / ich enlâz dich niht al eine, / wand dîn neve Johan vür mich / sol ze einer muoter dich / haben und an mîner stat / dir geben trôst, helf unde rât.
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An Johannes gerichtet, fordert er ein, Maria solle dessen Mutter und Herrin bzw. Frau sein:¹⁹ Johannes, mein geschätzter Jünger, lass du dir nun meine Mutter in deine Obhut geben. Sie soll deine Mutter und wie deine Frau sein, du sollst ihr Sohn sein; um meiner Liebe willen sollst du das tun. (MLnhd, V. 7538–7543)²⁰
Im Mittelhochdeutschen heißt es hier und auch anderer Stelle (vgl. ML, V. 7559) vrouwe. Mit diesem Wort ist klassischerweise die ‚Herrin‘ adressiert.Vielleicht kann ‚vrouwe‘ hier aber schon mit ‚Frau, Ehefrau‘²¹ übersetzt werden. Sicherlich schwingt hier mit, dass Maria nach Jesu Tod, Auferstehung und Himmelfahrt zum maßgeblichen Zentrum der Gemeinde wird. Sie vertritt mithin den ‚Herrn‘. Da beginnt nun Johannes seinerseits heftig zu weinen, er verspricht Maria in Obhut zu nehmen: „Ich will gerne ihr Diener sein und sie beschützen wie meine eigene Mutter. Ich will ihr alles Vertrauen entgegenbringen und sie ehren wie meine eigene Frau“²² (MLnhd, V. 7556–7559). Wenn man sich die entsprechende Passage im Johannesevangelium vor Augen führt – Io 19,26 f. –, wird der Überschuss deutlich, der in Bruder Philipps Fassung für Irritation sorgt. Beim Evangelisten Johannes heißt es: „Frau, siehe, dein Sohn! Hierauf sagt er zum Jünger: Siehe, deine Mutter!“²³ Es findet sich hier kein Hinweis darauf, dass Johannes Maria wie die eigene Frau/ Herrin ehren wolle. Eine Ratio für die denkwürdige Erweiterung bei Bruder Philipp könnte sein, dass er Johannes die Rolle von Sohn und Mann/Hüter angedeihen lässt und Maria die Rolle der Mutter und der eigenen Frau, die es zu behüten gilt, zugeschrieben wird. Johannes unter dem Kreuz übernimmt bei Bruder Philipp damit die Rollen von Jesus, dem Sohn, und Josef, dem Mann, wenn er Maria wie die eigene Frau zu ehren verspricht. Maria hatte unter dem Kreuz den Verlust von Mann und Sohn beklagt. Die hier vorgeschlagene Lesart, Maria solle Mutter und Frau sein und
19 Vita, V. 5267, ist nur von der Mutter die Rede. 20 ML, V. 7538–7543: Johannes, lieber junger mîn, / du lâ dir nu bevolhen sîn / mîn muoter ûf dîne triuwe. / sî sol dîn muoter und dîn vrouwe / wesen, dû solt sîn ir sun; / durch mîne lieb solt du daz tuon. 21 Georg Friedrich Benecke, Wilhelm Müller, Friedrich Zarncke: Mittelhochdeutsches Wörterbuch. Bd. III. Stuttgart 1990, Sp. 423b: „noch bleibt zu untersuchen, in wie weit vrouwe im zwölften und dreizehnten jahrhundert auch die frau des mannes, die ehefrau (wîp, kone) bezeichnet […] später ist dieser gebrauch ohne zweifel zulässig.“ 22 ML, V. 7556–7559: ich wil gerne ir diener sîn / und gehalten sam die muoter mîn. / ich wil ir zeigen alle triuwe / und êren sî sam mîne vrouwen. – In der Vita rhythmica fehlt in diesem Zusammenhang die Erwähnung der Mutter, V. 5273 ist aber von der domina die Rede, die Johannes zu ehren verspricht. 23 Mulier ecce filius tuus. Deinde dicit discipulo: Ecce mater tua. Zitiert nach: Biblia Sacra Vulgata. Hrsg. von Robert Weber, Roger Gryson. 5. Aufl. Stuttgart 1969, 2007.
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damit Johannes Sohn und Mann, greift diesen doppelten Verlust auf, ja gründet in der zweifachen Klage Marias um Mann und Sohn. Die familialen Verhältnisse werden, so scheint es, restituiert, alles bleibt so wie es war. Die Figur des Johannes lässt sich, wenn man so will, als eine Figur des Dritten beschreiben, in der Gegensätze, hier die sozialen Zuschreibungen Mann und Sohn, aufgehoben sind. Sind die Entscheidensszenen, die wir bislang kennengelernt haben, durch ein EntwederOder gekennzeichnet, ist die Lage unter dem Kreuz zusätzlich durch ein WederNoch geprägt. Weder steht zukünftig der Mann zum Trost zur Verfügung, noch der am Kreuz sterbende Sohn. Die Alternative, die Maria in ihrer Klage ausmalt, ist in beiden Fällen eine Option zum Tode hin. Wiederholt bittet sie ihren Sohn am Kreuz, mit ihm sterben zu dürfen (ML, V. 7495, 7501). Dessen Antwort ist Schweigen. Daraufhin eröffnet Maria die Alternative der Selbsttötung (ML, V. 7508). Es bedarf hier einer Positionierung, einer Entscheidung, um der ausweglosen Situation zu entkommen. Soll sie auf das Erbarmen ihres Sohnes setzen, der schweigt, soll sie sich umbringen? Eine dritte Option ist aus Marias Perspektive nicht in Sicht. Gibt er ihrer Bitte statt, mit ihm sterben zu dürfen, oder muss sie selbst Hand an sich legen? Die Konstellation, die hier der Entscheidung zugrunde liegt, gestaltet sich als äußerst komplex. Marias Handlungsproblem ist zugleich das ihres sterbenden Sohnes, insofern er zur Entscheidung angerufen wird. Er wird zum Schiedsrichter und ist zugleich Betroffener. Jesu Verfügung vom Kreuz ignoriert die von Maria ins Spiel gebrachten Alternativen, indem sie die Kompromissfigur des Dritten einführt, der Mann und Sohn zugleich vertritt. Der verfügte Kompromiss, der für Maria eine Anwesenheit von Mann und Sohn auch nach deren Tod durch Stellvertretung sicherstellt, bedeutet deren Verzicht auf den Wunsch, (mit Jesus) zu sterben. Jesu Verfügung am Kreuz muss man schließlich als ‚suboptimale‘ Lösung werten, insofern Johannes Mann und Sohn für Maria nur ersetzen kann.
IV Mariologisches Dilemma – Verähnlichung als Kompromissfigur Wenn in Bruder Philipps Marienleben entschieden wird, wenn Handlungsprobleme qua Entscheidung bewältigt werden müssen, greift das Erzählen in auffälliger Weise auf von außen initiierte göttliche Kompromisse zurück. Ja, Episoden wie die Flucht nach Ägypten werden derart dilemmatisiert, dass hier das Entscheiden und die Kompromissbildung sich gegen alle handlungslogische Notwendigkeit verselbstständigen. Buchstäblich lebensentscheidende Konstellationen sind von Kompromissen geprägt. Die erzählten Kompromisse stehen in einem konstellativen Zusammenhang, der bei aller erzählerischen Biographisierung des Marienlebens,
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auf die man in der Forschung Bruder Philipps Ansinnen gerne reduziert, eine bedeutungsstiftende Kohärenz eigenen Rechts begründet. Mit anderen Worten: Der Vita Mariens wird die göttlich verfügte Konfliktlösungsfigur des Kompromisses eingeschrieben. Und so wundert es nicht, dass auch das grundlegende mariologische Problem des Textes nach einer Kompromisslösung sucht. Das Marienleben Bruder Philipps arbeitet sich stillschweigend an dem mariologischen Dilemma ab, wie diejenige, die der Reinigung bedarf, ihrerseits zugleich als Erlöserin Geltung beanspruchen kann. Inwiefern ist sie Erlöserin? Ist damit ihre Rolle als mediatrix gemeint, die ihr der Heilige Geist nach der Himmelfahrt zuschreibt? Worum du, Herrin, mich bittest, das werde ich Dir gewähren. Gerne werde ich mich all der Menschen erbarmen, die dich anrufen, preisen und zugleich ehren und sich deinem Dienst auch zuwenden. Ihre Sünden will ich ihnen vergeben und ihnen das ewige Leben schenken. (MLnhd, V. 10054–10061)²⁴
Erschöpft sich die Anrede als Erlöserin, die sich wiederholt im Marienleben Bruder Philipps findet, in der Funktion Marias als Fürsprecherin? Oder ist sie mehr? Und wie kann dieses dogmatisch heikle, aber offenbar denkbare Mehr in Szene gesetzt werden? Das Marienleben beantwortet diese Frage, indem es Maria Christus angleicht. Diese Angleichung erfolgt bereits auf körperlicher Ebene.Vergleicht man die Schönheitsbeschreibungen der beiden Akteure, stellt man fest, dass beide über ein gemeinsames Merkmal verfügen, das die physische Attraktivität von Mutter und Sohn steigert. Ihr Kinn war rundlich, ohne eine Form von Unregelmäßigkeit. Mittendrin zog sich ein Grübchen durch das Kinn, wodurch sein Reiz umso grösser war, ja das ganze Antlitz schöner aussah. (MLnhd, V. 862–867)²⁵ Sein Kinn war überdies rund, schön, ohne irgendeinen Makel, und in der Mitte hatte das Kinn ein Grübchen, wovon seine Wirkung noch viel größer war, auch das Antlitz sah zudem besser aus. (MLnhd, V. 5046–5051)²⁶
Diese Ähnlichkeit könnte man immerhin noch als Ausdruck verwandtschaftlicher Nähe begreifen. Doch darüber hinaus tritt Maria in die Fußstapfen ihres Sohnes.
24 ML, V. 10054–10061: des du, vrouwe, bitest mich, / des wil ich gewern dich. / gern wil ich erbarmen mich / über al die liute die dich / an ruofent, lobent und ouch êrent / und ze dînem dienste ouch kêrent. / ir sünde will ich in vergeben / und geben in daz êwege leben. 25 ML, V. 862–867: ir kinne daz was sinewel / schoene ân aller slahte meil. / mitten gie ein grüebelîn / durch daz kinne, dâ von sîn / gezierde deste groezer was, / daz antlütze stuont ouch deste baz. 26 ML, V. 5046–5051: sîn kinne was ouch sinewel, / schoene ân aller slahte meil, / und mitten het ein grüebelîn / daz kinne dâ von diu ziere sîn / vil dester groezer was / daz antlütz stuont ouch dester baz.
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Bruno Quast
Nachdem dieser gestorben und in den Himmel aufgefahren ist, erst jetzt, ist sie es, die in Jerusalem Wunder bewirkt. Sie lebt dort wie eine Eremitin in einem mit einem Schloss zugesperrten Zimmer nach monastischer Regel. Ein Mann namens Dionysius sucht sie auf, schaut zum Fenster hinein und gewahrt Lichtglanz und süßen Duft (ML,V. 8910–8919). Engel setzen Maria eine Krone auf. Dies kann man in typologischer Hinsicht als Ankündigung ihrer Krönung im Himmel nach der Himmelfahrt verstehen. Es bedeutet aber mehr, sie ist bereits jetzt der Vollendung teilhaftig. Der süße Duft ist Ausdruck ihrer Heiligkeit zu Lebzeiten. In ihrer makellosen Lebensweise, die nicht zufällig an ihre Zeit als Jungfrau im Tempel erinnert, zeichnet sie sich durch große Heiligkeit aus (ML,V. 8421). Johannes, der sich um sie gekümmert hat, ist nach Asien (ML, V. 8986) zur Mission aufgebrochen. Maria wird der Obhut des Jakobus übergeben, des Sohnes ihrer Schwester, von dem berichtet wird, dass er in Bezug auf sein liebevolles Antlitz Jesus ähnlich war (ML, V. 8995–8997, V. 9126–9130). Auch hier wird Ähnlichkeit hergestellt, wird an die Verbindung von Maria und ihrem Sohn während des öffentlichen Wirkens Jesu erinnert, das sich im Marienleben Philipps im Wesentlichen auf eine Aneinanderreihung von Göttlichkeit demonstrierenden Wundern beschränkt (ML, V. 5372– 6069). Nur dass die Rollen jetzt vertauscht sind, es nun Maria ist, die an denjenigen, die sie aufsuchen, Wunder bewirkt, wie sie zuvor von Jesus erzählt werden. „Es wurde auch mancher Mensch durch sie von schwerer Krankheit erlöst, wenn er zu ihr gelangen konnte, weil sie große Wunder vollbrachte, solange sie auf Erden war“²⁷ (MLnhd, V. 9001–9005). Sie erweckt drei Tote, heilt Aussätzige, macht die Blinden sehend, die Tauben hörend, die Stummen sprechend, heilt die von den Teufeln Besessenen. In der Vita rhythmica, der Vorlage, gehen die Wunder Marias auf Jesus zurück, der durch sie wirkt (vgl.Vita,V. 6742–6905, hier V. 6743: que dominus per ipsam ostendebat). Anders das Marienleben Philipps: Hier wirkt allein Maria. Das Marienleben sucht angesichts des mariologischen Dilemmas eine Kompromisslösung und findet sie in der Verähnlichung,²⁸ die als eine Praktik beschrieben werden kann, Differenz einzuebnen. Wichtig dabei: Die Differenz wird nicht ganz und gar aufgehoben. Was sich ähnlich sieht, bleibt in seiner Verschiedenheit bestehen. Verähnlichung kann als Kompromissfigur gedacht werden, die den Raum zwischen dem Unterschiedenen, zwischen der Gottheit Christi und der Menschheit Mariens, ausfüllt, die ein Gemeinsames bedeutet bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung der Differenz. Die Strategie der Verähnlichung setzt dabei ziel27 ML, V. 9001–9005: ouch manic mensche wart erlôst / von ir vor grôzem siechtuome, / als er mohte zu ir kumen, / wand sî grôziu zeichen tete / die wîl sî was ûf erden staete: 28 Kulturwissenschaftliche Perspektiven auf Ähnlichkeit eröffnet der programmatische Sammelband von Anil Bhatti, Dorothee Kimmich (Hrsg.): Ähnlichkeit. Ein kulturtheoretisches Paradigma. Konstanz 2015.
Heilige Kompromisse
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führend auf eine epistemische Unschärfe: Die Differenz zwischen Gottheit und Menschheit verschwimmt. Zumindest fällt es schwer, im Akt der Verähnlichung Unterscheidungen vorzunehmen, zwischen Hinsichten der Ähnlichkeit zu differenzieren. Auf diese Unschärfe strebt die Profilierung der Marienfigur bei Bruder Philipp zu. Die Pole indes, die einander angenähert werden, sind zugleich deutlich markiert, Christus bleibt Gott und Maria Mensch. Das Erzählen muss sich offenbar entscheiden: Stellt es die Erlöserin in den Vordergrund oder den erlösungsbedürftigen Menschen? Nach allem, was wir bislang beobachten konnten, liegt eine gewisse Konsequenz darin, dass es in der offensiven Verähnlichung von Christus und Maria den Kompromiss wählt. Und dieser Kompromiss manifestiert sich in einer Heiligkeit besonderer Dignität. Schon im Mutterleib wird Maria gewissermaßen proaktiv einer Heiligung unterzogen, indem sie von der Erbsünde befreit wird. Passivische Heiligung durch den Heiligen Geist im Mutterleib und aktive Heiligkeit, die an ihre tadellose Lebensweise gebunden ist, verbinden sich in Maria auf singuläre Weise. Wenn ihr schon zu Lebzeiten die Krone aufgesetzt wird, ist sie als Mensch bereits die himmlisch Vollendete, die in Zukunft neben ihrem Sohn im Himmel Platz nehmen wird. Als Vollendete aber bleibt sie, solange sie lebt und den physischen Bedingungen unterworfen ist, unvollendet. In Marias spezifischer Heiligkeit manifestiert sich die Kompromissfigur einer Verähnlichung auf dem Hintergrund kategorialer Verschiedenheit. Um den Bogen zum Anfang zu schlagen: Wie man für den Erlöser Jesus Christus eine Kompromissformel gefunden hat, die den Naturen der Gottheit und der Menschheit Geltung verschafft, ist in Philipps Marienleben Maria in ihrer spezifischen Heiligkeit zweifelsfrei als kongeniale Kompromissfigur angelegt.
Coralie Rippl
Zu spät? Eine komparatistische Studie zu Zeit-Aspekten des Zweifel(n)s bei Konrad von Heimesfurt und in der Brandanlegende I Zweifelzeit Meinen Ausgangspunkt bildet die Frage nach der Zeitlichkeit des Zweifels bzw. des Zweifelns.¹ Ich setze damit am Zweifel als einer Denkfigur, besser gesagt: als einer Erzählfigur an. Denn mich interessiert im Folgenden nicht vorrangig der Zweifel als Motiv, sondern mir geht es um die erzähltechnischen, besonders die zeitlichen Implikationen seines Auftretens in der Literatur des hohen Mittelalters. Ein grundsätzliches Anliegen ist es mir, dabei den Blick zu weiten und hinter deduktive Dichotomisierungen ‚geistlichen‘ oder ‚weltlichen‘ Erzählens zurückzugehen.² Im Fokus stehen damit Werke, deren hybrider Charakter aufgrund ihrer Teilhabe an beiden Sphären und ihrer Thematisierung jener asymmetrischen epochalen Leitdifferenz (geistlich – weltlich) offen zutage liegt und im Fach vielfältig diskutiert wird: Dies gilt, im Blick auf eine lange Forschungstradition, prominent für Texte wie den Gregorius Hartmanns von Aue oder Wolframs von Eschenbach Parzival, aber auch für bibelepisches und legendarisches Erzählen, das gerade in jüngerer Zeit verstärkt in seinem Verhältnis zum ‚Höfischen‘ beleuchtet wird.³ Ausgehend vom Zweifel als Erzählfigur und deren temporalen Implikationen, die ich am Beispiel des ‚Urzweiflers‘ Thomas und seiner biblischen Geschichte entwickle (I), möchte ich kulturelle Inszenierungen von Zweifel und Zweifeln be1 Profitiert haben die vorliegenden Überlegungen insbesondere vom Gespräch mit den Teilnehmer: innen meines Ma-Seminars ‚Gotteszweifel und Willensfreiheit in vormoderner Literatur‘ im FS 2022 an der Universität Zürich, denen hiermit herzlich gedankt sei. 2 Vgl. für dieses Vorgehen das PBB Sonderheft 142,4 (2020), bes. Coralie Rippl, Maximilian Benz, Nina Nowakowski: Idiosynkrasien zwischen Gott und Welt. Zur Einfü hrung. In: PBB Sonderheft 142,4 (2020), S. 463–465. 3 Vgl. bereits Nikolaus Henkel: Religiöses Erzählen um 1200 im Kontext höfischer Literatur. Priester Wernher, Konrad von Fußesbrunnen, Konrad von Heimesfurt. In: Die Vermittlung geistlicher Inhalte im deutschen Mittelalter. Internationales Symposium Roscrea 1994. Hrsg. von Timothy R. Jackson. Tü bingen 1996, S. 1–21; Bruno Quast, Susanne Spreckelmeier (Hrsg.): Inkulturation. Strategien bibelepischen Schreibens in Mittelalter und Frü her Neuzeit. Berlin 2017; Susanne Spreckelmeier: Bibelepisches Erzählen vom Transitus Mariae im Mittelalter. Diskurshistorische Studien. Berlin/Boston 2019; Susanne Köbele, Claudio Notz (Hrsg.): Die Versuchung der schönen Form. Spannungen in ‚Erbauungs‘-Konzepten des Mittelalters. Göttingen 2019. https://doi.org/10.1515/9783110792737-006
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Coralie Rippl
trachten, die Aufschluss geben über die spezifisch historischen Sichtweisen auf dieses Phänomen. Zunächst wird ein Blick auf kulturhistorische Kontexte wie die mittelalterliche Bibelexegese und bildende Kunst geworfen, anhand derer das breite Spektrum zwischen den Polen einer Negativierung und einer Positivierung des Zweifels deutlich wird (II). Danach gehe ich dem narrativen Potential des Zweifel(n)s in mittelalterlichen Texten nach (III–IV): Konrads von Heimesfurt Unser vrouwen hinvart und die Brandanlegende in der lateinischen Navigatio Sancti Brendani sowie der mitteldeutschen und mittelniederländischen Reise-Fassung. In einem Fazit (V) ziehe ich dann die Beobachtungen zusammen und frage gezielt nach der Bedeutung des Zweifels bzw. der Tätigkeit des Zweifelns für das Verständnis hochmittelalterlichen Erzählens, insbesondere mit Blick auf jene „kompromisshafte Struktur“ höfischer Literatur, wie sie prominent Jan-Dirk Müller beschrieben hat.⁴ Der Zweifel ist, zeitlich gesehen, ein Aufschub: Wer zweifelt, ist unschlüssig, entscheidet sich für keine Alternative, er verzögert Eindeutigkeit. Zu zweifeln schiebt also eine Entscheidung, schiebt, narratologisch gesehen, Handlung auf und beansprucht insofern einen zeitlichen Freiraum. Dieses narrative Potential des Zweifels möchte ich in den Blick nehmen. Ich beginne mit der Geschichte des Apostels Thomas, dem Prototyp des Zweiflers. In den Legenda aurea des Jacobus de Voragine heißt es über ihn: qui dixerat, se non credere, nisi videret. Et significant haesitantes in fide – „der gesagt hatte, er glaube nicht, wenn er es nicht sehe, womit die gemeint sind, die im Glauben wanken“.⁵ Thomas ist haesitans in fide, einer derjenigen, die zögern, die eine eindeutige Entscheidung für den Glauben aufschieben – das mittellateinische haesitare wird synonym gebraucht zu dubitare und betont den zeitlichen Aspekt, um den es mir geht: Zweifeln heißt hier nicht, nicht zu glauben, sondern noch nicht zu glauben. Noch deutlicher wird die spezifische Temporalität des Zweifelns anhand der Thomasgeschichte nach dem Johannesevangelium:
4 Jan-Dirk Müller: Höfische Kompromisse. Acht Kapitel zur höfischen Epik. Tü bingen 2007, S. 4. Vgl. grundlegend die Arbeiten von Christiane Witthöft, programmatisch zum produktiven Potential des Zweifels in der höfischen Epik dies.: Zweifel, Skeptizismus und das Dilemma der Wahrheitsfindung in der höfischen Epik des Mittelalters. Skizze eines Forschungsfeldes. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 62 (2021), S. 33–66; zuletzt dies.: Zur Ideengeschichte eines höfischen Skeptizismus: Petitcreiu und der literarische Zweifel im ‚Tristan‘ Gottfrieds von Straßburg. In: Nach der Kulturgeschichte. Perspektiven einer neuen Ideen- und Sozialgeschichte der deutschen Literatur. Hrsg. von Maximilian Benz, Gideon Stiening. Berlin 2022, S. 125–157; dies.: Einleitung in diesem Band, S. 10 f. 5 LA LIV (De resurrectione domini), 240, zitiert nach Jacobus de Voragine: Legenda aurea. Goldene Legende. Jacopo da Varazze Legendae Sanctorum. Legenden der Heiligen. Einleitung, Edition, Übersetzung und Kommentar von Bruno W. Häuptli. Freiburg i.Br. 2014, S. 752 f.
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Thomas autem unus ex duodecim qui dicitur Didymus non erat cum eis quando venit Iesus; dixerunt ergo ei alii discipuli vidimus Dominum ille autem dixit eis nisi videro in manibus eius figuram clavorum et mittam digitum meum in locum clavorum et mittam manum meam in latus eius non credam; et post dies octo iterum erant discipuli eius intus et Thomas cum eis venit Iesus ianuis clausis et stetit in medio et dixit pax vobis; deinde dicit Thomae infer digitum tuum huc et vide manus meas et adfer manum tuam et mitte in latus meum et noli esse incredulus sed fidelis; respondit Thomas et dixit ei Dominus meus et Deus meus; dicit ei Iesus quia vidisti me credidisti beati qui non viderunt et crediderunt Thomas aber, der Zwilling genannt wird, einer der Zwölf, war nicht bei ihnen, als Jesus kam. Da sagten die andern Jünger zu ihm: Wir haben den Herrn gesehen. Er aber sprach zu ihnen: Wenn ich nicht in seinen Händen die Nägelmale sehe und meinen Finger in die Nägelmale lege und meine Hand in seine Seite lege, kann ich’s nicht glauben. Und nach acht Tagen waren seine Jünger abermals drinnen versammelt und Thomas war bei ihnen. Kommt Jesus, als die Türen verschlossen waren, und tritt mitten unter sie und spricht: Friede sei mit euch! Danach spricht er zu Thomas: Reiche deinen Finger her und sieh meine Hände, und reiche deine Hand her und lege sie in meine Seite, und sei nicht ungläubig, sondern gläubig! Thomas antwortete und sprach zu ihm: Mein Herr und mein Gott! Spricht Jesus zu ihm: Weil du mich gesehen hast, Thomas, darum glaubst du. Selig sind, die nicht sehen und doch glauben! [Hervorhebungen C.R.]⁶
Der Name Thomas bedeutet im Aramäischen ‚Zwilling‘ oder ‚Zweigeteilter‘, in der griechischen Übersetzung bekam Thomas deshalb den Beinamen ‚Didymus‘, etymologisch ist Thomas also von allem Anfang an der, der die Zweiheit, die Unentschiedenheit schon im Namen trägt.⁷ Hieronymus legte den Namen Thomas in De nominibus hebraicis als ‚Abgrund‘ (abyssus) aus.⁸ Es ist Beda Venerabilis, der die beiden Auslegungstraditionen in einen Zusammenhang bringt: „Thomas, Bede said, experienced two abysses, one of ignorance and stupidity, the other of profound understanding; and he journeyed from one to the other.“⁹ Thomas habe zwei Abgründe erlebt, einen der Ignoranz und einen der Erkenntnis; und Thomas sei von einem zum anderen gereist. Ich komme auf die Signifikanz der Wegstruktur, die Beda für die Thomasgeschichte hier namensetymologisch ausstellt, zurück.¹⁰ Thomas ist nicht da, als den versammelten Jüngern der auferstandene Jesus erscheint; als sie ihm davon erzählen, will er nicht glauben, bevor er selbst Jesus gesehen und seine Kreuzesmale berührt hat. In der Folge bewirkt der Zweifel, hier 6 Biblia Sacra Vulgata Joh 20,24–28, Übersetzung zitiert nach der Lutherbibel 1984. 7 Vgl. Alexander Murray: Doubting Thomas in Medieval Exegesis and Art. With prefaces by Letizia Ermini Pani and Lester K. Little, an introduction by David D’Avray and a bio-bibliography of the author. Rom 2006, S. 46. 8 Vgl. ebd., S. 43. 9 Ebd., S. 48. 10 Diese ist auch für Murrays Zeichnung des Thomas als „the human being“ relevant, vgl. ebd, S. 46– 48, Zitat S. 46.
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als Aufschub des Glaubens, die Doppelung des Erzählten, narratologisch gesprochen: Er generiert Erzählzeit. Denn Jesus erscheint noch einmal (iterum) im Kreis der Jünger, diesmal offenbart er sich exklusiv dem einen (unus ex duodecim): Dessen Prozess vom Zweifel hin zum Glauben mittels Gotteserkenntnis steht im Fokus. Auffällig ist dabei die Ambivalenz von Belohnung und Bestrafung des Zweifels: Der Exklusivität der Gnade einerseits, die in der maximalen Nähe zum Göttlichen, in der Berührung Gottes besteht, scheint der Verweis Jesu gleichsam strafend zur Seite gestellt, der die Glaubensverspätung in Rechnung stellt (beati qui non viderunt et crediderunt – „selig sind, die nicht sehen und doch glauben“). Hier scheint der Zweifel des Thomas im Sinne einer kritischen Evidenzversessenheit abgemahnt – Glaube übersteigt jede Evidenz.¹¹ Diese gegensätzlichen Tendenzen einer Positivierung und einer Negativierung des Zweifels spiegeln sich in den ambivalenten Traditionen der mittelalterlichen Exegese: Wie Alexander Murray auf breiter Quellenbasis erarbeitet hat, stellt sich die mittelalterliche Wahrnehmung des zweifelnden Thomas als Spektrum unterschiedlicher und vielfach divergenter Aspekte dar.¹² Thomas wurde, im Positiven, als Vorbild für den kritischen Denker gesehen, wobei die Überzeugung des Zweiflers zum Gläubigen, seine Gotteserkenntnis („Mein Herr und mein Gott“) ihn zum optimus theologus machte, zum Auserwählten, der den Glauben in besonderer Weise förderte. Mit diesem Bild konvergiert etwa die apokryphe Thomasvita der Thomasakten, die ihn bis nach Indien gelangen und dort als Missionar den christlichen Glauben verbreiten lässt.¹³ Auf der anderen Seite konnte Thomas auch als Exempel des drohenden Abfalls vom Glauben interpretiert werden, als Warnung vor dieser Gefahr und Medium der Erbauung zum bedingungslosen Glauben.¹⁴ Eine krasse Ausformung dieser Negativierung von Zweifel ist die apokryphe Geschichte der obstetrices, der Hebammen bei Jesu Geburt, die nach dem Muster der Thomasgeschichte gebildet ist; sie wird zuerst im griechischen Protevangelium Iacobi erzählt und begegnet etwa auch in Konrads von Fußesbrunnen Kindheit Jesu ¹⁵: Hier kommt die Rolle der Zweiflerin der Hebamme Salome zu, welche später als ihre Kollegin bei Maria eintrifft, die soeben das Jesuskind geboren hat. Die erste Heb-
11 Hans-Georg Gradl: Glaubwürdiger Zweifel. Neutestamentliche Portraits. In: Glaube und Zweifel. Das Dilemma des Menschseins. Hrsg. von dems. [u. a.]. Würzburg 2016, S. 55–93; hier S. 82 f. 12 Murray (Anm. 7). 13 Vgl. ebd., S. 43–46. 14 Vgl. ebd., S. 27 f. 15 Konrad von Fußesbrunnen: Die Kindheit Jesu. Kritische Ausgabe von Hans Fromm, Klaus Grubmüller. Berlin/New York 1973; unter anderem Aspekt zu dieser Szene Gerd Dicke: Jesu erstes Wunder? Die Apokryphen-Anleihen des Österreichischen Bibelübersetzers, die ‚Infantia Salvatoris‘ und die kanonische Disziplinierung der deutschen Bibel. In: ZfdA 150 (2021), S. 143–219.
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amme erzählt von der wunderbaren Geburt und der Jungfräulichkeit der Mutter, von der sie sich bei der Untersuchung soeben überzeugt habe. Salome aber, weibliches Pendant des Thomas, sagt, das glaube sie nicht, bevor sie Maria nicht selbst, mit eigenen Händen, untersucht habe: „Und Salome sagte: ‚So wahr der Herr, mein Gott, lebt: Wenn ich nicht meinen Finger hinlege und ihren Zustand untersuche, werde ich nicht glauben, daß eine Jungfrau geboren hat.‘“¹⁶ Die Aussage Salomes zitiert bis in den Wortlaut hinein die biblische Rede des Thomas (Joh 20,25) und scheint dem gleichen kritischen Evidenzbedürfnis geschuldet.¹⁷ Als die Gottesmutter die Untersuchung gestattet, verdorrt Salomes Hand bei der Berührung, und erst auf das reuige Flehen der Gepeinigten hin heilt sie der Jesusknabe. Der Versuch göttlicher Berührung endet mit der Versehrung des menschlichen Körpers, eine drastische Körperstrafe als Warnung vor Zweifel.¹⁸ Für Thomas scheint das Ganze dagegen sehr viel positiver auszugehen, denn trotz Vorbehalt ist er als Zweifler der Auserwählte, dem die göttliche Offenbarung geschenkt wird.¹⁹
16 Dt. Übersetzung zitiert nach der Ausgabe Evangelia Infantiae Apocrypha: Apokryphe Kindheitsevangelien. Übersetzt und eingeleitet von Gerhard Schneider. Freiburg i.Br. 1995, S. 131 f. Bei Konrad von Fußesbrunnen ist die Referenz nicht mehr so deutlich, aber dennoch erkennbar: ditze hôrt Salomê unt sprach: / „du enweist, liebiu, waz du seist, / vil sêre wider den gelouben reist: / solhiu dinc unmuglîch sint.“ (V. 882–885). 17 Vgl. Bruno Quast: Ereignis und Erzählung. Narrative Strategien der Darstellung des Nichtdarstellbaren im Mittelalter am Beispiel der virginitas in partu. In: ZfdPh 125 (2006), S. 29–46, hier S. 34. 18 Die Geschichte ist ein narrativer Beleg für das Dogma der jungfräulichen Geburt, vgl. dazu Quast (Anm. 17), genauso, wie die Thomasgeschichte narrativer Beweis von Jesu Auferstehung ist. 19 Eine genderspezifische Betrachtung des Zweifels wäre hier zu erwägen, etwa unter Berücksichtigung weiterer biblischer und apokrypher Zweifler:innen wie Maria bei der Verkündigung und parallel-kontrastiv Zacharias bei der Verkündigung der Geburt Johannes’ des Täufers (Lk 1,11–20, Parallelen von Jesus- und Johannes-Geburt: Lk 1,5–2,21, Mk 1,2–15) – dieselbe Nachfrage als momentan ungläubige Reaktion auf das Verkündete wird bei Zacharias mit Stummheit körperlich bestraft, während sie für Maria folgenlos bleibt. Maria Magdalena darf den Auferstandenen trotz ihres unbedingten Glaubens nicht berühren (Noli me tangere, Joh 20,17), während der Zweifler Thomas das darf. Bezeichnenderweise folgen die beiden Szenen im Johannesevangelium aufeinander, womit sich für die Wahrnehmungsform des Berührens ein Kontrast zwischen Maria Magdalena und Thomas abzeichnet, vgl. zu den epistemischen Kategorien von Sehen, Hören und Berühren Glenn W. Most: Doubting Thomas. Cambridge/London 2005. Von Judas schließlich, dem Verräter und nicht nur Zweifler, sondern dem rettungslos Verzweifelten, lässt sich Jesus gar küssen.
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II Gott berühren Genau diese Ambivalenz der Thomasfigur hat auch die bildende Kunst immer wieder zum Ausdruck gebracht:²⁰ Es gibt Darstellungen, die bestimmt sind von dem Privileg absoluter Nähe zum Göttlichen, wie etwa ein Detail aus dem Salzburger Perikopenbuch (Abb. 1) zeigt: Die Figuren des Thomas und Jesus sind hier geradezu als kompositorische Einheit dargestellt, was durch den direkten Blickkontakt, die Thomas gewissermaßen einschließende Armhaltung Christi und die eine Kreisform bildende Bewegungsrichtung der jeweils ausgestreckten rechten Arme Jesu und Thomas’ noch betont wird. Die Faszination für die Berührung des Göttlichen lässt sich nicht von der Hand weisen, ersichtlich wird sie insbesondere anhand von Beispielen, die diese Berührung mit großer Intensität ins Bild setzen. So führt auf dem Pluviale von Syon (Abb. 2), einer Textilarbeit, Jesus die Hand des Thomas, die mit zwei Fingern in der Seitenwunde steckt. Das Ganze ist noch steigerbar bis hin fast zu einer ‚Einverleibung‘, wie sie auf dem Thomasaltar der Kölner Kartause (Abb. 3) sichtbar wird, wo praktisch die ganze Hand des Thomas in der Wunde verschwindet. Durchgehend scheinen der intensive Blickkontakt sowie die räumliche Anordnung des Figurenpaars in absoluter körperlicher Nähe Stilmittel zu sein um die besondere Beziehung des ungläubigen Thomas zu Christus auszudrücken.
III Konrad von Heimesfurt, Unser vrouwen hinvart Nach dieser kurzen Skizze des kulturhistorischen Kontextes möchte ich nun auf ausgewählte mittelalterliche Erzählungen blicken, die sich dem Thema des Zweifelns anhand von Figurationen des Urzweiflers Thomas widmen. Den Anfang macht Konrad von Heimesfurt, vermutlich ein Ministeriale, der wohl im Umkreis des Eichstätter Bischofshofs zu verorten ist, wo er um 1200 für ein illiterates, des Latein unkundiges Publikum zwei Erzählungen apokrypher Stoffe anfertigte (Urstende,
20 Eine Zusammenstellung der Bildzeugnisse zum ungläubigen Thomas bei Murray (Anm. 7). Es spielen hier natürlich unterschiedliche Darstellungskonventionen zu verschiedenen Zeiten eine Rolle. So hat etwa die intensive Körperlichkeit des Kölner Thomasaltars sicherlich mit der spätmittelalterlichen devotio moderna zu tun. Dennoch scheint mir bemerkenswert, dass auch angesichts der Unterschiede in Bezug auf die Berührungsintensität Darstellungsmerkmale wie die Einheit der Figuren und des Blicks vom Beispiel des 11. Jahrhunderts bis zu den jüngeren Bildbeispielen hin konstant bleiben. Vgl. zum Thema auch Berndt Hamm: „Gott berü hren“: Mystische Erfahrung im ausgehenden Mittelalter. Zugleich ein Beitrag zur Klärung des Mystikbegriffs. In: Gottes Nähe unmittelbar erfahren. Mystik im Mittelalter und bei Martin Luther. Hrsg. von dems., Volker Leppin. Tü bingen 2007, S. 111–139.
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Abb. 1: Detail aus dem Salzburger Perikopenbuch, Mitte 11. Jahrhundert. München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 15713, fol. 29v.
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Abb. 2: Detail des Syon Pluviale, ca. 1300–1320. Kloster Syon, Middlesex. London, Victoria and Albert Museum.
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Abb. 3: Meister des Bartholomäus-Altars: Thomas-Altar der Kölner Kartause, Mittelbild: Christus erscheint dem ungläubigen Thomas, umgeben von den Heiligen Helena, Hieronymus, Ambrosius und Magdalena, 1481. Köln, Wallraf-Richartz-Museum & Fondation Corboud (WRM 0179). Foto: © Rheinisches Bildarchiv Köln, rba_c001508 (https://www.kulturelles-erbe-koeln.de/documents/obj/05022099).
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Unser vrouwen hinvart), die jeweils als die ersten selbständigen Übertragungen dieser Apokryphen ins Deutsche gelten können.²¹ Ein Beispiel für die eigenständige Erzählweise Konrads ist die Thomasepisode in Unser vrouwen hinvart, die sich nicht in der lateinischen Hauptquelle, dem pseudo-melitonischen Transitus findet. Diese Episode ist, wie Pro- und Epilog des Werkes, nicht konstant überliefert, sondern wurde „in den beiden Hinvart-Hss. C und E fortgelassen“.²² Laut Hoffmann liege „[d]ie literarhistorische Bedeutung der ‚Hinvart‘ […] u. a. darin, daß sie das einzige größere Werk der mhd. höfischen Literatur um 1200 ist, das ausschließlich Maria gewidmet ist.“²³ Dass die Hinvart im Zuge dessen auch eine Dichtung über die Apostel ist, muss zunächst wenig verwundern.²⁴ So sieht auch Hoffmann Konrads Bearbeitung der Thomasepisode in Zusammenhang stehen mit der von ihm konstatierten Tendenz „eine[r] lebendigere[n] und plastischere[n] Charakterisierung der Individualität der einzelnen Apostel: […] Thomas wird als der notorische Zu-Spät-Kommer gezeichnet, der trotzdem durch Gottes Gnade den anderen bevorzugt wird“.²⁵ Allein die Quantität der auf Thomas bezogenen Erweiterung der Erzählung bei Konrad im Vergleich zu eher kurzen Zusätzen, die der Charakterisierung anderer Apostel dienen, weist jedoch bereits auf ein über diese allgemeine Beobachtung hinausgehendes Interesse Konrads an Thomas als besonderem Zeugen von Mariens Assumptio hin. Es ist also durchaus spezifisch, dass Konrad vor allem dem Apostel Thomas, dem Zweifler, eine Bühne bietet und ihn, diesen Zweifel positivierend, über die anderen triumphieren lässt.²⁶ Die biblische Thomasgeschichte findet in Konrads Erzählung von Mariens Himmelfahrt ihre (vorbehaltlose) Erfüllung. 21 Vgl. Werner J. Hoffmann: Konrad von Heimesfurt. Untersuchungen zu Quellen, Überlieferung und Wirkung seiner beiden Werke ‚Unser vrouwen hinvart‘ und ‚Urstende‘. Wiesbaden 2000, S. 5 f. 22 Vgl. Konrad von Heimesfurt: ‚Unser vrouwen hinvart‘ und ‚Diu urstende‘. Mit Verwendung der Vorarbeiten von Werner Fechter hrsg. von Kurt Gärtner, Werner J. Hoffmann. Tü bingen 1989 (ATB 99), Einleitung, S. XXI; die Thomasepisode war „in der Forschung lange umstritten[]“ (ebd., S. XX). 23 Hoffmann (Anm. 21), S. 84. 24 Bereits Otto Schlisske: Die Apostel in der deutschen Dichtung des Mittelalters. Münster 1931, S. 53, stellt besonders für Mariendichtungen „Ansätze zu einer anschaulichen Gestaltung der Apostel“ fest, wo „die Zwölf zueinander in lebhaftere Beziehung gesetzt werden“, zitiert nach Hoffmann (Anm. 21), S. 83, Anm. 160. 25 Hoffmann (Anm. 21), S. 83. 26 Unter dem Aspekt der Emanzipation einer Nebenfigur und ihrer Vita mittels kunstvoll narrativ umgesetzter Mehrsträngigkeit ist die Thomasepisode aus Konrads Unser vrouwen hinvart in meiner Habilitationsschrift behandelt: Coralie Rippl: Gleichzeitigkeit, Iteration, Doppelung. Zeitwahrnehmung in höfischem und religiösem Erzählen um 1200. Habil. masch. Universität Zürich 2022. Komparatistisch wird Thomas im Kontext weiterer Beispiele wie des Joseph von Arimathia aus Konrads Urstende oder des rechten Schächers aus der Kindheit Jesu Konrads von Fußesbrunnen untersucht: Ist die Bezeugung transzendenten Wirkens der Ausgangspunkt, in diese Figuren nar-
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Wie zur Erscheinung des auferstandenen Christus (Joh 20,24–29) ist Thomas in Konrads Erzählung auch zur Himmelfahrt Mariens nicht anwesend. Diese Episode überliefert als einziger der lateinische Transitus-Bericht des Pseudo-Joseph von Arimathia.²⁷ (§17) Tunc beatissimus Thomas subito ductus est ad montem oliveti et vidit beatissimum corpus petere celum, coepitque clamare et dicere: O mater sancta, mater benedicta, mater immaculata, si inveni gratiam modo, quia video te, laetifica servum tuum per tuam misericordiam, quia ad celum pergis. Tunc zona, qua apostoli corpus sanctissimum praecinxerant, beato Thomae de celo iactata est. Quam accipiens et osculans eam ac deo gratias referens venit iterum in valle Iosaphat. (§18) Invenit omnes apostolos et aliam turbam magnam ibi pectora sua percutientes prae claritate quam viderant. Qui videntes se invicem et osculati, beatus Petrus dixit ad eum: Vere semper durus et incredulus fuisti, quia pro incredulitate tua non placuit deo ut esses nobiscum ad sepeliendam matrem salvatoris. Ille vero percutiens pectus suum dixit: Scio autem et firmiter credo quia malus homo et incredulus semper fui; veniam igitur peto ab omnibus vobis de duritia et incredulitate mea. Et omnes oraverunt pro eo. (§19) Tunc dixit beatus Thomas: Ubi posuistis corpus eius? Qui digito sepulcrum monstraverunt. Ille vero dixit: Non est ibi corpus quod dicitur sanctissimum. Tunc ait beatus Petrus ad eum: Iam alia vice resurrectionem nostri magistri et domini credere noluisti nobis, nisi digitis tuis palpares et videres; quomodo credes nobis ut corpus sanctum hic esset? Adhuc ille affirmat dicens: Non est hic. Tunc quasi irati ad sepulcrum ac- cesserunt, quod in petra erat cavatum novum, tuleruntque lapidem; corpus vero non invenerunt, nesci- entes quid dicerent, quia victi erant sermonibus Thomae. (§20) Deinde beatus Thomas referebat eis quomodo missam cantabat in India; indutus adhuc erat vestimenta sacerdotalia. Verbum dei ille nesciens in monte oliveti ductus erat et vidit sanctissimum corpus beatae Mariae in celum ascendere, et oravit eam ut benedictionem ei daret. Exaudivit deprecationem illius et iactavit illi zonam suam, qua praecincta erat. Et ostendit illam zonam cunctis. (§21) Videntes autem apostoli cingulum quod illi praecinxerant, glorificantes deum veniam petierunt omnes beato Thomae propter benedictionem, quam dedit illi beata Maria et propterea quod vidit corpus sanctissimum celos ascendere. Et benedixit eos beatus Thomas et dixit: Ecce quam bonum et quam iucundum habitare fratres in unum. (Pseudo-Joseph von Arimathia, Transitus, 119,17–121,15)²⁸
rativ zu investieren, so lässt sich regelmäßig beobachten, wie ihnen über diese Funktion hinaus eine Plastizität zuwächst, ihr Handlungsstrang als ihre Geschichte sich verselbständigt und einen Eigenwert entwickelt, der mindestens gleichberechtigt neben demjenigen der Hauptfigur steht. 27 Zu Textgeschichte, Überlieferung und Datierungsfragen vgl. den Forschungsbericht bei Spreckelmeier: Bibelepisches Erzählen (Anm. 3), S. 121–125, bes. S. 124, Anm. 266. 28 „Dann ist der allerseligste Thomas plötzlich zum Ö lberg gefü hrt worden und sah den allerseligsten Leib zum Himmel aufstreben und begann zu rufen und sprach: ‚O heilige Mutter, gebenedeite Mutter, unbefleckte Mutter, wenn ich gerade die Gnade gefunden habe, dass ich dich sehe, erfreue deinen Diener durch deine Barmherzigkeit, da du (ja) zum Himmel strebst.‘ Dann ist der Gü rtel, mit dem die Apostel den allerheiligsten Leib umgü rtet hatten, dem seligen Thomas vom Himmel zugeworfen worden. Wä hrend er diesen empfing und kü sste und Gott dankte, gelangte er wieder in das Tal Josaphat. Dort fand er alle Apostel und eine andere große Menge vor, die sich aufgrund des Strahlenglanzes, den sie gesehen hatten, die Brust schlug. Als sie [die Apostel] einander sahen und
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Aufgrund der vielfältigen Abweichungen Konrads im Vergleich zu diesem Text spricht Susanne Spreckelmeier von einer „Vorlage zumindest struktureller Art“.²⁹ Im Folgenden möchte ich zeigen, dass wesentliche Änderungen, die Konrad vorgenommen hat, auf eine Umakzentuierung der Thomasfigur hindeuten, deren Zentrum eine kategorische Positivierung des Zweifels als charakteristischer Ausdruck des menschlichen intellectus, des freien Willens und der Evidenzbedürftigkeit des Menschen ist. Mittel dieser Umakzentuierung sind historische Semantiken immanenter und transzendenter Zeitlichkeit, welche Konrad in seine narrative Ausformung inseriert. Bereits auf den ersten Blick wird deutlich, dass Konrad in Figurendialoge fasst, was im Transitus des Pseudo-Joseph vom Erzähler berichtet wird. Dies erklärt das gänzlich andere Verfahren bei der Informationsvergabe. Im lateinischen Text wird sich kü ssten, sprach der selige Petrus zu ihm [Thomas]: ‚Du warst wahrlich stets verstockt und unglä ubig, weshalb es Gott wegen deiner Unglä ubigkeit nicht gebilligt hat, dass du bei uns warst, um die Mutter des Erlö sers zu bestatten.‘ Jener aber schlug sich seine Brust und sagte: ‚Ich weiß aber und glaube fest, dass ich ein bö ser und unglä ubiger Mensch war. Also bitte ich euch alle um Entschuldigung fü r meine Verstocktheit und Unglä ubigkeit.‘ Und alle beteten fü r ihn. Darauf sagte der selige Thomas: ‚Wo habt ihr ihren Leib bestattet?‘ Diese zeigten mit dem Finger auf das Grab. Jener aber sagte: ‚Dort ist der Leib, den ihr den allerheiligsten nennt, nicht.‘ Dann sagte der selige Petrus zu ihm: ‚Schon ein anderes Mal wolltest du uns nicht die Auferstehung unseres Meisters und Herrn glauben, wenn du ihn nicht mit deinen Fingern berü hrt und geschaut hä ttest. Wie solltest du uns glauben, dass hier der heilige Leib sei?‘ Noch einmal bekrä ftigt jener [das Gesagte] und spricht: ‚Er ist nicht hier.‘ Dann gingen alle geradezu erzü rnt zum Grab, das jü ngst in einen Stein gehauen worden war, und schafften den Stein beiseite. Den Leib aber fanden sie nicht und wussten nicht, was sie sagen sollten, weil sie durch die Rede des Thomas eines Besseren belehrt wurden. Dann berichtete ihnen der selige Thomas, wie er die Messe in Indien hielt, umkleidet dereinst mit priesterlichem Gewand. Obwohl jener das Wort Gottes nicht kannte, ist er auf den Ö lberg gefü hrt worden und sah den allerheiligsten Leib der seligen Maria in den Himmel aufsteigen und bat sie, dass sie ihm ihren Segen geben mö ge. Sie erhö rte seine Bitte und warf ihm ihren Gü rtel zu, mit welchem sie umgü rtet worden war. Und er zeigte allen jenen Gü rtel. Als die Apostel aber den Gü rtel sahen, den sie jener umgelegt hatten, rü hmten sie Gott und baten alle den seligen Thomas um Verzeihung wegen des Segens, den ihm die selige Maria gab und deshalb, weil er den allerheiligsten Leib in den Himmel aufsteigen sah. Und der selige Thomas segnete sie und sprach: ‚Siehe, wie schö n, wie lieblich es ist, wenn Brü der friedlich beisammen wohnen‘ [Ps 132,1].“ Lat. Text und Übersetzung zitiert nach Spreckelmeier: Bibelepisches Erzählen (Anm. 3), S. 122 f., der lat. Text folgt der Edition [Pseudo-Joseph von Arimathia:] Transitus Mariae A. De Transitu beatae Mariae virginis. In: Apocalypses Apocryphae. Mosis, Esdrae, Pauli, Iohannis, item Mariae dormitio, additis Evangeliorum et actuum apocryphorum supplementis. Maximam partem nunc primum edidit Constantinus von Tischendorf. Leipzig 1866, S. 113–123. 29 Susanne Spreckelmeier: Erbauung und Zweifel in Marien Himmelfahrt-Versdichtungen. In: Die Versuchung der schönen Form. Spannungen in ‚Erbauungs‘-Konzepten des Mittelalters. Mit 8 Abbildungen. Hrsg. von Susanne Köbele, Claudio Notz. Göttingen 2019 (Historische Semantik 30), S. 115– 132, hier S. 118.
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dem Rezipienten gleich zu Beginn der Szene des Thomas exklusive Schau von Mariens Himmelfahrt am mons oliveti (vgl. §17) mitgeteilt, die zeitgleich (so wird im weiteren Verlauf deutlich) von den anderen Augenzeugen, die sich im valle Iosaphat (§17) befinden, nur als heller Glanz wahrgenommen werden konnte (prae claritate quam viderant, §18). Damit ist die Erwähltheit des Thomas von Anfang an gesetzt, die Positivierung der Figur des Zweiflers insofern bereits zu konstatieren. Diese Erzählweise produziert jedoch Redundanzen, weil der Rezipient bereits mehr weiß als die Figuren. So ist Thomas’ Bericht seiner Schau von Mariens Himmelfahrt und ihrer Gürtelspende (§20) eine Doppelung, die auf histoire-Ebene jene handlungslogisch notwendige Information nachreicht, die der Erzähler auf discours-Ebene bereits gegeben hat. Ob diese Beobachtung auch historisch korrekt im Sinne eines stilistischen Werturteils zu interpretieren ist (Redundanz), wäre weiter zu untersuchen. Bedenkt man nämlich, dass das rhetorische brevitas-Ideal³⁰ im höfischen Roman, dessen Erzählweise nach aktuellem Forschungskonsens für Konrad maßgebend ist,³¹ oftmals als Vermeidung von Wiederholungen ausgelegt wird, die aufgrund des unterschiedlichen Wissensstatus von Figuren und Rezipienten entstehen, also genau wie hier aufgrund einer Diskrepanz von allwissender Erzählerund beschränkter Figurenperspektive,³² so ließe sich Konrads Vorgehen auf formaler Ebene als Strategie einer Vermeidung von Redundanz verstehen. Zu bedenken ist hier jedoch ein auffälliger Effekt, den die Doppelung auf der Sinnebene der Erzählung hat: Wiederholung verstärkt Evidenz. Und dies ist besonders nötig dort, wo Evidenz an sich fragwürdig ist. Denn als Apokryphon kreist der Stoff vom Transitus Mariae um ein dogmatisch heikles Thema, die leibseelische Aufnahme der menschlichen Gottesmutter in den Himmel vor dem Endgericht.³³ Wie für apokryphes Erzählen generell zu beobachten ist, wird hier großer narrativer Aufwand betrieben um den Geltungsanspruch des Erzählten sicherzustellen. Und dieser Aufwand speist sich zu einem wesentlichen Teil aus der ebenenübergreifend beobachtbaren Figur der Wiederholung. Dass Mariens Himmelfahrt und Gürtel-
30 Grundlegend Julia Frick, Oliver Grütter: abbreviatio. Historische Perspektiven auf ein rhetorischpoetisches Prinzip. Basel/Berlin 2020. 31 Vgl. Hoffmann (Anm. 22). Interdependenzen ‚höfischen‘ und ‚bibelepischen‘ Erzählens zu fassen ist das Ziel der Arbeiten von Quast und Spreckelmeier (Anm. 3); unter dem Aspekt der‚Inkulturation‘ rückt hier v. a. die formal-sprachliche, im engeren Sinne rhetorische Ebene der Texte in den Blick. 32 Vgl. Coralie Rippl: Der Erzähler, die aventure / âventiure und Gott. Narrative Dynamiken in den Erec-Romanen Chrétiens de Troyes und Hartmanns von Aue. In: Aventiure. Ereignis und Erzählung. Hrsg. von Michael Schwarzbach-Dobson, Franziska Wenzel. Berlin 2022 (Beiheft zur ZfdPh 21), S. 169–202; hier S. 191 f. 33 Vgl. Spreckelmeier: Bibelepisches Erzählen (Anm. 3), S. 1 f.; zu solchen ‚mariologischen Problemen‘ als erzählerischen Kompromissbildungen vgl. den Beitrag von Bruno Quast im vorliegenden Band.
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spende an Thomas wiederholt erzählt werden, steigert die Wahrscheinlichkeit des Ereignisses, für dessen behauptete Evidenz Thomas als Medium, als Zeuge fungiert – wie der Stoff vom Transitus Mariae im Ganzen als strukturelle Wiederholung auf die kanonische Erzählung von Auferstehung und Himmelfahrt Christi rekurriert.³⁴ Konrads Tilgung der beschriebenen Redundanz gibt jedenfalls den Effekt von Evidenzsteigerung preis. Im Mittelpunkt seiner Thomasepisode steht nicht mehr so sehr das Ereignis von Mariens Himmelfahrt, sondern die Figur des Thomas selbst, als Glaubenszweifler, und die Frage nach der Möglichkeit göttlicher Gnade. Er verzichtet auf eine (proleptische) Informationsvergabe des Erzählers und bildet über die Figurendialoge die ‚natürliche‘ Chronologie der Handlung ab. Damit ist Zeit als ein Faktor auf Rezeptionsseite genutzt, denn erzeugt wird Spannung (suspense) und Überraschung (surprise).³⁵ Warum hat Thomas bei Mariens Himmelfahrt gefehlt? Ist das der endgültige Heilsverlust für den Zweifler?³⁶ Durch den Modus des Figurendialogs wird die Thomasepisode bei Konrad zur performativen Szene, die dem Rezipienten nicht von Anfang an den Status der Allwissenheit verleiht, sondern ihm über eine lange Strecke die immanente Perspektive der anderen Apostel nahelegt. In deren Sichtweise ist dem Zweifler göttliche Gnade verwehrt. Dass Gott sich gerade den Zweifler als Zeugen auserwählt hat und ihn damit vor allen anderen auszeichnet, erfährt der Rezipient als Überraschung erst mit den übrigen Aposteln von Thomas selbst.
34 Wobei in der Forschung auch auf die Himmelfahrt des Elias verwiesen wird, der dabei seinen Prophetenmantel Elisa zugeworfen hat (2 Kön 11–14), vgl. Hoffmann (Anm. 21), S. 73, Anm. 142, der sich hier bezieht auf Gertrud Schiller: Ikonographie der christlichen Kunst. Bd. 4,2: Maria. Gütersloh 1980, S. 88. M. E. ist die Himmelfahrt des Elias Vorlage für die Erzählung von Mariens Himmelfahrt im Transitus des Pseudo-Joseph, während Konrad die Himmelfahrt Mariens deutlicher an Christi Himmelfahrt anlehnt. Festmachen kann man das etwa an dem Unterschied, dass Thomas in der lateinischen Erzählung Maria um den Gürtel bittet, worauf er diesen erhält, so wie Elisa den Elias um zwei Teile seines Geistes bittet, die er bei dessen Himmelfahrt erhält, wofür der ebenfalls ihm überlassene Prophetenmantel symbolisch steht: Elisa folgt damit, das wird im weiteren Verlauf der Erzählung explizit gemacht, Elias in seinem Prophetentum nach. Er ist nicht nur Nachfolger, sondern sein Substitut, wie schon an der Namensgleichheit ersichtlich ist, denn Elisa ist ein Akronym von Elias. 35 Vgl. Sebastian Balmes: Auf der Suche nach der Zeit als narratologische Analysekategorie. Mit Beispielen aus der setsuwa-Literatur. In: Asiatische Studien – Études Asiatiques 75,1 (2021), S. 33–68, dessen produktive Auseinandersetzung mit dem theoretischen Zugang Meir Sternbergs es erlaubt, die Rezeptionsebene einzubeziehen über Kategorien wie suspense, surprise oder curiosity. Dazu bereits Susanne Reichlin: Zeit – Mittelalter. In: Handbuch Historische Narratologie. Hrsg. von Eva von Contzen, Stefan Tilg. Berlin 2019, S. 181–193; hier S. 182–184. 36 Vor dem Hintergrund der kanonischen Thomasgeschichte erscheint Thomas damit als Wiederholungstäter im Glaubenszweifel. Bereits in der biblischen Erzählung wird sein Zweifel von Christus im Blick auf zukünftige Seligkeit sanktioniert, vgl. Joh 20,29.
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Dass nämlich Thomas bisher beim Geschehen (Tod, Leichenzug, Begräbnis und Himmelfahrt) fehlte, wird in der Hinvart bis zu dessen Auftritt kaum mehr als angedeutet.³⁷ Als vor Mariens Tod die Apostel auf wunderbare Weise von ihren jeweiligen Aufenthaltsorten zu Maria entrückt werden, ist von einlef nôtgestallen („Gefährten“, vgl. V. 407) die Rede.³⁸ Diese begleiten das Sterben Mariens, bestatten sie und wohnen ihrer Himmelfahrt bei. Erst als alles vorbei ist³⁹ und sich die Gemeinschaft gerade auflösen will, kommt Thomas, begleitet von einem aufmerksamkeitsverstärkenden Ausruf des Erzählers (wâ!, V. 1060), der sich auch als Ausdruck der Überraschung verstehen lässt, welche die Anwesenden ob des plötzlichen Auftauchens des ‚Sonderlings‘ (vgl. V. 1157)⁴⁰ empfinden. Dô diz allez was geschehen und si hêten gesehen dise wünneclîche hinvart und ouch in erloubet wart ze varne swar si wolden, dô si sich scheiden solden und ieglîcher urloup nam,
37 Im Gegensatz zum Transitus des Pseudo-Joseph, wo mehrmals das Fehlen des Thomas explizit gemacht wird, vgl. Tischendorf (Anm. 28), S. 116, Cap. 7: excepto Thoma qui dicitur Didymus, worauf, wie zum Beweis, eine Liste folgt, derjenigen Apostel, die zu Maria entrückt wurden: […] Haec sunt nomina discipulorum domini qui in nube illuc advecti sunt: Iohannes evangelista et Iacobus frater eius, Petrus et Paulus, Andreas, Philippus, Lucas, Barnabas, Bartholomaeus et Matthaeus, Matthias qui dicitur Iustus, Simon Chananaeus, Iudas et frater eius, Nicodemus et Maximianus, alii multi, qui numerari non possunt. (Ebd., S. 116, Cap. 8). 38 Dies kann sich jedoch an der Stelle auch auf die Tatsache beziehen, dass Johannes als Erster zu Maria entrückt wurde und sich mit ihr im Haus befindet, als die anderen dort ankommen. 39 Auch narratologisch betrachtet ist an diesem Punkt die Geschichte von Mariens Himmelfahrt eigentlich zu Ende erzählt, der Auftritt des Zweiflers bewirkt nun eine Wiederholung, nämlich die metadiegetische Rekapitulation des bereits Erzählten. 40 Das Wort ‚Sonderling‘ ist freilich erst eine Bildung des Frühneuhochdeutschen, vgl. das Lemma ‚Sonderling‘. In: Friedrich Kluge: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Berlin/Boston 1989, S. 679. Luthers Verwendungsweise bestimmt den uns geläufigen negativen Sinn. Im Text wird der Aspekt der Absonderung des Thomas von den anderen Aposteln explizit positiv markiert, als Manifestation göttlicher Providenz (V. 1157, vgl. dazu unten). Hier sind Vorstellungen einer volksläufigen Etymologie (‚etymologisierendes Argument‘) zu bedenken, die sünde von sundern ableitet, vgl. Meinolf Schumacher: ‚Sunde‘ kompt von ‚Sundern‘. Etymologisches zu ‚Sünde‘. In: ZfdPh 110 (1991), S. 61–67. Für das Mittelalter öffnet sich ein weites Bedeutungsspektrum, in dem sich sundern (vor allem im Spannungsfeld geistlich – weltlich) sowohl negativ als auch positiv konnotiert zeigt (z. B. im Verständnis von Sünde als Absonderung von der allgemein geltenden Norm oder der Vorstellung von der Annäherung an Gott als Absonderung von der Welt). Es wäre reizvoll, dieses Wortfeld und seine Bedeutung für den Überschneidungsbereich geistlicher und weltlicher Diskurse in mittelalterlicher Literatur weiter zu untersuchen.
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wâ! dort her îlende quam der nôtgestallen einer. (V. 1053–1061)
Die Glaubensverzögerung der kanonischen Thomasgeschichte ist hier konkret zeitlich umgesetzt, nämlich als Zuspätkommen des Thomas, das die anderen Apostel rügen: ‚wis willechomen, Thômâ!‘ sprâchen die herren alle. mit einem süezen schalle wart er enphangen von in: ‚sag an, war wære dû hin? wie hâst dû dich versûmet! unser vrouwe hât gerûmet dise werlt und ist heim gevarn. (V. 1064–1071)
Sie erzählen dem säumigen Thomas nun, was er alles verpasst hat: Tod, Begräbnis und Auferstehung Mariens, wobei sie ihm vorwerfen, er hätte ‚von Rechts wegen‘ (billîche, V. 1082) dabeisein müssen: dû wærest billîche gewesen ze ir bivilde. dû bist uns gar ze wilde; swâ wir sîn, dâne bist dû niht. diz gelîchet der geschiht, diu dir wîlen ê geschach, dô er uns den zwîvel brach sîner heiligen urstende. […] nû herre, wâ wære dû dô? dir geschach dô rehte als nuo; dar nâch schiere quæme duo. dô wart dir alles des verjehen des wir dâ hêten gesehen. des gelouptest uns dû niht umb ein hâr.‘ (V. 1082–1101)
Die anderen Apostel parallelisieren das aktuelle Ereignis mit dem zurückliegenden Auferstehungsereignis – eine Besonderheit, die nur bei Konrad begegnet, indem er hier (in der Figurenerzählung) die kanonische Thomasgeschichte integriert: diz gelîchet der geschiht, / diu dir wîlen ê geschach – „das Gleiche ist dir schon einmal
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passiert“, sagen die Apostel, nämlich bei Christi Auferstehung.⁴¹ Mit der Frage nû herre, wâ wære dû dô? wird die Leerstelle der biblischen Erzählung aufgerufen, die auch mittelalterliche Exegeten beschäftigt hat: Wo war Thomas, als alle anderen versammelt waren? Warum war er als Einziger nicht anwesend?⁴² Konrads Erzählung gibt keine direkten Antworten auf diese Fragen, ‚verhandelt‘ sie aber mittels einer Gegenüberstellung von Figurenperspektiven. In den Vorwurf der versammelten Apostel (wie hâst dû dich versûmet!,V. 1069) wird eine alltagsweltliche Semantisierung von Zeit eingespielt, dergemäß Abwesenheit und Zuspätkommen negativ konnotiert sind.⁴³ Die Apostel sehen Thomas’ Abwesenheit bei Mariens Himmelfahrt als Wiederholung an: dir geschach dô rehte als nuo / dar nâch schiere quæme duo – „Kurz nachdem alles vorbei war bist du gekommen, damals wie jetzt“ (V. 1097 f.). Die gedoppelte Verspätung des Thomas ist für sie Zeichen, ja Beweis seines Glaubenszweifels, Strafe und Ausschluss aus der Gemeinschaft: „Damals ist dir das gleiche passiert wie jetzt; das bedeutet, dass du wieder zweifelst“. Jedoch: Es kommt ganz anders. Die wildekeit (vgl. V. 1084) des Thomas markiert nicht Strafe, sondern Erwählung.⁴⁴ Die Figur des Thomas ist in Konrads Darstellung konsequent positiviert. Erst jetzt erfahren die Rezipienten gemeinsam mit den anderen Aposteln von Thomas’ besonderer Begnadung, die dieser nun selbst berichtet: Er hat exklusiv die Himmelfahrt Mariens geschaut und als Beweis ihren Gürtel erhalten (V. 1132–1150). Bereits Hoffmann hat darauf hingewiesen, dass die Darstellung des Thomas in der Hinvart sich mit der bevorzugten Stellung des Thomas als von Gott besonders begnadeter Apostel in der bildenden Kunst decke.⁴⁵ Auf einem frühen Beispiel (2. Hälfte 12. Jahrhundert) aus Südfrankreich, einem Tympanonfragment der Kirche Notre-Dame-des-Anges in Cabestany (Abb. 4), ist ein Assumptio-Zyklus zu sehen, der
41 Im Vergleich ist deutlich zu sehen, dass der Transitus des Pseudo-Joseph zwar die kanonische Identität des Thomas aufruft und darauf anspielt, seine Geschichte jedoch nirgends auserzählt. 42 Vgl. Murray (Anm. 7), S. 25 f. 43 Vgl. Sprichwörter wie ‚Der frühe Vogel fängt den Wurm‘ oder‚Der erste Vogel bekommt das beste Korn (die reifste Beere)‘, lateinisch Primulus est ales prope fruges primiciales, vgl. Karl Friedrich Wilhelm Wander: Deutsches Sprichwörter-Lexikon. 5 Bde. Leipzig 1867–1880, s.v. ‚Vogel‘, Nr. 72, auch: ‚Wer zuerst kommt, mahlt zuerst‘, ‚Wer nicht kommt zur rechten Zeit… ‘. 44 Es ist sicherlich kein Zufall, dass an dieser Stelle das Adjektiv wilde steht, das im Mhd. bekanntlich schillern kann zwischen positiver und negativer Konnotation (‚fremd‘, ‚feindlich‘, aber auch: ‚besonders‘, ‚neu‘, ‚wunderbar‘); wilde kann einen Überschneidungsbereich des geistlichen Diskurses mit dem weltlichen markieren (das Wunder ist wilde genauso wie die Aventiure), wildekeit ist eine Entzugsfigur, ein Metabegriff, der Konstellationen paradoxer Spannung kennzeichnet wie im vorliegenden Fall, vgl. Susanne Köbele, Julia Frick (Hrsg.): wildekeit. Spielräume literarischer obscuritas im Mittelalter. Zü rcher Kolloquium 2016. Berlin 2018 (Wolfram-Studien 25). 45 Hoffmann (Anm. 21), S. 76 f.
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Thomas als exklusiven Zeugen groß mittig mit Christus und Maria zeigt: den Gürtel in der Hand haltend steht er rechts neben Christus.⁴⁶ Jahrhunderte später setzt Palma Vecchio in seiner Darstellung von Mariens Himmelfahrt das Zuspätkommen des Thomas konkret ins Bild (Abb. 5). Im Hintergrund, ganz klein, kommt er auf der (vom Standpunkt des Betrachters aus) rechten Seite herbeigeeilt, während im Vordergrund die übrigen Apostel versammelt sind und zu Maria aufblicken, die den Gürtel in der Hand hält. Blick und Armhaltung der Auffahrenden weisen in Richtung des Thomas, sie scheint auf ihn zu warten. Dargestellt ist also gerade nicht das Ereignis selbst, sondern im Sinne des ‚fruchtbaren Augenblicks‘ Lessings⁴⁷ der Moment kurz davor: Gleich wird Thomas eintreffen und Maria wird ihn mit der Gürtelspende auszeichnen.
Abb. 4: Meister von Cabestany: Assumptio-Zyklus auf Tympanonfragment, 2. Hälfte 12. Jahrhundert. Cabestany, Notre-Dame-des-Anges. Photographiert von Jean-Pierre Dalbéra.
46 Die Darstellung hat Spreckelmeier: Bibelepisches Erzählen (Anm. 3), S. 484 (Abb. schwarz-weiß) aufgetan, vgl. ihre Ausführungen dazu S. 125, 363–365, insbesondere die quellengeschichtlichen Schlüsse für die Datierung der lateinischen Transitus-Tradition. 47 Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon. Oder: Über die Grenzen der Malerei und Poesie. Mit beiläufigen Erläuterungen verschiedener Punkte der alten Kunstgeschichte. Stuttgart 1994 (RUB 271).
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Abb. 5: Negretti Jacopo Detto Palma il Vecchio: Assunzione della Vergine (Mariä Himmelfahrt), 1512, tavola, 192 x 137 cm, cat 315. Venedig, Gallerie dell’Accademia di Venezia, Archivio fotografico – su concessione del Ministero della Cultura.
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Die Rede des Thomas in Konrads Hinvart ist, durchaus triumphierend, vom Gestus der Überbietung geleitet. Mittels adversativer Konstruktionen ruft er jeweils die Perspektive der anderen auf, nur um sie sogleich als durch sein eigenes Erleben widerlegt zu kennzeichnen: nû dô mîn vrouwe solde vervarn, als ir mir nû dâ saget und mîn sûmunge chlaget, swie sêre ich mich dâ ze ir grabe nâch iuwer rede gesûmet habe, ich hôrte manigen süezen dôn ûzer dem berge ze Syôn und sach wünne überchraft, […] (V. 1132–1139)
Seine Augenzeugenschaft (ich hôrte; ich sach, V. 1137, 1139), deren wârheit (1153) durch die urchünde (1154) des deiktisch von Thomas vorgewiesenen Gürtels (dise gürtel si ir enphallen lie, V. 1142) beglaubigt ist, übertrifft das Zeugnis der anderen. Deshalb kann Thomas seinen Kollegen vorhalten, sie hätten nicht mit der Inkommensurabilität göttlicher Gnade gerechnet:⁴⁸ er sprach: ‚ir saget mir wâr, leider! ich bin vil laz. doch vreute mich sîn genâde baz; er ist genædiger danne ir sît. ir wizzet wol, in churzer zît dô ich in mit iu allen sach und er zuo mir einem sprach: „Thômâ, tuo dîn zwîvel hin und sich daz ich ez selbe bin, recke dînen vinger her“, […] (V. 1102–1111)
Thomas’ Schuldeingeständnis ich bin vil laz (V. 1103) markiert auch den Zeitfaktor, denn laz als ‚träge, nachlässig‘ hat die zeitliche Bedeutung ‚langsam, zu spät‘. Diese Schuld wird jedoch sogleich im nächsten Vers aufgehoben durch die göttliche
48 Der Mensch rechnet, er zählt, und dazu gehört auch das Zeitzählen und die Angewohnheit, irdischer Dauer Sinn zuzusprechen; vgl. zur kulturgeschichtlichen Bedeutung der Zahl für die Vormoderne Moritz Wedell (Hrsg.): Status und Poetik der Zahl. Maximen und Perspektiven zur Erschließung des numerischen Wissens im Mittelalter (Einleitung I). In: Was zählt. Ordnungsangebote, Gebrauchsformen und Erfahrungsmodalitäten des numerus im Mittelalter. Hrsg. von dems. Köln [u. a.] 2012 (Pictura et Poesis 31), S. 1–13.
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genâde (V. 1104), deren kontrastives ‚schnelles‘ Eintreffen (in churzer zît, V. 1106) nochmals die den zeitlichen Kategorien eigene Paradoxie verdeutlicht.⁴⁹ Thomas erzählt nun selbst seine Geschichte mit Betonung auf der außerordentlichen Gnade, die ihm durch Gott zuteilwurde. Das Wort Gnade und seine Ableitungen kommt in seiner Rede wiederholt vor (bereits V. 1104, 1105)⁵⁰ und wird noch durch die Gott zugesprochene Eigenschaft der güete erweitert: sîn genâde was sô süeze daz er mich si [seine Seitenwunde] grîfen liez und mich güetlîchen hiez daz ich nû geloubic wære und den zwîvel gar verbære. des vreute ich mich und sprach alsus: „dominus meus et deus meus, dû bist mîn herre und mîn got.“ (V. 1116–1123)
Der strafende Vorbehalt, den Jesus im Johannesevangelium formuliert (Joh 20,29: „Seliger sind die, die nicht sehen und doch glauben“), also die Abmahnung der Evidenzversessenheit des Thomas, fehlt hier bezeichnenderweise völlig.⁵¹ Und nicht nur das: Im Gegensatz zu Johannes, bei dem offenbleibt, ob eine Berührung durch Thomas tatsächlich stattfand oder allein Jesu Worte ausreichten um Thomas zum Glauben zu bekehren (Joh 20,27 f.),⁵² betont hier Thomas gleich zweimal, er habe die Seitenwunde berührt (vgl. V. 1117, bereits V. 1112: dô greif ich dâ im mit dem sper / diu sîte was durchstochen). Die besondere Rolle des Thomas ist also – und das ist ein bemerkenswerter Unterschied zur lateinischen Vorlage – jenseits einer problematischen Spannung von Glauben und Wissen auch epistemologisch untermauert. Während der Transitus des Joseph von Arimathia zwar bereits die kanonische Thomasgeschichte aufruft, geschieht dies dort jedoch nur punktuell und –
49 Das ist eben jene Paradoxie, die im biblischen Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg zum Ausdruck kommt, wenn die Letzten als Erste entlohnt werden, vgl. Mt 20,1–16. 50 Darauf weist bereits Hoffmann (Anm. 21), S. 74 hin. 51 Dagegen führt Thomas noch breit aus, wie Gottes Gnade ihn seitdem auf all seinen Wegen begleite (V. 1127–1131). 52 Auch dies ist eine der zentralen Fragen der biblischen Thomasgeschichte, die mittelalterliche Kommentare behandeln, vgl. Murray (Anm. 7), S. 39; Most (Anm. 19) arbeitet, ausgehend von der Auslegung, Thomas habe Jesus bei Johannes nicht berührt (vgl. S. 28–73), im Vergleich der Evangelien für Johannes die Intentionstendenz heraus, durch die Darstellung identifikatorischer Figuren wie Thomas die Rezipienten vom epistemischen Glauben (durch Wunderbelege, die sichtbar, berührbar etc. sind) zum Glauben, der sich allein auf das Hören gründet, zu führen.
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ganz im Sinne von Joh 20,29 – als Vorwurf der epistemischen Beweisversessenheit des Thomas, der sehen und fühlen will um zu glauben.⁵³ Es lässt sich damit festhalten: Bereits die lateinische Vorlage leistet eine in der apokryphen Neukombination des kanonisch gewordenen narrativen ,Materials‘ virtuos zu nennende Angliederung des Apokryphons von der Assumptio Mariae an die kanonische Thomaserzählung samt ihrer Geschehenskontexte. Konrads Bearbeitung nimmt dies auf und geht vor allem in einem bestimmten Punkt darüber hinaus, indem seine im Vergleich mit dem Transitus des Pseudo-Joseph von Arimathia noch gesteigerte Positivierung der Thomasfigur getragen ist von einer Amplifizierung der gesamten Szene. Konrad verschaltet diese kunstvoll mit der kanonischen Erzählung von Thomas’ Zweifel am auferstandenen Christus, indem er diese als Metadiegese integriert. Und das gleich zweifach, einmal durch die von den Aposteln intradiegetisch erzählte Rückschau, und dann durch die Fortsetzung dieser Analepse aus der Perspektive des Thomas selbst. Konrad bleibt also im Grunde nah an der materia der Vorlage, arrangiert sie aber erzähltechnisch völlig anders. Indem Konrads Version Thomas selbst seine Geschichte auserzählen lässt, die explizit die Erfüllung seiner Forderung nach einem epistemischen Beweis formuliert, ist die kanonische Überlieferung erweitert und vereindeutigt in Bezug auf Status
53 Es ist interessanterweise Petrus, selbst kein unbeschriebenes Blatt in Sachen Zweifel (vgl. Mt 14,22–33), der im Transitus argumentiert, es sei kein Wunder, dass Thomas bei Mariens Bestattung gefehlt habe, habe er doch schon damals beim Anblick Gottes gezweifelt: Tunc ait beatus Petrus ad eum: Iam alia vice resurrectionem nostri magistri et domini credere noluisti nobis, nisi digitis tuis palpares et videres; quomodo credes nobis ut corpus sanctum hic esset? – „Dann sagte der selige Petrus zu ihm: ‚Schon ein anderes Mal wolltest du uns nicht die Auferstehung unseres Meisters und Herrn glauben, wenn du ihn nicht mit deinen Fingern berü hrt und geschaut hä ttest. Wie solltest du uns glauben, dass hier der heilige Leib sei?’“ Zitiert nach Spreckelmeier: Bibelepisches Erzählen (Anm. 3), S. 122 (vgl. Anm. 28). Mit seiner Behauptung, der Leib Mariens befinde sich nicht in ihrer Grabstätte, ist Thomas in der Rolle der Frauen am Grab gezeigt, die noch vor den Aposteln von der Auferstehung Christi erfahren und diese verkünden – bei Markus und Lukas ist diese Sequenz Ausgangspunkt vielfältiger Zweifel auf Seiten der Apostel (wozu auch die Geschichte der Emmausjünger gehört), vor allem Petrus ist derjenige, der die Rede der Frauen nicht glaubt, bevor er nicht selbst gesehen hat (Lk 14,11 f.). Es ist insofern kein Zufall, dass Petrus als Gegenpart des Thomas hier in eben seiner Rolle aus dem Lukasevangelium auftritt, die Handlungssequenz der apokryphen Erzählung adaptiert mit dieser personell und zeiträumlich gemäß des ‚neuen‘ Sujets von Mariens Assumptio umbesetzten Konstellation deutlich die kanonische Strukturvorgabe – ein Beispiel für das narrative Prinzip variierter Wiederholung, das apokryphes Erzählen grundlegend konstituiert. Petrus zweifelt an der Aussage der Augenzeugen und geht also, wie bei Lukas zum Grab Christi, hier zum Grab Mariens um sich selbst zu überzeugen; beide Male findet er das Grab leer. Der epistemische Zweifel des Petrus spiegelt damit in dieser Neukombination tradierter narrativer Vorgaben direkt denjenigen des Thomas.
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und Glaubwürdigkeit des Thomas. Daran anschließend legt Thomas den Jüngern nun noch den Gürtel vor, den er bei Mariens Himmelfahrt erhalten hat. Die Unbegreiflichkeit göttlichen Willens manifestiert sich in der Über- oder Außerzeitlichkeit göttlichen Handelns. Dies erkennend, können die übrigen Jünger nur staunen⁵⁴: si sâhen vaste ein ander an und sprâchen: ‚wie got disen man von uns hât gesundert, wie er mit im wundert, waz er im êren hât beschert! swaz er tuot und swie er vert, er chumt uns ze allen zîten für. dâ bî männeclich spür und sehe der wârheit ein zil, swen got fürdern wil, dem er ganzer êren gan, daz sich der niht versûmen chan. (V. 1155–1166)
Die Erkenntnis, Thomas sei immer ‚eine Nasenlänge voraus‘ (er chumt uns ze allen zîten für,V. 1161), weil Gott ihn auf seinen Wegen leite (vgl.V. 1127–1131), hat Konrad in die schöne Reimformel sundern / wundern (V. 1157 f.) gefasst: In dieser Weise als absolutes Verb eingesetzt, gibt es für wundern nur wenige Belege.⁵⁵ Ausgedrückt ist hier die Absolutheit transzendenter Zeitbestimmung, also die Geltung von Providenz. Dies wird umso deutlicher, als im Reimwort sundern volksetymologischen Vorstellungen gemäß die ‚Sünde‘ mitschwingen kann.⁵⁶ Die Absonderung aus dem Kreis der Gläubigen ist jedoch eben keine Diskreditierung (wie das in der Perspektive der anderen Apostel eingespielt wird), sondern eine Auszeichnung: Absonderung von der Welt als Annäherung an Gott. Insofern ist hier abschließend die Spannung einer Sicht auf Thomas als den sündigen Zweifler und, im Gegenteil, als den auserwählten Zeugen, verdichtet. Die negative Perspektive wird durch ihre Darstellung als menschlich begrenzte radikal widerlegt. In der Tat handelt es sich bei den Versen Swen got fürdern wil, / dem er ganzer êren gan, / daz sich der niht
54 Zur Verbindung von Zweifeln und Staunen vgl. Mireille Schnyder: Staunen und conversio. In: Konversion als Medium der Selbstbeschreibung in Spätantike, Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von Julia Weitbrecht, Werner Röcke, Ruth von Bernuth. Berlin/Boston 2016, S. 169–185. 55 Vgl. Lexer Bd. 3, Sp. 992. 56 Vgl. Schumacher (Anm. 40).
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versûmen chan (V. 1164–1166) um eine zeitgenössische Sentenz.⁵⁷ Und mit wem will Gott ‚wundern‘? Mit dem Zweifler! Die angesichts der synchronisierten Translokationen der anderen Apostel deutlich verspätete des Thomas erweist sich ex post als göttliche Providenz und eben nicht als menschliches Verschulden, wie es aus der innerweltlichen Perspektive der anderen Apostel ausgesehen hatte. Damit enthüllt die starke semantische Markierung der Ungleichzeitigkeit eine konzeptionell eigenständige Bearbeitung des Stoffes durch Konrad, die auch über die textuellen Grenzen der Hinvart hinausweist: Thomas ist das positive Gegenbild zu den zweifelnden Juden, die durch keinen Beweis zu bekehren sind. Deren Rolle als Zweifler wird in der Urstende nicht nur durchdekliniert, sie bietet den Rahmen, der die Gesamtkomposition hypertroph metaisierter Zeugenschaft zusammenhält. Letztlich werden auch die Juden ex negativo zu Zeugen umfunktioniert.⁵⁸ In der Hinvart klingt dieses Thema verschiedentlich an, wird jedoch mit Thomas als Reflexionsfigur eines christlichen Zweiflers, dem die göttliche Gnade entgegenkommt, positiv gewendet.⁵⁹ Die Hinvart als Mariendichtung behandelt mit der Himmelfahrt und der Frage der leibseelischen Aufnahme Mariens in den Himmel eines jener umstrittenen ‚mariologischen Dilemmata‘, die aus der Doppelnatur der menschlichen Frau und Gottesgebärerin erwachsen und auf vielfältigste Art in mittelalterlicher Dichtung produktiv werden. Umso erstaunlicher aber ist die Tatsache, dass innerhalb dieses thematischen Rahmens Thomas als Zeuge in den Mittelpunkt rückt, gerade in seiner Menschlichkeit des Zweifelns.
IV Brandan – Zweifelbuße als Aventiure In den mitteldeutschen⁶⁰ und mittelniederländischen⁶¹ Reise-Fassungen der Brandanlegende in Versen, die eine eigene, ins 12. Jahrhundert zurückgehende
57 Sero uenire potest consule nemo deo (V, 836). Magister Nivardus, Ysengrimus (Mitte 12. Jahrhundert) – Wem Gott hilft, der kann nicht zu spät kommen. Vgl. Hoffmann (Anm. 21), S. 74. 58 Vgl. dazu ausführlich Rippl: Gleichzeitigkeit (Anm. 26). 59 Übrigens wird das Thema präludiert in dem jüdischen Bischof Kaiphas, der Mariens Grablege aufhalten will, mit den Händen an der Bahre kleben bleibt und sich von Petrus, den er um Hilfe als Gegenleistung für seine ihm einstmals erwiesene Unterstützung bittet (V. 747–755), zum Christentum bekehren lässt (V. 724–806). Das ist ein intertextueller Verweis auf die Urstende, wo die Szene erzählt wird, wie Petrus Jesus im Haus des Hannas dreimal verleugnet (V. 218–233). 60 Zitiert nach der Ausgabe: Brandan. Die mitteldeutsche ‚Reise‘-Fassung. Hrsg. von Reinhard Hahn, Christoph Fasbender. Heidelberg 2002. Im Folgenden abgekürzt zitiert als „Mitteldt. Reise“. Die Fassung (M) ist überliefert in der Sammelhs. Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Ms. germ. oct. 56, (2. Hälfte 14. Jahrhundert), vgl. Beschreibung ebd., S. VII–X, 212 f.
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Traditionslinie darstellen,⁶² ist zu beobachten, wie das Thema des Zweifelns zunehmend narrativ Raum greift. Der komparatistische Blick auf die verschiedenen Fassungen des seit dem frühen Mittelalter verbreiteten Stoffes von der Meerfahrt des irischen Mönches Brandan⁶³ ist hier aufschlussreich. Denn besonders vor dem Hintergrund der lateinischen Navigatio Sancti Brendani ⁶⁴ wird deutlich, dass die volkssprachigen Wiedererzähler den Fokus verschieben, indem Zweifel in diversen Schattierungen in den Vordergrund tritt. Auch wenn das quellengeschichtliche Verhältnis von Navigatio- und Reise-Tradition noch immer fraglich ist und für den Moment offen bleiben muss, ob sich Abhängigkeiten durch komplexere Untersuchungskonstellationen werden eindeutig klären lassen,⁶⁵ so bietet der Vergleich den
61 Zitiert nach der Ausgabe: Sankt Brandans Reise. Mittelniederländisch – Neuhochdeutsch. Hrsg. und übersetzt von Elisabeth Schmid, Clara Strijbosch. Münster 2009 (Bibliothek mittelniederländischer Literatur IV). Im Folgenden abgekürzt zitiert als „Mndl. Reise“. Zugrunde liegt der Edition die „Comburger Handschrift“. Stuttgart, Württembergische Landesbibliothek, Cod. poet. et philol. 2° 22, der darin enthaltene Text von Sankt Brandans Reise entstand um 1410, vgl. ebd., S. 131. 62 Vgl. Reinhard Hahn: Nachwort. In: Brandan. Die mitteldeutsche ‚Reise‘-Fassung. Hrsg. von Reinhard Hahn, Christoph Fasbender. Heidelberg 2002, S. 189–231, bes. S. 211–220. Clara Strijbosch: The Seafaring Saint. Sources and Analogues of the Twelfth-Century Voyage of Saint Brendan. Dublin 2000. 63 Einen Überblick bietet Walter Haug: Art. Brandans Meerfahrt. In: VL2 1 (1978), Sp. 985–991. Vgl. jetzt instruktiv Katja Weidner: Einleitung. In: Navigatio Sancti Brendani. Die Seereise des heiligen Brendan. Eingeleitet, übersetzt und kommentiert von Katja Weidner. Freiburg i.Br. 2022 (Fontes Christiani 94), S. 7–39; Sebastian Holtzhauer: Die Fahrt eines Heiligen durch Zeit und Raum. Untersuchungen ausgewählter Retextualisierungen des Brandan-Corpus von den Anfängen bis zum 15. Jahrhundert. Mit einer Edition der Münchener Reisefassung der ‚Reise des hl. Brandan‘ (Pm). Göttingen 2019, sowie Andreas Hammer: St. Brandan und das ‚ander paradîse‘. In: Imagination und Deixis. Studien zur Wahrnehmung im Mittelalter. Hrsg. von Kathryn Starkey. Stuttgart 2007, S. 153– 176. 64 Im Folgenden zitiert nach der Ausgabe: Navigatio Sancti Brendani. Die Seereise des heiligen Brendan. Eingeleitet, übersetzt und kommentiert von Katja Weidner. Freiburg i.Br. 2022 (Fontes Christiani 94). 65 Laut Hahn (Anm. 63), S. 209, müssten die Beziehungen zwischen den Textgruppen von Navigatio und Reise noch immer als unklar gelten. Sie seien gekennzeichnet von einem „eigentümliche[n] Verhältnis von Parallelität und Divergenz“ (S. 208), das in der Forschung unterschiedlich bewertet wurde: Von der Annahme mündlicher Quellen für die Reise-Tradition durch Hermann Suchier: Brandans Seefahrt. Anglonormannischer Text der Handschrift Cotton Vesp. B X. In: Rom. Studien. Hrsg. von Eduard Böhmer. Bd. 1. 1871–1875. Straßburg 1875, S. 553–588, hier S. 563, über das Konstatieren von Beziehungen der Reise-Tradition zu einer angenommenen Vorstufe der Navigatio durch Walter Haug: Vom Imram zur Aventü re-Fahrt. Zur Frage nach der Vorgeschichte der hochhöfischen Epenstruktur. In: Wolfram-Studien 1 (1970), S. 264–298, bis hin zu dem Ergebnis von Clara Strijbosch: De bronnen van ‚De Reis van Sint Brandaan‘. The Sources of ‚The Voyage of Saint Brendan‘ (with a summary in English). Hilversum 1995 (Middeleeuwse studies en bronnen XLIV), die Reise sei „een bewuste omwerking“, eine planvolle Umarbeitung der Navigatio.
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entschiedenen Vorteil, spezifische Bearbeitungstendenzen sichtbar zu machen, die sich als ideengeschichtlich kennzeichnend etwa für eine bestimmte Zeit und ihren kulturhistorischen Kontext erweisen lassen. In diesem Sinne gehe ich hier vor, wenn im Folgenden zwei Aspekte herausgegriffen werden: zum Ersten die Emanzipation des Zweifelnarrativs zur tragenden Struktur durch die geänderte Rahmenerzählung der Reise-Fassungen; zum Zweiten die Prominenz von Zweiflerfiguren in eben diesen Texten, die auf Handlungs- wie Diskursebene mehr Raum einnehmen, zum Teil neu hinzukommen, und insgesamt positiviert werden. Die Rahmenerzählung divergiert in der Tradition der Reise-Fassungen ganz erheblich von der Navigatio. Während Brandans Entscheidung für seine Seefahrt dort frei getroffen ist,⁶⁶ ist die Unternehmung in der Reise nämlich eine transzendent verhängte Strafe für Brandans Zweifel an seiner Lektüre der Wunder Gottes.⁶⁷ Das Zweifelnarrativ wird hier zur tragenden Struktur.⁶⁸ Brandans Unglauben bezieht sich nicht in erster Linie auf die mirabilia Dei (gotes tougen, Mitteldt. Reise, V. 3), sondern auf seine Quelle, das buch (ebd.,V. 49) und dessen tichter (ebd.,V. 50), den er verflucht (vgl. ebd.).⁶⁹ Denn er liest dort von zwei Paradiesen auf Erden, einer Welt unter der Erde, drei Himmeln, einem Riesenfisch, dessen Rücken wie eine Insel mit Wald bewachsen ist, und schließlich von Gottes Gnade für Judas. Bereits hier ist die Spiegelung des Brandan als ein alter Thomas – ein zweiter Thomas – verankert, denn mehrmals wird Brandans Unwille zu glauben betont, der auch noch mit einem bereits für Thomas spezifischen epistemischen Anspruch verbunden ist: er enwolde noch enmachte des icht geloubic wesen,
66 Mit der Brandans Entscheidung motivierenden Metadiegese vom paradiesischen Land der Verheißung durch den Mönch Barrind steht die Navigatio in der Tradition irischer Abenteuer-Erzählungen (Immrama, vgl. Haug [Anm. 66]) und integriert damit auch jenen die Aventiure kennzeichnenden Doppelcharakter von Ereignis und Erzählung. In der Reise-Tradition kommt der besondere Aspekt der komplexisierten Medialität dazu, indem Brandan von Wundern, zu denen auch der Bericht von zwei paradise[n] / uffer erden (V. 24 f.) gehört, in Büchern liest. 67 Vgl. das identische Motiv als Rahmenhandlung des spätmittelalterlichen Märe Einsiedler und Engel Heinrich Kaufringers; die Motivtradition geht zurück bis auf das Väterbuch (Ende 13. Jahrhundert) und dessen frühchristliche lateinische Vorlage, die Vitaspatrum, findet sich ebenso in mittellat. Exemplarik (Gesta Romanorum). Sie speist sich aus der zentralen Aussage dem Menschen verborgener göttlicher Gerechtigkeit, vgl. Alwine Slenczka: Mittelhochdeutsche Verserzählungen mit Gästen aus Himmel und Hölle. Münster 2004, S. 19–44. 68 Vgl. den Hinweis von Witthöft 2021 (Anm. 4), S. 44. 69 Vgl. Hahn, Fasbender (Anm. 61), S. 94, Anm. zu V. 44 f.
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wie er ez hette gelesen, er ensehez mit den ougen sin. (Mitteldt. Reise, V. 44–47)⁷⁰
Wie im Falle der biblischen Thomaserzählung ist der Zweifel Ausgangspunkt einer strukturellen Doppelung des bereits Erzählten, denn wegen der Verbrennung des Buches wird Brandan durch Gott eine Bußfahrt befohlen – eine nun tatsächlich aktiv ausgeführte Suche nach Wundern, wie er sie zuvor medial über die Lektüre in Büchern unternommen hatte (unde begonde wunder suchen / in selzenen buchen, Mitteldt. Reise, V. 21 f.). Die Reise ist Strafe, reagiert aber zugleich auf das Evidenzbedürfnis Brandans, indem der nun Gelegenheit hat, die gelesenen Wunder mit eigenen Augen zu sehen und deren Wahrheitsstatus zu beurteilen: do gebot im der heilige Crist, daz er in vil kurzer zit vure uf daz mer lanc unde wit unde suchte wunder nuin jar, biz er besehe aldar, waz gelogen oder war were. (Mitteldt. Reise, V. 62–67)
Tatsächlich findet sich in der volkssprachigen Reise-Tradition Thomas auch in eine der Episoden auf Brandans Weg integriert, und zwar nicht zufällig in jene der ‚neutralen Engel‘⁷¹. In dem Land Multum Bona Terra (vgl. Mitteldt. Reise, V. 1129), einer Art irdischem Paradies, immergrün, mit Nahrung im Überfluss, trifft Brandan auf seltsame, monströse Mischwesen: Sie haben Schweineköpfe, Hundepfoten und Kranichhälse (vgl. Abb. 6). Eines dieser Wesen behauptet gegenüber Brandan, sie würden Gott besser kennen als er, denn sie hätten ihn einst, vor Luzifers Fall, direkt geschaut (Mitteldt. Reise, V. 1287–1290). Als nun Brandan an der Auskunft des Wesens zweifelt (ebd., V. 1291–1312), wobei er sich ganz offensichtlich wieder auf die Evidenz des Augenscheins stützt – denn wie Engel sehen diese Kreaturen nun wirklich nicht aus –, 70 Vgl. bereits kurz vorher, als Brandan das Gelesene ungeloublich (Mitteldt. Reise, V. 39) findet. 71 Die Erzählung von den ‚neutralen Engeln‘ taucht in mittelalterlichen Texten immer wieder auf. Sie besagt, dass es bei Luzifers Aufbegehren gegen Gott Engel gegeben habe, die sich weder für Gott noch für Luzifer entschieden. Sie stürzten mit Luzifer aus dem Himmel und harren seitdem an einem ‚Zwischenort‘ auf göttliche Gnade. Biblische Anknüpfungspunkte sind rar (Lk 10,18; Joh 12,31; Apk 12,9; 20,1 f.), wesentliche Verbreitung erfuhren die Vorstellungen im Mittelalter durch Augustinus’ De genesi ad litteram (XI), vgl. Hahn, Fasbender (Anm. 61), S. 141, Komm. zu V. 1289. Sehr materialreich Clara Strijbosch: Himmel, Höllen und Paradiese in Sanct Brandans Reise. In: ZfdPh 118 (1999), S. 50–68 (online über dbnl.nl), hier S. 58–62. Noch in Dantes Divina Commedia kommen diese ‚neutralen Engel‘ vor: Sie befinden sich in der Vorhölle bei den Seelen, die weder in Ehre noch in Schande gelebt haben.
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Abb. 6: Brandans Reise, Illustration der ‚neutralen Engel‘, um 1460. Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cod. Pal. germ. 60, fol. 177r.
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erzählt ihm der verstalte geist (ebd., V. 1313), also der „deformierte Engel“, zunächst vom zweifelnden Thomas: Do sprach der verstalte geist ‚Brandan, wan du daz weist und des wilt nicht gelouben han, des saltu grozen schaden entpfan um daz buch, da die warheit an was geschriben. leit ist dir worden daz. dar umme tun die wisliche und lebent ouch selicliche, die da gelouben gotes wunder, ein rede sage ich dir darunder, die schreib sente Johannes, wie eines gutes mannes geloube was gewichen. er sprach gar zwivelichen: er enwoldes nicht geloubic wesen, wie er ez dicke horte lesen, daz got von dem tode irstunde, er ensehe selber sine wunde, do er die greif und sach, gotes sun im do zusprach „geloubestu nu, Thomas, sint ich dir bezeiget han daz, da du sere zwiveltes an, daz ich von dem tode bin irstan?“ do sprach der zwivelere „herre min, ich bin vro der mere. wes ich sol, des geloube ich nu.“ „deste seliger bistu“ sprach der vil heilige Crist. „daz du geloubic worden bist, des saltu lon entphan hie. michel seliger aber sint die, die nieme gesahen mich und geloubten doch, daz ich were ein immer werende got.“ ‚sich, Brandan, wer sin gebot heldet, der muz vrewen sich immermere in himelrich. (Mitteldt. Reise, V. 1313–1350, Hervorhebungen C. R.)
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Vieles ist hier erstaunlich, und die Beobachtungen lassen, umso mehr vor dem Hintergrund der Navigatio, in der die Episode völlig anders gestaltet ist,⁷² nur den Schluss einer kompositorisch intendierten Fokussierung des Themas ‚Zweifel‘ für die Reise-Tradition zu. Meine Ausführungen stellen sich insofern den bereits beobachteten motivgeschichtlichen Parallelen zwischen Brandan- und Thomaserzählung bestätigend zur Seite: Als irischer Heiliger wurde Brandan dem Apostel Thomas zugeordnet, wofür man als Grund sowohl das Motiv des Zweifels erwogen hat als auch die apokryphe Erzähltradition der Thomasakten, die Thomas als missionierenden Seefahrer bis Indien reisen lässt.⁷³ Denn es wird, zum Ersten, der Bezug zur Rahmenhandlung explizit gesetzt, indem der ‚neutrale Engel‘ Brandan auf das Verbrennen des Buches anspricht und die Geschichte des Thomas spezifisch unter dem epistemologischen Konnex von ‚Wissen‘ und ‚Glauben‘ (Mitteldt. Reise, V. 1314 f.) einführt.⁷⁴ Zum Zweiten wird die Spiegelung des Brandan im zweifelnden Thomas⁷⁵ durch eine fast wörtliche Rekurrenz von V. 44 f. (er enwolde noch enmachte / des icht geloubic wesen) aus der Rahmenerzählung aufgerufen: er enwoldes nicht geloubic wesen (ebd.,V. 1327).⁷⁶ Und zum Dritten ist die Thomasgeschichte sogar der Rahmenerzählung angepasst, indem hier behauptet wird, Thomas habe von Christi Auferstehung dicke lesen gehört (vgl. ebd., V. 1328) und es trotzdem nicht glauben wollen, ehe er nicht selbst dessen Wunden gesehen hätte – genauso wie Brandan von Gottes Wundern in Büchern gelesen hat.⁷⁷ Diese Veränderung an der Stelle ist umso auffälliger, als im Evange-
72 Vgl. Hahn, Fasbender (Anm. 61), Komm. zu V. 1113, S. 133: „Die Nav. (c. 11) bot nur wenige Anknüpfungspunkte.“ 73 Vgl. ebd., Komm. zu V. 1333, S. 143, nach Heinrich Zimmer: Keltische Beiträge II: Brendans Meerfahrt. In: ZfdA 33 (1889), S. 129–220, S. 257–338, hier S. 334; Haug (Anm. 66). Clara Strijbosch: Ein Buch ist ein Buch ist ein Buch. Die Kreation der Wahrheit in ‚Sankt Brandans Reise‘. In: ZfdA 131,2 (2002), S. 277–289, hier S. 288; Holtzhauer 2019 (Anm. 64), S. 130–143. 74 Die mittelniederl. Reise geht in die gleiche Richtung, wobei sie eine stärker belehrende Tendenz zeigt. So geht sie mit einigen Plusversen noch ausführlicher auf diesen Punkt ein und neigt bei der Parallelisierung von Brandan und Thomas insgesamt etwas zu didaktisierender Redundanz, etwa V. 1917–1922: Nu hebben ghesien dine oghen, / dattu doe niet wils gheloven. / Daer omme so doen si wijselike / ende leven saleghelike, / die an Gods woorde gheloven, / al en saghen zijs noint met oghen. – „Nun haben deine Augen gesehen, was du nicht glauben willst. Darum handeln diejenigen weise und leben selig, die an Gottes Wort glauben, auch wenn sie es nicht mit eigenen Augen gesehen haben.“ 75 Vgl. er sprach gar zwivelichen, Mitteldt. Reise, V. 1326. 76 Der Hinweis auf diese Beobachtung bei Hahn, Fasbender (Anm. 61), S. 94, Anm. zu V. 44 f. Vgl. Ingrid Kasten: Brandans Buch. In: ‚Ir sult sprechen willekomen‘. Grenzenlose Mediävistik. Festschrift Helmut Birkhan. Hrsg. von Christa Tuczay, Ulrike Hirhager, Karin Lichtblau. Bern [u. a.] 1998, S. 49–60, hier S. 52 f. 77 Freilich kann mhd. lesen auch in der Bedeutung von „sagen, erzählen, berichten“ gebraucht werden, vgl. Lexer Bd. 1, Sp. 1889, s.v. „lësen, stv. I, 1.“ Dennoch scheinen mir erstens die Belege für
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lientext, dem als materia sacra eine besondere Quellenverbindlichkeit zukommt, ausdrücklich die anderen Jünger Thomas mündlich von der Auferstehung unterrichten (Joh 20,25).⁷⁸ Bereits hier ist aber in Bezug auf das ‚Wissen‘ um Christi Auferstehung bzw. seine Gottnatur und den ‚Glauben‘ daran die mediale Vielschichtigkeit der Wundervermittlung zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit, und damit der Status des biblischen Textes selbst als Wahrheit vermittelnde Quelle thematisiert: multa quidem et alia signa fecit Iesus in conspectu discipulorum suorum quae non sunt scripta in libro hoc; haec autem scripta sunt ut credatis quia Iesus est Christus Filius Dei et ut credentes vitam habeatis in nomine eius – „Noch viele andere Zeichen tat Jesus vor seinen Jüngern, die nicht geschrieben sind in diesem Buch. Diese aber sind geschrieben, damit ihr glaubt, dass Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes, und damit ihr durch den Glauben das Leben habt in seinem Namen“ (Joh 20,30 f.). Im Johannesevangelium ist mit der Thomasgeschichte eine besondere Rezeptionsorientierung verbunden.⁷⁹ Mir scheint speziell in der Reise-Fassung der Brandanlegende eben dieser Rezeptionsaspekt aufgegriffen und weitergedacht zu sein. Die Analogie der nur in der Reise-Fassung integrierten Thomasgeschichte zum zweifelnden Brandan ist offensichtlich und offensichtlich ist auch, dass Thomas hier als Negativexempel inseriert ist zur Warnung vor dem Zweifel – betont wird Jesu Abmahnung aus dem Evangelientext, seliger seien die, die glaubten ohne zu sehen. Ganz im Gegensatz zu Konrads Verarbeitung der Thomasgeschichte in seiner Hinvart, die, wie oben gesehen, eben diesen Teil ausspart. Entscheidend aber ist eine erzähltechnische Neuerung, die die Thomasepisode in der Reise-Tradition des Brandan mit derjenigen in der Hinvart teilt, und die spezifisch für ein höfisches Erzählen um 1200 zu sein scheint, vermutlich inspiriert durch den narrativen Gestus des höfischen Romans: In den Vordergrund tritt die Perspektivität von Figuren und damit die umstandsgebundene Relativierbarkeit von Aussagen. Was dadurch gesteigert wird, ist eben jene oben bereits angesprochene Rezeptionsorientierung, im Sinne eines erhöhten Identifikationspotentials für die Rezipierenden. Denn ein Blick auf die lateinische Tradition genügt, um zu sehen, dass die ‚neutralen Engel‘ der Reise nicht nur äußerlich ganz anders ge-
diese Bedeutung generell in der ein oder anderen Weise den Zusammenhang mit schriftvermitteltem Wissen zu transportieren, zweitens liegt dieser Kontext an der Stelle so nahe, dass die Wortwahl kaum Zufall sein wird. 78 Vgl. Konrads Hinvart, in der es, ganz entsprechend dem Bibeltext, in der Thomasepisode ausschließlich um mündlich vermitteltes Wissen geht, während die Reise-Tradition des Brandan offensichtlich die mediale Ambivalenz mündlich bzw. schriftlich tradierten Wissens hinzunimmt. 79 Diesen Aspekt der kanonischen Thomasgeschichte hebt Most (Anm. 19) hervor, der dabei insbesondere die Rezeptionsorientiertheit des Johannesevangeliums im Vergleich zu den Synoptikern herausarbeitet.
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zeichnet sind als diejenigen der Navigatio, die als wunderschön singende, strahlend weiße Vögel auftreten.⁸⁰ Brandan erfährt dort von einem der Vögel, sie seien aufgrund einer „zufälligen zeitlichen Korrelation […] zur falschen Zeit am falschen Ort“⁸¹ gewesen, da sie in eben dem Moment von Luzifers Rebellion erschaffen wurden und dessen Sturz sie mit in die Tiefe riss ohne dass sie sich aktiv (schuldhaft) für ihn entschieden hätten.⁸² Das temporale Motiv dieser Koinzidenz⁸³ macht die ‚neutralen Engel‘ zu passiven Opfern der Umstände. Sie hatten gar nicht die Zeit für eine Entscheidung. Eben hier setzt die volkssprachige Tradition an. Denn sie ändert maßgeblich, indem sie den zeitlichen Ablauf des Vorgangs anders konzeptualisiert: Brandan, ich wil dir ouch tun kunt‘ sprach der geist zu der stunt, ‚wa wir got gesahen: wir waren im so nahen, so Lucifer der alde mit unrechter gewalde zu himele werben wolde anders dan er solde. daz was uns weder lip noch leit. wir waren engel vil gemeit, got hatte wir nicht vor ougen, wir minneten nicht sin tougen. daz ist wol worden an uns schin: wie mochte wir wirs geschaffen sin? wir geniezen ouch des da mite, wan wir des hoves site zu himele begiengen. dar umme wir entpfiengen diz lant und wurden alle gliche gestozen von dem himelriche. ouch hat uns got der helle irlazen: wir enwolden uns nicht ebenmazen
80 Vgl. Navigatio, cap. XI, 8, S. 106 (avibus candidissimis), sowie cap. XI, 25–37, S. 110–113: Die Vögel singen Psalmen zu den liturgischen Gebetsstunden. 81 Weidner: Einleitung (Anm. 64), S. 35. 82 Navigatio, cap. XI,17: Nos sumus de illa magna ruina antique hostis, sed non peccando aut consensus sumus, sed ubi fuimus creati, per lapsum illius cum suis satellitibus contigit nostra ruina. – „Wir stammen von dem großen Sturz des alten Feindes (sc. des Teufels), aber nicht wegen eines sündhaften Fehlers oder unseres Einvernehmens (mit ihm), nein. Gerade als wir geschaffen worden sind, geschah mit dem Niedergang von ihm und seinen Anhängern (auch) unser Sturz.“ 83 Es lässt die göttliche Providenz in einigermaßen seltsamem Licht erscheinen und wäre geistesgeschichtlich näher zu untersuchen.
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zu Luciferes gesellen, die mit im vielen in die hellen. noch hoffe wir vil armen, daz got tu uber uns sin irbarmen.‘ (Mitteldt. Reise, V. 1351–1376)
Was in der Navigatio synchronisiert ist, Luzifers Sturz als Bestrafung seiner Rebellion und die Verbannung der ‚neutralen Engel‘, ist hier in ein Nacheinander der Ereignisse aufgelöst. Damit aber liegt der Fokus auf diesen Figuren als Handlungsträger und dem Moment ihrer Selbstbestimmtheit, welche Voraussetzung für Zweifel ist. Die Engel treffen keine Entscheidung, obwohl sie die Gelegenheit dazu haben. Zum Aufbegehren Luzifers gegen Gott beziehen sie nicht Stellung: daz was uns weder lip noch leit (V. 1359). Zweifeln meint hier jenen Aufschub einer Entscheidung zwischen Alternativen, das Hinauszögern eines eindeutigen Bekenntnisses zu Gott, das auch Thomas und Brandan charakterisiert. Der Hauptakzent liegt dabei wieder auf dem Epistemologischen. Wie auch im Falle des Thomas und Brandan tritt die Spannung zwischen Sehen/Wissen und Erkennen/Glauben offen zutage. Die ‚neutralen Engel‘ haben Gott gesehen (V. 1353), aber ihn nicht vor ougen (V. 1361) gehabt, was in diesem Falle heißt, sie haben ihn nicht erkannt (minneten nicht, V. 1362), das Geheimnis seines Wesens (sin tougen, ebd.) nicht durchschaut.⁸⁴ Das tertium comparationis des Thomas, Brandans und der ‚neutralen Engel‘ ist die Tatsache, dass es sich um eigentlich Gläubige handelt, die vom Glauben abgekommen sind.⁸⁵ Ihnen allen fehlt im entscheidenden Moment das Vertrauen in jene ‚andere‘ Evidenz des Metaphysischen, die sich empirischer Erfahrbarkeit entzieht. Eben dieser Zweifel generiert, als Strafe der Evidenzversessenheit, die hier aus religiöser Perspektive das rechts- wie allgemein sozialhistorisch bedeutsame Konzept der Augenzeugenschaft konterkariert, einen Umweg der ausführlichen empirischen Erfahrung. Positiver Effekt des Zweifels ist damit, wie einleitend bereits dargelegt, der Entwurf einer Geschichte, die zeiträumlich auf dieser Wegstruktur⁸⁶
84 Christiane Witthöft: ‚Machtvolle Ordnung‘. Erzählordnungen zwischen Zweifel und Beweis im Herzog Ernst und in der Reise-Fassung des St. Brandan. In: Erzählte Ordnungen – Ordnungen des Erzählens: Studien zu Texten vom Mittelalter bis zur Frühen Neuzeit. Hrsg. von Daniela Fuhrmann, Pia Selmayr. Berlin/Boston 2021, S. 172–193, hier S. 191, akzentuiert treffend einen allgemein „positiv konnotierten Zweifel mit dem Ziel von Erkenntnisleistungen“. Mir scheint zusätzlich anhand meiner untersuchten Textreihe eine in epistemologischer Perspektive spezielle Spannung von empirischer Erkenntnis und Metaphysik herausgestellt. 85 Witthöft 2021 (Anm. 4), S. 44 weist bereits auf eine über den Zweifel gestiftete „intertextuelle Verbindung“ hin. Vgl. auch Strijbosch: Ein Buch (Anm. 74), S. 288; Holtzhauer 2019 (Anm. 64), S. 130– 143. 86 Für die Bedeutsamkeit der Wegmetaphorik als Basis mittelalterlichen Erzählens vgl. Christoph Huber: Der ‚Weg‘ der Erzählung. Beobachtungen zu Hartmann von Aue und weiteren höfischen
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basiert.⁸⁷ In eben diesem Zusammenhang ist es umso schlüssiger, dass die ‚neutralen Engel‘, selbst Exempel des gestraften Zweifels, zugleich als wunderbare, wilde Aventiure auf Brandans Reise der Welterfahrung figurieren. Als eine der Episoden dieser Reise bilden sie nun den Gegenstand der Erzählung. Indem sich also Thomas in Brandan und Brandan in Thomas spiegeln, wird die Ambivalenz des Zweifelns offensichtlich: Wie Thomas sein Zweifel ganz nahe an Gott heranbringt, verschafft Brandan erst sein Zweifel die Möglichkeit, Gottes Wunder zu erfahren – als Aventiuren, die er später aufschreibt. Und damit ist auf die Frage nach dem Status des schriftlichen Textes als Zeugnis göttlicher Wahrheit zurückzukommen: In der Forschung herrscht eine rege Diskussion darüber, in welchem Verhältnis das neue Schriftwerk zu dem zu Beginn verbrannten Buch steht, ob es sich um ein Substitut handelt oder ob es – aufgrund der Erfahrungen Brandans, aufgrund seiner „eigenen ‚ratio‘ als Urteilsinstanz“ – das alte in seinem Wahrheitsanspruch übersteigt […].⁸⁸
In der Tradition jener Rezeptionsorientierung des Johannesevangeliums adaptiert die volkssprachige Brandanlegende mit ihrer kunstvollen Integration nicht nur des zweifelnden Thomas selbst, sondern auch der Basisstruktur seines Zweifelnarrativs, die Strategie der Textauthentifizierung. Sie legitimiert sich durch die (für den zweifelnden Rezipierenden mit Brandan identifikatorisch nachzuvollziehende)
Erzählern. In: PBB 142 (2020), S. 330–353; Udo Friedrich: Erzähltes Leben – Zur Metaphorik und Diagrammatik des Weges. In: LiLi 176 (2014), S. 51–76. 87 In diesen interpretativen Kontext ist auch Wolframs Parzival einzubeziehen, in welchem das Motiv wie die Erzählfigur des Zweifelns eine wesentliche Rolle spielen und eben jene Spannung von empirischer und metaphysischer Erkenntnis (Sehen/Wissen, Erkennen/Glauben) etwa in der Szene von Parzivals hinausgezögerter und dann nicht gestellter Frage auf der Gralsburg zum Tragen kommt. Am Schluss des Parzival greift, für alle Beteiligten überraschend, doch wieder das bekannte Narrativ: Parzival darf ein zweites Mal zum Gral und in der Doppelung reüssieren. Der Zweifler ist auch hier der Auserwählte. Es verwundert daher nicht, dass auch die ‚neutralen Engel‘ wieder vorkommen, nämlich in Trevrizents Ausführungen im neunten Buch, wo ihr Exempel deutlich auf Parzival bezogen wird. Diesem über das Motivgeschichtliche weit hinausgehenden Zusammenhang wäre nachzugehen, was hier rein aus Umfangsgründen nicht mehr geschehen kann. Ich möchte die Untersuchung an anderer Stelle fortsetzen, vgl. zwischenzeitlich zu Parzival als Gotteszweifler Rippl: Gleichzeitigkeit (Anm. 26). Zu Trevrizents ‚Widerruf‘ vgl. den Beitrag von Friedrich Michael Dimpel in diesem Band. 88 Witthöft (Anm. 85), S. 184 f; mit Zitat von Hannes Kästner: Der zweifelnde Abt und die mirabilia descripta. Buchwissen, Erfahrung und Inspiration in den Reiseversionen der Brandan-Legende. In: Reise und Reiseliteratur im Mittelalter und in der Frü hen Neuzeit. Hrsg. von Xenja von Ertzdorff, Dieter Neukirch. Amsterdam/Atlanta 1992, S. 399. Vgl. Strijbosch: Ein Buch (Anm. 74).
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‚Erfahrung‘ von Gottes Wundern quasi selbst als veritabel heiliger Text.⁸⁹ Kennzeichnend ist einmal mehr die vielschichtige und unlösbare Dialektik von Zweifel und Glaube (der Zweifel als ‚Bruder des Glaubens‘), die sich hier auf Sujet- und Gattungsebene als ‚eigensinnige‘ Mischung von legendarischer und romanhafter Struktur, Wunder- und Aventiureerzählung niederschlägt.⁹⁰ Am Beispiel des ‚Erzverräters‘ Judas wird die Thematisierung von Zweifel in den volkssprachigen Bearbeitungen der Brandanlegende schließlich nochmals besonders deutlich. In der mitteldeutschen wie der mittelniederländischen Reise ist der Grund für Judas’ Verdammnis nicht in erster Linie, wie in der Navigatio, sein Verrat an Jesus durch dessen ‚Verkauf‘ (negotiator pessimus)⁹¹, sondern seine Verzweiflung (desperatio) als Verlust von Erlösungshoffnung!⁹² Judas selbst erklärt Brandan in der mitteldeutschen Reise, dass er, anstatt seine Tat zu bereuen, im Zweifel ‚steckengeblieben‘ sei: in einem zwivel ich do besaz: mir geriet der tuvel daz, daz ich mir selbe tet den tot. ⁹³ des muz ich immer liden not. het ich gehabet ruwe, got der ist so getruwe, er hette mich entphangen drat. alsus enwirt min nimmer rat. (Mitteldt. Reise, V. 973–980)
89 Vgl. zu solchen Strategien poetischer Selbstlegitimation Peter Strohschneider: Textheiligung. Geltungsstrategien legendarischen Erzählens im Mittelalter am Beispiel von Konrads von Wü rzburg ‚Alexius’. In: Geltungsgeschichten. Über die Stabilisierung und Legitimierung institutioneller Ordnungen. Hrsg. von Gert Melville, Hans Vorländer. Köln [u. a.] 2002, S. 109–147. 90 Vgl. grundlegend Max Wehrli: Roman und Legende im deutschen Hochmittelalter. In: Worte und Werte. FS Bruno Markwardt. Hrsg. von Gustav Erdmann. Berlin 1961, S. 428–443. Wieder in: Ders.: Formen mittelalterlicher Erzählung. Zü rich 1969, S. 155–176; Udo Friedrich: Die Paradieserzählung als kulturelles Narrativ in der Brandanlegende und im ‚Erec’ Hartmanns von Aue. In: Anfang und Ende. Formen narrativer Zeitmodellierung in der Vormoderne. Hrsg. von dems., Andreas Hammer, Christiane Witthöft. Berlin 2014 (Literatur – Theorie – Geschichte. Beiträge zu einer kulturwissenschaftlichen Mediävistik 3), S. 267–288; Haug (Anm. 66). 91 Navigatio (Weidner), cap. XXV, 8, S. 184. Vgl. den Kommentar ebd., Anm. 295. 92 Vgl. Mndl. Reise (Schmid, Strijbosch [Anm. 62]), S. 72, Komm. zu V. 1351–1362. 93 Dass der Teufel Judas die Idee zum Selbstmord eingab, geht möglicherweise auf Ps 109,6 zurück; zudem hat Augustins Auslegung von Joh 17,12, nach der er Judas’ Vorherbestimmtheit zum Verderben betont, zu Legenden eines vom Teufel gesteuerten Judas geführt, vgl. Martin Meiser: Judas Iskarioth. In: WiBiLex. Das wissenschaftliche Bibellexikon im Internet, Abschnitte 2.1.3.; 2.2.4., https:// www.bibelwissenschaft.de/stichwort/51880/ [Zugriff: 05.12. 2022].
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Und eben diesen Erlösungszweifel des Judas hatte Brandan bereits in der Rahmenerzählung der Reise-Tradition gedoppelt, indem die Behauptung, Judas werde das Erbarmen Gottes zuteil, ihn unter anderem dazu veranlasste, das buch (V. 49) zu verbrennen, in dem er dies gelesen hatte.⁹⁴ Auch dem ultimativen Zweifler Judas kommt aber die göttliche Gnade entgegen: Er darf sich am Sonntag von seinen Höllenqualen auf einem Felsen im Meer erholen, zwar immernoch gequält, indem ihm eine Körperhälfte vor Kälte erfriert, die andere vor Hitze verbrennt, aber im Vergleich zu den wochentäglichen Strafen ist er hierüber im mittelniederländischen Text arde vro – „sehr froh“: hem dochte openbare, / dat hi in werschepen ware (Mndl. Reise, V. 1339 f.) – „Es kam ihm wahrhaftig vor, als sei er bei einem Festmahl.“⁹⁵ Zwar erscheint uns eine solche ‚Linderung‘ aus moderner Perspektive fast sarkastisch, man muss dies jedoch im historischen Kontext sehen: Denn woher eine derartige Gnade ausgerechnet für den Erzsünder Judas kommt, die die Navigatio in der Tradition der Visio Pauli thematisiert, ist bislang tatsächlich „ideengeschichtlich nicht geklärt“.⁹⁶ Die volkssprachigen Fassungen der Brandanlegende schließen hier an, mit dem Fokus auf der Dialektik von Sünde, Gnade und Erlösungshoffnung. In der Navigatio liegt die Betonung noch auf einem besonderen zeitlichen Aspekt, nämlich der liturgischen Vergegenwärtigung der hohen Kirchenfeste, für die die konkrete Handlung Ankerpunkte bietet – ein Zug, der sich allgemein für diesen Text beobachten lässt,⁹⁷ und im Falle des Judas spezifisch, indem er Brandan erläutert, sein Verbleib auf dem Felsen sei propter honorem dominicae resurrectionis – „wegen der Ehrwürdigkeit der sonntäglichen Auferstehung“ (Navigatio, cap. XXV,9,
94 Dar nach vant er, wie Judas / genuzze gotes gute so, / daz er gnade hette io / des samentages nachtes. / er enwolde noch enmachte / des icht geloubic wesen, / wie er ez hette gelesen, / er ensehez mit den ougen sin. (Mitteldt. Reise, V. 40–47). In der Abfolge der für Brandan unglaubwürdigen Wunder steht der begnadigte Judas bezeichnenderweise an letzter Stelle und bildet damit den Höhepunkt, auf den unmittelbar Brandans emotional geleitete Reaktion folgt: aus Zorn (Mitteldt. Reise V. 49; Mndl. Reise V. 55) verbrennt er das Buch. 95 Mndl. Reise (Schmid, Strijbosch [Anm. 62]), V. 1338–1340. 96 Navigatio (Weidner), S. 184, Anm. 299, Zitat ebd.; vgl. auch S. 17 zur Bedeutung der spätantiken und frühmittelalterlichen Visionsliteratur für die Navigatio, v.a der Visio Pauli, einer apokryphen Vision des Apostels Paulus. 97 Beobachtungen zur Zeitlichkeit des Textes bzw. des Brandanstoffes beziehen sich vorwiegend auf Konzeptualisierungen des paradiesischen Reiseziels als ‚Sonderraum‘, vgl. Andreas Hammer: St. Brandan und das ander paradîse. In: Imagination und Deixis. Studien zur Wahrnehmung im Mittelalter. Hrsg. von Kathryn Starkey, Horst Wenzel. Stuttgart 2007, S. 153–176; Sebastian Holtzhauer: Jenseits des Diesseits. Narration und Narrativierung von Zeit(enthobenheit) in der lateinischen und deutschen Tradition des Brandanstoffs sowie im ‚Mönch Felix‘. In: ZeitRahmenÜberschreitungen im vormodernen Erzählen. Hrsg. von Amelie Bendheim, Martin Sebastian Hammer. Oldenburg 2021 (BmE Themenheft 9), S. 107–136 (online). Zur Bedeutung der liturgischen Aspekte des Klosterlebens in der Navigatio Weidner: Einleitung (Anm. 64), S. 26 f.
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S. 184). Der Erzähler fügt an: nam erat dies dominicus tunc – „Damals war Sonntag“ (ebd.). In der Folge zählt Judas noch weitere kirchliche Termine auf, zu deren Feier er die Hölle verlassen und für eine bestimmte Zeit seinen „Ruheort“ (refrigerium, Navigatio, cap. XXV,13, S. 184) aufsuchen darf, etwa das Dreikönigsfest, oder von Ostern bis Pfingsten (vgl. ebd.). Die volkssprachigen Ausformungen kürzen diesen Aspekt liturgisch besetzter Zeitlichkeit, nehmen damit die (liturgische) Funktionalisierung des erzählten Geschehens zurück und investieren stattdessen narrativ in die Darstellung der theologisch-philosophischen Problemkomplexe des GottMensch-Verhältnisses, hier insbesondere von Zweifel und Glaube. Womit dem erzählten Geschehen ein erhöhtes Maß an ‚Eigen-Sinn‘ zuwächst. Freilich ist die göttliche Gnade in ein schier unendlich ausdifferenziertes Stufenmodell von ‚Verdammung – Strafe – Buße – Erlösung‘ integriert und so doch noch in die Tradition des göttlichen ordo eingeschrieben. Darauf weist auch die Art der sonntäglichen Pein, die mit der Zweiteilung des Körpers nach dem Konzept der spiegelnden Strafe (Talionsprinzip) das Vergehen des Zweifels (twifel, Sankt Brandans Reise, V. 1358) ausstellt.⁹⁸ Dennoch ist allein das Ereignis der dem Judas entgegenkommenden göttlichen Gnade (selbst in dieser relativierten Form) erstaunlich, weil „außerordentlich“⁹⁹. In der mittelniederländischen Reise ist dieser Punkt der vom zweifelnden Menschen verspielten Gnade noch weiter ausgeführt, indem Judas selbst seine Erlösungsfähigkeit bis zum letzten Augenblick, und damit seinen Fehler der verpassten Chance, durch zwei berühmte Beispiele reuiger Sünder untermauert. Er vergleicht sich mit Longinus und dem rechten Schächer, jenen Beispielfiguren für eine gelungene Umkehr ‚fünf vor zwölf‘ (Sankt Brandans Reise, V. 1363–1376).¹⁰⁰
V Fazit Auf meine Titelfrage ‚Zu spät?‘ könnte man also aus Sicht obiger Analysen antworten: ‚Es ist nie zu spät!‘. Denn Zweifel bedeutet nicht ein ‚nicht glauben‘, sondern ein ‚noch nicht glauben‘, was den Prozess, den Weg vom Zweifel zur Erlösung erzählbar werden lässt. Figurationen des Zweifels und das Narrativ des Zweifelns erweisen sich als spezifische Elemente hochmittelalterlichen Erzählens, wobei ihr Potential gerade darin liegt, Erzählzeit zu generieren. Die ideengeschichtliche Relevanz der Thematik für die Zeit um 1200 wird belegt durch das besondere narrative 98 Vgl. V. 1330: Na sine werken hi loen ghewan – „Nach seinen Taten bekam er Lohn.“ 99 Schmid, Strijbosch (Anm. 62), S. 72, Komm. zu V. 1351–1362. 100 Vgl. zu diesen Sünderheiligen Erhard Dorn: Der sü ndige Heilige in der Legende des Mittelalters. Mü nchen 1967.
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Interesse, das die hier analysierten volkssprachigen Texte am Zweifel(n) als Motor von Gottes-, Welt- und Selbsterfahrung zeigen. Zusammenfassend sei zu diesen narrativen Potentialen des Zweifel(n)s Folgendes festgehalten: Der Zweifel ist es, der die Demonstration göttlicher Gnade ermöglicht (vielleicht sogar erzwingt?) – eine Ambivalenz, die bei der Zeichnung des Thomas durch Konrad von Heimesfurt und der Charakterisierung Brandans und der neutralen Engel durch das Inserat der Thomasgeschichte in den volkssprachigen Wiedererzählungen der Brandanlegende deutlich durchscheint. Der Zweifler begegnet im höfischen Erzählen als Auserwählter, als besonderer Glaubenszeuge, und: die Gnade, die dem Zweifler zuteil wird, steht im Vordergrund. Von narratologischer Warte aus betrachtet ist die Signifikanz dieser Erzählfigur evident: Zweifel als Aufschub auf Handlungsebene bewirkt die Doppelung des bereits Erzählten, die sich jedoch gerade als narrativer Freiraum erweist, den Prozess der Zweifelbeseitigung als das eigentlich Erzählenswerte darzustellen. Nicht von ungefähr macht schon Beda Venerabilis (ich hatte es eingangs erwähnt) das poetologische Potential der Wegmetapher für den Zweifler Thomas anhand seiner Namensetymologie stark: Er verbindet die beiden den Namen Thomas in der theologischen Kommentartradition charakterisierenden Komponenten der ‚Zweiheit‘ und des ‚Abgrunds‘ oder ‚Tals‘ zu einem Narrativ, indem er die Reise des Thomas von einem Tal zum anderen, vom Zweifel zum Glauben, zur identitätsstiftenden Geschichte erklärt. Vom reinen Glauben ist nicht viel zu erzählen. Erst mit dem Zweifel gibt es eine komplexe Geschichte. Dieses Prinzip greift schon für das Urnarrativ der Paradieserzählung.¹⁰¹ Wie man für die Thomasfigur in ihrem Weg vom Zweifel zum Glauben ein narratives Potential sehen kann, das etwa bei Konrad von Heimesfurt ausgeschöpft wird, so kann man für die volkssprachigen Reisefassungen des Brandan konstatieren, dass auch hier der ‚Weg‘ vom Zweifel zum Glauben das ‚Ziel‘ ist. Denn mehr noch als in der Navigatio, die mit der Metadiegese vom Land der Verheißung beginnt, setzt die Rahmenerzählung vom verbrannten Buch der göttlichen Wunder den Zweifel als Thema zentral. Als Motivation aller Handlung ermöglicht er erst die Aventiure und generiert, eigentlich Strafe für Evidenzversessenheit, einen Umweg der ausführlichen empirischen Erfahrung. Positiver Effekt des Zweifels ist damit der Entwurf einer Geschichte, die zeiträumlich auf dieser Wegstruktur basiert. Sie ist in Bezug auf Gattung und Sujet zwischen den mittelalterliche Kultur grundlegend konstituierenden Polen ‚geistlich‘ und ‚weltlich‘ angesiedelt, indem sie diese viel-
101 Mit der Paradieserzählung beginnt Susanne Köbele ihren Beitrag zu ‚Zweifel als Möglichkeitssinn‘ bei Lullus im vorliegenden Band.
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schichtig integriert, deren jeweils charakteristische Denkfiguren verschränkt. Das Zweifelnarrativ, wie es hier gezielt nicht nur an der Oberfläche der Motivgeschichte, sondern als ideengeschichtlich bedeutsames Konstrukt untersucht wurde, dürfte insofern wesentlichen Anteil an jener von Jan-Dirk Müller beschriebenen ‚kompromisshaften Struktur‘ höfischer Epik haben, insbesondere, was das Verhältnis von ‚Geistlichem‘ und ‚Weltlichem‘ betrifft. Als Narrativ der Kompromissbildung im Sinne einer Aushandlung von Glauben, macht die Denk- und Erzählfigur des Zweifel(n)s jene Beschreibungskategorie der Kompromisshaftigkeit konkret fassbar: Das hier vermittelte Bild des Religiösen ist immer vom Standpunkt des Menschen aus entworfen. Die Prozessorientiertheit dieses Erzählens setzt das Zögern und Schwanken, das Zweifeln, das Menschlich-Allzumenschliche in sein Recht.
Beatrice Trînca
Zensur und Kompromiss: Elsbeth von Oye, Offenbarungen
1967 hielt Milan Kundera beim Kongress des tschechoslowakischen Schriftstellerverbands eine Rede gegen Zensur. Sie musste ihrerseits ein Zensurverfahren durchlaufen. Kundera gab nach, was er im Anschluss bereute. Auch das Zentralkomitee der Partei distanzierte sich von der eigenen Kompromissbereitschaft. Kunderas Rede wurde in der Tschechoslowakei nicht veröffentlicht,¹ und der Autor war erleichtert. Zensur und Kompromiss erwiesen sich als inkompatibel. Ebenfalls gut belegt ist allerdings in den totalitären Systemen des 20. Jahrhunderts ein Alltag des Schreibens und Zensierens, der von Kompromissen geprägt war − vor allem auf Seiten der Autorinnen und Autoren,² unter Zwang.³ Zensur und Kompromiss gehören epochenübergreifend zusammen. Doch wie lässt sich ihr Verhältnis in früheren Jahrhunderten bestimmen, aus denen uns weit weniger Dokumente erreicht haben? Festgehalten sei vorweg, dass frühere Zensurmethoden und entsprechende Institutionen nur bedingt vergleichbar sind mit denjenigen in modernen totalitären Regimes oder in Überwachungsstaaten, die sich häufiger durch schnelles Handeln und Brutalität auszeichnen, zielorientiert agieren und straff organisiert sind.⁴ Vor dem Druck- und Computerzeitalter hat Schrift zudem einen anderen Status: In modern times, writing is very common and most of it is ephemeral. Its destruction is therefore largely a matter of routine. In the Middle Ages, however, things were different. Writing was less common and much of it was intended to be preserved for posterity.⁵
1 Die Rede wurde 1968 in Frankfurt a. M. publiziert. 2 Vgl. Robert Darnton: Die Zensoren. Wie staatliche Kontrolle die Literatur beeinflusst hat. Vom vorrevolutionären Frankreich bis zur DDR. München 2016 [engl. Orig. 2014], S. 290−296. 3 Zu dieser Perspektive auf Kompromisse im Allgemeinen vgl. Manfred Voigts: Der Kompromiß. Plädoyer für einen umstrittenen Begriff. In: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 46 (1994), S. 193−210, hier S. 194. 4 Vgl. Peter Godman: Die geheimen Gutachten des Vatikan. Weltliteratur auf dem Index. Unter Mitwirkung von Jens Brandt. Wiesbaden 2. Aufl. 2006 [2001], S. 31, 52. Godman arbeitet die Vielstimmigkeit und Inkonsequenz der Römischen Inquisition in der Frühen Neuzeit heraus. 5 Georges Declercq: The Medium and the Message. The Public Destruction of Books and Documents in the European Middle Ages. In: Zerstörung von Geschriebenem. Historische und transkulturelle Perspektiven. Hrsg. von Carina Kühne-Wespi, Klaus Oschema, Joachim Friedrich Quack. Berlin/ Boston 2019 (Materiale Textkulturen 22), S. 123−147, hier S. 123. Er meint natürlich Schrift auf Pergament, nicht die provisorische auf Wachstäfelchen. Desinteresse führte trotzdem zu Palimpsestierung (die als Zensur-Methode nicht in Anspruch genommen wurde), Wiederverwertung für Einbände etc. https://doi.org/10.1515/9783110792737-007
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Durch Zensur waren Texte auf Grund der beschränkten Anzahl von Exemplaren eher verlustgefährdet als im Druckzeitalter. Trotzdem hatten selbst Bücherverbrennungen nicht unbedingt das Verschwinden eines Textes zur Folge (in der Neuzeit erst recht nicht). Das lateinische censura bedeutet ‚Beurteilung‘ oder ‚Meinungsäußerung‘. Der moderne Begriff ‚Zensur‘, unter den auch die Selbstzensur fällt, bezeichnet Formen blockierter Kommunikation. Komplexer gedacht stellt Zensur einen Kommunikationsprozess dar,⁶ der Kompromisse einbezieht. Es handelt sich um text- und diskursverändernde Verfahren der Kontrolle und Selektion auf Grund gefällter Urteile. Zensur und Selbstzensur finden ausgehend von ideologischen Vorgaben in einem repressiven System statt, dessen Institutionen, Reichweite und Methoden kultur-, epochen- und situationsspezifisch variieren. Zensur ist eine Form von Gewalt,⁷ die konsequent oder punktuell angewandt wird. Nach dem Institutionalisierungs- und Formalisierungsschub in der Zensur-Praxis ab dem 12. Jahrhundert⁸ führen spätmittelalterliche Quellen folgende Semantik von censura an: For the makers and users of medieval vocabularies censura comes along with punishment (poena, pin), and a censor was not just a man who suppressed speech or blackened out sentences in texts – he was a stern judge; and the church which controlled teachings, writings and
6 Vgl. Megan Cassidy-Welch: Dixit quod nunquam vidit hereticos: Dissimulation and Self-Censorship in Thirteenth-Century Inquisitorial Testimonies. In: The Art of Veiled Speech. Self-Censorship from Aristophanes to Hobbes. Hrsg. von Han Baltussen, Peter J. Davis. Philadelphia 2015, S. 251–268, hier S. 264; Irene van Renswoude: The Censor’s Rod. Textual Criticism, Judgment, and Canon Formation in Late Antiquity and the Early Middle Ages. In: The Annotated Book in the Early Middle Ages: Practices of Reading and Writing. Hrsg. von Mariken J. Teeuwen, Irene van Renswoude. Turnhout 2017 (Utrecht Studies in Medieval Literacy 38), S. 555−595, v. a. S. 557. Zur antiken Bedeutung von censura im Sinne von „expressing judgment or opinion“, vgl. ebenda, S. 594. 7 Vgl. Darnton (Anm. 2). Situative Aufforderungen zu censura (die die Semantik der Repression durchaus mittransportiert) können aber zum Beispiel im Frühmittelalter lediglich ein hierarchisches Verhältnis bekräftigen und indirekte Bitten um Aufmerksamkeit und Zustimmung sein. Vgl. Sita Steckel: Between Censorship and Patronage: Interaction between Bishops and Scholars in Carolingian Book Dedications. In: Envisioning the Bishop: Images and the Episcopacy in the Middle Ages. Hrsg. von Sigrid Danielson, Evan A. Gatti. Turnhout 2014 (MCS 29), S. 103–126. Zu ähnlichen Aufforderungen im späten Mittelalter vgl. Réjane Gay-Canton: Zwischen Zensur und Selbstzensur. Verbesserungsappelle in der Vita beate Marie et Salvatoris Rhythmica und ihren mittelhochdeutschen Bearbeitungen. In: Kulturtopographie des deutschsprachigen Südwestens im späteren Mittelalter. Studien und Texte. Hrsg. von Barbara Fleith, René Wetzel. Berlin 2009 (Kulturtopographie des alemannischen Raums 1), S. 41–60. 8 Vgl. Steckel (Anm. 7), S. 107, 121.
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manuscripts in order to keep the Christian truth undamaged and pure, had set out courts to do so, courts that could punish, sentence and excommunicate any violator.⁹
In religionshistorischer Perspektive markieren Zensur und Selbstzensur strittige Innovationen auf dem Gebiet der Theologie oder Frömmigkeit.¹⁰ In ihnen manifestiert sich zeitgenössisches Alteritätsempfinden,¹¹ welches wir wiederum historiographisch rekonstruieren können. Mein Interesse gilt im Folgenden der Zürcher Offenbarungen ¹²-Handschrift (Zentralbibliothek, Ms. Rh. 159, Pergament, 9,7 x 7,5 cm)¹³ der passionsfixierten¹⁴ Dominikanerin Elsbeth von Oye, die um 1340 starb. Ihr Name ist im Codex nirgends verzeichnet, sondern erst in der späteren Vita. In den Offenbarungen ist sie das Ich, das Gott als ‚du‘ adressiert. Der volkssprachliche Text, aufgezeichnet in einem Codex, dessen Größe ein wenig über die Handinnenfläche reicht,¹⁵ wurde wahrscheinlich zensiert. Es geschah jenseits einer Institution wie der Kurie oder der Universität und vor allem ohne Inquisitionsverfahren¹⁶ oder erkennbare Konse-
9 Freimut Löser: Resisting Censorship. Cases of the Early Fourteenth Century. In: Censorship and Exile. Hrsg. von Johanna Hartmann, Hubert Zapf. Göttingen 2015 (Internationale Schriften des Jakob-Fugger-Zentrums 1), S. 97–111, hier S. 97. 10 Vgl. Bronwen Neil: „Silence Is Also Annulment“: Veiled and Unveiled Speech in Seventh-Century Martyr Commemorations. In: The Art of Veiled Speech. Self-Censorship from Aristophanes to Hobbes. Hrsg. von Han Baltussen, Peter J. Davis. Philadelphia 2015, S. 233–250, hier S. 233. 11 Vgl. dazu die differenzierten Überlegungen von Susanne Köbele: Zwischen Klang und Sinn. Das Gottfried-Idiom in Konrads von Würzburg Goldener Schmiede (mit einer Anmerkung zur paradoxen Dynamik von Alteritätsschüben). In: Alterität als Leitkonzept für historisches Interpretieren. Hrsg. von Anja Becker, Jan Mohr. Berlin 2012 (Deutsche Literatur. Studien und Quellen 8), S. 303–333, hier S. 305 und passim. 12 Zitiert nach der unveröffentlichten Edition von Wolfram Schneider-Lastin, der sie mir dankenswerterweise zur Verfügung gestellt hat. 13 e-manuscripta, https://www.e-manuscripta.ch/zuz/doi/10.7891/e-manuscripta-40234 [Zugriff: 15.03. 2022]. Im Folgenden werden Folios reproduziert, die thematisch einschlägige Zensur aufweisen. 14 Zum frömmigkeitshistorischen Kontext, in dem Elsbeth ihren Text verfasste, vgl. die Arbeiten von Caroline Walker Bynum; Katharine Park: Secrets of Women. Gender, Generation, and the Origins of Human Dissection. New York 2010; Gerd Schwerhoff: Verfluchte Götter. Die Geschichte der Blasphemie. Frankfurt a. M. 2021, v. a. S. 115 f. 15 „Die Handschrift zeichnet sich […] durch ein hohes Maß an Abkürzungen und Auslassungen aus, wie wir es von anderen deutschsprachigen Handschriften des Mittelalters nicht kennen.“ Wolfram Schneider-Lastin: Das Handexemplar einer mittelalterlichen Autorin. Zur Edition der Offenbarungen Elsbeths von Oye. In: editio 8 (1994), S. 53–70, hier S. 64. 16 Zur Inquisition vgl. Gerd Schwerhoff: Die Inquisition. Ketzerverfolgung in Mittelalter und Neuzeit. 3. Aufl. München 2009 [2004] und Godman (Anm. 4), v. a. S. 498. Zu Verbrennungen volkssprachlicher Texte vgl. Marco Mostert: Between Carelessness and Wilful Destruction. The Demise of
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quenzen für die Autorin. Wahrscheinlich richtete sich die Zensur gegen Textinhalte und nicht gegen Elsbeths Person;¹⁷ Maßnahmen gegen sie sind jedenfalls nicht überliefert. Trotz oder gerade wegen der Zensur wurden die Offenbarungen breiter rezipiert als andere frauenmystische Zeugnisse.¹⁸
I Der Text Die überlieferten Offenbarungen bilden das Ergebnis „mehrere[r] Redaktionsschichten“.¹⁹ Der Text besteht hauptsächlich aus Monologen Gottes und Dialogen mit ihm, die das Sprecher-Ich skizzenhaft kontextualisiert. Das zentrale Thema bildet die Selbstkasteiung, die von beiden Gesprächspartnern als vroͤ mde (S. 30,3; 41,12; 76,4; 89,15) bezeichnet und von der Begnadeten immer wieder hinterfragt wird: Worin besteht der Sinn ihrer Askese (z. B. S. 114,2−4)? Handelt es sich wirklich um Gottes Wunsch,²⁰ dass sie sich dermaßen zurichtet (S. 29,15−30,4; 41,7−42,5, 158,10−12)? Denn sie presst sich unter anderem ein Nagelkreuz ins Fleisch ein und setzt sich dem Ungeziefer aus.²¹
Texts and Their Manuscripts in the Medieval West. In: Kühne-Wespi, Oschema, Quack (Anm. 5), S. 149–165, hier S. 159. Auch Meister Eckhart wurde vorgeworfen, dass er philosophische Komplexität ins Deutsche übertrug. Vgl. Susanne Köbele: Avignon 1329: Zensur als medialer Ernstfall. In: Medialität. Historische Konstellationen. Hrsg. von Christian Kiening, Martina Stercken. Zürich 2019 (Medienwandel – Medienwechsel – Medienwissen 42), S. 107−117, hier S. 110−112. 17 Vgl. zu dieser Unterscheidung Winfried Trusen: Zum Prozeß gegen Meister Eckhart. In: Eckardus Theutonicus, homo doctus et sanctus. Nachweise und Berichte zum Prozess gegen Meister Eckhart. Hrsg. von Heinrich Stirnimann in Zusammenarbeit mit Ruedi Imbach. Freiburg (Schweiz) 1992, S. 7– 30, hier S. 20; Carina Kühne-Wespi, Klaus Oschema, Joachim Friedrich Quack: Zerstörung von Geschriebenem. Für eine Phänomenologie des Beschädigens und Vernichtens. In: dies. (Anm. 5), S. 1– 40, hier S. 1. 18 Vgl. Andrea Sieber: Selbstdestruktion und Autopoiesis in den Offenbarungen Elsbeths von Oye. In: Selbst-Reflexionen. Performative Perspektiven. Hrsg. von Gunter Gebauer, Ekkehard König, Jörg Volbers. München 2012, S. 217–232, hier S. 225. In den Passagen, die den von Gott formulierten Schreibzwang zum Thema haben, heißt es, Gott wolle die Zuneigung der Mystikerin bekannt geben, vgl. Offenbarungen, S. 80,1–3. Die Angaben betreffen die Seite und die Zeile im Codex. Die Handschrift ist modern paginiert. 19 Schneider-Lastin: Handexemplar (Anm. 15), S. 62 sowie ebenda zur Edition als „Ergebnis eines Kompromisses“. 20 Vgl. zur ‚Unterscheidung der Geister‘ Niklaus Largier: Rhetorik des Begehrens. Die ‚Unterscheidung der Geister‘ als Paradigma mittelalterlicher Subjektivität. In: Inszenierungen von Subjektivität in der Literatur des Mittelalters. Hrsg. von Martin Baisch u. a. Königstein 2005, S. 249−270. 21 Es ist die Rede von einem äußeren und einem inneren Kreuz, die Protagonistin geißelt sich und lässt sich, wie gesagt, von Ungeziefer quälen. „Geistiger und körperlicher Vollzug des Leidens scheinen in den Offenbarungen ineinander überzugehen“. Burkhard Hasebrink: Elsbeth von Oye:
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Die Auditionen, begleitet von spärlichen Zeitangaben, entziehen sich jeglicher Topographie.²² Zwischen den Gesprächspartnern erstreckt sich ein Raum verbaler Zweisamkeit,²³ in den sporadisch Stimmen von Heiligen eindringen. „[D]ie Verheißungen der Gottesreden werden durch die Klage der Sprecherin […] dementiert“.²⁴ In den repetitiven Aussagen gibt es „keinen Fortschritt, keine bleibende Erkenntnis und kein Ziel“.²⁵ „[D]ie Passion muß wieder und wieder durchgestanden werden. […] Die Monotonie dieses Kreises hat etwas beklemmend Faszinierendes.“²⁶ Körperlichkeit kommt Schicht für Schicht bis zum Knochenmark zur Sprache. „Bei Elsbeth gibt es keinen metaphorischen Körper, in dem die Seele ihren Weg zu Gott gehen könnte, sie hat nur ihren realen Körper, und dieser ist es, den sie zum Medium ihrer Gotteserfahrung macht.“²⁷ Elsbeths Innigkeit ist anatomisch. Die Begnadete interagiert mit Gott am Schnittpunkt zwischen Transzendenz und Im-
Offenbarungen (um 1340). In: Literarische Performativität. Lektüren vormoderner Texte. Hrsg. von Cornelia Herberichs, Christian Kiening. Zürich 2008 (Medienwandel – Medienwechsel – Medienwissen 3), S. 259−279, hier S. 265. Die Bedeutung der Selbstkasteiung ändert sich in der Vita. Zur Vita vgl. Björn Klaus Buschbeck: Körpergebrauch, Kontrolle und Kontrollverlust in den Askeseschilderungen der Vita Elsbeths von Oye. In: Punishment & Penitential Practices in Medieval German Writing. Hrsg. von Sarah Bowden, Annette Volfing. Woodbridge 2018 (Kingʼs College London Medieval Studies 26), S. 155−174 und Gregor Wünsche: Präsenz des Unerträglichen. Kulturelle Semantik des Schmerzes in den Offenbarungen Elsbeths von Oye. Freiburg 2008, https://freidok.uni-freiburg. de/data/8782 [Zugriff: 31. 3. 2022], v. a. S. 271: „So sehr das erste Kapitel [der Vita] darum bemüht ist, die Schwester als besondere Asketin und Leidensmystikerin zu profilieren, so deutlich wird die Rolle selbst zugefügter körperlicher Schmerzen im Laufe des Textes zurückgedrängt.“ 22 Unter diesen Bedingungen erkennt die Forschung im Text eine Serie von „Geschehenseinheiten“. Peter Ochsenbein: Die Offenbarungen Elsbeths von Oye als Dokument leidensfixierter Mystik. In: Abendländische Mystik im Mittelalter. Symposion Kloster Engelberg 1984. Hrsg. von Kurt Ruh. Stuttgart 1986 (Germanistische Symposien. Berichtsbände 7), S. 423−442, hier S. 436. 23 Zum Dialog als „Ort stärkster Präsenz“ vgl. Walter Haug: Das Gespräch mit dem unvergleichlichen Partner. Der mystische Dialog bei Mechthild von Magdeburg als Paradigma für eine personale Gesprächsstruktur. In: Das Gespräch. Hrsg. von Karlheinz Stierle, Rainer Warning. München 1984 (Poetik und Hermeneutik 11), S. 251‒279, hier S. 266. 24 Hasebrink (Anm. 21), S. 261. 25 Mareike von Müller: Vulnerabilitätsmetaphern und Narrativierungsstrategien in den Offenbarungen und der Vita Elsbeths von Oye. In: PBB 142 (2020), S. 79−106, hier S. 89. 26 Walter Haug: Innerlichkeit, Körperlichkeit und Sprache in der spätmittelalterlichen Frauenmystik. In: Ders.: Die Wahrheit der Fiktion. Studien zur weltlichen und geistlichen Literatur des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Tübingen 2003, S. 480–492, hier S. 490. 27 Haug: Innerlichkeit (Anm. 26), S. 489. Walter Haug arbeitet hier den Unterschied zwischen Mechthild von Magdeburg und Elsbeth von Oye heraus. Zum Körper in der Theorie der inneren Sinne vgl. Patricia Dailey: The Body and Its Senses. In: The Cambridge Companion to Christian Mysticism. Hrsg. von Amy Hollywood, Patricia Z. Beckman. Cambridge [u. a.] 2012, S. 264−276.
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manenz, in und über dem Natürlichen. Indem sich das Text-Ich exzessiv kasteit, durchblutet es in einer inversen Emanation den tiefsten Grund der göttlichen Natur oder auch die Wunde des Inkarnierten (S. 60,11 f.; 111,13−15). Einige Phantasien laufen der Anatomie zuwider, etwa die der Seelen-Adern, durch die, nunmehr emanatorisch, das Mark der göttlichen Natur fließen soll (S. 93,1−4). Die metaphorische Qualität dieser Aussagen bleibt unbestimmt.²⁸ Bei den Offenbarungen könnte es sich um ein Autograph handeln.²⁹ Sekundäre Eintragungen an einigen Stellen, an denen etwas getilgt wurde, stammen wohl von der Autorin³⁰ und nach ihrem Tod von zwei weiteren Händen.³¹ Der Text enthält Einfügungen sowie unsorgfältig durchgeführte Einschwärzungen, Durchstreichungen und vor allem Rasuren (vgl. z. B. S. 123,1−4), die als Resultat zensierender Eingriffe („häufig im Affekt“³² oder auch nicht) lesbar werden. Der Schriftträger, das Pergament, legt von der Zerstörung des Geschriebenen und des Textes (gedacht als „immaterielle Größe“)³³ Zeugnis ab, der in gleicher Form kein weiteres Mal überliefert ist. Das Schriftbild repräsentiert das Ergebnis „verstümmelnd[er]“³⁴ Maßnahmen, die ausgestellte Zensur bildet die versehrten Körper der Gesprächspartner
28 „Überstiegen wird […] die Grenze zwischen den Effekten des Dinglichen (das innere Mark des Körpers) und des Bildhaften (das Mark göttlicher Natur).“ Hasebrink (Anm. 21), S. 268. Aber handelt es sich beim Mark der göttlichen Natur um eine Metapher? – Der gemarterte Körper der Begnadeten ist jedenfalls keine „konkretisierte Metapher der Gleichheit“ mit Gott (von Müller [Anm. 25], S. 94), sondern Ergebnis der allgegenwärtigen Praxis der imitatio Christi. Elsbeth geht von einer „Vergöttlichung im Mitleiden“ aus (Hasebrink [Anm. 21], S. 272), und sie meint dies wiederum nicht im übertragenen Sinne. „Der Versuch, sich über die Askese in das diskursive Potential einer Lehre der Vergöttlichung einzuschreiben, die textuell im präsentativen Gestus der Offenbarungen inszeniert wird, wirft die Sprecherin immer wieder von Neuem auf die Unerträglichkeit ihrer körperlichen Schmerzen zurück.“ Ebd., S. 268. 29 Vgl. Schneider-Lastin: Handexemplar (Anm. 15), S. 62. Ein Diktat zieht in Erwägung: Balázs J. Nemes: Von der Schrift zum Buch – vom Ich zum Autor. Zur Text- und Autorkonstitution in Überlieferung und Rezeption des Fließenden Lichts der Gottheit Mechthilds von Magdeburg. Tübingen, Basel 2010 (Bibliotheca Germanica 55), S. 204 f. 30 Vgl. Schneider-Lastin: Handexemplar (Anm. 15), S. 61. 31 „[…] weder gibt es stichhaltige paläographische Anhaltspunkte für ein zeitgenössisches Eingreifen einer fremden Hand, noch ist eine qualitative Differenzierung der verschiedenen Tilgungen und Änderungen zweifelsfrei möglich. Selbst die eindeutig nach Elsbeths Tod vorgenommene Restaurierung radierter Stellen durch zwei Hände kann − vor allem dort, wo es sich nur um einzelne nachgezogene Wörter handelt − nicht immer klar von einer Beschriftung durch die Autorin unterschieden werden.“ Eine der zwei späteren Hände hat auch die Apologie im Anschluss an die Offenbarungen eingetragen. Schneider-Lastin: Handexemplar (Anm. 15), S. 63; vgl. auch Nemes (Anm. 29), S. 207. 32 Schneider-Lastin: Handexemplar (Anm. 15), S. 59. 33 Vgl. zu dieser Differenzierung Kühne-Wespi, Oschema, Quack (Anm. 17), S. 6−8, S. 21 (Zitat). 34 Schneider-Lastin: Handexemplar (Anm. 15), S. 59.
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ab.³⁵ Das Diktat der Zensur reproduziert den Zwang zur Askese. Diese findet wiederum als ständige Übung ihr Echo in den iterativen Formulierungen des Textes.³⁶
II Apologie und Zensur Im Zürcher Codex ist den Offenbarungen eine − unzensierte − Apologie beigegeben (S. 160−178). Sie stammt wohl aus der Feder eines anonymen Dominikaners, entstand Ende des 14. Jahrhunderts, und sie wendet sich explizit gegen Zensur.³⁷ Im Einklang mit ihr hat die Offenbarungen-Forschung auf Zensur durch eine Aufsichtsperson geschlossen.³⁸ Weil so wenig aus dem unmittelbaren Entstehungskontext der Handschrift bekannt ist, steht nicht fest, ob es sich um Zensur vor der Verbreitung des Textes gehandelt hat oder um nachträgliche Zensur.³⁹ Eine Veröffentlichung ist kloster- oder netzwerkintern denkbar. Die These vom Eingriff einer Autorität erfuhr Widerspruch mit der Begründung, dass lateinische Autoren nachweislich ihre Handschriften selbst korrigiert haben. Dies könnte auf den deutschen Text Elsbeths ebenfalls zutreffen,⁴⁰ so dass man dann von Selbstkorrektur (Verbesserung) oder Selbstzensur ausgehen müsste. 35 „[W]omen had to stress the experience of Christ and manifest it outwardly in their flesh, because they did not have clerical office as an authorization for speaking“. Caroline Walker Bynum: Fragmentation and Redemption. Essays on Gender and the Human Body in Medieval Religion. New York 1992, S. 195 (Hervorh. im Orig.). Nun bildet die Handschrift das Fleisch ab. „Dieser offene Leib, wie er sich im Durchzug der Stoffe erst bildet, ist den modernen Körperkonzepten ziemlich fremd. Erst nach 1500 wurde das Ideal des glatten, geschlossenen, gleichsam skulpturalen Körpers kanonisch, bei dem alle Ein- und Ausgänge versperrt und alle Wucherungen, Schwellungen, Furten und Schlünde eingeebnet werden mussten.“ Hartmut Böhme: Anthropologische und kulturelle Dimensionen des Mundraums. In: In aller Munde. Das Orale in Kunst und Kultur. Hrsg. von Uta Ruhkamp in Zusammenarbeit mit Hartmut Böhme und Beate Slominski. Berlin 2020, S. 27−37, hier S. 30. Ich meine, dieses Ideal existierte auch vorher (etwa in der höfischen Literatur), wurde aber im Zuge der christlichen Umwertung der Werte auf den Kopf gestellt. Vgl. Thomas Lentes: Nur der geöffnete Körper schafft Heil. In: Glaube Hoffnung Liebe Tod. Ausstellung der Kunsthalle Wien/Graphische Sammlung Albertina. Hrsg. von Christoph Geissmar-Brandi, Eleonora Louis. Wien 1995, S. 152–155. Öffnungen fungierten als Zugänge für Gnade. Vgl. Simone Kügeler-Race: Carnal Manifestations of Divine Love in the Mystical Writings of Elsbeth of Oye, Mechthild of Magdeburg and Margery Kempe. In: Neophilologus 102 (2018), S. 39−58, hier S. 46. 36 Vgl. auch Hasebrink (Anm. 21), S. 275 f. 37 Ist die Hand, die die Apologie in der Handschrift verantwortet, diejenige ihres Verfassers? 38 Vgl. Ochsenbein (Anm. 22), S. 426. 39 Vgl. dazu Steckel (Anm. 7), S. 105, 107. 40 „Wie ein Vergleich mit lateinischen Autor-Handschriften zeigt, von denen im Gegensatz zur deutschsprachigen Überlieferung eine ansehnliche Zahl erhalten ist, manifestiert sich gerade in diesen mit dem Messer ausgeführten Eingriffen eine für den Autor typische Umgangsform mit
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Eine Schrift, in der die Intimität mit der schwer greifbaren Transzendenz im Medium Sprache und Schmerz⁴¹ thematisiert und in der die Sinnhaftigkeit von brutalen Askese-Praktiken in immer neuen Anläufen verhandelt wird, kann tatsächlich Zweifel auslösen. Sie kann stets neue Korrekturgänge erfordern. Auktorial inszenierte Zensur oder eher Selbstzensur begründet durch „[i]nnere wie äußere Umstände“⁴² sind denkbar, wobei in diesem sensiblen Kontext Korrektur und Zensur ineinander übergehen. Bestätigung findet die Selbstzensur-These im Vorwort der Elsbeth-Vita aus dem Ötenbacher Schwesternbuch. Dort heißt es: Vil hoher antwurt hat si selber untergetan und verdilget (ed. 406,33 f.),⁴³ „Viele hohe Antworten hat sie selbst verhindert und getilgt“.⁴⁴ War Elsbeth aber die einzige Zensur-Instanz? Die Apologie vermittelt ein anderes Bild (s. u.). Im Folgenden möchte ich die Vita und die Verteidigungsschrift beim Wort nehmen und in ihrem Hinweis auf Zensur nicht nur − wie jüngst geschehen − ein „rhetorisches Mittel der Authentifizierung und Autorisierung“⁴⁵ erkennen. Meine Untersuchung geht also von Zensur aus, ohne präziser zwischen den Akteuren, das heißt zwischen Zensur und Selbstzensur unterscheiden zu können. Es gibt wenig Einschwärzungen, und weil Rasuren Zeichenreste hinterließen, so dass man oft mit Lupe, Quarzlampe⁴⁶ bzw. Bildschirmlupe entziffern kann, was davor geschrieben seinem eigenen Text. Das Phänomen der Rasur erweist sich so als ein Kennzeichen für auktoriale Kompetenz − die ein Abschreiber nicht beanspruchen konnte −, und als Charakteristikum für das Hand- und Arbeitsexemplar eines Autors.“ Schneider-Lastin: Handexemplar (Anm. 15), S. 58. Folgende Überlegung überzeugt mich nicht: „Eine von der Forschung bisher bemühte Aufsichtsperson hätte inkriminierte Stellen dagegen mit Sicherheit fein säuberlich und vor allem konsequent getilgt.“ Ebenda, S. 59. Balázs J. Nemes weist auf Fälle hin, die beiden Annahmen Schneider-Lastins widersprechen. Vgl. Nemes (Anm. 29), S. 207 f. 41 „Insofern ließe sich die andauernde Klage der Sprecherin als Effekt einer Unkommunizierbarkeit von Schmerz beschreiben, der auch durch die Offenbarungen nicht überwunden, sondern immer nur erneut aufgeschoben wird.“ Hasebrink (Anm. 21), S. 278. 42 Schneider-Lastin: Handexemplar (Anm. 15), S. 60. Schneider-Lastin geht davon aus, dass der Konvent kritisch auf die Schrift reagiert hat. Vgl. Schneider-Lastin: Handexemplar (Anm. 15), S. 59. 43 Die Seiten- und Zeilenangaben beziehen sich auf die Edition der Vita und der Apologie durch Wolfram Schneider-Lastin: Leben und Offenbarungen der Elsbeth von Oye. Textkritische Edition der Vita aus dem Ötenbacher Schwesternbuch. In: Kulturtopographie des deutschsprachigen Südwestens im späteren Mittelalter. Studien und Texte. Hrsg. von Barbara Fleith, René Wetzel. Berlin 2009 (Kulturtopographie des alemannischen Raums 1), S. 395–467. 44 Übersetzungen stammen, falls nicht anders angemerkt, von der Verfasserin. 45 Dies zieht von Müller (Anm. 25), S. 84 in Erwägung. Dass Elsbeth später als Heilige verehrt wurde, wie von Müller unterstreicht, stellt keinen Widerspruch zur Zensur dar. Dass die Rede von Zensur in der Elsbeth-Vita im Zusammenhang mit Demutstopik stehen könnte, gibt Nemes mit Blick auf Seuse, auf den Anfang seiner Vita zu bedenken.Vgl. Nemes (Anm. 29), S. 207. Die in der Apologie genannten Streitpunkte erschweren allerdings den Vergleich und zeugen von Repression. 46 Vgl. Schneider-Lastin: Handexemplar (Anm. 15), S. 59.
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stand, lässt sich – und das war vielleicht auch so gewollt⁴⁷ – fast der ganze Prozess der Text-‚Optimierung‘ rekonstruieren. Zunächst interessiert mich die Rhetorik der Apologie. Dieser Metatext schließt einerseits von Zensur auf Erwählung und begründet andererseits, warum die Zensur nicht gerechtfertigt war. Er spezifiziert aber nicht, was die Zensur-Instanz (die, wie bereits angedeutet, auch im Plural gedacht werden kann) auszusetzen hatte, vielleicht aus rhetorischem Geschick oder auch, weil die Einwände nie ausformuliert bzw. zu Pergament gebracht wurden. Sehr wahrscheinlich hat sich alles jenseits des Formalismus eines offiziellen Prozesses abgespielt. Begriffe wie „Irrtum“ oder „Häresie“, „übel klingend“, „sehr kühn“ oder „der Häresie verdächtig“,⁴⁸ die wir zum Beispiel aus der Verurteilung Meister Eckharts von 1329 kennen, sucht man in der Apologie vergeblich. „Boshafte[s] Wollen“ kam wohl nicht in Frage, so dass, nach Thomas von Aquin, eine „Blasphemie im Vollsinn (blasphemia perfecta)“, eine bewusste „Herabwürdigung Gottes“⁴⁹ sowieso nicht festgestellt werden konnte. Dennoch nahm man Anstoß an Elsbeths eigentümlicher Beziehung zu Gott, die dann in der Apologie Zuspruch erfährt. Die Verteidigungsschrift bemüht sich (zumindest auf den ersten Blick) nicht um eine Angleichung konträrer Standpunkte.⁵⁰ Es heißt, Elsbeth, ein wolsmekender blům, „eine duftende Blume“, eine heiligi magt und marterin habe besondere Gnade erfahren. Bereits dieser selbstbewusste Anfang kündigt Kompromisslosigkeit an. Elsbeth wisse Bescheid über die Vereinigung der göttlichen mit der menschlichen Natur. Gott habe ihr sin heinlichi, die der welt unnemlich ist, also sein in der Welt
47 Gibt es wenig Einschwärzungen, weil man im Sinn hatte, dass das Getilgte lesbar bleibt? Andere Formen der zur Schau gestellten Zensur und lesbare Inhalte, gegen die sie sich richtet, diskutiert mit Bezug auf das Frühmittelalter van Renswoude (Anm. 6). 48 Bulle Johanns XXII. In agro dominico vom 27. März 1329, in welcher 28 Sätze Meister Eckeharts verdammt werden. In: Meister Eckehart: Deutsche Predigten und Traktate. Hrsg. und übers. von Josef Quint. 5. Aufl. München 1978 [1963], S. 449−455, hier S. 454. Lateinisches Original: Acta Echardiana. Hrsg. und kommentiert von Loris Sturlese. In: Meister Eckhart: Die deutschen und lateinischen Werke. Die lateinischen Werke. Hrsg. von Albert Zimmermann, Loris Sturlese. Bd. 5. Stuttgart 2006, S. 596−600, hier S. 599 f. 49 Schwerhoff: Verfluchte (Anm. 14), v. a. S. 62−189 (auch zu Überschneidungen zwischen Häresie und Blasphemie), S. 182 (Zitat). Vgl. auch Neil (Anm. 10), S. 236; Bernward Schmidt: Was ist Häresie? Theologische Grundlagen der römischen Zensurpraxis in der Frühen Neuzeit. In: Praktiken der Frühen Neuzeit. Akteure, Handlungen, Artefakte. Hrsg. von Arndt Brendecke. Köln/Weimar/Wien 2015 (Frühneuzeit-Impulse 3), S. 361−370, hier S. 368; Reinhold Bernhardt: Begriff und Begriffsgebrauch von ‚Blasphemie‘. In: Blasphemie. Anspruch und Widerstreit in Religionskonflikten. Hrsg. von Matthias D. Wüthrich, Matthias Gockel, Jürgen Mohn. Tübingen 2020, S. 17−38. 50 Vgl. Klaus-Dieter Osswald: Kompromiß. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie online. Hrsg. von Joachim Ritter, Karlfried Gründer, Gottfried Gabriel, http://dx.doi.org/10.24894/HWPh.1986 [Zugriff: 16.03. 2022].
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nicht nennbares Geheimnis offenbart. Des sint dir dini wort vertilget, me: gotz wort (S. 160 f., ed. 458,1; 459,7–9), „Deshalb sind dir deine Worte vernichtet, mehr noch: Gottes Worte“. Hier verdichtet sich eine Gedankenfolge, die lauten muss: Elsbeth hat zum Ausdruck gebracht, dass sie Unaussprechliches weiß. Weil es sich dabei − auch nach der Übertragung des Ineffablen ins Medium Sprache − um Gottes Worte handelte, wurde ihr Text zensiert, vertilget. Die Welt ist schon im Alten Testament, also toposhaft uneinsichtig, wenn sich Gott äußert. Dass Elsbeth zu den unverstandenen Vermittlern gehört, steigert ihre Autorität. Diese nimmt im nächsten Satz zu, denn die Begnadete wird mit dem grossen sant Gregorio und Augustino verglichen, deren buͤ her ein teil verbrent wurden. ⁵¹ Wan die welt ist ze grob und mag es nit gehoͤ ren noh reht verstan […] (S. 162, ed. 459,9– 11). „Denn die Welt ist zu grob und kann es weder hören noch recht verstehen […].“ Für die Kirchenväter verwendet der Text Attribute, die ihr Prestige sicherstellen: groß und heilig. Der Vorwurf an die Welt ruft Eckharts grobe leüt ⁵² mit eigeschränktem Verstand in Erinnerung.⁵³ Inwiefern diese implizite Bezugnahme auf den verurteilten Eckhart zu Gunsten Elsbeths ausfiel, hängt vom Urteil der Rezipienten ab. Zensur dient jedenfalls in der Verteidigungsschrift als Beweis für echte Gottesnähe.
51 Vgl. auch Freimut Löser: Meister Eckhart und der Irrtum. In: Irrtum − Error − Erreur. Hrsg. von Andreas Speer, Maxime Mauriège. Berlin/Boston 2018 (Miscellanea Mediaevalia 40), S. 589−602, hier S. 590: „Man kann zudem die eigene Fehlerfreiheit noch stärker herausstellen, wenn man sich in die Reihe Fehlerfreier stellt, die schon früher fälschlich bezichtigt wurden. Dies wirkt umso besser, wenn die Bezichtigten über jeden Zweifel erhaben sind. Demgemäß gibt Eckhart ein Beispiel einer ungerechten und unrichtigen Verurteilung in der Vergangenheit, indem er Vorgänger nennt, die ebenfalls fälschlich angeklagt wurden, wenn er sagt, sogar Albertus Magnus oder gar dem Heiligen Thomas habe man errores unterstellt“. 52 Z. B. Meister Eckhart: Werke I. Texte und Übersetzungen von Josef Quint, hrsg. und kommentiert von Niklaus Largier. Frankfurt a. M. 2008 [1993] (DKV TB 24), Pr. 51, S. 538.Vgl. dazu Rolf Schönberger: Wer sind „grobe liute“? Eckharts Reflexion des Verstehens. In: Meister Eckhart: Lebensstationen – Redesituationen. Hrsg. von Klaus Jacobi. Berlin 1997, S. 239−259. Elsbeths Apologie empfiehlt: Es wäre gut, soͤ lich hohi red, als disi heiligi jungfrŏ redet, „eine solch hohe Rede, wie diese heilige Jungfrau sie formuliert“, vor groben lúten, als wol gelert als ungelert, zu verbergen und zu verheimlichen (verbúrg, heinlich hielt, S. 175, ed. 461,98 f.). Verständige würden sich weder darüber ärgern noch Elsbeth, eigentlich ihre Schrift zensieren (der ergret sich nit noh tilget dich, S. 176, ed. 461,103 f.) 53 In der Streuüberlieferung wurden „Elsbeths anonym überlieferte Texte gerne mit Meister Eckhart und seinem Kreis in Verbindung“ gebracht. Ochsenbein (Anm. 22), S. 430. Auch Elsbeth kennt die Sohnesgeburt aus dem Vater in Abhängigkeit vom Menschen. Der Gedanke ist weder in ihren Offenbarungen (S. 26,3−7; 44,12−45,2; 88,13−89,5) zensiert noch in der Bulle gegen Eckhart als problematisch eingestuft. Dazu vgl. Hasebrink (Anm. 21), S. 262−279. Eckhart entwickelt aber eine ganz andere Perspektive auf das Leiden, vgl. Ochsenbein (Anm. 22), S. 434; Haug: Innerlichkeit (Anm. 26), S. 490.
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Ein weiteres apologetisches Argument ist neben Elsbeths Leidensbiographie, die ihren Verstand fürs Geistliche schärfte, die Versicherung, der Apologet habe so viel in der Heiligen Schrift gelesen wie tausend Gelehrte. Er habe dort alles wiedergefunden, was in Elsbeths buͤ chlinen (S. 164, ed. 459,25) steht. Diese Übereinstimmung repräsentiert wohl das über Jahrhunderte stichhaltigste Argument gegen den Irrglauben.⁵⁴ Auch der weitere Verlauf der Rechtfertigungsschrift entzieht der Zensur unnachgiebig jegliche Berechtigung, und zwar in vier Punkten: An vier sinnen ist din lesen getilget: zem ersten, da si redet von eim wider infliessen in goͤ tlich natur, zem andren mal von vereinung oder vermischung, zem dritten vom sacrament, zem vierden, daz got von ir spis und trank hab genomen. (S. 164 f., ed. 459,27−30) Vier Ansichten sind in deinen Lehren getilgt: erstens wo sie redet von einem Zurückfließen in die göttliche Natur, zweitens von der Vereinigung oder Vermischung, drittens vom Sakrament, viertens dass Gott von ihr Speise und Trank genommen hat.⁵⁵
Elsbeths Orthodoxie wird „in scholastischer Manier“⁵⁶ Punkt für Punkt mit Hilfe von Zitaten aus Bibel und Theologie bekräftigt. Auf das häretische Potential der Vereinigung (Punkt 2) in den Offenbarungen hat die Forschung bereits hingewiesen.⁵⁷ Das Problem tangiert auch den vierten Punkt, dem mein Augenmerk gilt. Genauer geht es um Folgendes: Nu von dem vierden, so si schribt, daz got von ir gespist si, als da únser herr ze ira sprichet: ‚Ich han ein úbernatúrlich trank von dir getrunken‘, und aber: ‚Ist dir nit minklicher, daz ich von dir gespist werd denn du von mir?‘ Des glih ist vertilget. (S. 172 f., ed. 461,82−85) Nun vom vierten, wenn sie schreibt, dass sich Gott von ihr ernährt habe, wie da unser Herr zu ihr spricht: ‚Ich habe einen übernatürlichen Trank von dir getrunken‘ und auch: ‚Ist es nicht begehrenswerter für dich, dass ich von dir genährt werde als du von mir?‘ Das ist ebenfalls getilgt.
Wahrscheinlich bezieht sich die Apologie nicht oder nicht nur⁵⁸ auf den Offenbarungen-Text der Zürcher Handschrift. Der erste hier angeführte Satz ist dort nicht
54 Zur Einpassung in die Tradition vgl. auch Hasebrink (Anm. 21), S. 261. Dieses Argument autorisiert etwa auch die Schriften Hildegards von Bingen. Zu Mechthild von Magdeburg und Gertrud von Helfta vgl. Nemes (Anm. 29), S. 206. Zum Kriterium der Übereinstimmung mit der Bibel in der Neuzeit vgl. Schmidt: Häresie (Anm. 49), S. 364. Selektion und Rekombination biblischer Stellen konnte aber auch als häretisch gelten. Vgl. Declercq (Anm. 5), S. 127. 55 Ein nachgetragener kurzer Punkt betrifft die Leidensfähigkeit Gottes. 56 Ochsenbein (Anm. 22), S. 426. 57 Vgl. Wünsche (Anm. 21), S. 272. 58 Vgl. Schneider-Lastin: Handexemplar (Anm. 15), S. 60.
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beschädigt (S. 100,12−14) − auch nicht seine Fortsetzung, die spezifiziert, dass Jesus vom innersten Blut des Herzens seiner Gesprächspartnerin getrunken hat.⁵⁹ Der zweite Satz ist nur in deutlich abweichender Form vorhanden.⁶⁰ Die Apologie bedient sich im Anschluss einer Reihe von Bibelzitaten, die die Aussage legitimieren, Elsbeth habe Gott gespeist und ihm zu trinken gegeben. Die Auflistung setzt an mit dem Versprechen Christi in der Apokalypse (Offb 3,20), mit demjenigen zu Abend zu essen, der ihn bei sich hineinlässt. Dann wird an das Johannesevangelium erinnert, an die Frau aus Samarien, von der Jesus Wasser verlangt und die sich bekehrt. Daran schließt sich die Erwähnung einer metaphorischen Speise an, die Jesus zu sich nimmt und die darin besteht, dass er den Willen des Vaters erfüllt (Joh 4,5−42). Der Absatz endet mit den auf Elsbeth bezogenen Worten: Hat er nit mit ira und si mit im geessen? Ja sicher, und in cantica canticorum sprichet dú minnend sel: ‚Ibi dabo tibi ubera mea [Hl 7,12]. Da gib ich dir min milch etc.‘ (S. 174, ed. 461,91−93) Hat er nicht mit ihr und sie mit ihm gegessen? Ja sicher, und im Hohelied sagt die liebende Seele: ‚Ibi dabo tibi ubera mea [Hl 7,12]. Da gebe ich dir meine Milch etc.‘
Die Aufzählung der Bibelstellen handelt von Essen und Trinken. Sie kulminiert, ohne dass entsprechende Verben genannt werden, im Saugen bzw. Stillen, einer Form des Nährens, die symbiotische Abhängigkeit bedeutet. Im Hohelied-Zitat konvergieren Eros und Mütterlichkeit, die Übersetzung des Apologeten betont Letztere. Johan Huizinga beobachtet im Spätmittelalter einen „von Religion durchtränkt[en]“ Alltag, in dem „der Abstand zwischen dem Irdischen und dem Heiligen jeden Augenblick verlorenzugehen drohte.“⁶¹ Elsbeth von Oye zählt zu denjenigen, die außeralltägliche Nähe zur Transzendenz herstellen. In seiner Anthropologie des Mundraums schreibt Hartmut Böhme: „Erwachsene Blutsauger und infantile Milchsauger ähneln sich darin, dass sie den Anderen nicht als eine getrennte Person wahrnehmen“.⁶² Das Saugen (Nahrungsaufnahme
59 Anders als beim Vampirismus ist dieser Blutsauger kein Wiedergänger. Vgl. dazu Thomas M. Bohn: Der Vampir. Ein europäischer Mythos. Köln/Weimar/Wien 2016. 60 Und er ist stehen gelassen worden: Ist dir nit girlicher, daz ich alle zit min brinnenden turst waglich irkle von der bltgiezzindun runs ader dins kruzis? (S. 127,7−10) „Ist es nicht begehrenswerter für dich, dass ich es wage, immer meinen brennenden Durst an der blutspritzenden Ader deines Kreuzes zu kühlen?“ Die Formulierung von der bltgiezzindun runs ader dins kruzis ist aber anderswo (inkonsequent) zensiert (S. 97,5 f.; 98,6 f.; 123,3 f.). 61 Johan Huizinga: Herbst des Mittelalters. Studien über Lebens- und Geistesformen des 14. und 15. Jahrhunderts in Frankreich und in den Niederlanden. Hrsg. von Kurt Köster. Stuttgart 2015 [nl. Orig. 1941] (Reclam 20366), S. 248. 62 Böhme (Anm. 35), S. 29.
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durch Kraftanstrengung) bestimmt bei Elsbeth, viel mehr als das Essen und Trinken, die unio mit Gott bzw. mit dem inkarnierten Logos. Diese steigert sich in der Reziprozität der trophischen Beziehung zwischen Gott und Mystikerin.⁶³ Auch die Begnadete isst, trinkt und saugt von Gott,⁶⁴ nicht nur in der Eucharistie. Der Flüssigkeitsaustausch zwischen ihr und Gott stellt ein zentrales Thema der Offenbarungen dar.⁶⁵ Mein Fokus liegt im Folgenden auf dem Gott, der früher die Welt durch Sprache erschaffen hat, ohne einen Mund zu benötigen. Nun ernährt er sich von der Kreatur, absorbiert sie, und sie muss sich dafür selbst kasteien. Die Offenbarungen und ihre Verteidigung liefern eine einzigartige Antwort auf die Frage, warum Gott den Menschen erschaffen hat: um ihn auszusaugen. Gott macht sein Bedürfnis wiederholt geltend. Er liefert einige Argumente dafür, er verspricht Gegenleistungen, aber er lässt nie von seiner Gier ab, die er immer wieder ausspricht. Er ist die wohl kompromissloseste Instanz im Ganzen,⁶⁶ denn die Kreatur gilt ihm als lebensnotwendig. Diese Vorstellung zog Zensur nach sich. In der Apologie wird das Brustgeben erst spät, nach dem Essen und Trinken genannt, als hätte der Verteidiger bei diesem Thema gezögert. Andererseits bildet Ibi dabo tibi ubera mea den Fluchtpunkt der Argumentation, wodurch es an Gewicht gewinnt und umso mehr als Widerspruch gegen Zensur taugt. Aber wo genau wurde die Imagination eines Gottes, der von der Begnadeten saugt, in den Zürcher Offenbarungen angefochten? Und geht es überhaupt um Muttermilch, wie die Apologie suggeriert?
III Zensur und Kompromiss: Die Offenbarungen Im Zürcher Codex sind verhältnismäßig viele Stellen radiert, an denen Gott Elsbeth aussaugt: Er formuliert – unterschiedlich eindringlich – sein Verlangen danach, sie
63 Zur unio vgl. Hasebrink (Anm. 21), S. 274 f. 64 Vgl. S. 9,7 f.; 18,13 f; 20,6 f.; 21,8 f.; 56,14 f.; 87,8 f.; 100,14−101,2; 111,1−6; 123,2−4; 125,19−126,2 etc. oft formuliert aus der Perspektive des göttlichen Sprechers. Die Logik der Eingriffe in den Text an diesen Stellen wäre noch zu untersuchen. Elsbeth kann aber auch göttliche Wunden salben und heilen (S. 125,7 f., 130,9 f.). 65 Vgl. Haug: Innerlichkeit (Anm. 26), S. 490. Dabei zeichnen sich „verschiedene Formen von Relationalität“ ab. Hasebrink (Anm. 21), S. 270. 66 Vgl. etwa die Stelle, an der die Mystikerin ihr Kreuz kurz ablegt, was Gott missbilligt. Ich gidachte: ‚Herre, du wilt mich recht niemer lazzin girůwin.‘ Do wart gisprochin: ‚Min bigirde girůwit oͮ ch niemer nach der minne dins herzen.‘ „Ich dachte: ‚Herr, du willst mich wirklich nie ruhen lassen.‘ Da wurde gesprochen: ‚Mein Begehren nach der Liebe deines Herzens ruht auch nie.‘“ (S. 123,10−14).
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berichtet davon.⁶⁷ Wie die „planvolle, mit kalligraphischem Anspruch durchgeführte Anlage des Buches“ erkennen lässt, war die Handschrift im vorderen Teil entweder für ein weiteres Publikum gedacht,⁶⁸ oder sie wurde (vielleicht in einer bestimmten Lebensphase) mit großer Sorgfalt für den Eigengebrauch angefertigt. Der zweite Teil vermittelt ein konträres Bild. Unabhängig von diesem Wechsel erstrecken sich die Passagen, die uns beschäftigen, fast über die ganze Schrift. Mit dem Verb ‚saugen‘, das die intensive Bindung Gottes an die Begnadete markiert, wird unterschiedlich umgegangen. Es ist mehrfach getilgt, zum Beispiel in der tadelnden Bemerkung Christi: Machtu nit pine lidin, darumbe [radiert: daz ich szzekeit von] dir [radiert: suge] unt ich minneklich dar umbe pine leit, daz du von mir sugen mochtest [geändert aus: svgest] din ewig lebin? Amen. (S. 20, Zeile 2−7, Abb. 1) Kannst du nicht Qualen leiden, damit [ich Süße aus] dir [sauge], und ich litt voller Liebe Qualen, damit du dein ewiges Leben aus mir saugen konntest [saugst]? Amen.
Die Rasur hat den Parallelismus zerstört. Bei der Süße handelt es sich um eine unsichere Herausgeber-Rekonstruktion.⁶⁹ Gottes Verlangen fiel der Zensur zum Opfer, wie auch die individuelle Erlösung in der Gegenwart, die durch eine bereits erfolgte oder durch ihre Möglichkeit ersetzt wurde. Durch die Rasur sind Lücken im
67 Vgl. zusätzlich zu den unten genannten Stellen: S. 15,1−3; 22,14 f.; 51,15, alle radiert. Außerdem (und ohne das Verb ‚saugen‘) ist Elsbeth Getränk und Speise Gottes, er dürstet nach ihr, nach ihrem Blut und ihrer Liebe, und er hat Hunger auf ihren blutigen Schmerz. Auch hier arbeitete die Zensur inkonsequent, vgl. z. B. S. 51,8−11; 56,3−5; 76,10−13; 97,8−10; 98,11−14; 101,3−5; 115,14−16; 126,15−18; 128,10 f.; 131,18 f.; 133,7−134,15. − Es schmeckt ihm immer. „Der Mundraum ist der Zensor, der das Urteil darüber fällt, was man ‚bei sich behält‘ oder‚ausstößt‘. Die Scheidung in gute und böse Objekte wird in der Nutrition vorbereitet. Hier beginnt die ‚Politik‘ der Inklusion und Exklusion.“ Böhme (Anm. 35), S. 31. Zum Motiv vgl. auch Offb 3,16. 68 „Die planvolle, mit kalligraphischem Anspruch durchgeführte Anlage des Buches läßt trotz seines kleinen Formats darauf schließen, daß es nicht für den privaten Gebrauch der Verfasserin, sondern für einen weiteren Leserkreis gedacht war.“ Schneider-Lastin: Handexemplar (Anm. 15), S. 56. Dies gilt, wenn überhaupt, bis zur 5. Lage (S. 115). „Zu Beginn der 6. Lage wird der ursprüngliche Plan zwar noch einmal aufgenommen, doch schon nach wenigen Seiten – dieses Mal endgültig – aufgegeben.“ Ebenda, S. 56. „Innere wie äußere Umstände dürften Elsbeth also dazu veranlaßt haben, Formulierungen in ihren Aufzeichnungen auszuradieren, und sie mögen auch der Grund sein für den Abbruch der geplanten Niederschrift und den anschließenden Wandel des Manuskripts zum persönlichen Handexemplar.“ Ebenda, S. 60. Die Zensur hat nicht vor dem möglichen „persönlichen Handexemplar“ haltgemacht, vor oder nach einer möglichen Veröffentlichung. Auch ein Buch für den Eigengebrauch konnte in Umlauf kommen. 69 Sie wird, wie auch im Folgenden, durch die punktierte Linie markiert. Vgl. Schneider-Lastin: Handexemplar (Anm. 15), S. 65.
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Abb. 1: Elsbeth von Oye: Offenbarungen. Zentralbibliothek Zürich Ms. Rh. 159, Persistenter Link: https://doi.org/10.7891/e-manuscripta-40234, Public Domain, S. 20.
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Text entstanden, genauso wie an folgender Stelle, deren Brisanz nicht zuletzt in der hyperbolischen Einzigartigkeit⁷⁰ Elsbeths besteht: [Unsauber radiert: Du bist du luterst vereintest gilichste ingnaturtest creatur einú, dú von minem] veterlichen herzen ie gevloz, unt dar umbe ist mir gar girlich, alle zit [unsauber radiert: ze sugenne die inresten inadern diner sele]. Diz werde war. (S. 43, Zeile 13−S. 44, Zeile 5, Abb. 2 a,b) [Du bist die reinste, vereinteste, gleichste, in meine Natur am meisten aufgenommene Kreatur allein, die aus meinem] väterlichen Herzen je herausfloss, und deshalb begehre ich sehr, immer [die innersten Adern deiner Seele auszusaugen]. Das werde wahr.
Anderswo gewinnt man den Eindruck, dass das Radiermesser Drastik reduzieren sollte, indem es von mehreren Tätigkeiten nur das Saugen entfernte und selbst sein Objekt (z. B. Schmerz) stehen ließ. Gottvater versichert der Leidenden: Daz pinlich ser dins krúzes wil ich gnlich unt mit spilinder frde ewiklich [radiert: sugen unt] niezin von dien bltinden wunden mins suns vor allem himelschen her. (S. 50, Zeile 1−5, Abb. 3) Den qualvollen Schmerz deines Kreuzes will ich mit Wohlgefallen und vergnügter Freude ewig [aufsaugen und] trinken von den blutenden Wunden meines Sohnes vor dem ganzen himmlischen Heer.⁷¹
Denkt man sich die Mystikerin und Christus vereint, dann kann der Sprecher in einem Zuge aus ihr und aus seinen Wunden trinken (niezin bedeutet ‚essen‘ oder ‚trinken‘). Hier wurde allein der Regress Gottes zum erwachsenen Säuger getilgt, der sich von Blut und dem Abstraktum Schmerz ernährt, von Sohn und Mensch. Einen weiteren Beleg für reduzierte Drastik liefert die Aufforderung an die Begnadete: La mich nu trinkin [trīkī auf Rasur, radierter Text: svgē von] dinem krúze, ez wirt hie na dur dih fliezzinde daz mer miner gottheit. (S. 135, Zeile 7−9, Abb. 4) Lass mich nun trinken [saugen von] deinem Kreuz, das Meer meiner Gottheit wird danach um deinetwillen fließen.
Die hier modifizierte Formulierung findet sich bereits früher im Text (S. 128,16 f.). Dort ist das sugen ersatzlos radiert. In den abgemilderten Aussagen (S. 50,1−5; 135,7−9), die zu zweit eine Tendenz erkennen lassen, wird möglicherweise ein Kompromiss greifbar, ohne rekonstruieren zu können, ob nur die Verfasserin (der Text), oder auch die Zensur-Instanz nachgab. Die Einverleibung findet nun statt, ohne dass sich Gott im
70 Vgl. Hasebrink (Anm. 21), S. 271. 71 Wenn sich Gott selbst aussaugt, ohne dass die Begnadete, wie hier, daran beteiligt wäre, ist es kein Problem. Vgl. S. 18,10−12; 88,8−12.
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Abb. 2 a: Elsbeth von Oye: Offenbarungen. Zentralbibliothek Zürich Ms. Rh. 159, Persistenter Link: https://doi.org/10.7891/e-manuscripta-40234, Public Domain, S. 43.
Saugen erniedrigt. Dass das Saugen irritierte, belegt auch eine weitere Stelle, die später restauriert wurde:
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Abb. 2 b: Elsbeth von Oye: Offenbarungen. Zentralbibliothek Zürich Ms. Rh. 159, Persistenter Link: https://doi.org/10.7891/e-manuscripta-40234, Public Domain, S. 44. Min turstender herze lust mag daz nit lange verbern, er muͤ sse [unsauber radiert, teilweise restauriert: gesoͮ get unt getrenket werden von der bluͤ tinden, bluͤ tigen runsader dins krúzis]. (S. 97, Zeile 2−6, Abb. 5)
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Abb. 3: Elsbeth von Oye: Offenbarungen. Zentralbibliothek Zürich Ms. Rh. 159, Persistenter Link: https://doi.org/10.7891/e-manuscripta-40234, Public Domain, S. 50. Meine durstige Herzenslust kann es nicht lange unterlassen, sie muss [gesäugt und getränkt werden aus der blutenden, blutigen Ader deines Kreuzes].
Warum die Zensur in diesem Einzelfall (unter allen Passagen, in denen Gott an der Begnadeten saugt) rückgängig gemacht wurde, lässt sich inhaltlich nicht begründen.
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Abb. 4. Elsbeth von Oye: Offenbarungen. Zentralbibliothek Zürich Ms. Rh. 159, Persistenter Link: https://doi.org/10.7891/e-manuscripta-40234, Public Domain, S. 135.
Handelte es sich um eine Protest-Aktion? Es gibt aber in diesem Themenspektrum auch einige unradierte Stellen. Hat die Zensur-Instanz dort eingelenkt? Mehrfach vergleicht sich Gott bzw. Jesus mit einem Säugling, zum Beispiel:
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Abb. 5. Elsbeth von Oye: Offenbarungen. Zentralbibliothek Zürich Ms. Rh. 159, Persistenter Link: https://doi.org/10.7891/e-manuscripta-40234, Public Domain, S. 97. Alz sich daz kint leit uf siner muͤ ter herze, daz ez gesoͮ get [am Rand eingefügt: werde] von ir, also bin ich alle zit gineiget zů dir mit bigirde mins herzen, daz ich von dir sugen muge din inrestes marg. (S. 43, Zeile 7−12, Abb. 2a)
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Wie sich das Kind auf das Herz seiner Mutter legt, dass es von ihr gestillt [werde], so bin ich immer zu dir geneigt mit der Begierde meines Herzens, dass ich dein innerstes Mark von dir saugen möge.⁷²
Einerseits schreibt sich der Sprecher die Unschuld eines Kindes zu. Andererseits gewinnt die Vorstellung vom Saugen an Direktheit. Gott/Jesus ernährt sich nicht mehr vom abstrakten Schmerz oder von Süße, er hält nicht mehr den Mund an die Adern der Seele, das (blutige) Kreuz vermittelt nicht mehr zwischen ihm und der Mystikerin, sondern er entzieht dem Körper sein „innerstes Mark“. An späterer Stelle war man wieder empfindlicher: Alz minneklich dem kinde ist, zi suginne von siner můter herzin, als minneklich ist mir alle zit, zi sugenne die runs ader dines kruzis [geändert vermutlich aus: zi sugenne die blůtgiezzindē runs ads dīs kruzis]. (S. 121, Zeile 13−17, Abb. 6) So lieb es dem Kind ist, am Herzen seiner Mutter zu saugen, so lieb ist es mir stets, an der [blutspritzenden] Ader deines Kreuzes zu saugen.
Mit dem gelöschten spritzenden Blut ist der Schrecken reduziert; zi sugenne blieb aber auch nach der Korrektur stehen. Anders als in der Apologie ist in den Offenbarungen der magt, der Jungfrau Elsbeth nirgends von milch die Rede. Dennoch qualifizieren die Vergleiche mit einem Kind das Saugen Gottes als infantile Nahrungsaufnahme. Elsbeth erhält leicht marianische Qualitäten, indem sie Blut und Mark spendet. Ein Gott, der tentativ zum Säugling regrediert, war wohl akzeptabler; die Stellen blieben diesbezüglich unverändert. Die Stillerfahrungen von Elsbeths Zeitgenossin Margaretha Ebner wurden, soweit ich sehe,⁷³ ebenfalls keiner Zensur unterzogen. In ihren Offenbarungen träumt eine Mitschwester, dass sie Margarethas Kind (d. h. ihren Herren) im Arm hält und es ihr reicht: und daz nem du von mir mit grosser begirde und letost ez an din herze und woltost ez saugen, und des wundert mich, as bliuge diu bist, daz du dich nit schemtest. (S. 90)⁷⁴
72 Unzensiert ist auch die Passage: ‚Swenne daz kint nicht suget von der můter, so hat ez nicht mere leblicheit.‘ Daz verstůnt ich also, daz ich min krúze wider nemen solti (S. 19,9−13). „‚Wenn das Kind nicht von der Mutter saugt, bleibt es nicht mehr am Leben.‘ Das verstand ich so, dass ich mein Kreuz wieder an mich nehmen sollte.“ 73 Online einsehbar sind die Handschriften: SBB mgq 179 und Kloster Maria Medingen A/ME 1. 74 Margaretha Ebner und Heinrich von Nördlingen. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Mystik. Hrsg. von Philipp Strauch. Freiburg, Tübingen 1882, S. 1–161, hier S. 90, vgl. auch S. 87.
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Abb. 6. Elsbeth von Oye: Offenbarungen. Zentralbibliothek Zürich Ms. Rh. 159, Persistenter Link: https://doi.org/10.7891/e-manuscripta-40234, Public Domain, S. 121. und du nahmst es von mir mit großem Verlangen und legtest es an dein Herz und wolltest es stillen, und ich wunderte mich, so schüchtern wie du bist, dass du dich nicht schämtest.
Die fehlende Scham markiert nicht nur im Hinblick auf Margarethas Charakter die Fremdartigkeit der Szene. Sie wird im Anschluss sicherheitshalber von der Ange-
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sprochenen als Ausdruck des göttlichen Willens decodiert. Hier griff kein Radiermesser ein. Weniger explizite Passagen, die zwar auf einen saugenden Gott schließen lassen, dies aber nicht direkt formulieren, weisen in Elsbeths Offenbarungen ebenfalls keine Richtigstellungen auf. Als die Begnadete ihren Herren wieder einmal fragt, was genau er durch ihr Leiden gewinnt, lautet die Antwort: Nicht mer denne allein daz gesoͮ get werde der herze lust, den ich alle zit habe nach der uber naturlichen wirkunge, die ich haben wil in dir mit spilinder vroͤ de der inresten toͮ gni mis veterlichen herzen. (S. 29,8−14) Nichts außer allein, dass die Herzenslust gesäugt wird, die ich immer habe nach der übernatürlichen Wirkung, die ich in dir erreichen will mit der vergnügten Freude der innersten Heimlichkeit meines väterlichen Herzens.
Die abstrakte Begriffsserie entzieht jedem, der auf sofortiges Verstehen setzt, den Boden unter den Füßen. Die passive Konstruktion daz gesoͮ get werde erzeugt eine Vagheit, die über das eigentliche Subjekt (Gott) hinwegtäuschen kann. Die Stelle galt wohl als harmlos, oder ihre Unverfänglichkeit wurde ausgehandelt. Zu den schlimmsten Askese-Einfällen Elsbeths gehört die Kleidung, die ihr am Körper verfault, vor der sie sich ekelt und die, wie ihr Kreuz, einen Biotop für Würmer bildet. Sie klagt darüber, daz ich bi lebindem libe ein spise worden bin der wurme, „dass ich bei lebendigem Leib eine Speise für Würmer geworden bin“ (S. 38,13 f.). Gott verweist daraufhin auf Ego autem sum vermis et non homo (S. 39,1 f.), „Ich aber bin ein Wurm und nicht ein Mensch“,⁷⁵ also auf den Psalm 21,7, der die Erniedrigung in der Passion präfiguriert. Daran schließt sich der Vorwurf Gottes an, er habe sich um ihretwillen mit einem Wurm identifiziert. Wolle sie ihn deshalb verschmähen und darauf verzichten, seine Speise zu sein? ‚Ich han mich dur dich gelichet einem wurme unt nit einem menschen. Wiltu mich denne versmahen dur mine verworfenheit, also daz du nit sin wilt min spise?‘ (S. 39,4−8) Abgesichert durch die Bibel und ohne das Skandal-Verb ‚saugen‘ gab es an dieser Stelle kaum Anlass für Zensur. Die Begnadete überwindet sich immer wieder und trägt das Gewand mit dem ungewurme, das sie gar irsogen (S. 66,10−12), „ganz ausgesogen“ hat. Sie berichtet:
75 Übersetzung von Andreas Beriger in: Hieronymus: Biblia Sacra Vulgata. Lateinisch-deutsch. Hrsg. von Andreas Beriger, Widu-Wolfgang Ehlers, Michael Fieger. 5 Bde. Berlin/Boston 2018, Bd. 3, S. 112.Vgl. zum Motiv auch Tobias A. Kemper: Die Kreuzigung Christi. Motivgeschichtliche Studien zu lateinischen und deutschen Passionstraktaten des Spätmittelalters, Tübingen 2006, S. 423.
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unt daz was ein solich pin, daz ich im en kein glicheit konde gegebin, denne ob ein lebinder slange sich geslozzen hetti umbe minen lib unt von mir suge min inrestes marg. (S. 67,4−10) und das war ein solcher Schmerz, dass ich keinen anderen Vergleich dafür fand, außer als ob sich eine lebende Schlange um meinen Körper gewunden hätte und mir mein innerstes Mark aussog.
Moses’ eherne Schlange ist als Präfiguration Christi im Neuen Testament vorgegeben (Joh 3,14 f, vgl. Num 21,6−9). Die Sprecherin thematisiert hier das Saugen nur im Zusammenhang mit Kriechtieren. Im Wortlaut der Passagen steht nichts über Gott, der seinen Durst/Hunger an der Kreatur stillt. Über die zwar kühne, aber biblisch abgesicherte Verbindung zwischen Wurm, Schlange und transzendentem Gegenüber, das indirekt theriomorphe Eigenschaften entwickelt, hat die Zensur-Instanz hinweggesehen. Aber auch der Satz Daz mer ist ane grunt, daz ich von dir sugin wil, „Das Meer ist ohne Grund, das ich aus dir saugen will“ (S. 128,6 f.) blieb intakt. Inhaltlich ließe sich dies – im Sinne eines Kompromisses – durch fehlende Drastik begründen. Im Vergleich zur anatomischen Präzision anderer Stellen wirkt das unendliche Meer euphemistisch und verharmlost selbst das sugin.
IV Fazit Greifbar sind im Zusammenhang mit Gott, der an der Kreatur saugt, Zensur-Tendenzen.⁷⁶ Das Verb stört, die Drastik wird oft zurückgenommen. Ob Wunsch oder Tatsache formuliert werden, spielt dabei keine Rolle. In der Inkonsequenz erkennt Wolfram Schneider-Lastin, der von Selbstzensur ausgeht, ein „Indiz für die Unsicherheit und die Zweifel der Autorin ihrem eigenen Text gegenüber“.⁷⁷ Die Zürcher Handschrift wäre so gesehen ein Seismograph ihres Zögerns. Aus thematischen Gründen könnte man vermuten, dass eine externe Zensur-Instanz oder die unschlüssige und strenge Elsbeth selbst dort nachgegeben hat, wo sich eine MutterKind-Beziehung zwischen Mystikerin und Gott abzeichnet, und erst recht dort, wo sich Gott − biblisch gestützt – nur indirekt als Wurm und Schlange von der Be-
76 Dabei widerspreche ich der Verallgemeinerung Schneider-Lastins: Handexemplar (Anm. 15), S. 63: „Noch weniger erfolgversprechend ist der Versuch, Eingriffe nach inhaltlichen Gesichtspunkten oder nach dem Beweggrund, aus dem heraus ein Eingriff erfolgte, zu kategorisieren […].“ Inhaltlich begründete Korrekturen beobachtet auch Sieber (Anm. 18), S. 226: „Entzifferte Rasuren belegen, dass die Autorin durch Eingriffe in die Inquitformeln zu ihren Auditionen versucht, die Entsubjektivierung ihres Werkes zu forcieren.“ Vgl. auch Nemes (Anm. 29), S. 205. 77 Schneider-Lastin: Handexemplar (Anm. 15), S. 59.
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gnadeten ernährt. Vereinzelt und unterschiedlich motiviert geschah es auch über diese Stellen hinaus. Die Inkonsequenz kann aber genauso auf Unaufmerksamkeit zurückgehen oder (bei einer Aufsichtsperson) Überlegenheit durch Willkür signalisieren. Nach dem Prinzip ‚einmal Zensur ist immer Zensur‘ findet in der Lektüre − je nach Einstellung − mentale Zensur statt. Ob es sich entziffern lässt oder nicht, figuriert das Getilgte als Warnung vor dem Rest. Gegen diese rigoristische Sichtweise spricht, dass man immerhin nicht versuchte, die Offenbarungen (anders als etwa den Spiegel der einfachen Seelen, Le mirouer des simples ames der Marguerite Porete) als Ganzes zu vernichten,⁷⁸ sondern sie wurden angepasst. Für bedingungslose Sympathisanten steigert gerade der „Schrecken über den Beinaheverlust“,⁷⁹ den man in Anbetracht des Schriftbilds bekommt, den Wert der Offenbarungen. Man hat sich außerdem eine selbstbewusste Verteidigungsschrift geleistet. Aber genau genommen vermeidet sie gerade das Verb ‚saugen‘. Die Rede ist nur von ubera und milch. Dies könnte daran liegen, dass der anonyme Dominikaner keine passende Stelle in der Bibel fand, um sie in die Zitatensammlung aufzunehmen.⁸⁰ Oder aber: könnte es sein, dass er Vorsicht walten ließ und auf das Verb des Anstoßes verzichtete? Dann würde es sich um ein Zugeständnis seinerseits handeln. Außerdem dürstet der Gott der Apologie nicht nach Blut, Mark, Schmerz etc., er gibt sich mit Muttermilch zufrieden. Am Anfang sieht der Verteidiger Elsbeth über jeden Zweifel erhaben, und dann mildert er doch die Drastik ab, indem er ihre Phantasien nur verkürzt wiedergibt. In Bezug auf göttliches Saugen zeichnet sich in den Offenbarungen ein Zensur-Muster mit Unschärfen ab. Dass dabei unterschiedliche 78 Vielleicht verdankt sich diese Milde der Zugehörigkeit Elsbeths zu den Dominikanerinnen, während die Begine Marguerite Porete weniger Unterstützung erfuhr. Zur Verbrennung volkssprachlicher Beginen-Bücher vgl. Mostert (Anm. 16), S. 160. Marguerite Porete war die erste, die (1310) einen Tag nach ihrem Buch auch selbst verbrannt wurde.Vgl. Declercq (Anm. 5), S. 128. Auf sie trifft die Feststellung erst recht zu: „The ultimate aim of the wilful destruction of books is the destruction of ideas, whether they be transmitted in written form or can be found in the minds of the texts’ authors or scribes.“ Mostert (Anm. 16), S. 150. Im Falle Marguerites erzielten die Hinrichtung der Autorin und die Bücherverbrennung, wie so oft, das Gegenteil, vgl. Löser: Resisting (Anm. 9), S. 99–101; Declercq (Anm. 5), S. 130. Zensur ist lebensgefährliche Werbung. Vgl. Godman (Anm. 4), S. 54–63. Mediologisch gesehen bedeutet außerdem jede Zerstörung „an admission of the power ascribed to writing.“ Declercq (Anm. 5), S. 143. 79 Gereon Becht-Jördens: Die verlorene Handschrift. Zum Motiv von Zerstörung, Verlust und Wiederauffindung als Strategie der Traditionssicherung in der lateinischen Literatur des Mittelalters. In: Kühne-Wespi, Oschema, Quack (Anm. 5), S. 393–435, hier S. 423. 80 Im Hohelied 8,1, als sich die Braut ihren Liebsten zum Bruder wünscht, den sie öffentlich küssen darf, sugentem ubera matris meae, „der an den Brüsten meiner Mutter saugt“ (Übersetzung von Christine Schmitz, Stefan Stirnemann in: Vulgata [Anm. 75]), entsteht eine Figurenkonstellation, die die Phantasie eines Gottes, der an der Mystikerin saugt, nicht unmittelbar unterstützt.
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Vorstellungen von Ehrfurcht Gegenstand der Verhandlung waren, liegt auf der Hand.⁸¹
81 Es wäre noch zu untersuchen, wie sich diese Auseinandersetzung weiterentwickelt hat. Die Offenbarungen erfuhren spätere Bearbeitungen in Elsbeths Vita, überliefert im Ötenbacher Schwesternbuch, die vom Kartäuser Matthias Thanner ins Lateinische übersetzt wurde (mit einem letzten Überlieferungszeugen im 18. Jahrhundert), und im Traktat Ein gütt mönsch begert von got, vgl. Schneider-Lastin: Leben (Anm. 43), S. 402 f.; Ochsenbein (Anm. 22), S. 438.
II Politischer Kompromiss und Zweifel / Aporie
Hermann Kamp
Kompromisse vor dem Kompromiss: Friedensstiftung im hohen Mittelalter Das Wort compromissum taucht erst ab 1180 in den lateinischen Quellen des deutschen Mittelalters auf.¹ Es geht bekanntlich auf das römische Recht zurück und wird seit dem ausgehenden 12. Jahrhundert genutzt, um ein Schiedsverfahren zu bezeichnen.² Wiewohl das Wort anfänglich nicht mehr als das gemeinsame Versprechen der Konfliktparteien meinte, ihren Streitfall an eine oder mehrere ausgewählte Personen zur Entscheidung zu übertragen, wurde es schließlich mit dem Schiedsurteil selbst verbunden. Schon im Verlauf des 13. Jahrhunderts erschien so auch das Ergebnis einer solchen Konfliktbeilegung als Kompromiss, als eine Entscheidung, die von beiden Parteien gewollt, dann auch im Sinne beider war.³ Dennoch blieb das Wort compromissum bis ins 18. Jahrhundert an das Schiedsverfahren geknüpft, wie ein Blick in Zedlers Universallexikon belegt.⁴ Immerhin trifft man schon auf den simulierten Compromiß, welcher als Scheinhandel oder besser noch als Vergleich in heuchlerischer Weise definiert wurde,⁵ wobei die fehlende Verbindlichkeit das entscheidende Kriterium war. Erst im 19. Jahrhundert nimmt das Wort Kompromiss die Bedeutung an, die es heute noch besitzt. Nun versteht man unter dem Kompromiss einen Interessensausgleich zwischen zwei oder mehreren Parteien, der durch wechselseitigen Verzicht herbeigeführt wird.
1 Vgl. eMGH s.v. compromissum mit Varianten. Dabei gibt es bis ins 12. Jahrhundert pro Jahrhundert zwei bis drei Belege, wobei es sich fast immer um das Verb ‚compromittere‘ in der Bedeutung ‚versprechen‘ handelt. Ab dem 12. Jahrhundert finden sich dann mehr Belege, wobei es immer noch zumeist das Versprechen oder die Zustimmung meint. http://clt.brepolis.net/emgh/pages/QuickRes ults.aspx?qry=023525ba-6832-4c82-847a-99e019be7bc8 [Zugriff: 21.09. 2022]. 2 Klaus-Dieter Osswald: Art. Kompromiss. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 4. Hrsg. von Joachim Ritter, Karlfried Gründer. Darmstadt 1976, Sp. 941–942. Vgl. dazu auch den Beitrag von Claudia Garnier in diesem Band. 3 Das kann man schon einer Urkunde Königs Adolfs von Nassau entnehmen: Alfonsus rex. Constitutiones. In: MGH Constitutines. 2. Hrsg. von Ludwig Weiland. Hannover 1896, Nr. 392–397, hier Nr. 394, S. 495: Et si per compromissum vel per iudicium vel per compositionem partes predicte in manus dicti domini regis vel sui vicarii vel nuntii devenerint, castra et omnia, que comune Pisarum nunc possidet, eidem comuni ad honorem et servitium dicti domini regis salvabit, in quantum decuerit dictum regem, et comune Pisarum in hoc honorifice sustinebit. 4 Johann Heinrich Zedler: Großes vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste. 64 u. 4 Bde. Leipzig/Halle 1731–1754, Bd. 6, Sp. 878 f. 5 Vgl. ebd., Bd. 37, Sp. 1548. https://doi.org/10.1515/9783110792737-008
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Etwas abstrakter und präziser kann man mit Georg Simmel auch von einem Tausch sprechen, bei dem beide Seiten Verzichtsleistungen erbringen, indem sie das umkämpfte Gut aufteilen oder aber mit anderen Gütern verrechnen, die dann als Ausgleich für den Verzicht auf den Streitgegenstand verliehen werden können.⁶ Auf diese Definition wird auch im Folgenden immer wieder Bezug genommen. Doch wichtiger ist es zunächst festzuhalten, dass es im Mittelalter kein Wort gab, um eine solche oder verwandte Form, Konflikte zu lösen, zu bezeichnen. Das Vokabular, das den Verhandlungsführern, Gesandten oder Vermittlern zur Verfügung stand, konzentrierte sich auf das Ziel der Konfliktbeilegung, auf die Befriedung. Dementsprechend beschreiben mittelalterliche Geschichts-, aber auch Urkundenschreiber den Prozess der Konfliktbeilegung immer wieder mit denselben Substantiven und Verben. Häufig ist von Befrieden, von pacificare die Rede.⁷ Nicht weniger oft benutzte man das Wort reconciliare und sprach den Versöhnungsgedanken an. Auch auf pacare, sprich ‚befrieden‘, und componare, das ‚schlichten‘ oder auch ‚beruhigen‘ und ‚beschwichtigen‘ meinte, stößt man immer wieder. Es ging um pax und concordia, und mit Blick auf den Weg zum Frieden unterschied man höchstens zwischen gütlichen und gerichtlichen und später dann schiedsartigen Verfahren. Aber einen Kompromiss im heutigen Sinne kannte man nicht. Niemand ging in Verhandlungen mit den Worten: ‚Komm, lasst uns mal einen Kompromiss finden‘. Selbstverständlich wird man daraus nicht den Schluss ziehen, es habe keine Kompromisse im frühen und hohen Mittelalter gegeben. Kompromisse, so kann man inzwischen häufig lesen, sind ein Phänomen, das für den Menschen stets eine Option dargestellt hat, Konflikte zu lösen. Schon für Simmel gehört der Kompromiss zu „der alltäglichen und selbstverständlichen Lebenstechnik“, die er als „eine der größten Erfindungen der Menschheit“ preist.⁸ Noch stärker verordnete Martin Greiffenhagen den Kompromiss als anthropologische Konstante, wenn er ihn in „einer hinter das erste Auftreten des Menschen zurückreichende biologische Grundstruktur von Gegenseitigkeit“ verortet und sogar im Tierreich kompromisshaftes Verhalten zu erkennen glaubt.⁹ Doch zugleich ist auch ihm bewusst, dass die Möglichkeit und Bereitschaft, Kompromisse zu suchen, von äußeren Faktoren abhängt und zumindest das Erscheinungsbild des Kompromisses einem Wandel unterliegt. Die gerade von deutschen Autoren gerne beklagte Kompromissfeindlichkeit
6 Vgl. Georg Simmel: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Gesamtausgabe. Bd. 11. Hrsg. von Otthein Rammstedt. Frankfurt a. M. 21995, S. 374–376. 7 Vgl. hierzu und zum Folgenden Hermann Kamp: Friedensstifter und Vermittler im Mittelalter. Darmstadt 2001, S. 21–23. 8 Simmel: Soziologie (Anm. 6), S. 375. 9 Martin Greiffenhagen: Kulturen des Kompromisses. Opladen 1999, S. 13 und zum Kompromiss unter Primaten, S. 48–73.
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in bestimmten Epochen deutscher Geschichte¹⁰ ist dann überdies ein Hinweis auf die unterschiedliche Bedeutung und Bewertung, die der Kompromiss in verschiedenen Ländern, Kulturen und Epochen erfahren hat. Von daher würde man es sich auch zu einfach machen, das Fehlen eines adäquaten Wortes im Mittelalter für belanglos zu erklären. Das gilt umso mehr, als der fehlende sprachliche Ausdruck bestens zu dem lange Zeit kultivierten Bild vom ebenso gewalttätigen wie rigorosen Mittelalter passt, dessen Könige im Krieg ihr Lebenselixier fanden, dessen Päpste ihre Gegner in Kirche und Welt stets aufs Schärfste verdammten, verfolgten und zur Verteidigung der dogmatischen Wahrheit auf den Scheiterhaufen brachten und dessen Adel aus erlittenem Unrecht ein Recht zur Fehde ableitete. Wo soll man Kompromisse finden, wenn Treue oder Verrat, Freundschaft oder Feindschaft, Gehorsam oder Ungehorsam die Parameter sind, an denen sich die Bewertung politischen Verhaltens orientiert? Und in der Tat hat man lange Zeit auch kaum von Kompromissen gesprochen, wenn man sich mit den Konflikten des frühen und hohen Mittelalters befasste. Erst in den 1970er Jahren änderte sich dies, als Frederic Cheyette und Stephen White Besitzstreitigkeiten im hochmittelalterlichen Frankreich untersuchten und dabei feststellten, dass die Konfliktparteien einen Weg bei der Konfliktschlichtung bevorzugten, bei dem der Gedanke des Ausgleichs im Vordergrund stand. Der Kompromiss, von dem Cheyette sprach, bestand darin, dass jeder der Konfliktparteien das zugestanden worden sei, was ihr zukäme.¹¹ Damit hätten diese von den Parteien, vielfach unter Mithilfe von gemeinsamen Freunden, selbst ausgehandelten Vereinbarungen die Logik der gerichtlichen Streiterledigung unterlaufen, die immer nur einer Seite ihr Recht zusprach. Den Vermittlern sei es indes gelungen, die Parteien von der fehlenden Rechtmäßigkeit ihrer Forderungen zu überzeugen, sie zu einer Teilung des umstrittenen Besitzes zu bewegen oder zumindest eine Entschädigung auszuhandeln, wenn der anderen Seite der Besitz zugesprochen wurde. Weiter entwickelt wurde dieser Ansatz durch Stephen White, der den Blick auf ähnliche Konflikte im Nordwesten des werdenden Frankreichs lenkte, wo die königliche Autorität und damit auch das gräfliche Gericht im 11. und 12. Jahrhundert weit mehr Bedeutung als im Süden des Landes besaßen. Und doch spielte selbst hier der Kompromiss, wie White an den Besitzstreitigkeiten des Klosters Marmoutiers
10 Vgl. Greiffenhagen (Anm. 9), S. 19–48, widmet ein ganzes Kapitel der deutschen Kompromissfeindlichkeit. Aus pädagogischer Sicht Theodor Wilhelm: Der Kompromiß. Zu Weiterbildung des politischen Bewusstseins. Tübingen 1973, bes. S. 1–18, versteht sein Buch als Heilmittel gegen die in Deutschland grassierende Kompromissfeindlichkeit zur Zeit der Nationalsozialisten, denen er sich selbst angedient hatte, und der 68-Revolte. 11 Vgl. hierzu und zum Folgenden Frederic L. Cheyette: „Suum Cuique Tribuere“. In: French Historical Studies 6 (1970), S. 278–299.
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darlegt, bei deren Beilegung eine gewichtige Rolle. Dabei suchte er seinen Begriff von Kompromiss näher zu definieren, indem er die Kennzeichen der Vereinbarungen zusammentrug, mit denen die Streitfälle beendet wurden.¹² Sie erfolgten zumeist außergerichtlich, ließen keine Seite am Ende mit leeren Händen dastehen, schufen neue soziale Beziehungen zwischen den Konfliktparteien und sorgten dafür, dass vorherige Schädigungen der Gegenseite vergeben wurden, wenn eine Partei die umstrittenen Besitztitel zugesprochen bekam.¹³ Und schließlich verweist White auf die rituellen Handlungen, die häufig mit dem Abschluss solcher Vereinbarungen einhergingen, wobei er an die Übergabe von Symbolen, die den Besitzwechsel dokumentierten, denkt wie an gemeinsame Mähler oder den Friedenskuss.¹⁴ Die Überlegungen Whites scheinen auf den ersten Blick plausibel. Schaut man sich indes die sogenannten Kompromisse genauer an, so nehmen sie sich doch recht einseitig aus. Zwar ging es in allen Fällen um umstrittenen Besitz, aber zu einer Teilung kam es nie. Im Endeffekt setzte sich das Kloster zumeist durch, ganz gleich ob vor Gericht oder außergerichtlich.¹⁵ Von einem Kompromiss im Sinne Simmels ist man meilenwert entfernt, auch wenn die Mönche für die Anerkennung ihres Besitzes soziale Gunsterweise ausstellten. Vor diesem Hintergrund verschleiert der Begriff ‚Kompromiss‘ nur die realen Machtverhältnisse, und es scheint viel sachgerechter zu sein, die Vereinbarungen einfach nur als gütliche Einigungen zu bezeichnen. Das gilt umso mehr, als White all seine Kriterien für den Kompromiss gewinnt, indem er die Ergebnisse der außergerichtlichen Einigungen mit denen des Gerichtprozesses vergleicht und dann deren Vorteile herausstreicht.¹⁶ Dass man gütliche Einigungen nicht unbedingt als Kompromisse beschreiben muss, zeigten dann die Arbeiten von Gerd Althoff, der mit den Konflikten zwischen 12 Vgl. hierzu und zum Folgenden Stephen D. White: „Pactum … Legem Vincit et Amor Judicium“. The Settlement of Disputes by Compromise in Eleventh-Century Western France. In: Ders.: Feuding and Peace-Making in Eleventh-Century France. Farnham/Burlington 2005 (Variorum collected studies series 817), S. 281–308, bes. S. 296 f. 13 Vgl. ebd., S. 297. 14 Vgl. ebd. 15 Vgl. ebd., insbes. die Fälle, die auf den S. 302–304 erörtert werden. 16 Siehe ebd., S. 295–297 und S. 300 f. Ganz ähnlich fällt der Befund aus, wenn man sich das Kapitel ‚A Subculture of Compromise‘ in der Studie von Warren Brown: Unjust Seizure: Conflict, Interest and, Authority in an Early Medieval Society. Ithaca NY 2002, S. 124–139, näher anschaut. Auch hier werden eine Reihe von gütlichen Einigungen zwischen Bischofskirchen oder Abteien auf der einen und Landbesitzern auf der anderen Seite als Kompromisse bezeichnet, obwohl der Besitz in allen Fällen am Ende der Kirche zugeschlagen wurde. Begründet wird der Rekurs auf den Begriff des Kompromisses, weil die Schlichtung ein Ergebnis von Verhandlungen war und die vorherigen Eigentümer im besten Fall durch nicht näher bezifferte Geldzahlungen, eine zeitlich befristete Leihe oder ein Totengedenken partiell entschädigt wurden und sie ihr Gesicht wahren konnten, weil ihre Schenkung als freiwilliger Akt nach außen kommuniziert wurde.
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den Führungsschichten im Reich einen anderen Typus von Konflikten in den Blick nahm. Er sprach kaum von Kompromissen, obschon die Auseinandersetzungen im Reich teils nach ganz ähnlichen Maßgaben wie die Besitzstreitigkeiten in Frankreich beigelegt wurden.¹⁷ Wiewohl Gerd Althoff die gütlichen Einigungen nicht mit Kompromissen gleichsetzte, so wies auch er auf die Bedeutung von Zugeständnissen an die andere Seite im Rahmen der Friedensstiftung hin. Kompromisse oder zumindest Ansätze zu Kompromissen scheinen dem hohen Mittelalter also nicht ganz fremd gewesen zu sein, auch wenn es dies selbst nicht so artikulieren konnte. Insofern mag es durchaus sinnvoll zu sein, sich auf die Spur nach dem Kompromiss im hohen Mittelalter zu begeben und zu fragen, inwieweit man unter den Prinzipien der Friedensstiftung auch Praktiken oder Strategien identifizieren kann, die dem gleichkommen, was man meint, wenn man heute von der Aushandlung eines Kompromisses spricht. Das soll im Folgenden geschehen, und zwar vor allem mit Blick auf das späte Frankenreich und das entstehende römisch-deutsche Reich. Um aber den Stellenwert solcher Praktiken besser einschätzen zu können, sei zunächst einmal ein Blick auf die Prinzipien der Konfliktbeilegung geworfen, die in dem untersuchten Zeitraum dem Abschluss eines Kompromisses entgegenstanden.
I Wiedergutmachung und Vergebung Die Vorstellung vom Frieden war im Mittelalter ganz entscheidend von der Idee geprägt, dass der Unfrieden einen Bruch der Rechtsordnung darstellte.¹⁸ Die Ursache des Konfliktes lag häufig darin, dass einer der Parteien etwas, von dem sie glaubte, dass es ihr zustand, weggenommen worden war. Von daher erblickte man im Friedensbruch immer auch einen Rechtsbruch. Um zum Frieden zu gelangen, musste man folglich das alte Recht wiederherstellen oder für den erlittenen Verlust eine Wiedergutmachung aushandeln, deren Leistung es erlaubte, zum alten Rechtsund Friedenszustand zurückzukehren. Diese Vorstellung bestimmte lange Zeit den
17 Vgl. insbes. Gerd Althoff: Genugtuung (satisfactio). Zur Eigenart gütlicher Konfliktbeilegung im Mittelalter. In: Modernes Mittelalter. Neue Bilder einer populären Epoche. Hrsg. von Joachim Heinzle. Frankfurt a.M./Leipzig 1999 (1994), S. 247–269. Darüber wird auch ein Blick in: Ders.: Spielregeln der Politik im Mittelalter. Darmstadt 22014, samt Nachwort zur zweiten Auflage (S. 361– 404) genügen, um den Verzicht auf den Kompromissbegriff zu belegen. 18 Vgl. hierzu und zum Folgenden Hermann Kamp: Antike und mittelalterliche Grundlagen frühneuzeitlicher Friedensvorstellungen. In: Handbuch Frieden im Europa der Frühen Neuzeit / Handbook of Peace in Early Modern Europe. Hrsg. von Irene Dingel [u. a.]. Berlin/München/Boston 2020, S. 3–21.
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gerichtlichen Austrag von Konflikten ebenso wie die Suche nach gütlichen Einigungen.¹⁹ Denn auch vor Gericht ging es in den meisten Fällen um nichts anderes als um den sogenannten Unrechtsausgleich.²⁰ Diese Vorstellungen besaßen umso mehr Kraft, als sie in der kirchlichen Sündenlehre ihre Entsprechung fanden. Sünden stellten einen Verstoß gegen die gottgegebene Ordnung dar, der nur durch die Leistung einer Buße wiedergutgemacht werden konnte.²¹ Vor diesem Hintergrund erstaunt es nicht mehr, dass das Ringen um Genugtuung, Wiedergutmachung und Buße die Suche nach Frieden im frühen und hohen Mittelalter bestimmte. Wo Frieden gestiftet werden sollte, musste man sich mit der Forderung nach Genugtuung auseinandersetzen.²² Eines von vielen möglichen Beispielen liefert der westfränkische Geschichtsschreiber Flodoard von Reims mit seinem Bericht zu den Auseinandersetzungen um den Reimser Bischofsstuhl 948.²³ Damals ging der westfränkische Karolingerkönig gemeinsam mit dem Herzog von Lothringen gegen die Anhänger des Erzbischofs Hugo von Reims vor, der wiederum von einem anderen Hugo, nämlich dem Herzog von Franzien, einem Kapetinger, unterstützt wurde. In Laon hielt der König mit den loyalen Bischöfen eine Versammlung ab. Und von dort forderten die Teilnehmer Hugo von Franzien in einem Brief auf, „die Übeltaten wieder gut zu machen, die er gegen den König und die Bischöfe begangen hatte.“²⁴ Zur gleichen Zeit trat der Bischof Wido von Soissons auf die Seite des Karolingers über und versöhnte sich mit dem karolingerfreundlichen Erzbischof, „indem er eine Genugtuung dafür gab, dass er den anderen Erzbischof zum Bischof geweiht hatte“.²⁵ Offenkundig wird hier die Bedeutung der Genugtuung, während deren Form oder Art, wie so häufig, im Dunkeln bleibt.
19 Vgl. ebd., S. 13. 20 Vgl. Karl Siegfried Bader: Zum Unrechtsausgleich und zur Strafe im Frühmittelalter. In: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung 112 (1995), S. 1–63. 21 Vgl. Arnold Angenendt: Das Frühmittelalter. Die abendländische Christenheit von 400–900. Stuttgart/Berlin/Köln 1990, S. 92 f. und S. 334–336, S. 371. 22 Vgl. die vielen Beispiele bei Althoff: Genugtuung (Anm. 17), S. 247–269. 23 Zu Flodard von Reims vgl. zuletzt Edward Roberts: Flodoard of Rheims and the Writing of History in the Tenth Century. Cambridge [u. a.] 2019. 24 Et in aecclesia Sancti Vincentii congregati episcopi, praedictum Tetbaldum excommunicant, Hugonem vero principem vocant litteris ex parte Marini legati apostolicae sedis et sua venire ad emendationem pro malis quae contra regem et episcopos egerat (Flodoard von Reims: Annalen. Hrsg. von Günter Eichler, Thomas Wozniak. Darmstadt 1952 [FSGA 52], ad 948, S. 168). Übersetzung ebd., S. 169. 25 Wido denique, Suessonicae urbis episcopus, ad regem Ludowicum veniens, eidem sese committit, pacaturque cum Artoldo archiepiscopo, satisfaciens illi pro ordinatione Hugonis (Flodoard, Annalen [Anm. 24], ad 948, S. 168). Übersetzung nach ebd., S. 169.
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Die einfachste Form der Genugtuung bestand in der Zahlung von Bußen. Auch dafür kann man auf Flodoard verweisen, der zum Oktober 924 auf die Beilegung des Konfliktes zwischen dem Grafen Isaak von Cambrai und dem Bischof desselben Ortes hinweist. Der Graf habe, so heißt es, Wiedergutmachung geleistet für das, was er der Kirche von Cambrai angetan hatte, indem er 100 Pfund Silber – das entsprach dem Wert von fast 100 Pferden – an den Bischof zahlte und sich so mit ihm versöhnte.²⁶ Wiedergutgemacht hatte er seinen Angriff auf eine Burg des Bischofs, die er in Brand gesetzt hatte.²⁷ Ähnliches berichtet Thietmar von Merseburg vom Markgrafen Bernhard, der seinen Konflikt mit dem Erzbischof von Magdeburg durch eine Zahlung von 500 Pfund Silber beendete, mit der er einen Angriff auf Magdeburg sühnte, bei dem Vasallen des Erzbischofs getötet worden waren.²⁸ Nicht anders ließ sich Lothar III. 1131 eine hohe Summe Silber vom damaligen dänischen Königssohn Magnus zusagen, der damit den Mord an Lothars Vasallen Knud Laward entgelten sollte.²⁹ Man könnte noch andere Fälle anführen, aber es dürfte auch so klar geworden sein, dass der Gedanke, nur durch Wiedergutmachung Konflikte beilegen zu können, für sich genommen einem Kompromissdenken nicht förderlich war. Zwar erscheint auf den ersten Blick die Wiedergutmachung selbst wie ein Kompromiss auszusehen, weil mit ihrer Annahme die geschädigte Partei auf gewalttätige Racheakte oder gar die Führung einer Fehde verzichtete und man letztlich auf dem Verhandlungsweg zu einer gütlichen Einigung kam. Aber es ist doch offenkundig, dass hier primär eine Partei Verzicht leistete, um den status quo ante wiederherzustellen und das Vergehen zu sühnen, ganz abgesehen davon, dass
26 Der Wert eines Pferdes variierte gemäß seiner Güte, so dass man meistens für ein Pfund Silber eher Durchschnittspferde erhielt. Siehe Pierre Richet: Die Welt der Karolinger. Stuttgart 1981, S. 142. Die Höhe der Wiedergutmachung entsprach dem, was man auch andernorts für solche Vergehen zahlte. So wurde dem Grafen Eberhard ebenfalls für die Einäscherung einer Burg als Wiedergutmachung auferlegt, Pferde im Wert von 100 Pfund Silber abzutreten. Siehe dazu Matthias Becher: Otto der Große. Kaiser und Reich. Eine Biographie. München 2012, S. 123 f. 27 Synodus episcoporum Remensis dioceseos apud Trosleium Octobri mense habita, … in qua Isaac comes ad emendationem et satisfactionem venit, pro his quae prave adversus aecclesiam Camaracensem perpetraverat, et vadatus argenti libris centum, pacatur cum Stephano praefatae urbis episcopo, praesente Heriberto et pluribus Franciae comitibus (Flodoard: Annalen [Anm. 24], ad 924, S. 82). Zustande gekommen war der Frieden wohl durch die Vermittlung des Grafen Heribert und weiterer Großer, deren Anwesenheit eigens festgehalten wird. Zum Konfliktgrund siehe ebd., S. 80. 28 Vgl. Thietmar von Merseburg: Die Chronik. Hrsg. von Robert Holtzmann (MGH SSrG, N.S. 9). Berlin 1935, VII,50, S. 458 und S. 460. Dazu siehe Kamp: Friedensstifter (Anm. 7), S. 137 f. 29 Vgl. Regesta Imperii, RI IV,1,1 n. 286. In: Regesta Imperii Online, http://www.regesta-imperii.de/id/ 1131-08-00_1_0_4_1_1_286_286 [Zugriff: 05.09. 2022]. Dazu Oliver Auge: Lothar III., Nordelbingen und das dä nische Kö nigtum. In: Deutsches Archiv fü r Erforschung des Mittelalters 74 (2018), S. 89–110, hier S. 101–103.
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die Sühnezahlungen häufig in einem gerichtlichen Verfahren festgestellt wurden.³⁰ Allerdings scheint es angesichts des hohen Niveaus der vorgeschriebenen Bußleistungen Ermessensspielräume bei ihrer Festsetzung gegeben zu haben. Dadurch konnte es dann auch zu Verhandlungen kommen, in deren Verlauf die geschädigte Partei auf einen Teil ihrer Ansprüche verzichtete, um überhaupt entschädigt zu werden.³¹ Wie schwer das indes zu bewerkstelligen war, offenbart das Ende der berühmten Sicharfehde, bei der sich Gregor von Tours als Bischof der gleichnamigen Diözese bereit erklärte, einen Teil der gerichtlich fixierten, für den Täter aber kaum bezahlbaren Buße zu übernehmen, um so eine friedliche Lösung zu ermöglichen.³² Doch insgesamt war der Spielraum für ein solches Vorgehen gering. Denn die Bußen fielen ja gerade so hoch aus, weil man nur auf diese Weise meinte, die Opfer von einer gewalttätigen Vergeltung abbringen zu können.³³ Zwar wurden die Bußen in den Bußgeldkatalogen in Geldbeträgen fixiert, doch leistete man sie zumeist in Naturalien, in Rindern, Pferden oder Schafen oder auch durch Landabtretung.³⁴ Bei den Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Herrschaftsträgern verhielt es sich im frühen und hohen Mittelalter kaum anders. Hier stritt man sich um Land, um Burgen oder um Gefolgsleute. Und so sahen dann auch die Leistungen aus, die zur Wiederherstellung des Friedens notwendig waren. Als es dem westfränkischen König Rudolf 930 gelang, den Grafen Boso mit Heribert von Vermandois und Hugo von Franzien auszusöhnen, gab Heribert Boso eine Befestigung zurück, die er diesem zuvor weggenommen hatte.³⁵ Und ganz ähnlich überließ der schon genannte Hugo, als ein Frieden zwischen ihm und Ludwig IV. von Otto I. arrangiert wurde, einen Turm in der Pfalz Laon, den er zuvor auf Kosten 30 Vgl. zu den Sühnezahlungen im frühen Mittelalter zuletzt die Beiträge in: Wergild, Compensation and Penance. Hrsg. von Lukas Bothe, Stefan Esders, Han Nijdam. Leiden/Boston 2021. Zum Verhältnis zwischen gerichtlichen und gütlichen Vereinbarungen zur Bußzahlung vgl. Kamp: Friedensstifter (Anm. 7), S. 30–34. 31 Vgl. Warren Brown: Wergild in the Carolingian Fomula Collections. In: Wergild, Compensation and Penance (Anm. 30), S. 261–276, S. 269 und S. 271, der den Verhandlungsspielraum bei Bußleistungen grundsätzlich eher gering veranschlagt und vor allem auf Fälle mit politischer Brisanz begrenzen will. Siehe auch für Dänemark im hohen Mittelalter Helle Vogt: The Kin‘ Collective Responsibility for the Payment of Man’s Compensation in Medieval Denmark. In: Wergild, Compensation and Penance (Anm. 30), S. 277–292, S. 287, die letztlich zeitversetzt Verhandlungen vor allem dort nachweisen kann, wo die politische Elite betroffen war. 32 Vgl. Gregor von Tours: Libri Historiarum decem. Hrsg. von Bruno Krusch, Wilhelm Levison (MGH SSRM 1,1), Hannover 21951,VII, 47, S. 366 f. 33 Vgl. Stefan Esders: Wergild and the Monetary: Logic of Early Medieval Conflict Resolution. In: Wergild, Compensation and Penance (Anm. 30), S. 14. 34 Vgl. Karl Kroeschell: Deutsche Rechtsgeschichte. Opladen/Wiesbaden 111999, Bd. 1, S. 40. 35 Vgl. Flodoard: Annalen (Anm. 24), ad 930, S. 98/99. Es handelt sich um Vitry-en-Perthois, das Heribet zuvor eingenommen hatte (ebd., ad 929, S. 96).
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des Königs erobert hatte, als Wiedergutmachung.³⁶ Von einem Kompromiss wird man in solchen Fällen nur schwerlich sprechen können.³⁷ Der eine gab zurück, was er sich nach Meinung der anderen nicht hatte nehmen dürfen und erhielt dafür den Frieden. Der Gegner erhielt sein Recht, aber musste auf nichts verzichten. Während in den genannten Fällen der Schaden oder der Verlust, für den Wiedergutmachung geleistet werden sollte, relativ einfach bestimmt werden konnte, weil Gebäude zerstört, Türme erobert oder einzelne Vasallen getötet worden waren, summierten sich die Schäden bei größeren kriegsähnlichen Konflikten ziemlich schnell, so dass man die geforderten Wiedergutmachungen verrechnen musste. Dies lief zunächst einmal, wie der Vertrag von Meersen von 851 zeigt, auf eine gegenseitige Amnestie hinaus, mit der alle vergangenen Übel und Schädigungen, die gegeneinander verübt worden waren, aus dem Gedächtnis getilgt werden sollten.³⁸ Solche Bestimmungen sollten dann auch ab dem 12. Jahrhundert die meisten schriftlichen Verträge enthalten. Dies geschah allerdings nicht mehr mit den der Antike entlehnten Formeln, die das gemeinsame Vergessen betonten, sondern im Begriff wechselseitiger Sündenvergebung, wobei die Sündenmetapher bereits in der Karolingerzeit neben den antiken Formularteilen benutzt wurde.³⁹ Derartige Bestimmungen gingen häufig mit der Aufforderung einher, den während des Konfliktes konfiszierten Besitz an die andere Seite zurückzugeben.⁴⁰
36 Anno DCCCCL rex Ludowicus ad Ottonem regem proficiscitur trans Mosel- lam, consilium quaerens et auxilium ab eo de pace fienda inter se et Hugonem. […] Itaque rex Ludowicus et Hugo princeps super Maternam fluvium pacem facturi cum suis deveniunt. Et residentes isti ex hac parte fluvii, illi ex altera, legatos invicem sibi mittunt; et mediantibus atque sequestris Chonrado duce, Hugone Nigro, Adalberone quoque ac Fulberto episcopis, Hugo ad regem venit et suus efficitur, pacaturque cum Arnulfo comite et Ragenoldo atque Artoldo archiepiscopo reddens regi turrim Lauduni (Flodoard, Annalen [Anm. 24], ad. 950, S. 178). 37 Allerdings kam es bei den Konflikten im Nordwesten des werdenden Frankreichs vereinzelt dazu, dass ein Kloster für die Anerkennung seiner Besitztitel auf eine Wiedergutmachung für die Gewaltakte verzichtete, wie White: „Pactum“ (Anm. 12), S. 301, für Marmoutier zeigte. 38 Vgl. MGH Capitularia 2. Hrsg. von Alfred Boretius, Victor Krause. Hannover 1897, S. 72, Nr. 205, Art. 1: Ut omnium preteritorum malorum et contrarietatem et supplantationum ac malarum machinationum atque molitionum seu nocumentorum in invicem actorum abolitio ita inter nos et apud nos fiat et a nostris cordibus penitus avellatur cum omni malitia et rancore, ut nec in memoriam, ad retributionem dumtaxat mali vel contrarietatis atque exprobrationis seu improperii, de cetero exinde quiddam veniat. Die Formel wird nochmals in Koblenz beim Vertrag zwischen Ludwig dem Deutschen, Karl dem Kahlen und Lothar II. aufgenommen (ebd., Nr. 242, S. 155). Siehe zum Inhalt Jörg Fisch: Krieg und Frieden im Friedensvertrag. Eine universalgeschichtliche Studie über Grundlagen und Formelemente des Friedensschlusses. Stuttgart 1979, S. 74. 39 Vgl. Fisch: Krieg und Frieden (Anm. 38), S. 78–80. 40 Vgl. ebd., S. 80 f.
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Von solchen wechselseitigen Verzichtsleistungen sind jene Regelungen zu unterscheiden, bei der die eine Seite konkret auf eine Wiedergutmachung für bestimmte Vergehen verzichtet. So hielt Karl der Kahle beim Abschluss des Vertrages von Koblenz eine Ansprache, bei der er allen aus seinem Reich vergab, die ihn verlassen und seinen Bruder eingeladen hatten, sein Reich zu annektieren.⁴¹ Hier taucht explizit jene Vorstellung von Vergebung auf, die bei der Beilegung von Konflikten zwischen den Königen und ihren Amtsträgern, Vasallen und Lehnsträgern seit dem 9. Jahrhundert eine entscheidende Rolle spielen sollte. Am deutlichsten Ausdruck fand dieses Denken samt dem entsprechenden Tun in den sogenannten deditiones, deren Bedeutung und Funktion für die Streiterledigung Gerd Althoff entdeckt und ausführlich beschrieben hat.⁴² Auch diese Unterwerfungen sind in ihrer hochmittelalterlichen Form ein Produkt der späten Karolingerzeit. Sie bestehen im Kern aus zwei Akten. Der erste vollzieht sich in einem öffentlich, vielfach in Bußkleidung vollzogenen Fuß- oder Kniefall, der ein Reuebekenntnis mit der Anerkennung der Stellung des Gegenübers verband, und in der Erniedrigung selbst zumindest einen Teil der zu leistenden Genugtuung für die vorherigen Untaten lieferte. Hinzu kam dann der Akt der Barmherzigkeit, mit dem
41 MGH Capitularia 2 (Anm. 38), Nr. 242: Et domnus Karolus excelsiori voce lingua Romana dixit: Illis hominibus, qui contra me sic fecerunt, sicut scitis, et ad meum fratrem venerunt, propter Deum et propter illius amorem et pro illius gratia totum perdono, quod contra me misfecerunt, et illorum alodes de hereditate et de conquisitu et quod de donatione nostri senioris habuerunt excepto illo, quod de mea donatione venit, illis concedo, si mihi firmitatem fecerint, quod in regno meo pacifici sint et sic ibi vivant, sicut christiani in christiano regno vivere debent, in hoc si frater meus meis fidelibus, qui contra illum nihil misfecerunt et me, quando mihi opus fuit, adiuvaverunt, similiter illorum alodes, quos in regno illius habent, concesserit. Sed et de illis alodibus, quos de mea donatione habuerunt, et etiam de honoribus, sicut cum illo melius considerabo, illis, qui ad me se retornabunt, voluntarie faciam. 42 Vgl. hierzu und zum Folgenden Gerd Althoff: Das Privileg der deditio. Formen gütlicher Konfliktbeendigung in der mittelalterlichen Adelsgesellschaft. In: Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Frieden und Fehde. Darmstadt 1997, S. 99–125, und nochmals ausführlich ders.: Die Macht der Rituale. Symbolik und Herrschaft im Mittelalter. Darmstadt 2007, S. 68–84, S. 145–169 und S. 182–186. Siehe auch Geoffrey Koziol: Begging Pardon and Favor: Ritual and Political Order in Early Medieval France. Ithaca 1992, S. 181–187 und S. 202–213, mit Bezug auf das Westfrankreich und stärker kirchlich geprägten Unterwerfungsgesten. Dass dort erst spät deditiones praktiziert wurden, zeigt auch Ingmar Krause: Konflikt und Ritual im Herrschaftsbereich der frühen Capetinger. Untersuchungen zur Darstellung und Funktion symbolischen Verhaltens. Münster 2006, S. 187–200. Zum hohen und späten Mittelalter Jean-Marie Moeglin: Pénitence publique et amende honorable au Moyen Âge. In: Revue Historique 604 (1997), S. 225–269; Hermann Kamp: Friedensstiftung und Autonomiebestrebungen in den Städten des hohen Mittelalters. Zur Bedeutung ritueller Unterwerfungen vor dem bischöflichen Stadtherrn. In: Annales UMSC Sektion F 72 (2017), S. 31–55; Claudia Garnier: Zeichen und Schrift. Symbolische Handlungen und literale Fixierung am Beispiel von Friedensschlüssen des 13. Jahrhunderts. In: Frühmittelalterliche Studien 32 (1998), S. 263–287.
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der Herrscher dem anderen seine Untaten vergab, wobei er sich bestimmte Sühneleistungen beziehungsweise Strafen vorbehalten konnte. Die Vergebung selbst geschah im Geist der Barmherzigkeit, und diente dem Herrscher zum Nachweis seiner Milde. Derartige Unterwerfungen zielten auf Versöhnung durch Vergebung ab. Sie sind insofern nach Simmel schon etwas ganz anderes als ein Kompromiss.⁴³ Das gilt umso mehr, als sie symbolisch ein absolutes Machtgefälle zwischen den Konfliktparteien sichtbar machten. Wer sich unterwarf, bot dem andern an, mit ihm zu machen, was er wolle.⁴⁴ Zudem kam es zu einer deditio in den meisten Fällen nur, wenn die eine Seite ihre Situation als aussichtslos erkannt hatte. Sie besaß nicht die Möglichkeit, die andere Seite zu einem Verzicht oder gar zu einer Revision ihrer vor dem Ausbruch des gewaltsamen Konfliktes bezogenen Rechtsposition zu bewegen.⁴⁵ Symbolisch brachte die deditio die vollkommene Macht des einen und die Ohnmacht des anderen zum Ausdruck. Allerdings wurden solche Unterwerfungen von Verhandlungen begleitet, die sich nicht nur darauf beschränkten, die eine Seite zur Unterwerfung zu überreden und Ort und Zeit festzulegen. Man konnte eben über Mittelsleute auch erbitten, sein Schuldeingeständnis mit Schuhen und ohne härenes Gewand vortragen zu dürfen oder nach der Unterwerfung sein Amt oder seinen Besitz wieder verliehen zu bekommen.⁴⁶ Aber solche Bitten zielten auf Gnade ab und verlangten von dem, dem man sich unterwarf, keine Verzichtsleistung, während derjenige, der sich unterwarf, seine Ansprüche aufgab.⁴⁷ Die spätere Wiedereinsetzung war ein Gnadenakt, den der Betroffene nicht einfordern konnte.⁴⁸ Dieser konnte auf Vergebung hoffen, was hieß, dass der Herrscher um der göttlichen Liebe willen bereit sein musste, auf
43 Vgl. Simmel: Soziologie (Anm. 6), S. 376 f., der Versöhnung und Verzeihung als subjektive, irrationale Formen der Streitbeilegung, dem objektiven Charakter des Kompromisses als Form der Schlichtung gegenüberstellt. 44 Vgl. Althoff: Das Privileg (Anm. 42), S. 100. 45 Vgl. Kamp: Friedensstifter (Anm. 7), S. 200 f. 46 Vgl. Althoff: Das Privileg (Anm. 42), S. 109–113. 47 Vgl. Kamp: Friedensstifter (Anm. 7), S. 169. 48 Besonders deutlich wird dies im Fall Heinrichs von Schweinfurt, dessen Begnadigung und Freilassung der Bischof von Freising im Rahmen einer Predigt vor dem König erbat: „Lieber Herr, erbarme dich des früheren Markgrafen Heinrich, der jetzt wie ich hoffe, aufrichtig Buße tut; löse seine Bande und gewähre ihm Huld, damit du heute umso leichteren Herzens Gott bitten darfst: ‚Und vergib uns unsere Schuld.‘ Der König ließ sich von dieser unter Tränen vorgetragenen Mahnung gewinnen, gelobte, sie befolgen zu wollen, und bewies später bei der Heimkehr Barmherzigkeit.“ Thietmar von Merseburg: Die Chronik (Anm. 28), VI,13, S. 290–292, in der Übersetzung nach FSGA 9, S. 259.
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weitere Genugtuung für das angetane Unrecht zu verzichten.⁴⁹ Das mochte das Ergebnis eines Verhandlungsprozesses sein, aber ein Kompromiss im heutigen Sinn war das strenggenommen nicht.⁵⁰ Darüber hinaus stellte die Unterwerfung vielfach überhaupt erst die Voraussetzung für die Lösung bestimmter Konflikte dar. Wie bei der Exkommunikation nur die Buße mit Reuebekenntnis den Weg zur Versöhnung öffnete, so tat dies auch die deditio bei einer Rebellion gegen den König.⁵¹ Obschon sowohl die Suche nach Genugtuung als auch die Logik der Versöhnung Kompromissen nicht förderlich waren, stößt man wiederholt auf Fälle, bei denen ein Geben und Nehmen die Lösung des Konfliktes mitbestimmte. Es gab Unterwerfungen, die denjenigen, der sich unterwarf, nicht allein der Willkür des Gegenübers aussetzte, sondern es ihm ermöglichte, eigene Ansprüche durchzusetzen. So verband sich im Falle des nach dem Königtum greifenden bayerischen Herzogs Heinrichs, genannt der Zänker, die Unterwerfung vor Otto III. mit der anschließenden Übertragung des Herzogtum Bayerns, wobei die Unterwerfung ohne Fußfall, wohl aber in Büßergewand und der Bitte um Leben und Gnade durchgeführt wurde.⁵² Hier konnte der Übeltäter also mehr als seine Unterwerfung aushandeln, die nur einen Schritt auf dem Weg zur Anerkennung seines alten Herrschaftstitels
49 So bringt es plakativ ein Vertrag Venedigs von 933 mit dem Grafen Günter von Istrien zum Ausdruck, in dem berichtet wird, wie der Patriarch von Grado als Vermittler zwischen dem Markgrafen von Istrien und dem Dogen von Venedig tätig wird. Dabei gelingt es ihm, einen Vertrag auszuhandeln, in dem der Markgraf und die Istrier alle Rechte der Venezianer anerkennen und der Doge auf jedwede Genugtuung verzichtet, weil er von Barmherzigkeit bewegt aus Liebe Gottes darauf verzichtet, jedwedes Übel, das den Seinigen vom Gegner angetan wurde, nicht weiter verfolgen wird: Unde ipse denique dominus Petrus Dux amonitus divina et apostolica precepta […], per hanc cartam misericordia motus […] omne malum quod contra suos Ystrienses degerunt, pro divino amore reliquit (Urkunden zur älteren Handels- und Staatsgeschichte der Republik Venedig. Hrsg. von Gottlieb Lucas Tafel, Georg Martin Thomas. 3 Bde. Wien 1856/57, Nr. 11, S. 12). Siehe dazu auch Fisch: Krieg und Frieden (Anm. 38), S. 77. 50 Das Zusammenspiel von Schuldeingeständnis und Vergebung war im Übrigen nicht allein auf die deditio beschränkt. So findet sich beispielsweise dieselbe Logik in französischen Friedensverträgen des 13. und 14. Jahrhunderts, die festschreiben, dass die Fürsten den König auf Knien um Verzeihung für ihre Vergehen bitten. Vgl. Fisch: Krieg und Frieden (Anm. 38), S. 82. 51 Zum Verhältnis von Kirchenbuße und ritueller Unterwerfung siehe Althoff: Das Privileg, S. 109– 122; Hermann Kamp: The Submission of Rebellious Cities in the Roman-German Empire. In: Peacemaking and the Restraint of Violence in High Medieval Europe. Hrsg. von Simon Lebouteiller, Louisa Taylor. London/New York 2023, S. 17–35. 52 Vgl. dazu Althoff: Das Privileg (Anm. 42), S. 109–111. Dass es sich trotz des fehlenden Fußfalls um eine Unterwerfung handelt, bestätigt auch der dem Zänker durchaus wohlgesonnene Thietmar von Merseburg: Die Chronik (Anm. 28), IV,8, S. 140, der davon spricht, dass Heinrich regis gratiam in Francanafordi et ducatum dedicius promeruit. Zwar hätte es eigentlich dediticius heißen müssen, aber das ändert nichts daran, dass er eine Übergabe auf Gnade und Ungnade beschreiben wollte.
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darstellte und auch den König dazu brachte, auf jegliche Sühneleistung, die über die reine Unterwerfung hinausging, zu verzichten. Und doch wird man selbst hier nicht von einem Kompromiss reden wollen. Denn der vom Zänker beanspruchte Königstitel blieb ganz und gar in den Händen Ottos III., und der Herzog bekam allein das zurück, was er einst besessen und durch seine Revolte gegen Otto II. verloren hatte. Weniger ein beidseitiger Verzicht führte hier zum Ende des Konfliktes, sondern die durch die Unterwerfung vermittelte Rückkehr zum status quo ante. Oder um es mit Simmel zu sagen: Das umkämpfte Gut blieb in der Hand des einen und wurde auch nicht durch ein Äquivalent ergänzt, mit dem der andere entschädigt wurde. In gewisser Weise erhielt Heinrich der Zänker mit der Übertragung Bayerns allerdings doch eine Kompensation für seinen Verzicht auf die Krone. Doch war es eigentlich nicht der König, der zugunsten des Herzogs auf ein Gut verzichtete, sondern der damalige Inhaber der bayerischen Herzogswürde, den Heinrich der Zänker nach heftigen Kämpfen dazu brachte, ihm Bayern zu überlassen.⁵³ So gesehen hatte sich Heinrich der Zänker die Entschädigung erst zu erkämpfen, was zeigt, wie wenig die Rede von einem Kompromiss hier angemessen wäre. Ähnlich verhält es sich in einem anderen Fall, in dem das Geben und Nehmen noch deutlicher in Erscheinung trat, weil es nicht im Schatten einer Unterwerfung steht. Gemeint ist die Auseinandersetzung zwischen dem 923 gewählten westfränkischen König Rudolf und dem jungen Herzog Wilhelm II. von Aquitanien, der keine Anstalten machte, den neuen König anzuerkennen.⁵⁴ Rudolf bot schließlich ein Heer auf, um den Herzog seiner Herrschaft zu unterwerfen. An der Loire, der nördlichen Grenze Aquitaniens, traf er auf den Herzog, der seine Leute auf der anderen Seite des Flusses um sich geschart hatte. Es kam zu Verhandlungen. Noch am gleichen Abend überquerte der Herzog den Fluss und schritt dem König entgegen, der ihn auf dem Pferd sitzend empfing. Dann küssten sich beide und gingen wieder auseinander. Am nächsten Tag stellte sich der Herzog erneut beim König ein und man vereinbarte einen Waffenstillstand für acht Tage. Und als dieser abgelaufen war, „kommendierte sich“, um Flodoard zu zitieren, „Wilhelm dem König, der ihm den pagus Berry zurückgab, den er [der König] erst kürzlich […] zusammen mit der Stadt Bourges gewaltsam an sich gerissen hatte.“⁵⁵ Anstatt die Waffen sprechen zu lassen, hatte man sich gütlich geeinigt. Für die Anerkennung musste
53 Vgl. Thietmar von Merseburg: Die Chronik (Anm. 28), IV,8, S. 140, und generell dazu Gerd Althoff: Die Ottonen. Königsherrschaft ohne Staat. Stuttgart/Berlin/Köln 2000, S. 158–160. 54 Vgl. hierzu und zum Folgenden Flodoard: Annalen (Anm. 24), ad 924, S. 76–78. 55 In crastino ad regem regreditur Willelmus et, octo dierum acceptis induciis, post finitam ebdomadam sese regi committit, et rex illi Bituricensem pagum restituit quem illi nuper […] vi dempserat cum civitate Biturigis. Ebd., S. 78. Übersetzung ebd., S. 79.
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der König einen Preis zahlen, nämlich dem Herzog den Besitz wieder übertragen, den er ihm, noch nicht König, entrissen hatte. De facto hat man es hier mit einem quid pro quo zu tun. Jedoch leistete der König keinen regelrechten Verzicht, er gab nur etwas, das nicht ihm, sondern eigentlich dem Herzog gehörte, und macht damit den Schaden wieder gut, den er angerichtet hatte. Damit lag auch von Seiten des Herzogs kein Grund mehr vor, ihm die Anerkennung zu versagen.⁵⁶ Insofern erscheint auch hier die Rückkehr zum status quo ante als die leitende Maxime, und zwar umso mehr, als der König seine Anerkennung als Herrscher nach außen hin nicht von Gegenleistungen abhängig machen konnte. Kein Zeitgenosse dürfte deshalb in der Überlassung der einstigen Güter eine Kompensation gesehen haben. Und doch war ein Denken in solchen Kategorien dem Mittelalter gar nicht so fremd. Denn neben oder statt der Wiedergutmachung war die Entschädigung durchaus ein Mittel, das in diesen Zeiten zur Konfliktbeilegung immer wieder genutzt wurde.
II Entschädigung als Ausgleich Am deutlichsten trat das Prinzip der Entschädigung dort hervor, wo es der Forderung nach Wiedergutmachung zur Seite trat. Ein anschauliches Beispiel bietet der Konflikt zwischen dem ostfränkischen König Heinrich I. und dem Grafen Boso von der Provence, der über Besitz in Lothringen verfügte.⁵⁷ Dieser Konflikt markiert gleichsam das Ende der Eroberung Lothringens durch Heinrich I., die in Boso, dem Bruder des westfränkischen Königs Rudolf, einen letzten Gegner fand. Dem Grafen wurde vorgeworfen, sich Kirchengüter in Lothringen widerrechtlich angeeignet zu haben. Heinrich I. lud ihn vor Gericht und griff eine von dessen Burgen an, als dieser nicht erschien.⁵⁸ Von dort schickte er jedoch Boten an den Grafen. Sie sollten
56 Vgl. zu dem Fall auch Krause: Konflikt (Anm. 42), S. 142 f., der mit seiner Interpretation, der Herzog habe mit der Überschreitung des Flusses den höheren Rang des Königs anerkannt, gewiss Recht hat. Das sieht auch Koziol: Begging Pardon (Anm. 42), S. 111, so, der allerdings zugleich meint, der Herzog habe durch sein Kommen verhindern wollen, dass der König Aquitanien betritt, wofür es keine Belege gibt. Zudem schreibt er dem Kuss des Königs eine viel zu nivellierende Bedeutung zu, wenn er meint, mit ihm sei der Herzog nunmehr weniger herrschaftlich als freundschaftlich gebunden. Der Kuss ist hier ein Friedensversprechen, das mit dem befristeten Frieden am nächsten Tag eingelöst wird und das in die Kommendation einmündet, also auf die Herstellung eines herrschaftlichen Verhältnisses zielt. 57 Vgl. dazu Flodoard: Annales (Anm. 24), ad 928, S. 96, und zu den Umständen Wolfgang Giese: Heinrich I. Begründer der ottonischen Herrschaft. Darmstadt 2008, S. 89 f. 58 Vgl. hierzu und zum Folgenden Flodoard: Annales (Anm. 24), ad 928, S. 96: Heinricus, Germaniae princeps, cum multitudine Germanorum, Rhenum transiit et, supra Mosam veniens, obsidet quoddam castrum Bosonis comitis, nomine Durofostum, pro eo quod Boso ad legem venire nolebat, de qui-
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ihm Frieden versprechen, wenn er sich nur zu ihm begäbe. Heinrich stellte sogar Geiseln für dessen Sicherheit, und der aufsässige Magnat kam in der Tat zu ihm und versprach ihm Treue und Frieden. Zudem gab er das umstrittene Land an die Kirchen zurück. Dafür erhielt er von Heinrich I. als Ausgleich anderes Land. Recompensationis gratia heißt es bei Flodoard von Reims.⁵⁹ Und damit ist auch schon gesagt, mit welchen Kategorien die Zeitgenossen solche Geschäfte im Namen des Friedens bezeichneten. Sie kamen einem Kompromiss im heutigen Sinne nahe und unterschieden sich doch. Heinrich verzichtete zwar auf eine Verurteilung Bosos, brachte ihn aber mit sanfter Gewalt dazu, die zu Unrecht erworbenen Güter den Kirchen zurückzugeben, wofür er ihn wiederum entschädigte, so dass Boso letztlich keinen Verlust erlitt, wohl aber der König, der mit dieser Entschädigung den Konflikt löste und so seine Anerkennung in Lothringen sicherte. Die Strategie der Kompensation bestimmte auch das Vorgehen bei einem der bekanntesten Akte königlicher Friedensstiftung im Mittelalter. Gemeint ist die Lösung, mit der Friedrich Barbarossa die Auseinandersetzung zwischen dem Welfen Heinrich dem Löwen und dem Babenberger Heinrich Jasomirgott um das Herzogtum Bayern im Jahre 1156 beilegte. Entstanden war dieser Konflikt durch die Entscheidung König Konrads III., dem Vater Heinrichs des Löwen die Herzogtümer Bayern und Sachsen abzuerkennen. Nach dessen Tod hatte der König dann aber dem Sohn das sächsische Herzogtum wieder verliehen, sofern dieser seinen Anspruch auf Bayern aufgab, was dieser auch tat.⁶⁰ Doch nach einigen Jahren erhob der Löwe dann doch 1147 seinen Anspruch auf das väterliche Erbe in Bayern in aller Öffentlichkeit, das inzwischen der König dem Babenberger Heinrich Jasomirgott übertragen hatte.⁶¹ Doch Konrad III. musste sich nicht mehr lange mit dem Problem auseinandersetzen, da er schon 1151 starb. Der Wille seines Neffen Friedrich, zum König gewählt zu werden, führte diesen dann zu einem engen Schulterschluss mit Heinrich dem Löwen. Dessen Unterstützung gewann Barbarossa höchstwahrscheinlich, indem er ihm die Rückgabe Bayerns versprach.⁶² Heinrich der Löwe war ein Cousin Barbarossas, der Gegenspieler war Heinrich Jasomirgott sein Onkel. Diese verwandtschaftlichen Verhältnisse erklären zu einem Gutteil, warum der
busdam abbatiis et terra episcopatuum, quam potestatis auctoritate ceperat et, pertinaciter Heinrici praecepta spernens, detinebat, mittensque ad Bosonem pacem spondet, si ad se veniat. 59 Qui, acceptis obsidibus pacto securitatis ab Heinrico, venit ad eum eique fidelitatem et pacem regno iuramento promittit, terram quam vi ceperat reddit, data sibi alia recompensationis gratia. Ebd. 60 Vgl. Helmut Hanko: Heinrich Jasomirgott. Pfalzgraf bei Rhein, Herzog von Bayern, Herzog von Österreich. Darmstadt 2012, S. 58. 61 Vgl. Joachim Ehlers: Heinrich der Löwe. Eine Biographie. München 2008, S. 72. 62 Vgl. Knut Görich: Friedrich Barbarossa. Eine Biographie. München 2011, S. 101 f. und S. 127.
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König vier Jahre lang nichts unversucht ließ, um zu einer einvernehmlichen Lösung zu gelangen.⁶³ Betrachtet man den Prozess der Friedensstiftung im Einzelnen, so würde man kaum auf den Gedanken kommen, dabei von der Suche nach einem Kompromiss zu sprechen. Es ging Friedrich Barbarossa nicht darum, beide Seiten zu einem wechselseitigen Verzicht zu bewegen. Er wollte von Anfang an den Babenberger Heinrich Jasomirgott dafür gewinnen, das Herzogtum Bayern und damit das Amt des Herzogs von Bayern aufzugeben. Dies legt das erwähnte Versprechen nahe, das er Heinrich dem Löwen im Vorfeld seiner Wahl gegeben haben dürfte, ebenso nah wie eine Urkunde, in der sich Heinrich der Löwe im Mai 1152 in Anwesenheit Barbarossas Herzog von Bayern und Sachsen nannte.⁶⁴ Es spiegelt sich aber ebenso im Vorgehen des Kaisers und den Reaktionen Heinrichs Jasomirgott wider. Immer wieder lud Barbarossa den Herzog von Bayern zu Hoftagen, um das Problem gemeinsam zu lösen, und ebenso häufig kam der Geladene nicht oder verweigerte die Teilnahme an den Verhandlungen.⁶⁵ Das ist nur verständlich, wenn für ihn die Abtretung des Herzogtums kein Gegenstand von Verhandlungen werden durfte. Was umgekehrt bedeutet, dass es Barbarossa genau darum ging. Für jedermann offenbarte sich das Ansinnen des Staufers, als er 1154 nach Italien zur Kaiserkrönung aufbrechen wollte und im Vorfeld einen Hoftag anberaumte, um den Konflikt endlich beizulegen. Wieder kam der Herzog von Bayern nicht. Daraufhin ließ ihm Barbarossa mit einem Fürstenurteil das Herzogtum Bayern absprechen und übertrug es Heinrich dem Löwen, auf dessen Hilfe er in Italien angewiesen war und der nun offenbar ein deutliches Zeichen erwartet hatte.⁶⁶ Nach seiner Rückkehr aus Italien setzte Barbarossa dann Heinrich den Löwen in seine herzoglichen Rechte in Bayern ein und
63 Vgl. generell zu der Auseinandersetzung und ihrer Beendigung Knut Görich: „… dass die Ehre unseres Onkels nicht gemindert werde…“. Verfahren und Ausgleich im Streit um das Herzogtum Bayern. In: Die Geburt Österreichs. 850 Jahre Privilegium minus. Hrsg. von Peter Schmid, Heinrich Wanderwitz. Regensburg 2007, S. 23–35; Hermann Kamp: Königliche Friedensstiftung und Konsens. Friedrich Barbarossa und Rudolf von Habsburg (1150–1300). In: Frühmittelalterliche Studien (im Druck). 64 Vgl. Görich: „… dass die Ehre“ (Anm. 63), S. 24. 65 Zu den einzelnen Ladungen vgl. Görich: „… dass die Ehre“ (Anm. 63), S. 25–31. 66 Vgl. Otto von Freising: Gesta Frederici. Hrsg. von Franz-Josef Schmale. Darmstadt 1965 (FSGA 17), II,12, S. 300–302: Itaque Fridericus, dum iam fere per biennium ad decidendam litem duorum principum, sibi, ut dictum est, ex propinquitate sanguinis tam affinium, laborasset, tandem alterius instantia, qui in paternam hereditatem, a qua diu propulsus fuerat, redire cupiebat, flexus, imminente etiam sibi expeditionis labore, in qua eundem iuvenem militem sociumque viae habere debuit, finem negotio imponere cogebatur. Proinde in oppido Saxoniae Goslaria curiam celebrans utrosque duces datis edictis evocavit. Ubi dum altero veniente alter se absentaret, iudicio principum alteri, id est Heinrico Saxoniae duci, Baioariae ducatus adiudicatur.
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vollzog damit das, was von Anbeginn feststand.⁶⁷ Einseitiger konnte ein Friedensstifter nicht vorgehen. Offenkundig hatte Friedrich Barbarossa den Erbanspruch Heinrichs des Löwen anerkannt, und war deshalb von Anfang an bestrebt, Heinrich Jasomirgott zum Verzicht zu bewegen. Die Übertragung Bayerns an Heinrich den Löwen war für Barbarossa unverhandelbar. Dennoch gab sich der König von Anfang an gesprächsbereit. Gegenstand der Verhandlung konnte dann aber nur die adäquate Entschädigung für Heinrich Jasomirgott sein. Gefunden wurde sie schließlich in der Abtrennung der Markgrafschaft Österreich von Bayern, die durch Fürstenurteil zum Herzogtum erhoben wurde, mit dem dann Barbarossa den Babenberger belehnte.⁶⁸ Ob der Verzicht auf das Herzogtum Bayern oder die Art der Kompensation eine Lösung lange Zeit unmöglich machte, lässt sich nicht sagen. Wichtig aber schien Heinrich Jasomirgott vor allem eins: die Beibehaltung seines Herzogtitels. Das wird in der zum Abschluss des Konfliktes ausgestellten Urkunde, mit der ihm die Rechte an dem neuen Herzogtum übertagen wurden, eigens festgehalten. Durch die Erhebung Österreichs solle dafür gesorgt werden, dass durch den Verzicht auf Bayern „Ehre und Ruhm des Heinrichs Jasomirgott keinesfalls gemindert werden“.⁶⁹ Mit der Übertragung Österreichs als Herzogtum erhielt der Babenberger den Besitz und Amtsbezirk seines Vaters, behielt aber zugleich seine Stellung als Herzog, die er mit der Abtretung Bayerns eigentlich verloren hätte. Auch Heinrich der Löwe musste Verzicht leisten, da die bayerische Ostmark nunmehr von Bayern abgetrennt wurde, ein Verzicht, der eher minimal war, da die Markgrafen seit jeher ziemlich autonom handelten und vom König eingesetzt wurden.⁷⁰ An den Herrschaftsrechten des Löwen selbst änderte sich letztlich wenig, allerdings wurde in der Urkunde für den Babenberger festgeschrieben, dass niemand in Österreich Herrschaft ohne die Zustimmung des Herzogs von Österreich ausüben dürfe, womit eventuell möglichen gewohnheitsrechtlichen Eingriffen des bayerischen Herzogs vorgebeugt werden sollte.⁷¹ Im Großen und Ganzen löste Friedrich Barbarossa den Konflikt, indem er die mit dem Verzicht
67 Vgl. Otto von Freising: Gesta Frederici (Anm. 66), II,45, S. 370–372. 68 Vgl. Görich: „… dass die Ehre“ (Anm. 63), S. 24 f. und S. 31–33. 69 Vgl. die Urkunden Friedrichs I. Hrsg. von Heinrich Appelt. 10 Bde. (MGH DD 10), Bd. 1, Nr. 151, S. 255–260, hier S. 259: Ne autem in hoc facto aliquatenus inminui videretur honor et gloria dilectissimi patrui nostri […]. Die Bedeutung des Ehrgedankens bei der Lösung des Konfliktes unterstreicht Görich: „… dass die Ehre“ (Anm. 63), S. 24. 70 Vgl. Hanko: Herzog Heinrich (Anm. 60), S. 34–38. 71 Vgl. die Urkunden Friedrichs I. (Anm. 69), Bd. 1, Nr. 151, S. 259: Statuimus quoque, ut nulla magna vel parva persona in eiusdem ducatus regimine sine ducis consensu vel permissione aliquam iusticiam presumat exercere.
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Heinrichs Jasomirgott auf das Herzogtum Bayern eigentlich verbundene Statusminderung mit der Aufwertung der alten babenbergischen Stellung kompensierte. Indem die Entschädigung des Babenbergers den Weg zum Frieden freimachte, ähnelte die Schlichtung in manchen Aspekten einem Kompromiss aus heutiger Perspektive. Nicht nur stimmten beide Seiten der Lösung zu, auch leisteten beide Konfliktgegner Verzicht, wenngleich zu sehr unterschiedlichen Anteilen. Der beidseitige Verzicht wurde auch bei der öffentlichen Beilegung in Szene gesetzt und in der darüber ausgestellten Urkunde festgehalten. So ließ zunächst Heinrich Jasomirgott seine Rechte über Bayern auf (resignavit), indem er Friedrich Barbarossa sieben Fahnen, die sie symbolisierten, übergab. Der wiederum trat sie Heinrich dem Löwen ab. Daraufhin verzichtete der Löwe auf seine Rechte an der Markgrafschaft Österreich (resignavit) und überreichte zum Zeichen dem Kaiser zwei der sieben Fahnen, der mit diesen dann Heinrich Jasomirgott mit dem Herzogtum Österreich investierte.⁷² Der ungleiche Verzicht blieb so offenkundig, da der Babenberger sieben Fahnen übergab, während Heinrich der Löwe sich nur von zweien trennen musste. Allerdings wurde der neue Herzog von Österreich auch durch Sonderregelungen für seinen ‚größeren‘ Verzicht entschädigt, die in der weiblichen Erbfolge, der auf die Nachbarländer Österreichs begrenzten Verpflichtung zur Heeresfolge und in der auf Bayern beschränkten Pflicht, Hoftage aufzusuchen, bestand.⁷³ Für die Zeitgenossen spielten indes die ausgeklügelten Verzichtleistungen für die Bewertung des Ausgleichs keine Rolle. Für sie war wichtig,
72 Vgl. ebd.: Noverit igitur omnium Christi imperiique nostri fidelium presens etas et successura posteritas, qualiter nos eius cooperante gratia, a quo celitus in terram pax missa est hominibus, in curia generali Ratispone in nativitate sancte Marie celebrata in presentia multorum religiosorum et catholicorum principum litem et controversiam, que inter dilectissimum patruum nostrum Heinricum ducem Austrie et karissimum nepotem nostrum Heinricum ducem Saxonie diu agitata fuit de ducatu Bawarie, hoc modo terminavimus, quod dux Austrie resignavit nobis ducatum Bawarie, quem statim in beneficium concessimus duci Saxonie, dux autem Bawarie resignavit nobis marchiam Austrie cum omni iure suo et cum omnibus beneficiis, que quondam marchio Livpoldus habebat a ducatu Bawarie. […] marchiam Austrie in ducatum commutavimus et eundem ducatum cum omni iure prefato patruo nostro Heinrico et prenobilissime uxori sue Theodore in beneficium concessimus perpetuali lege sanctientes. Die Fahnenübergabe schildert Otto von Freising: Gesta Frederici (Anm. 66), II,57, S. 388–390. Zur Bedeutung der Fahnen vgl. Roman Deutinger: Das privilegium minus. Otto von Freising und der Verfasssungswandel des 12. Jahrhunderts. In: Die Geburt Österreichs. 850 Jahre Privilegium minus. Hrsg. von Peter Schmid, Heinrich Wanderwitz. Regensburg 2007, S. 180. 73 Vgl. die Urkunden Friedrichs I. (Anm. 69), Bd. 1, Nr. 151, S. 259, und dazu Deutinger: Das privilegium minus (Anm. 72), S. 185–188.
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dass Barbarossa den Konflikt zwischen seinen Verwandten im Einvernehmen und ohne Blutvergießen beigelegt hatte.⁷⁴ Betrachtet man den Umgang Barbarossas mit den umstrittenen Gütern, so bestand die wichtigste Maßnahme des Schlichters in der Verdoppelung der Herrschaftstitel. Eine solche Lösung reagierte auf die spezifischen Probleme bei Ämterstreitigkeiten, da Amtstitel gemeinhin nicht aufgeteilt werden konnten. Wie schwierig oder aufwändig das war, belegt dieser Fall selbst, da zur Verleihung des Herzogtitels das Königsgericht tagen und die Fürsten dort ein entsprechendes Urteil fällen mussten.⁷⁵ Insofern versteht man auch, warum das Vorgehen Barbarossas eine Ausnahme blieb. Aber das Prinzip, dem der Staufer folgte, war den Zeitgenossen durchaus geläufig, wie ein etwas kurioser Ausgleich zwischen dem französischen König Philipp August und Richard Löwenherz zeigt, die beim dritten Kreuzzug auf dem Weg nach Palästina in der Nähe von Messina auf Sizilien Aufenthalt genommen hatten.⁷⁶ Die englischen Krieger hatten sich bald bei der einheimischen Bevölkerung unbeliebt gemacht, so dass es zum Aufstand gekommen war, den Richard niederschlug. Und um zu dokumentieren, wer nun Herr im Hause sei, hatte er allenthalben an den wichtigsten Gebäuden der Stadt sein Banner anbringen lassen. Das wiederum ließ sich der französische König, der in der Stadt wohnte, nicht gefallen und protestierte. Nach langen Verhandlungen fand man eine einfache Lösung. Man ließ die Banner beider Könige allenthalben nebeneinander flattern und übertrug die Regierung der Stadt an die Templer und Hospitaliter. Die Lösung funktionierte nur, weil der König von Sizilien in Palermo saß und händeringend die Gunst beider Könige in seinem Kampf gegen Heinrich VI. suchte und nicht eingreifen konnte. Aber der Ausgang zeigt, dass man sich Ende des 12. Jahrhunderts gut vorstellen konnte, einen Konflikt durch die Verdopplung der umstrittenen Güter beizulegen, was einem Kompromiss durchaus gleichkam. Selten blieb es trotzdem. Aber es gab noch ein anderes, verwandtes Prinzip der Konfliktbeilegung, das dafür sorgte, dass es häufiger zu kompromissähnlichen Lösungen in dieser Zeit kam. Man teilte die umstrittenen Güter auf, um einen Konflikt zu schlichten, und bediente sich damit nach Simmel der
74 So stellt es jedenfalls Otto von Freising: Gesta Frederici (Anm. 66), II,58, S. 390, dar: Ita ad civitatem, iuxta quod preoptaverat, inter patruum et avunculi sui filium terminata sine sanguinis effusione controversia, laetus rediit […]. 75 Vgl. die Urkunden Friedrichs I. (Anm. 69), Bd. 1, Nr. 151, S. 259, wo die Beteiligung des Königsgerichts eigens erwähnt wird. 76 Vgl. hierzu und zum Folgenden Itinerarium peregrinorum et gesta regis Ricardi auctore Ricardo, canonico Sanctae Trinitatis Londoniensis. Hrsg. William Stubbs. London [u. a.] 1864, II,17, S. 164 f., und dazu Christoph Reisinger: Tankred von Lecce. Normannischer König von Sizilien 1190–1194. Köln 1992, S. 140 f.
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einfachsten Form des Kompromisses.⁷⁷ Schon Barbarossa hatte dieses Prinzip ja angewandt, als er unter anderem das Herzogtum Bayern gleichsam aufteilte, um den Konflikt zwischen den beiden Heinrichen zu lösen. Zum Tragen kam es allerdings vorwiegend im frühen und hohen Mittelalter, wo nicht um Ämter, sondern um den Besitz von Herrschaftsrechten und Land gestritten wurde.
III Die Aufteilung der Ansprüche Dass die Teilung von Ansprüchen für das frühe Mittelalter nichts Ungewöhnliches war, lässt schon die Praxis der fränkischen Könige, ihr Reich unter ihren Söhnen aufzuteilen, erkennen. Auch wenn sich die Söhne nicht über ihre Anteile einigen konnten und zu den Waffen griffen, beendete eine Aufteilung des Reiches vielfach – zumindest vorübergehend – den Konflikt. Der Vertrag von Verdun, der nach dem langen Bruderkrieg zwischen den Söhnen Ludwigs des Frommen 843 geschlossen wurde, gehört ebenso dazu wie der Vertrag von Meersen, mit dem das Lotharreich 870 zwischen Karl dem Kahlen und Ludwig dem Deutschen aufgeteilt wurde.⁷⁸ Beide Verträge nutzten die Tradition der fränkischen Erbteilungen, die nun für die Herstellung des Friedens nutzbar gemacht wurde. Die Teilung selbst erfolgte nach dem Maßstab der Gleichheit, was dadurch sichergestellt werden sollte, dass von jeder Seite 40 Magnaten ausgewählt wurden, die gemeinsam das Reich zu gleichen Losen aufteilen sollten.⁷⁹ Dabei wurde die Teilung selbst als eigenständiger Vorgang gesehen, auf deren Grundlage dann der Frieden oder, wie es Karl der Kahle später formulierte, das Freundschaftsbündnis geschlossen wurde, in und mit dem sich die karolingischen Könige verpflichteten, die Unversehrtheit der anderen Reichsteile zu wahren und einander zu helfen.⁸⁰
77 Vgl. Simmel: Soziologie (Anm. 6), S. 375. 78 Vgl. zu den Verträgen grundlegend Reinhard Schneider: Brüdergemeine und Schwurfreundschaft. Lübeck/Hamburg 1964 und zu deren Abschluss Ingrid Voss: Herrschertreffen im frü hen und hohen Mittelalter. Untersuchungen zu den Begegnungen der ostfrä nkischen und westfrä nkischen Herrscher im 9. und 10. Jahrhundert sowie der deutschen und franzö sischen Kö nige vom 11.– 13. Jahrhundert. Kö ln/Wien 1987. 79 Vgl. Annales Fuldenses. Hrsg. von Friedrich Kurze (MGH SSrG 7). Hannover 1891, S. 33: Hlutharius vero collecto fido satis exercitu apud Madasconam Galliae urbem consedit; quem consecuti fratres sui, cum iam vidissent proniorem ad faciendam cum eis pacem, foedus inire maluerunt, quam contentionibus diutius deservire; ea tamen conditione, ut e partibus singulorum XL ex primoribus electi in unum convenientes regnum aequaliter describerent, quo facilius postmodum inter eos pari sorte divideretur. 80 Siehe RI I n. 1103a. In: Regesta Imperii Online, http://www.regesta-imperii.de/id/0843-08-00_1_0_1_ 1_0_2444_1103a [Zugriff: 25.09. 2021], und RI I,2,1 n. 373. In: Regesta Imperii Online, http://www.reges
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Grundsätzlich kann man diese Verträge als modellhafte Kompromisse ansehen. Denn jeder der Herrscher musste auf ebenso viel verzichten wie der andere. Allerdings blieb die friedensstiftende Funktion des Vertrags insofern beschränkt, als er keine neuen Bindungen zwischen den Kontrahenten schuf. Daher wich man dann doch im Kleinen freiwillig von dem Prinzip der gleichmäßigen Aufteilung ab. So übertrug Karl der Kahle im Vertrag von Verdun aus Gründen der Menschlichkeit, wie es hieß, seinem älteren Bruder Lothar die Stadt und Umgebung Arras, letztlich um ihn so für sich einzunehmen.⁸¹ Eine ähnliche Klausel, wenn auch mit anderem Sinn, enthält der Vertrag von Meersen, mit dem Karl der Kahle und Ludwig der Deutschen 870 das Lotharreich aufteilten. Vorausgegangen war dieser Teilung der Einfall Karls in das Reich seines verstorbenen Neffen, zu dessen König er sich in der Stadt Metz gekrönt hatte.⁸² Das wollte sein Bruder Ludwig nicht hinnehmen und drohte mit Krieg, worauf Karl ihm vorschlug, das Reich zu teilen, was Ludwig akzeptierte.⁸³ Obwohl es diesmal nicht expressis verbis festgehalten wird, dürfte auch diesmal die Verteilung zu gleichen Anteilen vorgenommen worden sein, da die Verhandlungen im Vorfeld von jeweils vier Bischöfen, zehn Räten und einer Reihe von Ministerialen und Vasallen im Geiste der Gleichberechtigung geführt wurden.⁸⁴ Davon unbenommen schenkte Karl aber die Stadt Metz, die Klöster Stablo und Prüm
ta-imperii.de/id/0843-08-00_4_0_1_2_1_373_373 [Zugriff: 25.09. 2021] mit Hinweis auf Hinkmar: De villa Noviliaco. Hrsg. von Hubert Mordek. In: Ders.: Ein exemplarischer Rechtsstreit: Hinkmar von Reims und das Landgut Neuilly-Saint-Front. In: Zeitschrift für Rechtsgeschichte. Kan. Abt. 83 (1997), S. 86– 112, hier S. 104, wo es heißt: post obitum domni Hludowici imperatoris diviso regno inter fratres et pace facto inter eos. Vom Freundschaftsbündnis spricht Karl in seiner aus dem Jahre stammenden Anklageschrift gegen Wenilo von Sens. Hier ist auch von der gegenseitigen Hilfe die Rede, die sich die Brüder in Verdun geschworen haben sollen. Libellus proclamationis adversus Wenilonem. In: MGH Capitularia 2 (Anm. 38), Nr. 300, S. 450 f., hier S. 451: […] cum firmato inter nos fratresque nostros amicitiae foedere regnum nostrum aequaliter in tres partes divisum, imo distinctum esset, […]. 81 Vgl. Annales Bertiniani. Hrsg. von Félix Grat, Jeanne Viellliard, Suzanne Clemencet. Paris 1964, ad 843, S. 45: Extra hos autem terminos Atrebates tantum Karoli fratris humanitate indeptus est (sci. Lothar I.). 82 Zu den Umständen vgl. Rudolf Schieffer: Die Zeit des karolingischen Großreichs. 714–887. Stuttgart 2005 (Gebhardt, Handbuchder deutschen Geschichte 2), S. 145 f. 83 Vgl. Annales Bertiniani (Anm. 81), ad 870, S. 171: Ludwig und Karl wollen sich in der Mitte zwischen Herstal und Meersen treffen, jeweils in Begleitung von vier Bischöfen, zehn Räten, Ministerialen und Vasallen nicht mehr als 30. Teilung während des Treffens, am nächsten Tag Abschied. Abdruck des Vertragstextes aus den Annalen von St. Bertin in: MGH Capitularia 2 (Anm. 38), Nr. 251, S. 193–195. Annales Fuldenses (Anm. 79), ad 870, S. 71: Tamen simulata sanitate (er war in Falmersheim vom Söller gestürzt) cum Karolo colloquium habuit et diviso inter se Hlotarii regno, Aquisgrani reversus est (sc. Ludwig der Deutsche). 84 Vgl. Annales Bertiniani (Anm. 81), ad 870, S. 171. Die Fuldaer Annalen (Anm. 79), ad 870, S. 71, vermerken nur kurz, dass die Könige das Reich Lothars II. geteilt haben.
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seinem Bruder, um des Friedens willen, wie es hieß.⁸⁵ Diese Regelung scheint eine Art Wiedergutmachung für den Einfall Karls in das Lotharreich gewesen zu sein, die zugleich die Metzer Krönung wirkungslos machte. In diesem Fall war es der Gedanke der Wiedergutmachung, der eine Teilung zu gleichen Anteilen verhinderte. Die Geläufigkeit, mit der das Erbe geteilt werden konnte, ließ die Teilung als Instrument der Friedensstiftung gern bei Erbauseinandersetzung zum Tragen kommen. Das zeigen auch Konflikte, die nicht zwischen Königen ausgetragen wurden. So berichtet Flodard von Reims zum Jahr 946 von einem Streit zwischen den Söhnen des Grafen Heribert, die sich über die Verteilung des Erbes nicht einigen konnten. Durch die Vermittlung ihres Onkels, des Fürsten Hugo, seien sie jedoch versöhnt worden und die Erbschaft angemessen geteilt worden.⁸⁶ Und eine, wenn auch besondere Teilung nahm Friedrich Barbarossa vor, als er den Streit um das Winzenburger und das Plötzkauer Erbe zwischen Heinrich dem Löwen und Albrecht dem Bären löste, indem er dem einen das eine und dem anderen das andere Erbe zuwies.⁸⁷ Um zu einer Lösung zu kommen, mussten die Ansprüche aber nicht immer zu gleichen Anteilen vergeben werden. Dafür steht auch das gütliche Abkommen, mit dem Friedrich Barbarossa den Streit zwischen Bischof Otto von Freising und dem neuen bayerischen Herzog Heinrich dem Löwen um die Zoll- und Münzrechte an der Isar beilegte. Zu diesem Konflikt war es gekommen, weil Heinrich der Löwe
85 Super istam diuisionem propter pacis et caritatis custodiam superaddimus istam adiectionem: civitatem Mettis cum abbatia Sancti Petri et Sancti Martini et comitatu Moslensi, cum omnibus uillis in eo consistentibus, tam dominicatis quam et uassallorum; de Arduenna, sicut flumen Vrta surgit inter Bislanc et Tumbas ac decurrit in Mosam, et sicut recta via pergit in Bedensi, secundum quod communes nostri missi rectius inuenerint, excepto quod de Condrusto est ad partem orientis trans Vrtam, et abbatias Prumiam et Stabolau cum omnibus villis dominicatis et vassallorum. Annales Bertiniani (Anm. 81), ad 870, S. 173. 86 Vgl. Flodoard, Annalen (Anm. 24), ad 946, S. 152: Anno DCCCCXLVI. Quidam motus inter filios Heriberti comitis agitantur pro hereditatum distributione suarum; qui tamen, Hugone principe avunculo ipsorum mediante, pacantur, divisis sibi, prout eis competens visum est, rebus. 87 Siehe die Pöhlder Annalen. Hrsg. von Georg Heinrich Pertz (MGH 16, S. 48–98), Hannover 1859 ad S. 86: Contentio principum Heinrici ducis et Adelberti marchionis propter hereditates comitum Bernardi et Heremanni mutuis depredationibus et incendiis plurimum leserat regionem; at ubi refulsit sol qui tunc erat in nubilo, incliti terre bellorum motus festinato represserunt, atque ut possessio Bernhardi plenarie marchionem adtingeret, duce que Heremanni fuerant obtinente, secundum auctoritatem regis egerunt. Siehe die übrigen Quellen in: RI IV,2,1 n. 135. In: Regesta Imperii Online, http:// www.regesta-imperii.de/id/1152-10-13_1_0_4_2_1_135_135 [Zugriff: 25.09. 2021]. Siehe zu dem Fall zuletzt Florian Hartmann, Adliges Agieren im Kontext: Albrecht der Bär (†1170), Heinrich der Löwe (†1195) und Wichmann von Magdeburg (†1192). In: Albrecht der Bär, Ballenstedt und die Anfänge Anhalts. Hrsg. von Stephan Freund, Gabriele Köster. Regensburg 2020, S. 81–101, der S. 87 und S. 97, den Kompromisscharakter der Lösung unterstreicht.
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wohl 1157 eine Zollbrücke samt Münzstätte, die die Freisinger Bischöfe bei Föhring an der Isar unterhielten, zerstört und etwas weiter südlich beim Ort München eine neue errichtet hatte.⁸⁸ Die von beiden Kontrahenten mitgetragene Lösung machte der Kaiser im Juni 1158 auf einem Hoftag in Augsburg publik, als er Otto von Freising eine Urkunde in dieser Sache ausstellte.⁸⁹ Darin erklärt er den Abriss der alten und die Errichtung der neuen Zollbrücke und Münzstätte in München gleichsam für rechtens,⁹⁰ spricht aber dem Bischof von Freising eine Entschädigung zu, die Heinrich der Löwe zu leisten hat. So muss der Herzog in Zukunft dem Bischof ein Drittel der Zolleinnahmen in Form von Salz oder anderen Waren überlassen.⁹¹ Gemeinsam sollten beide einen Zolleinnehmer einsetzen oder jeder jeweils einen für sich, der dann aber beiden gegenüber verantwortlich sein sollte.⁹² Ein Drittel der Einkünfte aus der Münze musste Heinrich ebenfalls dem Bischof für alle Zukunft überlassen.⁹³ Zudem sollte ein Drittel der Einkünfte aus dessen Münze Heinrich dem Löwen als Lehen zukommen, das er dann wie bisher jedem Beliebigen auf Bitten des Bischofs übertragen konnte.⁹⁴ Warum die umstrittenen Güter in diesem Fall nicht jeweils zur Hälfte geteilt wurden, ist schwer zu sagen, da so gut nichts über die rechtlichen Ansprüche, auf die sich das Vorgehen des Herzogs stützte, bekannt ist.⁹⁵ Immerhin verweist die Bestimmung über den Anteil an Lehnsgut darauf hin, dass der bayerische Herzog wohl bereits ein Drittel der Münzeinnahmen als Lehen des Freisinger Bischofs hielt. Entscheidend für den
88 Vgl. zu den Hintergründen Rudolf Schieffer: Heinrich der Löwe, Otto von Freising und Friedrich Barbarossa am Beginn der Geschichte Münchens. In: Staufer und Welfen. Zwei rivalisierende Dynastien im Hochmittelalter. Hrsg. von Werner Hechberger, Florian Schuller. Regensburg 2009, S. 67– 77; Karl Jordan: Heinrich der Löwe. Eine Biographie. München 1993, S. 153 f. 89 Vgl. die Urkunden Friedrichs I. (Anm. 69), Bd. 1, Nr. 218, S. 363–365. Hier ist auch gleich zu Beginn von dem erzielten Vergleich die Rede, dem beide Seiten zugestimmt haben: Huius autem transactionis utriusque vestrum assensu et voluntate celebratae talem fuisse tenorem presentibus innotescat et futuris: […]. (S. 364). 90 Forum, quod esse solebat apud Verigen, et pons ad theloneum de caetero iam ibidem non erit neque moneta. Ebd. 91 In eius autem rei recompensationem consanguineus noster Henricus dux aecclesie Frisingensi contradidit terciam partem totius utilitatis, quae provenire poterit de theloneo fori sui apud Mvnichen sive in tributo salis sive aliarum rerum magnarum vel minutarum seu venientium seu inde redeuntium […]. Ebd. 92 Thelonearium vero aut suum habebit uterque vestrum pro beneplacito suo aut, si hoc visum fuerit, ambo unum, qui teneatur utrique vestrum ad respondendum. Ebd. 93 De moneta similiter erit, quod terciam partem eius pensionis episcopus accipiat, duae in usus ducis concedant. Ebd. 94 Tertiam tantum suae redditionis partem dux habebit nomine feudi concessurus, sicut et modo concessit, cuilibet hoc ipsum sive multum sive parum ad petitionem episcopi. Ebd. 95 Vgl. Ehlers: Heinrich der Löwe (Anm. 61), S. 163 f.
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Charakter der Abmachung ist aber letztlich etwas Anderes. Barbarossa verließ mit ihr die herkömmlichen Bahnen der Konfliktbeilegung, indem er die gewalttätige Zerstörung der Zollbrücke durch Heinrich den Löwen nicht weiter berücksichtigte und davon absah, diesem eine Wiedergutmachung abzufordern. Dies geriet Heinrich dem Löwen deutlich zum Vorteil, was auch die Ereignisse nach der Absetzung Heinrichs nahelegen, als Friedrich I. dem Freisinger Bischof die Erlaubnis gab, die alte Zollstätte in Föhring wiederzuerrichten.⁹⁶ Die bevorzugte Behandlung des Löwen entsprang offenkundig den aktuellen Machtverhältnissen jener Zeit. Der Ausgleich kam kurz vor dem zweiten Italienzug Barbarossas zustande, bei dem der Kaiser auf die Unterstützung des Herzogs von Sachsen und Bayern angewiesen war.⁹⁷ Dieser scheint den Verzicht auf Wiedergutmachung und die Anerkennung der von ihm geschaffenen Fakten als Vorbedingung für die gütliche Einigung gefordert zu haben. Und für diesen Verlust wurde der Bischof dann mit Anteilen entschädigt, die zumindest so ausfielen, dass er der Vereinbarung zustimmen konnte. Mit dem Wegfall der Genugtuung für den Gewaltakt tritt der kompromisshafte Charakter der abschließenden Lösung deutlicher hervor, auch wenn der Bischof bei der Aufteilung der Einkünfte aus Zoll und Münze nur ein Drittel erhielt und er ein Drittel der Freisinger Münze an Heinrich als Lehen ausgeben musste.⁹⁸ Denn mit der wenn auch ungleichen Aufteilung der Einkünfte verzichteten beide Parteien auf einen Teil der umkämpften Güter. Neben der Halbierung und Drittelung gab es weitere Möglichkeiten, Herrschaftsrechte und Besitz so aufzuteilen, dass die Parteien für ihre Verluste entschädigt wurden. So konnten sich die Kontrahenten auch darauf verständigen, die jeweiligen Ansprüche in ihrem Umfang geographisch unterschiedlich zu verteilen. Ein bekanntes Beispiel bietet das sogenannte Wormser Konkordat, mit dem der Investiturstreit im römisch-deutschen Reich zwischen Kaiser und Papst 1122 beigelegt wurde.⁹⁹ Hier lösten beide Seiten die umstrittene und alles entscheidende
96 Umgesetzt wurde die Anordnung dann aber nicht. Vgl. Rudolf Schieffer: Heinrich der Löwe (Anm. 88), S. 69. Insgesamt sieht Schieffer aufgrund der ungesühnten Zerstörung der Freisinger Brücke durch Heinrich den Löwen den Ausgleich als eine Niederlage Ottos von Freising an (S. 72). So auch Jürgen Dendorfer: Von den Babenbergern zu den Welfen. In: München, Bayern und das Reich im 12. und 13. Jahrhundert. Lokale und überregionale Perspektiven. Hrsg. von Alois Schmid, Hubertus Seibert. München 2008, S. 221–247, hier S. 247. 97 Vgl. Schieffer: Heinrich der Löwe (Anm. 88), S. 76. 98 So Jordan: Heinrich der Löwe (Anm. 88), S. 154, und Schieffer: Heinrich der Löwe (Anm. 88), S. 68, während für Ehlers: Heinrich der Löwe (Anm. 61), S. 164, das zu Lehen vergebene Drittel alle Einnamen umfasste. Jordan und Schieffer beziehen die Worte suae redditionis auf die Münzstätte des Bischofs, von der im vorherigen Satz die Rede ist. Siehe die Zitate in Anm. 93 und 94. 99 Vgl. dazu zulezt Claudia Zey: Der Investitustreit. München 2017, S. 104–108.
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Frage, in welchem Maße der König Einfluss auf die Erhebung der Bischöfe in Zukunft besitzen solle, in der Weise, dass er im römisch-deutschen Reich den Bischöfen die Temporalien vor deren Ordination verleihen durfte und damit einen gewissen Einfluss behielt, während er in den anderen Teilen des Reiches, also in Burgund und Italien, erst nach der Einsegnung die Bischöfe mit den weltlichen Rechten investieren durfte.¹⁰⁰ Auch diese Lösung erinnert an einen Kompromiss nach unserem Verständnis, wurde aber von den Zeitgenossen in erster Linie als ein Friedensschluss und als Versöhnung des Kaisers mit der Kirche wahrgenommen, bei dem Christus der Herrscher in den Gehorsam der Kirche zurückgeführt habe.¹⁰¹ Alles in allem lässt sich also sagen, dass Wiedergutmachung, Versöhnung und Entschädigung die handlungsleitenden Konzepte waren, die vor der Zeit der Schiedsgerichtsbarkeit und des compromissum die mittelalterliche Konfliktbeilegung bestimmten. Die damit verbundene Vorstellung, mit der Rückkehr zum alten Recht, zum status quo ante den Frieden wiederherstellen zu müssen, stand dabei dem Abschluss von Kompromissen im Sinne eines beidseitigen Verzichts entgegen. Zudem war mitunter das Machtgefälle so groß, dass es bei den Verhandlungen vor allem um die Art der Leistung ging, die eine der beiden Parteien zu erbringen hatte, wofür die rituelle Unterwerfung ein besonders anschauliches Beispiel liefert. Auf der anderen Seite wohnte der Aushandlung von Kompensationsleistungen die Möglichkeit inne, zu Lösungen zu gelangen, die an Kompromisse nach heutigen Maßstäben erinnern. Das ist zum einen der Fall, wenn durch ein Äquivalent ein Teil der umstrittenen Güter verdoppelt wurde, das dann als Kompensation für einen Verzicht dienen konnte. Dennoch zeigt der so zustande gekommene Ausgleich 100 Vgl. Constitutiones Heinrici V. In: MGH Constitutiones et acta publica. Von 911 bis 1197. Bd. 1. Hrsg. von Ludwig Weiland. Hannover 1893, S. 161: Ego Calixtus episcopus servus servorum Dei tibi dilecto filio Heinrico Dei gratia Romanorum imperatori augusto concedo, […] Electus autem regalia per sceptrum a te recipiat et quae ex his iure tibi debet faciat. Ex aliis vero partibus imperii consecratus infra sex menses regalia per sceptrum a te recipiat et quae ex his iure tibi debet faciat; exceptis omnibus quae ad Romanam ecclesiam pertinere noscuntur. Siehe auch Jochen Johrendt: Der Investiturstreit. Darmstadt 2018, S. 118–121, der das Abkommen als Kompromiss bezeichnet. 101 Siehe z. B. Ekkehard von Aura: Chronica. Hrsg. von Franz-Josef Schmale, Irene Schmale-Ott. Darmstadt 1975 (FSGA 15), S. 356–358: Facto igitur universali conventu apud urbem Wangionum, quę nunc Wormacia dicitur, sicut longum ita et incredibile memoratu est, quam prudenti, quam instanti quamque per omnia sollicito cunctorum procerum consilio pro pace et concordia per unam vel amplius ebdomadam certatum sit, donec ipse, in cuius manu cor regis est, omnem animositatem augusti sub apostolicę reverentię obędientiam causa matris ęcclesię, etiam ultra spem plurimorum, inflexit. […] Und ebd., S. 360: Huiusmodi scripta atque rescripta propter infinitę multitudinis conventum loco campestri iuxta Rhenum lecta sunt, data et accepta, postque multimodas laudes rerum gubernatori redditas, celebratis a domno Ostiensi divinis sacramentis, inter quę domnum imperatorem cum pacis osculo sanctaque communione plenissime ts reconciliavit, discessum est ab omnibus cum lęticia infinita. Vgl. auch Zey (Anm. 99), S. 109.
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zwischen Heinrich dem Löwen und Heinrich Jasomirgott in seiner Genese, dass hier fast nur eine der beiden Parteien zu einer Verzichtsleistung bewegt wurde und die Verhandlungen sehr einseitig verliefen. Für die positive Bewertung des Ausgleichs durch die Zeitgenossen stellte das kein Hindernis dar, da für sie die Vermeidung eines Blutvergießens im Vordergrund stand und nicht die Art und Weise, wie dieses Ziel erreicht wurde. Häufiger aber wurden die umstrittenen Güter einfach aufgeteilt, halbiert oder auch gedrittelt. Und in solchen Fällen treten dann die kompromisshaften Züge der Konfliktlösung noch deutlicher hervor. Dementsprechend scheinen primär Konflikte um teilbare Güter, sprich um Besitz, am ehesten für derartige Lösungen offen gewesen zu sein. Zugleich weist die Beilegung des Konfliktes um das Herzogtum Bayern auf die Möglichkeit hin, durch die Schaffung von gleichwertigen Äquivalenten kompromissartig auch Entschädigungen zu finden, mit denen die Ehre der Beteiligten gewahrt werden konnte. Allerdings dürfte die Ehre eher ein Hemmschuh für kompromissartige Lösungen gewesen sein, da man auf sie nicht einfach verzichten konnte, was sich ja auch in der lang andauernden Weigerung Heinrichs Jasomirgott widerspiegelt, über einen Verzicht auf die bayerische Herzogswürde zu sprechen. Damit ist zugleich ein Aspekt angesprochen, der weitere Untersuchungen verlangt. Dass Kompromisse nicht bewusst als solche benannt werden konnten, ist für die Bewertung ihres Stellenwerts durchaus von Bedeutung. Denn es gab dementsprechend auch kein spezifisches Verfahren, um zu solchen Lösungen zu gelangen, wie es zuletzt sogar als notwendiges Element eines Kompromisses postuliert wurde.¹⁰² Für einen „Kompromiss qua Kompromiss“, bei dem sich die Parteien ohne äußeren Druck selbstbestimmt zu gegenseitigen Verzichtsleistungen bewegen, war nahezu kein Platz vorhanden.¹⁰³ Vielmehr griffen vielfach Dritte in die Konflikte ein, als Vermittler oder wie im Fall Barbarossas als selbst ernannte Schlichter, und bestimmten den Prozess, der zur gütlichen Einigung führen sollte, weit stärker als die Kontrahenten.¹⁰⁴ Dabei blieb die Spannbreite der Praktiken, mit denen eine Einigung erreicht wurde, groß. Wer die Vorschläge für eine Einigung gemacht hatte, ob die Vermittler oder die Streitenden selbst, weiß man selten. Innerhalb der politischen Elite scheint häufig das Wort des Herrschers elementar für den Ausgang
102 Vgl. Véronique Zanetti: Spielarten des Kompromisses. Berlin 2022, S. 21 und S. 25. 103 So bestimmt Zanetti den idealen Kompromiss. Siehe ebd., S. 34–38. 104 Für Zanetti (Anm. 102), S. 34, stehen Vermittler und Schiedsrichter einem richtigen, durch die Parteien selbst ausgehandelten Konflikt eigentlich schon entgegen, weil sie eine Lösung aufzwingen können. Was den Vermittler anbelangt, so widerspricht diese Vorstellung zwar einer heute viel gebrauchten Definition, verträgt sich aber durchaus mit den im Mittelalter vorzufindenden autoritativen Praktiken der Vermittlung, vor allem, wenn der König beteiligt ist. Vgl. Kamp: Friedensstifter (Anm. 7), S. 130–154.
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gewesen sein, auch wenn er dafür die Zustimmung der Parteien einholte. Er hatte auch mehr Zwangsmittel zur Verfügung als andere Schlichter, konnte wie Friedrich Barbarossa eine der Parteien selbst verklagen, wenn sie sich der Schlichtung widersetzte. Was aber bedeutete es für die Beteiligten, dass sie nicht von Kompromissen reden konnten. Der aus dem Begriff ableitbare normative Anspruch, durch wechselseitigen Verzicht zur Beilegung eines Konfliktes zu gelangen, spielte für die Konfliktbeilegung kaum eine Rolle. Er fand aber durchaus in dem Prinzip, eine Entschädigung für Verzichtsleistungen suchen zu müssen, ein Äquivalent, da ja auch der Kompromiss vielfach davon lebt, Kompensationen für nicht teilbare Güter zu finden. Allerdings scheint die Suche nach Entschädigungen anders als die Suche nach einem Kompromiss stärker für autoritative, von außen herangetragene, zuweilen auch gerichtlich herbeigeführte,Vorgehensweisen offen oder auch anfälliger gewesen zu sein. Schon aufgrund der fehlenden Quellen ist die Frage schwieriger zu beantworten, wie sich die verschiedenen Prinzipien auf das Denken und die Selbstwahrnehmung der Konfliktparteien auswirkten, auf ihre Bereitschaft, die eigene Position aufzugeben oder zu relativieren. Vielleicht können hier die allgemeinen Überlegungen Véronique Zanettis etwas weiterhelfen. Für sie führen Kompromisse nicht zu einer Veränderung der Überzeugungen, wohl aber zu einem Wandel der Haltung, die das Subjekt gegenüber seiner Position einnimmt, einer Haltung, die letztlich darauf hinausläuft, den Rang ihrer Überzeugung zugunsten anderer Werte zu relativieren, also etwa für den Frieden auf deren vollständige Durchsetzung zu verzichten.¹⁰⁵ Diese Annahme passt letztlich auch gut zu dem Verhalten der Konfliktparteien im frühen und hohen Mittelalter, die von ihrer Position nur abließen, weil ihnen nichts anderes übrigblieb oder sie nicht mehr glaubten, sie durchsetzen zu können. In dieser Hinsicht spielte es vielleicht dann doch nicht eine so große Rolle, dass den Betroffenen der Begriff des Kompromisses nicht zur Verfügung stand und sie stattdessen nach Entschädigungen suchten, um zum Frieden zu gelangen. Dass die Abkommen, die unter der Ägide Friedrichs Barbarossa zustande kamen, diesen in einer schiedsrichterartigen Funktion zeigen, ist vielleicht kein Zufall. Denn er selbst lernte dieses neue Verfahren in Italien kennen, an dessen Ende ein Schiedsspruch stand, an den sich die Parteien vorab gebunden hatten.¹⁰⁶ Die Par-
105 Vgl. Zanetti (Anm. 102), S. 24. 106 Vgl. zur Entwicklung der Schiedsgerichtsbarkeit vgl. Kamp: Friedensstifter (Anm. 7), S. 236–245; und zuletzt Hendrik Baumbach, Claudia Garnier: Konzepte und Praktiken der Schiedsgerichtsbarkeit im römisch-deutschen Reich vom 12. bis zum 15. Jahrhundert. Zur Einführung. In: Konzepte und
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allelen zur Einigung, die er zwischen Otto von Freising und Heinrich dem Löwen auf den Weg brachte, sind offenkundig, auch wenn er von den Parteien nicht als Schiedsrichter eingesetzt wurde. Von daher hat möglicherweise die Schiedsgerichtsbarkeit in einem ersten Schritt dazu beigetragen, dass verstärkt kompromissartige Abkommen durch die Herrscher abgeschlossen wurden. Das müsste man im Einzelnen erst einmal klären. Damit aber gewänne man eventuell einen Schlüssel, um jene Entwicklung zu erklären, die von den kompromissartigen Abkommen des frühen und hohen Mittelalters über das formale Compromissum der Schiedsgerichtsbarkeit zu einem davon unabhängigen Kompromiss führt, bei dem beide Parteien durch wechselseitigen Verzicht ihren Konflikt beilegen.
Praktiken der Schiedsgerichtsbarkeit im römisch-deutschen Reich vom 12. bis zum 15. Jahrhundert. Hrsg. von dens. (Blätter für deutsche Landesgeschichte [155] 2019), S. 235–249.
Claudia Garnier
Von Mittlern und Sühneleuten: Konflikt und Kompromiss im spätmittelalterlichen Kurköln Der Bedarf an Kompromissen scheint in unserer Gegenwart in allen Lebensbereichen nahezu grenzenlos. Man verlangt sie von politischen Gegnern, von Kolleginnen und Kollegen im Arbeitsalltag und nicht zuletzt im familiären und privaten Umfeld. Auch in literarischen Essays unserer Zeit hat der Kompromiss längst den ihm gebührenden Platz gefunden. So weist die preisgekrönte Schriftstellerin Eva Menasse in ihren „Gedankenspielen über den Kompromiss“ auf seine Bedeutung für „unser gesellschaftliches Wohlergehen“ hin.¹ Sie betont: Kompromisse werden langsam und unter Schmerzen geboren. Sie erwachsen aus einer Zusammenarbeit, gegen die sich erst einmal alles sträubt. […] Ein wahrer Kompromiss verlangt den Parteien viel ab, nicht nur den Verzicht auf Maximalpositionen. […] Ein guter Kompromiss, so erleichternd er danach sein sollte, schneidet zuerst einmal ins eigene Fleisch. Wie mühsam und schmerzlich das ist!²
Unabhängig davon, ob man dieses Plädoyer für eine beinahe selbstlose Kompromissbereitschaft zu teilen vermag oder nicht, so bringen die Formulierungen doch sehr treffend das gegenwärtige Verständnis zum Ausdruck: Ein Kompromiss schlägt eine Brücke zwischen sich widerstreitenden Ansichten, er hebt Trennendes auf und bringt divergierende Interessen auf einen gemeinsamen Nenner. Er erscheint als Produkt eines mitunter langwierigen oder gar schmerzhaften Aushandlungsprozesses. Aus dieser Perspektive beschreibt der Kompromiss weniger den Weg der Annäherung, sondern „das Ergebnis der Angleichung verschiedener Standpunkte.“³
1 Eva Menasse: Gedankenspiel über den Kompromiss. Graz/Wien 2020, S. 39–45, Zitat S. 39. 2 Ebd., S. 9–11. 3 Klaus-Dieter Osswald: Art. Kompromiß. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. von Joachim Ritter, Karlfried Gründer. Bd. 4. Basel [u. a.] 1976, Sp. 942: „K.[ompromiss] gilt als das Ergebnis der Angleichung verschiedener Standpunkte, als ein Modus zur Lösung von Konflikten, indem alle Parteien darin übereinstimmen, einige ihrer Forderungen zu reduzieren. Das bedeutet die Preisgabe voller Zielverwirklichung durch Teilverzicht aller Parteien zugunsten einer für alle akzeptablen, zur Konfliktlösung führenden Regelung.“ Liegt der Schwerpunkt nicht auf dem Ergebnis, sondern auf dem prozeduralen Aspekt, ist die Rede von der Kompromisssuche oder -findung. Véronique Zanetti: Spielarten des Kompromisses. Berlin 2022 (stw 2374), S. 20–22. https://doi.org/10.1515/9783110792737-009
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I Kompromiss und spätmittelalterliches Schiedswesen Begibt man sich auf begriffsgeschichtliche Spurensuche, stößt die Bestandsaufnahme schnell auf das (mittel)lateinische compromissum. Als sich der deutsche Terminus im Verlauf des 16. Jahrhunderts etablierte, hatte seine mittellateinische Entsprechung bereits eine beachtliche Karriere durchlaufen.⁴ Dem Mittellateinischen Wörterbuch folgend, begegnen das Substantiv bzw. die Verbalform (compromittere) besonders häufig seit dem frühen 13. Jahrhundert, und zwar nahezu ausschließlich im Kontext der Schiedsgerichtsbarkeit und der damit verbundenen Friedensstiftung.⁵ Dieser Befund ist Grund genug, der Bedeutung des Schiedswesens für die Strategien und Narrative spätmittelalterlicher Kompromissfindung nachzugehen. Da der vorliegende Beitrag das Phänomen nicht umfassend, sondern lediglich exemplarisch in den Blick nehmen kann, beschränkt er sich geographisch auf Kurköln. Der Raum empfiehlt sich zum einen aufgrund der außerordentlich guten Quellen- und Überlieferungsdichte und zum anderen durch die Tatsache, dass die dort erhobenen Befunde repräsentativ für die allgemeinen Entwicklungen stehen können. Die Schiedsgerichtbarkeit breitete sich in Kurköln seit dem späten 12. Jahrhundert langsam, in der Folgezeit überaus dynamisch aus. Seit der Mitte des 13. Jahrhunderts stellte sie das wichtigste Instrument der unbewaffneten Streiterledigung dar.⁶ Dieser Prozess korrespondiert mit dem allgemeinen Bedeutungszuwachs des Schiedswesens, der in Italien im 12. Jahrhundert seinen Ausgang nahm und sich im 13. Jahrhundert auch auf den nordalpinen Raum erstreckte. Vor allem im Verlauf des 14. Jahrhunderts stieg die Quantität der Schiedsgänge deutlich an
4 Art. Kompromiß. In: Deutsches Rechtswörterbuch online, https://drw-www.adw.uni-heidelberg.de/ drw-cgi/zeige [Zugriff: 30.03. 2022]. 5 Art. compromitto und compromissum. In: Mittellateinisches Wörterbuch bis zum ausgehenden 13. Jahrhundert. Bd. 2. München 1999, Sp. 1119–1120. 6 Allgemein zu den Modi der Konfliktlösung Hermann Kamp: Art. Konfliktbeilegung. In: 2HRG 3, Sp. 1–3; David von Mayenburg (Hrsg.): Konfliktlösung im Mittelalter. Berlin 2021 (Handbuch zur Geschichte der Konfliktlösung in Europa 2). Zur Schiedsgerichtsbarkeit im Rheinland und Westfalen vgl. Wilhelm Janssen: Bemerkungen zum Aufkommen der Schiedsgerichtsbarkeit am Niederrhein im 13. Jahrhundert. In: Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins 43 (1971), S. 77–100; Claudia Garnier: Amicus amicis – inimicus inimicis. Politische Freundschaft und fürstliche Netzwerke im 13. Jahrhundert. Stuttgart 2000 (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 46), S. 233–294; Christoph Dartmann: Schiedsgerichtsbarkeit und die gütliche Beilegung von Konflikten in Westfalen: das Beispiel der Abtei Liesborn. In: Westfälische Forschungen 53 (2003), S. 241–272, mit ders.: Korrektur zu „Schiedsgerichtsbarkeit und die gütliche Beilegung von Konflikten“. In: Westfälische Forschungen 54 (2004), S. 399.
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und präsentierte sich in Kurköln in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts in „beängstigender Fülle“ – so Wilhelm Janssen.⁷ Modell und Verfahren entstammen dem kanonischen Recht, so dass die Schiedsgerichtsbarkeit in der Frühphase vor allem in Fällen zu rekonstruieren ist, an denen geistliche Akteure beteiligt waren.⁸ Eine Einordnung des Schiedswesens in die Formen und Strukturen mittelalterlicher Kompromissfindung bedarf zunächst einiger grundsätzlicher Bemerkungen, die kultur- und sozialwissenschaftlichen Modellbildungen wertvolle Anregungen verdanken. Dem Kompromiss vorgeschaltet ist ein Konflikt oder doch zumindest ein Dissens in Form kontroverser Standpunkte. Die Notwendigkeit, eine Balance divergierender Interessen und Überzeugungen herzustellen, kann als seine initiale Grundlage gelten – kurzum: ohne Konflikt gibt und gab es keinen Kompromiss. In spätmittelalterlichen Schiedsgängen wurden zumeist Interessen- bzw. Verteilungskonflikte erörtert, die sich im Gegensatz zu Wertekonflikten in besonderer Weise für Kompromisslösungen eignen. Während es bei Wertkonflikten um ethische Fragen oder die Auslegung grundsätzlicher Normen geht, die zwar reflektiert und diskutiert, aber schwieriger im Sinne eines wechselseitigen Entgegenkommens verhandelt werden können,⁹ stehen bei Interessenkonflikten materielle wie immaterielle Güter zu Disposition. Sie können behauptet und verteidigt, beansprucht und erkämpft, aber auch in unterschiedlichem Umfang zugewiesen werden. So kann etwa eine Partei von der Maximalforderung einer Geldsumme abrücken und sich mit einem geringeren Betrag zufriedengeben. Gleiches gilt für Herrschaftsansprüche, bei denen verschiedene Gebiete oder Zuständigkeiten geteilt
7 Janssen (Anm. 6), S. 78. Ein chronologischer und geographischer Überblick über die Entwicklung des Schiedswesens bei Hendrik Baumbach, Claudia Garnier: Konzepte und Praktiken der Schiedsgerichtsbarkeit im römisch-deutschen Reich vom 12. bis zum 15. Jahrhundert. Zur Einführung. In: Konzepte und Praktiken der Schiedsgerichtsbarkeit im römisch-deutschen Reich vom 12. bis zum 15. Jahrhundert. Hrsg. von dens. (Blätter für deutsche Landesgeschichte [155] 2019), S. 235–249; Florian Dirks: Konfliktlösung durch Schiedsgerichte. In: Konfliktlösung im Mittelalter. Hrsg. von David von Mayenburg. Berlin 2021 (Handbuch zur Geschichte der Konfliktlösung in Europa 2), S. 175– 181. 8 Zum Schiedswesen im kanonischen Recht vgl. Wieslaw Litewski: Schiedsgerichtsbarkeit nach den ältesten ordines iudicarii. In: Vom mittelalterlichen Recht zur neuzeitlichen Rechtswissenschaft. Bedingungen, Wege und Probleme der europäischen Rechtsgeschichte. Winfried Trusen zum 70. Geburtstag. Hrsg. von Norbert Brieskorn. Paderborn 1994, S. 193–206; zu dieser Quellengattung Linda Fowler-Magerl: „Ordines iudiciarii“ and „Libelli de ordine iudiciorum“. From the Middle of the Twelfth to the End of the Fifteenth Century. Turnhout 1994 (Typologie des sources du Moyen Âge occidental 63). 9 Hans-Josef Wilting: Der Kompromiss als theologisches und ethisches Problem. Düsseldorf 1975 (Moraltheologische Studien 3).
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und auf diese Weise zum Gegenstand eines Ausgleichs gemacht werden können.¹⁰ Auch wenn diese Unterscheidung idealtypischer Natur ist, da im politischen Alltag Interessen und Werte schwerlich zu trennen sind und waren, so ist doch zu konstatieren, dass die Schiedsgänge selbst in der Regel die Zuweisung strittiger Güter, Rechte und Ansprüche zum Gegenstand hatten und selten die den Überzeugungen zugrunde liegenden Normen und Werte. Der Schiedsgang gilt als Form der sogenannten „triadischen Konfliktlösung“, da im Widerstreit unterschiedlicher Interessen (dyadischer Konflikt) eine dritte Ebene eingeschaltet wird.¹¹ Die Kontroversen werden auf diese Weise nicht zwischen den Gegnern selbst ausgehandelt, sondern durch eine weitere Instanz. Im Falle der Schiedsgerichtsbarkeit „agiert der Dritte als Akteur mit eigenem Recht“ – auf seinen damit verbundenen Handlungsspielraum ist an späterer Stelle ausführlich einzugehen.¹² Diese Kompetenzen unterscheiden den Schiedsmann vom Vermittler, der zwischen den Parteien einen Vergleich auslotete, aber in der Regel keine eigene, fest definierte Entscheidungsbefugnis besaß.¹³ An den Kompromiss als „Zwischenzone“, die ursprüngliche Interessen und Positionen neu definiert, sind auch heute noch verschiedene Erwartungen ge-
10 Martin Greiffenhagen: Kulturen des Kompromisses. Opladen 1999, S. 194. Diese Unterscheidung geht zurück auf Vilhelm Aubert: Interessenkonflikte und Wertekonflikte. Zwei Typen des Konflikts und der Konfliktlösung. In: Konflikt und Konfliktstrategie. Ansätze zu einer soziologischen Konflikttheorie. Hrsg. von Walter L. Bühl. München 21973 (Nymphenburger Texte zur Wissenschaft 1), S. 178–205. 11 Aubert (Anm. 10), S. 192–205. 12 Greiffenhagen (Anm. 10), S. 200–204; Zitat S. 203. Martin P. Golding: The Nature of Compromise: A Preliminary Inquiry. In: Compromise in Ethics, Law, and Politics. Hrsg. von J. Roland Pennock, John W. Chapman. New York 1979, S. 3–25, hier S. 4, spricht dem Schiedswesen hingegen den Charakter des Kompromisses ab, da das Verfahren zu einer für die Parteien bindenden Entscheidung führe. Stylianos-Ioannis G. Koutnatzis: Kompromisshafte Verfassungsform. Grundlagen und Konsequenzen für die Auslegung und Anwendung der Verfassung. Baden-Baden 2010, S. 53, hingegen sieht dies als „unangemessene Verkürzung des Kompromissbegriffs: Nichts spricht dagegen, auch die verbindliche Entscheidung eines unabhängigen Dritten als Kompromiss zu qualifizieren.“ 13 Koutnatzis (Anm. 12), S. 54. Zur Vermittlung im Mittelalter Hermann Kamp: Friedensstifter und Vermittler im Mittelalter. Darmstadt 2001 (Symbolische Kommunikation in der Vormoderne); Gerd Althoff (Hrsg.): Frieden stiften.Vermittlung und Konfliktlösung vom Mittelalter bis heute. Darmstadt 2011, S. 81–97; Heiner Lück: Von Ombudsleuten, Mediatoren, Schlichtern und Sühneverträgen – Institutionen der Konfliktlösung außerhalb des gerichtlichen Streitverfahrens im Mittelalter. In: Schlichtungskulturen in Europa. Hrsg. von Rüdiger Fikentscher, Andrea Kolb. Halle an der Saale 2012, S. 85–101; Abrecht Cordes (Hrsg.): Mit Freundschaft oder mit Recht? Inner- und außergerichtliche Alternativen zur kontroversen Streitentscheidung im 15.–19. Jahrhundert. Köln/Weimar/ Wien 2015 (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 65).
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knüpft.¹⁴ Erstens schafft er zwischen den Beteiligten idealerweise ein reziprokes Verhältnis, das von der beiderseitigen Bereitschaft gekennzeichnet ist, von Ansprüchen abzurücken und sich der Gegenseite zu nähern.¹⁵ So unterscheidet der israelische Philosoph Avishai Margalit treffend zwischen echten und faulen, vollblütigen und blutleeren Kompromissen. Während letztere eine Seite übervorteilen, ihre Akzeptanz erzwingen oder bestenfalls eine „Übereinkunft“ darstellen, „die sich innerhalb eines Verhandlungsspielraums bewegt“, schafft der wirkliche Kompromiss einen echten Ausgleich, indem er das Trennende aufhebt und „eine Aufteilung der Differenz“ schafft.¹⁶ In diesem Sinne des „splitting the difference“ argumentiert auch Martin Benjamin, für den der Kompromiss im engeren Sinne einen wechselseitigen Verzicht voraussetzt.¹⁷ Zweitens setzt die Suche nach einem Kompromiss ein gewisses Vertrauen voraus: in die zugrunde gelegten Verhandlungen, in die beteiligten Akteure, in die Konzessionsbereitschaft des Gegenübers und damit verbunden in die Hoffnung auf die eben skizzierte Reziprozität.¹⁸ Vertrauen ist in diesem Zusammenhang nicht emotional zu verstehen, sondern im Sinne einer „Hypothese künftigen Verhaltens, die sicher genug ist, um praktisches Handeln darauf zu gründen.“¹⁹ Können sich die Beteiligten im Vorfeld auf verlässliche Regeln der Kompromissfindung verständigen, vermag dies das gegenseitige Vertrauen ohne Zweifel zu fördern. Drittens liegt dem Vorhaben ein grundsätzlicher Kommunikations- und Kooperationswillen zugrunde. Wer sich auf die Suche nach einem Ausgleich einlässt, muss miteinander ins Gespräch kommen, sich mündlich oder schriftlich austauschen und daher auf notwendige Grundlagen der Kommunikation
14 Ähnlich kann der Kompromiss auch als Ringen um eine „mittlere Linie“ bezeichnet werden.Vgl. dazu Koutnatzis (Anm. 12), S. 43 f. 15 Greiffenhagen (Anm. 10), S. 91–100, der S. 100 den Begriff „Zwischenzone“ nutzt. 16 Avishai Margalit: Über Kompromisse – und faule Kompromisse. Berlin 2011 [On Compromise and Rotten Compromises. Princeton 2009], S. 51–83: „Nach der blutleeren Bedeutung von ‚Kompromiss‘ ist jede Übereinkunft, die sich innerhalb eines Verhandlungsspielraums bewegt, ein Kompromiss.“ (ebd., S. 51) „Jeder Vollblutkompromiss muß auf wechselseitigen Zugeständnissen, auf einer Aufteilung der Differenz, basieren.“ (ebd., S. 61). Vgl. auch Theodor Wilhelm: Traktat über den Kompromiß. Zur Weiterbildung des politischen Bewußtseins. Stuttgart 1973, S. 19–22; Koutnatzis (Anm. 12), S. 42 f., S. 89–91. 17 Martin Benjamin: Splitting the Difference. Compromise and Integrity in Ethics and Politics. Lawrence/Kansas 1990, S. 7, S. 35. 18 Geiffenhagen (Anm. 10), S. 100–114, S. 122, S. 181. 19 Georg Simmel: Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Frankfurt a. M. 1992, S. 393; vgl. auch Guido Möllering: The Nature of Trust: From Georg Simmel to a Theory of Expectation and Suspension. In: Sociologie 35,2 (2001), S. 403–421. Ein instruktiver Überblick über die semantischen Aspekte bei Dorothea Weltecke: Gab es „Vertrauen“ im Mittelalter? Methodische Überlegungen. In: Vertrauen. Historische Annäherungen. Hrsg. von Ute Frevert. Göttingen 2003, S. 67–89.
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verständigen.²⁰ Ebenso signalisieren die Parteien grundsätzliche Kooperationsbereitschaft: „Wer […] die andere Seite als Verhandlungspartner akzeptiert, […] erkennt an, daß die andere Seite der Kooperation würdig ist.“²¹ In welcher Form das Schiedswesen im spätmittelalterlichen Kurköln Rückschlüsse auf die Strategien der Kompromissfindung zulässt, soll in den folgenden Ausführungen ebenso Gegenstand der Beobachtung sein wie die Frage, welche Gestaltungsmöglichkeiten seine spezifischen Funktionsweisen den politischen Akteuren ermöglichten. Den eben formulierten grundsätzlichen Überlegungen folgend werden zunächst der Verfahrensablauf selbst und die mit ihm verbundenen Maßnahmen in den Blick genommen, die das notwendige Vertrauen herstellen und dem Anspruch der Reziprozität genügen sollten. In einem nächsten Schritt rücken die Entscheidungsmodi und möglichen Ergebnisse der Verhandlungen in den Blick, bevor abschließende Überlegungen die Frage reflektieren, welche allgemeinen Rückschlüsse das spätmittelalterliche Schiedswesen auf die Strategien und Narrative spätmittelalterlicher Kompromissfindungen erlaubt.
II Grundlagen der Kompromissfindung Der Begriff compromissum fand im Schiedswesen keine beliebige Verwendung. Er wurde ausschließlich für die Absprache genutzt, in der die Parteien ihren Streit an Schiedsleute verwiesen und ihnen zumeist ausführliche Vorgaben zum Inhalt und Ablauf der Entscheidungsfindung machten.²² Diese Übereinkunft war zumeist urkundlich fixiert (‚Kompromissurkunde‘) und nur selten ausschließlich mündlich vereinbart.²³ Der zeitgenössischen Quellenterminologie gilt also nicht das Produkt der Verhandlungen als Kompromiss, sondern bereits die Bereitschaft, einen solchen Weg einzuschlagen. Der Begriff com-promissum bringt diese Übereinkunft, die durch das gemeinsame Versprechen (promissio/promittere) ermöglichte wurde,
20 Greiffenhagen (Anm. 10), S. 113. 21 Margalit (Anm. 16), S. 55 f., Zitat S. 55; vgl. auch Zanetti (Anm. 3), S. 31–38. 22 Quellen zur Geschichte der Stadt Köln. Bd. 2. Hrsg. von Leonard Ennen. Köln 1863, Nr. 407, S. 424; Urkundenbuch für die Geschichte des Niederrheins oder des Erzstifts Cöln, der Fürstenthümer Jülich und Berg, Geldern, Meurs, Cleve und Mark, und der Reichsstifte Elten, Essen und Werden. Hrsg. von Theodor Joseph Lacomblet. Bd. 2. Düsseldorf 1846, Nr. 380, S. 203, bzw. compromittere (ebd., Nr. 942, S. 558). In dieser Form findet sich das compromissum bereits antiken römischen Recht. Dazu Karl-Heinz Ziegler: Das private Schiedsgericht im antiken römischen Recht. München 1971, S. 47–77. 23 Entsprechend definiert das Deutsche Rechtswörterbuch den Begriff Kompromiss als „gegenseitiges Versprechen streitender Parteien, sich dem Spruch eines Schiedsrichters zu unterwerfen.“ Art. compromissum. In: Deutsches Rechtswörterbuch online, https://drw-www.adw.uni-heidelberg. de/drw-cgi/zeige [Zugriff: 30.03. 2022].
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semantisch sehr treffend zum Ausdruck. Auf diese Weise wurden Verhandlungen über kontroverse Standpunkte ermöglicht, was in der Regel die Preisgabe der jeweiligen Maximalforderungen voraussetzte. Der erklärte Wille, den Streit auf ein Schiedsgremium zu übertragen, setzte überdies den Verzicht auf offene Gewalt voraus und signalisierte Kooperationsbereitschaft. Es ist daher alles andere als rhetorisches Beiwerk, wenn die Urkunden Frieden und Eintracht (pax et concordia) zum Ziel der Verhandlungen erklärten.²⁴ Die Tatsache, dass das Verfahren von den Streitenden selbst in die Wege geleitet und koordiniert wurde und nicht auf obrigkeitlicher Anordnung oder gar Zwang beruhte, mag eine wichtige Erklärung für die wachsende Attraktivität des Schiedswesens sein. Die Eröffnung eines solchen Verfahrens war nie dekretiert, sondern bedurfte stets der freiwilligen Übereinkunft der Gegner.²⁵ Mit der Einsetzung des Gremiums gaben die Parteien zwar die Entscheidung ihrer Kontroverse aus der Hand. Doch durch die Auswahl der Schlichter konnten sie erheblichen Einfluss wahren, denn zumeist bestimmten sie ihre Gefolgsleute bzw. Mitglieder ihrer entsprechenden geistlichen oder kommunalen Institutionen. Seit dem späten 13. Jahrhundert rekrutierten sich die Schiedsleute der Territorialherren zunehmend aus ihrem Rat.²⁶ Diese Entwicklung korrespondierte mit der Genese
24 Umbe de besten wille ind gemeyne oerber ind vriede des lantz (Urkundenbuch für die Geschichte des Niederrheins oder des Erzstifts Cöln, der Fürstenthümer Jülich und Berg, Geldern, Meurs, Cleve und Mark, und der Reichsstifte Elten, Essen und Werden. Hrsg. von Theodor Joseph Lacomblet. Bd. 3. Düsseldorf 1853, Nr. 136, S. 122) – pro bono pacis (Quellen Köln 2 [Anm. 22], Nr. 413, S. 430; Urkundenbuch Niederrhein 2 [Anm. 22], Nr. 58, S. 32; ebd. Nr. 380, S. 203) – pro bono pacis et concordie (ebd., Nr. 358, S. 189). Siehe zu dieser verbreiteten Formulierung Janssen (Anm. 6), S. 81; Hugo Stehkämper: Pro bono pacis. Albertus Magnus als Friedensmittler und Schiedsrichter. In: Archiv für Diplomatik, Schriftgeschichte, Siegel- und Wappenkunde 23 (1977), S. 297–382; zugl. in: Ders.: Köln – und darüber hinaus. Ausgewählte Abhandlungen. Bd. 2. Köln 2004 (Mitteilungen aus dem Stadtarchiv von Köln 94), S. 1033–1122. Vgl. zur Bedeutung von pax et concordia auch Hermann Kamp: Kompromisse vor dem Kompromiss. Friedensstiftung im hohen Mittelalter, in diesem Band, S. 205–232, bes. S. 206. 25 Marc Bouchat: Procédures Juris Ordine Observato et Juris Ordine Non Observato dans les arbitrages du diocèse de Liège au XIIIe siècle. In: Tijdschrift voor rechtsgeschiedenis 60 (1992), S. 377– 391, hier S. 377, der die Schiedsgerichtsbarkeit als „Vertragsjustiz“ („justice contractuelle“) bezeichnet. Die Freiwilligkeit, sich dem Schiedsurteil bzw. Kompromiss im Allgemeinen zu unterwerfen, betont auch Greiffenhagen (Anm. 10), S. 179 f., S. 203. 26 Alfons Sprinkart: Kanzlei, Rat und Urkundenwesen der Pfalzgrafen bei Rhein und Herzöge von Bayern 1294 bis 1314 (1317). Forschungen zum Regierungssystem Rudolfs I. und Ludwigs IV. Köln/ Wien 1986 (Beihefte zu J. F. Böhmer, Regesta Imperii 4), S. 156 f.; Garnier (Anm. 6), S. 290–294; Nina Gallion: Formen und Akteure der Schiedsgerichtsbarkeit im spätmittelalterlichen Württemberg. In: Konzepte und Praktiken der Schiedsgerichtsbarkeit im römisch-deutschen Reich vom 12. bis zum 15. Jahrhundert. Hrsg. von Hendrik Baumbach, Claudia Garnier (Blätter für deutsche Landesgeschichte [155] 2019), S. 311–329.
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und Etablierung des Rats als wichtigstem politischen und administrativen Gremium am spätmittelalterlichen Fürstenhof. Bisweilen zeichneten sich die Räte ausschließlich durch diese Tätigkeit aus, so dass entsprechende Einsätze zu einem ihrer wichtigsten Distinktionsmerkmale in der Gruppe der landesherrlichen Funktionsträger wurden. Auch beförderte die regelmäßige Rekrutierung der Schlichter aus dem Rat eine gewisse Routine oder gar Expertise in Schiedsangelegenheiten. Für das Schiedspersonal finden sich die unterschiedlichsten Bezeichnungen, von denen die aus dem römisch-kanonischen Recht stammende Formulierung arbiter arbitrator seu amicabilis compositor die geläufigste war.²⁷ Zwar unterschied der gelehrte Diskurs in der Theorie zwischen den unterschiedlichen Begriffen: Wurde der arbiter mit einem Richter gleichgesetzt, erwartete man vom arbitrator im Sinne eines amicabilis compositor, dass er die Kontrahenten befriedete.²⁸ In der Alltagspraxis begegnet die eben angeführte Mehrfachbezeichnung jedoch standardisiert und ohne weitere inhaltliche Differenzierung. Selten findet sich der Begriff mediator für einen Schiedsmann, weil er im Allgemeinen dem Vermittler vorbehalten war.²⁹ In volkssprachlichen Dokumenten begegnen Begriffe wie Mittler oder Sühnemann bzw. ihre entsprechende tautologische Verwendung³⁰ oder auch der Terminus Schiedsmann bzw. -leute.³¹ Ein Vorteil des Schiedsganges bestand in der Tatsache, dass er in sämtlichen Phasen eines Konflikts zum Einsatz kommen konnte: im Verlauf eines Waffengangs, um sein Ende herbeizuführen oder auch prospektiv, um drohende Eskalationen bereits im Vorfeld zu entschärfen. Sogar in Situationen, in denen sich die Gegner bereits zur Schlacht gerüstet gegenüberstanden, konnten Schiedsleute in letzter Minute die militärische Gewalt verhindern. Als etwa im Frühjahr 1338 Bischof Adolf 27 Urkundenbuch Niederrhein 2 (Anm. 22), Nr. 942, S. 558: […] partes […] paci et concordie intendentes […] in nos tamquam in arbitros arbitratores seu amicabiles compositores communiter et concorditer compromiserunt et tenore presentium compromittunt […], se ratum habituras et gratum, quicquid super premissis per viam iuris seu amicabilis compositionis […], communiter ordinandum duceremus […]. Zu dieser Bezeichnung vgl. Karl Siegfried Bader: Arbiter arbitrator seu amicabilis compositor. Zur Verbreitung einer kanonistischen Formel im Gebiet nördlich der Alpen. In: Ders.: Schriften zur Rechtsgeschichte. Hrsg. von Clausdieter Schott. Bd. 1. Sigmaringen 1984, S. 252–289; Karl-Heinz Ziegler: Arbiter arbitrator und amicabilis compositor. In: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Romanistische Abteilung 84 (1967), S. 376–381. 28 Linda Fowler: Forms of arbitration. In: Proceedings of the 4. International Congress of Medieval Canon Law. Hrsg. von Stephan Kuttner. Toronto 21–25 August 1972. Città del Vaticano 1976 (Monumenta Iuris Canonici, Series C, Subsidia 5), S. 133–147; Luciano Martone: Arbiter – Arbitrator. Forme di giustizia privata nell‘età del diritto commune. Neapel 1984. 29 Zur Vermittlung vgl. oben, Anm. 13. 30 Urkundenbuch Niederrhein 3 (Anm. 24), Nr. 180, S. 146: middeleir inde soynman; ebd., Nr. 47, S. 34: sunlůde. 31 Ebd., Nr. 136, S. 122: scheydelude.
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von Lüttich und Herzog Johann III. von Brabant mit ihren jeweiligen Verbündeten aufmarschiert waren, schalteten sich Erzbischof Walram von Köln sowie die Grafen von Hennegau und Jülich ein. Anstelle eines Kampfes verständigte man sich auf deren Schiedsspruch, der wenige Wochen später gefällt wurde.³² Ebenfalls wurden seit der Mitte des 13. Jahrhunderts in Bündnissen regelmäßig Schiedskommissionen eingesetzt, damit der Konsens der Partner nicht an künftigen Auseinandersetzungen zerbrach.³³ Sie sollten zum Einsatz kommen, um – so die pragmatische Begründung eines Bündnisses aus dem Jahr 1322 – „Fehden zu verhindern, und wenn sie ausgebrochen sind, um sie schnell beizulegen.“³⁴ Die rechtshistorische Forschung hat zur Unterscheidung dieser unterschiedlichen Einsatzmöglichkeiten die Termini ‚spezielles‘ oder ‚isoliertes Kompromiss‘ für die ad hoc zusammengerufenen Schlichter und ‚institutionelles Kompromiss‘ für die im Rahmen von Bündnissen und Einungen eingesetzten Schiedsleute etabliert.³⁵ Es handelt sich zwar nicht um zeitgenössische Quellen-, sondern um systematisierende Forschungsbegriffe, die jedoch die strukturellen Unterschiede sehr deutlich fassen.
III Regeln der Kompromissfindung: Kooperation und Vertrauen Die Bedeutung der „Kompromissurkunde“ lag nicht nur in der Tatsache begründet, dass sie einen Schiedsgang initiierte. Zumeist enthielt sie ausführliche Vorgaben zum involvierten Personal, zum Ablauf des Verfahrens, zur Entscheidungsfindung und ihrer Absicherung. Die Ausführlichkeit lässt den Rückschluss zu, dass im Vorfeld alle organisatorischen Fragen erschöpfend geklärt werden sollten, so dass ein möglichst reibungsloser Ablauf garantiert war. In ihrer Summe waren diese Regeln zweifelsohne geeignet, bei allen Beteiligten das Vertrauen in eine gerechte
32 Die Regesten der Erzbischöfe von Köln. Bd. 5. 1332–1349 (Walram von Jülich). Bearb. von Wilhelm Janssen. Bonn 1973 (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde 21), Nr. 551. 33 Garnier (Anm. 6), S. 233–294. 34 Westfälisches Urkundenbuch. Bd 8. Die Urkunden des Bistums Münster von 1301–1325. Hrsg. von Robert Krumholtz. Münster 1913, Nr. 1607, S. 585: Ut autem guerrarum suscitatione caveatur, et, si suscitate fuerint, componantur […]. 35 Karl S. Bader: Das Schiedsverfahren in Schwaben vom 12. bis zum ausgehenden 16. Jahrhundert. In: Ders.: Ausgewählte Schriften zur Rechtsgeschichte. Hrsg. von Clausdieter Schott. Bd. 1. Sigmaringen 1984, S. 157–225, hier S. 188–190; Michael Kobler: Das Schiedsgerichtswesen nach bayerischen Quellen des Mittelalters. München 1967 (Münchener Universitätsschriften. Reihe der Juristischen Fakultät 1), S. 24.
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Entscheidungsfindung zu stärken, die keine Partei übervorteilte und das Reziprozitätsprinzip wahrte. Dies betraf zunächst die Zusammensetzung der Gremien: Jede Streitpartei entsandte die gleiche Anzahl – zumeist ein bis vier Personen, selten mehr –, die einstimmig oder nach dem Mehrheitsprinzip abzustimmen hatten.³⁶ In vielen Fällen wurden sie bereits namentlich genannt. Damit das Verfahren nicht wegen der Verhinderung eines Beauftragten ins Stocken geriet, wurden entweder bereits im Vorfeld Ersatzleute bestimmt oder der abwesende Schlichter hatte selbst für einen Vertreter zu sorgen.³⁷ Auch konnten Fristen fixiert werden, binnen derer ein neuer Schiedsrichter beauftragt wurde und die zwischen zwei Wochen und einem Monat variierten.³⁸ Handelte es sich um Vereinbarungen, die über mehrere Generationen Fortbestand haben sollten, konnten die Parteien keine konkreten Personen als Schiedsleute bestimmen. Doch auch in diesen Fällen existierten Mechanismen, die Kontroversen um die Eignung der Schlichter vorbeugen sollten. Als Erzbischof Heinrich II. von Virneburg und Bischof Ludwig II. von Münster im Jahr 1322 eine sogenannte ‚Erbeinung‘ schlossen – ein Abkommen, das von den jeweiligen Nachfolgern fortgesetzt werden sollte – setzten sie zur Beilegung künftiger Streitigkeiten ein Schiedsgremium ein. Da die Übereinkunft idealerweise mehrere Generationen überdauern sollte, wurden lediglich die Funktionen der Schlichter festgelegt, die ganz offensichtlich den Proporz geistlichen und weltlichen Einflusses wahren und die verschiedenen Interessengruppen abbilden sollten: Jeder bestimmte einen Prälaten oder Kanoniker des jeweiligen Doms, einen Vasallen seiner Kirche und einen Bürger – der Erzbischof aus Soest, der Bischof aus Münster.³⁹ In der Regel hatten die Schiedskommissionen nach dem Mehrheitsprinzip, das dem römisch-kanonischen Recht entlehnt war, zu entscheiden.⁴⁰ Fand das Gremium
36 Bei zumeist zwei Streitparteien ergab dies eine gerade Anzahl an Schiedsleuten: Urkundenbuch Niederrhein 3 (Anm. 24), Nr. 80, S. 60 (von jeder Partei je vier Räte); ebd., Nr. 496, S. 402 (von jeder Partei je vier Räte); ebd., Nr. 187, S. 158 (von jeder Partei je zwei Ritter); ebd., Nr. 236, S. 195 (von jeder Partei je zwei Schiedsleute). Zum Entscheidungsmodus vgl. unten, Anm. 40. 37 Regesten Erzbischöfe von Köln 5 (Anm. 32), Nr. 217; Die Regesten der Erzbischöfe von Köln. Bd. 9. 1381–1390 (Friedrich von Saarwerden). Bearb. von Norbert Andernach. Düsseldorf 1983 (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde 21), Nr. 23. 38 Regesten Erzbischöfe von Köln 5 (Anm. 32), Nr. 217, 1025, 1349 (zwei Wochen); ebd., Nr. 1040 (vier Wochen). 39 Westfälisches Urkundenbuch 8 (Anm. 34), Nr. 1607, cap. 5, S. 585. 40 Urkundenbuch Niederrhein 3 (Anm. 24), Nr. 496, S. 402: eindrechtlichin of mitten meysten parte; ebd., Nr. 657, S. 556: eyndrechtig, of mit dem meisten parte. Werner Maleczek: Abstimmungsarten. Wie kommt man zu einem vernünftigen Wahlergebnis? In: Wahlen und Wähler im Mittelalter. Hrsg. von Reinhard Schneider, Harald Zimmermann. Sigmaringen 1990 (Vorträge und Forschungen
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keine Einigung, wurde ein Obmann hinzugezogen. Neben der häufigsten Bezeichnung als ouerman begegnen auch die Begriffe mediator superior, gemeyner oder in den an den frankophonen Bereich grenzenden Gebieten souverain. ⁴¹ Diese Aufgabe nahmen Personen wahr, die Bindungen an beide Streitparteien besaßen und daher für jede Seite eine gerechte Entscheidung garantierten. Oftmals wurden als Obleute gemeinsame Verwandte oder Bündnispartner bestimmt.⁴² Ansehen und Einfluss, Prestige und Erfahrung begünstigten ebenfalls ihre Auswahl. Besonders eindrucksvoll waren die vielfältigen Einsätze des Albertus Magnus, der an mindestens 19 Schiedsverfahren im kurkölnischen Raum mitwirkte.⁴³ Auch für die Obleute wurde in einigen Fällen bereits im Vorfeld Ersatz bestimmt, sollten sie ihrer Aufgabe nicht nachkommen können. So bestimmten die Amtsbrüder Balduin von Trier und Walram von Köln im Jahr 1334 ein vierköpfiges Schiedsgremium, das aus ihren jeweiligen Räten gebildet wurde. Als Obmann (gemeynen funften man) benannten sie Dietrich von Isenburg, der von Gerhard von Blankenheim ersetzt werden sollte, ob er abe gienge oder man syn nicht haben mochte […].⁴⁴ Explizit wird die Verhinderung des künftigen Obmanns ebenso ins Auge gefasst wie die Tatsache, dass er an der Akzeptanz einer der beteiligten Parteien scheitern könnte. Die Obleute kamen zu ihrem Urteil, indem sie die – manchmal auch schriftlich fixierten – Stellungnahmen der Schiedsleute gegeneinander abwogen, sich einer Meinung anschlossen oder eine neue Lösung fanden.⁴⁵ Dem Problem einer einseitigen Parteinahme durch die Schiedsleute begegnete man durch verschiedene Maßnahmen: Die Gegner konnten das Personal gemeinsam auswählen oder ‚über Kreuz‘ bestimmen, indem eine Partei aus einem durch die andere Seite festgelegten Personenkreis die Beauftragten auswählt. Als sich etwa Graf Engelbert III. von der Mark und der Kölner Metropolit Friedrich von Saarwerden im Jahr 1381 in einem Freundschaftsbund verständigten und ein vierköpfiges Schiedsgremium zur Schlichtung künftiger Streitigkeiten einsetzten, sollte für den Fall, dass keine Einigung erzielt werden konnte, ein Obmann bestimmt werden: Der potentielle Kläger sollte ihn aus dem Rat des Beklagten aus-
37), S. 79–134; Wolfgang Ernst: I. Maior pars. Mehrheitsdenken in der römischen Rechtskultur. In: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Kanonistische Abteilung 132 (2015), S. 1–67. 41 Urkundenbuch Niederrhein 3 (Anm. 24), Nr. 80, S. 60; ebd., Nr. 187, S. 159: ouerman; ebd., Nr. 136, S. 122: oeuermeister; ebd., Nr. 279, S. 231: gemeyner; Westfälisches Urkundenbuch 8 (Anm. 34), Nr. 1607, S. 585: mediator superior; Regesten Erzbischöfe von Köln 5 (Anm. 32), Nr. 246: souverain. 42 Garnier (Anm. 6), S. 247–253. 43 Vgl. Stehkämper (Anm. 24), S. 1033–1122; Manfred Groten: Albertus Magnus und der Große Schied (Köln 1258) – Aristotelische Politik im Praxistest. Münster 2011 (Lectio Albertina 12). 44 Urkundenbuch Niederrhein 3 (Anm. 24), Nr. 279, S. 231. 45 Regesten Erzbischöfe von Köln 9 (Anm. 37), Nr. 23.
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wählen.⁴⁶ Mitunter überließ man die Entscheidung auch dem Zufall, indem ausgelost wurde. Als der Kölner Erzbischof Wilhelm von Gennep, die Herzöge von Brabant sowie die Städte Köln und Aachen im Jahr 1351 einen Landfrieden schlossen, sollte eine Kommission aus zwölf Schlichtern – drei von jeder Partei – mögliche Kontroversen schlichten. Sollten sie weder eine einstimmige noch mehrheitliche Entscheidung finden, mussten sie aus ihrer Mitte einen Obmann wählen oder auslosen.⁴⁷ Die Vorstellung eines unbefangenen und unparteiischen Schlichters entspricht idealtypischen Standards, nicht der Realität der spätmittelalterlichen Konfliktpraxis. Es ging nicht um eine neutrale Behandlung des Streitfalls, die mit Blick auf die Provenienz der Schlichter nicht möglich war, sondern darum, möglichst gleichberechtigte Grundlagen zu schaffen und dem Anspruch der Reziprozität zu genügen. Mitunter wurde den Schiedsleuten in den Kompromissurkunden daher explizit attestiert, dass sie vertrauenswürdig und keiner Seite „verdächtig“ erschienen.⁴⁸ Wie wichtig diese Voraussetzung war, zeigen Verhandlungen, die scheiterten, weil man den Schlichtern Parteinahme unterstellte. So wurde Graf Wilhelm IV. von Hennegau-Holland, der im Sommer 1345 zwischen Erzbischof Walram von Jülich und dem Grafen Adolf II. von der Mark zum Einsatz kam, nach
46 Ebd. 47 Die Regesten der Erzbischöfe von Köln. Bd. 6. 1349–1362 (Wilhelm von Gennep). Bearb. von Wilhelm Janssen. Köln/Bonn 1977 (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde 21), Nr. 166; Urkundenbuch Niederrhein 3 (Anm. 24), Nr. 496, S.403: Ind were dat sache, dat die geswoiren in alsulchin sachin alle niet enmoichten eyndrechtich werden, noch gheyn meyste part under un gewinnen, so suelen sy sonder argelist eynen ouernan zu un kescn, of sy suylen van irme ghetzale, dat is van un allen, eynen afscheyden mitten loss, ind so we dan dat meyste part hait in der sachin, die sal vortganck hain. Eine andere Strategie wählte eine Kommission, die im Landfrieden zwischen Maas und Rhein aus dem Jahr 1384 zum Einsatz kommen sollte. Da die Summe der Schlichter eine gerade war, verfügte man, dass sie aus ihrem Kreis entweder einen Obmann (ouerman) wählen sollten oder per Los ein Schiedsmann ausscheiden sollte, um auf diese Weise in jedem Fall einen Mehrheitsentscheid zu ermöglichen (Urkundenbuch Niederrhein 3 [Anm. 24], Nr. 657, S. 558). Zum Losen als Entscheidungsfindung in der mittelalterlichen Gesellschaft vgl. Wolfgang Eric Wagner: Der ausgeloste Bischof. Zur Situation und Funktion des Losverfahrens bei der Besetzung hoher Kirchenämter im Mittelalter. In: HZ 305 (2017), S. 307–333; ders.: „Ein bisschen Zufall“ – Zum Einsatz von Losverfahren an der mittelalterlichen Universität als Strategie der Risikovermeidung. In: Kulturen des Risikos im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Benjamin Scheller. Berlin 2019 (Schriften des Historischen Kollegs 99), S. 104–124; Andreas Deutsch: Art. Los, losen. In: 2HRG 2 (2014), Sp. 1042–1046. 48 Urkundenbuch Niederrhein 2 (Anm. 22), Nr. 58, S. 32: viri discreti et honesti et partibus non suspecti. Dazu ausführlich Garnier (Amn. 6), S. 278–289.
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mehrfachen Verhandlungsanläufen seines Amtes entbunden, weil der Graf von der Mark ihn für befangen erklärte.⁴⁹ Während des Verfahrens sollten zahlreiche Maßnahmen eine einseitige Intervention vermeiden: Die Schlichter mussten die Argumente der Streitgegner unvoreingenommen anhören, prüfen und sich in ihrem Urteil weder durch Gunst noch durch Hass beeinflussen lassen.⁵⁰ Ähnlichen Zielen entsprachen die Vorgaben, dass Schiedsleute in ihrer Entscheidungsfindung von außen möglichst wenig beeinflusst werden sollten. Im Landfrieden von 1364, der zwischen Maas und Rhein erlassen wurde, verfügten die Vertragspartner, dass jeder einzelne Schiedsmann erst bei den Zusammenkünften seine Ansichten darlegen dürfe, wohl um vorher keiner unzulässigen Einflussnahme ausgesetzt zu sein. Die Gespräche und Beratungen des Gremiums sollten in vertraulichem Rahmen stattfinden. Auch die Bildung von Koalitionen war untersagt.⁵¹ Falsch wäre indes die Vorstellung, die Gremien hätten sich in völliger Abgeschiedenheit getroffen. Denn zur Erläuterung des strittigen Sachverhalts bedurfte es umfassender Informationen, die zunächst im Vorfeld durch mündliche oder schriftliche Ausführungen der Streitgegner gesammelt wurden.⁵² In anderen Fällen reisten die Parteien selbst zum Verhandlungsort, um persönlich ihre Sicht der Dinge zu schildern: Worde ind wederworde beyder partyen sollten sich etwa die Schiedsleute eines Landfriedens aus dem Jahr 1351 zur Entscheidungsfindung anhören.⁵³ Manchmal entstanden während des Verfahrens Rückfragen oder es bedurfte weiterführender Auskünfte der Auftraggeber. Zu diesem Zweck konnten die Verhandlungen kurzzeitig unterbrochen werden, wie es etwa ein Abkommen zwischen dem Kölner Erzbischof Walram von Jülich und seinem Trierer Amtsbruder und Balduin von Luxemburg aus dem Jahr 1334 vorsah: Sollten die Schiedsleute an bestimmten Punkten weiteren Klärungsbedarf sehen, durften sie für zwei Wochen den Verhandlungsort verlassen, um sich die not-
49 Regesten Erzbischöfe von Köln 5 (Anm. 32), Nr. 1216; Levold von Northof: Chronica comitum de Marka. Hrsg. von Fritz Zschaeck. Berlin 1929 (MGH Scriptores rerum Germanicarum NS 6), S. 83: Sed interim inceptum est tractari de pace, in quem tractatum comes Hanonie non in bonum comitis de Marka […] se ingessit. 50 Regesten Erzbischöfe von Köln 5 (Anm. 32), Nr. 551 51 Die Regesten der Erzbischöfe von Köln. Bd. 7. 1362–1370 (Adolf von der Mark, Engelbert von der Mark, Kuno von Falkenstein). Bearb. von Wilhelm Janssen. Düsseldorf 1982 (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde 21), Nr. 317; Urkundenbuch Niederrhein 3 (Anm. 24), Nr. 657, S. 556; Claudia Rotthoff-Kraus: Die politische Rolle der Landfriedenseinungen zwischen Maas und Rhein in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts. Aachen 1990 (Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins. Beiheft 3), S. 113. 52 Regesten Erzbischöfe von Köln 9 (Anm. 37), Nr. 76. 53 Regesten Erzbischöfe von Köln 6 (Anm. 47), Nr. 166; Urkundenbuch Niederrhein 3 (Anm. 24), Nr. 496, S. 403.
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wendigen Informationen zu verschaffen und im Anschluss das Verfahren fortzusetzen.⁵⁴ In besonders schwierigen Fällen holten die Schiedsleute zusätzliche rechtskundige Expertise ein. So verwies etwa das Gremium, das nach rund drei Verhandlungsmonaten den sogenannten „Großen Schied“ zwischen dem Kölner Erzbischof und seiner Stadtgemeinde in die Wege leitete, darauf, dass es wiederholt den Rat rechtskundiger und verständiger Männer eingeholt hatte.⁵⁵ Die Notwendigkeit, sich auf diese Weise unterstützen zu lassen, legt in diesem Fall schon die reine Quantität der Verhandlungsgegenstände nahe – die Schlichter hatten insgesamt 70 einzelne Streitpunkte zu klären. Mit Blick auf den Verhandlungsspielraum begegnet in vielen Fällen der Hinweis, die Schiedsleute hätten per iustitiam vel amorem bzw. „nach Minne und Recht“ entschieden.⁵⁶ Ältere rechtshistorische Studien sehen im Urteil per iustitiam eine Entscheidung auf der Basis des formellen und materiellen Rechts und im Spruch per amorem eine gütliche Entscheidungsfindung, die sowohl durch einen Schiedsgang als auch durch Vermittlung zustande kommen konnte.⁵⁷ Diese vermeintliche Dichotomie stellen jüngere Studien jedoch zunehmend in Frage. Eine solche Unterscheidung suggeriere, so Albrecht Cordes, „die mittelalterlichen Urteiler und Schiedsleute hätten eine Art ungeschriebenes Gesetzbuch vor Augen gehabt, das sie entweder angewandt oder aber im Verfahren ‚nach Minne‘ zur Seite gelegt hätten. Das ist unwahrscheinlich.“⁵⁸ Anna Rad betont in der aktuellsten Arbeit zu „Minne und Recht“, dass die Paarformel „in zahlreichen Fällen gerade nicht zwei verschiedene Verfahren“, sondern vielmehr „das (schieds‐)gerichtliche Verfahren an sich“ bezeichnete.⁵⁹
54 Regesten Erzbischöfe von Köln 5 (Anm. 32), Nr. 217. 55 Quellen zur Geschichte der Stadt Köln. Bd. 2. Hrsg. von Leonard Ennen, Gottfried Eckertz. Köln 1863, Nr. 384, S. 388: consilio iurisperitorum et aliorum proborum virorum. Zum ‚Großen Schied‘ vgl. Manfred Groten: Köln im 13. Jahrhundert. Gesellschaftlicher Wandel und Verfassungsentwicklung. Köln/Weimar/Wien 1995 (Städteforschungen, A, 36), S. 186–193; Dieter Strauch: Der Große Schied von 1258. Erzbischof und Bürger im Kampf um die Kölner Stadtverfassung. Köln/Weimar/Wien 2008 (Rechtsgeschichtliche Schriften 25); Hugo Stehkämper, Carl Dietmar: Köln im Hochmittelalter. 1074/ 75–1288. Köln 2016 (Geschichte der Stadt Köln 3), S. 333–342; sowie die Angaben in Anm. 43. 56 Urkundenbuch Niederrhein 3 (Anm. 24), Nr. 80, S. 60; ebd., Nr. 496, S. 403. 57 Hans Hattenhauer: „Minne und Recht“ als Ordnungsprinzipien des mittelalterlichen Rechts. In: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung 80 (1963), S. 325–344. 58 Albrecht Cordes: „Mit Freundschaft oder mit Recht?“ Quellentermini und wissenschaftliche Ordnungsbegriff. In: Mit Freundschaft oder mit Recht? Inner- und außergerichtliche Alternativen zur kontroversen Streitentscheidung im 15.–19. Jahrhundert. Hrsg. von dems. Köln/Weimar/Wien 2015 (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 65), S. 9–17, hier S. 12. 59 Anna Rad: Minne oder Recht. Konflikt und Konsens zur Zeit Kaiser Karls IV. und König Wenzels Wien/Köln/Weimar 2020 (Forschungen zur deutschen Rechtsgeschichte 33), S. 170.
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Damit ein Schiedsgang nicht an organisatorischen oder logistischen Fragen scheiterte, formulierten die Parteien in der Regel auch genaue Vorgaben zum Ort des Treffens, zur Dauer der Verhandlungen bzw. Frist, innerhalb derer ein Spruch zu fällen war.⁶⁰ Ließen die Schlichter den Stichtag ungenutzt verstreichen, mussten sie sich in der Regel in einem zuvor bestimmten Ort einfinden, den sie erst verlassen durften, wenn sie ein Urteil getroffen hatten. So versprachen Erzbischof Heinrich II. von Virneburg, Herzog Johann II. von Brabant und Graf Reinald I. von Geldern am 19. April 1308, sich als Schiedsleute zwischen den Grafen von Kleve und der Mark engagieren zu wollen. Sofern sie bis Pfingsten keine Entscheidung herbeigeführt haben sollten, versprachen sie, Einlager in Neuss zu halten. Allerdings durften sie die Stadt am Tage verlassen und mussten ausschließlich die Nächte dort verbringen.⁶¹ Dass dieser Aufenthalt in manchen Fällen sogar auf Kosten der Schlichter erfolgen konnte, dürfte eine zügige Entscheidungsfindung befördert haben.⁶² Erwiesen sich die Gegenstände der Verhandlung als besonders komplex, konnten die Fristen durch die Konfliktparteien auch verlängert werden. So verlegte etwa Heinrich II. von Virneburg auf Ersuchen der zuständigen Obmänner (oeuermeystere ind scheydelude) das Stichdatum vom Remigiustag 1317 (1. Oktober) auf Allerheiligen (1. November).⁶³ Am Ende schöpften die Schlichter die Frist nicht vollständig aus und fixierten bereits am 29. Oktober 1317 ihren Spruch, versäumten es jedoch nicht, auf die lange zyt hinzuweisen, die Beratung und Entscheidungsfindung in Anspruch genommen hätten.⁶⁴ Der Wahl der Orte, an denen die Gremien zusammenkamen, lagen verschiedene Kriterien zugrunde. Zunächst mussten sie für alle Beteiligten gut erreichbar und daher verkehrstechnisch günstig gelegen sein, etwa an Handelswegen oder schiffbaren Flussläufen. Ähnlich wie der Kompromiss ein metaphorisches Entgegenkommen im Sinne der Verhandlungsbereitschaft erforderte, lagen auch die Treffpunkte nach Möglichkeit zwischen den Gebieten der Streitparteien.⁶⁵ Als etwa im sogenannten „Schöffenkrieg“ die Unterhändler der Stadt Köln und des zu diesem
60 Regesten Erzbischöfe von Köln 5 (Anm. 32), Nr. 246 (15 Tage); Regesten Erzbischöfe von Köln 6 (Anm. 47), Nr. 166 (zwei Wochen); Regesten Erzbischöfe von Köln 9 (Anm. 37), Nr. 76 (zwei Wochen). 61 Die Regesten der Erzbischöfe von Köln. Bd. 4. 1302–1332. Bearb. von Wilhelm Kisky. Bonn 1915. ND Düsseldorf 1985 (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde 21), Nr. 312; Urkundenbuch Niederrhein 3 (Anm. 24), Nr. 60, S. 44. 62 Die Regesten der Erzbischöfe von Köln. Bd. 3. 1205–1304. Bearb. von Richard Knipping. Bonn 1909–1913. ND Düsseldorf 1964 (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde 21), Nr. 3559; Urkundenbuch Niederrhein 2 (Anm. 22), Nr. 980, S. 578. 63 Regesten Erzbischöfe von Köln 4 (Anm. 61), Nr. 1000. 64 Ebd., Nr. 1004; Urkundenbuch Niederrhein 3 (Anm. 24), Nr. 163, S. 122 f. 65 Margalit (Anm. 16), S. 61: „Ein sprichwörtliches Beispiel für Vollblutkompromisse liegt vor, wenn man sich ‚auf halbem Wege entgegenkommt‘“.
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Zeitpunkt in Bonn residierenden Erzbischofs zusammenkamen, fanden sie sich auf einer zwischen beiden Städten gelegenen Rheininsel bei Hersel ein.⁶⁶ Sie lag wesentlich näher bei Bonn als bei Köln, so dass die Mitglieder des Kölner Rats, die sich ebenfalls dort einfanden, einen weiteren Weg als die Beauftragten des Metropoliten zurücklegen mussten. Möglicherweise korrespondierte die längere Anreise der Kölner mit der Notwendigkeit, dem Kontrahenten in den Verhandlungen möglichst weit entgegenzukommen – stand doch für die Stadt mit der Lösung aus der Reichsacht des Kaisers und der Exkommunikation des Erzbischofs Einiges auf dem Spiel.⁶⁷ Allerdings ist die genannte Rheininsel die einzige nennenswerter Größe zwischen Köln und Bonn, so dass die Wahl möglicherweise allein aus praktischen Gründen in dieser Form getroffen wurde. In jedem Fall präsentiert der Verhandlungsort, dass die inhaltliche Suche nach dem „Dritten“ auch räumlich an einem „dritten Ort“ zum Ausdruck gebracht wurde. Ein Treffen in der metaphorischen wie geographischen Mitte eignete sich jedoch nicht als Symbol der Konzessionsbereitschaft, wenn mehr als zwei Parteien einen Vergleich aushandelten. In diesen Fällen benannte man möglichst gleichberechtigt verschiedene Orte, die auf die Gebiete aller Auftraggeber verteilt waren. Als etwa Erzbischof Wilhelm von Gennep, Herzog Johann III. von Brabant sowie die Städte Köln und Aachen im Jahr 1351 einen Landfrieden schlossen und ein institutionelles Schiedsgericht einsetzten, sollte dies in wechselnder Reihenfolge in Köln, Aachen, Lechenich (Kurköln) und Kerpen (Brabant) zusammenkommen.⁶⁸ Nachdem dem Abkommen 1364/65 Herzog Wilhelm II. von Jülich beigetreten war, bestimmte man zusätzlich Düren, das zwar den Status einer Reichsstadt besaß, jedoch unter Jülicher Pfandherrschaft stand.⁶⁹ Diese Städte zeichneten sich nicht nur durch
66 Cölner Jahrbücher des 14. und 15. Jahrhunderts. Hrsg. von Hermann Cardauns. In: Die Chroniken der niederrheinischen Städte. Bd. 2. Leipzig 1876 (Chroniken der deutschen Städte 13), Rez. B, S. 43 f.: […] alda reden de gode heren bi ein zo Hersel up deim Rine, des buschofs rait ind der rait van Collen bi si, in gelichten sich da alle samen […]. 67 Zum sogenannten ‚Schöffenkrieg‘ vgl. Karlotto Bogumil: Die Stadt Köln, Erzbischof Friedrich von Saarwerden und die päpstliche Kurie während des Schöffenkrieges und des ersten großen Schismas. In: Köln, das Reich und Europa. Abhandlungen über weiträumige Verflechtungen der Stadt Köln in Politik, Recht und Wirtschaft. Köln 1971 (Mitteilungen aus dem Stadtarchiv von Köln 60), S. 279–303; Wolfgang Herborn, Carl Dietmar: Köln im Spätmittelalter. 1288–1512/13. Köln 2019 (Geschichte der Stadt Köln 4), S. 111–120. 68 Urkundenbuch Niederrhein 3 (Anm. 24), Nr. 496, S. 402: […] zesamen comen suelen […] zu eynre zyt in die stat van Coelne, ind zer andere zyt in die stat van Ayghen, ind zer dirder zyt zu Lechnich, ind ze veirder zyt kerpen […]. 69 Urkundenbuch Niederrhein 3 (Anm. 24), Nr. 657, S. 556: […] dat sie allwege […] zesamen comen sulen, ymer van yclicher partyen […] dry, zu Tricht eynen dach, zu Achen eynen dach, ind zu Duren eynen dach […].
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ihre gute Erreichbarkeit nahe des frequentierten Handelsweges von Köln nach Maastricht aus. Auch wurden auf diese Weise die finanziellen Aufwendungen für die Beherbergung und Versorgung ebenso gleichberechtigt verteilt. Die Gewissheit, durch die Wahl des Verhandlungsorts nicht übervorteilt zu werden, sollte offensichtlich bei allen Mitgliedern der Einung gleichermaßen gesichert werden. Um den Proporz zu wahren, mussten sich die Schlichter in einigen Fällen sogar im wöchentlichen Wechsel in Orten auf dem jeweiligen Territorium der Streitparteien treffen. So sollte etwa eine vierköpfige Schiedskommission strittige Fragen zwischen Erzbischof Heinrich II. von Virneburg und dem Grafen Gerhard VII. von Jülich zunächst acht Tage im kurkölnischen Lechenich beraten und anschließend für acht Tage in Zülpich auf Jülicher Gebiet. Sollte keine Einigung zustande kommen, sollte sie bis zur Entscheidungsfindung alle acht Tage zwischen den Orten pendeln.⁷⁰ Die Entfernung, die die Schlichter zwischen beiden Städten zurückzulegen hatten, ist nach heutigen Maßstäben mit rund 17 Kilometern zwar überschaubar, doch dürfte der Ortswechsel sie bei spätmittelalterlichen Straßenverhältnissen mindestens einen halben Tag gekostet haben und daher einer zügigen Entscheidung kaum zuträglich gewesen sein. Daher dokumentiert dieser Fall in besonderer Weise, dass die Wahl der Verhandlungsstätten nicht nur pragmatischen Erwägungen folgte, sondern dass sie das reziproke Verhältnis der Beteiligten ebenfalls zum Ausdruck bringen sollte: Dem erhofften wechselseitigen Entgegenkommen entsprach die räumliche Situierung der gewählten Orte. Niemand durfte auf seinem sachlichen wie geographischen Standpunkt beharren, jeder sollte sich dem oder den anderen annähern – inhaltlich wie räumlich. Leider erlaubt die zumeist urkundliche Überlieferung nur selten Einblicke in Art und Weise, wie sich die Parteien auf diese Rahmenbedingungen einigten. Den Weg zu ihrer Festlegung zu rekonstruieren, ist auf der Basis der zur Verfügung stehenden Überlieferung nur selten möglich. Nur in wenigen Fällen wird deutlich, wie schwierig etwa die Auswahl geeigneter Schieds- und Obleute sein konnte. Von diesen Herausforderungen erfahren wir zumeist dann, wenn Schiedsleute von der Gegenseite nicht akzeptiert wurden, weil sie als befangen galten, so dass entsprechender Ersatz bestimmt werden musste.⁷¹
70 Urkundenbuch Niederrhein 3 (Anm. 24), Nr. 187, 158: […] die viere solen ze Lechenich an dem neisten dage sente Martins […] invaren unde da innen bliven echte dage […]; enkunnen si des rechtes binnen den echte dagen niet eyndrechtich werden, so solen sie […] van Lechenich ze Zulpeke varen unde samen ouch echte dagen bliven; enkunnen si ouch binnen den echte dagen niet eyndrechtich werden, so solen ever wieder ze Lechenich invaren, unde nach echte dagen wieder ze Zulpeke varen, unde wieder unde vort also lange varen unde biluen, bis si eyndrechtich werden […]. 71 Dazu oben Anm. 48 f.
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IV Kompromiss und Entscheidung – Kompromiss ohne Entscheidung Die Beratungen der Schlichter endeten mit einem Schiedsspruch, der als compositio, Sühne, Rachtung oder Besserung bezeichnet und in der Regel schriftlich fixiert war.⁷² Stellte die Suche nach einer Entscheidung eine immense Herausforderung dar, so galt dies in gleicher Weise für ihre Umsetzung, für die sowohl die Parteien als auch die Schlichter verantwortlich waren. Grundsätzlich hatten die Streitgegner bei der Einsetzung der Kommissionen bereits im Vorfeld die Einhaltung des zu fällenden Urteils zu versprechen, in einigen Fällen sogar unter Eid.⁷³ Ein gängiges Modell der Absicherung war auch die Festlegung einer pekuniären Buße, die von der vertragsbrechenden Partei geleistet werden musste und deren Höhe bereits in der Kompromissurkunde festgelegt werden konnte: Als etwa Erzbischof Wikbold von Holte einerseits und die Grafen Gerhard VII. von Jülich und Engelbert II. von der Mark andererseits im Jahr 1308 ein Schiedsgremium einsetzten, verpflichteten sie sich bei einer Strafe von 5.000 Mark dem erhofften Spruch zu fügen.⁷⁴ Mitunter konnte die Missachtung eines Schiedsspruchs auch das Seelenheil der Betroffenen gefährden: So führten der Propst Heidenreich von St. Severin und der Offizial der Kölner Kurie einen Schiedsspruch zwischen Äbtissin Margarete von Thorn und dem Edlen Gerhard von Thorn sowie seinem Amtmann Gottfried herbei. Da sich die weltlichen Akteure dem Urteil widersetzten, verhängten genannte Kölner Kleriker über sie die Exkommunikation und nahmen den gesamten benachbarten Adel in die Pflicht, den Kontakt zu ihnen abzubrechen – wie es der gängigen geistlichen Sanktionspraxis entsprach.⁷⁵ Auch die Bündnispartner und Verwandten der Konfliktparteien wurden mitunter in die Pflicht genommen.⁷⁶ So wies der von Schiedsleuten ausgehandelte
72 Urkundenbuch Niederrhein 2 (Anm. 22), Nr. 404, S. 217: forma compositionis et pacis; ebd., Nr. 434, S. 235 f: bezzeringen / bezzerunge; Urkundenbuch Niederrhein 3 (Anm. 24), Nr. 60, S. 44: sone; ebd., Nr. 180, S. 146: uns eyner soynen angenomen; ebd., Nr. 187, S. 156: ene sone gerachet unde gemachet. 73 Regesten Erzbischöfe von Köln 5 (Anm. 32), Nr. 1240. 74 Regesten Erzbischöfe von Köln 4 (Anm. 61), Nr. 371. 75 Ebd., Nr. 894; 946. Zum Kontaktverbot mit Exkommunizierten Christian Jaser: Ecclesia maledicens. Rituelle und zeremonielle Exkommunikationsformen im Mittelalter. Tübingen 2013 (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 75), S. 35–45. 76 Regesten Erzbischöfe von Köln 4 (Anm. 61), Nr. 1261; Urkundenbuch Niederrhein 3 (Anm. 24), Nr. 187, S. 159: Vortme solen die helpere op bieden siden des neisten dages sente Mertins komen ze Lechenich, unde solen dar versichern ze haldene unde ze done, wat die vorgeschreuen raytlude ofte ouerman vor eyn recht tuischen en sagent, als hir vor geschreuen steyt, unde die sicherheyt solen sy don, we densoluen raytluden eyndrechtliche of dem ouermanne alleyne mugelich dunket, ane argelist.
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‚Blatzheimer Vertrag‘ zwischen Erzbischof Konrad von Hochstaden und Wilhelm IV. von Jülich im Jahr 1254 namentlich genannte Verwandte und Freunde des Grafen an, diesen nicht zu unterstützen, sollte er die Übereinkunft brechen.⁷⁷ Vor allem waren die Schiedsleute selbst für die Umsetzung verantwortlich, indem sie sich bei Missachtung des Spruchs auf die Seite der geschädigten Partei schlugen.⁷⁸ Als im Frühjahr 1338 Erzbischof Walram von Köln sowie die Grafen von Hennegau und Jülich als Schiedsrichter zwischen Bischof Adolf von Lüttich und Herzog Johann III. von Brabant fungierten, kündigten sie an, sich der Partei anschließen zu wollen, die bereit sei, ihren Schiedsspruch zu akzeptieren.⁷⁹ Dass es mitunter auch einiger Überzeugungsarbeit bedurfte, die Parteien zur Akzeptanz des Spruches zu bewegen, dokumentieren die Schilderungen Erzbischofs Balduin von Trier, der im Dezember 1318 zwischen dem Kölner Metropoliten Heinrich II. von Virneburg einerseits und den Grafen Gerhard VII. von Jülich, Adolf VI. von Berg sowie der Stadt Köln andererseits eine Entscheidung über die Stadt Brühl herbeigeführt hatte. Gegenüber seinem Amtsbruder habe Balduin nichts unversucht gelassen und weder Kosten noch Mühe gespart, ihn zur Beachtung seines Urteils zu ermahnen: persönlich, schriftlich sowie durch Gesandte. Nachdem alle Versuche erfolglos geblieben waren, schloss sich Balduin schließlich den Feinden des widerspenstigen Erzbischofs an.⁸⁰ Mitunter diente das Argument, der Gegner habe sich einem mühsam herbeigeführten Schiedsspruch verweigert, auch als Legitimation offener Gewalt. Nachdem die niederrheinisch-stadtkölnische Allianz im Jahr 1267 Erzbischof Engelbert II. von Valkenburg in der Schlacht am Marienholz bei Zülpich gefangengenommen hatte, erklärte sie die Notwendigkeit des Waffengangs wie folgt: Entgegen den Absprachen des Landfriedens von 1259 habe der Metropolit ungerechtfertigte Zölle erhoben. Die Streitfragen seien von Engelbert und Wilhelm IV. von Jülich auf ein Schiedsgremium kompromittiert worden, dessen Spruch der Graf zwar anerkannt, der Erzbischof jedoch trotz umfassender Überzeugungsarbeit ignoriert habe. Der
77 Regesten Erzbischöfe von Köln 3 (Anm. 62), Nr. 1808 Urkundenbuch Niederrhein 2 (Anm. 22), Nr. 404, 217: […] ipsi consanguinei et amici nostri nobis in prestatione consilii et auxilii non assistunt. Zu diesen Auseinandersetzungen Wilhelm Janssen: Das Erzbistum Köln im Spätmittelalter. 1191–1515 1. Teil. Köln 1995 (Geschichte des Erzbistums Köln 2.1), S. 165 f. 78 Regesten Erzbischöfe von Köln 4 (Anm. 61), Nr. 1345; Quellen zur Geschichte der Stadt Köln. Bd. 4. Hrsg. von Leonard Ennen. Köln 1870, Nr. 113, S. 99 f. 79 Regesten Erzbischöfe von Köln 5 (Anm. 32), Nr. 540: […] partem illam, que de pace illorum arbitrio stare vellet […]. Zum späteren Schiedsspruch vgl. ebd., Nr. 551 f. 80 Regesten Erzbischöfe von Köln 4 (Anm. 61), Nr. 1164; Quellen Köln 4 (Anm. 78), Nr. 77, S. 64 f. […] facie ad faciem ac litteris et nunciis nostris pluries interpellavimus et venerabilibus viris capitulo maioris prelatis, prioribus et canonicis civitatis et dyocesis Coloniensis, ut eum ad hoc inducerent, scripserimus ac supplicare fecerimus non sine magnis expensis et laboribus […].
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Konflikt sei erst in offener Konfrontation eskaliert, nachdem der Metropolit seine eigenen Schlichter desavouiert, weiter unrechtmäßige Zölle erhoben und zu diesem Zweck das Land des Jülichers sogar mit Waffengewalt überzogen habe.⁸¹ Man würde zwar der parteiischen Argumentationsführung aufsitzen, wollte man ausschließlich den missglückten Schiedsgang für den Ausbruch der offenen Konfrontation verantwortlich machen. Dass die Weigerung einer Streitpartei, sich dem Ergebnis eines selbst initiierten Schiedsverfahrens zu beugen, als probate Erklärung kriegerischer Auseinandersetzungen dienen konnte, zeigt jedoch zumindest, welch hohe Verbindlichkeit man dem Verfahren beimaß. Um sich unliebsamer Verpflichtungen in diesem Kontext zu entledigen, legten die Kölner Metropoliten allerdings eine beachtliche Kreativität an den Tag, die einer langfristigen Konfliktlösung kaum zuträglich war. Nach seiner Niederlag in der Schlacht am Marienholz bei Zülpich wurde Engelbert für rund dreieinhalb Jahre auf Burg Nideggen in Haft gehalten. Dem Einsatz eines Schiedsgremiums, dem u. a. Albertus Magnus angehörte, verdankte er schließlich seine Freilassung. Mit der ebenfalls in den Konflikt involvierten Kölner Stadtgemeinde verständigte sich der Erzbischof auf verschiedene Absprachen, die er nicht nur in selbst beschwor, sondern deren Urkunde auch von den verantwortlichen Schiedsleuten besiegelt wurde.⁸² Dies hielt ihn jedoch nicht davon ab, sich im Folgejahr von Gregor X. von diesen Zusagen entbinden zu lassen. Ihr Inhalt habe dem Erzstift zu großen Schaden zugefügt und die Freiheit der Kölner Kirche unverhältnismäßig beeinträchtigt – so die Begründung von Papst und Erzbischof.⁸³ Strategien dieser Art sind zumeist in den Fällen zu rekonstruieren, in denen sich die Kölner Kirchenfürsten nach militärischen Niederlagen und/oder in Gefangenschaft Entscheidungen beugen mussten, die sie in der Folgezeit zu revidieren versuchten. Einen ähnlichen päpstlichen Dispens erwirkte Engelberts Nachfolger Siegfried von Westerburg nach der Schlacht von Worringen (1288): Nikolaus IV. entband in diesem Zusammenhang
81 Regesten Erzbischöfe von Köln 3 (Anm. 62), Nr. 2384; 2389; Urkundenbuch Niederrhein 2 (Anm. 22), Nr. 573, S. 334: Predicto comite Juliacensi sepius in presentia nostra et aliorum proborum se exhibente ad hoc paratum, et suas etiam patentem litteras ipsis mediatoribus super hoc assignauit, quod formam compositionis inter memoratum dominum archiepiscopum et ipsum comitem et ciues Colon. apud Nussiam factam et pacem communem vellet modis omnibus obseruare; conquerente etiam ipso comite, quod idem dominus archiepiscopus contra eandem formam compositionis et pacem communem veniret multipliciter et venisset. Zum Konflikt vgl. Janssen (Anm. 77), S. 177–179. 82 Regesten Erzbischöfe von Köln 3 (Anm. 62), Nr. 2438; Urkundenbuch Niederrhein 2 (Anm. 22), Nr. 607, S. 357–360. Hugo Stehkämper: Über die rechtliche Absicherung der Stadt Köln gegen eine erzbischöfliche Landesherrschaft. In: Ders.: Köln – und darüber hinaus. Ausgewählt Abhandlungen. Bd. 1. Köln 2004 (Mitteilungen aus dem Stadtarchiv von Köln 93), S. 643–691, hier S. 682 f. 83 Regesten Erzbischöfe von Köln 3 (Anm. 62), Nr. 2489; Urkundenbuch Niederrhein 2 (Anm. 22), Nr. 630, S. 370. Dazu Janssen (Anm. 77), S. 179.
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nicht nur den Erzbischof selbst, sondern auch seine Bürgen von den eingegangenen Friedensabsprachen.⁸⁴ Einlagerbürgen oder Geiseln, die von den Streitparteien zu stellen waren, übernahmen häufig wichtige Funktionen für die Absicherung des Urteils. So beendete Erzbischof Heinrich II. von Virneburg mit dem Grafen Heinrich II. von Waldeck seinen Disput um die Ansprüche an den Freigrafschaften Scherfede und Kanstein und nannte zwölf namentlich angeführte Bürgen, die in Siegburg Einlager zu halten hatten, sollte er sich dem Spruch nicht fügen. Unter ihnen befanden sich nicht nur benachbarte Adlige wie die Grafen von Sayn, Berg und Nassau, sondern auch Funktionsträger des Erzstifts wie der Marschall von Westfalen.⁸⁵ Es ist davon auszugehen, dass der Rang der Bürgen mit der Bereitschaft korrespondierte, die Schiedsvereinbarungen tatsächlich zu halten. Wenn die wichtigsten Vertreter des umgebenden Adels als Bürgen in die Pflicht genommen wurden, mag dies den Absprachen ein umso größeres Gewicht verliehen haben. Anders als Einlagerbürgen, die erst im Falle des Vertragsbruchs aktiviert wurden, konnten auch Personen als Geiseln benannt werden, die bis zur endgültigen Umsetzung des Urteils in die Pflicht genommen wurden. In einem Schiedsgang zwischen Erzbischof Heinrich II. von Virneburg und dem Grafen Gerhard VII. von Jülich aus dem Jahr 1317 mussten die Parteien so lange Geiseln stellen, bis alle Verfügungen erfüllt waren.⁸⁶ Der kursorische Überblick über die Absicherung der Urteile lässt den Rückschluss zu, dass ihrer Umsetzung eine ebenso hohe Bedeutung wie dem Schiedsspruch selbst zugemessen wurde. Der Druck, der im Falle des Verstoßes auf die vertragsbrechende Partei ausgeübt wurde, war erheblich – im extremen Fall verlor sie sämtliche Formen der politischen und sozialen Unterstützung oder wurde gar in ihrem spirituellen Heil bedroht.⁸⁷ Dass indes auch Versuche der beteiligten Parteien überliefert sind, sich ihren Verpflichtungen zu entziehen, dokumentiert, dass veränderte politische Rahmenbedingungen ebenfalls Einfluss auf die Umsetzung der Schiedssprüche nehmen konnten. Die bislang präsentierten Fälle legen nahe, dass die Schiedsgänge eine inhaltliche Lösung und damit die Beendigung eines Konflikts intendierten. Aus dieser Perspektive war das Verfahren im Sinne der Konzeption dieses Sammelbandes der
84 Regesten Erzbischöfe von Köln 3 (Anm. 62), Nr. 3262; Urkundenbuch Niederrhein 2 (Anm. 22), Nr. 879, S. 522 f. Dazu Janssen (Anm. 77), S. 197. 85 Regesten Erzbischöfe von Köln 4 (Anm. 61), Nr. 266. 86 Sollten sich die Geiseln vor Ablauf der Frist entfernen, war für Ersatz zu sorgen. Regesten Erzbischöfe von Köln 4 (Anm. 61), Nr. 1004; Urkundenbuch Niederrhein 3 (Anm. 24), Nr. 163, 125. Sollten sich die Geiseln vor Ablauf der Frist entfernen, war für Ersatz zu sorgen. 87 Vgl. auch Greiffenhagen (Anm. 10), S. 203, der die Möglichkeit der Drohpotentiale des verhandelnden „Dritten“ betont.
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Findung eines „gemeinsame[n] Dritten“⁸⁸ verpflichtet, da es kontroverse Standpunkte anglich und aus dem Trennenden eine gemeinsame Position schuf. Dies mag der Theorie des Schiedsverfahrens ebenso entsprochen haben wie dem Wunsch aller Beteiligten, durch die waffenlose Beilegung von Konflikten materielle und personelle Ressourcen zu schonen. Es ist aus dieser Perspektive mehr als ein Topos, wenn die Parteien betonten, durch den Einsatz von Schiedsleuten „Mühen und Kosten“ sparen zu wollen.⁸⁹ Die Varianzen der Ausgestaltung der so geschaffenen „Zwischenzonen“⁹⁰ waren vielfältig. So konnten materielle wie immaterielle Güter gegeneinander aufgewogen werden: Freilassung aus der Gefangenschaft gegen Lösegeldzahlung; pekuniäre Kompensationen für Schäden nach Waffengängen; die Aufteilung strittiger Herrschaftsrechte in einem Gebiet oder an einem Ort oder auch die Wiederherstellung verletzter Ehre durch die Demütigung des vermeintlichen Aggressors. In manchen Fällen ist den Schlichtern eine beachtliche Kreativität kaum abzusprechen: Als Erzbischof Konrad von Hochstaden im Jahr 1258 mit den Bewohnern seiner Domstadt verglichen wurde, erschien der Metropolit in der Inszenierung des Ausgleichs als Sieger: die Bürger mussten sich ihm öffentlich in einem demütigenden Ritual unterwerfen.⁹¹ Inhaltlich behielten sie jedoch die Oberhand: Der als ‚Großer Schied‘ bekannte Spruch gilt als eines der wichtigsten Dokumente der kommunalen Freiheit Kölns.⁹² In diesem Fall bestand die Konzessionsbereitschaft beider Parteien darin, dass die Kölner dem Erzbischof auf der Ebene der öffentlichen Inszenierung entgegenkamen, während dieser wichtige Rechtsansprüche in seiner Funktion als Stadtherr preisgab. So gesehen, gab es weder einen Sieger noch einen Verlierer. Im juristischen und rechtsphilosophischen Diskurs hat sich für Lösungen dieser Art die auf Carl Schmitt zurückgehende Bezeichnung des „(dilatorischen) Formelkompromisses“ etabliert.⁹³ Sie ermöglicht den Akteuren eine jeweils eigene Interpretation der Übereinkunft und die Gewissheit, ihre ursprüngliche Position behauptet zu haben. So wird die offene Auseinandersetzung zumindest für den Zeitpunkt der Übereinkunft vermieden. Da eine derartige Konsensfassade Disso-
88 Christiane Witthöft: Einleitung, in diesem Band, S. 1–29, hier S. 3 und S. 6. 89 Janssen (Anm. 6), S. 81. 90 Greiffenhagen (Anm. 10), S. 100. 91 Dazu ausführlich Claudia Garnier: Zeichen und Schrift. Symbolische Handlungen und literale Fixierung am Beispiel von Friedensschlüssen des 13. Jahrhunderts. In: Frühmittelalterliche Studien 32 (1998), S. 263–287. 92 Zum „Großen Schied“ vgl. oben Anm. 43, 55. 93 Carl Schmitt: Verfassungslehre. Berlin 112017, S. 31 f., der zwischen „echten Sachkompromissen“ und „dilatorischen Formenkompromissen“ unterscheidet. Vgl. Osswald (Anm. 3), Sp. 942; Koutnatzis (Anm. 12), S. 178–192, bes. S. 190–192.
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nanzen verdeckt, in ihrem Ursprung aber nicht aufzulösen vermag, ist mit ihr stets die Gefahr der Perpetuierung des Konflikts verbunden. Selten war diesen Konstruktionen eine lange Dauer beschieden, oftmals scheiterten sie an der grundsätzlichen Unvereinbarkeit der jeweiligen Positionen. Es spricht für sich, dass alleine Albertus Magnus, den man im 13. Jahrhundert als Anchorman des kölnischen Schiedswesens bezeichnen könnte, sieben Urteile zwischen der Stadt Köln und ihren Erzbischöfen herbeiführte.⁹⁴ Die Auseinandersetzungen um die kommunalen Emanzipationsbestrebungen einerseits und die Behauptung der erzbischöflichen Stadtherrschaft andererseits durchzogen schließlich das gesamte ausgehende Mittelalter. Phasen der Kompromissfindung standen mit offenen, bisweilen kriegerischen Auseinandersetzungen, in stetem Wechsel.⁹⁵ Auch wenn die Schlichter in diesem Fall kein dauerhaftes und tragfähiges Fundament friedlicher Koexistenz zu schaffen vermochten, verfolgte jeder einzelne der Schiedssprüche das Ziel, einen dem jeweiligen Moment angemessenen Ausgleich zu schaffen. Dem gegenüber stehen auf den ersten Blick gescheiterte Verhandlungen, die keine Entscheidung herbeiführten, sondern – im Gegenteil – sie sogar zu vermeiden schienen. Erwiesen sich bestimmte Streitpunkte als zu komplex oder unlösbar, wurden diese häufig aus den Verhandlungen ausgeklammert und einem oder mehreren gesonderten Gremien übertragen. Dies belegen exemplarisch die kurkölnisch-märkischen Beziehungen in den 1380er Jahren: Im Februar 1381 legte der Trierer Erzbischof Kuno II. von Falkenstein die Streitigkeiten zwischen seinem Neffen, dem Kölner Erzbischof Friedrich von Saarwerden, und dem Grafen Engelbert III. von der Mark bei.⁹⁶ Am selben Tag schlossen der Kölner Erzbischof und sein ehemaliger Gegner einen auf vier Jahre angelegten Bündnisvertrag und garantierten einander, für diesen Zeitraum auf gegenseitige Gewalthandlungen und Schädigungen verzichten zu wollen.⁹⁷ Noch vor Ablauf dieser Frist verständigten sich Erzbischof und Graf im Oktober 1384 auf einen erneuten Schiedsvergleich. Da noch immer zahlreiche Einzelpunkte ungeklärt geblieben waren, bestimmte das Vertragswerk nicht weniger als vier einzelne und jeweils unterschiedlich besetzte zusätzliche Schiedskommissionen, die im Nachgang tätig werden sollten.⁹⁸ Der
94 Zur Albertus Magnus als Schiedsrichter vgl. die bibliographischen Angaben in Anm. 43. 95 Stehkämper, Dietmar (Anm. 55), S. 298–385; Herborn, Dietmar (Anm. 67), S. 44–201. 96 Regesten Erzbischöfe von Köln 9 (Anm. 37), Nr. 20. In ähnlicher Weise legte der Trierer Erzbischof den Konflikt zwischen dem Kölner Erzbischof und dem Grafen Adolf von Kleve (ebd., Nr. 19) und dem Grafen Johann von Nassau (ebd., Nr. 21) bei. Zu Friedrich von Saarwerden vgl. Sabine Picot: Kurkölnische Territorialpolitik am Rhein unter Friedrich von Saarwerden (1370–1414). Bonn 1977 (Rheinisches Archiv 99). 97 Regesten Erzbischöfe von Köln 9 (Anm. 37), Nr. 23. 98 Ebd., Nr. 858; Urkundenbuch Niederrhein 3 (Anm. 24), Nr. 885, S. 777–781.
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kurkölnisch-märkischen Sühne folgte noch am selben Tag ein Bündnis und eine gegen die Stadt Dortmund gerichtete Allianz.⁹⁹ Diese Abkommen erklären, warum noch schwelende Dissonanzen vorerst ausgeklammert werden sollten: Gemeinsame Projekte – in diesem Falle der Kampf gegen die mächtige Reichsstadt – sollten nicht scheitern an Streitigkeiten, die an anderer Stelle schwelten und die Partner zu entzweien drohten. Auf diese Weise wurde die Gefahr vermieden, dass der Weg der Konsensstiftung, der bereits erfolgreich beschritten war, durch unlösbare Detailkonflikte behindert wurde. Zumindest in diesem Fall führte die gewählte Strategie zum anvisierten Ziel: Wenige Jahre später kämpften die beiden Landesherrn in der sogenannten „Dortmunder Fehde“ (1388/89) gemeinsam gegen die Handelsmetropole.¹⁰⁰ Bereits Wilhelm Janssen wies auf die Existenz zahlreicher Sühnen hin, die „Frieden stifteten, indem sie die anstehenden Probleme fürs erste beiseiteschoben […].“¹⁰¹ Sie dienten gerade nicht der Entscheidung eines Konflikts, sondern können in überspitzter Form als „Übereinkommen, nicht übereingekommen zu sein“ bezeichnet werden.¹⁰² Was zunächst den Eindruck missglückter Verhandlungen erweckt, offenbart sich auf den zweiten Blick als durchaus pragmatisches Konzept. Maßnahmen dieser Art finden sich vor allem in Konflikten, die langfristig angelegt waren, weil sie nicht aus einzelnen Streitpunkten, sondern aus schwer bis kaum auszuräumenden strukturellen Gegensätzen bestanden. Der Machtausbau des Kölner Metropoliten war mit der territorialen Arrondierung seiner Nachbarn im Rheinland und in Westfalen so unvereinbar, dass die Auseinandersetzungen den gesamten Beobachtungszeitraum durchzogen – eine grundsätzliche Lösung des Dissenses war nicht möglich. Das Konzept der Auslagerung bestimmter Streitpunkte wies einen probaten Weg aus der Aporie: Es stellte grundsätzliches Einvernehmen her und sicherte die notwendige Handlungsfähigkeit der Akteure an anderer Stelle – im eben diskutierten Fall war es das gemeinsame Vorgehen gegen die Reichsstadt Dortmund, das den märkischen wie kurkölnischen Territorialinteressen des Augenblicks gleichermaßen entsprach. Schiedsgänge dieser Art als die „paradoxeste
99 Regesten Erzbischöfe von Köln 9 (Anm. 37), Nr. 860 f. 100 Claudia Garnier: Symbole der Konfliktführung im 14. Jahrhundert: Die Dortmunder Fehde von 1388/89. In: Westfälische Zeitschrift 151/152 (2001/2002), S. 23–46; Thomas Schilp: Krieg, Verschuldung und Stadtpolitik. Die Reichsstadt Dortmund im Umfeld der ‚Großen Fehde‘ (1388/89). In: Reichsstadt und Geld. 5. Tagung des Mühlhäuser Arbeitskreises für Reichsstadtgeschichte. Mühlhausen, 27. Februar bis 1. März 2017. Hrsg. von Michael Rothmann, Helge Wittmann. Petersberg 2018 (Studien zur Reichsstadtgeschichte 5), S. 169–200. 101 Janssen (Anm. 77), S. 248. 102 Greiffenhagen (Anm. 10), S. 207, mit einer Diskussion vergleichbarer Konzepte im 20. Jahrhundert.
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Form eines Kompromisses“ zu bezeichnen – so Martin Greiffenhagen –, verkennt ihre Funktion für die Komplexität politischer Herausforderungen. Denn sie dienten weniger der Beilegung von Kontroversen, sondern begründeten ein Fundament notwendiger Kooperation.¹⁰³
V Schiedsgerichtsbarkeit und Kompromissfindung im ausgehenden Mittelalter – abschließende Überlegungen Welche Rückschlüsse erlauben die präsentierten Beobachtungen auf spätmittelalterliche Narrative und Strategien der Kompromissfindung? Die Schiedsgerichtsbarkeit, die sich seit dem 13. Jahrhundert als unverzichtbares Gestaltungselement spätmittelalterlicher Politik entwickelte, vereinte unterschiedliche Modi der Kompromissfindung: das wechselseitige Entgegenkommen im Sinne einer gemeinsamen Lösung ebenso wie die Akzeptanz eines nicht auflösbaren Widerspruchs. So konnte am Ende der Verhandlungen die Überwindung trennender Positionen und die Schaffung eines „gemeinsamen Dritten“¹⁰⁴ stehen: eine Übereinkunft, in deren Rahmen sich die divergierenden Standpunkte annäherten oder aber auch ein Ergebnis, das auf unterschiedlichen Ebenen Erfolge und Verluste möglichst adäquat verteilte. Damit der oftmals fragile Frieden nicht an Problemen scheiterte, die schwierig oder möglicherweise nicht zu lösen waren, klammerten die Schiedssprüche mitunter besonders problematische Details aus und verwiesen sie an nachgeordnete Gremien. Das Verhandlungsergebnis diente daher nicht notwendigerweise einer Entscheidung, sondern vorrangig der Wahrung bzw. Wiederherstellung des Friedens. Der Hinweis der Schiedsleute, sich pro bono pacis zu engagieren, erscheint daher nicht ohne Grund als ihr erklärtes Ziel. Insofern konnte es dem Einvernehmen durchaus zuträglich sein, besonders kontroverse Streitpunkte zu umgehen. Die Freiheit, entscheiden zu können, aber nicht entscheiden zu müssen, dürfte eine Erklärung für die wachsende Bedeutung und Attraktivität des Schiedswesens
103 In ähnlicher Weise bedienten sich die Kölner Erzbischöfe dieses Systems auch auf Reichsebene. Es kam besonders in Gebieten zum Einsatz, in denen sich die kurkölnischen Territorialinteressen mit denen der übrigen rheinischen Kurfürsten berührten. Vor allem im Vorfeld von Königswahlen oder ähnlich wichtigen Entscheidungen knüpften sie als Basis ihrer Kooperation Freundschaftsbündnisse, denen Schiedsgänge, verbunden mit der Auslagerung besonders problematischer Streitfälle, vorgelagert waren. Ausführlich Garnier (Anm. 6), S. 80 f., S. 128–131. 104 Vgl. oben Anm. 88.
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im ausgehenden Mittelalter sein. Sämtliche der in diesem Beitrag präsentierten Modi der Kompromissfindung ließen alle Möglichkeiten offen, den Streit auch künftig in diskursiver Form auszutragen. Auch wenn eine Entscheidung ausblieb, galten die Verhandlungen nicht als gescheitert, musste das Ziel der Friedensstiftung nicht preisgegeben werden. Darin unterschied sich ein Schiedsspruch etwa vom Gerichtsgang, der idealerweise mit einem Urteil bzw. der Lösung eines Rechtsstreits endete. Dass ein compromissum die Bereitschaft signalisierte, Differenzen jenseits der Waffengewalt auszutragen, ohne am Ende alle Widersprüche auflösen zu müssen, ist als Vorzug wie Nachteil zugleich zu begreifen: Einerseits ermöglichte diese Strategie den Streitgegnern eine Kooperationsbasis trotz ungelöster Widersprüche, andererseits konnten sich Konflikte auf diese Weise perpetuieren und zahlreiche Schiedsgänge nach sich ziehen. Kurköln steht für dieses Spannungsverhältnis exemplarisch. Die Dissonanzen der Erzbischöfe mit ihrer Domstadt um die kommunale Unabhängigkeit und mit dem benachbarten Adel um rivalisierenden Herrschaftsausbau durchzogen das gesamte ausgehende Mittelalter. Die zahllosen Schiedsgerichte, die in diesen Kontroversen eingesetzt wurden, vermochten zwar punktuell einen Konsens für den jeweiligen Moment zu erzielen; eine Beseitigung der strukturellen Divergenzen gelang indes nie. Dass die ‚Entscheidung ohne Entscheidung‘ noch in der Gegenwart ein etabliertes Mittel der politischen Kultur ist, akzentuiert etwa Ernst-Wolfgang Böckenförde, wenn er die Notwendigkeit von „sorgsam ausgehandelten Kompromißformeln“ betont, „deren normativer Sinn oftmals darin liegt, eine Nichteinigung zum Ausdruck zu bringen.“¹⁰⁵ Aus dieser Perspektive erscheint es folgerichtig, nicht den abschließenden Schiedsspruch, sondern den initialen Willen zu Verhandlungen als Kompromiss zu begreifen. Die damit verbundene Festlegung der Streitgegner auf detaillierte Modalitäten des Schiedsverfahrens verlangte vor der eigentlichen Entscheidungsfindung Konzessionswillen und Entgegenkommen im tatsächlichen wie metaphorischen Sinne. Denn die personelle Auswahl der Schlichter erforderte ein ebenso hohes Maß an Kooperationsbereitschaft wie die Festlegung der Verhandlungsorte und -fristen, der Entscheidungsfindung und der Absicherung des Spruches. Die so geschaffene reziproke Grundlage bildete eine unverzichtbare Voraussetzung für das Vertrauen der Streitgegner in eine gerechte, keine Seite benachteiligende Verhandlung. Dass daher der Kompromiss weniger als Produkt der Beratungen, sondern als grundsätzliche Bereitschaft zur Einigung begriffen werden kann, ist eine 105 Ernst-Wolfgang Böckenförde: Die Eigenart des Staatsrechts und der Staatsrechtswissenschaft. In: Recht und Staat im sozialen Wandel. Festschrift für Hans Ulrich Scupin zum 80. Geburtstag. Hrsg. von Norbert Achterberg, Werner Krawietz, Dieter Wyduckel. Berlin 1983, S. 317–231; wieder in: Ders.: Staat, Verfassung, Demokratie. Studien zur Verfassungstheorie und zum Verfassungsrecht. Frankfurt a. M. 21992, S. 11–28, hier S. 17.
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wesentliche Einsicht, die das Material zum Schiedswesen zu liefern vermag. Dass sie auch mit einschlägigen Befunden der Rechtswissenschaft und -philosophie korrespondiert, erstaunt kaum: „Die Phänomenologie des politischen Kompromisses legt den Gedanken nahe, daß eine der wichtigsten Kompromißformen vorliegt, wenn man die andere Seite als legitimen Verhandlungspartner anerkennt.“¹⁰⁶ Dass sich diese Wahrnehmung nicht nur im mittelalterlichen Schiedswesen, sondern auch in der Frühen Neuzeit findet, belegt etwa das Bayerische Landrecht aus dem beginnenden 17. Jahrhundert. Seine Verfügungen betonen, dass ein Kompromiss nicht notwendigerweise einen endgültigen Vergleich, sondern die Bereitschaft meint, diesen Weg gemeinsam zu eröffnen: ein […] compromissum ist, wann die beede streittende parteyen sich mit einander nit ledigklich oder endtlich, sonder allein so weit vergleichen, daß sie jhr notturfft schrifftlich oder mündtlich […] einem oder mehr schidsleuten, die sie erkiesen, fuͤ rbringen vnd begern, daß dieselbige in sachen einen außspruch thun sollen, darzu sie jhnen dann gewalt vnd vollmacht geben. ¹⁰⁷
Es scheint daher eine nahezu universale, für sämtliche Konfliktformen und Zeiträume gültige Frage zu sein, welcher Schritt eine größere Bereitschaft des wörtlichen wie metaphorischen Entgegenkommens erfordert(e): Die Entscheidung, den Weg der offenen Konfrontation zu verlassen und Verhandlungen zu starten oder die mit der Preisgabe von Maximalforderungen oder Standpunkten verbundene Lösung einer Kontroverse.
106 Margalit (Anm. 16), S. 54. In diesem Sinne argumentiert auch Koutnatzis (Anm. 12), S. 53, wenn er im Bereich des Schiedswesens „die Kompromissleistung […] in der freiwilligen Vereinbarung der Parteien, dem Beschluss des Schiedsrichters zu unterliegen“ sieht. 107 Landrecht, Policey: Gerichts-, Malefitz- vnd andere Ordnungen. Der Fürstenthumben Obern vnd Nidern Bayrn. München 1616, S. 8, https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/drwBayernLR1616/0027 [Zugriff: 03.04.2022]. Zitiert nach: Deutsches Rechtswörterbuch online, Art. Kompromiß (wie Anm. 4).
Andreas Fischer
Verzicht vor der Entscheidung: Das compromissum in der ars notariae und im Kirchenrecht des 13. Jahrhunderts I Einleitung Im Jahr 1254 legte Laurentius von Somercote, päpstlicher Subdiakon und Kanoniker in Chichester, den Lesern seines Traktats über die Bischofswahl die Erhebung eines Kandidaten in Gestalt eines compromissum nahe:¹ Diese sei, so hielt er zur Begründung fest, mit weniger Gefahren behaftet als die übliche Wahl mit Stimmzetteln (per scrutinium).² Die Warnung erstreckte sich vor allem auf mögliche formale Fehler, schien aber auch Betrugsversuche einzuschließen, durch die das Prozedere in Verruf geraten und das Wahlergebnis in Zweifel gezogen werden konnten.³ Aus diesem Grund verwendete Laurentius viel Mühe, um das exakte Vorgehen auch bei der Wahl per formam compromissi detailliert zu schildern und vor dem Hintergrund kirchenrechtlicher Regelungen abzusichern. Den Nutzern seines Werkes sollte die Darstellung als Orientierung bei ähnlichen Wahlverfahren dienen.⁴ Nur wenig später als der englische Kanoniker, bald nach 1255, verfasste im italienischen Bologna Rolandinus Passagerii (1215/1216–1300), Lehrer der Notariatskunst, der ars notariae, mehrere Schriften zur Ausbildung von Notaren, die schon im 13. Jahrhundert zu einem Gesamtwerk, der Summa totius artis notariae, zusammengestellt wurden.⁵ Darin widmete der Autor einen ganzen Abschnitt dem 1 Der Traktat des Laurentius von Somercote, Kanonikus von Chichester, über die Vornahme von Bischofswahlen entstanden im Jahre 1254. Hrsg. und erläutert von Alfred von Wretschko. Weimar 1907, S. 36–40 (vgl. auch S. 46 f.); zum Verfasser und zur Entstehung der Schrift s. ebd., S. 9–13. 2 Traktat des Laurentius von Somercote (Anm. 1), S. 36. 3 Laurentius spricht in seinem Traktat immer wieder von den pericula, die in einem solchen Erhebungsverfahren drohten; s. etwa Traktat des Laurentius von Somercote (Anm. 1), S. 28 und S. 39; zu von ihm erwähnten konkreten Fehlern und eventuellen Täuschungsversuchen in den unterschiedlichen Wahlprozedere s. ebd., S. 33, 36 und (allgemeiner) 46. Aus Gründen der Absicherung des Vorgangs empfiehlt Laurentius auch im Fall der Kompromisswahl die Schriftform; s. ebd., S. 38 f. Vgl. dazu auch die Glossen Nr. 37 und 44 sowie Nr. 38 auf S. 55. 4 Zum Zweck der Schrift s. Traktat des Laurentius von Somercote (Anm. 1), S. 27 f.; vgl. dazu auch ebd., S. 13 und S. 24. 5 Zu Rolandinus Passagerii (auch de Passageriis) und seinem Werk s. Peter Weimar: Rolandus (Rodulphini) Passagerii, Bologneser Notar und Staatsmann (1215/16–1300). In: Lexikon des Mittelalters 7 (1995), Sp. 959; Ernst Meyer: Rolandinus Passagerii. In: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für https://doi.org/10.1515/9783110792737-010
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Andreas Fischer
compromissum. ⁶ In der betreffenden Einleitung nahm Rolandinus zunächst zur Besetzung kirchlicher Würden und zur Erhebung in den Stand eines Notars Stellung, bevor er diese Vorgänge gedanklich mit der Wahl eines Schiedsrichters im Streitfall verknüpfte: Eine solche erfolge nämlich, so unterstrich er, per compromissum. ⁷ Im weiteren Verlauf präsentierte Rolandinus in seinem Werk allerdings beispielhaft nicht nur das Notariatsinstrument, das instrumentum compromissi, das zur Bestimmung einer Person als Schiedsrichter auszustellen war.⁸ Er ging vielmehr auch ausführlich auf denkbare Unwägbarkeiten der Rechtsfigur des compromissum und ihre praktische Anwendbarkeit ein.⁹ Auch hier ging es – wie bei Laurentius von Somercote – um die Verschriftlichung möglichst präziser Vorgaben, die als Handreichung für die auszubildenden Notare gedacht waren. Damit sollten diese in die Lage versetzt werden, ein entsprechendes Verfahren ohne Fehler im Prozedere in die Praxis umzusetzen und dessen Ergebnis zu verschriftlichen.¹⁰ Neben der unproblematischen Überwindung des Dissenses hatte man auch den Zweifel am Ergebnis im Blick: Rechtssicherheit war das Ziel. In Laurentius von Somercote und Rolandinus Passagerii steht man zwei zeitgenössischen Stimmen aus zwei unterschiedlichen Lebenswelten und Rechtskreisen gegenüber, dem geistlich-kirchlichen einerseits und dem weltlich-kommunalen andererseits. Dennoch haben ihre Darstellungen mehrere Aspekte gemeinsam. Der Kanoniker in Chichester und der Jurist und Notar in Bologna schrieben bald nach 1250; beide griffen in ihren Ausführungen auf Konzepte zurück, die dem römischen Recht entlehnt waren. Darin beschrieb das compromissum ein Verfahren, das auf einem von zwei Parteien vereinbarten Versprechen (com-promittere) beruhte, mit dem man sich auf eine außergerichtliche Verhandlung der Streitfrage mit einer dritten Person als Vermittler und die Akzeptanz des Urteils einigte.¹¹ Unmittelbar
Rechtsgeschichte. Romanistische Abteilung 68 (1951), S. 525 f. Die hier verwendete Ausgabe Summa totius artis notariae Rolandini Rodulphini Bononiensis, cum novis et accuratissimis additionibus Petri Aldobrandini Florentini, Venedig 1546 ist online zugänglich unter https://www.digitale-samm lungen.de/de/details/bsb11201406 [Zugriff: 25.7. 2022]. 6 Summa totius artis notariae (Anm. 5), fol. 147ra–173rb. 7 Summa totius artis notariae (Anm. 5), fol. 147ra. 8 Summa totius artis notariae (Anm. 5), fol. 147ra–b, vgl. auch fol. 155v–157r. 9 S. bes. Summa totius artis notariae (Anm. 5), fol. 147ra–vb. 10 Dabei ging es vor allem darum, die Umsetzung der Vereinbarung zu garantieren; s. Claudia Storti Storchi: Compromesso e arbitrato nella „Summa totius artis notariae“ di Rolandino. In: Rolandino e l’ars notaria da Bologna all’Europa. Atti del Convegno Internazionale di Studi Storici sulla Figura e l’Opera di Rolandino, Bologna, 9–10 ottobre 2000. Hrsg. von Giorgio Tamba. Milano 2002 (Per una storia del notariato nella civiltà europea 5), S. 329–376, hier S. 342. 11 S. hierzu und zum Folgenden Alin Fumurescu: Compromise. A Political and Philosophical History. New York 2013, S. 64–66; zuletzt auch Véronique Zanetti: Spielarten des Kompromisses. Berlin
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spiegelt sich die Vorgehensweise, für die das römische compromissum stand, im schiedsrichterlichen Verfahren wider, das Rolandinus Passagerii in seinem instrumentum compromissi thematisierte. Beide Autoren zeigen überdies, dass sie zumindest in den hier zitierten Abschnitten ihrer Werke das compromissum wie ihre römischen Vorbilder allein als Verfahrensweg betrachteten. Sowohl Rolandinus Passagerii als auch Laurentius von Somercote schienen den Begriff compromissum noch nicht von der Vorgehensweise auf das Ergebnis übertragen zu haben – eine Bedeutung, die unser modernes Verständnis vom Kompromiss prägt.¹² Gleichwohl führen die Summa totius artis notariae ebenso wie der Traktat über die Bischofswahl deutlich vor Augen, dass man in der Mitte des 13. Jahrhunderts das Konzept bereits weiterentwickelt und von der Idee des Schiedsgerichts auf die Wahl in kirchliche und weltliche Ämter ausgedehnt hatte. Überraschend erscheint dies nicht, wenn man ein Wahlverfahren als Entscheidung zwischen widerstreitenden Kandidaten und Interessen versteht – eine Auslagerung der Entscheidung auf Dritte bot sich hier an, und damit lag es nahe, sich an das bekannte römische Verfahren anzulehnen. Auf welche Weise und aus welchen Gründen dies in der Theorie, das heißt in den Schriften der ars notariae und des Kirchenrechts, und in der Praxis vor allem des 13. Jahrhunderts geschah, wird im Folgenden behandelt werden. Dabei wird insbesondere darauf eingegangen, wie die Idee des compromissum in Auseinandersetzung mit den Anforderungen der zeitgenössischen Verhältnisse in Kommunen und Kirchen entwickelt und gestaltet wurde. Auf diese Weise lässt sich auch präziser erfassen, was dieser Verfahrensweg für die Beteiligten als Rechtsform eigentlich bedeutete. Ausgehend von der Herkunft des compromissum aus dem römischen Recht richtet sich in diesem Beitrag der Blick auf die Konfliktlösungen in den Städten Oberitaliens, namentlich in ihrer Reflexion in der ars notariae, bevor mit den Wahlen in kommunale, vor allem aber in kirchliche Ämter eine spezifische Form der Entscheidung mittels compromissum und Überlegungen dazu im Kirchenrecht thematisiert werden.
2022, S. 20 f. Zum Begriff, seiner Verwendung und Übersetzung s. ferner s.v. Compromissum in: Karl Ernst Georges: Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch. Bd. 1. Hannover 81913 (Nachdruck Darmstadt 1998), Sp. 1372; Glossarium mediae et infimae latinitatis. Bd. 2. Hrsg. von Du Cange [u. a.]. Niort 1883, Sp. 472a; Mittellateinisches Wörterbuch. Bd. 2: C. Hrsg. von der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. München 1999, Sp. 1120; vgl. auch ebd. s.v. compromissor, compromitto Sp. 1119 f. 12 S. dazu Johann Heinrich Zedler: Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschafften und Künste, Bd. 6, Halle/Leipzig 1733, Sp. 878 f.; zuletzt ferner Zanetti: Spielarten (Anm. 11), S. 21 (mit der eigenen Definition des Kompromisses).
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II Das compromissum im römischen Recht und in der ars notariae Zunächst richtet sich der Blick auf die Herkunft des mittelalterlichen compromissum. Übernommen wurden Begriff und Konzept aus dem römischen Recht, das nach seiner Wiederentdeckung im hochmittelalterlichen Italien insbesondere über die Universität in Bologna im 11. und 12. Jahrhundert Verbreitung fand. Zur Diffusion der Texte und Regelungen, die sie enthielten, trug neben dem sich neu bildenden Juristenstand auch das städtische Notariat in den Kommunen Oberitaliens bei. Die Schreiber, die in den Städten für die Dokumentierung von Rechtsgeschäften zuständig waren, mussten nicht nur stilistisch, sondern auch juristisch geschult sein, zumal um 1200 die Verschriftlichung von Rechtsprechung und Verwaltungsakten rasant zunahm. Der ars dictaminis, die den Notaren im Rahmen ihrer Ausbildung an der Schreibschule in Bologna die nötigen Fertigkeiten für die ansprechende Formulierung von Texten vermittelte, trat eine ars notariae zur Seite.¹³ Mit ihr suchte man der Juridifizierung der Sprache in der Ausbildung Rechnung zu tragen. Produkt dieser Bemühungen waren eigene Lehrschriften, wie die eingangs genannte Summa totius artis notariae des Rolandinus Passagerii aus Bologna. In ihnen wurden Formulare gesammelt, die der Niederschrift spezifischer Urkunden dienen sollten, aber auch die weitere Auseinandersetzung mit der römischen Rechtstradition gepflegt. In umfangreichen Kommentierungen wurden die Texte, die weite Verbreitung fanden, immer wieder überarbeitet und aktualisiert. In diesem Zusammenhang widmete man sich auch dem compromissum. In den Schriften der ars notariae begegnen Begriff und Konzept erstmals im Liber formularius des Rainer von Perugia, der zwischen 1224 und 1234 entstand. Der Text enthält eine Carta conpromissi et transactionis, arbitrii atque laudi, die einen Entwurf für eine schiedsrichterliche Vereinbarung darstellt.¹⁴ Die Summa totius artis notariae des Rolandinus Passagerii dehnte – wie oben erwähnt – diese ersten Ansätze auf einen ganzen Abschnitt aus, der dem compromissum gewidmet war
13 Zum Verhältnis zwischen den beiden Disziplinen und ihrer Entstehung s. nun Benoît Grévin: Die ars dictaminis und andere Disziplinen. In: Ars dictaminis. Handbuch der mittelalterlichen Briefstillehre. Hrsg. von Florian Hartmann, dems. Stuttgart 2019 (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 65), hier S. 603 f. und S. 612. 14 Quellen zur Geschichte des römisch-kanonischen Processes im Mittelalter III, 2: Die Ars Notariae des Rainerius Perusinus. Hrsg. von Ludwig Wahrmund. Innsbruck 1917, hier S. 53 f. Nr. XLIX.Vgl. dazu auch Storti Storchi: Compromesso (Anm. 10), S. 344. Zum Autor s. die Ausgabe von Wahrmund S. IX– XIV, zur Entstehungszeit ebd., S. XIV–XVI.
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(Kapitel 6 des Werks ist mit dem Titel de compromissis überschrieben).¹⁵ Schon in der Einleitung der Summa zeigt sich, dass hier (ebenso wie im Werk des Rainer von Perugia) für den compromissum mehrere Synonyme verwendet wurden. Arbitrium, das im Lateinischen zunächst mit „Schiedsgericht“ oder „schiedsrichterlichem Spruch“ gleichzusetzen ist, stellt das geläufigste darunter dar;¹⁶ daneben begegnen in der Folge auch Begriffe wie pax, concordia und das mittellateinische laudum. ¹⁷ Im instrumentum compromissi, das von Rolandinus Passagerii einleitend beispielhaft wiedergegeben wird, taucht der Terminus compromissum gar nicht auf – die Rechtsfigur ließ sich also durchaus beschreiben, ohne sie selbst im entsprechenden Dokument mit dem spezifischen Begriff bezeichnen zu müssen.¹⁸ Die Offenheit im terminologischen Sinne spiegelt sich auch in der Vielzahl der möglichen Wege, die das Verfahren selbst nehmen konnte. Sie werden im weiteren Verlauf der Darstellung des Rolandinus behandelt. Unter Rückgriff auf juristische, auf das römische Recht bezogene Kommentare aus der Bologneser Schule beschrieb der Autor dabei auch die wichtigsten Komponenten des compromissum. Er tat dies neuerlich unter Verwendung der Bezeichnung arbitrium: Dieses sei als dreifache Handlung dreier Personen zu verstehen, die sich im Rahmen eines Schiedsgerichts stritten. Als dreifach sei dieser Vorgang deshalb zu deuten, weil der Kläger (actor) den Beklagten (reus) zur Rechenschaft ziehen, der Beklagte sich vom Kläger und seinen Vorwürfen befreien wolle, der Schiedsrichter aber sich um die Suche nach der Wahrheit, die inquisitio veritatis, bemühe.¹⁹ Allen drei Beteiligten wurde von Rolandinus Passagerii auf diese Weise eine aktive Rolle am Verfahren zugeschrieben. Zugleich sprach er damit ein Wesensmerkmal an, das auch dem Kompromiss im modernen Verständnis eigen ist. Im Zuge seiner Darstellung gab der Bologneser Gelehrte zudem einen kurzen Überblick darüber, was Gegenstand eines compromissum bzw. arbitrium sein konnte: Geldangelegenheiten gehörten dazu – diese waren in der städtischen Lebenswelt der Notare im Italien des 13. Jahrhunderts zweifellos auch der häufigste Anlass, warum Individuen miteinander in Streit gerieten. Kapitalverbrechen bei-
15 Summa totius artis notariae (Anm. 5), fol. 147r. Zu den konkreten Zusammenhängen zwischen den beiden Werken des Rainer von Perugia und des Rolandinus Passagerii s. Ars Notariae des Rainerius Perusinus (Anm. 14), bes. S. XXIV. 16 Zur Übersetzung von arbitrium s. Georges: Handwörterbuch. Bd. 1 (Anm. 11), Sp. 536; Mittellateinisches Wörterbuch. Bd. 1,3: arbitra-azymus. Hrsg. von der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. München 1967, Sp. 863–865. 17 Summa totius artis notariae (Anm. 5), fol. 147ra. 18 S. dazu Summa totius artis notariae (Anm. 5), fol. 147ra–b. 19 Summa totius artis notariae (Anm. 5), fol. 147va–148ra. Zur Einordnung des Vorgangs als actus trium personarum s. Storti Storchi: Compromesso (Anm. 10), S. 368.
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spielsweise gehörten hingegen nicht zu den Angelegenheiten, über die im Zuge eines Verfahrens per compromissum Einigung erzielt werden sollte.²⁰ In einem solchen Fall wurden bisweilen unmittelbar beteiligte Personen von einer eventuellen Teilhabe am schiedsrichterlichen Verfahren abgehalten, was eine Lösung durch compromissum oder arbitrium im zeitgenössischen Rechtsverständnis ausschloss. Entscheiden musste hier ein Richter in einem ordentlichen Gerichtsprozess. In diesem Zusammenhang rückte das Resultat des Verfahrens in den Blick. Mit dessen Abschluss drängte sich die Frage auf, wie das compromissum konkret umzusetzen sei. Rolandinus Passagerii und andere Autoren, die ihre stilistischen und juristischen Fähigkeiten in den Dienst der ars notariae stellten, hielten fest, dass der Verfahrensweg keine spätere Klage oder Einrede (actio oder exceptio) kenne.²¹ Mit dieser Aussage befand man sich im Einklang mit entsprechenden Regelungen des römischen Rechts.²² Was aber sollte ohne die Möglichkeit einer Einrede dann die Streitparteien dazu bringen, sich an den Schiedsspruch oder die getroffene Vereinbarung zu halten? Rolandinus Passagerii antwortete lakonisch: Die Furcht vor der Strafe, die im compromissum festgesetzt worden sei. Er räumte allerdings ein, dass es durchaus Ausnahmen gebe, in denen der Spruch des Schiedsrichters zu einer Klage führen könne.²³ In den genannten Passagen bezog sich der Notar aus Bologna auf Einträge im Corpus iuris civilis oder auf Kommentare dazu, die von Rechtsgelehrten in seiner Heimatstadt im 12. und 13. Jahrhundert verfasst worden waren. Bemerkenswert sind diese Feststellungen, weil sie das Verhältnis zwischen Kompromisslösung und gerichtlicher Entscheidung und somit die Bedeutung des Schiedsspruches als außergerichtliches Prozedere betreffen. Sie berühren damit aber zugleich das Bild, das sich die Zeitgenossen des Mittelalters vom compromissum machten und das durchaus kontrastreich war. Verantwortlich dafür waren unterschiedliche Rechtstraditionen. So gestattete das Kirchenrecht, das parallel zum römischen Recht im 12. Jahrhundert eine systematische Aufarbeitung erfuhr, den Übergang eines Schiedsverfahrens in ein ge20 Summa totius artis notariae (Anm. 5), fol. 148ra. Vgl. auch Christine Lehne-Gstreinthaler: Schiedsgerichtsbarkeit und außergerichtliche Konfliktbereinigung im klassischen römischen Recht. In: Außergerichtliche Konfliktlösung in der Antike. Beispiele aus drei Jahrtausenden. Hrsg. von Guido Pfeifer, Nadine Grotkamp. Frankfurt a. M. 2017 (Global Perspectives on Legal History 9), S. 141– 168, hier S. 158 f. 21 Summa artis totius notariae (Anm. 5), fol. 148ra; ferner Storti Storchi: Compromesso (Anm. 10), S. 346 f. und S. 363 f. 22 S. dazu Storti Storchi: Compromesso (Anm. 10), S. 344 f.; Lehne-Gstreinthaler: Schiedsgerichtsbarkeit (Anm. 20), S. 158. 23 Summa totius artis notariae (Anm. 5), fol. 148ra. Vgl. zur Frage der Strafe auch Hermann Krause: Die geschichtliche Entwicklung des Schiedsgerichtswesens in Deutschland. Berlin 1930, S. 48–50.
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richtliches Prozedere, indem es das compromissum als Einigung auf einen ordentlichen Richter ermöglichte.²⁴ Das römische Recht schloss hingegen eine solche Verschränkung eigentlich separater Verfahrenswege grundsätzlich aus: Ein ordentlicher Richter konnte durch die Streitparteien nicht zum Schiedsrichter gemacht werden.²⁵ Differenzierungen fanden sich gleichwohl auch hier. So räumte man in einer Novelle die Möglichkeit ein, den Konflikt vor einem Gericht durch eine freundschaftliche Einigung (amicabilis compositio) beilegen zu können, das prozessrechtliche Format also durch eine Absprache zu ersetzen.²⁶ Ferner unterschied man in den Digesten zwischen einem arbitrium boni viri, das sich am billigen Ermessen orientierte, und einem arbitrium ex compromisso, das selbst dann durch die Streitparteien akzeptiert werden musste, wenn es ungerecht war.²⁷ Letzteres spiegelt das entscheidende Wesensmerkmal des Kompromisses nach römischrechtlicher Lesart wider, bei dem es um die völlige Aufgabe jeglicher Appellationsansprüche gegenüber der Entscheidung durch den Schiedsrichter ging.²⁸ Die Juristen des 13. Jahrhunderts strebten einerseits danach, den Vorgaben des römischen Rechts zu folgen, andererseits lag ihnen aber auch daran, diese mit der Praxis schiedsrichterlicher Entscheidungen namentlich in den Städten in Einklang zu bringen. Aus diesem Grund lässt sich bei Rolandinus Passagerii und anderen Autoren, die Rechtskommentare oder prozessrechtliche Schriften verfassten, das Bemühen erkennen, das compromissum als außergerichtlichen und dennoch verbindlichen Modus der Konfliktlösung darzustellen. Zugleich suchten sie nach Lösungen, um die Verfahrensgänge offen zu gestalten, um unterschiedliche Wege zum Ziel zu beschreiben, was auch einen Appell an ein Gericht einschloss. In diesem Zusammenhang etablierte sich seit den ersten Jahrzehnten des 13. Jahrhunderts in Kommentaren zum weltlichen und kirchlichen Recht sowie in der Prozessrechtsliteratur der mittellateinische Begriff des arbitrator. ²⁹ Dieser bezeichnete ebenfalls
24 X I, 43, 5, in: Corpus Iuris Canonici, pars secunda: Decretalium Collectiones. Hrsg. von Emil Friedberg. Leipzig 1879 (ND Graz 1959), Sp. 232–234. Vgl. hierzu und zum Folgenden Karl-Heinz Ziegler: Arbiter, arbitrator und amicabilis compositor. In: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Romanistische Abteilung 84 (1967), S. 376–381, hier S. 379. 25 D. 4, 8, 9, 2, in: Digesta Iustiniani Augusti. Hrsg. von Paul Krüger und Theodor Mommsen, Bd. I. Berlin 1870, S. 150. 26 Nov. 86, 2 („Si vero contigerit“), in: Codicis Iustiniani Libri XII, Lyon 1604, Sp. 527 f., online verfügbar unter: https://iiif.lib.harvard.edu/manifests/view/drs:427005513$313i [Zugriff: 25.7. 2022]. 27 D. 17, 2, 76, in: Digesta Iustiniani Augusti (Anm. 25), S. 511. Vgl. zur Stelle auch Lehne-Gstreinthaler: Schiedsgerichtsbarkeit (Anm. 20), S. 156. 28 Fumurescu: Compromise (Anm. 11), S. 65. 29 S. hierzu und zum Folgenden Karl S. Bader: Arbiter arbitrator seu amicabilis compositor. Zur Verbreitung einer kanonistischen Formel in Gebieten nördlich der Alpen. In: Zeitschrift der SavignyStiftung für Rechtsgeschichte. Kanonistische Abteilung 46 (1960), S. 239–276, hier S. 272–276; Ziegler:
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einen Schiedsrichter, bezog sich allerdings anders als der Terminus arbiter nicht auf eine Person, die einen Schiedsspruch fällte, der rechtlichen Normen folgte.Vielmehr wurde der arbitrator stärker mit einem formlosen Vorgehen in Verbindung gebracht, das in eine amicabilis compositio mündete, den Vertragscharakter eines compromissum betonte und die Tätigkeit des Schiedsrichters als transactio bewertete. Für Rolandinus Passagerii bestand hier durchaus die Möglichkeit, aus diesem Vorgang an ein Gericht zu appellieren – gegen die Entscheidung des arbiter hingegen nicht.³⁰ Um der Vielfalt der Verfahrensgänge, die die unterschiedlichen Bezeichnungen für Schiedsrichter repräsentierten, gerecht zu werden, wählte man in den Rechtskommentaren und in den Schriften der ars notariae eine formelhafte Wendung. Namentlich in den beispielhaft inserierten Instrumenten, die als Anschauungsmaterial für die Durchführung und Verschriftlichung eines compromissum dienen sollten, nutzte man häufig das Formular arbiter, arbitrator seu amicabilis compositor, um den Schiedsrichter als zentrale Figur des compromissum zu bezeichnen – was eben auch als Verweis auf dessen unterschiedliche Handlungsmöglichkeiten zu verstehen war.³¹ Übergeordnetes Ziel der skizzierten Bemühungen war es, unter Berücksichtigung des römischen Rechts und seiner Autorität gangbare Möglichkeiten zur problemlosen Konfliktlösung zu schaffen. Verantwortlich dafür war auch das Selbstverständnis der Mitglieder des Juristenstandes und des Notariats als Angehörige einer städtischen Gemeinschaft. Diese wurde von ihren Mitgliedern als Rechts- und Friedensgemeinschaft betrachtet.³² Und auch wenn man der Auffassung eines Arbiter (Anm. 24), S. 378–381. Vgl. zur Unterscheidung arbiter – arbitrator auch Storti Storchi: Compromesso (Anm. 10), bes. S. 365–368 und S. 372–376; ferner Krause: Entwicklung (Anm. 23), S. 53; Augustine Thompson: Revival Preachers and Politics in Thirteenth-Century Italy. The Great Devotion of 1233. Oxford 1992 (ND Eugene 2010), S. 163. Zum Vertragscharakter der Vereinbarung, die aus einem compromissum resultierte, s. auch Gaines Post: Plena Potestas and Consent in Medieval Assemblies. A Study in Romano-Canonical Procedure and the Rise of Representation, 1150–1325. In: Traditio 1 (1943), S. 355–408, hier S. 366 (mit Anm. 11). 30 Summa totius artis notariae (Anm. 5), fol. 156v–157r. Vgl. dazu auch Krause: Entwicklung (Anm. 23), S. 54. 31 Zu dieser Formel s. Summa totius artis notariae (Anm. 5), fol. 155v und fol. 157v; vgl. auch Ziegler: Arbiter (Anm. 24), S. 381; Bader: Arbiter (Anm. 29), bes. S. 274; ferner auch Krause: Entwicklung (Anm. 23), S. 53. 32 Hagen Keller: „Kommune“: Städtische Selbstregierung und mittelalterliche „Volksherrschaft“ im Spiegel italienischer Wahlverfahren des 12.–14. Jahrhunderts. In: Person und Gemeinschaft im Mittelalter. Festschrift für Karl Schmid zu seinem fünfundsechzigsten Geburtstag. Hrsg. von Gerd Althoff [u. a.]. Sigmaringen 1988, S. 573–616, hier S. 579 f.; ders.: Die Entstehung der italienischen Stadtkommunen als Problem der Sozialgeschichte. In: Frühmittelalterliche Studien 10 (1976), S. 169– 211, hier S. 193 und S. 204 f.
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möglichen Zusammenhangs zwischen der Gottesfriedensbewegung und der Etablierung von Kommunen in den oberitalienischen Städten nicht folgen möchte, wird die Verbindung zwischen dem angestrebten Zusammenhalt der Gemeinschaft und einem Recht, das Frieden unter ihren Mitgliedern stiften sollte, mehr als deutlich.³³ Wo wie in den Kommunen Gemeinsamkeit immer wieder eingefordert wurde, lag es nahe, Wege zur gütlichen, außergerichtlichen Konfliktbeilegung zu beschreiten, wie sie ein compromissum römischer Prägung anbot, statt den gerichtlichen Weg zu suchen.³⁴ Um des Friedens innerhalb der Gemeinschaft willen sollte, so die Vorstellung, das Beharren auf eigenen Positionen und Rechten zurückstehen, wo dies möglich war; damit sollte die Eintracht innerhalb der Stadtmauern aufrechterhalten werden. Um noch einmal daran zu erinnern: Für Rolandinus Passagerii war compromissum ein Synonym für pax und concordia, und ebenso sah er den individuellen Verzicht auf weiterreichende Ansprüche vor der Entscheidung des Schiedsrichters in die rechtlichen Formeln des Verfahrens bereits eingeschrieben.³⁵ Ein Konzept des römischen Rechts wie das des compromissum mit seiner Verbindlichkeit fiel in dieser Vorstellungswelt auf fruchtbaren Boden.
III Das compromissum und Wahlen in Kommunen und Kirche Veranschaulichen lassen sich die konkreten Auswirkungen dieser Gemengelage von mentalitätsgeschichtlichen Voraussetzungen, dem konkreten Verlangen nach Frieden innerhalb einer Gemeinschaft wie einer Kommune und der Autorität des Rechts im Zusammenhang mit Wahlen zu wichtigen Ämtern. Denn gerade in ihnen spiegelt sich, wie die Forschung im Zuge der Analyse von Wahlverfahren in einzelnen italienischen Städten und ihrer historischen Entwicklung herausgearbeitet hat, das zeitgenössische Gemeinschaftsverständnis und sein Wandel in besonderem Maße wider.
33 Zur These s. Keller: Entstehung (Anm. 32), S. 194–198 und S. 204 f.; vgl. auch ders.: „Kommune“ (Anm. 32), S. 584; skeptisch hingegen Knut Schulz: „Denn sie lieben die Freiheit so sehr …“. Kommunale Aufstände und Entstehung des europäischen Bürgertums im Hochmittelalter. Darmstadt 2 1995, S. 13 und S. 29. 34 S. dazu Keller: Entstehung (Anm. 32), S. 194. 35 Zum Zusammenhang mit der Friedensidee s. Katherine Ludwig Jansen: Peace and Penance in Late Medieval Italy. Princeton/Oxford 2018, S. 101; Kiril Petkov: The Kiss of Peace: Ritual, Self, and Society in the High and Late Medieval West. Leiden/Boston 2003 (Cultures, Beliefs, and Traditions 17), S. 84.
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Die Wahl war in den italienischen Kommunen des 13. Jahrhunderts ein beinahe alltäglicher Vorgang. In Bologna waren Kalkulationen zufolge am Ende der 1280er in jedem Jahr etwa 1800 Funktionsträger neu zu wählen.³⁶ Neben den Vorstehern der zahlreich gewordenen städtischen Behörden mussten zudem die Notare bestimmt werden.³⁷ Unter den zu besetzenden Ämtern waren für Angehörige der kommunalen Oberschicht vor allem die höherrangigen Positionen interessant. Dabei ging es nicht nur um materielle Interessen: Spitzenämter wie die der Konsuln als den Führungspersonen in der Stadt versprachen ihrem Inhaber eine Machtfülle, die sich ausbauen, vor allem aber auf die Begünstigung weiterer Personen wie etwa Angehörige der eigenen Familie ausdehnen ließ. Um eben dies zu verhindern und die Ambitionen einzelner Individuen oder Gruppen in der Stadt generell einzuhegen, wurde die Besetzung der Ämter in den städtischen Gemeinschaften durch Wahl vollzogen.³⁸ Ein spezielles Verfahren sollte dabei sicherstellen, dass keine der Positionen durch die Anbindung eines Kandidaten an eine Partei und deren Interessen besetzt würde.³⁹ Aus diesem Grund zog man Wahlmänner heran, die ihrerseits durch andere, vorher ausgewählte Elektoren bestimmt worden sein konnten. Die jeweils ausgewählten Personen galten als Repräsentanten der städtischen Gesamtgemeinde. Ihr Votum war für deren Mitglieder bindend, das heißt, die Wahl wurde nicht als Vorschlag verstanden, der durch ein anderes Gremium oder gar die Bewohner der Kommune entschieden werden konnte. Erkennbar schlug sich darin die Idee des Verzichts nieder, die schon im Zusammenhang mit der Konfliktlösung durch das Kompromissverfahren in den Kommentaren zum römischen Recht und in der ars notariae des 13. Jahrhunderts begegnete. Hinsichtlich der letzten Entscheidung 36 Hagen Keller: Wahlformen und Gemeinschaftsverständnis in den italienischen Stadtkommunen (12./14. Jahrhundert). In: Wahlen und Wählen im Mittelalter. Hrsg. von Reinhard Schneider, Harald Zimmermann. Sigmaringen 1990 (Vorträge und Forschungen 37), S. 345–374, hier S. 345; Fumurescu: Compromise (Anm. 11), S. 69. 37 Zum Wahlverfahren durch das Los, das bei Notaren in oberitalienischen Städten im 13. Jahrhundert zur Anwendung kam, s. Keller: Wahlformen (Anm. 36), S. 364 f. und S. 367. 38 Zu diesem Aspekt s. Keller: „Kommune“ (Anm. 32), S. 587 f. 39 Hierzu und zum Folgenden s. Alfred von Wretschko: Die Electio communis bei den kirchlichen Wahlen im Mittelalter. In. Deutsche Zeitschrift für Kirchenrecht 11 (1902), S. 321–392; Werner Maleczek: Abstimmungsarten. Wie kommt man zu einem vernünftigen Wahlergebnis? In: Wahlen und Wählen im Mittelalter. Hrsg. von Reinhard Schneider, Harald Zimmermann. Sigmaringen 1990 (Vorträge und Forschungen 37), S. 79–134, bes. S. 84 f.; zum entsprechenden Verfahren auf der weltlichen Seite s. Hagen Keller: Schwäbische Herzöge als Thronbewerber: Hermann II. (1002), Rudolf von Rheinfelden (1077), Friedrich von Staufen (1125). Zur Entwicklung von Reichsidee und Fürstenverantwortung, Wahlverständnis und Wahlverfahren im 11. und 12. Jahrhundert. In: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 130 (1982), S. 123–162, hier S. 154–156; ders.: „Kommune“ (Anm. 32), S. 588–591; ders.: Entstehung (Anm. 32), S. 179 f. und S. 209 mit Anm. 177.
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traten alle Mitglieder der Gemeinde von ihrem Mitspracherecht zurück. Sie überließen den Wahlmännern ihre Stimme – und verpflichteten sich dazu, ihr Votum zu akzeptieren.⁴⁰ Eine Bedingung hierfür gab es allerdings: Die Wahl musste durch die dazu bestimmten Repräsentanten der Gemeinde einhellig vollzogen werden. In der Einmütigkeit der Wahlmänner sollte sich die Einheitlichkeit des Willens manifestieren, die wiederum sinnbildlich für das gemeinschaftliche Handeln aller Mitglieder der Gesamtgemeinde stand.⁴¹ Neben dieser ideellen Seite besaß das Verfahren auch einen praktischen Nutzen. Denn damit wurden Parteienstreit und Zerrissenheit innerhalb der Gemeinschaft vermieden, die durch eine zwiespältige Wahl hervorgerufen worden wären. Das skizzierte Prozedere lässt sich seit der Mitte des 12. Jahrhunderts bei der Erhebung von Konsuln in den italienischen Städten nachweisen. Seinen Ursprung hatte es allerdings im kirchlichen Bereich, wo es schon um 1110/1120 begegnet.⁴² Von hier übernahm man mit dem Konzept der Ämterbesetzung durch ein Gremium von Wahlmännern in den Städten auch die Vorgabe, dass diese einträchtig zu erfolgen habe. Dieser Grundsatz der unanimitas bei Wahlen galt bereits seit Jahrhunderten in der Kirche.⁴³ In der Vorstellung der Zeitgenossen schlug sich in der Einmütigkeit der Wille Gottes nieder, und sie allein garantierte eine breite Akzeptanz des Wahlergebnisses, die über den engeren Kreis der Wahlmänner hinausreichte.
40 Keller: „Kommune“ (Anm. 32), S. 590; vgl. auch von Wretschko: Electio communis (Anm. 39), S. 331 f. 41 Keller: „Kommune“ (Anm. 32), S. 589; vgl. auch von Wretschko: Electio communis (Anm. 39), S. 380. 42 Zu den ersten Fällen s. von Wretschko: Electio communis (Anm. 39), S. 327 f. mit Anm. 1 auf S. 328; Keller: Herzöge (Anm. 39), S. 154 f.; ders.: Entstehung (Anm. 32), S. 209; ders.: „Kommune“ (Anm. 32), S. 588. Vgl. aber auch die Ausführungen von Paul Schmid: Der Begriff der kanonischen Wahl in den Anfängen des Investiturstreits. Stuttgart 1926, S. 50, der auf ältere Vorstufen verweist und diese – avant la lettre – als „Kompromißwahlen“ (S. 51) bezeichnet; vgl. im Anschluss an ihn auch die Wortwahl in der jüngeren Forschungsliteratur, die ebenfalls von Kompromisswahlen spricht. Durch die Rückprojektion des Begriffes auf frühere Wahlverfahren wird allerdings der Blick auf die Entwicklung verstellt, die im 12. Jahrhundert das römische compromissum mit der electio durch Wahlmänner und damit die verfahrensrechtliche Grundlage einer Vereinbarung zwischen zwei Streitparteien und das Prozedere zur Besetzung von Ämtern miteinander verschränkte. 43 S. zur unanimitas im kirchlichen Bereich Klaus Ganzer: Unanimitas, maioritas, pars sanior. Zur repräsentativen Willensbildung von Gemeinschaften in der kirchlichen Rechtsgeschichte. Stuttgart 2000 (Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz. Abhandlungen der Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Klasse 9), bes. S. 5; Maleczek: Abstimmungsarten (Anm. 39), S. 81–88; auch Paolo Grossi: Unanimitas. Alle origini del concetto di persona giuridica nel diritto canonico. In: Annali di Storia del Diritto 2 (1958), S. 229–331, bes. S. 256–280; von Wretschko: Electio communis (Anm. 39), S. 339 f. und S. 376–378.
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Die Voraussetzungen einer erfolgreichen Wahl wie die verlangte Einhelligkeit, aber auch einzelne Elemente des Wahlverfahrens selbst begegnen auch im Zusammenhang mit Verfahren per compromissum. In beiden Fällen, bei Wahlen und bei Verfahren per compromissum, wurden Entscheidungsbefugnisse delegiert, und am Ende des jeweiligen Prozederes sollte idealerweise ein einhellig erzieltes Ergebnis stehen. Es überrascht daher nicht, dass die Idee der Übertragung von Wahlkompetenzen auf ausgewählte Personen, die auch aus der Gruppe der Wahlmänner stammen konnten, mit der des compromissum verschränkt wurde. Offiziell sanktioniert wurde das Verfahren über ausgewählte Personen von der Spitze der Amtskirche, dem Papsttum, freilich erst nach der Wende zum 13. Jahrhundert. Auf dem vierten Laterankonzil des Jahres 1215 ließ Papst Innocenz III. (1198–1216) allein drei Wahlformen für Kirchenämter zu, darunter auch die Erhebung über Wahlmänner. In diesem Fall solle, wie im entsprechenden Konzilsbeschluss festgehalten wurde, die Macht zu wählen (potestas eligendi) geeigneten Männern übertragen werden, damit diese in Vertretung aller der verwitweten Kirche einen Hirten geben.⁴⁴ Fast vier Jahrzehnte später, als Laurentius von Somercote 1254 seinen Traktat über die Bischofswahl verfasste, war der Konzilskanon mit seinen Regeln bereits zur festen Größe bei der Durchführung kirchlicher Wahlverfahren geworden. So verwies der päpstliche Subdiakon und Kanoniker von Chichester in einem Mustertext, der als Beispiel für die Dokumentation der Bestellung von Wahlmännern dienen sollte, ausdrücklich auf den Erlass des Jahres 1215.⁴⁵ In diesem Textentwurf – und in weiteren zum Ablauf der Wahl per formam compromissi – griff er dabei auch die Formulierung auf, dass die Wahlmänner, denen die Macht (potestas) dazu übertragen worden sei, „der verwitweten Kirche von Chichester aus ihrem Schoß einen neuen Hirten“ geben sollten.⁴⁶
44 Concilium Lateranense IV a. 1215 c. 24: […] vel saltem eligendi potestas aliquibus viris idoneis committatur, qui vice omnium ecclesiae viduatae provideant de pastore […]; Conciliorum Oecumenicorum Decreta. Hrsg. von Giuseppe Alberigo [u. a.], Bologna 31973, S. 246 f., hier S. 246 (= X 1, 6, 42, in: Corpus Iuris Canonici [Anm. 24], Sp. 88 f., das Zitat Sp. 89). Vgl. dazu Maleczek: Abstimmungsarten (Anm. 39), S. 109; Ganzer: Unanimitas (Anm. 43), S. 11; Schmid: Begriff (Anm. 42), S. 49; Fumurescu: Compromise (Anm. 11), S. 71; Günther Wassilowsky: Werte- und Verfahrenswandel bei den Papstwahlen in Mittelalter und Früher Neuzeit. In: Technik und Symbolik vormoderner Wahlverfahren. Hrsg. von Christoph Dartmann, dems., Thomas Weller. München 2010 (Historische Zeitschrift Beihefte Neue Folge 52), S. 139–182, hier S. 146 f. 45 Traktat des Laurentius von Somercote (Anm. 1), S. 37 mit der Nennung der constitutio generalis concilii „Quia propter“. 46 Traktat des Laurentius von Somercote (Anm. 1), S. 37: […] quibus unanimiter potestatem contulimus, ut omnes vel maior pars eorum per electionem vel postulationem dummodo Cicestrensis ecclesiae de gremio provideant viduatae ecclesiae de pastore […]; vgl. ebd., S. 38: […] per electionem vel
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Die wörtlichen Anklänge an den Beschluss des Laterankonzils sind offensichtlich. Wie im 12. Jahrhundert noch üblich, wurde im Text zugleich auch die Einhelligkeit der Wahl betont: Einmütig (unanimiter) sollte den Wahlmännern die Macht zu wählen übertragen werden (die potestas eligendi des Kanons des Laterankonzils).⁴⁷ Einstimmig konnte auch das Votum der Wahlmänner selbst ausfallen.⁴⁸ Neben diesem idealen Fall zog Laurentius aber noch eine andere Möglichkeit in Betracht: Dass es nur eine Mehrheit der Wähler sein könnte, die für eine bestimmte Person als neuen Bischof votierte. Die Variante beschäftigte ihn offenbar so sehr, dass er gleich zu Beginn seiner Erläuterung zur Kompromisswahl zu einer ungeraden Zahl von Wahlmännern riet, auf die sich aber – wie in anderen Fällen auch – alle potentiellen Wähler einstimmig einigen müssten.⁴⁹ Laurentius rechnete also durchaus mit Dissens selbst unter den zum compromissum bestellten Wahlmännern. Tatsächlich waren Streitigkeiten selbst unter den Wahlmännern, die von Laurentius auch als compromissarii bezeichnet wurden, eher die Regel; die einmütige Entscheidung bildete die Ausnahme. Wie im Fall der Schiedsgerichtsbarkeit in den Städten und ihrer Reflexion in den Schriften der ars notariae trugen daher Autoren wie Laurentius von Somercote in ihren Überlegungen zur Kompromisswahl diesen Realitäten Rechnung, wenn sie auch eine Mehrheitsentscheidung der Wahlmänner in ihre Überlegungen einbezogen.⁵⁰ Das Majoritätsprinzip hatte nach seinem zwischenzeitlichen Verschwinden im 12. Jahrhundert wieder in kirchlichen Wahlverfahren Einzug gehalten; auch bei kommunalen Abstimmungen lässt es sich ab dieser Zeit nachweisen.⁵¹ Die Entwicklung hin zur Mehrheitsentscheidung war um 1250
postulationem de gremio Cicestrensis ecclesiae providendi viduatae ecclesiae de pastore […]. S. auch ebd., S. 39: […] quibus unanimiter potestatem contulimus, ut omnes vel maior pars eorum per postulationem vel electionem dummodo de gremio ecclesiae Cicestrensis provideant viduatae ecclesiae de pastore […]. Zur Bezeichnung als Kompromissverfahren s. ebd., S. 31 (de formis compromissi) und S. 36 (De electione per formam compromissi). 47 S. die Zitate oben in Anm. 44 und 46. 48 Traktat des Laurentius von Somercote (Anm. 1), S. 37. 49 Traktat des Laurentius von Somercote (Anm. 1), S. 36. 50 Traktat des Laurentius von Somercote (Anm. 1), S. 37: […] omnes vel maior pars […] der Kompromissare konnten sich auf einen Kandidaten einigen. 51 Zu dieser Entwicklung s. Maleczek: Abstimmungsarten (Anm. 39), S. 103–107; Ganzer: Unanimitas (Anm. 43), S. 6, S. 10–12 und S. 27; Schmid, Begriff (Anm. 42), S. 52–54; Keller: Entstehung (Anm. 32), S. 208 f.; vgl. allgemein auch Otto von Gierke: Über die Geschichte des Majoritätsprinzipes. In: Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reiche 39 (1915), S. 565–587; zuletzt ferner Hans-Jürgen Becker: Das Mehrheitsprinzip bei kirchlichen Wahlen. In: Annuarium Historiae Conciliorum 49 (2018/19) S. 162–195.
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also noch jung, doch schon bei Laurentius von Somercote ist zu erkennen, dass sie zu seiner Zeit bereits zum Abschluss gekommen war. Mit der Möglichkeit, ein Amt durch eine Mehrheitsentscheidung zu besetzen, schien allerdings der Grundsatz der Einhelligkeit gefährdet. Dies galt für allgemeine Abstimmungen, erst recht aber für eine Wahl per compromissum. Hier wie dort stellte sich nach einem Ergebnis, das durch Majoritätsentscheidung erzielt worden war, die Frage, wie man mit den Gegenstimmen der unterlegenen Minderheit umging. Noch Papst Alexander III. (1159–1181) hatte unmittelbar nach seiner strittigen Wahl im Jahr 1159 die kleine Minderheit von drei Kardinälen, die nicht für ihn votiert hatten, einfach als unbedeutend deklariert, weil alle anderen sich concorditer et unanimiter auf ihn geeinigt hatten.⁵² Im 13. Jahrhundert genügte eine solche Erklärung offenkundig nicht mehr. Im Bereich der Bischofswahlen finden sich nun mehrere Beispiele, die belegen, dass man die Angehörigen der Minderheit zum Beitritt zur Mehrheitsentscheidung verpflichtete. Dies lässt sich auch hinsichtlich der Wahl per compromissum in den Kommunen nachweisen: Die minorisierten Wahlmänner (und nicht nur die größere Stadtgemeinde) mussten sich dem Votum ihrer Gegner anschließen.⁵³ In der praktischen Umsetzung wurde der Dissens, der zuvor aufgetreten war, überdies durch die sogenannte electio communis kaschiert: Einer der Kompromissare vollzog die Wahl, indem er den Kandidaten beim Namen nannte und ihm vor den anderen Wählern seine Stimme gab.⁵⁴ Danach ergab sich für alle anderen Beteiligten und eben auch für die dissentierenden Teile der Wählerschaft die Gelegenheit, sich dem Votum anzuschließen. Auf diese Weise konnte das angestrebte Ideal, die unanimitas, auch Außenstehenden sinnfällig vor Augen geführt und Konflikte verdeckt werden. Es ging dabei um nichts weniger als um die allseits erkennbare Demonstration, dass bei Erhebungen in kommunale Ämter keine Parteilichkeiten oder partikulare Interessen eine Rolle gespielt hatten; im Fall der kirchlichen Wahlen galt es, den Gläubigen deutlich zu machen, dass sich in der Erhebung eines Geistlichen in sein Amt der Wille Gottes niedergeschlagen hatte. Bedeutsam war dies insbesondere für die Wahl der Bischöfe, die als Hirten ihrer Gemeinde fungierten – und unter ihnen vor allem für den Bischof von Rom. Vor allem an der Erhebung des Stellvertreters Christi durfte nicht der Makel des Zwistes haften. Es drohten Zweifel an seiner Legitimität und Kirchenspaltung. Gerade die Papstwahlen des 13. Jahrhunderts, bei denen es – wie bereits erwähnt – insbesondere auf das Erreichen von Einmütigkeit ankam, bieten interes52 S. dazu Maleczek: Abstimmungsarten (Anm. 39), S. 96 f. mit dem dort wiedergegebenen Zitat. 53 Keller: „Kommune“ (Anm. 32), S. 589. 54 Hierzu und zum Folgenden s. Maleczek: Abstimmungsarten (Anm. 39), S. 84 f.; Keller: „Kommune“ (Anm. 32), S. 589.
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sante Einblicke, die zeigen, auf welche Weise man das Kompromisswahlverfahren selbst instrumentalisierte, um widerstreitende Personen und ihre Interessen gegeneinander auszuspielen und Konkurrenten zu einträchtigem Handeln zu zwingen. Denn mehrere dieser Wahlen in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts legen nahe, dass die Kardinäle ausgerechnet diejenigen aus ihrem Kreis zu Kompromissaren bestellten, deren Ambitionen auf das Amt besonders stark ausgeprägt waren und die – etwa über die machtpolitischen Interessen ihrer Familien – auch jenseits der römischen Kurie in direkter Konkurrenz zueinander standen. So wurden bei der Wahl Clemens’ IV. (1265–1268) im Jahr 1265 einem zeitgenössischen Bericht zufolge zwei Wahlmänner bestimmt – schon die gerade Zahl fällt auf, weil sie eigentlich nur ein einstimmiges Ergebnis der Beratungen zuließ.⁵⁵ Die beiden Kardinäle sollen in starkem Gegensatz zueinander gestanden haben. Möglicherweise strebten beide danach, den Papstthron zu besteigen, doch vermochte keiner der Rivalen eine Mehrheit der Kardinäle auf seine Seite zu ziehen. Was lag in dieser verfahrenen Situation näher, als den Konkurrenten selbst die Auswahl des neuen Papstes zu übertragen? Mit der Auslagerung des Wahlverfahrens auf ihre Stimmen erzeugte man ein Patt. Es überrascht vor diesem Hintergrund nicht, dass sich die beiden – recht zügig übrigens – auf einen Kandidaten einigen konnten. Ein ähnlicher Vorgang könnte sich bereits vier Jahre zuvor, 1261, bei der Wahl Urbans IV. (1261–1264) abgespielt haben. Auch er wurde durch zwei kardinalizische Kompromissare gewählt; überdies war er bei seiner Thronbesteigung kein Angehöriger des Kardinalskollegiums, entstammte also nicht dem Kreis der Wähler selbst. Im Jahr 1271 wiederholte sich das Prozedere einer Kompromisswahl, wenn auch unter komplexeren Voraussetzungen.⁵⁶ Nun waren es sechs Kardinäle, die von ihren Kollegen zu Kompromissaren bestimmt worden waren und die sich auf einen Kandidaten einigen sollten. Sie erhielten allerdings von den übrigen Angehörigen des Kardinalskollegiums klare Vorgaben zur Abstimmung: Fünf von ihnen sollten eine Person aus ihrer Mitte bestimmen – oder alle zusammen einen neuen Papst außerhalb ihres kleinen Kreises finden. Tatsächlich konnten sich die sechs Wähler innerhalb kurzer Zeit verständigen. Erneut fiel dabei die Wahl auf einen auswärtigen Geistlichen, den Archidiakon von Lüttich, Papst Gregor X. (1271–1276). Resümierend lässt sich feststellen, dass das Kompromisswahlverfahren in der Papstkirche mit Entsagung verknüpft war. Sowohl der nachträgliche Beitritt zur Entscheidung, die von Kompromissaren getroffen worden war, mehr aber noch die forcierte Beteiligung daran schlossen Verzichtleistungen der Beteiligten ein. Ein55 S. hierzu und zum Folgenden Andreas Fischer: Kardinäle im Konklave. Die lange Sedisvakanz der Jahre 1268 bis 1271. Tübingen 2008 (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 118), S. 424 f. 56 S. hierzu und zum Folgenden Fischer: Kardinäle (Anm. 55), S. 406–408 und S. 421–432.
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zelne Wähler nahmen von der Durchsetzung persönlicher Interessen Abstand. Dass man sie dazu zu nötigen vermochte, sagt etwas aus über das compromissum als kirchenrechtlich definiertes Verfahren, mehr aber noch über die Idee der Einmütigkeit, die sich darin niederschlug.
IV Zusammenfassung Betrachtet man das compromissum im römischen Recht, in der ars notariae und im Kirchenrecht des 13. Jahrhunderts, sieht man sich einem variantenreichen Phänomen gegenüber. Der Begriff beschreibt zunächst einen Verfahrensweg. Die Zahl der Kompromissare, die zur Entscheidung berufen wurden, schwankte: In Konflikten zwischen zwei Parteien einigte man sich auf einen, bei Wahlen wurden mehrere Personen, bevorzugt in ungerader Zahl, dazu bestellt. Das compromissum konnte in einen ordentlichen Gerichtsprozess münden oder aus diesem hervorgehen – das Ideal nach römischrechtlicher Vorstellung, die auch im Mittelalter als Autorität den Weg wies, war jedoch die gütliche Einigung auf außergerichtlichem Wege, mit strikter Akzeptanz des Schiedsspruches und ohne Möglichkeit der Einrede. Gemeinsam war den unterschiedlichen Verfahrensweisen per compromissum vor allem das Element des Verzichts. Dieser stellte den Beginn des Prozederes und dessen Gelingen sicher. Die Streitparteien entsagten späteren Anfechtungen des Urteils, die städtische Bevölkerung und die kirchlichen Vertreter als Wähler der Kompromissare dem Widerstand gegen ihr Votum; auch die Wahlmänner selbst beugten sich einer internen Mehrheitsentscheidung. Im Kern des compromissum lag die Selbstverpflichtung, eigene materielle Interessen oder persönliche Ambitionen auf ein Amt zurückzustellen und persönliche Ansprüche gegenüber anderen in die Hände Dritter zu legen. Dahinter stand die Vorstellung, dass das Individuum Abstand nehmen könne von seinen Anliegen oder deren Durchsetzung durch ein Gerichtsurteil. Es ging darum, die Gemeinschaft zu stärken, durch Vertrauen in den oder die Repräsentanten, die als Schiedsrichter bzw. Kompromissare oder Wahlmänner agierten, durch die Suche nach Ausgleich, gütlicher Einigung und einer zügigen Vergabe von Ämtern in einem Verfahren, das Rechtssicherheit garantierte. Das jeweilige Prozedere, das in den behandelten Texten mit der Bezeichnung compromissum versehen wurde, sollte ein friedliches Miteinander und die Kontinuität des Zusammenlebens im Geiste einer gottgewollten Einmütigkeit garantieren, in der divergierende Interessen zusammengeführt wurden. Damit besaß das Verfahren einen klar in die Zukunft und auf ein Ziel hin ausgerichteten Zweck. Ihm wohnte eine teleologische Komponente inne, die dazu geeignet ist zu erklären, weshalb sich im weiteren Verlauf die Bedeutung des Terminus compromissum vom Prozedere
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weg und hin zu dessen Resultat verschob. Niederschlag fand diese Entwicklung bereits im Zusammenhang mit den Überlegungen zur Umsetzbarkeit des Resultats eines compromissum, wie sie in den Ausführungen des Rolandinus Passagerii zur Strafbewehrung des Verfahrens begegnen. Darin wurde der Terminus nicht mehr allein auf den Ablauf des Verfahrens, sondern offenbar auch auf dessen Ergebnis bezogen. Ähnliches lässt sich im Wortgebrauch anderer schiedsrichterlicher Entscheidungen des 13. Jahrhunderts nachweisen. Die Ausdehnung des Verfahrens auf Wahlen und die Verwendung des Konzepts in der kirchlichen wie weltlichen Rechtssphäre im hohen Mittelalter trugen zweifellos dazu bei, die skizzierte Bedeutungsverschiebung zu verbreiten. Damit war der Weg zum modernen Verständnis des Kompromisses geebnet. Dass das compromissum im 13. Jahrhundert im semantischen Umfeld von pax, concordia und unanimitas lokalisiert wurde, veranschaulicht insgesamt, wie sehr man darin eine überindividuelle Größe sah. Für Stadt und Kirche galt gleichermaßen: In Verfahren und Ergebnis sollte das compromissum die Risiken des Zusammenlebens minimieren, Zweifel zerstreuen und für Akzeptanz sorgen. In der unsteten Lebenswelt des 13. Jahrhunderts erschien dies allein dem Willen Gottes zu entsprechen. Nicht nur aus rein irdischen Gründen versprach sich daher für Laurentius von Somercote, Rolandinus Passagerii und ihre Zeitgenossen der Verzicht vor der Entscheidung zu lohnen.
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Eindeutige Wege aus der Aporie: Strategien kaiserlichen Entscheidens in Byzanz Vorbemerkung Entscheiden bedeutet das Abwägen von Handlungsoptionen und die Suche nach einem besten Lösungsansatz. Mit einer Entscheidung sind bestenfalls alle Zweifel ausgeräumt und die Ausweglosigkeit beendet. Auch die griechischen Quellen des Mittelalters reflektieren die Macht, Nöte, Unmöglichkeiten und das Scheitern des Entscheidens. Nota bene: Es geht um den Weg zur Entscheidung, das Endprodukt, die als Entscheidung gekennzeichnete Handlungsanweisung, bzw. das Ergebnis werden hier hingegen nicht behandelt. Im Zentrum steht also – anders ausgedrückt – die Produktion einer Entscheidung in einem bestimmten Kontext unter bestimmten Voraussetzungen.¹ Die hier vorgeführten Bemerkungen speisen sich aus Beschreibungen von Vorgängen am byzantinischen Kaiserhof bzw. der administrativen Ebene, die im Sinne der kaiserlichen Zentralmacht zu agieren hat (Schwerpunkt 6.–12. Jahrhundert). Die Notwendigkeit, unablässig Entscheidungen herbeizuführen, war wie in anderen Machtzentren belastend, fordernd und folgenreich. Vielfach konnten Handlungsanweisungen jedoch an untergeordnete Entscheidungsträger delegiert oder nach einem ‚Handbuch‘ routinemäßig ausgeführt werden; doch blieben genügend Fälle übrig, die zu entscheiden dem Herrscher oblagen. Entscheiden tut jede und jeder, doch sind die Handlungen von Machthabern (und Regierungsverantwortlichen) im Vergleich zu untergeordneten Individuen für eine Gesellschaft folgenreicher, prägender und einprägsamer. Sowohl in der Vormoderne als auch in der Moderne wiegt die Last des Entscheidens schwer, letztendlich ist eine Person alleinig verantwortlich: Die Unterschrift oder ein Befehl besiegeln den Endpunkt des Entscheidens, schaffen gleichsam einen point of no Anmerkung: Diese Überlegungen erwuchsen aus dem SFB 1150 „Kulturen des Entscheidens“ (2015– 2019), dem DFG-Paketantrag „Kairos und Krisis: Strategien des Entscheidens im byzantinischen Militärwesen vom 6.–12. Jahrhundert“ 1036 (2021–2024) und aus einem Projekt am Historischen Kolleg in München (2022–2023). 1 Ulrich Pfister: Einleitung. In: Kulturen des Entscheidens. Narrative – Praktiken – Ressourcen. Hrsg. von dems. Göttingen 2019 (Kulturen des Entscheidens 1), S. 11–34. https://doi.org/10.1515/9783110792737-011
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return und verknüpfen den Entscheider mit der Entscheidung, deren Folgen er zu akzeptieren hat. Es ist nicht verwunderlich, dass das rechte und richtige Entscheiden bei der Stilisierung eines guten Herrschers eine Rolle spielt.² Die Dringlichkeit, gut und bedacht zu entscheiden und zu handeln, gehört zum thematischen Grundinventar paränetischer Texte.³ Die Einsamkeit des Entscheiders ist auch in vormodernen Quellen zu greifen; die durchwachten Nächte oder die ständige Wachsamkeit sind nicht nur am byzantinischen Kaiserhof, sondern bis heute Topoi des/der verantwortungsvollen Lenkers/Lenkerin. Das Bild Justinians, der durch den nächtlichen Palast kopflos streift, mag eine Brechung dieser Vorstellung sein.⁴ Verzweifelte und ausweglose Situationen können sich jedoch auch im Schlaf auflösen, denn manchmal bieten Träume Inspirationen und Wege aus der Aporie.⁵ Doch kann und soll der solitärische Entscheider/die Entscheiderin auch Ressourcen in seine/ihre Kammer holen.⁶ Der Rahmen für eine derartige Unterstützung
2 Ein Beispiel unter vielen: Leon Diakonos schreibt bei der Belagerung einer Stadt über Kaiser Ioannes I. Tzimiskes (969–976): „Der tatkräftige Kaiser aber, dessen Fähigkeit, auch in scheinbar ausweglosen Lagen Mittel und Wege zu finden, erstaunlich war, ging herum und versuchte die Stelle ausfindig zu machen, wo die Festung am leichtesten anzugreifen sei […]“, s. Franz Loretto: Nikephoros Phokas „Der bleiche Tod der Sarazenen“ und Johannes Tzimiskes. Die Zeit von 959 bis 976 in der Darstellung des Leon Diakonos. Graz/Wien/Köln 1961 (Byzantinische Geschichtsschreiber 10), S. 54–55; Leonis Diaconi Caloensis historiae libri decem. Hrsg. von C. B. Hase. Bonn 1828 (Corpus scriptorum historiae byzantinae), S. 52: Ὁ δὲ βασιλεὺς, δραστήριός τε ὢν καὶ δεινὸς ἐν ἀμηχάνοις πορίσασθαι μηχανὴν, περιελθὼν καὶ καταστοχασάμενος τὸν χῶρον, ᾗπερ ἦν εὐεπιχείρητον, […]. 3 Michael Grünbart: Anleitungen zum guten Regieren und kaiserlichen Entscheiden in Byzanz. In: Die gute Regierung. Fürstenspiegel in Religionen und Kulturen. Hrsg. von Mariano Delgado. Fribourg 2017 (Studien zur christlichen Religions- und Kulturgeschichte 23), S. 62–77. Paränetische Texte werden normalerweise als Fürstenspiegel bezeichnet, welcher Terminus für den byzantinischen Kosmos eher zu vermeiden ist. 4 Prokop: Anekdota. Geheimgeschichte des Kaiserhofs von Byzanz. Griechisch–deutsch. Übers. und hrsg. von Otto Veh. Mit Erläuterungen, einer Einführung und Literaturhinweisen von Mischa Meier und Hartmut Leppin. Berlin/Boston 2011 (Sammlung Tusculum), 12.20 ff. Der kopflose Herrscher wirkt natürlich dämonisch, vgl. Berthold Rubin: Der Fürst der Dämonen: Ein Beitrag zur Interpretation von Prokops Anekdota. In: Byzantinische Zeitschrift 44 (1951), S. 469–481; Kajetan Gantar: Kaiser Justinian als kopfloser Dämon. In: Byzantinische Zeitschrift 54 (1961), S. 1–3, doch kann das Bild auch tiefgründiger verstanden werden. 5 Eine der bekanntesten Traum-Lösungen erfährt Kaiser Alexios I., welcher im Schlaf seine Beobachtungen des Tages verarbeitet und einen Ausweg vorgeschlagen bekommt, siehe Annae Comnenae Alexias. Hrsg. von Diether R. Reinsch, Athanasios Kambylis. Berlin/New York 2001 (Corpus fontium historiae Byzantinae 40/1–2 – Series Berolinensis), 5, 5.5. 6 Vgl. Michael Grünbart: Göttlicher Wink und Stimme von oben. Ressourcen des Entscheidens am byzantinischen Kaiserhof. In: Religion und Entscheiden: Historische und kulturwissenschaftliche Perspektiven. Hrsg. von Wolfram Drews, Ulrich Pfister, Martina Wagner-Egelhaaf. Würzburg 2018
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ist zumeist informell und nicht öffentlich. Darum kann man solche Denk- und Diskussionsräume nur schwer fassen. Berater und Beraterinnen befördern die Reflexion und Deliberation von anstehenden, zu lösenden bzw. entscheidenden Problemen. Wenn der Entscheidungsprozess abgeschlossen ist, kann das Ergebnis öffentlichkeitswirksam verkündet und inszeniert werden. Es ist nicht verwunderlich, dass sich nur in wenigen Bereichen des herrscherlichen Handelns Entscheidungsprozesse genauer untersuchen lassen, da sie keine schriftlichen Spuren hinterlassen haben. Exemplarisch kann das byzantinische Militärwesen betrachtet werden: Im Kontext dieses lebens- und überlebensnotwendigen Teils der Gesellschaft existieren sowohl normative als auch narrative Ressourcen, die einigermaßen die Dimensionen und Fährnisse des Entscheidens greifbar machen (dort findet man genügend Material zur sprachlichen Fassung des Phänomens). Entscheiden im militärischen Bereich zeichnet sich auch in der Vormoderne durch eine komplexe und so weit möglich gut geplante Vorgangsweise aus. Mehrere Parameter müssen in eine zielgerichtete Handlung miteinbezogen werden, wobei der Faktor Zeit in jeder Hinsicht der entscheidende ist.⁷ Im Folgenden sollen drei Aspekte dargelegt werden, welche das Tagungsthema aus byzantinischer Sicht ausloten sollen. Es wird um die Meinungsvielfalt und Entscheidungsoptionen, die Notwendigkeit des Konsensus, die Verifikation von Informationen sowie auf Zweifel begründeten Nachjustierungen von Entscheidungshandlungen gehen.
I Der optimale Weg aus der Aporie und die richtige Entscheidungsvorbereitung Das Bild des solitärischen Entscheiders ist omnipräsent, doch sind Entscheidungen nicht immer die Leistung eines einzelnen. Entscheidungsvorgänge in Machtzentren laufen komplexer ab, und es wird auch selten empfohlen, Entscheidungen alleine vorzubereiten, da die Gefahr der Unbedachtheit, der Unausgewogenheit oder des überhasteten Agierens besteht. Die meisten paränetischen Texte machen klar, dass Beratung und Erfahrung die wesentlichen Komponenten zur erfolgreichen Lösung (Münsteraner Arbeiten zu Religion und Politik in der Vormoderne und Moderne 17), S. 293–313; ders.: Nutzbringende Ressourcen bei kaiserlichem Entscheiden in Byzanz. In: Kulturen des Entscheidens: Narrative – Praktiken – Ressourcen. Hrsg. von Ulrich Pfister. Göttingen 2018 (Kulturen des Entscheidens 1), S. 269–286. 7 Michael Grünbart: Entscheiden und Militär in Byzanz. In: Militärisches Entscheiden. Voraussetzungen, Prozesse und Repräsentation einer sozialen Praxis von der Antike bis zur Gegenwart. Hrsg. von Martin Clauss, Christoph Nübel. Frankfurt a. M. 2020 (Krieg und Konflikt 9), S. 249–268.
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eines Problems darstellen. Unter diesen Hilfestellungen sind sowohl Personen als auch Wissensspeicher zu verstehen, welche dem Entscheider zur Verfügung standen.⁸ Sucht man nach Reflexionen über die Problematik des Entscheidens, dann wird man – wie erwähnt – am ehesten in militärtaktischen Quellen fündig.⁹ Zur Illustration gut geeignet ist eine Passage aus der Sylloge tacticorum, einer dem Kaiser Leon VI. (886–912) zugeschriebenen Schrift aus dem 10. Jahrhundert. Dort heißt es:¹⁰ (20) Darüber hinaus muss er (der Stratege) offen sein für Beratung, da der Stratege, bevor er etwas sagt oder tut, überlegen muss. Es ziemt sich für ihn nämlich nicht, etwas zu widerrufen, was getan oder gesagt wurde. Faule, beleidigende, verleumderische und einsichtslose Männer sollen gleicherweise ausgeschlossen werden von der Beratung, weil es niemals möglich ist, dass die Personen mit schlechtem Habitus zu besseren gewandelt werden.¹¹ (21) Der Stratege muss die fähigeren Männer als Bevollmächtigte einsetzen. Diese nehmen an jeder Beratung teil, und sie teilen ihre Einschätzung/Urteil mit ihm. Deswegen pflichten sie ihm bei. Wenn aber einer der Anführer/Offiziere eine abweichende Meinung hat, muss sich der Stratege mit den Offizieren beraten, und dann muss er bei sich die Angelegenheiten, die mit zwei oder drei ihm sehr vertrauten Personen diskutiert wurden, bestätigen; die bessere Meinung wählt er aus und behält sie (bei sich) unausgeführt bis zum richtigen Zeitpunkt.¹² (22) Wenn eine Entscheidung ohne Beistand (von anderen) und alleine fällt, dann bewährt sie sich üblicherweise aufgrund ihres privaten Charakters überwiegend nicht genauso wie eine
8 Vgl. Michael Grünbart (Hrsg.): Unterstützung bei herrscherlichem Entscheiden. Experten und ihr Wissen in transkultureller und komparativer Perspektive. Göttingen 2020 (Kulturen des Entscheidens 5). 9 Vgl. Philip Rance, Nicholas V. Sekunda (Hrsg.): Greek Taktika: Ancient Military Writing and its Heritage. Gdańsk 2017 (Akanthina Monograph Series 13); Philip Rance: The Ideal of the Roman General in Byzantium. The Reception of Onasander’s Strategikos in Byzantine Military Literature. In: Generalship in Ancient Greece, Rome and Byzantium. Hrsg. von Shaun Tougher, Richard Evans. Edinburgh 2022, S. 242–263. Aufschlußreich ist der Abschnitt 3 in The Taktika of Leo VI. Text, translation, and commentary. Hrsg. von George Dennis. Washington, D.C. 2010 (Corpus fontium historiae Byzantinae 49), S. 38–45 (Über das Planen). 10 Sylloge tacticorum quae olim „Inedita Leonis tactica“ dicebatur. Hrsg. von Alphonse Dain. Paris 1938. 11 Sylloge tacticorum (Anm. 10), S. 22–23 (I 20): η’. Συμβουλευτικὸν ἐπὶ τούτοις· καὶ γὰρ πρὸ τοῦ λέγειν ἢ πράττειν τι τὸν στρατηγὸν βουλεύεσθαι χρή· οὐδὲ γὰρ ἀνακαλέσασθαί τι τῶν πεπραγμένων ἢ λελεγμένων οἷόν τε ἔσται αὐτῷ. Τῆς δὲ βουλῆς ἀπέστωσαν ὁμοίως οἵ τε ἀνόητοι καὶ οἱ ψιθυροὶ καὶ διαβολεῖς καὶ κακογνώμωνες ἄνδρες· οὐδὲ γὰρ δύναται τοὺς ἐν ἕξει κακοῦ γενομένους μεθαρμοσθῆναί ποτε πρὸς τὸ κρεῖττον. 12 Sylloge tacticorum (Anm. 10), S. 23 (I 21): Συνέδροις δὲ δεῖ χρῆσθαι τοῖς κρείττοσιν, οἳ καὶ συμμεθέξουσι πάσης βουλῆς καὶ κοινωνήσουσι γνώμης αὐτῷ· οἳ τούτου γε εἵνεκα παραμαρτυροῦσιν αὐτῷ· ἢ καὶ ἐξ αὐτῶν τῶν ἡγεμόνων μετακεκλημένοις βουλεύεσθαι δεῖ πρῶτα μὲν μετὰ πάντων τῶν ἡγεμό-νων, εἶτα κατ’ ἰδίαν μετὰ τῶν οἰκειοτάτων δύο ἢ τριῶν κυροῦν τὰ βεβουλευμένα, τὴν δὲ κρείττονα γνώμην καθ’ ἑαυτὸν ἐπιλεξάμενον φυλάττειν ἀνέκφορον μέχρι καιροῦ τοῦ προσήκοντος.
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von vielen bestätigte Entscheidung, die denen Sicherheit und Bestimmtheit bringt, die sie gemacht haben.¹³ (23) Er (scil. der Stratege) darf freilich weder in seinem Denken so unflexibel sein wie (nur) in sich selbst zu vertrauen, noch so stur sein, dass es ihm unmöglich sei, etwas Besseres anzunehmen, durchzudenken oder mit anderen durchzusprechen. Es ist notwendig, dass so jemand entweder vielfältiges und ungewöhnliches tut, was allen gefällt und nicht ihm selbst, oder etwas (tut), das den anderen nicht gefällt, ihm aber und er, indem er sich dem Ganzen zuwendet, sich selbst und seine Leute mit größtem Übel umgibt. (Übersetzung M.G.)¹⁴
Aus dieser Passage wird die Herausforderung des Entscheidens deutlich: Zwar muss der Stratege (man kann hier auch ruhig Entscheidungsträger sagen) letztendlich alleine entscheiden, doch soll er den Weg zur Entscheidung nicht solitärisch gehen. Ein verantwortlicher Feldherr ist gut beraten, Experten zu konsultieren und anstehende Entscheidensfälle zu diskutieren. Die Auswahl der Personen soll klug und mit Bedacht vorgenommen worden sein, denn der Stratege muss ihnen vertrauen können. Bei Dissens empfiehlt es sich, die Meinungen abzustimmen; der Stratege soll abwägen und das Richtige wählen. Ganz entscheidend ist die Passage „die bessere Meinung wählt er aus und bewahrt sie (bei sich) unausgeführt (anekphoron) bis zum richtigen Zeitpunkt“. Es liegt in der Macht des Entscheiders, das Ergebnis, das ist die Entscheidung, richtig zu platzieren und passend kundzutun. Und wieder rückt der richtige Zeitpunkt ins Zentrum: Kairos ist der Moment, in dem sich entscheidet, ob eine Handlung ein gutes oder schlechtes Ergebnis bringt, wie der Entscheider wahrgenommen wird, wie er sich profiliert und wie er scheitert!¹⁵ Den richtigen und passenden Moment zu erkennen, ist das Glück oder Geschick des Entscheiders. Nicht nur auf der obersten Befehls- und Entscheidungsebene, auch auf breiter Basis ist ein Feldherr auf Experten und Fachleute angewiesen: Es beginnt schon bei der Planung der Marschroute, wo der Vortrupp den richtigen und sicheren Weg
13 Sylloge tacticorum (Anm. 10), S. 23 (I 22): Γνώμη γὰρ ἡ μὲν ἀνεπικούρητος καὶ μεμονωμένη πταίειν ὡς τὰ πολλὰ περὶ τὴν ἰδίαν εἴωθεν αἵρεσιν, ὥσπερ οὗν παρὰ πολλῶν κυρωθεῖσα τὸ ἀσφαλές τε καὶ βέβαιον τοῖς κεχρημένοις χαρίζεσθαι. 14 Sylloge tacticorum (Anm. 10), S. 23 (I 23): Οὔτε τοίνυν οὕτω ἄστατον τοῦτον εἶναι δεῖ τὴν διάνοιαν ὥστ’ αὐτὸν ἑαυτῷ ἀπιστεῖν, οὔτε μὲν οὕτως αὐθάδη ὡς μή τι καὶ παρ’ ἄλλοις κρεῖττον οἴεσθαι οἷόν τε νοηθῆναί τε καὶ εἰρῆσθαι. ᾿Aνάγκη γὰρ τὸν τοιοῦτον ἢ πᾶσι προσέχοντα καὶ μηδέποτε ἑαυτῷ πολλὰ καὶ ἀσύμφορα δρᾶν, ἢ τοῖς ἄλλοις μὲν οὐδαμῶς, ἑαυτῷ δὲ τὸ πᾶν ἀεὶ ἐπιτρέποντα κακοῖς ὅτι μεγίστοις ἑαυτὸν καὶ τοὺς σὺν αὐτῷ περιβαλεῖν. 15 Hansjoachim Andres: Der καιρός bei Prokop von Kaisareia. In: Millennium 14 (2017), S. 73–102. – Ein Miniexkurs sei gestattet: Ikonisch ist die Situation, als George W. Bush am Vormittag des 11. Septembers 2001 während eines Schulbesuchs in Sarasota minutenlang über die soeben empfangene Information nachdenkt, nicht weiß was tun und nach einer Entscheidung ringt.
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ausfindig macht.¹⁶ Der Stratege muss alles erfahren (durch Späher, Gefangene, Deserteure), um sich ein Bild von der Lage zu machen. Spionage und Informationsbeschaffung nehmen daher einen prominenten Platz in der taktischen Planung ein.¹⁷ Wenn der Stratege alles, das heißt das für ihn Vorselektierte und Relevante, gut weiß, dann bleibt er Herr der Lage, kann einen temporalen Ablauf entwickeln und die Zeitpunkte für sein Handeln überlegen und setzen.¹⁸
II Die Notwendigkeit der Verifikation Was bisher klar geworden sein sollte, ist, dass Information wesentlich den Prozess des Entscheidens lenkt und ermöglicht. Die Richtigkeit und Vertrauenswürdigkeit von Information stellen ein hohes Gut dar. Der Entscheider kann jedoch meistens nicht selbst prüfen, wie zuverlässig die Basis seines Entscheidens und Handelns ist, da oft zu wenig Zeit vorhanden und zu viele Anforderungen gleichzeitig zu bewältigen sind. Gelegentlich findet man Schutzmechanismen bzw. Versuche, Informationen zu verifizieren. Alles, was mit Dissens und Aporie zu tun hat, ist auch mit der Kontrolle von Informationen und Meinungen sowie Wissen verbunden. Alternative Faktendarstellungen können eine mächtige und unerwünschte Wirkung entfalten, und sie bedürfen einer fundierten Gegendarstellung, nicht nur in der Moderne. In den Jahrhunderten nach Christi Geburt kann ein interessantes Phänomen beobachtet werden: Es scheint zunehmend Bestrebungen zu geben, das zirkulie16 Dementsprechend ausgefeilt sind die Ausführungen zu Spähern und Kundschaftern in den militärischen Schriften. Siehe Das Strategikon des Maurikios. Einführung, Edition und Indices von George T. Dennis. Übersetzung von Ernst Gamillscheg. Wien 1981 (Corpus fontium historiae Byzantinae 17), S. 130–131 (2, 11) und an anderen Stellen. 17 Jonathan Shepard: Information, Disinformation and Delay in Byzantine Diplomacy. In: Byzantinische Forschungen 10 (1985), S. 233–293; ders.: Imperial Information and Ignorance. A Discrepancy. In: Byzantinoslavica 56 (1995), S. 107–116; Nike Koutrakou: Diplomacy and Espionage: Their Role in Byzantine Foreign Relations, 8th–10th Centuries. In: Graeco-Arabica 6 (1995), S. 125–144; Rose Mary Sheldon: Espionage in the Ancient World. An Annotated Bibliography. Jefferson, N.C./London 2003 (enthält auch Titel zur spätantiken und frühbyzantinischen Zeit); John Haldon: Information and War: Some Comments on Defensive Strategy and Information in the Middle Byzantine Period (ca. A.D. 660–1025). In: War and Warfare in Late Antiquity. Current Perspectives. Hrsg. von Alexander Sarantis, Neil Christie. Leiden/Boston 2013 (Late Antique Archaeology 8), S. 373–393; Georgios Theotokis: Byzantine Military Tactics in Syria and Mesopotamia in the Tenth Century. Edinburgh 2018, bes. S. 128–191. 18 So Eric McGeer: Sowing the Dragon’s Teeth: Byzantine Warfare in the Tenth Century. Washington, D.C. 1995 (Dumbarton Oaks Studies 33) [Nicephori Urani praecepta militaria], S. 142 (63, 1): ὅταν πάντα μάθῃ καλῶς, ἁρμόζει ἵνα σκοπῇ καὶ τοὺς καιρούς.
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rende Wissen zu kontrollieren und gleichsam imperial zu monopolisieren. Rechtsquellen spiegeln diesen Vorgang in bemerkenswerter Weise wider.¹⁹ Dieser Prozess ging einher mit der Durchsetzung der christlichen Glaubensvorstellungen: Wahrsagerei und mantische Praktiken wurden sukzessive zurückgedrängt und gleichzeitig zu Markern des Anderen, Nichtkonformen und Heterodoxen. Es kam öfters vor, dass falsche Orakel oder Gerüchte die Autorität des Herrschers beschädigten und sich dadurch auch die Unzufriedenheit der Untergebenen äußern konnte. Magische, auf Personen gerichtete Praktiken wurden verboten, doch überlebten Grundbedürfnisse wie die Neugierde, Zukünftiges zu erfahren, oder der Wunsch, zusätzliche, externe Unterstützung bei entscheidendem Handeln zu erhalten. Trotz Einschränkungen und Skandalisierungen der Wahrsagerei existierten nicht nur Traumdeutung und Beobachtungen terrestrischer sowie meteorologischer Erscheinungen weiter, sondern auch divinatorische Techniken. Da die Interpretation von diesen einiges an Spielraum zuließ, gingen Phänomene wie Gerüchte, Fehl- und Falschinformationen damit selbstverständlich einher.²⁰ Aus diesem Grund ist es nicht verwunderlich, dass man am byzantinischen Kaiserhof regelmäßig auf Handlungen stößt, die durch externe Phänomene beeinflusst werden konnten. Hin und wieder werden Strategien sichtbar, Aussagen und Informationen auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen oder ihre Wirkungskraft zu verifizieren. Das heißt, der Entscheider versuchte, eine prognostische Zeichendeutung oder eine astronomische Berechnung, die mit einer Handlung verknüpft wird, mit dem eingetretenen Ereignis zu vergleichen. Es gehört natürlich zu den Spielarten historiographischer Schreibweisen, die Beurteilung eines Vorzeichens, Wunders oder dergleichen an die Leserschaft zu delegieren;²¹ sie soll den Wahrheitsgehalt anhand der eingetretenen Ereignisse überprüfen. Doch gibt es auch Fälle, die den Bedarf an Verifikation im jeweiligen Kontext verdeutlichen. Dieses Bewusstsein findet man nicht nur in der Spätantike, sondern auch in der frühbyzantinischen Zeit. Eine Episode aus dem beginnenden 7. Jahrhundert mag dies anschaulich exemplifizieren. Kaiser Maurikios wurde im Jahre 602 (27. November) in der Hauptstadt Konstantinopel ermordet.²² Gleichzeitig ereignete sich
19 Marie Theres Fögen: Die Enteignung der Wahrsager. Studien zum kaiserlichen Wissensmonopol in der Spätantike. Frankfurt a. M. 22016 (stw 1316). 20 Wolfram Brandes: Kaiserprophetien und Hochverrat. Apokalyptische Schriften und Kaiservaticinien als Medium antikaiserlicher Propaganda. In: Endzeiten. Eschatologie in den monotheistischen Weltreligionen. Hrsg. von Wolfram Brandes, Felicitas Schmieder. Berlin/New York 2008 (Millennium-Studien 16), S. 157–200. 21 Ein Meister dieser Technik ist Prokopios von Kaisareia. 22 Zu den Vorgängen zuletzt Rene Pfeilschifter: Der Kaiser und Konstantinopel: Kommunikation und Konfliktaustrag in einer spätantiken Metropole. Berlin/New York 2013 (Millennium-Studien 44),
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eine berichtenswerte Begebenheit in Alexandreia.²³ Ein Kalligraph war bei einem Händler zu Gast, der abends (zur 4. Stunde) das Fest der Geburt eines Knaben (am siebten Tag danach) feierte. Auf dem Nachhauseweg passierte er eine Platzanlage namens Tychaion und wurde eines merkwürdigen Schauspiels gewahr. Die dort aufgestellten Statuen waren von ihren Standorten herabgestiegen und riefen mit lauter Stimme seinen Namen. Sie teilten ihm klar verständlich mit, dass an dem Tag etwas mit dem Kaiser Maurikios passiert sei. Der Kalligraph gelangte unter großer Furcht nach Hause und erzählte am folgenden Tag den Vorfall Petros, dem Präfekten Ägyptens. Dieser bat ihn, niemandem seine nächtliche Erfahrung mitzuteilen.²⁴ Zudem ließ er das Datum des Reports notieren und wartete. Neun Tage danach meldete ein Bote die Ermordung Maurikios’ in Alexandreia.²⁵ Als Petros dies erfahren hatte, verkündete er die (eingetretene) Prognose in der Öffentlichkeit und nannte den Kalligraphen als ihren Urheber.²⁶ Anzumerken ist, dass laut Simokates auch Dämonen in den Standbildern wirken konnten.²⁷ Wie in jeder Verwaltung ist die Datierung eines Vorganges wichtig. Hier dient die Angabe zur späteren Überprüfung des Wahrheitsgehaltes der Aussage des Kalligraphen. Wenn die amtliche Bestätigung des Ablebens des Kaisers einlangte, die mit einer Zeitangabe versehen war, dann konnte die Information des Kalligraphen als relevant oder falsch taxiert werden. Die Aufzeichnung der Information mit der Auflage der Geheimhaltung dient auch dazu, Unruhe zu vermeiden. Als Verwalter Ägyptens handelte der Eparchos so richtig, denn jegliche Nachricht, auch wenn sie sich als falsch erweisen sollte, konnte Reaktionen auslösen, die dem politischen System Instabilität zufügen konnten.
S. 252–293 (ereignisgeschichtlich, ohne Erwähnung von Zeichen und auch nichts zu den Vorgängen in Alexandreia). 23 Theophylacti Simocattae Historiae. Hrsg. von Carolus de Boor, ed. corr. curavit explicat. rec. adornavit Peter Wirth. Stuttgart 1972 (Bibliotheca Scriptorvm Graecorvm et Romanorvm Tevbneriana), 8, 13.7–15 (S. 309–311); Übersetzung der Passage: Theophylaktos Simokates, Geschichte. Übersetzt und erläutert von Peter Schreiner. Stuttgart 1985 (Bibliothek der griechischen Literatur 20), S. 220–221; Theophylaktos betont, dass diese Geschichte so bemerkenswert ist, historiographisch aufbereitet zu bekommen. Vgl. dazu Michael Grünbart: Störende Statuen? Zur Bewältigung und Instrumentalisierung unerwarteter Evidenzproduktion. In: Frühmittelalterliche Studien (im Druck). 24 Theophylacti Simocattae Historiae (Anm. 23), 8.13.13 (S. 310, 29–30): τῷ εἰς κάλλος γράφοντι ἐπετίμησε μὴ μεταθεῖναι ἐφ’ ἕτερον τὰ μυστικὰ ταῦτα καὶ ἀπόρρητα διηγήματα. 25 Die Bewältigung der Distanz in neun Tagen ist möglich, s. dazu ausführlich Grünbart: Störende Statuen (Anm. 23), S. 60. 26 Theophylacti Simocattae Historiae (Anm. 23), 8, 13.14 (S. 311): ἐς τὸ φανερὸν τὴν προαγόρευσιν ἐθριάμβευσε. 27 Theophylacti Simocattae Historiae (Anm. 23), 8, 13.14 (S. 311): τῶν τοίνυν προμεμηνυμένων διὰ τῶν ἀνδριάντων, ἢ δαιμόνων εἰπεῖν οἰκειότερον.
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Das Niederschreiben von Prognosen ist eine regelmäßig geübte Praxis: Dies diente zur Verifikation und letztendlich zur Akzeptanz der Methode, wenngleich die Skepsis stets präsent war. Anna Komnene, die sich kritisch distanziert gegenüber der Divination positioniert,²⁸ berichtet in ihrer Alexias von der folgenden Begebenheit. Der Normanne Robert Guiskard war der erbitterte Gegner des Kaisers Alexios I. Komnenos (1081–1118). Als Robert nach Illyrien über das Ionische Meer gefahren war, tätigte der Astrologe Seth, der stolz auf seine Kenntnisse war, seine Prognose, indem er diese auf ein Zettelchen schrieb. Dieses versiegelte er und übergab es den Vertrauten des Kaisers mit der Bitte, es einige Zeit aufzubewahren. Als Robert gestorben war (17.6.1085), wurde das Zettelchen entfaltet und man las: „Ein mächtiger Feind aus dem Westen wird für viel Aufruhr sorgen und dann plötzlich zu Fall kommen“.²⁹ Seth steht mit seiner Prognose glänzend da, was Anna Komnene zu einem Exkurs über Weissagungen anregte.³⁰ Die Aufzeichnung der Prognose dient hier wiederum der Verifikation und nachträglichen Kontrolle. Die Handlung unterstreicht auch die Notwendigkeit, alle verfügbaren Informationen zu sammeln und verfügbar zu halten. Noch ein letztes Beispiel soll folgen, bei dem abermals die Überprüfung eines Sachverhaltes im Mittelpunkt steht. Statuen können nicht nur lebendig werden, mit ihnen lassen sich auch Zauberhandlungen umsetzen. Während der Regierungszeit von Romanos I. Lakapenos (920–944) kam ein Astronom namens Ioannes an den Kaiserhof und empfahl, der Herrscher möge Leute zu einem Bogen am Xerolophos schicken.³¹ Dort befand sich
28 Sarolta A. Takácz: Oracles and Science: Anna Comnena’s Comments on Astrology. In: Byzantinische Forschungen 23 (1996), S. 35–44; Paul Magdalino, The Porphyrogenita and the Astrologers: A Commentary on Alexiad VI.7.1–7. In: Porphyrogenita: Essays in honour of Julian Chrysostomides. Hrsg. von Charalambos Dendrinos, Jonathan Harris, Eirene Harvalia-Crook, Judith Herrin. Aldershot 2003, S. 15–31. 29 Anna Comnena Alexias (Anm. 5), 6.7.1.: τὴν δὲ τοῦ Ῥομπέρτου τελευτὴν μαθηματικὸς τίς Σὴθ καλούμενος μεγάλα ἐπ’ ἀστρολογίᾳ αὐχῶν μετὰ τὴν εἰς τὸ Ἰλλυρικὸν αὐτοῦ διαπεραίωσιν προειρήκει διὰ χρησμοῦ, ὃν ἐν χάρτῃ ἐκθέμενος καὶ σφραγίσας τισὶ τῶν τοῦ βασιλέως οἰκειοτάτων ἐνεχείρισε παραγγείλας κατέχειν αὐτὸν μέχρι τινός. εἶτα τοῦ Ῥομπέρτου τετελευτηκότος ἐξ ἐπιταγῆς αὐτοῦ λύουσι τὸν χάρτην. εἶχε δὲ ὁ χρησμὸς οὕτως· „μέγας ἐχθρὸς ἐξ ἑσπέρας πολλὰ κυκήσας ἄφνω πεσεῖται“. ἐθαύμασαν μὲν οὖν πάντες τὴν τοῦ ἀνδρὸς ἐπιστήμην· ἦν γὰρ ἐπὶ ταύτῃ τῇ σοφίᾳ εἰς ἄκρον ἐληλακώς. Übersetzung Diether Roderich Reinsch: Anna Komnene, Alexias. Berlin 2001 (De Gruyter Texte). 30 Siehe Takácz: Oracles and Science (Anm. 28) und Magdalino: The Porphyrogenita and the Astrologers (Anm. 28). 31 Theophanes Continuatus, Ioannes Cameniata, Symeon Magister, Georgius Monachus. Hrsg. von Immauel Bekker. Bonn 1838 (Corpus scriptorum historiae Byzantinae), S. 411,17–412,2. Skylitzes übernimmt die Passage, fügt aber die Formulierung des Überprüfens deutlicher aus, siehe Ioannis Scylitzae synopsis historiarum. Hrsg. von Johannes Thurn. Berlin/New York 1973 (Corpus Fontium Historiae Byzantinae 5), S. 222,5–10.
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eine Statue, die nach Westen blickte. Dieser solle der Kopf abgeschlagen werden, damit der bulgarische Herrscher Simeon stürbe (927). So geschah es synchron – genaue Nachforschungen bestätigten das Ableben des Gegners an einem Herzinfarkt zur selben Stunde. Figuren wie den Astronomen Ioannes mag es viele gegeben haben, interessant ist dabei die Verquickung von Himmelsbeobachtung (qua seiner Profession) und des angewandten Bindezaubers. Die Quelle berichtet nichts vom Zweifel am Wahrheitsgehalt dieser Aktion, doch wird das eingetretene Ergebnis genau geprüft und verifiziert.
III Der zweifelnde Kaiser und ein eleganter Weg aus der Aporie Entscheider bewegten sich oft in ausweglos scheinende Situationen. Aporien aufzulösen gehörte zum Image eines (idealen) Herrschers. Entscheidungsfreude und klare Standpunkte untermauerten die Autorität des Machthabers. In den Schilderungen kaiserlichen Habitus’ wird gerne Alexander der Große als das Maß des raschen und konsequenten Entscheiders angeführt – wenngleich diese Figur die oft bemühte Bedachtheit und Sorgfältigkeit des Entscheidens manchmal konterkariert (etwa die wenige elegante Lösung des gordischen Knotens).³² König Alexander soll gesagt haben, als er einmal gefragt wurde, wie er in wenigen Jahren so viele und so große Taten erfolgreich durchgeführt habe: „Nichts was den heutigen Tag nötig hatte, verschob ich auf den morgigen Tag“.³³ Um ausweglose Situationen zu bewältigen, griff man auch auf externe Unterstützung zurück. Ein anschauliches Beispiel liefert die konstantino-politanische Blachernenkirche, in der freitags üblicherweise ein Wunder stattfand.³⁴ Diese Kirche befand sich im Nordwesten des Stadtgebietes und barg Reliquien der Mutter
32 Herbert Bannert: Einfache Lö sungen. Der Gordische Knoten, ein leerer Sack in Sparta und das Ei des Kolumbus. In: Wiener Humanistische Blä tter 57 (2016), S. 9–33. 33 The Taktika of Leo VI. (Anm. 9), S. 568 (20, 88): „οὐδὲν δεόμενον τῇ σήμερον ὑπερεθέμην εἰς τὴν αὔριον“. Zu Alexanderrezeption Heribert J. Gleixner: Das Alexanderbild der Byzantiner. München 1961, Corinne Jouanno: Byzantine Views on Alexander the Great. In: Brill’s Companion to the Reception of Alexander the Great. Hrsg. von Kenneth M. Moore. Leiden/Boston 2018 (Brill’s Companions to Classical Reception 14), S. 449–476. 34 Wolfgang Müller-Wiener: Bildlexikon zur Topographie Istanbuls: Byzantion, Konstantinupolis, Istanbul bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts. Tübingen 1977, bes. S. 223 f.
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Gottes, der Patronin von Konstantinopel.³⁵ An gesagtem Ort ereignete sich regelmäßig ein wundersamer Vorgang, welcher nicht nur bei Anna Komnene, sondern auch in anderen Quellen erwähnt wird (Ioannes Skylitzes, Michael Psellos, Anonymous Tarragonensis).³⁶ Am eindrücklichsten berichtet der Gelehrte und Kaiserberater Michael Psellos in einer Rede, in der ein juristischer Fall dargelegt wird, über dieses Ereignis (wahrscheinlich 1070er Jahre).³⁷ Hier wird bei einem juristischen Streit die Mutter Gottes als oberste Richterin/Entscheiderin eingesetzt: Wie bei einem Losverfahren, wo es nur die eine oder die andere Möglichkeit gibt, wird auf das Auf- und Niedergehen des Ikonenvorhangs geachtet. Dieses Objekt stellt ein hübsches Beispiel der Externalisierung bzw. des Delegierens von Entscheiden dar, und es zeigt, dass die Marienikone bei Entscheidungsprozessen eine bedeutsame Funktion übernehmen konnte. Und so nimmt es nicht wunder, dass dieses entscheidungsunterstützende Instrument (ich möcht nicht sagen – Automat) auch der Kaiser konsultierte, wenn er sich in ausweglos scheinenden oder zweifelhaften Situationen befand. Kaiser Alexios I. hatte eine militärische Aktion gegen den Normannen Bohemund gestartet (1. November 1107) und lagerte in Geranion, einem imperialen Rastund Lagerplatz westlich der Hauptstadt Konstantinopel.³⁸ Doch dürfte der Kaiser verunsichert gewesen sein ob seiner Entscheidung – die Ikone der Mutter Gottes hatte nicht das übliche Wunder gezeigt³⁹ –, und er kehrte nach vier Tagen zurück in die Hauptstadt, um die Blachernenkirche zu besuchen. Der Kaiser betrat heimlich nur in Begleitung einiger Vertrauter die Kirche und die liturgische Handlung begann. Dieses Mal funktionierte das Wunder im Sinne des Kaisers: Das Antlitz der
35 John Wortley: The Marian Relics at Constantinople. In: Greek, Roman and Byzantine Studies 45 (2005), S. 171–187, bes. S. 177–180. 36 Krinije N. Ciggaar: Une description de Constantinople dans le Tarragonensis 55. In: Revue des E´ tudes Byzantines 53 (1995), S. 117–140. 37 Michael Psellus: Orationes hagiographicae. Hrsg. von Elizabeth A. Fisher. Stuttgart/Leipzig 1994, S. 200–229 (or. 4: „De miraculo in Blachernais patrato,“); dazu Elizabeth Fisher: Michael Psellos on the ‚Usual’ Miracle at Blachernae, the Law, and Neoplatonism. In: Byzantine Religious Culture: Studies in Honor of Alice-Mary Talbot. Hrsg. von Denis Sullivan, Elizabeth Fisher, Stratis Papaioannou. Leiden 2011 (The Medieval Mediterranean 92), S. 187–204. 38 Anna Comnena: Alexias (Anm. 5), 13.1–3; Dominik Heher: Mobiles Kaisertum. das Zelt als Ort der Herrschaft und Repräsentation in Byzanz (10.–12. Jahrhundert). Berlin 2020 (Byzantinistische Studien und Texte 13), S. 35–36. 39 Siehe oben Michael Psellos, der diese „Abweichung“ einräumt und damit das göttliche Einwirken unterstreicht.
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Mutter Gottes wurde sichtbar, als der Vorhang sich hob.⁴⁰ Daraufhin kehrte der Kaiser in guter Stimmung in das Heerlager zurück. Wiederum wird hier die Ikone als ein entscheidungsunterstützendes Werkzeug verwendet. Der Entscheider weiß, dass das Zeichen (relativ sicher) zu erwarten ist. Die Frage bleibt, warum der Kaiser die Konsultation heimlich durchführte. Wollte er seine Unsicherheit verbergen? Fürchtete er Gerüchte um seine Entscheidensprobleme in der Öffentlichkeit, die seine Autorität beschädigen konnten? Der Kaiser war ja schon ins Feld gezogen und war sich des Risikos eines negativen Bescheides (von oben, d. h. der Mutter Gottes) bewusst. Immerhin ist es der zeichenkritischen Anna Komnene wert, diese Episode ihres Vaters darzulegen und ihn als einen Herrscher zu zeichnen, der auf göttliche Zeichen hörte. Die Wahl des Ortes stellt sich als ideal dar, da in einem sakral definierten Ambiente und vor einer qualifizierten Öffentlichkeit das Verfahren ohne Zweifel und gültig durchgeführt wird. Der Kaiser hatte Gewissheit erlangt, richtig entschieden zu haben, und kehrte (wohl) hochmotiviert zu seinen Truppen zurück, das Wunderzeichen (von oben) hatte also einen positiven Effekt und entfaltete eine gute psychologische Wirkung. Die positive psychologische Wirkung bei Deutungen von kontingenten Ereignissen kommt z. B. in taktischen Schriften zur Sprache (auch die Mitnahme von entsprechender Deutungsliteratur ist belegt). Als Entscheider kann man – wenn man über Mittel und Fähigkeiten verfügt – auch selbst in die Prüfung von Informationen eingreifen. Ein klassisches Beispiel stellt Manuel I. Komnenos (1143–1180) dar, welcher bekanntermaßen großes Interesse an den Geheimwissenschaften hegte. Geheimwissenschaften meint in erster Linie Astronomie und Astrologie.⁴¹ Wie bereits deutlich geworden spielte der Zeitpunkt in Entscheidungsprozessen eine große Rolle: Das Bekanntgeben des Ergebnisses einer entscheidenden Handlung einerseits, die Bestimmung eines Zeitpunktes für eine bestimmte Aktion andererseits. Als eine Flotte nach Sizilien ausfahren sollte,⁴² rechnete Kaiser Manuel die Konstellation der Gestirne nochmals nach.⁴³ Er kam zu dem Ergebnis, dass die
40 Vgl. Michael Grünbart: Göttlicher Wink und Stimme von oben. Ressourcen des Entscheidens am byzantinischen Kaiserhof. In: Religion und Entscheiden: Historische und kulturwissenschaftliche Perspektiven. Hrsg. von Wolfram Drews, Ulrich Pfister, Martina Wagner-Egelhaaf. Würzburg 2018, S. 293–313. 41 Paul Magdalino, Maria Mavroudi (Hrsg.): The Occult Sciences in Byzantium. Genf 2006. Michael Psellos prägte den Begriff. 42 Paul Magdalino: The Empire of Manuel I Komnenos, 1143–1180. Cambridge 1993, S. 5–6. 43 Nicetae Choniatae historia. Hrsg. von Jan Louis van Dieten. (CHFB 11, 1–2). Berlin/New York 1975 (Corpus fontium historiae Byzantinae 11, 1–2), S. 96, 37–55. Der Historiograph verwendet die übliche Fachterminologie. Ein themation, was auch Horoskop bedeuten kann, wird gemacht.
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Berechnung nicht exakt gewesen sei, und er ließ aus diesem Grund die Expedition später starten (was an der Niederlage nichts geändert hat). Hier führt der Zweifel oder der Verdacht dazu, dass nochmals mit ‚naturwissenschaftlichen‘ Methoden eine gefällte Entscheidung revidiert wird. Allerdings war auch diese Nachjustierung nicht von Vorteil: Die byzantinische Flotte erlitt eine Niederlage. Iteratives Prüfen bzw. Suchen nach Deutungen merkwürdiger Phänomene findet man auch noch am spätbyzantinischen Hof, an dem nach wie vor ein großer Bedarf an Expertenwissen bestand. Eindrücklich führt dies Nikephoros Gregoras, welcher sich besonders für Astrologie/Astronomie interessierte, vor. Theodoros Metochites, der höchste Würdenträger und Berater von Andronikos II. (1282–1328), hatte abgeraten, Andronikos, den Enkel des Kaisers, abzusetzen. Dieser stritt schon geraume Zeit mit seinem Großvater um die Herrschaft. Am Samstag der gerade begonnenen Fastenzeit besuchte Metochites die Vigil in seiner fertig renovierten Chorakirche in Konstantinopel. Um Mitternacht kam ein kaiserlicher Bote zu ihm, der ihm von einem nicht deutbaren Ereignis berichtete und ihn um seine Bewertung bat. Im Palast sei Pferdegewieher zweimal zu hören gewesen, was von einem Bild des berittenen Militärheiligen Georgios stammte. Metochites deutete dies als eine positive Aussicht für den Kaiser im Kampf gegen die Türken in Kleinasien. Doch schenkte der Kaiser dieser Deutung keinen Glauben und erinnerte an ein ähnliches Vorkommnis während der Belagerung Konstantinopels im Vierten Kreuzzug (1202–1204). Auch damals sei unerklärliches Pferdegewieher („sonderbares akustisches Phänomen“, τὸ παράδοξον τῆς ἀκοῆς) zu hören gewesen, das als ein beunruhigendes und negatives Vorzeichen (κακὸς οἰωνός) zu verstehen gewesen sei; kurz darauf eroberte Balduin, der spätere lateinische Kaiser, die Stadt.⁴⁴ Metochites konnte dafür keine Erklärung finden, doch musste das Ereignis weiter behandelt und interpretiert werden, zumal zur gleichen Zeit eine Säule auf der Akropolis in der östlichen Stadt tagelang geschwankt sei; dies habe auch die konstantinopolitanische Bevölkerung registriert. Die Sache wurde nun ernster und der Logothetes und der Kaiser berieten sich unter vier Augen, wobei auch Orakelbücher konsultiert wurden.⁴⁵ Daraufhin wurde ein Themation, d. h. ein Horoskop, gemacht. Man schloss auf einen bevorstehenden Angriff der Feinde des Reiches – die ursprüngliche Meinung des Metochites scheint sich also durchgesetzt zu haben; damit verbunden war die Bedrohung der kaiserlichen Macht. Die Deuter lenkten ihre
44 Nicephori Gregorae Byzantina historia I–III. Hrsg. von Ludwig Schopen, Immanuel Bekker. Bonn 1829–1830, 1859 (Corpus scriptorum historiae Byzantinae), S. 304, 23–305, 1. 45 Nicephori Gregorae Byzantina historia (Anm. 44), S. 305, 16–18: ἐκ σημείων μέντοι τινῶν στοχάζεσθαι ἡμῖν ἐξεγένετο ὕστερον, ὡς βιβλία τινὰ χρησμολογικὰ ἐθεάσαντο, ἐν οἷς τινα τῶν μελλόντων ἀσαφῶς τε καὶ αἰνιγματωδῶς παρ’ ὅτων δήποτε ἐξετέθησαν.
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Aufmerksamkeit nicht auf den Enkel des Kaisers, welcher bald die Herrschaft übernehmen sollte: „das hielt Gott auf unaussprechliche Weise verborgen“⁴⁶. Aus dieser Sequenz erschließt sich das intensive Bemühen, Zeichen einzuordnen, ihnen auf den Grund zu gehen und diese nicht bloß als kontingente Vorgänge abzutun. Da sie im Zentrum des Kaisertums, im Palast, stattfanden, bekam nur eine qualifizierte Gruppe davon Kenntnis, doch beunruhigend waren sie trotzdem. Der Kaiser wird als Zweifler dargestellt, der immer wieder neue, vielleicht befriedigendere Deutungen einfordert. Ein interessanter Prozess ist zu beobachten: Historisches Wissen wird auf die momentante Situation bezogen, was dem Modell des Umgangs mit Prodigien in der römischen Zeit entspricht.
IV Schluss Die Beispiele von der früh- bis spätbyzantinischen Zeit zeigen die ungebrochene Aktualität und Notwendigkeit, Wege aus der Aporie mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln einzuschlagen. Es konnte gezeigt werden, wie Meinungen und Informationen gesammelt, bewertet, selektiert und nutzbar gemacht wurden. Damit konnten Entscheidungsprozesse unterstützt und Aporien vermieden/aufgelöst werden. Der beste Weg wird oft nicht alleine gefunden, sondern durch Abstimmung mit anderen; man kann dies auch als Strategie des Kompromisses oder demokratisches Entscheiden nennen. Besteht die Möglichkeit (und die Zeit) Informationen zu prüfen, wird dies unternommen. Man kann abwarten, bis ein Ereignis eingetreten ist oder etwas selbst neu bewerten, indem etwas noch einmal berechnet wird. Dabei helfen schriftliche Aufzeichnungen, die der Kontrolle und Verifikation von prognostizierten Evidenzen dienen. Ein wichtiges Element stellt die Geheimhaltung dar, da Informationen möglicherweise Unheil bewirken können. Es wird ebenfalls deutlich, dass sich die zentrale Macht bemüht, die Deutungshoheit zu behalten und damit die öffentliche Meinung zu prägen. Gewissheit bei Entscheidungsprozessen holt man sich in brenzligen Situationen auch von außen. Die angeführten Beispiele zur impetrativen Divinatorik dienen dazu, eine ‚objektive‘ übergeordnete Autorität zu instrumentalisieren und eine entscheidende Meinung von außen einzuholen. Diese wird akzeptiert und kann den Entscheider sowie die Ausführenden der Entscheidung beflügeln.
46 Nicephori Gregorae Byzantina historia (Anm. 44), S. 306, 1: τοῦ θεοῦ τὰ τοιαῦτα τρόποις ἀῤῥήτοις συγκρύπτοντος.
III Literarischer Zweifel und Kompromiss (Erzählen als Kompromiss)
Florian Kragl
Kompromittierender Zweifel und Verzweifeln am Kompromiss: Vergils Götterszenen und ihre Rezeption in den Eneasromanen des 12. Jahrhunderts Für Rainer Trinczek zum 1. Oktober 2023
I Zweifel, Kompromiss, Mittelalter, Erzählen Wenn man den Kompromiss begreift als den vermittelnden Ausgleich zweier oder gar mehrerer widerstreitender Systeme, dann ist seine Möglichkeitsbedingung unmittelbar an die Geltungsweite dieser Systeme gebunden. Nur dann nämlich kann ein Kompromiss statthaben, wenn keines der beteiligten Systeme einen Absolutheitsanspruch formuliert oder aber, ist er einmal formuliert, auf diesem fest beharrt. Der Zweifel wiederum, in den beide (oder mehrere) Seiten durch einen evidenten Interessenskonflikt getrieben werden, ist Voraussetzung für einen Kompromiss, denn erst im Zweifel weicht eine Position so weit auf, dass ein Kompromiss sein kann. Das muss, wie angedeutet, nicht funktionieren: Gibt sich ein Teil der im Streite Befangenen stur und halsstarrig, sozusagen über allen Zweifel erhaben, scheitert der Kompromiss. Dieser simple Mechanismus gerät immer dann an gleichsam systemische Grenzen, wenn eines der betroffenen, beteiligten Systeme mit absoluter Geltung begabt ist. Kardinalfall mag das Prinzip dogmatisch-monotheistischer Religionen sein, das den Zweifel bannt und damit Kompromiss nicht zulässt. Dasselbe gilt für – nicht im historischen, sondern abermals im systematischen Sinne – absolutistische politische oder soziale Systeme. Wo es nur den einen Gott gibt, wo ein politisches oder soziales Prinzip uneingeschränkt regiert, dort ist Zweifel nicht erlaubt und Kompromiss nicht nur nicht möglich, sondern – theoretisch und aus der Warte des Systems – auch nicht nötig. Auch Dichtung scheint seit jeher Gefahr zu laufen, solcherart absolutistische Systeme auszubilden. Dies ist offensichtlich und oberflächlich-thematisch stets dann der Fall, wenn sie sich religiöse, politische oder soziale Gegenstände vom eben beschriebenen Schlage zum Anliegen werden lässt: Bibelepik im Stile Arators, politische Literatur des Vormärz, höfische Dichtung. Nicht selten sedimentiert diese inhaltlich-thematische Oberfläche in tiefenstrukturellen Phänomenen: idealisierte Figuren, die sind, wie sie sind; finale Handlungsläufe, denen ihr Ziel von Anfang an https://doi.org/10.1515/9783110792737-012
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stets sicher vorschwebt; stabile Axiologien, die vielleicht geprüft, aber nicht ernsthaft infrage gestellt werden. Ein Kardinalbeispiel ist das Großnarrativ der christlichen Heilsgeschichte. Wer solche Systeme durch das Inserat oder die Zugabe anderer Systeme kompromittiert, zerstört sie von Grund auf, denn Kompromisslosigkeit ist ihr Prinzip. Vorstellungsbilder – man könnte auch sagen: Vorurteile – wie das zuletzt entworfene werden maßgeblich daran Anteil haben, dass man Zweifel oder Kompromissfindung nicht unmittelbar mit jener Welt verbindet, die seit einigen Jahren ‚Vormoderne‘ genannt wird, worunter man freilich in aller Regel einfach das europäische Mittelalter mit der frühen Frühen Neuzeit begreift. Wo die christlichkatholische Religion, das feudalpolitische Prinzip und aus diesen beiden Systemen sich speisende soziale Restriktionen und Normen scheinbar uneingeschränkte Geltung beanspruchen und beanspruchen können, werden Zweifel und Kompromiss zur Ketzerei. dubitatio, dubium, zwîvel wiegen unter den christlichen Sünden besonders schwer, denn sie gefährden nicht nur das Heil des Einzelnen, sondern das System in seiner Gesamtheit. Zugleich machen Vorstellungsbilder dieser Art leicht vergessen, dass ihnen ob ihrer systematisch-theoretischen Natur selbst eine gewisse Kompromisslosigkeit eignet, die sie scheinbar über jeden Zweifel erhaben macht. Schon aber dass man sich – in der christlichen Religion – energisch abmühte, den Zweifel abzuwehren und abzuweisen, ist deutliches Zeichen dafür, dass es ihn auch gab und dass man ihn nicht loswurde. Dafür mag zum einen die conditio humana verantwortlich zeichnen, deren Programm eine pure Existenz in reiner Selbstgewissheit schlicht nicht vorzusehen scheint, was sich dann eben auf allen Ebenen menschlichen Lebens – und darunter auch die genannten: Religion, Politik, Gesellschaft – niederschlägt; aber diese Mutmaßung wäre Gegenstand einer psychologisch-soziologischen Abhandlung, die ich hier weder leisten will noch leisten kann. Literaturwissenschaftlich hinwiederum lässt sich sehr leicht zeigen, dass Erzählen, dass Sprachkunst, vielleicht noch allgemeiner: dass Sprachverwendung ohne Zweifel und ohne Kompromiss schlechterdings nicht zu haben sind. Am Beispiel des Erzählens: Einer absolut idealisierten Erzählwelt, ausstaffiert mit idealisierten Figuren, die eine rundum fertige Handlung ausführen, all dies gebettet auf stabile axiologische Verhältnisse – einem solchen Erzähluniversum käme apriorisch jede Sujethaftigkeit abhanden, denn nichts würde sich bewegen (können). Menschen mögen sich immer wieder abgemüht haben, in poetischen Bezirken eine Ausstellung von Idealen zu veranstalten; in dem Moment aber, wo sie sich konkret ans Werk setzten, sind Fissuren im konzeptionellen Gebäude unvermeidlich.
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Die Forschung der jüngeren Zeit hat die zuletzt formulierte Gesetzmäßigkeit des Erzählens und Dichtens eingehend dargetan;¹ man denke an die Brüchigkeit der höfischen Romane² oder die Schwierigkeiten religiöser Dichtung, von der Transzendenz in der Immanenz zu erzählen.³ Dabei ist gewiss – in der Abkehr von harmonisierenden geistesgeschichtlichen Thesen und wohl auch unter dem Eindruck einer postmodernen Ästhetik – die eine oder andere Fissur zum veritablen Bruch ausgekratzt worden. Am Prinzip selbst ändern diese Lektüreeffekte aber wenig: Sie geben dem Phänomen stärkere Kontur, aber sie schaffen es nicht neu. Wenn das bisher Gesagte zutrifft, ergibt sich daraus für die mittelalterliche Dichtung, vielleicht allgemeiner: für die mittelalterliche Kultur als Ganzes eine konzeptionelle Aporie: Zweifel und Kompromiss können in ihnen – oder jedenfalls: in einigen ihrer zentralen Bereiche – nicht gut sein. Ohne Zweifel und Kompromiss aber kann – mutmaßlich – der Mensch, kann – ganz gewiss – Dichtung, kann Erzählen nicht sein. Streng formallogisch gedacht, hätten die Systeme (wiederum: Religion, Politik etc.) entweder rasch zerschellen müssen, oder man hätte nicht von ihnen sprechen, sie nicht erzählerisch fassen können. Die historische Evidenz zeigt, dass weder das eine noch das andere der Fall war. Die Persistenz der oben genannten Systeme – Religion, Politik, höfische Kultur etc. – ist verblüffend, und die poetische Produktion um sie herum keine geringe. Was ist passiert, und wie ist es möglich? Anliegen meines Beitrags ist es, dieser Frage anhand eines Beispiels aus dem Bezirk des Erzählens nachzugehen. Im Zentrum stehe Vergils Aeneis ⁴: Sie ist ein Text, der – so schon die antike Überzeugung – zum einen ein unverbrüchliches
1 Umsichtig nun, vor allem mit Blick auf die höfische Dichtung: Christiane Witthöft: Zweifel, Skeptizismus und das Dilemma der Wahrheitsfindung in der höfischen Epik des Mittelalters. Skizze eines Forschungsfeldes. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 62 (2021), S. 33–66; dies.: Zur Ideengeschichte eines höfischen Skeptizismus: Petitcreiu und der literarische Zweifel im ‚Tristan‘ Gottfrieds von Straßburg. In: Nach der Kulturgeschichte. Ideen- und sozialgeschichtliche Perspektiven der deutschen Literaturwissenschaft nach dem Ende des ‚cultural turn‘. Hrsg. von Maximilian Benz, Gideon Stiening. Berlin 2022, S. 125–157. 2 Sarah Kay: Courtly Contradictions. The Emergence of the Literary Object in the Twelfth Century. Stanford 2002; Jan-Dirk Müller: Höfische Kompromisse. Acht Kapitel zur höfischen Epik. Tübingen 2007. 3 Peter Strohschneider (Hrsg.): Literarische und religiöse Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit. DFG-Symposion 2006. Berlin/New York 2009. 4 Zit. nach der Ausgabe von P. Vergili Maronis Opera. Hrsg. von Roger Aubrey Baskerville Mynors. Oxford 1969, die Übersetzungen nach P. Vergilius Maro: Aeneis. Lateinisch/Deutsch. Hrsg. von Edith Binder, Gerhard Binder. Stuttgart 2008 (RUB 18918).
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politisches Programm ausschreibt⁵ und der aber zum anderen mustergültig nicht nur in dieser thematisch-inhaltlichen, sondern auch in poetologischer Hinsicht wird: Die Aeneis ist – neben der Bibel – der Gründungstext europäischer Kultur.⁶ Er hat ein unübersehbares Nachleben in der europäischen Kultur gefunden, aus dem im Folgenden die Eneasromane des 12. Jahrhunderts herausgegriffen seien: An ihnen tritt besonders deutlich zutage, wie die Lösungen, die Vergil auf die oben entwickelte Frage findet, ihrerseits Gegenstand von poetischer und poetologischer Reflexion werden. Die beiden zentralen Thesen, die sich aus der Betrachtung der Fälle ergeben werden, seien vorweggenommen; die erste ist systematischer, die andere historischer Natur: 1) Vergil gelingt das Paradoxon, die Unverbrüchlichkeit seiner Systeme zu garantieren, indem er diese zwar zum einen in Zweifel zieht, diese Zweifel aber zum anderen mit der Geltung des Bezweifelten – und darin liegt das ganze Paradox – harmonisiert. Formallogisch ist dies ein Akt schierer Unmöglichkeit. Geleistet wird er über komplexe, im Wesentlichen sprachlogische Operationen, die man im weiteren Sinne als rhetorische verbuchen kann. Sie haben entscheidenden Anteil daran, die Absolutheit des Systems ‚auszuhalten‘, indem sie es stören und konsolidieren zugleich. Vergil entwickelt eine poetische Technik, die die Spannung zwischen der Absolutheit eines poetisch-politischen Programms und seiner – nicht nur erzählnotwendigen – narrativen Unterwanderung nicht nur aushält, sondern auch als ein ästhetisches Prinzip modelliert. 2) Die späteren Reaktionen auf Vergil sind affirmativ, was seine kanonische Geltung betrifft, aber sie sind es nicht notwendig, was die Akzeptanz dieser paradoxen Figurationen angeht. Greifbar ist ein starkes Bedürfnis, die gespannten Paradoxa doch zugunsten kompromissloser Klarheit aufzulösen und den Zweifel, der diesen eingeschrieben ist, zu zerstreuen. Dass im Bemühen, dieses Bedürfnis zu befrieden, die paradoxale Spannung sehr leicht zur unlöslichen Aporie mutiert, folgt aus der Sache selbst: Jedes Paradoxon birgt einen Widerspruch, und wird ihm seine rhetorische Decke abgezogen, liegt er blank. Die historisch-teleologische
5 Frühe Zeugnisse dafür sind, neben Vergil-Allusionen bei Ovid (dazu den Band Vergil: Landleben. Bucolica. Georgica. Catalepton. Hrsg. von Johannes Götte, Maria Götte. Vergil-Viten. Hrsg. von Karl Bayer. Lateinisch und deutsch. München 1970 [Tusculum-Bücherei], S. 410–412), die Vergil-Viten (ebd., S. 211–395) und der große Vergil-Kommentar des Servius: Servii grammatici qui feruntur in Vergilii carmina commentarii. Hrsg. von Georgius Thilo, Hermannus Hagen. 3 Bde. Leipzig 1881–1902 [zit. als Serv. und DServ.], siehe dazu weiter unten. 6 Mit programmatischem Aplomb: Ernst Robert Curtius: Kritische Essays zur europäischen Literatur. 2. Aufl. Bern 1954 [1. Aufl. 1950], S. 11–30. Vgl. praktisch passim Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. 11. Aufl. Tübingen/Basel 1993 [1. Aufl. 1948].
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Verlaufskurve, die traditionell auf eine ‚Entdeckung‘ des Zweifels erst in der Neuzeit oder ‚Moderne‘ hinführt,⁷ wird durch diese Rezeptionsphänomene energisch umgebogen, und das historische Bild von einer ‚Vormoderne‘, das Zweifel und Kompromiss nicht kennt und nicht braucht, erhält eine empfindliche Delle.⁸ Gegen das Modell des Fortschritts drängt jenes der Regression.
II Vergils Aeneis und das römische Projekt Das Programm – das, wenn man so möchte, narrative und zugleich kulturpolitische System – von Vergils Aeneis ist ein römisches Projekt. Das Epos schildert, mittelalterlich gesprochen, die komplizierte, an Umwegen und Retardationen reiche Landnahme troischer Flüchtlinge in Italien; sie sind die Ahnen des römischen Reichs und der römischen Dynastien. Aeneas ist der Anführer der troischen Mannschaft, begleitet von seinem halbwüchsigen Sohn Ascanius, zunächst auch noch von Vater Anchises, der unterwegs verstirbt. Die Troer werden durch einen Seesturm von ihrem Weg nach Italien abgetrieben an die Küste Karthagos, wo Aeneas gastliche Aufnahme bei, dann auch die Liebe von Königin Dido findet (Buch I). An ihrem Hof blickt er erzählend zurück auf den Fall Trojas (II und III); von göttlichem Befehl getrieben, verlässt er Dido und startet erneut übers Meer in Richtung Italien (IV), auf Sizilien begeht man feierlich den zum ersten Mal sich jährenden Todestag von Anchises, unter anderem mit sportlichen Wettkämpfen (V). Vom toten Vater im Traum ermahnt, sucht Aeneas die Seherin Sibylla auf und lässt sich von dieser durch die Unterwelt führen, wo er zuletzt auch seinem toten Vater begegnet, der prophetisch auf die römische Geschichte vorausblickt (VI). Die zweite Handlungshälfte gilt dem Krieg um Italien: Während Latinus, ein Kleinkönig und Vater der Lavinia, die Flüchtlinge aufzunehmen bereit wäre, agiert dessen Frau Amata, noch mehr aber der benachbarte Fürst Turnus – Verlobter der Lavinia – feindlich. Durch eine Art Missverständnis kommt es zu ersten Scharmützeln zwischen Ankömmlingen und Ansässigen; Heersammlungen finden statt (VII). Aeneas wiederum gelingt es, sich mit dem altitalischen König Euander und seinen Leuten zu verbünden (VIII). Zahlreiche Schlachtszenen geben Raum für mehr oder weniger heldenepische Auftritte, einige Helden und Heldinnen – darunter Pallas, der Sohn des Euander, auf der Seite der Troer, sowie Camilla, eine amazonenhafte Kämpferin, an Seite des Turnus – fallen (IX–XI). Zuletzt kommt es
7 Kritisch dazu Witthöft (Anm. 1). 8 Auch dies mit Witthöft (Anm. 1).
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zum lange aufgeschobenen Duell zwischen Aeneas und Turnus, das jener endgültig gewinnt, indem er diesen, wehrlos geworden, tötet (XII). Was nach einer bunten, ereignisreichen, auch windungs- und konfliktreichen Handlung klingt, ist dies nur unter Vorbehalt. Unbestritten hält die Handlung einen großen Reichtum an Personen, Schauplätzen, kleineren und größeren Konflikten bereit. Dem oberflächlichen Getriebensein der Menschen, allen voran der Toer, steht aber entgegen, dass, was immer geschieht, durch Fatum, göttliches Wollen und göttliche Providenz vorab gesichert ist. Italien und die italische Herrschaft sind Aeneas und seinen Leuten vorbestimmt, und was sie tun und betreiben, dient nur diesem einen Zweck: ein göttliches Geheiß umzusetzen. Die Menschenfiguren agieren in den einzelnen Szenen: wenn sie lieben (Dido und Aeneas), Freundschaften schließen (Aeneas und Euaner) und kämpfen (rückblickend in Troja, dann in Italien). Die großen Linien aber sind durch göttlichen Ratschluss bestimmt: Juno hat den Trojanischen Krieg für sich entschieden, im Gegenzug ist es Venus – der Verliererin – erlaubt, ihren Sohn Aeneas, ihren Enkel Ascanius, mit ihnen einen Teil Trojas nach Italien zu senden, auf dass dort aus ihnen ein Weltreich erwachse. Dass damit der Text automatisch ein stabiles politisches Programm fährt, folgt daraus: Vergil dichtet zur Zeit des Augustus, nach den Bürgerkriegen, die Aeneis wird mit sofortiger Wirkung das römische Nationalepos schlechthin. So berichten es schon die spätantiken Vergilviten⁹, und nicht anders kodifizieren es die spätantiken Vergil-Kommentare.¹⁰ Dieses Programm ist allerdings nicht hermeneutisch dem Text abgezogen, sondern wird in diesem selbst thematisiert, und dies mehrfach. Schon im ersten Buch verkündet Jupiter, gleich nach dem handlungslösenden Seesturm, in einer prophetischen Rede¹¹, wohin alles führen wird und führen muss (I,254–296). In der Unterwelt zeigt der tote Anchises seinem Sohn Aeneas eine Sammlung von Seelen, die ihrer (erneuten) Geburt harren: Es sind die Protagonisten der römischen Geschichte, bis in die Zeit des Augustus hinein (VI,756–886). Im achten Buch aber, das Aeneas im altitalischen Idyll bei Euander zeigt, erhält dieser von seiner Mutter Venus eine unzerstörbare Rüstung, geschmiedet von Venus’ Gemahl Vulcan, auf deren Schild abermals die römische Geschichte abgebildet ist (VIII,626–728). Dass die Geschichte dieser Troer ein römisches, zugleich von den Göttern sanktioniertes Projekt darstellt, steht niemals infrage: dies ist, im Sinne der einleitenden Passagen oben, das ‚absolutistische System‘, das Vergil installiert.
9 Vgl. bes. die in der Sueton-Vita (116–120) tradierte Reaktion der Mutter des Augustus auf eine Rezitation aus dem sechsten Buch der Aeneis. 10 Kanonisch: Serv. zu Aen. I,1 (S. 4). 11 Dazu ausführlich Julia Hejduk: Jupiterʼs Aeneid. Fama and Imperium. In: Classical Antiquity 28 (2009), S. 283–292.
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Wie tief dieses ‚System‘ in das Epos eingelassen ist, und dass es nicht nur draufgesetzte, vor- oder nachgeschobene Deutung des narrativen Verlaufs ist, zeigt, dass auch die Details der Handlung göttlich angeregt sind. Was immer Aeneas tut, er tut es getrieben von göttlichen Befehlen, die ihn über Orakel, teils auch über direkte Botschaften (Treffen mit Hermes, mit seiner Mutter Venus) erreichen. Nicht anders verhält es sich mit seinen Widersachern. Auch sie handeln nicht gleichsam aus sich selbst heraus, sondern werden angestiftet von Juno, deren Hass gegen Troja noch nicht abgeklungen ist und sich nun gegen die wenigen troischen Flüchtlinge richtet, die es noch gibt. Sie verantwortet beispielsweise, dass Amata sich gegen die Ankömmlinge stellt, sie stachelt Turnus mehrfach an, sie lässt auch – vermittelt über die Furie Allecto und ihre Botin Iris – den Krieg werden. Die Menschenfiguren werden häufig wie ferngesteuerte Marionetten durch die Erzählwelt manövriert; am härtesten trifft es den – wenn dem Epos der Begriff erlaubt sei – Protagonisten Aeneas, den seine Mutter Venus immer und immer wieder fest an die Hand nimmt. In dieser Hinsicht ist die Aeneis ein kompromissloses Artefakt. Was immer geschieht, schmückt retardierend einen narrativen Prozess, dessen télos immer da und immer sicher im Raum steht, allen bewusst: nicht nur den Göttern, sondern auch den Menschen. Dass ein Gedicht, das sein narratives und kulturpolitisches Finale so deutlich vor sich herträgt, manchen heute leicht sauer aufstößt, ist vielleicht eine ahistorische Beobachtung. Dass ein Erzähltext, der von Anfang an aus Handlungsgewissheiten besteht und dessen handelnde Menschenfiguren wie leere Hülsen am Schachbrett sich verschieben, ein erhebliches ästhetisches Risiko eingeht, wird aber weitere Geltung haben. Je extremer diese poetische Strategie geartet ist, desto mehr wird alle Erzählbewegung rein äußerlich, desto mehr verlieren die verfremdeten Menschenfiguren an Faszinationspotential, desto weniger Spannung ist da. Zu diesem narratologischen Problem tritt ein axiologisches, vielleicht müsste man sogar sagen: ein theologisches. Juno hat in Troja gesiegt,Venus unterlag. Aber à la longue wird Venus diesen ihren Verlust mehrfach wettmachen, wenn ihr Sohn Aeneas, wenn ihr Enkel Ascanius zu Stammvätern des – im Vergleich zu Troja – ungleich mächtigeren, weltbedeutenden Rom werden. Junos Sieg nimmt sich unter dieser Perspektive aus wie eine Halbzeitführung, in Summe scheitert sie. Ist dies einer Göttermutter, die sich noch dazu so energisch und immer vergeblich gegen die Progression des trojanisch-römischen Projekts engagiert, gemäß? Uns fehlen alte Zeugnisse für das exponierte narratologische Problem. Ob es auch Vergil oder seinen Zeitgenossen oder späteren, etwa spätantiken oder mittelalterlichen Rezipienten in den Kopf geschossen wäre, wissen wir nicht. Auch die Götterfrage um Junos Niederlage könnte man für den Sprössling einer modernen Attitüde halten, die das Prinzip Vielgötterei vergessen und das Göttliche mit einer absoluten Wirkmacht begabt hat, die ihm in antiker Zeit gar nicht gehört. Diese
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Vermutung aber wird von der Aeneis selbst abgewiesen, zumal das Gedicht reiche Evidenz dafür birgt, dass das Sensorium für dieses göttliche Problem ursprünglich und alt ist. Ob es dabei nur darum geht, die Verhältnisse unter numinosen Gewalten zu regulieren, oder ob damit auch und zugleich das vermutete narratologische Problem angegangen wird, sei weiter unten erneut diskutiert. Voraussetzung dieser Diskussion ist ein genauerer Blick auf jene Götterbezirke der Aeneis, die bisher nur gestreift worden sind und die sich – so viel vorneweg – durchaus nicht durch jene Absolutheit auszeichnen, wie die Schicksale der Menschenfiguren sie erdulden: Was aus Sicht der Menschenfiguren und auch aus Sicht jener Rezipienten, die – etwa aus römisch-nationaler Perspektive – mit und durch die Menschenfiguren identifikatorisch auf die Handlung schauen, als System absoluter, kompromissloser, zweifelsfreier Geltung erscheint, wird auf Götterebene verhandelbar, wird bezweifelt und führt auf einen überraschenden Kompromiss hin. Insofern aber auch die Götter handelnde Figuren sind, sind die Konsequenzen für die poetische Komposition der Aeneis keine geringen.
III Göttergespräche und Götterrat Es gibt vier Szenen der Aeneis, die für unser Thema einschlägig sind. Die Rede ist von vier Göttergesprächen, die weit über die Handlung verstreut sind und die sich dadurch auszeichnen, dass sie ausschließlich im Götterkreis stattfinden und dass sie die Geschicke der Troer – also die große Verlaufskurve der Handlung – zum Gegenstand haben. Von Jupiters großer, proleptischer Prophetie in Buch I war schon die Rede. Er spricht zu seiner Tochter Venus, die Prophetie ist Reaktion auf Venus’ Klage über den Schiffbruch der Troer und das Unglück, das sie verfolgt (I,223–296). In Buch IV treffen Venus und Juno, deren Feindschaft die Wirrnisse der Handlung prägt und bewegt, aufeinander und vereinbaren scheinbar konsensuell, ‚allerbeste Freundinnen‘ gleichsam, die Verbindung von Dido und Aeneas, beide Verschiedenes im Sinne führend, eine List-Gegenlist-Situation mit weitreichenden Folgen nicht nur für die Handlung (die Troer können in Karthago ‚verschnaufen‘, sich neu sammeln), sondern auch für Dido (ihr Tod; IV,90–128). Buch X hebt, schon mitten in den beginnenden Kampfhandlungen, an mit einem Götterrat am Olymp, in dem Venus und Juno ihre gegenläufigen Positionen energisch dartun; Jupiter, dramatisch in die Enge getrieben zwischen den Wünschen seiner Tochter und seiner Gemahlin, zieht sich aus der Verantwortung, indem er alles dem Fatum anheimstellt und selbst nicht Position bezieht (X,1–117). Das letzte Göttergespräch führen Jupiter und Juno kurz vor dem Finale des Epos in Buch XII. Der Kampf zwischen Aeneas und Turnus steht auf Messers Schneide, als sich das regierende Götterpaar auf den Tod des
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Turnus und den Erfolg des Aeneas verständigt, und dies auf eine Weise, die Juno das Gesicht wahren lässt (XII,791–842). Im Einzelnen: 1. Jupiters Prophetie: Er spricht diese nicht ohne äußeren Anlass. Als er dabei ist, das Geschehen in der Welt der Menschen vom höchsten Himmel aus zu betrachten, tritt seine Tochter Venus an ihn heran. Wüst klagt sie nicht nur über das Schicksal, das die Troer erleiden müssen, sie klagt auch Jupiter, den sie als o qui res hominumque deumque / aeternis regis imperiis et fulmine terres ¹² (I,229 f.) adressiert, wüst an: certe hinc Romanos olim uoluentibus annis, hinc fore ductores, reuocato a sanguine Teucri, qui mare, qui terras omnis dicione tenerent, pollicitus – quae te, genitor, sententia uertit? (I,234–237)¹³
Die Aggression ihrer nach Art einer Gerichtsrede aufgebauten Anklage¹⁴ wird gelindert davon, dass sie Jupiter – wie auch schon das kurze Zitat zeigt – mehr und mehr als Vater (und damit zugleich als Großvater: des Aeneas nämlich) in die Pflicht nimmt. Entsprechend reagiert Jupiter denn auch nicht, wie man es nach Venus’ geballten Vorwürfen erwarten möchte, pikiert, sondern mit großer, väterlicher Gelassenheit: Olli subridens hominum sator atque deorum uultu, quo caelum tempestatesque serenat, oscula libauit natae […]¹⁵ (I,254–256).
Das ist nicht oder nicht nur das homerische Götterlächeln. Vergil privatisiert die numinosen Gewalten, indem er aus dem überkommenen Motiv eine rührselige Vater-Tochter-Szene zimmert. Jupiter ist – so jedenfalls kann man diese Szene deuten, und so scheint man sie schon spätantik verstanden zu haben – der gütige
12 „Der du die Geschicke der Menschen und Götter mit ewiger Macht lenkst und mit dem Blitzstrahl schreckst“. 13 „Du hast doch fest versprochen, dass aus ihnen Römer einst im Laufe der Jahre, aus ihnen Herrscher werden sollten vom wiedererstandenen Geschlecht der Teucer, um über das Meer, um über die Welt zu gebieten. Welcher Gedanke, Vater, hat dich umgestimmt?“ 14 Detailliert zur Szene, auch zum homerischen Vorbild und zur spätantiken Rezeption: Florian Kragl: Runde Figuren im epischen Erzählen? Zu einigen widersprüchlichen Gesten bei Vergil (mit einem Seitenblick auf den mittelalterlichen Eneasroman). In: Widersprüchliche Figuren in vormoderner Erzählliteratur. Hrsg. von Elisabeth Lienert. Oldenburg 2020 (BmE Themenheft 6) (online), S. 25–76. 15 „Ihr lächelt zu der Schöpfer der Menschen und Götter mit der Miene, die Himmel und Wetter aufheitert, küsst zärtlich die Tochter“.
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Vater, der den rhetorischen Pomp, den seine Tochter aufhäuft, als solchen erkennt, und der aber – paradoxerweise – gerade deshalb sich ihrem Ansinnen fügt, weil er begreift, wie gefinkelt sie es beginnt. Die Rhetorik funktioniert nicht unmittelbar, sondern gleichsam um’s Eck.¹⁶ Direkt nach diesem kurzen intimen Moment hebt Jupiter, eingeleitet noch im selben Vers (dehinc talia fatur ¹⁷, I,256), seine große Rede an, beginnend mit: parce metu, Cytherea, manent immota tuorum / fata tibi ¹⁸ (I,257 f.). Nun holt er weit aus, was einen detaillierten Vorausblick auf das Kommende einträgt: die Kriege der Landnahme, die Herrschaft des Aeneas (drei Jahre), des Ascanius (30 Jahre), der Troer (300 Jahre), Romulus und Remus – Sprösslinge der regina sacerdos ¹⁹ (I,273) Ilia –, bis hin zu (Caesar oder) Augustus²⁰ (nascetur pulchra Troianus origine Caesar ²¹; I,286), der weltunterjochend die ehernen Pforten des Kriegs fest verschließen und den Furor impius ²² (I,294) bannen soll. Die Prophetie ist weltbedeutsam, Jupiter stellt sie auch doppelt als Bestätigung des längst Beschlossenen dar: neque me sententia uertit ²³ (I,260), reagiert er auf Venus’ Rede, und zu den römischen Erfolgen: imperium sine fine dedi. ²⁴ (I,279) Dass diese Rede zunächst eine des tröstenden Vaters an die traurige Tochter ist, gerät im Laufe der Verse ins Hintertreffen, denn was Trost spenden soll, erhebt sich über die Situation als proleptisches Moment von einiger politischer Bedeutung; narratologisch ist die Rede Jupiters auch und wesentlich an die Rezipienten adressiert, die mit seinen Ausführungen in die Handlungssituation eingeführt werden – die Aeneis hatte ja nach kurzem Proöm mit einem unvermittelten Seesturm eingesetzt, erst jetzt wird der nötige Handlungsrahmen nachgetragen. In diesem Sinne spricht durch Jupiter auch der Erzähler, und dass er anstatt rückblickender Erzählerrede prophetische Götterrede treten lässt, ist ein artifizieller Kniff: Auktorial ist beides. Ganz aber lässt Jupiter die Vater-Tochter-Szene nicht in Vergessenheit geraten. In dem Moment, in dem er zur Prophetie ansetzt, und schon nachdem er kundgetan hat, dass keine sententia seine Meinung ändern mochte, inseriert er eine an Venus
16 Auch dazu ausführlicher Kragl (Anm. 14). 17 „dann spricht er so“. 18 „Cytherea, es bleiben dir unverändert die Fata der Deinen“. 19 „Königstochter und Priesterin“. 20 Welcher der beiden in I,286 gemeint ist, bleibt in der Schwebe, siehe die Abwägung bei Roland G. Austin: P. Vergili Maronis Aeneidos liber primus. Oxford 1971, S. 109 f. 21 „Zur Welt kommen wird aus edlem Stamm Caesar, ein Trojaner“. 22 „der frevlerische Furor“. 23 „Und kein Gedanke hat mich umgestimmt.“ 24 „Eine Herrschaft ohne Ende habe ich ihnen zugedacht.“
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gerichtete Notiz, die die Ausführlichkeit seiner Rede aus der Szene heraus begründet: hic [scil. Aeneas] tibi (fabor enim, quando haec te cura remordet, longius et uoluens fatorum arcana mouebo) bellum ingens geret Italia […]²⁵ (I,261–263).
Der Erzähler mag Jupiter lange sprechen lassen, um das Publikum über die Kontexte der Handlung aufzuklären und jene Exposition nachzutragen, die dem Anfang des Gedichts medias in res fehlt. Expressis verbis aber ist Jupiters Rede als Rede einer Figur motiviert, die Trost spenden möchte: weil die Sorge an seiner geliebten, gerade von ihm angelächelten und geküssten Tochter nagt. Ist aber dann, was Jupiter ausführt, aus der Neutralität dessen gesprochen, der, wie Venus es sagt, Menschen und Götter beherrscht, und gilt, was er sagt, unverbrüchlich: ein neutraler Blick auf das, was sicher kommen wird? Oder aber fällt Jupiter, so wie Venus vor ihm, in ein rhetorisches Verhaltensmuster, das immer dann aufscheint, wenn in schlimmer Sorge Trost dringend angeraten ist? Deshalb ist ja nicht gleich falsch, was er sagt, aber dass er übertreibt – auf diesen Gedanken kann man kommen. Erst einmal darauf gekommen, wird, was so fatal und gewiss erscheint, in einigen Details schillernd: […] quin aspera Iuno, quae mare nunc terrasque metu caelumque fatigat, consilia in melius refert, mecumque fouebit Romanos, rerum dominos gentemque togatam. ²⁶ (I,279–282)
Jupiter greift damit eine von Venus sehr vorsichtig und doch deutlich vorgetragene Anschuldigung gegen ihre und der Troer Widersacherin Juno – seine Frau – in unmissverständlichen Worten auf (sie hat Schuld an der aktuellen Misere); aber dass just Trojas Erzfeindin einst gleichsam schützende Hand über die ‚römischen Troer‘ halten wird, kommt einer emotionalen Kehrtwende gleich, die man – nach allem, was nun zu wissen steht – nicht gerne glauben mag. Entweder ist dies ein, wie man heute sagt, cliffhanger, der gehörig Wie-Spannung generiert, oder aber Jupiter übertreibt maßlos (wir werden am Gespräch von Jupiter und Juno in Buch XII se-
25 „Dein Sohn wird – ich will jetzt ausführlicher sprechen, da diese Sorge sichtlich an dir nagt, die Fata entrollen und ihre Geheimnisse enthüllen – in Italien einen gewaltigen Krieg führen“. 26 „Sogar die grimmige Iuno, die zur Zeit Himmel, Erde und Meer in lähmende Angst versetzt, wird ihr Sinnen und Trachten zum Besseren wenden und zusammen mit mir begünstigen die Römer, die Herren der Welt, das Volk in der Toga.“
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hen, dass beides der Fall ist).²⁷ Für nicht weniger übertrieben mag man halten, dass Jupiter Augustus einen Troianus nennt, wobei in diesem Fall schon die Syntax selbst schillert: ‚Caesar, ein Trojaner aufgrund der schönen Herkunft‘, oder ‚Caeser, ein Trojaner, im Übrigen von schöner Herkunft‘? Das ist nahe beisammen, aber nicht dasselbe, und die chiastische Wortstellung verwickelt die Verhältnisse rhetorisch. Solchen Gedanken muss man sich nicht hingeben. Wer die Gesprächssituation ausblendet – und Jupiters prophetische Rede lädt dazu ein –, wird nicht darauf verfallen. Wer sie im Kopf behält – und auch dafür können Jupiters Worte sorgen –, ist aber gegen das Risiko nicht gefeit, Jupiter zugleich zu glauben und ihn doch nicht bei jedem einzelnen Wort zu nehmen. Dann aber legt sich ein dünner Schleier menschenfigürlicher Rhetorik über eine göttliche Prophetie, die das Kommende nicht grundsätzlich infrage stellt, die aber einzelne Bausteine des römischen Projekts anlockert. Keine Rede, dass die Aeneis davon ihr offensives kulturpolitisches Programm verlöre, aber was aus Vogelperspektive so unumstößlich scheint, präsentiert sich – nicht auf Menschen-, sondern auf Götterebene – als Produkt figürlicher Interaktion. Dass es just die Götter sind, die sich hier wie Menschen gerieren, während die handelnden Menschenfiguren oft ungleich selbstgewisser und ‚flacher‘ sich geben, wird im Gedicht, das mit diesem Gespräch erst eigentlich beginnt, immer wieder begegnen. Dass diese menschlichen Interaktionsmuster auf Götterebene wiederum mehr sind als superfizielle, vielleicht schmückende Zutat, darauf deutet hin, dass sie fest ins motivationale Gewebe eingeflochten sind: Unmittelbar nach seiner prophetischen Rede beauftragt Jupiter den Götterboten Merkur, den Troern in Karthago eine gastliche Aufnahme zu verschaffen. Merkur handelt prompt: ponuntque ferocia Poeni / corda uolente deo ²⁸ (I,303 f.). Für alles Kommende ist dies ein entscheidender Schritt, und dass der Erzähler die Herzen der Punier ferox nennt, betont, dass dieser Schritt auch ein nötiger ist. – Was hätte Jupiter eigentlich getan, wenn Venus sich nicht an ihn gewandt hätte, und was wäre dann geschehen? Ob das Schicksal so, wie Jupiter es darstellt, fest beschlossen sei, oder ob er punktuell übertreibt, ist das eine; dieses Schicksal handelnd einzusetzen, das andre. Erst indem Venus und Jupiter miteinander sprechen, erst indem Jupiter die Prophetie spricht, realisiert er, dass er sie auch realisieren muss: die Prophetie als Sprechakt. All dies ist kein Kompromiss. Leise Zweifel an der Stabilität des römischen Projekts aber werden schon in dem Moment laut, in dem es das erste Mal exponiert wird. Dass es nur um den Preis eines Kompromisses zu haben sein wird, lässt sich
27 Siehe zum Verständnis der Stelle (bes. des in melius) Vinzenz Buchheit: Junos Wandel zum Guten. Verg. Aen. 1,279–282. In: Gymnasium 81 (1974), S. 499–503. 28 „Die Punier besänftigen ihre wilden Herzen, wie der Gott es wünscht“.
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als narratologische Hypothese aus der Art und Weise deduzieren, in der numinose Gewalten – vermeintliche Garanten eines unumstößlichen Schicksals – hier agieren; dass es einen Kompromiss auch wirklich geben wird, erhellt aus Jupiters Notiz zum Einlenken von Juno. Es ist dies das einzige Element der Prophetie, das Fragezeichen stehen lässt. Die ganze Spannung liegt darauf. 2. Venus und Juno: Dieses figürliche Wirken der Götter in der Handlung findet drastische Fortsetzung in Buch IV. Die Handlung hat sich inzwischen zu dieser Situation entwickelt: Aeneas und seine Troer sind in Karthago von Dido gastlich aufgenommen worden, durch die Intervention von Venus ist die Königin in Aeneas regelrecht verschossen. Dessen wird Juno gewahr; sie erkennt, dass Widerstand gegen diesen furor ²⁹ (IV,91) zwecklos ist, und wendet sich mit schmeichelhaften Worten an Venus: Juno lobt ihre Erzfeindin für ihren Erfolg und verbindet ihre (vermeintliche – wie der Erzähler bald erklären wird) Wertschätzung mit einem Vorschlag zur Aussöhnung, der nichts anders ist als ein potentieller Kompromiss; sie sagt: sed quis erit modus, aut quo nunc certamine tanto? quin potius pacem aeternam pactosque hymenaeos exercemus? habes tota quod mente petisti: ardet amans Dido traxitque per ossa furorem. communem hunc ergo populum paribusque regamus auspiciis; liceat Phrygio seruire marito dotalisque tuae Tyrios permittere dextrae. ³⁰ (IV,98–104)
Natürlich ist das eine Finte, eine List, simulata mente ³¹ (IV,105), wie der Erzähler sagt, gesprochen: so wie wenn jemand erkennt, dass eine Sache verloren ist, und aus der Niederlage Profit schlagen möchte. Auch Venus notiert – auch dies wissen wir aus auktorialer Rede – Junos Verstellung und dass diese mit diesem Vorschlag die Troer von Italien fernhalten möchte (quo regnum Italiae Libycas auerteret oras ³², IV,106). Sie antwortet, ohne sich dieses Bewusstsein anmerken zu lassen, mit einer Gegenlist:
29 „Leidenschaft“. 30 „Aber wie weit soll das gehen, oder wohin geraten wir nun in einem Streit solcher Größe? Wollen wir nicht lieber ewigen Frieden und ein eheliches Bündnis stiften? Du hast doch erreicht, was du von ganzem Herzen gewünscht hast. Das Feuer der Liebe hat Dido ergriffen, und die Leidenschaft ist ihr bis ins Mark gedrungen. Lass uns also dieses Volk vereinen und mit gleichen Machtbefugnissen leiten; mag sie dem phrygischen Gatten dienen und ihre Tyrier als Mitgift in deine Hand geben.“ 31 „in heuchlerischer Absicht“. 32 „um die Herrschaft über Italien an die libysche Küste zu verpflanzen“.
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[…] ‚quis talia demens abnuat aut tecum malit contendere bello? si modo quod memoras factum fortuna sequatur. sed fatis incerta feror, si Iuppiter unam esse velit Tyriis urbem Troiaque profectis, misceriue probet populos aut foedera iungi. tu coniunx, tibi fas animum temptare precando. perge, sequar.‘ ³³ (IV,107–114)
An schmeichelnder Heuchlerei (lat. würde man blandiri sagen³⁴) ist dies kaum zu überbieten: Venus gibt sich (siegessicher) geschlagen, sie bittet Juno um Fürsprache bei Jupiter (den sie, siehe Buch I, auf ihrer Seite wähnt: den liebenden Vater³⁵), sie lässt Juno in jene Falle tappen, die diese selbst gestellt hat.³⁶ Juno erliegt der Versuchung, Venus’ Worte wörtlich zu nehmen: Sie schlägt unumwunden und ganz konkret vor, beim anstehenden morgigen Jagdausflug dafür zu sorgen, dass Dido und Aeneas sich durch einen plötzlichen Gewitterschauer – getrennt von den Gefährten, einsam in einer Höhle – nahekommen. Dass es just ein Gewitter ist, das Juno für diesen Zweck wählt und das sie selbst (!) bewirken will, könnte indirekt auf Venus’ Bitte reagieren, dass sie, Juno, das Einverständnis von Jupiter besorgen möge: Gewittermachen ist schließlich sein Geschäft. Venus aber scheint begeistert, und zwar von dem konkreten Plan und von ihrer Gegenlist gleichermaßen: […] non aduersata petenti / adnuit atque dolis risit Cytherea repertis. ³⁷ (IV,127 f.) Der gemeinsam gefasste Plan und mithin der angezielte, von keiner Seite aber als solcher formulierte Kompromiss ist: Juno lässt die Troer zufrieden und am Leben, gewährt ihnen eine Herrschaft, und zwar jene über Karthago, gemeinsam mit Dido, als Prospekt ein Geschlecht aus Troern und Phrygern; rasches Mittel zum Zweck sei die feste eheliche Verbindung (conubio […] stabili ³⁸, IV,126) von Dido und
33 „Wer wäre so wahnsinnig, ein solches Angebot abzulehnen, oder zöge es vor, mit dir Krieg anzufangen? Wenn nur dem von dir erwähnten Ereignis auch Glück beschieden wäre! Doch ich bin durch das Fatum im Ungewissen, ob Iuppiter will, dass in einer Stadt wohnen die Tyrier und die Ankömmlinge aus Troia, und ob er gutheißt, dass die Völker sich mischen und Bündnisse schließen. Du bist mit ihm verheiratet; du hast das Recht, ihn mit Bitten zu bestürmen. Geh also, ich folge dir.“ 34 Serv. zu IV,110: sane oratorie et blanditur et pugnat, sed non palam, dicendo incertam se esse de voluntate fatorum. ‚Freilich schmeichelt und kämpft sie rhetorisch, aber nicht offen, wenn sie sagt, dass sie über den Willen der Fata im Ungewissen ist.‘ 35 Vgl. Roland G. Austin: P.Vergili Maronis Aeneidos liber quartus. Oxford 1955, S. 56: „Venus knows well that she can twist Jupiter around her fingers when she wishes.“ 36 Zu den rhetorischen Strategien der beiden Göttinnen vgl. bes. Serv. zu IV,92. 93. 103 (Juno) sowie zu IV,107. 110 (Venus). 37 „Ohne Widerspruch stimmte Venus ihrer Bitte zu und lachte über die ausgeheckte List.“ 38 „in dauerhafter Ehe“.
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Aeneas. Was Juno nicht sagt, ist, dass sie auf diese Weise die Troer von ihrer Bestimmung – Italien – dauerhaft fernhalten möchte. Venus wiederum kommt diese feste Verbindung für den Moment gelegen; sie bedeutet für sie selbst eine Art Waffenstillstand, zumal Juno sich für Karthago zuständig und verantwortlich fühlt, für die Troer eine prolongierte Phase der Rekreation. Was Venus verbirgt: Die Verbindung zwischen Dido und Aeneas behält Schlagseite, und es wird im weiteren Verlauf von Buch IV für die Troer ein Leichtes sein, Karthago im für sie günstigen Moment zu verlassen; Dido treibt dieser Verlust in den Selbstmord. Dass damit Venus ihrer Kontrahentin eine weitere schmerzliche Niederlage bereitet – den Tod ‚ihrer‘ Königin –, muss nicht, kann aber ein boshafter Seiteneffekt sein. Der Kompromiss scheitert. Er war auch von keiner Seite ernsthaft als Kompromiss betrieben worden. Juno ist nicht bereit, mehr in den Kompromiss zu investieren, als sie ohnehin schon verloren hat (Didos Liebe zu Aeneas); sie versucht, aus einer erkannten Niederlage doch noch argumentativen Profit zu schlagen, indem sie den Verlust als Investment ausgibt. Das Muster ist aus politischen Debatten um Ressourcenverteilung auch heute gut bekannt. Venus wiederum verkennt den angebotenen ‚Kompromiss‘ ganz bewusst als eine absolute Gabe Junos: Das ist ja der Kern ihrer Heuchlerei, dass sie den ‚Kompromiss‘ als ihr einziges wahres Ziel ausgibt. Der Kompromiss als gedankliches, rhetorisches Prinzip ist in diesem Göttergespräch unmittelbar greifbar; narrative Realität aber wird er nicht. Der Fortgang der Handlung wird von dieser kleinen Szene nur wenig beeinflusst. Dido ist ja bereits von Liebeswahn ergriffen, die Lage der Troer in Karthago ist günstig; im Vergleich zu der Tat Merkurs, die Jupiter in Buch I nach dem Gespräch mit Venus anstößt, ist das Jagdgewitter eine Petitesse – über kurz oder lang, so möchte man vermuten, hätten Dido und Aeneas auch sonst zusammengefunden. Die Natur göttlicher Interaktion aber tritt umso deutlicher hervor. Die Numina glänzen in Dissimulation, was sie betreiben, sind Intrigen, die sie auf dem Rücken von Dido austragen, geleitet immer nur von ureigensten Interessen (das eigene Ansehen, der eigene Sohn), und was sie erreichen, erreichen sie heuchlerisch und durch List.³⁹ Dem Gespräch zwischen Venus und Jupiter ist diese Vermenschlichung der Numina nur mit zarten Strichen eingezeichnet; hier nun, im Gespräch zwischen Venus und Juno, gewinnt sie überdeutliche Kontur.⁴⁰ Darum sind die punktuellen Konsequenzen des Gesprächs dieser beiden ‚versöhnten‘ Feindinnen in der Handlung zwar gering; der handlungstragende Konflikt der Aeneis insgesamt aber tritt 39 Die Forschung war entsprechend irritiert von dieser Szene.Vgl. Robert Coleman: The gods in the Aeneid. In: Greece and Rome 29 (1982), S. 143–168, hier S. 163. 40 Vgl. Austin (Anm. 35), S. 50: „Virgil draws the goddesses with subtle humour […]. Juno is at her grandest, and Venusʼ respectful awe of her is sheer naughtiness, for she knows her power over Jupiter and has his promise that Aeneas shall reach Italy (i. 257 ff.)“.
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kaum irgend deutlicher zutage als in dieser Szene: Wenn wir uns die Götter der Aeneis psychologisch als Humanoide⁴¹ vorstellen dürfen, dann macht diese ‚Versöhnung‘ das Verhältnis zwischen Juno und Venus nicht einfacher. Indem sie sich gegenseitig überlisten wollen, gießen beide Göttinnen fleißig Öl ins Feuer, und dass die eine die andre listig so uneingeschränkt niederzuringen versteht, lässt die Flamme des Zorns umso höher auflodern. Der von Jupiter gegenüber Venus vage angedeutete Kompromiss – Juno und die Römer – rückt in weite Ferne. 3. Götterrat: Nach den ersten gröberen Kampfhändeln in Buch IX beruft – gleich zu Beginn von Buch X – Jupiter das concilium ⁴² (X,2) am Olymp ein. Wie schon in der Szene des ersten Buches tritt er auf als diuum pater atque hominum rex ⁴³ (ebd., in Erzählerrede), und wieder ist sein Blick von der himmlischen Höhe auf die Erde, auf die Lager der Dardaner und die latinischen Völker gerichtet. Jupiter nennt den Anlass für das Konzil in seiner Eröffnungsrede: caelicolae magni, quianam sententia vobis uersa retro tantumque animis certatis iniquis? abnueram bello Italiam concurrere Teucris. quae contra uetitum discordia? quis metus aut hos aut hos arma sequi ferrumque lacessere suasit? ⁴⁴ (X,6–10)
Einst, setzt er fort, wird Zeit zum Kriege kommen, wenn Rom und Karthago aneinandergeraten. Jedoch: nunc sinite et placitum laeti componite foedus ⁴⁵. (X,15) – So Jupiter mit wenigen Worten (haec paucis ⁴⁶, X,16). Er spricht Venus und Juno nicht direkt an, aber dass er sie, und nur sie, meint, kann niemandem – weder im Götterrat noch auf Seite der Rezipienten – verborgen bleiben. Weniger klar ist, worauf er rekurriert. Seine prophetische Rede in Buch I sprach von einem Krieg, die Prolepse ließ erkennen, dass die Landnahme der Troer in Italien ohne Krieg nicht gehen würde. Warum abnueram bello Italiam concurrere Teucris ⁴⁷ (X,8)? Entweder hat Jupiter vergessen, was er einst schon einmal wusste, oder er spricht – eher hier als dort: denn Krieg ist ja wahrhaftig da, die alte Prophetie bewahrheitet sich –
41 Dazu ausführlich Coleman (Anm. 39). 42 „Ratsversammlung“. 43 „der Vater der Götter und König der Menschen“. 44 „Edle Himmelsbewohner, warum hat sich eure Ansicht gewandelt, was streitet ihr so heftig mit Feindschaft im Herzen? Ich hatte mich dagegen gewandt, dass Italien Krieg beginnt mit den Teucrern. Was soll die Zwietracht entgegen meinem Verbot? Welche Furcht hat die einen oder die anderen veranlasst, die Waffen zu ergreifen und eine Schlacht herauszufordern?“ 45 „Jetzt lasst den Streit, und besiegelt freudig die beschlossene Abmachung!“ 46 „dies in wenigen Worten“. 47 „Ich hatte mich dagegen gewandt, dass Italien Krieg beginnt mit den Teucrern.“
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tendenziös.⁴⁸ Ungewöhnlich ist dies nur, wenn ein Gott spricht. In Sitzungen aller Art – Gerichtsreden zumal auch – wäre dies eine konventionelle Strategie: ‚Wir hatten ja vereinbart …‘ ist eine der gängigsten rhetorischen Formeln, um einen Beschluss durchzusetzen, der stricto sensu erst noch zu fassen wäre. Warum er überhaupt den Rat einberuft, warum er gerade jetzt Frieden fordert – übrigens ironischerweise, ehe die Kriegshandlung mit Buch X und XI voll in die Gänge kommt –, all dies bleibt dunkel. Auch Venus und Juno wissen, dass er sie beide anspricht; als erste ergreift die goldglänzende Venus (Venus aurea ⁴⁹, X,16) das Wort, und anders als Jupiter, der mit knapper Rede dekretierte, spricht sie ausführlich und lange (non […] pauca refert ⁵⁰, X,16 f.). Der Habitus ihrer Rede steht jenem von Buch I nicht fern, wieder adressiert sie ihn ehrfürchtig – o pater, o hominum rerumque aeterna potestas ⁵¹ (X,18) –, wieder gibt sie sich und ihr Leid ganz in seine Hand: namque aliud quid sit quod iam implorare queamus? ⁵² (X,19). Was dann folgt, ist ein Glanzstück der Rhetorik, auch der Gerichts- und Anklagerede. Den Anfang macht eine Beschreibung der Situation – Turnus attackiert die Troer, bis in deren Mauern reicht der Kampf, und dies, während Aeneas ignarus abest ⁵³. (X,25 – er ist noch bei Euander bzw. auf dem Rückweg), so als wäre der Angriff der Latiner ein Unrecht. Wieder drohe Troja der Fall, und Jupiters Nachfahre – tua progenies ⁵⁴ (X,30): sie selbst, aber auch Aeneas, Ascanius – können die Sache nur verzögern. Sie bittet um Jupiters Hilfe. Ihre Bitte untermauert sie dreifach. Erstens: Wenn die Troer ohne sein Wollen (sine pace tua ⁵⁵, X,31) und ohne göttlichen Willen (inuito numine ⁵⁶, X,31) nach Italien strebten, dann sollten sie büßen! Venus weiß, wie die Fata stehen, was Jupiter in Buch I gesagt hat – der Effekt ist ein rein rhetorischer, einer der Betonung. Zweitens: Wenn es hingegen so wäre, dass die Troer den Orakeln und Prophetien gefolgt wären, wie kann es sein, dass nun all dies – tua […] iussa ⁵⁷ (X,34 f.) – umgebogen werden kann zu noua […] fata ⁵⁸ (X,35)? Venus rekurriert damit nicht nur auf das
48 Vgl. die Diskussion der Stelle bei Richard Heinze: Virgils epische Technik. 3. Aufl. Leipzig/Berlin 1915 [Ndr. Darmstadt 1965], S. 297, Anm. 1; Stephen Harrison: Vergil: Aeneid 10. Oxford 1991, S. 59 f. sowie Hejduk (Anm. 11), S. 297. 49 „verführerische Venus“. 50 „begnügte sich […] nicht mit wenigen Sätzen“. 51 „Vater, du ewige Macht über Menschen und Welt“. 52 „was gibt es denn sonst, das wir noch anflehen könnten?“ 53 „Aeneas weiß nichts und ist fort.“ 54 „dein Kind“. 55 „ohne deine Zustimmung“. 56 „gegen deinen Willen“. 57 „deine Gebote“. 58 „neues Lebenslos“.
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Altbekannte, sie greift auch Jupiters Gesprächseröffnung auf: abnueram bello etc. Drittens zählt Venus nun auf, was alles an Unglück den Troern widerfahren musste: Iris, Allecto, das ganze Werk der Juno, die sie, wie schon in Buch I, nicht beim Namen nennt, anders als dort aber deutlicher und aggressiver anspricht: nil super imperio moueor. sperauimus ista, dum fortuna fuit. uincant, quos unicere mauis. si nulla est regio Teucris quam det tua coniunx dura, per eversae, genitor, fumantia Troiae excidia obtestor: liceat dimittere ab armis incolumem Ascanium, liceat superesse nepotem.⁵⁹ (X,42–47)
tua coniunx: deine Frau! – Der Passus leitet über zu der Rede drittem Teil: Hat Venus zuerst die Situation und dann die Schuldfrage in ihrem Sinne dargelegt und rhetorisch verschärft, kommt sie nun dazu, was sie sich im Detail wünscht. Die argumentative Bewegung führt abermals vom Bescheidenen zur Offensive einer fast schon dreist zu nennenden Forderung. Das Glück abhanden, hofft Venus nicht länger auf Herrschaft für die Troer (natürlich tut sie es). Sollen sie besiegt werden, die Jupiter besiegt sehen will (er will es nicht: darauf vertraut sie). Wenn schon Jupiters coniunx dura den Troern kein Land gönne – dies die nächste kleine Sottise: als ob Jupiter sich nicht zu behaupten wüsste –, so würde sie doch wenigstens Ascanius gerne bewahrt sehen; der nepos wird gegen die coniunx gewogen, beides mit versschließendem Achtergewicht. Aeneas – so Venus weiter – mag auf dem unsicheren Meer herumgetrieben werden, so denn und wohin Fortuna ⁶⁰ (X,49) ihn lenkt: jene fortuna, die gerade noch verloren schien! Aber wenn fortuna nun doch wieder da ist, kehrt durch diese argumentative Hintertür nicht sofort auch die Hoffnung auf das imperium zurück? Der Boden für die argumentative Pointe von Venus’ Rede ist mit diesem gedanklichen Rückzug der Troer gelegt. Wenn nämlich Aeneas in den Schutz ihrer, der Venus, Lande käme (ihn wüsste sie schon zu schützen, sagt sie), wenn er die Waffen ablegt und inglorius⁶¹ (X,52) sein Leben hinbringt … Möge doch Jupiter magna dicione ⁶² (X,53) befehlen, dass Karthago gegen Italien drängt! Nichts wird den Angreifern standhalten können. Was hat da die ganze Flucht aus Troja gebracht? Und
59 „Nicht um Herrschaft ist mir’s zu tun. Darauf hofften wir, solange das Glück uns lachte. Sollen die siegen, die du lieber als Sieger siehst. Wenn es gar kein Gebiet gibt, das deine hartherzige Gattin den Teucrern zugesteht, dann, Vater, beschwöre ich dich bei den rauchenden Trümmern des zerstörten Troia: Lass mich Ascanius unversehrt aus dem Kampf entfernen, lass meinen Enkel überleben.“ 60 „Fortuna“. 61 „ohne Ruhm“. 62 „mit gewaltiger Macht“.
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wäre es da nicht doch besser gewesen, wenn sie auf Trojas Asche geblieben wären? – Es ist kühn, wie Venus hier das Schicksal des Aeneas und seiner Mannschaft mit dem zukünftigen Schicksal Roms verbindet. Wenn dies nicht auch auf die zukunftsweisen Götter Eindruck macht, dann zumindest auf das römische Publikum. Kühner noch ist, wie sie, diesen Gedanken fortführend, ihre Rede schließt: […] Xanthum et Simoenta redde, oro, miseris iterumque reuoluere casus da, pater, Iliacos Teucris.⁶³ (X,60–62)
Venus fordert Troja metonymisch zurück (die beiden Flüsse), und wie schon in Buch I spricht sie den Herrscher der Menschen und Götter im entscheidenden Moment (erneut) als pater an.⁶⁴ Die rhetorische Finte aber steckt in der syntaktischen und semantischen Ambivalenz von iterumque reuoluere casus. Servius erklärt (zu X,62): si ad Troiam vis referre, sic dic: da nobis Troiam per naufragia et pericula, id est patiamur denuo quae pertulimus, dumtaxat nobis Troia reddatur. si vero ad Italiam vis referre, sic intellege: redde nobis Italiam, et libenter repetimus ea quae in Troia pertulimus. ⁶⁵
Beide Lesarten geben sich bescheiden, sie scheinen sich von der sehr direkten Forderung Xanthum et Simoenta / redde miseris wieder ein Stück weit zu entfernen; auch heute gängige Übersetzungen formulieren in diesem Sinne. revolvere casus wird im weiteren Sinne verstanden als ‚ein Schicksal von neuem, abermals erfahren, erleiden‘; in der syntaktisch ausgesparten Subjektsposition des von dare abhängigen Infinitivs stünden dann die Troer. Nimmt man revolvere wörtlicher, ‚zurückrollen, ‐wälzen, ‐wickeln‘, könnte die Stelle auch mit dreister Maximalforderung meinen, dass die Fata der Troer rückgängig gemacht werden sollten (in der Subjektsposition dann ‚man‘):⁶⁶ ‚Gib, Vater, dass für die (armen) Teucrer Ilions Fall (Plural) rückgängig gemacht, dass Ilions Schicksale zurückgedreht wird.‘ iterum ‚abermals, noch einmal, zum zweiten Mal‘ hemmt diese Lesart; vielleicht ist es bewusst gesetzt, um die Aufmerksamkeit von dieser dreisten Lesart abzulenken, sodass diese sich nicht in den
63 „Gib Xanthus und Simois, ich bitte dich, den unglücklichen Teucrern wieder und lass sie, Vater, Iliums Schicksal von neuem durchleben.“ 64 Vgl. Harrison (Anm. 48), S. 63 (zu X,18) und 75 (zu X,61 f.). 65 „Wenn du’s auf Troja beziehen magst, dann sag so: Gib uns Troja durch Schiffbrüche und Gefahren, das heißt, wir erdulden erneut, was wir erduldet haben, wofern nur uns Troja zurückgegeben wird. Wenn aber du’s auf Italien beziehen magst, versteh’s so: Gib uns Italien zurück, und bereitwillig werden wir wiederholen, was wir in Troja erduldet haben.“ 66 Als Option notiert bei Harrison (Anm. 48), S. 75.
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Vordergrund drängt und nur mitklingt. Freilich: iterum kann auch, abstrakt, schlicht adversativ gebraucht werden: ‚hinwiederum, andererseits, dagegen‘. Angesprochen mit dieser Rede ist Jupiter, und wenn wir die Szene des ersten Buches als Muster nehmen dürfen, ist seine Reaktion erwartbar. Venus redet mit derselben rhetorischen Rage auf ihn ein wie dort, und weshalb sollte er sich ihren Anliegen und Wünschen verweigern, wo er doch – in diesem Sinne durchaus leicht parteiisch für die Troer – den Götterrat einberufen hat, um dem Krieg Einhalt zu gebieten? Der Unterschied zu Buch I ist, dass das vertrauliche Vieraugengespräch einer offiziösen Verhandlungssituation gewichen ist, und so ist es nicht Jupiter, der reagiert, sondern die von Venus Angeklagte: regia Iuno ⁶⁷ (X,62). Sie ist acta furore graui ⁶⁸ (X,63): erstens grundsätzlich, denn Junos Zorn treibt das ganze Geschehen an (zuerst I,4: Iononis ob iram ⁶⁹, und dann immer wieder), zweitens aber – und daher vielleicht der furor gravis anstelle simpler ira – auch wegen der Rede der Venus: Die geballte rhetorische Aggression richtet sich gegen Juno. Auch aber, dass und wie Venus den Sachverhalt insgesamt zu ihren und der Troer Gunsten verzerrt, muss Junos Zorn nähren: Venus konzentriert sich auf das unmittelbare Geschehen, und in dieser Hinsicht stimmt alles, was sie sagt: das irritierte Fatum, die Interventionen Junos etc. Was sie ausblendet, ist der weitere Horizont, beginnend mit dem Urteil des Paris, denn in dieser weiteren Perspektive verlieren die Fragen nach Schuld und Verantwortung rasch ihre Eindeutigkeit. Es liegt nahe, dass Juno genau an diesem Punkt einhakt; auch sie wird sich als begnadete Rhetorin erweisen, wenn auch das Register, das sie zieht, ein anderes ist als das ihrer schmeichelnd-scheltenden, nicht von ungefähr ‚goldglänzend‘ (aurea) genannten Widersacherin.⁷⁰ Juno geht Venus frontal an, sie spricht zu ihr und duzt sie. Nicht rhetorische dissimulatio ist ihr Ziel, nicht die umständliche Verklausulierung sehr direkter Anliegen; sie wählt den Modus ‚ehrlicher Aussprache‘.⁷¹ Wieder folgt die Rede einer klimaktischen Logik, Juno beginnt, die Anschuldigungen der Venus aufgreifend, ebenfalls bei der aktuellen Situation; davor aber noch macht sie die Situation selbst zum Thema: quid me alta silentia cogis / rumpere et obductum uerbis uulgare dolorem? ⁷² (X,63 f.) Auch sie leidet! – Juno lässt diesen Faden hängen (sie wird ihn am Ende wieder aufnehmen), um nun im Stakkato rhetorischer Fragen die Schuld von sich abzulenken: Wer hat Aeneas gezwungen, in Italien Krieg zu
67 „die Königin Iuno“. 68 „getrieben von heftiger Wut“. 69 „wegen des […] Zorns der […] Iuno“. 70 Vgl. zum Redehabit der Venus auch die Glossen von Serv. zu X,27. 28. 33. 44. 55. 71 Vgl. abermals die Notizen zu Junos Rhetorik bei Serv., konkret zu X,70. 74. 78. 79. 88. 92. 72 „Was zwingst du mich, mein tiefes Schweigen zu brechen und meinen verborgenen Schmerz öffentlich auszusprechen?“
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suchen? Und wenn er auch fatis auctoribus (esto) ⁷³ (X,67), aber zugleich auch getrieben vom Wahnsinn Kassandras – Juno unterminiert die Fata rhetorisch – nach Italien kommen musste, wer hieß ihn linquere castra ⁷⁴ oder uitam committere uentis ⁷⁵ (X,68)? Das muss nicht, das kann durchaus ein Vorwurf gegen jenen Aeneas sein, der Dido verließ. Weiter geht es mit Fragen dieses Typs, die alles, was die Troer in Italien beginnen, als Frevel markieren (Krieg, Werbung um Lavinia, im Gegenzug die Rechtmäßigkeit des Turnus), als deren Urheberin wiederum Venus gilt. Auch Juno schönt die Ereignisse: Aeneas und seine Leute haben Troja nicht aus freien Stücken verlassen; natürlich hat sie, vermittelt durch Allecto und Iris, die Finger im Spiel. Die Haltung, aus der sie spricht, ist aber eine verbitterte, direkte, und die Häufung rhetorischer Fragen soll der Richtigstellung, der Wahrheitsfindung dienen. Dass und wie sie gegen die Fata agiert, spielt sie herunter: nos aliquid Rutulos contra iuuisse nefandum est? ⁷⁶ (X,84) – nämlich in Anbetracht des Unrechts, das Aeneas stiftet, und der vielen Initiativen, die Venus setzt. „Aeneas ignarus abest.“ ignarus et absit. ⁷⁷ (X,85), greift sie eine Formulierung der Venus auf und weist damit jeden Vorwurf zurück: als ob sie etwas dafürkönne. Wenn Venus über ihre Lande verfügt (sie selbst wollte ja dort Aeneas in Schutz bringen), wozu dann das alles? Erst jetzt greift Juno den Faden ihres Redeeingangs wieder auf: Wer trüge denn – sie fragt immerzu weiter – die Schuld an allem, wer hätte begonnen, wer den Raub gestiftet (Paris), wer die Ehe gebrochen (Helena), wer vermittels Cupido all dies gewirkt? tum decuit metuisse tuis: nunc sera querelis haud iustis adsurgis et inrita iurgia iactas. ⁷⁸ (X,94 f.)
Juno trifft mit diesem Argument keinen unwesentlichen Punkt: Venus hätte sich die Sache eben von Anfang an besser überlegen müssen; sich nun aus der Verantwortung zu stehlen, dafür sei es zu spät. Sie erweitert den Horizont der Schuldfrage so weit, wie es ihr zupass kommt. Diese Justage ist freilich nicht mehr oder weniger Setzung als die Fokussierung auf die aktuelle Situation in Italien in der Rede der Venus, und tendenziös ist beides. Auffällig hingegen ist, dass Juno Fehler unterlaufen, die Venus vermeidet. Mag sein, dass diese Fehler von dem Gestus der Of-
73 „auf Weisung des Fatums, schön und gut“. 74 „das Lager zu verlassen“. 75 „sein Leben den Winden anzuvertrauen?“ 76 „Dass wir dagegen den Rutulern ein wenig geholfen haben, gilt als Verbrechen?“ 77 „‚Aeneas weiß nichts und ist fort.‘ Soll er doch nichts wissen und fort sein.“ 78 „Damals wäre Furcht um die Deinen am Platz gewesen: Jetzt brichst du zu spät in ungerechte Klagen aus und lässt auf uns nichtigen Streit los.“
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fenheit bedingt sind, den Juno für ihre Rede wählt, denn je klarer die Worte, desto deutlicher auch treten Missverständnisse und Verzerrungen zutage. Schon wenn sie sagt, dass Iris und sie selbst an der Sache im Wesentlichen unbeteiligt wären (X,73), ist dies in dieser Deutlichkeit leicht zu falsifizieren. Schlimmer noch, wirft sie der Venus Dinge vor, die diese gar nicht gewirkt: tu potes Aenean manibus subducere Graium proque viro nebulam et ventos obtendere inanis, et potes in totidem classem convertere nymphas⁷⁹ (X,81–83).
Nur die ersten beiden Verse sind wahr; die Verwandlung der teukrischen Schiffe aber in Nymphen geschieht, auf Veranlassung der Göttermutter Berecyntia, durch Jupiter, der das idäische Holz auf diese Weise vor jenen Bränden bewahrt, die auf Anstiftung der Juno von den troischen Frauen gelegt werden (IX,69–122; vgl. auch Serv. zu X,83). Die Anklage geht nicht gegen Venus, sondern gegen Jupiter selbst! Juno mag sich dessen nicht bewusst sein. Just hier aber fortzusetzen mit dem schon oben zitierten Vers: nos aliquid Rutulos contra iuuisse nefandum est?, ist argumentativ wenig geschickt. Durch diese kleinen rhetorischen Unfälle sind die Gewichte von Rede und Gegenrede verschieden. Sie fügen sich zu der Grundtendenz, dass Jupiter Krieg verhindern will und die protrojanischen Fata nie ernsthaft in Zweifel gezogen werden. Umso verblüffender ist es, dass weder diese noch das leicht unterschiedliche rhetorische Geschick im Ausgang des Konzils eine Rolle spielt. Vielmehr scheint es, als würden die Differenzen einigermaßen brutal eingeebnet: Zuerst agieren die Umstehenden, die Zuhörer: namenlos bleibende Bewohner des Olymps. Sie spenden – verschiedenen – Beifall, wie wenn, so heißt es, die Luft sachte durch die Wälder rauscht oder unscheinbares Murmeln den Matrosen einen Sturm verheißt. Offenbar gibt es zwei Lager. Dann ergreift wieder Jupiter, diesmal noch ungleich gewaltiger als zuvor, das Wort: Es spricht pater omnipotens ⁸⁰ (X,100), dem nicht nur rerum […] prima potestas ⁸¹ (ebd.), sondern
79 „Du kannst Aeneas den Händen der Griechen entziehen, statt eines Helden Nebel und nichtige Winde hinstellen und kannst Schiffe in ebenso viele Nymphen verwandeln“. 80 „der allgewaltige Vater“. 81 „die höchste Macht über die ganze Welt besitzt“.
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[…] eo dicente deum domus alta silescit et tremefacta solo tellus, silet arduus aether, tum Zephyri posuere, premit placida aequora pontus ⁸² (101–103).
Die Erwartungshaltung, die diese Verse stiften, ist die eines entscheidenden Richterspruchs. Doch diese Erwartung wird brüsk enttäuscht. Zwar beginnt Jupiter: accipite ergo animis atque haec mea figite dicta. ⁸³ (X,104) Dann aber lässt er die Zügel locker. Wenn nun, so Jupiter weiter, die Troer und die Italer sich nicht verbinden mögen, wenn nun der Streit nicht enden mag, dann soll es jeder Seite, dann soll es einem jeden ergehen, wie es ihm ergehen soll. Weder für diese noch für jene mache er sich stark. […] sua cuique exorsa laborem fortunamque ferent. rex Iuppiter omnibus idem. fata uiam inuenient. ⁸⁴ (X,111–113)
Der Habitus ist der eines Richtspruchs des Göttervaters, und darum auch wird Jupiter im direkten Anschluss beim Styx auf dieses Urteil schwören, und darum werden die caelicolae nach diesem Spruch Jupiter feierlich von dessen goldenem Thron (solio […] aureo ⁸⁵, X,116) – golden oder goldglänzend wie Venus selbst: ein letztes leises, sofort wieder verhallendes Signal, dass er ihr näher steht als Juno – zur Schwelle geleiten und so das feierliche Konzil beschließen. Inhaltlich hingegen kommt Jupiters Entscheid einer juristischen Bankrotterklärung gleich. Er, der allmächtige Vater, der Herrscher über Menschen und Götter, er, der den bekannten Fata den Weg bahnen will und den Streit schlichten – er lässt den Dingen frei ihren Lauf, und er tut dies, obwohl dieser Lauf absehbar nicht jener ist, den er sich wünscht.⁸⁶ Tatsächlich wird der Krieg nach dem Götterrat umso wilder entflammen; der Effekt dieser Versammlung ist zu Jupiters anfänglichem Ansinnen gegenläufig. Wo Entscheidung und Klarheit gefordert sind, regiert plötzlich ein anything goes. Auch mit dieser Szene greift Vergil – wie bei den Reden von Venus und Juno – auf ein konventionelles rhetorisches Muster zurück: eine Sitzung, in der hart
82 „wenn er spricht, verstummt das hohe Haus der Götter und die in ihrem Grund erschütterte Erde, es schweigt hoch oben der Äther, dann legen sich die Winde, das weite Meer bringt seine Wasser zur Ruhe“. 83 „Vernehmt nun bewusst diese meine Worte und prägt sie euch tief ein!“ 84 „Das eigene Beginnen wird jedem Leid und Glück bringen. König Iuppiter ist für alle der gleiche. Die Fata werden ihren Weg finden.“ 85 „von seinem goldenen Thron“. 86 Auf diese Diskrepanz weist hin Harrison (Anm. 48), S. 90.
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konfligierende Meinungen geäußert werden, jäh zu beenden mit: So werden wir das jetzt machen (ohne dieses so bestimmt zu haben). Es ist dies eine typische rhetorische Exitstrategie aus verfahrenen, angespannten Situationen, die zwar argumentativ nichts löst und alles nur vertagt, vielleicht sogar (wie auch hier) alles nur noch verschlimmert, für den punktuellen Moment aber Druck aus dem Kessel nimmt. Mit Verlaub: Auch wer heute je politisch, und seiʼs nur hochschulpolitisch, aktiv war, der oder die könnte in diesem Mechanismus etwas unbequem Vertrautes erkennen. Die Zweifel, die diese großmächtige Götterszene stiftet, sind keine geringen. Zweifeln wird man sofort an der zwar behaupteten, vom Verhandlungsverlauf aber karikierten uneingeschränkten Allmacht Jupiters; zweifeln vielleicht auch, und mehr noch als zuvor, an den Fata, die von Jupiter schon zu Beginn der Versammlung anders dargestellt werden als in seiner ‚alten‘ Prophetie des ersten Buches; zweifeln darüber, wie sich Fata und pater omnipotens zueinander verhalten. Wer regiert hier eigentlich wen, und wie viel oder wie wenig weiß der Allmächtige? Der Schaden, den die Numina als metaphysische Wirkmächte nehmen, ist enorm.⁸⁷ Kompromittierend für ihre göttliche Gestalt ist aber noch mehr, wie sie sich in dieser Verhandlungssituation gebärden.Venus und Juno bedienen sich rhetorischer Muster der Gerichtsrede; ihnen ist weder an der Wahrheit noch an einer fairen Lösung gelegen: sie wollen sich durchsetzen, gewinnen. Das ist ja das Kerngeschäft der Rhetorik seit alter Zeit, und darum sind rhetorische Techniken diesem Anliegen gemäß. Dass sie damit abermals, wie schon beim Gespräch in Buch IV, tief in humane Verhaltensmuster fallen,⁸⁸ setzt das dramatische Geschehen auf Götterebene konsequent fort. Neuartig für die Handlung ist der Kompromiss, den man findet, und dass Jupiter selbst in diesen verwickelt ist, sodass nun auch er in die Fänge jener Psychologiken gerät, die in der Szene des ersten Buches angedeutet waren, die nun aber sich ungehemmt Bahn brechen. Er will sich, bedrängt von Tochter und Frau, ganz offensichtlich nicht entscheiden, er vermeidet eine Positionierung. Familiär ist das desto leichter verständlich, je mehr man sich Jupiter nicht als Gottvater, sondern als Vater und Gemahl zurechtdenkt. Die Szene fordert diese Psychologisierung geradezu ein, wenn man diese Folge von Figurenreden nicht für gänzlich wirr und völlig misslungen abtun möchte. Schaden nimmt davon nicht nur – figurenlogisch – die göttlich-erhabene Natur der Numina, Schaden nimmt – handlungslogisch – auch jene vermeintlich absolute 87 Siehe zu dieser Diskrepanz, die das gesamte Epos prägt, Coleman (Anm. 39). 88 Und zwar bis in die Details der Verhandlungsführung hinein, etwa wie die caelicolae (‚Himmelsbewohner‘) Jupiter hinausgeleiten: poetice mores hominum ad deos refert: ut magistratum deducunt. (Serv. zu X,117) ‚Auf poetische Weise führt er die Verhaltensweisen der Menschen auf die Götter zurück: wie sie den Magistrat geleiten.‘ – Vgl. abermals die Studie Coleman (Anm. 39).
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Teleologie des römischen Projekts. Wenn jener, der schon dem Namen nach rex aller Dinge ist, keine Führungskompetenz hat und jeden Führungsanspruch von sich weist, ist Ziellosigkeit des Geschehens die notwendige Konsequenz. Was bisher geschah, mag man als Retardation des immerzu Gewissen nehmen; was nun geschehen soll, hat mit dieser Götterszene seine Richtschnur verloren. Vielleicht ist dies nicht mehr als ein suspense-Moment – zugleich ein tiefes erzählerisches Luftholen – vor den anstehenden Kämpfen; würde sich der Göttinnenstreit zu Beginn von Buch X ein für alle Mal lösen, würden sich die verbleibenden (knapp) drei Bücher schließlich rasch erübrigt haben.⁸⁹ Auch unter dieser narratologischen Perspektive aber bleibt der konzeptionelle Preis – der Schaden am römischen Projekt und die fortgesetzte Humanisierung der höchsten Götter – für diesen narrativen Effekt ein hoher. Die handlungslogische Ironie ist nicht zu übersehen: Unmittelbar nach jenem Götterrat, mit dem Jupiter das erklärte Ziel verfolgt, den Streit zu schlichten und Krieg zu bannen, verdichten sich die vorläufigen Scharmützel zu einem Krieg im vollen Wortsinne. Ob dazu auch beiträgt, dass Jupiter – und mit ihm der Friedensplan – in diesem Götterrat erheblich an Autorität einbüßt bzw. diese abgibt, wird vom Text nicht thematisiert. Unplausibel ist es nicht. Prophetische Lenkungsgewalt weicht fatalem Zufall. 4. Jupiter und Juno: Buch XII hat den Kampf zwischen Aeneas und Turnus zum Gegenstand. Dabei entfällt nur der geringere Teil der Versmasse auf die eigentliche Kampfhandlung. Es braucht einen mehrfachen, langen erzählerischen Vorlauf, bis Aeneas und Turnus endlich einander gegenüberstehen und zu den Waffen greifen. Die enorme Retardation vergleicht sich grob der Struktur des vierten Satzes einer Bruckner-Symphonie: Spannung staut sich immer mehr, alles drängt hin zum Größeren. Was in der Musik die Schichtung von Dissonanzen oder Phänomene der musikalischen Dichte und auch Lautstärke sind, ist bei Vergil eine Verdichtung der Handlung – Schlachtengetümmel, durch das Aeneas und Turnus getragen werden und durch das sie wüten – sowie eine kontinuierliche Reduktion der Hindernisse und auch, ganz räumlich-gegenständlich, der Distanz, die die beiden Helden trennt. Endlich beginnt die Konfrontation, doch nach einem ersten Aufflackern kommt das Duell kurz zur Ruhe. Beide Helden haben ihre Waffen verbraucht: Nahe Aeneas steckt eine Lanze tief in einer Wurzel und wird dort – auf ein Gebet des Turnus hin – von Faunus festgehalten; auch Turnus ist unbewehrt. Es braucht göttliche Intervention, damit das Kampfgeschehen eine Fortsetzung finden kann. Die Nymphe Juturna, die Schwester des Turnus, die ihm – in Gestalt des Metiscus – als Wagenlenker assistiert, reicht ihm das Schwert. Venus aber, außer sich über diese
89 Vgl. Heinze (Anm. 48), S. 297, Anm. 1.
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Hilfeleistung, bricht für ihren vergeblich sich abmühenden Sohn die Lanze aus der Wurzel. Die Kampfpause geht zu Ende: olli sublimes armis animisque refecti, hic gladio fidens, hic acer et arduus hasta, adsistunt contra certamina Martis anheli. ⁹⁰ (XII,788–790)
Die von diesen resümierenden Versen geborene Erwartung muss sein, dass das Duell neu beginnt. Diese Erwartung wird enttäuscht: Auf die Pause des Kampfgeschehens folgt eine zweite Pause, nun auf Ebene des Erzählens selbst. Auch sie wird man narratologisch als Hinauszögern des Finales deuten dürfen – in der musikalischen Analogie wäre es eine Art unvermitteltes Seitenthema –; zugleich reagiert die Sistierung des Berichts und der Wechsel auf die numinose Handlungsebene aber auch darauf, dass abermals die Götter sich eifrig handelnd in die Geschicke der Menschen einmischen. Wieder ist es Jupiter, der sich daran zu stören scheint; diesmal wendet er sich an Juno allein: Oberflächlich betrachtet, ist dieses Gespräch eine Maßregelung: eine Mischung aus Befehl und Information über eine bereits getroffene Entscheidung. Jupiter bedeutet Juno unmissverständlich, dass es nun genug sei. Es stehe ihr nicht länger zu, sich in die Belange der Menschen einzumischen; dies habe sie lange genug getrieben, ulterius temptare ueto. ⁹¹ (XII,806) Juno widerspricht – und das ist nach allem, was bisher geschah, doch einigermaßen erstaunlich – nicht. Sie akzeptiert sein Gebot und entschwindet von der Wolke, auf der Jupiter sie fand. Jupiter aber setzt die handlungsentscheidende Tat: His actis ⁹² (XII,843), entsendet er geminae pestes cognomine Dirae ⁹³ (XII,845) gegen Turnus. Sie werden ihm den sicheren Tod bringen; kaum mehr als hundert Verse später wird die Aeneis ihr jähes Ende damit finden, wie Aeneas den Rutulerfürsten in Rage totsticht. Bei näherem Zusehen freilich ist das Gespräch zwischen Jupiter und Juno weit mehr als Schelte und Befehl. Schon dass es dieses Gespräch überhaupt braucht, ist verblüffend. Was nötigt Jupiter dazu, dem Treiben der Juno so dezidiert Einhalt zu gebieten? Warum entsendet er nicht einfach die Dirae gegen Turnus? Und fällt er, weitergedacht, mit dieser Einmischung in menschliche Handlungsfelder nicht in jene intrigante Götterrolle, die sonst vornehmlich Venus und eben auch Juno be-
90 „Die Helden, in voller Größe, wieder im Besitz von Waffen und Mut, der eine auf sein Schwert vertrauend, der andere grimmig und hoch aufgerichtet mit der Lanze, stehen sie nun da, vor Augen das letzte Gefecht des keuchenden Mars.“ 91 „Noch weiter zu gehen, verbiete ich.“ 92 „Nachdem diese Angelegenheit entschieden“. 93 „zwei verderbenbringende Dämonen mit dem Namen Dirae“.
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setzen und gegen die er sich im Götterrat, aber auch in diesem Gespräch zu wenden scheint? Verblüffend ist auch, wie Jupiter sein Argument entwickelt: Er beruft sich weder auf einen eigenen Entschluss noch auf die Fata in dem Sinne, dass den Troern ein neues Troja in Italien verheißen wäre. Ins Zentrum stellt er die Beobachtung, dass es nicht angehe, dass einer, der dem Himmel bestimmt sei – Aeneas nämlich –, durch ‚sterbliche Wunde‘ verletzt werde; verletzt wurde Aeneas tatsächlich im bisherigen Verlauf des Buches, doch der Erzähler sagt, dass unsicher sei, wer den Pfeil schoss, ein Mensch oder ein Gott. Die Formulierung mortali […] uulnere ⁹⁴ (XII,797) – die Verwundung durch einen Sterblichen, die Wunde, wie ein Sterblicher sie hat, die todbringende Wunde⁹⁵ – ist so unsicher wie das Ereignis selbst. Trotzdem schützt Jupiter dieses Ereignis vor; deshalb gilt, dass nach all den Aktionen, die Juno gesetzt hat (einige wird Jupiter aufzählen), ihr Wirken ein Ende haben muss: uentum ad supremum est. ⁹⁶ (XII,803) Warum rekurriert Jupiter auf die zu erwartende Vergöttlichung des Aeneas? Sie spielte bislang keine wesentliche Rolle. Verblüffend endlich ist, wie Juno reagiert. Ihr üblicher Zorn scheint wie verflogen, sie gibt sich zunächst demütig und unterwürfig: sic dea summisso contra Saturnia uultu ⁹⁷ (XII,807), leitet der Erzähler ihre Antwort ein. Was sie dann sagt, stimmt zu diesem Gestus: Sie kenne doch seinen, also Jupiters, Willen, sie habe Turnus und die Erde zwar ungern, aber sie habe sie verlassen, deshalb auch finde er sie hier oben auf einer Wolke sitzend und nicht unten im Schlachtengetümmel, das im Übrigen, betont sie wie nebenbei, ganz andere Gestalt nähme, wenn sie sich einmischte. Beim Styx schwört sie, dass sie Juturna zwar zu Turnus schickte und ihr erlaubte, ihm zu helfen, nicht aber in dem Sinne, dass sie die Waffen für ihn führte. et nunc cedo equidem pugnasque exosa relinquo. ⁹⁸ (XII,818). – All dies klingt nach bedingungsloser Kapitulation. Doch Juno spricht weiter: illud te, nulla fati quod lege tenetur, pro Latio obtestor, pro maiestate tuorum ⁹⁹ (XII,819 f.).
nämlich, auch wenn die Ehe (zwischen Aeneas und Lavinia), auch wenn Frieden und Verträge geschlossen werden,
94 „von der Hand eines Menschen verwundet“. 95 Vgl. Serv. und DServ. zur Stelle. 96 „Das Maß ist voll.“ 97 „und so entgegnete ihm die Göttin, Tochter Saturns, mit gesenktem Blick“. 98 „Nun weiche ich und verlasse voll Abscheu den Kampf.“ 99 „Um dies eine, das durch keine Bestimmung des Fatums gebunden ist, bitte ich flehentlich für Latium und die Größe der Deinen“.
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ne uetus indigenas nomen mutare Latinos neu Troas fieri iubeas Teucrosque uocari aut uocem mutare uiros aut uertere uestem. sit Latium, sint Albani per saecula reges, sit Romana potens Itala uirtute propago: occidit, occideritque sinas cum nomine Troia. ¹⁰⁰ (XII,823–828)
So endet die Rede der Juno. Der Habitus, mit dem sie spricht, ist aber viel eher jener, mit dem sonst Venus in Erscheinung tritt. Die ganze rhetorische Dissimulation,¹⁰¹ die Engführung aus demütiger Bescheidung und dreister Bitte, die Schmeichelei, die hermeneutische Verkehrung (namentlich des fatalen Geschehens), die schamlose Stiftung von Interessensgemeinschaften (nicht für Latium, sondern für sich selbst bittet sie, und die maiestas der ‚Seinen‘ könnte gut und gerne ihre eigene sein): Juno fällt weit aus der Rolle, die sie andernorts besetzt. Die Göttermutter spricht zum Göttervater, als wär’s die Tochter. Nichts zeigt diese Verschiebung deutlicher als Jupiters Reaktion: olli subridens hominum rerumque repertor: ¹⁰² (XII,829), wird seine Gegenrede eingeleitet. Das ist ein fast wortgleiches Zitat aus der Jupiter-Venus-Szene des ersten Buches (mit repertor für sator, was sich semantisch wenig gibt), und wieder ist das Lächeln Jupiters gegen seine Gesprächspartnerin verbunden mit einem Moment des Durschauens;¹⁰³ er hebt an nicht mit einer argumentativen Reaktion, sondern mit einer Note zu ihrer Redehaltung: es germana Iouis Saturnique altera proles, irarum tantos uoluis sub pectore fluctus. ¹⁰⁴ (XII,830 f.)
Der vordergründige Sinn ist: Wir sind echte Geschwister, verbunden durch unseren enormen Zorn. Voraussetzung dieser Aussage ist aber, dass Jupiter seine Frau eben
100 „so befiehl nicht, dass die einheimischen Latiner ihren alten Namen wechseln, dass sie Troer werden und Teucrer genannt oder die Menschen ihre Sprache wechseln oder die Tracht ändern. Garantiert sei Latiums Bestand, seien über Jahrhunderte hin albanische Könige, sei ein Römergeschlecht, mächtig durch italische Tüchtigkeit: Untergegangen ist Troia, und lass es untergegangen sein samt seinem Namen.“ 101 Vgl. Serv. zu XII,808 (quia nota mihi tua, magne, uoluntas): […] id agit, ut conciliet sibi eius favorem ad petitionem futuram (‚das treibt sie, damit sie seine Gunst für das Ansinnen gewinnt‘), sowie zu XII,821 f. (cum iam conubiis pacem felicibus [esto] / component): consentit, sed invita. (‚Sie stimmt zu, aber unwillig.‘). 102 „Ihr antwortet lächelnd der Schöpfer der Menschen und Dinge:“. 103 Vgl. Richard Tarrant: Virgil. Aeneid book XII. 1. Aufl. Cambridge [u. a.] 2012, S. 301. 104 „Du bist wirklich die Schwester Iuppiters und das zweite Kind des Saturnus, so große Wogen des Grolls wälzt du in deinem Herzen!“
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nicht beim Wort nimmt, denn auf Wortebene ist von diesem Zorn, in dieser Szene, nichts zu spüren.¹⁰⁵ Nur indem er die Dreistigkeit des Ansinnens hinter ihrer Schmeichelei wahrnimmt und – zugleich – erkennt, wie sie noch immer ihren alten Hass gegen die Troer hegt, kann er sie eine Zornige nennen. Wie gegen Venus in Buch I führt aber auch hier dieses Durchschauen einer rhetorischen Strategie nicht zu deren Ablehnung, sondern begabt diese – wiederum paradox – mit schlagendem Erfolg; Jupiter weiter: uerum age et inceptum frustra summitte furorem: do quod uis, et me uictusque uolensque remitto. ¹⁰⁶ (XII,832 f.)
Dann verheißt er ihr alles, was sie wünscht; das Geschlecht, das Blut der Troer und der Ausonier wird sich mischen, aber Sprache, Bräuche, Sitten, Namen werden bleiben, und Latiner sollen sie heißen. Als wäre dies nicht genug, ergänzt er noch, dass niemand größere Frömmigkeit an den Tag legen wird als dieses Volk, und kein Volk wird Juno verehren wie dieses. adnuit his Iuno et mentem laetata retorsit; interea excedit caelo nubemque relinquit. ¹⁰⁷ (XII,841 f.)
105 Vgl. zur Komplexität dieser Aussage Serv.: locus de obscuris, de quo quidam hoc sentiunt: petis paene inlicita, sed concedenda sunt, quoniam soror Iovis es, id est Saturni filia. quod si voluerimus admittere, erit sequens versus incongruus, ut ‚irarum tantos volvis sub pectore fluctus‘. unde melius est ut ita intellegamus: soror Iovis es, id est Saturni filia: unde non mirum est tantam te iracundiam retinere sub pectore. nam scimus unumquemque pro generis qualitate in iram moveri: nobiles enim etsi ad praesens videntur ignoscere, tamen in posterum iram reservant. quod nunc Iunoni videtur obicere: nam cum se concedere diceret, petiit tamen quod graviter posset obesse Troianis. sic Homerus inducit Calchantem dicentem de Agamemnone: regum irae ita se habent, ut, etiam si ad praesens indulgere videantur, stimulos iracundiae ad futurum reservent. „Eine dunkle Stelle, die einige folgendermaßen begreifen: Du willst etwas, das geradezu unerlaubt ist, aber es ist zu gestatten, weil du ja die Schwester von Jupiter bist, also Saturns Tochter. Wenn wir dies zugestehen würden, wäre der folgende Vers unstimmig, nämlich ‚so große Wogen des Grolls wälzt du in deinem Herzen‘. Daher ist es besser, dass wir’s so verstehen: Du bist die Schwester von Jupiter, also Saturns Tochter: Daher ist es nicht verwunderlich, dass du so viel Zorneseifer im Herzen behältst. Denn wir wissen, dass ein jeder je nach Elternart zum Zorn gereizt wird: Die Vornehmen freilich, wenn sie auch im Moment über etwas hinwegzusehen scheinen, sparen dennoch den Zorn für später auf. Das nun scheint er Juno vorzuhalten: Denn wenn sie auch klein beizugeben vorgibt, trachtet sie dennoch nach etwas, das den Trojanern schweren Schaden zufügen kann. So führt Homer den Calchas ein, wie er über Agamemnon spricht: Mit dem Zorn der Könige verhält es sich so, dass diese, wenn sie im Moment auch Nachsicht zu üben scheinen, die Stacheln des Zorneseifers für die Zukunft aufsparen.“ 106 „Genug damit, beschwichtige nun dein vergeblich begonnenes Wüten: Ich erfülle deine Wünsche und gebe mich gern geschlagen.“ 107 „Diesen Worten stimmte Iuno zu und wandelte frohgemut ihren Sinn; dabei entschwindet sie vom Himmel und verlässt ihre Wolke.“
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Es ist, wenn ich recht sehe, das erste Mal, dass sie in der Aeneis laeta ist, und sie ist es, möchte man sagen, zur rechten: zur entscheidenden Zeit. Turnus wird sterben, Aeneas siegen; aber ein zweites Troja wird es nicht geben, und am Ende sei alles – Sprache, Bräuche, Kult, Name –, als wäre nichts gewesen. Es ist unschwer zu erkennen, dass diese Szene annähernd spiegelbildlich zum Jupiter-Venus-Gespräch in Buch I komponiert ist.¹⁰⁸ Die Formulierungen sind teils ähnlich, und auch Jupiter agiert weitgehend analog. Müsste man das psychologische Profil dieses Gottes zeichnen, der in schwieriger familiärer – und/oder in schwieriger herrschaftspolitischer¹⁰⁹ – Konfliktkonstellation befangen ist,¹¹⁰ so läge der Schluss nahe, dass er immer jener Bittenden ihre Bitten gewährt, die gerade anwesend ist und in ihn dringt;¹¹¹ sind beide vor Ort, entzieht er sich der Verantwortung (Götterrat). Unschwer aber auch sind die Differenzen zwischen diesen beiden Götterszenen auszumachen, die die Handlung der Aeneis – fast – rahmen. Ist es in Buch I Jupiter, der vom Himmel aus die Geschicke der Menschen schaut, ist es in Buch XII Juno, die Jupiter findet als eine fulua pugnas de nube tuentem ¹¹² (XII,792). Ist es in Buch I Venus, die Jupiter anspricht, ist nun Jupiter in der Rolle dessen, der Juno aufsucht: Was der Proposition nach ein simpler Erlass ist, ist im Sprechakt der Bitte gefangen. Ist Venus die Tochter, die ihren Vater umgarnt – und er lässt sich von ihr gerne umgarnen –, spricht Jupiter seine Frau als coniunx an, später erkennt er sie als saturnische Schwester: Seine Bindung zu ihr ist eine doppelte, und die Hierarchie zwischen Vater und Tochter weicht einer doppelten Beiordnung. All dies gibt Juno eine Machtposition, die Venus in Buch I nicht hat und nicht haben kann. Jupiters Rede ist oberflächlich betrachtet ein Befehl; subkutan – ich spitze zu – bittet er seine Frau und Schwester um ihr Einverständnis und gibt ihr bereitwillig, was sie wünscht, um dieser Sache nun endlich ein Ende zu machen. Vielleicht ist es da kein Zufall, dass er in seiner ersten Rede zu Juno sagt:
108 Vgl. Tarrant (Anm. 103), S. 290. 109 Familie und Herrschaft: Ihre Logiken und Mechanismen treffen sich dort, wo das politische Argument fortlaufend von persönlichen Verbindungen überlagert oder unterlaufen wird. Jupiter scheint sich Juno und Venus verpflichtet zu fühlen, dies hemmt und steuert ihn erratisch. Ob diese Verpflichtungen aus Familien- oder anderen Banden erwachsen, ist im Grunde einerlei. 110 Diese Vermenschlichung der hohen Götter war der älteren Forschung geradezu peinlich, vgl. Tarrant (Anm. 103), S. 290. 111 Vgl. Tarrant (Anm. 103), S. 290. 112 „die von einer rötlich schimmernden Wolke aus den Kampf beobachtet“.
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desine iam tandem precibusque inflectere nostris, ne te tantus edit tacitam dolor et mihi curae saepe tuo dulci tristes ex ore recursent. ¹¹³ (XII,800–802)
dulci ex ore ist wahrlich keine Formulierung, die man für irgendeine vorgängige Handlung der Juno gebrauchen möchte. Es mag topisch sein: so redet eben ein Mann zu seiner Frau (oder gar ein Liebhaber zu seiner Geliebten),¹¹⁴ eine Floskel der Höflichkeit. Nimmt man die Wendung im starken Sinne, ist sie freilich nichts weniger als die Vorwegnahme jener Redehaltung, die sich Juno fünf Verse später zu eigen macht. Was bedeutet dies nun für den Ausgang der Handlung und das römische Projekt? Auf Ebene der handelnden Menschen hat sich nichts geändert: Sie hören von diesem veritablen Kompromiss nichts, sie agieren weiterhin schicksalsgewiss, und Aeneas könnte am Ende von Buch XII feststellen, dass sich die vielfachen Göttersprüche bestätigt haben. In diesem Sinne finden die Fata, wer immer sie lenkte, ihre Bestätigung, und die leichte Schlagseite, die der Götterkonflikt immer schon zugunsten von Venus hatte (siehe oben zum Götterrat¹¹⁵), wird auf Erden manifest. Dass ein zweites Troja nicht sein wird, kann Aeneas nicht absehen, die weitreichenden Konsequenzen daraus wird er nicht erleben. Ihm und seiner Mannschaft geht alles in Erfüllung, was sie sich wünschen durften. Auf Ebene der Götter ist die Sachlage komplexer: Venus sieht ihren Sohn die Herrschaft in Italien antreten, das ist gewiss, und eine Dynastie wird es geben (Geschlecht und Blut: Jupiter in XII,838). Ein zweites Troja aber wird nicht sein, und nichts wird bleiben von Troern als ein Stammbaum: nicht die Sprache, nicht die Bräuche, nicht der Kult, kein Name. Was Juno sich im Gespräch mit Jupiter wünscht, führt auf einen Kompromiss hin. Dieser Kompromiss ist aber kein Ausgleich dergestalt, dass Einigung erzielt würde. Er besteht aus der Schichtung zweier thematischer Ebenen, und Kompromiss bedeutet nicht mehr, als dass auf dieser Ebene die Interessen der einen Partei, auf jener die der anderen uneingeschränkt gelten: hier der Erfolg des Aeneas und die Gründung einer Dynastie, dort die Tilgung des letzten Rests, der von Troja blieb. Dass dies ein Kompromiss wäre, ist selbst schon ein rhetorischer Effekt – genauso gut könnten beide Parteien diese Schichtung frustriert ablehnen. Rhetorisch sind aber auch dessen Komponenten. Die Aufsplittung des römischen Projekts auf diese beiden argumentativen Ebenen kommt in Buch XII neu und unvermittelt, sie ist ihrerseits ein rhetorischer Kniff. Man könnte auch sagen: Juno bemächtigt sich der
113 „Hör jetzt endlich auf und lass dich durch meine Bitten umstimmen, damit dich nicht wortlos so tiefer Gram verzehrt und mir nicht häufig betrübliche Sorgen aus deinem süßen Mund begegnen.“ 114 Vgl. Tarrant (Anm. 103), S. 294. 115 Vgl. prägnant Serv. zu X,107.
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Deutungshoheit über das Geschehen, indem sie den Erfolg der Landnahme zum Miss- oder Teilerfolg deklassiert. Ob dies nur dazu dient, ihre Würde zu wahren, bleibt im Text offen.¹¹⁶ Dass dieser rhetorische Kniff aber gravierende Spuren in der zukünftigen Menschenwelt hinterlässt – wieder: die Sprache, die Bräuche … –, könnte darauf deuten, dass diese Sprachgewalt mehr ist als oberflächlicher Firnis. Immerhin sagt uns der Text, dass Juno laetata von dannen zieht. Was Venus zu diesem finalen Ratschluss gesagt hätte, gibt der Text nicht preis. Es mag nicht untypisch sein für Vergil, dass diese zentrale Frage, an der alles Geschehen auch axiologisch hängt, am Ende selbst kompromittiert wird.¹¹⁷
V Im Zweifel: Kompromiss oder kompromittierend? Je nachdem, mit welchem Gewicht man die diskutierten Szenen versieht und welche Perspektive man einnimmt – jene der Menschen oder jene der Götter –, lässt sich die Geschichte von Vergils Aeneis auf zwei Weisen erzählen. Die Menschenperspektive ist von all diesen Götterhändeln unbehelligt in dem Sinne, dass die handelnden Menschenfiguren diese nicht wahrnehmen können. Aeneas hat keinerlei Veranlassung, an der Gewissheit jener Fata zu zweifeln, unter deren Flagge er segelt. Diesen handelnden Menschen ist das télos der Handlung absolut und gewiss; es kann Fehldeutungen geben (z. B. die Interpretation des Turnus zur Verwandlung der Troer-Schiffe in Meernymphen bzw. Delphine), aber das sind dann eben Irrtümer beschränkter, menschlicher Auffassungsgabe, die als solche nur umso intensiver bestätigen, was richtig und wahr ist. Umgekehrt mangelt es auf Götterebene weitgehend an jener Selbstgewissheit des Geschehens, die den Menschen vor Augen schwebt. Zwar verweisen alle lenkenden Götter immer wieder auf die Fata und damit auf den – für die Troer – positiven Ausgang des römischen Projekts, und dass selbst Juno dies im Nebensatz tut, gibt diesen Fata einiges Gewicht (wenn man die Stelle nicht konzessiv versteht: ‚und selbst wenn …‘; X,67). Ihre Handlungen und Entschlüsse scheinen aber von diesen Fata weitgehend oder gar völlig befreit: Von Junos Seesturm in Buch I bis hin
116 Die Sache wird weiter verkompliziert davon, dass – mit Blick auf die weitere römische Geschichte (Karthago!) – Junos Hass nur partiell gebändigt erscheint. Gelöst ist die ‚mythologische‘ Kränkung, offen der ‚historische‘ Konflikt. Siehe D[ennis] C. Feeney: The Reconciliation of Juno. In: Classical Quarterly 34 (1984), S. 179–194. 117 Entsprechend schwankt auch Serv., konkret zu XII,835 f. (commixti corpore tantum / subsident Teucri): remanebunt, latebunt. (‚Sie werden verbleiben, sie werden verborgen sein.‘).
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zum Kompromiss zwischen Jupiter und Juno in Buch XII scheinen die Götter nicht ohne Spontaneität, ja, Dezisionismus, und treiben erst damit die Handlung dorthin, wohin sie – aus Menschensicht – immer schon wollte. Ob mit diesem unsteten, intriganten, eigensinnigen, auf eigene Vorteile bedachten, sozusagen ‚menschlichen‘ (schon Servius nutzt dieses Angebot zur Psychologisierung intensiv¹¹⁸) Handeln der Götter, die im Übrigen auch ein auffällig kolloquiales Latein reden,¹¹⁹ das römische Projekt insgesamt Gegenstand der Kontingenz wird, oder ob die Götter selbst nur Spielbälle der Fata sind, ist eine kaum zu lösende Frage, eine Frage auch, die abhängt von der Geltung, der man der Rhetorik beimisst; nochmals zu Buch XII: Wenn man den Wunsch, den sich Juno ausbedingt, als bloße Gesichtswahrung begreift und sich auf das Primat von Blut und Geschlecht verständigt, sind die Fata erfüllt. Wenn aber die Deutung der Welt ihre biologischen Gegebenheiten regiert, dann ist das fatale Projekt, strenggenommen, mit diesem letzten Winkelzug der Göttermutter gescheitert. Diese Koinzidenz von absoluter Handlungsfinalität auf Menschen- und kontingenter Kompromissfindung auf Götterebene genügt, um die Aeneis rezeptionsseitig mit einem hartnäckigen Fragezeichen zu versehen,¹²⁰ dessen rezeptionsästhetischer Effekt Zweifel ist. Dies ist eine andere Mechanik aus Kompromiss und Zweifel als die einleitend beschriebene. Intradiegetisch (und auch unser Welterzählen ist intradiegetisch) ist Zweifel die Bedingung des Kompromisses – in diesem Sinne könnte man Jupiter, hin- und hergerissen zwischen den Anliegen seiner Tochter und seiner Frau, vielleicht einen Zweifelnden (oder doch nur einen Kommunikationsopportunisten?¹²¹) nennen. Dass aber dieser Kompromiss möglich ist, und wie er gegen die Zielgerichtetheit des römischen Projekts opponiert oder auch sich zu diesem verhält, provoziert Zweifel im extradiegetischen Raum. Dieser Zweifel wird erheblich verschärft davon, dass die bislang behauptete strenge Scheidung zwischen menschlicher Finalität hier, göttlicher Kontingenz da ihrerseits eine Verkürzung der poetischen Tatsachen bedeutet. Für den Götterbezirk ist dies bereits angedeutet: Wenn die Götter das Fatum oder die Fata regieren, ist deren Steuergewalt enorm, und die Kontingenz, die wir in den humanen Götterszenen beobachten können, ist dann eine grenzenlose: nicht
118 Pauschal verwiesen sei auf die Lektürefrüchte seines Kommentars, die die obigen Interpretationen flankieren. 119 Stephen J. Harrison: Sermones deorum: divine discourse in Vergilʼs Aeneid. In: Colloquial and literary Latin. Hrsg. von Eleanor Dickey, Anna Chahoud. Cambridge/New York 2010, S. 266–278. Er demonstriert dies an genau jenen vier Götterszenen, die auch oben analysiert sind. 120 Auf die Spitze treibt dies für Jupiter Hejduk (Anm. 11), wenn sie Jupiter – im etymologischen Sinne – zum ‚Terroristen‘ macht, getrieben von den Prinzipien imperium und fama. 121 Den Begriff verdanke ich Simone Leidinger.
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anders als die Kontingenz unserer alltäglichen Welterfahrung, die sich erzählend bändigen, die sich aber nie ganz bannen lässt. Wenn hinwiederum es so wäre, wie Jupiter es im Götterrat andeutet, dass nämlich auch die obersten Götter den Fata unterworfen seien, sind all diese Götterszenen nur ornamentale Zutat auf dem Weg zum gewissen Ende. Es ist bezeichnend, dass Vergil diese Frage ohne auktoriale Lösung behält und einander widerstreitende Signale aussendet.¹²² In der Zusammenschau der einschlägigen Passagen wird man kaum mehr sagen können, als dass Jupiter sich bedingungslos in die Fata ergibt, die er regiert. Mit anderen Worten und ins Grundsätzliche gewendet: Die Frage, ob die Fata die Götter regieren oder die Götter bzw. Jupiter die Fata, ist genauso falsch gestellt wie die Frage, ob am Ende Venus und Juno reüssierte, so wie nicht anders auch die Frage, ob man es in diesen Szenen mit faulen oder genialen Kompromissen zu tun hätte. Es ist eine Sache der Perspektive, ob man diese Phänomene als solche des Weder-noch oder als welche des Sowohl-als-auch wahrnähme. Wesentlich ist ihnen, dass sie fest im Dazwischen siedeln, und wer die mit dieser Positionierung sich unabdingbar verbindende Spannung auf diese oder jene Weise (denn immer sind es Dichotomien) dezisionistisch lösen mag, beschreibt das Gedicht nicht, sondern schreibt es um. Nicht einfacher liegen die Dinge auf Ebene der handelnden Menschenfiguren. Je näher man zusieht, desto mehr finden sich die Konturen der Götterstreitigkeiten auch auf dieser primären Handlungsebene, ganz so als legte sich die Ambivalenz der Götterwelt wie ein Schatten über das auszuhandelnde Geschehen. Folge davon ist nicht, dass die handelnden Menschenfiguren auf diese Sache aufmerksam würden. Rezeptionsseitig aber werden von diesem Schatten einige wesentliche poetische Bezirke abgedunkelt, von denen die wichtigsten stichwortartig in Erinnerung gerufen seien: Am intensivsten diskutiert hat die Forschung Fragen der Axiologie. Mit dem römischen Projekt sollte sich doch eine energische Sympathiesteuerung zugunsten von Aeneas und seiner Mannschaft verbinden. Genau dies ist bekanntlich nicht der Fall, weshalb man auch von Vergils two voices gesprochen hat: Die Sympathie ist fast durchgehend aufseiten der Unterlegenen, der Verlierer, jener, die einen Verlust erleiden: Dido (Buch IV), Turnus (Buch XII – das Finale, und zwar bis zum allerletzten Vers), selbst Berserker Mezentius und sein Sohn Lausus (Buch X), Camilla (Buch XI) oder jener beiläufig erwähnte italische Held Umbro (VII,750–760), an
122 Siehe die Diskussion bei Heinze (Anm. 48), dessen Fazit (S. 293: Jupiters Wille und Fatum stimmen überein) von seinen nachfolgenden Analysen (S. 293–297) sublim überlauert wird. Vgl. außerdem Christopher H. Wilson: Jupiter and the fates in the Aeneid. In: Classical Quarterly 29 (1979), S. 361–371 sowie Coleman (Anm. 39), S. 157–161.
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dessen Erwähnung Adam Parry einst sein Argument entwickelt hat.¹²³ Dass ein ähnliches Mitleid auch troischen Helden wie Nisus und Euryalus (Buch IX) gespendet wird, zeigt, dass es nicht auf die Partei, sondern auf die Verlusterfahrung ankommt. Da aber nun einmal die Seite des Aeneas die Seite der Gewinner ist, büßen die Troer-Römer nicht alle, aber wesentlich an Erzählersympathie ein. Man kann dieses poetische Prinzip ein ironisches im weiteren Sinne nennen, wenn die Handlung persistent mit denen und durch die Augen jener erzählt wird, die in dieser Handlung nicht reüssieren: die unter die Räder kommen. Vielleicht tiefer noch als diese axiologischen Phänomene der Symphatievergabe und des ‚Erzählermitleids‘ schneiden Zweifel an der Geltung von Prophetien in den Organismus einer – dann nur noch vermeintlich – selbstgewissen, finalen Handlungsfügung. Es gibt in der Aeneis drei große Prophetien: die besagte Rede Jupiters zu Venus in Buch I; der Vorausblick auf die kommende römische Geschichte am Ende von Buch VI, wo der tote Anchises das Kommende seinem Sohn Aeneas – dieser begleitet und geleitet von Sybilla – entfaltet; und die Ikonographie eben dieser römischen Zukunft, die Vulkan auf dem Schild verewigt, den er in Venus’ Auftrag für deren Sohn Aeneas schmiedet und den dieser am Ende von Buch VIII erhält. Von Jupiter und Venus war schon die Rede, und dass eine Prophetie desto ungewisser wird, je mehr sie Teil einer Trostrede ist. In Buch VI und VIII wiederum sorgt die Einbettung der Prophetien in den Fluss des Erzählens dafür, dass ihre Propositionen unsicher werden: Noch vergleichsweise harmlos ist die Kontextualisierung des Schildes. Was auf ihm zu sehen ist, stört als Liste den narrativen Fluss, und Aeneas ist nicht imstande, zu verstehen, was er da schaut. Mehr als 100 Verse (VIII,626–728) bestaunt er die Bilder, um schlussendlich sich aufzubürden, was er nicht begreift: attollens umero famaque et fata nepotum ¹²⁴ (VIII,731), lautet der buchschließende Vers. Dass die Bildschau streng durch Aeneas fokalisiert ist, zwängt das Publikum in dessen staunende, aber zugleich ignorante Position; Zweifel an der Sicherheit des Dargestellten im strengen Sinne erwachsen daraus aber nicht. Radikaler die Prophetie des Anchises in Buch VI: Er erklärt das Kommende so, dass sein Sohn Aeneas es verstehen kann, alles wird luzide und klar entwickelt. Dann aber, als Aeneas und seine Führerin die Unterwelt verlassen, erfahren wir: Sunt geminae somni portae, quarum altera fertur cornea, qua ueris datur exitus umbris, altera candenti perfecta nitens elephanto, sed falsa ad caelum mittunt insomnia Manes.
123 Adam Parry: The Two Voices of Virgil’s Aeneid. In: Arion 2. 4 (1963), S. 66–80. 124 „und lädt auf seine Schulter Größe und Geschick der Enkel“.
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his ibi tum natum Anchises unaque Sibyllam prosequitur dictis portaque emittit eburna, ille uiam secat ad nauis sociosque reuisit. ¹²⁵ (VI,893–899)
Der Widerspruch ist ein harter, unlöslicher: Erzähler und Rezipienten wissen, dass Anchises die Wahrheit gesprochen hat. Präsentiert wird diese aber als ein trügerisches Traumgesicht. Man kann sich abmühen, die Gegensätze doch irgendwie zu harmonisieren: sei’s, dass es nur für Aeneas einem trügerischen Traumgesicht gleichkommt, so wie auch die Schildschau nur durch seine Augen rätselhaft und obskur bleibt; sei’s, dass nur Teile dessen, was Anchises sagt, Lug und Trug wären: nicht die Ereignisse, aber vielleicht deren Wertung und Gewichtung. Derartige hermeneutischen Operationen mögen den Widerspruch dämpfen; zu tilgen vermögen sie ihn nicht. Darum haftet ihnen Verzweifeltes an. Zu diesen fast textumspannenden Zweifelsmomenten – die Götter und die Fata; Axiologie und Teleologie des Weltgeschehens – treten nahezu passim gleichsam mikrostrukturelle Störmomente, die im Kleinen auf dieselbe Problematik hinführen. Die Beispiele sind Hundertware; herausgegriffen sei, dass und wie Jupiter in Buch XII, während des beginnenden Kampfes zwischen Aeneas und Turnus, diese beiden Kontrahenten abwägt. Die Passage ist ganz kurz, leicht überliest man sie:¹²⁶ Iuppiter ipse duas aequato examine lances sustinet et fata imponit diuersa duorum, quem damnet labor et quo uergat pondere letum. ¹²⁷ (XII,725–727)
Aber warum wägt Jupiter? Weiß er es nicht (wieder: die Fata und die Götter)? Oder prüft er, was er weiß? Mehr noch, und nun nicht figurenseitig, sondern erzählerseitig betrachtet: Wenn schon berichtet wird, dass er wägt, warum erfahren wir das Ergebnis dieser Maßnahme nicht? Wie gesagt, man überliest derlei mikrostrukturelle Irritationen leicht, und ihr impact auf das Geschehen und seine Perspektivierung scheinen gering. In Summe aber finden sich diese punktuellen Phänomene 125 „‚Da sind zwei Pforten des Traumgottes: Eine davon, heißt es, ist aus Horn, durch die den echten Schattenbildern ein leichter Ausgang gewährt wird, die andere strahlt, kunstvoll gefertigt, in schimmerndem Elfenbein: Doch es schicken zum Himmelslicht unechte Bilder empor die Manen.‘ Nach diesen Worten geleitet sodann Anchises seinen Sohn zusammen mit Sibylla dorthin und entlässt sie durch das Tor aus Elfenbein; Aeneas nimmt den kürzesten Weg zu den Schiffen und sieht seine Gefährten wieder.“ Ob V. 893–896 Anchises oder der Erzähler spricht, ist unklar. 126 Mit Nachdruck aufmerksam gemacht hat mich auf sie einst Christoph Schubert, dem dafür mein herzlicher Dank gilt. 127 „Iuppiter selbst hält die beiden Waagschalen, nachdem das Zünglein justiert, und legt darauf die ungleichen Schicksale der zwei Helden, um zu ermitteln, wen der qualvolle Kampf dem Tod weiht, unter welchem Gewicht das Todeslos sich senkt.“
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zu einem Erzählhabitus zusammen, der den Zweifel vielleicht sogar noch wirkungsvoller in den Text trägt, als es offensiv-semantische Phänomene wie die Traumpforten oder die axiologische Perversion vermögen. Deutlich wird an diesem letzten Beispiel auch: Die Subversion verharrt immer im Ansatz, sie wird so gut wie nie drastisch, von harter Ironie wird man nicht sprechen wollen. Aber es sind diese subtilen Subversionen immer da: fast von Vers zu Vers. So schwierig die Deutung solcher Phänomene im Detail ist, so klar ist das dahinterstehende poetologische Prinzip zu fassen. Unablässig gestört und irritiert werden Erwartungshaltungen, die ein Rezipient in einer bestimmten Textsituation haben wird; dass er sie sehr wahrscheinlich auch schon zur Zeit des Augustus haben konnte oder hätte haben können, lässt sich für Vergil in vielen Fällen damit plausibilisieren, dass diese Erwartungshaltungen von konventionellen Schemata des Erzählens gedeckt sind und dass die damit sichtbare Diskrepanz seit der Spätantike Gegenstand der Vergil-Kommentare ist. In aller Regel sind es homerische Szenen, die Vergil produktiv aufgreift und die er verfremdet. Die deutsche Vergil-Schelte des 19. Jahrhunderts baut im Wesentlichen auf diesen Differenzen; dass der Römer die homerischen Muster – Jupiters familiäres Lächeln (anstatt des weltenherrschenden: Ilias VIII,38; XV,47), den entschlossenen Götterrat (anstatt eines souveränen Konzils: Ilias VIII,1–52), eine naive Bild- und Schildschau (statt einer dynamischen, organischen: XVIII,–483–613), vieles andere mehr – so schräg und querständig in sein Epos installiert, hat man ihm als poetisches Unvermögen angelastet. Dass genau dies auch poetisches Kalkül sein möchte, ist eine Idee, die im deutschsprachigen Raum zuerst und vehement – wenn auch oberflächenrhetorisch mit großer Vorund Umsicht – von Richard Heinze¹²⁸ verfochten worden ist und die sich heute freilich durchgesetzt haben dürfte; im nicht-deutschsprachigen Raum scheint sie seit Jahrhunderten von fragloser Geltung zu sein. Charakteristisch für dieses poetologische Prinzip ist die erwähnte Schwäche der Subversion, die im Modus der Gegenprobe besonders deutlich Gestalt nimmt: Was immer an Störungen und Irritationen im Erzählten und im Erzählen aufläuft, ließe sich dem Epos restlos abziehen, ohne dass dessen Handlung davon in konzeptionelle Nöte käme. Die ‚fatalen‘ Götterszenen, die schwierige Axiologie, die schimmernden Prophetien, die mikrostrukturellen Störungen zumal: sie alle sind Zutaten dergestalt, dass die narrative Progression sie nicht braucht. Was geschieht, könnte auch ohne sie geschehen, ohne dass im Handlungsverlauf größere motivationslogische Löcher oder Lücken aufgingen (einige kleinere sind mit Blick auf die mittelalterlichen Romane besprochen). Im Gegenteil, würde das Epos von derartigen Tilgungen oft sogar glatter, einstimmiger, einsinniger. Darum liest sich eine
128 Heinze (Anm. 48).
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Handlungszusammenfassung der Aeneis oder ihrer einzelnen Bücher ungleich präziser als das Epos selbst, weil in diesen Summen all diese – fast durchwegs – retardierenden, irritierenden Störmomente ausgelassen oder (im Falle der Götterszenen) bestenfalls angedeutet sind. In diesem Sinne auch wird man alle diese Störungen und Irritationen unter dem weiten Mantel der Rhetorik fassen dürfen. Natürlich sind die wenigsten Störungen rhetorisch in jenem engeren Sinne, dass sie beispielsweise rhetorische Figuren in den Text eintragen. Auch das kommt vor (Umbo ist oben erwähnt). Im weiteren Sinne rhetorisch aber sind alle diese poetischen Manöver, weil sie sozusagen rein sprachlicher Natur sind: Perspektivierungen, Taxierungen, Diskursivierungen des Handlungsgeschehens, aber kein handelndes Geschehen im eigentlichen Sinne, wenn man darunter den Weg der Flüchtlinge aus Troja bis zum Sieg des Aeneas über Turnus fasst. Sieht man diese Beobachtung zusammen mit der Überrhetorisierung der Götterszenen und der evident rhetorischen Kompromissfindung zwischen Jupiter und Juno in Buch XII, liegt – bei aller Vorsicht gegenüber diesem Faible der modernen Literaturwissenschaft – die metapoetische Pointe in greifbarer Nähe: Was sich in den Gesprächen am Olymp oder auf dem Gewölk des Himmels zuträgt, ist nicht identisch mit den Störungen und Irritationen der Handlungsebene. Ein Analogon ergibt sich aber doch darin, wie hier und dort Geschehen weniger erzeugt oder gesteuert als in ein bestimmtes Licht gesetzt wird. Im selben Maße, wie die Götter einen rhetorischen Kompromiss finden – kein echter, sondern einer des argumentativen Glanzes und der sprachlichen Blendung –, in dem Maße auch macht Vergil das Epos gleißen.¹²⁹ Hier wie dort auch hängt die Frage, ob man diese Beigaben als oberflächlichen Firnis oder als tiefschürfende Sondierungen begreift, ab von der Geltung, die man der Rhetorik (im engeren oder weiteren Sinne) zubilligt. Wer meint, dass sie bloß schmückende – und sei’s schmückend-widersinnige, den Gang des Arguments hemmende, ironische – Zutat sei, kann dies rasch als ‚unecht‘ beiseite tun. Wer Rhetorik als sprachliche Gestaltung der Realität nimmt, dem wird all dies wirklich und lebendig. Wenn dieser so umrissene Typus der Störung und der Irritation nun Kalkül sei, und wenn wir die poetische Absicht im intertextuellen Vergleich so deutlich fassen können: Was wäre dann deren Funktion? Vielleicht ist diese Frage falsch gestellt, wenn sie nach nur einer Funktion fragt. Je nach Blickwinkel, je nach Phänomen auch variiert diese, sodass sich ein Panorama an Rezeptionsangeboten auftut. 129 Vgl. Jens-Uwe Schmidt: Junos Versöhnung durch Jupiter und das Ende der Aeneis. In: Wort und Dienst 21 (1991), S. 81–113, der das Jupiter-Juno-Gespräch in Parallele setzt zum unmittelbaren Finale des Epos und von einem ‚unversöhnlichen‘ oder bestenfalls ‚scheinversöhnlichen‘ Ausgang spricht (bes. S. 111).
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Narratologisch wird man daran denken, dass die immer wieder partielle Unterwanderung des absolutistischen römischen Projekts dem Epos jene suspense gibt, die eine finale Handlung von sich aus nicht generieren kann. Theologisch schafft der finale Kompromiss, schaffen die Götterszenen überhaupt einen Machtausgleich am Olymp, der die späteren Römer davor bewahren sollte, einen Teil der Götter zu sicheren Feinden zu haben. Kulturpolitisch versöhnen das Mitleid mit den Unterlegenen oder auch der Götterkompromiss in Buch XII die troische und die italische Kultur, was man durchaus so verstehen könnte, dass das römische Projekt nach einem Durchgang durch einen schwierigen Kompromiss gestärkt aus diesem hervorgeht: die Römer als Troer und Ausonier. Rezeptionsästhetisch sind die Irritationen und Störungen höchst wirksam und attraktiv, sei es, dass sie Effekte der Empathie freisetzen (etwa: Mitleid mit Dido), sei es, dass sie Realitätseffekte generieren, die Figuren und Handlung plastisch hervortreten lassen (etwa: der Götterrat als Kabinettssitzung). Keiner dieser Aspekte vereint alle Störungen und Irritationen, die die Aeneis birgt. Für narratologische Belange sind semantische Phänomene wie die Traumpforten oder der in Buch XII ausgehandelte Scheinkompromiss nicht relevant. Theologische Fragen laufen unabhängig neben solchen des Mitleids mit den Verlierern und Besiegten. Ob die Götter die Fata regieren oder umgekehrt, tangiert das kulturpolitische Programm nicht. Alles Politische und Semantische wiederum lenkt von Empathie und Realitätseffekten ab. Teils sind die Phänomene so programmiert, dass sie den einen Aspekt befeuern, den anderen aber schädigen: Die ‚Didotragödie‘ intensiviert Empathie und Mitleid in sonst nicht gekannter Weise; Objekt aber ist die Königin von Karthago und damit die Repräsentantin des römischen Erzfeinds! In Anbetracht dieser immer nur partiellen Geltung konkreter narratologischer und thematischer Aspekte liegt es nahe, hinter dem konsequent durchgeführten poetischen Gestaltungsprinzip ein ästhetisches Anliegen zu verstehen. Es lässt sich dieses nicht mit einfachen Worten fassen: Eindrücke sträuben sich latent gegen semantische Beschreibung und Kategorisierung; begreifen müsste man es als wirkungsästhetisches Gegenstück zu jenem nun durchaus evidenten und auch analytisch fassbaren Phänomen, dass Vergil nie auf einen klaren Punkt kommen mag: nicht in der Entwicklung der Handlung, nicht in axiologischer Hinsicht, nicht theologisch und kulturpolitisch, aber auch nicht, was die Gemengelage von erzählerischer Idealisierung und emphatischer bzw. realistischer Brechung betrifft. Überall gibt es klare Zielmarken, aber nirgends werden sie reibungslos und vollumfänglich erreicht. Dass dieses poetische Prinzip seinerseits auf den Absolutismus nicht nur der Aeneis, sondern der poetischen und erzählerischen Gestaltung überhaupt reagieren möchte, wird man zumindest vermuten dürfen. Wenn comic relief punktuell für eine psychische Entlastung des Rezipienten sorgen kann, wäre dies eine Art poetic
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relief, der die absolute Geltung des Erzählten und des Erzählens gleichermaßen anbricht. Dies freilich sind Effekte von so allgemeiner Natur, dass sie über den einzelnen Text hinausweisen. Erkennbar ist das schon daran, dass sie – auch im Oeuvre Vergils – nicht auf die Aeneis beschränkt bleiben, sondern in ähnlicher Weise in den Eclogen und in den Georgica hervortreten. Dies im Einzelnen zu zeigen, fehlt hier der Platz; es sei an anderer Stelle nachgetragen.¹³⁰ Unter dieser Perspektive erscheint der Zweifel als nichts weniger denn als ein poetisches und ästhetisches Prinzip eigenen Rechts. Vielleicht hilft dieser Gedanke das Finale der Aeneis erklären. Blickt man auf die Irritationen und Störungen aus der Warte der genannten Aspekte, landet man rasch bei harmonisierenden Lösungen. Die Aeneis aber endet hart und unversöhnlich. Die aufgebauten Spannungen werden nicht abgetragen, sondern durch den jähen Textschluss behalten und intensiviert. Der Kompromiss auf Götterebene ist nur einer des Scheins, einer noch dazu, über dessen Akzeptanz wir nichts wissen (Venus?). Kulturpolitisch scheitert nicht nur der Plan eines zweiten Troja, kulturpolitisch scheitert auch Aeneas selbst: Die Niederlage des Turnus und der Sieg des Aeneas ist völlig kompromisslos, und anstelle der Versöhnung steht bittere Rache (Pallas). Dass sie Agenten eines weltumspannenden Kompromisses geworden sind oder sein könnten, wissen die handelnden Figuren nicht und können sie nicht wissen; wüssten sie es aber, es würde ihre Stimmung trüben: Das neue Troja wird nicht sein – doch die Troer sind gekommen, um zu bleiben. Alle Sympathie, alles Mitleid aber ruht auf Turnus, dem weder das eine noch das andere hilft. Nirgends drängen sich die labilen poetischen Kompromisse und Zweifel der Aeneis so geballt in den Vordergrund wie im Finale; das ebendort angesiedelte Jupiter-Juno-Gespräch nimmt sie – den obigen metapoetischen Gedanken fortgesetzt – analogisch ins olympische Bild. Wenn es ein vergilisches Kompositionsprinzip darstellt, dass nichts zu sagen, nichts zu erzählen, nichts darzustellen ist, ohne zugleich Gegensinniges anklingen zu lassen, dann wird dieser prinzipielle, auch und in der Regel prinzipiell leise Gegenklang im Finale der Aeneis zur deutlich hörbaren Dissonanz intensiviert. Ihr kompositorisches Grundmuster ist jenes der Ironie – man könnte auch, im weiteren Sinne, sagen: jenes des gespannten Kompromisses –; ihr rezeptionsästhetischer Effekt ein Zweifel, der seiner Lösung harrt.
130 In Vorbereitung ist ein entsprechender Artikel mit Schwerpunkt auf den Georgica.
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VI Verzweifeln an Vergil: Roman d’Eneas und Heinrichs von Veldeke Eneasroman Die Reaktionen auf Vergil, besonders auf seine Aeneis waren fast von allem Anfang an stark affirmativ. Vergil dominierte den lateinischen Schulbetrieb; über viele lange Jahrhunderte hin kam niemand, der Literatur, der Lesen und Schreiben lernte, an ihm, speziell an den Eclogen und an der Aeneis vorbei. Doch auch neue poetische Entwicklungen setzten immer wieder produktiv bei Vergil an: spätantike Bibelepik, Petrarca, Dante, Milton, viele(s) mehr – und der höfische Roman des Hochmittelalters. Seine Urszenen, der Roman d’Eneas ¹³¹ und dessen Verdeutschung durch Heinrich von Veldeke¹³², sind Übertragungen der Aeneis in die beiden wichtigsten vernakulären Literatursprachen der höfischen Zeit. In diesem Sinne ist der römische Dichter zugleich der Dichter Europas, dessen kanonische Geltung einen weiten Bogen der Kontinuität zumindest über die abendländische Gelehrsamkeit und Dichtkunst schlägt. Daraus speist sich die Erwartung, dass auch das oben beschriebene basale ästhetische Prinzip breite Nachfolge gefunden haben möchte. Genau dies aber scheint nicht – oder nur selten – der Fall zu sein. Nicht unwahrscheinlich ist, dass der Status des Klassikers dazu führt, dass Störungen und Irritationen aller Art wegerklärt werden, wobei auch diese Erklärungen bald kanonisch werden und damit den Leseeindruck vehement glätten; der große Vergil-Kommentar des Servius bietet dafür reiches Anschauungsmaterial, indem er solche Störungen und Irritationen massenweise anführt, immer aber den Dichter gegen den möglichen Vorwurf der ‚Fehlerhaftigkeit‘ in Schutz nimmt und sich abmüht, eine, manchmal auch gleich mehrere Erklärungen aufzubieten, um diese rauen Stellen hermeneutisch abzuschmirgeln. Zu diesem genuin innerliterarischen Reaktionsmechanismus der Kanonisierung treten gleichsam externe, kulturgeschichtliche Faktoren, die Vergil und seine Texte zugleich in Würde und Andenken behalten und doch deren grundlegende Prinzipien wo nicht ignorieren und verkennen, so doch neu deuten und modifizieren. Die Frage nach Zweifel und Kompromiss zielt auf den Kern dieser poetischen Operationen; diskutiert seien sie im Folgenden exemplarisch an Roman d’Eneas und Heinrich von Veldeke.
131 Le Roman d’Eneas. Hrsg. von Monica Schöler-Beinhauer. München 1972 (Klassische Texte des Romanischen Mittelalters 9). 132 Heinrich von Veldeke: Eneasroman. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Nach dem Text von Ludwig Ettmüller ins Neuhochdeutsche übersetzt mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort von Dieter Kartschoke. Stuttgart 2007 (RUB 8303).
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Diese Diskussion unterliegt thematischen Restriktionen. Mit Blick auf die oben zusammengefassten poetischen Bezirke und möglichen Funktionen des besagten poetischen Prinzips fällt einiges einfach weg, weil die mittelalterlichen Romane bestimmte Gegenstände meiden wie der Teufel das Weihwasser: Götterszenen und Götterhandlung sind, so gut es irgend geht, getilgt, sodass sich die Frage nach dem Verhältnis der Götter zu den Fata nicht stellt; eine olympische Kompromissfindung kann es nicht geben, wenn es den Götterrat nicht mehr gibt. Auch die theologische Frage um Venus, Juno, Troja, Rom ist im christlichen Zeitalter per se hinfällig. Die Spannung zwischen Teleologie und Axiologie, zwischen Handlungsgewissheit und fraglichen Prophetien, ist mit dieser Abkehr von der antiken Götterwelt aber nicht automatisch gelöst; die mikrostrukturellen Störmomente lassen oder ließen sich erhalten, zumindest wenn sie auf Ebene der handelnden Menschen installiert sind (Umbo). Auch suspense (narratologisch), Aussöhnung der Parteien (Kulturpolitik – das Römische Reich sollte ja fortdauern), Rezeptionsästhetik (Empathie, Realitätseffekte) und Ästhetik sind von der zunächst rein thematischen Abkehr von der antiken Götterwelt unbehelligt. Daraus folgt, dass die folgende Diskussion nicht entlang einer simplen Textvergleichung geführt werden kann: Die oben besprochenen Szenen sind in den mittelalterlichen Romanen meistenteils schlicht nicht enthalten. Insofern aber die Götterszenen bei Vergil wesentlich zum poetischen Gerüst der Aeneis beitragen – göttliche Kontingenz und menschliche Fatalität; daraus sich speisende suspense; kulturpolitischer Ausgleich zwischen Troern und Ausoniern; bis hin zu grundlegenden ästhetischen Fragen –, hat dieser Ausfall weitreichende Konsequenzen für die poetische Tektonik und provoziert entsprechende kompensatorische Maßnahmen. Diese kompensatorischen Maßnahmen der mittelalterlichen Dichter näher in den Blick zu nehmen, verspricht Aufschluss über die einleitend aufgeworfene Frage, nämlich inwieweit die Erzählwelten absolutistisch programmiert sind und inwieweit sie Zweifel und Kompromiss dulden oder provozieren. Es bietet sich an, die vier Erzählpassagen rund um die ausgefallenen Götterszenen wiederum der Reihe nach zu mustern; der Schwerpunkt liege – nicht ausschließlich, aber vorrangig – auf den narratologischen, meist: motivationslogischen Effekten, die sich an diesen Scharnierstellen der Handlung ergeben, weil sie es sind, die sich narratologisch besonders präzise fassen lassen. 1. Zu Jupiters Prophetie: Sie ist mit dem Gespräch zwischen Jupiter und Venus aus der Handlung gefallen, und dass später – vor allem am Ende der mittelalterlichen Romane – weit ausladende Prophetien auf die römische Kaiserzeit hin entwickelt werden, tut für die Handlungsführung selbst nichts zur Sache. Die teleologische Gewissheit des römischen Projekts ist damit wettgemacht, weil eben nicht von Anfang an alles als im Grunde ausgehandelt und zukunftsgewiss dargestellt wird. Bei Vergil war die Zukunftsgewissheit mit Fragezeichen versehen dergestalt,
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dass die Gesprächssituation die prophetische Sicherheit dämpfte; nun aber, in den mittelalterlichen Romanen, ist diese – narratologisch gesprochen – Prolepse ganz fraglos völlig verschwunden. Was immer im lateinischen Gespräch zwischen Jupiter und Venus sonst noch an rückschauenden, kontextualisierenden Informationen gegeben ist, um die Handlungssituation nach dem Seesturm zu exponieren, tragen die mittelalterlichen Dichter wiederum durch vielfache einführende Passagen (zum Fall Trojas, zu Karthago) ausführlich in auktorialer Rede nach, was aber für unseren Zusammenhang von geringem Belang ist. Das narratologische suspenseProblem einer absolut zukunftsgewissen Handlung ist durch die Tilgung der Prophetie recht radikal gelöst. Während die Tilgung der Götterszene in puncto suspense ein Erzählproblem beseitigt, generiert es ein anderes, motivationslogisches: Bei Vergil steht das JupiterJuno-Gespräch nach der Landung der Troer an der libyschen Küste; man hat sich nach dem Seesturm einigermaßen gesammelt, Aeneas und Achates kümmern sich um die Nahrungsversorgung (Jagd), Aeneas bemüht sich mit einer Rede an die Gefährten, diesen jenen Mut zu spenden, der ihm selbst abhandengekommen ist. Hier, direkt vom nach seiner Rede grübelnden Aeneas, springt die Erzählung auf die Götterebene, die also mit dem Voraufgehenden nur lose motivationslogisch verflochten ist: Jupiter hätte ja auf Drängen der Venus den Seesturm beenden können. Das macht aber schon Neptun, sodass das Gespräch Jupiter/Venus streng auf das Zukünftige, Kommende gerichtet bleibt. Sein Ergebnis ist dann ein doppeltes. Der weiteren Zukunft gilt Jupiters Prophetie; das unmittelbar Folgende aber wird geprägt von Merkur, den Jupiter schickt, um die Herzen der Punier und Dido selbst milde gegen die Flüchtlinge zu stimmen. Zu verhindern gilt es, dass Dido, die – wie es augenzwinkernd heißt – die Fata ja noch nicht kennt (fati nescia Dido, I,299), die Troer aus ihrem Land vertreibt. Diese Tat Merkurs fehlt den beiden volkssprachlichen Romanen genauso wie das diese bedingende Göttergespräch. Dass Dido und ihre Leute gegen die Troer so gastfreundlich aufgeschlossen sind, harrt damit einer Begründung, und dies umso mehr, als Gastfreundlichkeit in dieser Erzählwelt keine vorauszusetzende Tugend, schon gar keine Selbstverständlichkeit darstellt. Darüber ist sich auch der Dichter des Roman d’Eneas im Klaren; er macht aus der Überraschung keinen Hehl: Als Eneas von seinen Boten erfährt, dass in Karthago eine Königin herrscht, fragt er spontan: Menace nos? ¹³³ (V. 650), was diese verneinen können; später, als Venus sich darum bemüht, die Liebe von Dido und Eneas zu wecken (oder zu intensivieren), streut der Erzähler die Notiz ein, dass Venus
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molt redotot en son corage, qu’il nel menassent malement: molt ert entre salvage gent. ¹³⁴ (V. 766–768)
Die Strategie, die der französische Dichter verfolgt, um diese exzeptionelle Gastfreundlichkeit zu begründen, ist eine figurenpsychologische: Unmittelbar nach der Rede des Eneas und allerlei Erzählerinformationen über Karthago und Didos bisherige Lebensgeschichte entsendet Eneas jene Boten zu Dido, die ihm später von ihrer erstaunlich positiven Reaktion berichten werden; sie sollen die Lage erkunden, Wortführer ist Ilioneus. Dido gewährt Audienz, und Ilioneus nutzt die Gelegenheit, um von Trojas Fall und ihrer Flucht zu erzählen; eine konkrete Bitte formuliert er nicht (V. 564–598).Verblüffend ist ihre Reaktion (V. 600– 640): Sie gibt zu erkennen, dass sie von Troja gehört habe, leitet daraus ab, dass die Flüchtlinge sich dringend ausruhen müssten, und bietet ihnen an, in Karthago Rast zu halten, um die Schiffe zu versorgen und um wieder zu Kräften zu kommen. Je länger sie spricht, desto offenherziger werden die Angebote, die sie Eneas und den Troern macht: Ihren Besitz will sie mit Eneas teilen, alles darf er nutzen, bei der Abreise wird es Geschenke regnen, ja, noch mehr: sollte er la folie (V. 630) – den Wahnsinn –, die (bzw. den) er jagt, sein lassen, dann würde sie ihm und seinen Leuten einen Teil ihres Landes überlassen. Die Völker möchten sich vereinigen: se il vuelt aveir ma comune ¹³⁵ (V. 634), dann werde ihre Liebe nicht länger dem von Tyros gelten, sondern dem aus Troja! All dies kommt unvermittelt – und doch nicht ganz. Denn wir wissen vom Erzähler von Didos bisherigem Schicksal, und auf dieses rekurriert sie, als sie den Troern Sicherheit verspricht: Sie sei in noch schwierigerer Lage in dieses Land gekommen, und so weiß sie aus eigener Erfahrung genau (par mei le sai, bien l’ai apris, V. 618), que ge dei bien aveir pitié / d’ome, sel vei desconseillié ¹³⁶ (V. 619 f.). Dido projiziert ihre alte Not auf das Schicksal des Eneas, das rührt ihr Mitleid, und dieses bedingt ihre freundliche Reaktion auf die Fremden. Dass sie deshalb Eneas gleich auch noch den Verbleib in Libyen und eine gemeinsame Herrschaft, schließlich auch noch ihre Liebe anträgt, lässt sich aus dieser Projektion schwerlich ableiten; es ist diese Liebe an dieser Stelle auch motivationslogisch überschüssig, wo sie doch später erneut (durch Venus) motiviert wird. Die grundsätzlich positive Einstellung der Königin aber hat mit dieser Parallelisierung einen, freilich recht simplen, figurenpsychologischen Grund.
134 „in ihrem Herzen fürchtete (sie) sehr, / daß sie ihn schlecht behandelten: / er befand sich unter sehr wildem Volk.“ 135 „wenn meine Gemeinschaft ihm angenehm ist“. 136 „daß ich rechtes Mitleid mit einem Menschen / haben muß, wenn ich sehe, daß er in Not ist.“
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Hält man diesen Entwurf des Franzosen gegen die vergilische Folie, ließe sich von einer Verschiebung sowohl der Handlungskontingenz als auch der Motivationslogik von der Götter- auf die Menschenebene sprechen. Bei Vergil ist es die – ungleich komplexere – figurenpsychologische Konfrontation von Vater und Tochter, aus der heraus ein Handlungsimpuls entspringt, ein Impuls, der – mit Blick auf die verwickelte Gesprächslogik – in dieser Weise schwer kalkulierbar war. Im Roman d’Eneas wird dieses Überraschungsmoment des Handlungsschwenks bewahrt, aber es entspringt nun nicht einem göttlichen Familiengespräch, sondern einer menschlichen Figur, deren überraschendes Wollen teils begründbar ist und von ihr begründet wird, teils aber auch die erwartbare Vernunft übersteigt. Der Erzähler kommentiert Didos Rede nicht, und auch von der Reaktion der Troer erfahren wir nicht mehr, als dass sie sich sehr darüber freuen. Wenige Verse später aber heißt es, als einige trojanische Schiffe, die man verloren glaubte, auch noch an der libyschen Küste landen, über den in Freude befangenen Eneas: Molt li esteit prospre fortune: fortune le ra esbaldi, ki de devant l’aveit marri. ¹³⁷ (V. 674–676)
Der Text scheint dieses Prinzip einer glücklichen Fügung primär auf die Landung der Schiffe zu beziehen (eine klare Referenzierung gibt es nicht). Die Versuchung ist aber da, das Wirken Fortunas auch mit Didos Haltung zu verbinden: Wo Psychologie nicht mehr reicht, helfen nur noch Zufall und Glück, um die Handlung final dorthin zu drängen, wohin sie aus stofflichen Gründen gehört. Heinrich von Veldeke folgt in seinem Eneasroman im Prinzip dem Entwurf des Roman d’Eneas. Bezeichnend für ihn, vielleicht für das Streben des höfischen Romans insgesamt aber ist, dass auch er nochmals an diesen Gelenken der beginnenden Handlung schraubt. Was immer Heinrich dabei unternimmt, kommt einer behutsamen Reduktion jener Erzählstrategie gleich, die der französische Dichter in den Text gebracht hat. Wieder schickt also Eneas seine Boten zu Dido, wieder kommt es zum Gespräch, doch diesem Gespräch fehlt das Entscheidende – die Analogisierung von Didos Schicksal mit jenem der Troer – fast zur Gänze; die Königin hält zwar fest, dass sie um die Not wüsste, die die Troer erlitten haben, und sie betont, dass man (nicht: ich!) dies gelouben wole mach ¹³⁸ (V. 30,24/526), zumal sie selbst weiz wol ein teil ¹³⁹ (V. 30,25/527) um Exil und Schifffahrt, weil es ihr ja ähnlich
137 „Fortuna war ihm sehr gewogen: / Fortuna, die ihn zuvor betrübt hatte, / hat ihn wieder ermutigt.“ 138 „darf man wohl glauben“. 139 „kenne sehr wohl“.
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erging. Die im Roman d’Eneas davon abgeleitete Folgerung, dass sie deshalb den Troern gewogen sei, hingegen fehlt; Dido erklärt nur noch kurz, dass sie aus Tyrus stamme, dann geht sie sofort dazu über aufzuzählen, was sie Eneas biete – es ist nochmals mehr als in der französischen Vorlage. Man muss schon sehr genau lesen, um aus diesen Versen jene figurenpsychologische Motivation zu entwickeln, die im Roman d’Eneas offen zutage liegt. Didos Wohlwollen erscheint dadurch nochmals verblüffender, und je weniger ihr Tun psychologisch nachvollziehbar ist, desto mehr spricht und handelt sie – hier und auch in den folgenden Szenen –, als kennte sie den weiteren Verlauf der Geschichte bereits und müsste nun ihren Teil dazu beitragen, dass er Gestalt nimmt. Solche paradoxen Wissenskonfigurationen sind im mittelalterlichen Erzählen nicht selten; hier treten sie besonders drastisch in Erscheinung, weil sie im Textvergleich so deutlich Kontur gewinnen. Zugleich zeigt der Vergleich, dass hier von poetischem Missgeschick nicht die Rede sein kann. Zumindest haben wir gute Indizien dafür, dass Heinrich von Veldeke weiß, was er da tut, denn er stimmt auch das Weitere darauf ab: Die sorgenvolle kleine Nachfrage des Eneas, ob die Königin denn die Troer bedrohe, ist ausgelassen, detto die Sorge der Venus, deren Händel im deutschen Text nochmals überflüssiger erscheinen, weil Dido, je weniger sie als Figur psychologisch plausibel agiert, desto mehr immer schon und gleichsam a priori in Liebe zu Eneas befangen ist. Fortuna regiert nun uneingeschränkt eine Handlung, die ein vorgegebenes Ziel hat; der Erzähler braucht dieses nicht erst motivational zu entwickeln, er kann freihändig und final darauf zusteuern. Die Notiz zu Fortuna anlässlich der nachkommenden Schiffe ist darum getilgt; dass ihn Fortûnâ sus erlôste ¹⁴⁰ (V. 23,11/231) ist stattdessen vorgezogen zur Landung an der libyschen Küste: Alles, was folgt, steht programmatisch im Zeichen des Glücks. Die Entproblematisierung der Handlungsführung ist totalitär. Wir haben Grund zur Annahme, dass der Dichter des Roman d’Eneas seinen figurenpsychologischen Versuch installierte im Bewusstsein um die kleine motivationslogische Lücke, die nach Auslassung der großen Götterszene (und aufgrund der mit ihr ausgefallenen Tat des Merkur) im motivationalen Geflecht des Textes klaffte. Was er unternahm, lässt sich halbherzig nennen, denn je länger Dido spricht, desto weniger genügt der Grund, den sie gibt. Das Geschehen behält zwar Spannung, die Bedrohung für die Flüchtlinge ist latent; im Ganzen aber hinterlässt die Szene des Roman d’Eneas einen unorganischen Eindruck, weil sie schwankt zwischen figurenpsychologischer Neuerung und finalem Zufall, zwischen menschlicher Handlungsautonomie und handlungsgewisser Kontingenz.
140 „Fortuna so errettet hatte“.
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Heinrich von Veldeke agiert radikaler und konsequenter. Vielleicht die vergilische Vorlage nicht oder nicht ständig vor Augen – wir wissen das nicht –, wendet er sich leichteren Fußes ab von dem Bemühen, das Geschehens psychologisch aus den Figuren heraus (seien es, wie bei Vergil, die Götter, seien es, wie im französischen Text, die Menschen) zu begründen. Es geschieht, was geschehen muss, weil die Handlung läuft, wie sie immer schon lief; selbst die Figuren scheinen dies zu ‚wissen‘. So entsteht eine neue feste Teleologie, die nun nicht eine Teleologie des römischen Projekts zu nennen wäre, sondern eine der stofflichen Vorgabe. Der Lauf dessen, was wir heute ‚Geschichte‘ nennen würden – materia, mære, hätte man vielleicht früher gesagt –, ist im Vorhinein bestimmt; auf ihn kommt es poetisch auch gar nicht primär an. Die poetische Energie konzentriert sich – in der Intensivierung dessen, was im Roman d’Eneas schon vorgezeichnet ist – auf die höfische, idealisierende Gestaltung des poetischen Details. Figurenlogische Verwicklungen wie bei Vergil oder – mit Abstrichen – im Roman d’Eneas wären diesem poetischen Wollen nur hinderlich: der Gang der Geschichte mutiert nach und nach zum Aufhänger für höfische ‚Genreszenen‘. 2. Venus und Juno, sowie 3. Götterrat: Zu ihnen ist weniger zu sagen, weil diese beiden Szenen bei Vergil loser mit der Handlung verwoben sind als das Gespräch zwischen Jupiter und Venus und Jupiters anschließende Prophetie. Sie geben dem Epos ‚Stimmung‘ und halten den Götterdiskurs präsent; ihr konkreter motivationslogischer Impact auf die umliegenden Handlungsfolgen ist aber gering. Das Gespräch zwischen Venus und Juno hallt auf Ebene der menschlichen Figuren nur mit einem Gewitter nach, das die Annäherung von Dido und Aeneas beschleunigt. Schon bei Vergil aber befindet sich dieses Projekt auch schon davor – durch das Zutun von Venus und Cupido – auf gutem Weg, wirklich wegweisend also ist dieses Gewitter nicht. Entsprechend gering sind die Folgen der Kürzung in den mittelalterlichen Romanen, die auch dieses Göttergespräch zur Gänze auslassen: Dido plant den Jagdausflug – sie will sich so von ihren Minnesorgen ablenken –; viel liest man im Roman d’Eneas, noch viel mehr bei Heinrich von Veldeke von der unmäßig prächtigen höfischen Jagdausstattung, Dido gleicht an Schönheit der Diana, Eneas dem Apollo, das große Gewitter bzw. Unwetter (granz orez et grant torment, V. 1508; ein weter vile freissam, V. 62,25/1813) ergeht plötzlich (sodainement, V. 1507) bzw. mittags (umbe den mitten tach,V. 62,24/1812), sodass sich Dido und Eneas wie üblich in eine Grotte flüchten und dort das erste Mal miteinander schlafen. Bemerkenswert ist, wie angedeutet, wie und wie sehr Heinrich von Veldeke den Jagdausflug zur höfischen Kleiderschau aufschwellt (die Gesamtlänge im Roman d’Eneas: V. 1445–1530 = 86 Verse; bei Heinrich von Veldeke: V. 58,5/1631–64,6/1874 = 244 Verse). Eine Lücke im Handlungsgeflecht aber gibt es nicht. Zwar ist das Gewitter nun, anders als bei Vergil, zufallsgetrieben; Anstoß nehmen wird an solchen meteorologischen Glücks- bzw. Unglücksfällen aber kaum ein Rezipient.
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Ähnliches gilt für den Götterrat. Er zäsuriert in der Aeneis die Kampfvorbereitungen (samt erster Scharmützel) und den eigentlichen Krieg: Unmittelbar vor dem Rat endet des Turnus Überfall auf die führungslosen Troer – Aeneas ist noch bei Euander –; unmittelbar nach dem Rat kehrt Aeneas zurück und die Kampfhändel nehmen volle Fahrt auf. Motivationslogisch leistet der Götterrat nichts, als dass er eine Erwartungshaltung aufbaut – das Gebot des Friedens; Jupiters Rede –, die dann nur desto heftiger enttäuscht wird: Jupiter resigniert in Anbetracht des Streits von Juno und Venus, der Krieg bricht sich ungehemmt Bahn. Die mittelalterlichen Romane bewahren von dieser Struktur nur Ansätze, namentlich die Zäsur zwischen Scharmützeln und Krieg. Nach dem letztlich erfolglosen Einfall des Turnus in die Burg der Troer (es fehlt übrigens sein Sprung in den Tiber) bricht Nacht herein, am nächsten Morgen greift Turnus erneut an, Eneas kommt mit den Schiffen zurück, alle treten in die Kampfhändel ein; da hält der Erzähler inne und notiert: Molt sereit fort tot a nomer et les jostes a aconter, les proeces que chascuns fist, ki i fu morz et ki l’ocist, mais molt en i muert a merveille, la mers en est tote vermeille. ¹⁴¹ (V. 5641–5646)
Diese praeteritio-artige Zäsur ist gegenüber dem Götterrat leicht verrutscht: Bei Vergil beraten sich die Götter nach dessen Flucht am Abend des Vortages und ehe die Kämpfe am nächsten Morgen neu losbrechen. Dass sie in die retardierende, gliedernde Funktion des Götterrats eintritt, ist dennoch wahrscheinlich. Bei Vergil hat die Passage keine direkte Entsprechung. Allenfalls könnte man an eine kurze, dem Wortsinne nach gegenläufige Musenanrufung anlässlich der Rückkehr des Aeneas denken,¹⁴² die den Dichter des Roman d’Eneas vielleicht zusätzlich zu diesen Versen angeregt hat. – Bei Heinrich von Veldeke ist auch diese letzte Spur des Götterrats getilgt: Es folgt Kampftag auf Kampftag, ohne jeden Verzug. Was Heinrich hier an Versen einspart, wird er wenig später dutzendfach in die Beschreibung des jungen Helden Pallas investieren.
141 „Es wäre sehr schwierig, alles zu erwähnen / und von den Kämpfen zu berichten / und den Heldentaten, die ein jeder vollbrachte, / wer dort getötet wurde, und wer ihn tötete, / jedoch unermeßlich viele sterben dort, / das Meer ist ganz hochrot davon.“ 142 Pandite nunc Helicona, deae, cantusque mouete, / quae manus interea Tuscis comitetur ab oris / Aenean armetque rates pelagoque uehatur. (X,163–166) „Tut auf nun den Helikon, Göttinnen, und stimmt eure Lieder an: Sagt, welche Truppe indessen von tuskischer Küste her Aeneas begleitet, die Schiffe rüstet und übers Meer fährt.“
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4. Jupiter und Juno: Natürlich ist auch ihr Gespräch in den mittelalterlichen Romanen gelöscht. Wie das Gespräch zwischen Jupiter und Venus – und anders als das Gespräch Juno/Venus und der Götterrat – ist aber der Dialog von Jupiter und Juno im zwölften Buch der Aeneis handlungsleitend, sodass der Ausfall narratologische Probleme macht. Die Positionierung des Gesprächs bei Vergil ist diese: Turnus und Aeneas beginnen den lange erwarteten, auch lange von beiden gesuchten Zweikampf. Bald aber erreicht dieser eine Pattsituation; Aeneas vermisst seine Lanze, Turnus aber hat sein Schwert verloren, weil dieses beim Schlag auf den vulkangeschmiedeten Helm des Troers zerbarst. Durch göttliches Zutun (zuerst Faunus, dann Venus und Juturna) gelangen beide wieder in Besitz ihrer Waffen; hier geht der Text auf Pause und lässt die Götter zu Wort kommen, ganz als reagierte Jupiter – man kann wiederum an seine erste Rede beim Götterrat denken – in der Absicht, diese kleinen, listigen Interventionen seiner Kolleginnenschaft nun endlich ganz zu bannen. Die Fortsetzung der Handlung nach dem Gespräch fügt sich diesem Gedanken ein: Jupiter entsendet die Dirae gegen Turnus, was unmittelbar zur Flucht der Juturna, die diese erkennt, führt. Turnus ist dem Tod nun schutzlos ausgeliefert; gut hundert Verse später ist er tot. Neben dieses motivationslogische Problem – wie wendet sich der Kampf zu Aeneas’ Gunsten – tritt eines der Axiologie, ja, der Programmatik des Textes. Was Jupiter und Juno aushandeln, ist ja ein Kompromiss, der nicht nur den momentanen Kampf und den aktuellen militärischen Konflikt entscheidet, sondern auch die Weichen stellt für das zukünftige Schicksal Italiens und Roms. Turnus wird im Kampf gegen Aeneas sterben. Mittel- bis langfristig werden die Troer aber (wenigstens ‚oberflächlich‘) unterliegen, denn bleiben sollen die Kultur, die Bräuche, die Sprache, der Name der in Italien bereits ansässigen Leute. Ohne dass die handelnden Menschfiguren dies wissen können, auch ohne dass es für deren momentanes Leben von Relevanz wäre, versöhnen Jupiter und Juno trojanische und italische Interessen. Ob man diesen Kompromiss einen schalen nennt, ist eine Frage, die auf einem anderen Blatt steht; dass es ihn gibt, und dass er der sich schließenden Handlung einen sehr bestimmten Ausblick gibt, gilt unbestritten. Das motivationslogische Problem ist das geringere. Ein Zweikampf muss nicht auf göttliche Fügung warten, es kann auch einfach der Stärkere gewinnen; dass einer der Kombattanten auch noch eine unzerstörbare Rüstung trägt, kommt dazu. Konsequenterweise ist die Retardation, die das Göttergespräch dem Kampf gibt, einfach getilgt. Im Roman d’Eneas verliert Turnus auf bekannte Weise sein Schwert, darum muss er fließen, Aeneas aber findet – ganz problemlos, ungehindert durch Faunus, ohne Unterstützung seiner Mutter Venus – seine herumliegende (nicht: feststeckende) Lanze, wenige Verse später schleudert Turnus verzweifelt den Stein, dann empfängt er die entscheidende Wunde, bald ist er tot (V. 9731–9814). Entsprechend erzählt auch Heinrich von Veldeke (V. 328,18/12466–331,38/12606), wenn
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er auch den Kampf, vor allem auch schon vor dieser Passage, erheblich verlängert und ausschmückt. Schwieriger gestaltet sich die axiologisch-politische Seite dieses kriegsentscheidenden Moments. Beide volkssprachlichen Dichter scheinen das Problem wahrzunehmen, das durch die Tilgung des Göttergesprächs entstanden ist, und beide reagieren unterschiedlich, aber energisch darauf. Der Dichter des Roman d’Eneas schaltet unmittelbar nach dem finalen Schwertstreich diese rätselhafte Passage: Morz es Turnus, tuit ont veü que Eneas aveit vencu, dont i ot noise merveillose. La genz de Troie fu joiose et cil dolent de l’altre part. Mais nequedent donc lor fu tart, puis que si lor est avenu, qu’Eneas aient receü. Tel sont dolent ki font semblant contenance de joie grant. A lui se vont li baron rendre, li reis li fist enz el champ prendre de ses barons les feeltez et rendre li les fermetez. Grant presse ot entor lui le jor, tuit le reçurent a seignor. ¹⁴³ (V. 9815–9830)
Gleich darauf vereinbart Eneas mit Latinus einen Termin für die Hochzeit mit Lavinia, das Happy Ending kann seinen Lauf nehmen. Die Passage ist – zumindest in der Retrospektive späterer höfischer Romane – erstaunlich. Erzählt werden soll hier offenbar eine Versöhnung; doch anstatt schwelende politische Konflikte im höfischen Festgetümmel zu ersticken,¹⁴⁴ werden
143 „Turnus ist tot, alle haben gesehen, / daß Eneas gesiegt hatte, / weshalb dort ein ungeheurer Lärm entstand. / Die Leute von Troja waren froh / und die von der Gegenseite betrübt. / Aber trotzdem hatten sie es darauf eilig, / da es ihnen ja so geschehen ist, / daß sie Eneas aufgenommen haben. / Es sind welche betrübt, / die eine Haltung großer Freude vorgeben. / Die Barone gehen, sich ihm zu unterwerfen. / Der König veranlaßte, daß er auf dem Feld / die Treueschwüre seiner Barone entgegennahm, / und daß ihm die Festungen übergeben wurden. / Ein großes Gedränge war an dem Tag um ihn herum, / alle empfingen ihn als ihren Herrn.“ 144 Dazu Florian Kragl: Sind narrative Schemata ‚sinnlose‘ Strukturen? Oder: Warum bei höfischen Romanen Langeweile das letzte Wort hat und wieso Seifrit das bei seinem Alexander nicht wusste. In: Historische Narratologie – Mediävistische Perspektiven. Hrsg. von Harald Haferland, Matthias
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diese klar benannt. Es freuen sich die Troer, es sind betrübt die Parteigänger des Turnus; und trotzdem aber – mais nequedent – kommt es zur Aussöhnung. Ein Grund dafür wird nicht gegeben, der Kampfausgang wird einfach akzeptiert. Dass diese Versöhnung aber nur zähneknirschend vonstattengeht, ist deutlich zu hören, wenn die Freude der Barone teils nur eine vorgeschobene ist, sie also dissimulieren. Mit Blick auf den schalen Beigeschmack des Kompromisses, den bei Vergil Juno und Jupiter aushandeln, ist diese düstere Aussöhnung gar kein schlechtes Substitut. Anders als dieser Kompromiss aber, der psychologisch überzeugend entwickelt wird, kommt diese Versöhnung im Roman d’Eneas unvermittelt, wohl weil zu wenig Verse aufgewendet werden, um diese politische Lösung zu illustrieren und zu plausibilisieren. Es bleibt bei der bloßen Behauptung, so als müsste dieses Thema erledigt werden, und zwar möglichst rasch. Anders als bei Vergil ist auch der Zeithorizont der Versöhnung: Juno und Jupiter blicken weit voraus in die (römisch geprägte) Weltgeschichte; im Roman d’Eneas ist es ein Friedensschluss hic et nunc. Und anders ist die Art der Konfliktsistierung: Was bei Vergil ein schillernder Kompromiss war, ist im französischen Roman der uneingeschränkte Sieg nur der einen Partei. Der Triumph des Eneas ist grenzenlos. Heinrich von Veldeke greift diese Neuerungen des Roman d’Eneas auf und entwickelt sie weiter. Die kurze Aussöhnung mit den ansässigen Baronen wird bei ihm breit ausgetreten als eine regelrechte politische Zeremonie, die als Stationenfolge hofpolitischer Szenen ergeht. Ich spare mir hier die Details, sie sind an anderer Stelle entwickelt.¹⁴⁵ Wieder ist der Erfolg und der Sieg des Eneas ein vollkommener, und die Schatten, die im Roman d’Eneas noch auf diese Versöhnung gefallen waren, sind von Heinrich von Veldeke, so gut es geht, weggeleuchtet. Sein höfisches Festfinale wird musterbildend sein für spätere deutsche höfische Romane, und wie in ihnen so ist auch bei Heinrich dieses Fest, das er auf vielen hundert Versen schildert, ein absolutes, das keine Abstriche duldet. Umso bemerkenswerter ist, welche Verse Heinrich von Veldeke auf den Tod des Turnus folgen lässt, also an genau jener Systemstelle, die der Roman d’Eneas für seine seltsame Versöhnung genutzt hat. Heinrich sagt: Dô Turnûs lach erslagen, dô wart daz weinen und daz klagen von sînen frunden vile grôz. wande nehein sîn genôz mêr tugende nie gewan,
Meyer. Berlin/New York 2010 (TMP 19), S. 307–337; ders.: Abschlussschwäche? Die closure des höfischen Romans zwischen Mediengeschichte und Kulturpoetik. In: Poetica 51 (2020), S. 276–311. 145 Vgl. abermals Kragl (Anm. 144).
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wie her wâre ein heidensch man. doch daz her dâ was belegen, her was des lîbes ein degen, kûne unde mahtich, wîse unde bedahtich, getrouwe unde wârhaft, milde unde êrhaft, ein adelar sînes gûtes, ein lewe sînes mûtes, ein ekkestein der êren, ein spiegel der hêren. her hete wol getânen lîb, viel lieb wâren im diu wîb, si wâren ouch ime holt: daz was sîner tugende scholt. her hete in sîner jugende ûz erwelder tugende wol zehener sîner gnôze teil, wan daz klagelîch unheil, daz her des tages veige was unde daz her Enêas sîn lîb danne solde tragen, Turnûs het anders in erslagen. ¹⁴⁶ (V. 331,39/12607–332,26/12634)
Es schließen nahtlos die Festvorbereitungen und die hofpolitischen Agenden an. – Was treibt Heinrich von Veldeke zu dieser – mit biblischen Bildern gespickten¹⁴⁷ – Eloge auf Turnus, zu dieser „in sich problematische[n] Totenklage“¹⁴⁸? Mag sein, dass er die wenigen, spärlichen Notizen seiner französischen Vorlage pflichtbewusst dilatiert hat. Mag sein, dass er hellsichtig die Konsequenz gezogen hat aus der Beobachtung, dass bei Wegfall eines Großteils der Götterhandlung Turnus in der Tat 146 „Als Turnus erschlagen war, wurde das Weinen und Wehklagen seiner Freunde sehr groß. Denn keiner seiner Standesgenossen vereinigte mehr Vorzüge auf sich, obwohl er doch ein Heide war. Wenn er auch unterlegen war, war er ein Held an Körperkräften gewesen, kühn, kräftig, klug, besonnen, treu, aufrichtig, freigiebig und ehrenhaft, ein Adler im Umgang mit seinem Besitz, ein Löwe in seiner Gesinnung, ein Eckstein der Ehre, ein Vorbild der Fürsten. Er war schön. Er liebte die Frauen, sie liebten ihn auch dank seinen Vorzügen. Er vereinigte, so jung er war, die ganze Vorbildlichkeit von gut zehn seiner Standesgenossen auf sich, wenn man von dem erbarmenswerten Unglück absieht, daß er an diesem Tag sterben mußte und Herr Eneas mit dem Leben davonkommen sollte. Sonst hätte Turnus ihn erschlagen.“ 147 Siehe den Kommentar zu 332,2–21 in: Heinrich von Veldeke: Eneasroman. Die Berliner Bilderhandschrift mit Übersetzung und Kommentar. Hrsg. von Hans Fromm. Frankfurt a. M. 1992 (Bibliothek des Mittelalters 4; Bibliothek deutscher Klassiker 77), S. 895 f. 148 Marie-Luise Dittrich: Die ‚Eneide‘ Heinrichs von Veldeke. 1. Tl.: Quellenkritischer Vergleich mit dem Roman d’Eneas und Vergils Aeneis. Wiesbaden 1966, S. 409.
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als strahlender, makelloser Held dasteht, ungleich strahlender und makelloser als sein Kontrahent Eneas. Es schließen sich diese möglichen Gründe auch nicht aus, sie ergänzen einander, und weitere wären denkbar. Wichtiger als die möglichen Beweggründe ist der Effekt dieses Turnus-Lobes. Es würfelt die Axiologie des deutschen Eneasromans, zumindest für den Moment, gehörig durcheinander, gipfelnd in der Notiz, dass ohne diese spezielle Rüstung des Aeneas Turnus der Sieger des Kampfes geworden wäre. Was dann folgt – Eneas als strahlender neuer Herrscher, den auch die Altitaler fraglos akzeptieren –, steht zu diesem Turnus-Lob in einem Widerspruch, der härter nicht sein könnte. Anstelle des Kompromisses tritt eine ungelöste axiologische Aporie. Sowohl die Lösung des Roman d’Eneas als auch jene Heinrichs von Veldeke wird man zumindest mit modernen Leseaugen als aufgesetzt wahrnehmen. Beide weisen damit – absichtlich oder nicht – auf den Riss hin, den die Tilgung des Göttergesprächs im Handlungsfinale hinterlässt. Unterschiedlich sind die Strategien im Detail; verbunden sind sie dadurch, dass auf politischer Ebene der Erfolg des Eneas ein totaler ist, dass dieser Erfolg aber – jeweils im Vorhinein – diskreditiert wird davon, dass die Unterlegenen ihn nur widerwillig akzeptieren oder gar die Legitimität des trojanischen Erfolgs insgesamt infrage gezogen wird. Kompromisse gibt es nicht; der axiologische Zweifel aber erhält – besonders im deutschen Roman, und wenn auch nur für einige Verse – reiche Nahrung, sodass die poetische Tektonik insgesamt jäh und nahezu unvermittelt ins Wanken gerät.
VII Arbeit an Zweifel und Kompromiss Den Analysen ist leicht abzulesen, dass die mittelalterlichen Romane das poetische Gefüge im Vergleich zur vergilischen Vorgabe ganz neu programmieren. Leicht zu sehen ist auch, dass der Dichter des Roman d’Eneas dabei zögerlicher vorgeht, einiges behält, anderes zu kompensieren versucht. Heinrich von Veldeke agiert unbefangener, was vielleicht schlicht daran liegt, dass ihm, der (fast?) ausschließlich nach dem französischen Text vorgeht, der stete Blick auf die Aeneis abgeht, sicherlich aber daran, dass redaktionelle Prozesse, auch wenn sie in dieselbe Richtung zeigen, in mehrfacher Schichtung zu größerer Stringenz finden: Heinrichs Eneasroman ist ein ‚Text dritter Stufe‘¹⁴⁹. Leicht auch erkennt man in diesem schriftgeprägten Feld, dass es sich um intentionale Arbeitsgänge handelt, die die Gestalt der Texte entschieden prägen. Wie radikal die Auswirkungen auf die The-
149 Marie-Sophie Masse, Stephanie Seidl (Hrsg.): „Texte dritter Stufe“. Deutschsprachige Antikenromane in ihrem lateinisch-romanischen Kontext. Berlin/Münster 2016.
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menfelder Kompromiss und Zweifel sind, lässt sich am einfachsten an der Transformation jener drei oben besprochenen poetischen Bezirke darlegen, die bei Vergil von einer charakteristischen Gegenläufigkeit von Teleologie und Kontingenz geprägt sind: Erstens, die Götterhandlung: Sie ist stark reduziert, die großen Götterszenen fehlen allesamt. Damit fallen auch die Strategien der Kompromissfindung auf göttlicher Ebene. Die Frage nach dem Verhältnis zwischen göttlichem Willen und Fata stellt sich nicht länger. Zweitens, die Menschen. Sie sind insofern freier, als mit der Reduktion der Götterhandlung auch Prophetien schwinden (Jupiters Rede, der Schild des Aeneas) oder reduziert werden (Unterweltfahrt). Die mittelalterlichen Romane klinken diese Ausblicke aus der Handlung aus und verschieben sie in digressive Partien (etwa die Epiloge); die handelnden Menschen sind damit von diesem Wissen – partiell – entlastet und gewinnen an Handlungsautonomie. Diese gesteigerte Autonomie kompensiert ihrerseits die fehlenden Götterhandlungen, weil nun die menschlichen Entscheidungen in jene kleinen motivationalen Lücken eintreten müssen, die nach Kürzung der Götterszenen bleiben. An Komplexität stehen diese menschlichen Entscheidungsfindungen weit zurück hinter Vergils Göttergesprächen. Wir finden schlichte psychologische Anlassmotivierung (z. B. Didos Mitleid mit Flüchtlingen), die punktuell für Rationalität und Plausibilität sorgt, insgesamt aber nicht genügt, um die Handlung zu tragen, weil sie stets nur partikulare Risse des motivationalen Netzes flickt. Die figürliche, psychologische Flexibilität der vergilischen Götterwelt wird im Prinzip auf Menschenebene gedrückt, doch wird ihr dort nur begrenzter Raum zur Entfaltung zugestanden.¹⁵⁰ Im Gegenzug hält eine neue Teleologie Einzug in die Romane, die Vergils Text in dieser Form nicht kennt und auch nicht kennen kann: jene der vorgegebenen Geschichte. Sie ist es vor allem – und nicht die nachgetragenen figurenpsychologischen Motivationen auf Menschenebene –, die der Handlung neue, finale Stabilität gibt. Man kennt die Geschichte, nämlich von Vergil her, und dieses Wissen genügt, um sie zu festigen. Mittel zu diesem Zweck sind punktuelle kontingente Sachverhalte, die in ihrer Gesamtheit auf ein klares Handlungsziel hinarbeiten: Dido ist, wie sie ist; es gibt ein Gewitter, weil es manchmal Gewitter gibt; die Barone versöhnen sich, weil es eine von mehreren Optionen ist. Der Zufall regiert nicht, sondern er dient einem vorgegebenen Handlungsverlauf und Handlungsziel; er wird vom Erzähler daher 150 Vgl. ähnliche Argumente bei Ralf Schlechtweg-Jahn: Antike Götter im Eneasroman Heinrichs von Veldeke. In: Die Welt und Gott – Gott und die Welt? Zum Verhältnis von Religiosität und Profanität im „christlichen Mittelalter“. Hrsg. von Elisabeth Vavra. Heidelberg 2019, bes. S. 211–215, der allerdings, wenn ich das recht sehe, die Sache weniger als poetische Zwangslage denn als poetisches Kalkül verstanden wissen will.
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auch nicht als Zufall inszeniert, sondern möglichst unauffällig genutzt, um die Handlung in die richtige, vorgegebene Richtung zu treiben.¹⁵¹ Rezeptionsseitig – so steht zu vermuten – lösen derartige Zufälle keinen Schauder angesichts der Kontingenz menschlicher Schicksale aus, sondern leises Achselzucken: Dido ist halt so; es gibt halt ein Gewitter; die Barone sind halt Opportunisten. Kontingenz und ‚Fatalität‘ der Handlung sind einander fest verbunden. Es stimmt zu dieser neuen, radikalen, kaum je ernsthaft durch figurenpsychologische Wirrnisse gefährdeten Finalität der Handlungslogik, dass auch andere ‚zweifelhafte‘ Bereiche der Erzählwelt gleichsam ‚entstört‘ werden. Wieder kann man an die Prophetien denken, die teils getilgt sind; die aber dort, wo sie bleiben oder auch neu hingestellt werden, mit fragloser Auktorialität versehen sind. Elfenbeinpforten sucht man im mittelalterlichen Roman vergebens. Auch jene kleinen axiologischen Störmomente, die Vergils Epos passim durchziehen, sind meistenteils aus dem poetischen Konstrukt entfernt. Das Erzählen mit Dido, mit Mezentius, mit Lausus ist stark reduziert oder ganz gelöscht. Die mittelalterlichen Dichter mögen diese Schattierungen nicht dulden, vielleicht weil sie das Epos zum Protagonistenroman ummodeln und die alte Götterteleologie mit dem finalen Handlungsglück und mit umfassender Idealität der Troer und des Eneas ersetzen; mit einem Glück und einer Idealität, deren Irritation der Architektur der Romane riskant wäre. Die mittelalterlichen Dichter folgen dabei durchaus den Vorgaben der zeitgenössischen lateinischen Poetiken, gerade auch was die vergleichsweise kompromisslose Idealisierung der Figuren zu festen Typen anlangt, aber auch in der Hinsicht, dass sie sich weniger an Vergil als an den verfügbaren Vergil-Auslegungen zu orientieren scheinen, die seit der Spätantike sich mit hermeneutischem Rüstzeug bemühen, das lateinische Epos politisch auf Kurs zu setzen (Verherrlichung des Augustus) und alles Störende ‚klassisch zu dämpfen‘.¹⁵²
151 Vgl. Annette Gerok-Reiter: Die Figur denkt – der Erzähler lenkt? Sedimente von Kontingenz in Veldekes Eneasroman. In: Kein Zufall. Konzeptionen von Kontingenz in der mittelalterlichen Literatur. Hrsg. von Cornelia Herberichs, Susanne Reichlin. Göttingen 2010 (Historische Semantik 13), S. 150: „Insofern wird man zu realisieren haben, dass sich die Einschussstellen des Kontingenten auf Handlungsebene primär als Folgeprodukt eines kulturellen Übersetzungsproblems, nicht aber als intendiertes thematisches Novum oder als narratologisch reflektierte Innovation darstellen. Eben deshalb verweisen die Verfahrensweisen, über die sich im Eneasroman Kontingentes einschreibt, trotz ähnlicher Semantisierung nicht auf ein homogenes Programm, sondern vielmehr auf die widersprüchliche Baustelle einer nicht reibungslos sich vollziehenden historischen Transaktion.“ 152 Grundlegend zu diesen Bearbeitungsstrategien Silvia Schmitz: Die Poetik der Adaptation. Literarische inventio im ‚Eneas‘ Heinrichs von Veldeke. Tübingen 2007 (Hermaea, N. F.113), bes. S. 320, S. 315–327. Der Begriff der ‚klassischen Dämpfung‘ nach Leo Spitzer: Romanische Stil- und Literaturstudien. Marburg 1931 (Kölner romanistische Arbeiten 1), S. 135 f. (dort mit Bezug auf Racine), zit. bei Schmitz (a. a. O.), S. 325 mit Anm. 164.
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Vielleicht passen die vergilischen Schattierungen auch einfach nicht zum Projekt einer höfischen Dichtung, weil sie dieser nachhaltig den idealisierenden Glanz¹⁵³, auch die exemplarische, didaktische Dringlichkeit raubten, die deren Dichter sich auf die Fahnen schrieben.¹⁵⁴ Als Kollateralschaden dieser axiologischen Reprogrammierung verbleibt mit Turnus ein makelloser Antagonist, der den Protagonisten als höfischer Held noch zu übertrumpfen droht.¹⁵⁵ Ihn zum Bösewicht zu machen, hätte erhebliche Eingriffe in den Gang der Handlung bedeutet, wie sie die stofftreuen mittelalterlichen Dichter kategorisch meiden. Darum klafft hinter Turnus und seiner Eloge bei Heinrich von Veldeke ein tiefer axiologischer Abgrund, der aufreißt zwischen sklavischer Treue gegen die überkommene materia und dem Bemühen, dem Ganzen eine neue programmatische Hülle überzuziehen. Es nimmt nicht wunder, dass dann auch all jene unzähligen mikrostrukturellen Störmomente hinschwinden, die Vergils Epos mit dieser eigentümlichen ‚ästhetischen Stimmung‘ begaben, wie sie oben beschrieben ist. Die Beispiele dafür sind Legion. Diese grundstürzenden poetischen Konstruktionsarbeiten der mittelalterlichen Dichter zeitigen – drittens – radikale Folgen für die oben besprochenen Funktionen des vergilischen Kompositionsprinzips. Narratologisch wäre zu erwarten, dass die Tilgung der göttlichen Teleologie des römischen Projekts die Handlung mit suspense versehen müsste. Dies ist auch insofern der Fall, als durch die Reduktion von Prophetien und Orakeln das Wissen um den Ausgang der Geschichte nicht ständig in Erinnerung gerufen wird. Auch dass die Zentrierung der Fabel um den Helden Eneas aus dem Epos einen Protagonistenroman modelliert, sollte dazu beitragen, dass die Menschenhandlung ihr hölzernes Gehabe verliert. Allerdings schlagen die mittelalterlichen Dichter aus diesen neuen Optionen geringen Profit: Die neue Handlungsfreiheit der Menschen¹⁵⁶ wird von der ‚materiellen‘ Gewissheit des Stoffes oft rasch kassiert, und wieder geschieht, was zu geschehen hat: doch nun nicht aufgrund göttlichen oder fatalen Wollens, sondern weil die Geschichte geht,
153 Nicht zuletzt ‚sichtbar‘ wird er in den deskriptiven Passagen. Siehe dazu Marie-Sophie Masse: La déscription dans les récits dʼantiquité allemands fin du XIIe–début du XIIIe siècle. Aux origines de lʼadaptation et du roman. Paris 2004 (Nouvelle bibliothèque du Moyen Âge 68), bes. S. 388–398. 154 Vgl. Nikolaus Henkel: Vergils ‚Aeneis‘ und die mittelalterlichen Eneas-Romane. In: The Classical Tradition in the Middle Ages and the Renaissance. Proceedings of the First European Science Foundation Workshop on „The Reception of Classical Texts“. Hrsg. von Claudio Leonardi. Spoleto 1995, S. 129, S. 131 u. ö. sowie Elisabeth Lienert: Deutsche Antikenromane des Mittelalters. Berlin 2001 (Grundlagen der Germanistik 39), S. 94–99. 155 Vgl. zu Turnus Florian Kragl: Höfische Bösewichte? Antagonisten als produktive Systemfehler im mittelalterlichen Roman. In: ZfdA 141 (2012), S. 37–60.Vgl. auch Elisabeth Lienert: Antagonisten im höfischen Roman? Eine Skizze. In: ZfdA 147 (2018), S. 423–426. 156 Zu dieser Frage umsichtig Gerok-Reiter (Anm. 151).
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wie sie geht. Zieht man ins Kalkül, dass bei Vergil dieses göttliche und fatale Wollen seinerseits mit erheblichen ironischen Zweifeln versehen ist, die Stoffgewissheit der Geschichte aber absolute Geltung beansprucht, hat sich im mittelalterlichen Erzählen die Absolutheit des Textes zusätzlich verschärft. Hinfällig ist, aufgrund neuer kultureller Rahmenbedingungen, der theologische Aspekt einer Götteraussöhnung für das erstehende römische Reich, hinfällig sind oder jedenfalls stark gedämpft werden – unter Verzicht auf komplexere figurenpsychologische Konstruktionen und/oder axiologische Störmomente – auch wesentliche Phänomene der Empathie und viele figurenpsychologische Realitätseffekte. Die perspektivische kulturpolitische Aussöhnung zwischen Troern und Ausoniern, die das Juno-Jupiter-Gespräch stiftet, ist umgestaltet zu einer Versöhnung der kriegführenden Parteien im Hier und Jetzt der Handlung. Bei Vergil war diese Aussöhnung eine mit einem schalen Beigeschmack gewesen, den auch der Roman dʼEneas nicht ganz loswerten wollte oder konnte; spätestens bei Heinrich von Veldeke ist daraus ein erzwungener Frieden geworden, auf dessen Labilität der Franzose noch vorsichtig hingewiesen hatte. Auch die von den mittelalterlichen Dichtern, besonders aber vom Deutschen aufgeblähte Liebeshandlung um Eneas und Lavinia wird man vielleicht unter diesem Primat höfischer Homogenisierung verbuchen dürfen. Den größten Schaden nimmt Vergils Ästhetik. Der schillernde, sanft-ironische Dauerzustand, der immerwährende Zweifel, der die Aeneis – aber neben ihr auch die Eclogen und die Georgica – im Kern ausmacht, die Schattierungen, das ständige Anbrechen fester Strukturen, sie werden weder bewahrt noch analogisch kompensiert. Die mittelalterlichen Romane kennen – im intertextuellen Vergleich – seltener als ihre lateinische Vorlage Ironie, Zweifel und Kompromiss, und wo sie ihnen doch als Erbmasse geblieben sind, wirkt die Störung weniger wie poetischer Mehrwert denn störend im Sinne eines lästigen Fehlers, der sich nicht beheben ließ: „‚Schleuderstellen‘“ hat Annette Gerok-Reiter diese Phänomene genannt, „bei denen der Transfer der antiken Vorgaben in den neuen kulturellen Kontext nicht reibungslos gelungen ist, sondern zu Unklarheiten, Schattierungen, Interferenzen geführt hat“¹⁵⁷. Dies gilt für einige homöopathische Spuren, die von Vergils Erzählprinzip geblieben sind: kurze, im Vergleich mit der Aeneis schwundstufige Passagen der Dido-Handlung oder die besagte axiologische Problematik um Turnus und seinen Tod. Wo immer diese Spuren begegnen, scheinen sie die neue Poetik
157 Gerok-Reiter (Anm. 151), S. 150.
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Florian Kragl
mehr zu stören, als dass sie diese stützten: verstreute Atavismen, die je für sich wuchern, ohne aber aufs Gesamt der poetischen Struktur überzugreifen.¹⁵⁸ Freilich muss man im Blick behalten, dass für solche Überlegungen und Taxierungen auch und zugegebenermaßen die Rezeptionshaltung eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt; wie gravierend ihre Auswirkung sein kann, möchte ein Seitenblick auf jene Vergil-Lektüren demonstrieren, die die ‚Aeneis‘ streng von Homer her lesen. Dann ist Vergils Epos nicht minder gestört als die mittelalterlichen Romane. Je nachdem, welches Bild man sich macht von Dichter und ‚altem‘ Publikum, können die Eindrücke enorm schwanken, und die Wege zwischen Reiz und Defizit werden verblüffend kurz. Was aber ungeachtet dieser rezeptionsästhetischen Fährnisse bleibt, ist die differenzlogische Beschreibung, für Vergil und die mittelalterlichen Romane namentlich die Verschiebung von Phänomenen der Götterebene auf die Ebene handelnder Menschenfiguren und eine radikal andere, nämlich ungleich geringere Intensität des sanft-ironischen state of mind. Ob hinter dieser Abkehr von Vergils poetischer und auch ästhetischer Vorgabe immer eine konzeptionelle Absicht steht, wissen wir also nicht; vermutlich sind die Gründe vielfältig. Teils wird man an poetische Unglücke denken, wie sie für jede Art des Wiedererzählens typisch sind, indirekte Folgen bestimmter Prinzipien wie zum Beispiel der Tilgung der Götterszenen und des Großteils der Götterhandlung. Teils werden es systemimmanente Gesetze der Poetik sein, die eine Art Mechanismus entfalten: Wenn die Handlung mit der göttlichen Sphäre an Stabilität und Lenkmacht verliert, muss anderes an diese Stelle treten wie Stoffgewissheit, aber auch Protagonistenglück; Ironie und Zweifel aber sind einer weit vernetzten epischen Totalität leichter erträglich als einer einsträngigen Heldengeschichte, deren Fadenlauf von Fehlverhalten und axiologischen Schärfen leicht gekappt würde. Teils – vielleicht: größtenteils – muss es das Programm einer aufstrebenden höfischen Kultur sein, die zu feiern im Habitat eines ironischen, zweifelhaften Epos schwerlich gelingen könnte. Auch Vergils Text ist früh als ein kulturpolitisch-programmatischer, auch als einer der politischen Propaganda gelesen worden, vermutlich war er dies von allem Anfang an. Es möchte das – enorm unterschiedliche – Bildungsniveau der gefeierten Schicht sein, das den Unterschied macht zwischen einer Rhetorik des absoluten und einer des latent ironisierten Lobes.¹⁵⁹ Je nach Gehör ist dieses oder jenes wirksamer, je nach Gehör dieses oder jenes ruinös.
158 Vgl. dazu auch Lienert (Anm. 154), S. 99, konkret zum „Nebeneinander von übermenschlichem Geschick und menschlicher Eigenverantwortung“ und den daraus resultierenden „Reibungen“. 159 Vgl. Schmitz (Anm. 149), S. 28 sowie allgemeiner Henkel (Anm. 154), S. 124–127. Gegen die literarisch versierte, schriftgelehrte, rhetorisch geschulte römische Elite steht eine Adelskultur, der das Lesen und Schreiben auch in ihren mittleren und oberen Sphären nicht selbstverständlich war.
Kompromittierender Zweifel und Verzweifeln am Kompromiss
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Auf dem Feld des höfischen Romans behauptet sich das Modell der Eneasromane zunächst fast uneingeschränkt, Vergilisches findet man selten. Daraus den Schluss zu folgern, das Mittelalter sei kompromisslos und dem Zweifel abhold gewesen, wäre freilich ein Fehler. Wir sprechen beim höfischen Roman über eine vergleichsweise kurze, sozialgeschichtlich exklusive Phase der europäischen Literatur- und Kulturgeschichte. Ihren Proponenten war der ‚Zauberer‘ Vergil – ein typisches Paradoxon extremer Kanonisierung – so vorbildlich, wie sie mit seinen poetischen Prinzipien vielleicht wenig anzufangen wussten, weil diese ihrem Anliegen, nämlich eine würdige materia einem ganz spezifischen kulturellen und sozialen Bereich anzupassen, nicht dienlich waren.¹⁶⁰ Abseits dieses Kuriosums freilich durfte er bleiben, wie er war, und schon die Nachbarbezirke der frühen höfischen Eneasromane zeigen, dass Vergils poetischer Modus – der, dies aber nur nebenbei, auch bei Horaz, auch bei Ovid in je leicht modifizierter Form begegnet: also in der lateinischen Dichtung sozusagen omnipräsent war – nicht nur Gehör, sondern, wohl teils über den Umweg Ovids, auch Nachfolge fand; bei Chrétien de Troys etwa, Marie de France, auch in Gottfrieds Tristan. Auch die Präzision, mit der der Dichter des Roman d’Eneas, mit Abstrichen auch Heinrich von Veldeke auf jene vergilischen Phänomene reagieren, die sie und ihr Publikum irritieren, zeigt, wie gut man ihn doch auch und immer noch verstanden hat. Kaum etwas ist schließlich ein stärkeres Indiz für anhaltenden Zweifel, als wenn man ihn sich nicht gerne zugibt.
160 Vgl. zu den Adaptationsprozessen und ihrer fast zeitgleichen Kodifizierung in den mittellateinischen Poetiken u. a. Peter Kern: Beobachtungen zum Adaptationsprozess von Vergils ‚Aeneis‘ im Mittelalter. In: Übersetzen im Mittelalter. Cambridger Kolloquium 1994. Hrsg. von Joachim Heinzle, L. Peter Johnson, Gisela Vollmann-Profe, Berlin 1996 (Wolfram-Studien 14), S. 109–133; Henkel (Anm. 154); ders.: ‚Fortschritt‘ in der Poetik des höfischen Romans. Das Verfahren der Descriptio im „Roman d’Eneas“ und in Heinrichs von Veldeke „Eneasroman“. In: ZfdPh 124 (2005) [Sonderheft: Retextualisierung in der mittelalterlichen Literatur. Hrsg. von Joachim Bumke, Ursula Peters, S. 96– 116].
Andreas Hammer
Heroische Kompromisse? Über Kompromiss(losigkeit) in der Heldenepik Helden machen keine Kompromisse. Mit diesem Satz könnte man diesen Beitrag eigentlich gleich wieder beenden, da man auf den ersten Blick in einem Genre, das sich gerade durch die kompromisslose Handlungsweise ihrer Akteure auszeichnet, mit diesem Thema kaum konfrontiert wird. Aber wie so oft ist der zweite Blick auch hier lohnend. Denn wenn Kompromisse so ungewöhnlich sind, ist es umso auffälliger, wenn doch einmal ausgleichende Mechanismen zu beobachten sind; dann ist zu fragen, welche narrative Funktion ihnen jenseits der Handlungsebene zukommt. Dieser Frage möchte ich zunächst an einigen kurzen Beispielen vor allem aus der isländischen Sagaliteratur nachgehen. In einem zweiten Schritt soll der Kompromissbegriff am Beispiel des Eckenliedes auf die Figurenkonzeption ausgedehnt werden, wobei zu diskutieren ist, wo sich Überschneidungen mit Konzepten des Hybriden oder Begriffen wie der Ambiguität oder Überblendung ergeben.
I Exorbitanz und Kompromisslosigkeit Heroisches Handeln entspringt aus und ist geprägt von enormer Exorbitanz. Heroische Taten erfordern übermenschliche Kraft und Stärke, darum hebt sich der Held, wie Klaus von See dargelegt hat, vom übrigen Kollektiv ab: Ein Held steht außerhalb der Gesellschaft, der er zwar durchaus weiterhin verpflichtet bleibt, an deren soziale Ordnung er jedoch nicht immer gebunden ist, sondern verstärkt eigenen – heroischen – Wertvorstellungen (Ehre, Rache usw.) folgt.¹ Das unter1 Diese heroische Exorbitanz, die den Helden außerhalb der Gemeinschaft stellt und deren Normen er sprengt, hat Klaus von See in einem für die germanistische Literaturwissenschaft wegweisenden Aufsatz dargelegt: Klaus von See: Held und Kollektiv. In: ZfdA 122 (1993), S. 1–35. Er widerspricht damit energisch der Position von Gerd Wolfgang Weber, der Heros sei zwar herausragend, aber dennoch Teil der Gemeinschaft, für die er sich letztlich opfere (vgl. Gerd Wolfgang Weber: „Sem konungr skyldi“. Heldendichtung und Semiotik. Griechische und germanische heroische Ethik als kollektives Normensystem einer archaischen Kultur. In: Helden und Heldensage. Otto Gschwantler zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Hermann Reichert, Günter Zimmermann. Wien 1990, S. 447–481). Wie immer sind beide Positionen in ihrer Radikalität nicht absolut zu setzen; es steht das Heldenethos gegen die exorbitante Maßlosigkeit heroischen Handelns, das „Idealbild des altruistischen Helden“ gegen die „destruktive Seite des Heros“, so Jan-Dirk Müller: Exorbitante Helden im Nibelungenlied. https://doi.org/10.1515/9783110792737-013
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scheidet, auch wenn ich dies hier nur holzschnittartig darlegen kann, den Heros heldenepischer Narrative zudem vom höfischen Ritter: Der Ritter nämlich ist konstitutiv in die soziale Ordnung des Hofes eingebunden, ja er verkörpert das Höfische geradezu, selbst in der Aventiurewelt außerhalb des Hofes.² Natürlich steht auch der höfische Ritter immer wieder vor dem Problem, monströse Ungeheuer oder unhöfische Gegner, die sich erklärtermaßen nicht an die ritterlichen Regeln und Ordnungssysteme halten, bekämpfen zu müssen. Zwar muss der Ritter dann bisweilen durchaus kompromisslos agieren, um die höfische Ordnung wiederherzustellen (etwa Iwein im Kampf mit Harpin, Ereck gegen die Räuber und Riesen, Wigalois gegen Roaz usw.). Im Übrigen aber zeichnet sich die höfische Literatur ja gerade dadurch aus, dass sie nach Ausgleich strebt und widerstreitende Interessen in Einklang bringt. An Ausgleich und Mäßigung sind die Protagonisten der europäischen Heldendichtung hingegen meist weniger interessiert. Es geht ihnen um die Selbstbehauptung eigener Macht- und Geltungsansprüche, die vor allen anderen notfalls mit Gewalt durchgesetzt werden müssen – ja deren ständig aufs Neue sich wiederholende Durchsetzung den heroischen Status und den damit verbundenen Machtanspruch erst bestätigt und festigt. Kompromisse beruhen auf Gegenseitigkeit und Reziprozität,³ der Held ist aber immer ein Einzelner: Kompromisse ließen ihn somit
In: Heroen – Helden. Eine Geschichte der literarischen Exorbitanz von der Antike bis zur Gegenwart. Hrsg. von Christoph Petersen, Markus May. Göttingen 2022, S. 139–153, hier S. 142. Vgl. zur Diskussion des Exorbitanz-Begriffes die Einleitung von Christoph Petersen: Einführung. Eine Geschichte der Exorbitanz? In: ebd., S. 9–24, hier v. a. S. 13–16, mit umfangreicher Literatur. 2 Vgl. Müller (Anm. 1), S. 139 f. Vgl. auch Udo Friedrich: Held und Narrativ. Zur narrativen Funktion des Heros in der mittelalterlichen Literatur. In: Ders.: Wandel des Kulturellen – Wissen der Rhetorik – Wege der Metapher. Ausgewählte Aufsätze. Hrsg. von Andreas Hammer, Michael Schwarzbach-Dobson, Christiane Witthöft. Berlin/Boston 2022 (Literatur – Theorie – Geschichte 24), S. 333– 352, hier bes. S. 333 f. Die dort getroffene Unterscheidung zwischen dem heldenepischen Ideal des vereinzelten Heroen und dem des an der Gemeinschaft partizipierenden höfischen Ritters beschreibt Figurenkonzeptionen, die unterschiedlichen Erzähltraditionen Rechnung tragen, gleichwohl aber kulturtheoretisch zu erfassen sind. Die daraus sich ergebenden Figurentypen sind jedoch nie absolut zu setzen, es steht also nie starr der Held dem Ritter gegenüber, vielmehr ist stets mit Kombinationen und Überblendungen beider Heldentypen zu rechnen, die sich nicht zuletzt in der Vielzahl der ‚hybriden Helden‘, wie sie insbesondere für die mhd. Literatur beschrieben worden sind, niederschlagen; dazu s. u., zur Diskussion vgl. jüngst auch Cornelia Herberichs: Hercules und Eneas. Zu Exorbitanz und Normativität (un)zeitgemäßer Helden in den mittelalterlichen Eneasromanen. In: Petersen, May (Anm. 1), S. 211–232, hier S. 212 f., Christoph Petersen: Postheroische Perspektiven oder Die Signifikanz des Verkennens im Hildebrandslied. In: DVjS 94 (2020), S. 417–443. Gerade die Brüche und Ambiguitäten, die sich daraus für die heroische Exorbitanz ergeben, scheinen mir dazu angetan, Kompromisse bzw. Kompromisshandeln zu evozieren. 3 Vgl. Martin Greiffenhagen: Kulturen des Kompromisses. Wiesbaden 1999, S. 91–94.
Heroische Kompromisse?
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aus der Exorbitanz und Exzeptionalität heraustreten. Heroische Exorbitanz speist sich aus dem Prinzip des Agonalen; damit aber entfällt zumeist die Möglichkeit, Konflikte friedlich und durch Ausgleich und Entgegenkommen beizulegen: Der Heros handelt nicht politisch, sondern exorbitant. Zweifeln übrigens darf ein Held, auch an sich selbst: Denn indem er diese überwindet, wird seine Stärke wie auch die seiner Gegner, die ihn zweifeln lässt, erst recht offenbar. Dissens allerdings wird zuallererst durch Gewalt, nicht durch Ausgleich gelöst.⁴ Der bekannteste und sicherlich auch extremste Fall, in dem Ausgleich und Kompromiss an heroischer Exorbitanz scheitern, ist das Nibelungenlied. Selbstredend ist dieses Epos wesentlich komplexer, als es auf diese einfache Gegenüberstellung zu reduzieren, hat doch die Katastrophe am Ende multiple Begründungsmuster. Bruchstellen zwischen kompromissloser Agonalität und höfischem Ausgleichsbemühen zeigen sich jedoch bereits früh: Wenn Siegfried in Worms eintrifft, beginnt eben nicht die zuvor eigentlich angekündigte Brautwerbung um Kriemhild, weswegen der Held eigentlich aufgebrochen ist. Vielmehr fordert der Xantener Königssohn den burgundischen König Gunther offen heraus: Nu ir sît sô küene, als mir ist geseit, sône ruoch ich, ist daz iemen liep oder leit: ich wil an iu ertwingen, swaz ir muget hân: lant unde bürge, daz sol mir werden undertân. (Str. 110)⁵
Siegfried geht somit nach dem Prinzip, dass das Recht auf Herrschaft einzig durch die persönliche Stärke ableitbar ist, und folgt damit, wie Jan-Dirk Müller beschrieben hat, einem heroischen Denkmuster.⁶ Siegfried betont schon bei der Be-
4 Dieses heroische Muster par excellence bricht sich vor allem im Motiv des Zweikampfes Bahn, und auch hier sind wieder die zentralen Differenzen heldenepischen und höfischen Erzählens zu sehen: Während der Zweikampf in der Heldenepik vielfach mit dem Tod eines der Kontrahenten endet (vom Hildebrandslied über Alpharts Tod bis zum Untergangsszenario des Nibelungenliedes), machen sich in der höfischen Literatur oftmals Ausgleichstendenzen bemerkbar, die den Kampf vorher stoppen und zur Versöhnung führen.Vgl. Udo Friedrich: Die symbolische Ordnung des Zweikampfes im Mittelalter. In: Ders. (Anm. 2), S. 91–128. 5 Zitiert nach: Das Nibelungenlied. Hrsg. von Ursula Schulze, übers. und komm. von Siegfried Grosse. Ditzingen 2010 (RUB 18914). 6 Vgl. Jan-Dirk Müller: Spielregeln für den Untergang: Die Welt des Nibelungenliedes. Tübingen 1998, S. 170 f. Das auch in der Dietrichepik bekannte Prinzip, der Herrscher müsse sich auch stets als der Stärkste erweisen, heroische Exorbitanz und Herrschaft also identisch sein, befolgt Siegfried dann später im Nibelungenland, wo er in der 8. Aventiure nach der Werbung um Brünhild inkognito eintrifft und – obwohl er ja bereits Landesherr ist – dennoch zunächst seine eigenen Wächter im Zweikampf besiegt, um seinen Herrschaftsanspruch aufs Neue zu bestätigen, vgl. ebd., S. 140.
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grüßung die Gleichrangigkeit zwischen ihm und Gunther (109,1), dementsprechend setzt er beim von ihm geforderten Zweikampf alles oder nichts: Dîn erbe und ouch das mîne sulen gelîche ligen. sweder unser einer am andern mac gesigen, dem sol ez allez dienen, die liute und ouch diu lant. (Str. 114,1–3)
Da am Wormser Hof jedoch Herrschaft nicht von den heroischen Qualitäten abhängig ist, sondern einer dynastischen Tradition entspringt, ist ein entsprechender Zweikampf um die Herrschaft beider Reiche, wie ihn Siegfried vorschlägt, für die Burgunden freilich keine Option.⁷ Daher rufen die burgundischen Könige, besonders Gernot, zum Ausgleich und zur Mäßigung auf – mit einiger Mühe: Insbesondere Ortwin von Metz gilt es zurückzuhalten, der zornig nach seinem Schwert ruft.⁸ Die Deeskalation in der auf beiden Seiten aufgeheizten Stimmung wird dadurch erreicht, dass die Könige all ihr Gut Siegfried zur Verfügung stellen und mit ihm teilen wollen: Dô sprach der wirt des landes: „alles daz wir hân, gerouchet irs nâch êren, daz sî iu undertân, und sî mit iu geteilet lîp unde guot.“ dô wart der herre Sîvrit ein lützel sanfter gemuot. (Str. 127)
Das aber ist nur scheinbar eine Kompromisslösung (eine friedliche Teilhabe statt Kampf um alles), tatsächlich nämlich handelt es sich um die Formeln höfischer Gastfreundschaft, die de facto keinerlei Teilung von Macht und Herrschaft einschließt: Hier gelten die Regeln des burgundischen Hofes, denen sich Siegfried dann zumindest vorläufig fügt, indem er Machtanspruch und Gewaltandrohung ebenso zurückstellt wie den eigentlichen Grund seines Kommens, die Werbung um Kriemhild. Dass es in dieser Angelegenheit, den widerstreitenden Macht- und Herrschaftsansprüchen, keine Kompromisse geben kann, erweist nicht zuletzt der Streit der Königinnen. Auch hier sind Ursachen und Motive natürlich weitaus komplexer,
7 Vgl. ebd., S. 171. 8 Auch Siegfried wird darauf zornig, jedoch weil ihn mit Ortwin ein nicht ebenbürtiger Krieger herausfordern will: ich bin ein künec rîche, sô bistu küneges man (Str. 118,3). Diese Aussage nimmt nicht nur die später im Königinnenstreit verhandelten Rangstreitigkeiten vorweg, sondern spiegelt ein grundsätzliches Problem heroischer Exorbitanz: Ruhm und Ehre lassen sich nur gegen einen mindestens gleichwertigen Gegner gewinnen, andernfalls wäre ein Kampf nicht herausragend genug und daher eines Helden nicht würdig – ein Muster, das auch (aber nicht nur) im Eckenlied greift, wenn Dietrich sich zunächst weigert, den Kampf aufzunehmen.
Heroische Kompromisse?
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doch zeigt sich gerade dort, dass ein kompromisshafter Ausgleich (zumal vor dem betrügerischen Hintergrund der doppelten Brautwerbung) von vornherein unmöglich ist.⁹ Stattdessen eskaliert die Situation bekanntermaßen in der Ermordung Siegfrieds, die ihrerseits im zweiten Teil zu einer unüberbietbaren Gewaltspirale führt. Gerade die blutige Katastrophe am Etzelhof zeigt, wie Kompromisse zwar angebahnt, aber gleich wieder abgewiesen werden: Wenn Kriemhild beispielsweise fordert, die Burgunden sollten ihr Hagen ausliefern und dafür freies Geleit erhalten (vgl. Str. 2104), wird dies ebenso rigoros abgelehnt wie Dietrichs Angebot an Gunther und Hagen, sich ihm als Geisel zu ergeben, um im Gegenzug Sicherheit zu erlangen (vgl. Str. 2137). Auch Rüdiger, der einzig tragischen Figur des Epos, gelingt kein Ausgleich zwischen den widerstreitenden triuwe-Bindungen, in denen er gefangen ist: Selbst die angebotene Rückgabe der Lehen wird ihm von Etzel verwehrt, wodurch er Macht und Herrschaft verloren, aber Leben und Ehre bewahrt hätte. Ironischerweise ist es in dieser Situation ausgerechnet Hagen, der ihm zumindest einen kleinen Kompromiss ermöglicht: Indem er Rüdiger um seinen Schild bittet, gibt er diesem die Gelegenheit, wenigstens ihm gegenüber, gewissermaßen im Kleinen, seine triuwe zu bewahren, die er im Großen gegen die Burgunden nicht einhalten kann. Doch es bleibt eine symbolische Geste: Am Ende mag Rüdiger zwar seine Ehre, nicht aber sein Leben behalten.¹⁰ Das Nibelungenlied zeigt vielleicht am markantesten, wohin heroische Kompromisslosigkeit im Extremfall führen kann. Agonalität und Gewalt sind ein Wesensmerkmal der Heldendichtung, und selbst da, wo am Ende Versöhnung und ein friedlicher Ausgleich stehen – etwa beim Hochzeitsfest in der Kudrun – geschieht dies meist erst nachträglich, aus der Position der Stärke heraus, oder aber etwa unter christlichen Voraussetzungen wie in der Walberan-Fortsetzung des Laurin. ¹¹
9 Einen solchen fordert erst nachträglich die Klage ein, die verschiedene Szenarien entwirft, wie das Geschehen um den Burgundenuntergang hätte verhindert werden können, vgl. dazu Andreas Hammer: Das Unfassbare in Worte fassen. Begründungsstrategien der ‚Klage‘ im Kontext der ‚Nibelungenlied-Fassungen‘. In: Die Nibelungenklage. 13. Pöchlarner Heldenliedgespräch. Hrsg. von Johannes Keller, Florian Kragl, Stephan Müller. Wien 2019, S. 1–28. 10 Vgl. Peter Wapnewski: Rüdigers Schild. Zur 37. Aventiure des ,Nibelungenliedes‘. In: Euphorion 54 (1960), S. 380–410 und Jochen Splett: Rüdiger von Bechelaren. Studien zum zweiten Teil des Nibelungenliedes. Heidelberg 1968 (Germanische Bibliothek Reihe 3). 11 Auch die gern als Gegenentwurf zum Nibelungenlied gelesene Kudrun präsentiert zwar mit dem Hochzeitsfest am Ende einen versöhnlichen Schluss, in dem nicht nur der Werber nach allen Wirrungen die Braut erhält, sondern auch die Nebenbuhler noch mitbedacht werden. Das ist zwar Aussöhnung und Verständigung, nicht aber ein Kompromiss: Denn wenn sich zwei (oder wie hier sogar drei) Werber um eine Braut streiten, kann es kein beiderseitiges Entgegenkommen geben, außer vielleicht eine Dreiecksbeziehung wie bei Tristan, Isolde und Marke. Und die Aussöhnung durch Heiraten zwischen den verschiedenen Lagern erfolgt ja auch erst, nachdem Herwig seinen
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Heroische Exorbitanz und heldenepische Erzählmuster lassen Kompromisse wenn überhaupt, dann nur in sehr begrenztem Rahmen zu. Noch wesentlich stärker als in der mittelhochdeutschen Heldenepik werden die Aspekte von Exorbitanz, Gewalt und Agonalität in den skandinavischen Isländersagas propagiert. Wenn hier überhaupt Kompromisse ausgehandelt werden, so werden sie derart markant in Szene gesetzt, dass sie offensichtlich Teil einer narrativen Strategie sind. Dem möchte ich an zwei Beispielen nachgehen.
II Schwierige Kompromisse und narrative Bedeutsamkeit: Bósa saga und Ragnars saga loðbrókar Die Bósa saga aus dem späten 14. Jahrhundert gehört zu den sog. Fornaldasögur, den Vorzeitsagas, die in einer Art ‚heroic age‘ vor der Besiedelung Islands situiert sind. Die Bósa saga wiederum gehört zu den jüngeren Überlieferungen der sog. Abenteuersagas, d. h. Erzählungen, die (vergleichbar mit der aventiurehaften Dietrichepik) meist nur eine lose historische Anbindung, etwa durch Personen- und Ortsnamen, besitzt.¹² Sie handelt von dem Protagonisten Bósi und dem Königssohn Herrauð, die gemeinsam mehrere Abenteuer bestehen. Bósi lehnt es explizit ab, von seiner Ziehmutter magisches Wissen zu erwerben, da dies sein Heldenimage, seine heroische Exorbitanz, in Frage stellen könnte. Er erwirbt sich lieber durch seine Kampfkraft und heldenhaften Mut große Anerkennung, handelt jedoch (ganz im Zeichen des exorbitanten Heldentums) vielfach ungestüm und ungezügelt, so dass er immer wieder mit dem Königshof und seinem Herrscher in Konflikt gerät. Verhindert die Freundschaft mit dem Königssohn zunächst größere Schwierigkeiten, so ändert sich dies, als er Herrauðs älteren Halbbruder Sjóð im Streit erschlägt. Dieser ist zwar unbeliebt beim Volk, da er die Steuern und Abgaben auf unbarmherzige Weise eintreibt, doch der Liebling des Königs, der seinen Verlust überaus zornig aufnimmt. Erneut zeigt sich eine Unfähigkeit zum Ausgleich bei allen Beteiligten: Nachdem Herrauð bei seinem Vater vergeblich um Buße und Versöhnung mit Bósi eingetreten ist, stellt er sich auf die Seite seines Freundes und kämpft mit ihm gegen Nebenbuhler Hartwig besiegt und die von diesem entführte Braut Kudrun zurückgeholt hat – also aus einer Position der Stärke heraus, wenn dem besiegten Gegner ein Ausgleich geboten wird, um die politische Situation zu beruhigen. 12 Vgl. Kurt Schier: Sagaliteratur. Stuttgart 1970, S. 72–91, bes. S. 77 f.; Hans-Peter Naumann: Die Abenteuersaga. Zu einer Spätform altisländischer Erzählkunst. In: Skandinavistik 9 (1979), S. 41–55.
Heroische Kompromisse?
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das väterliche Heer – jedoch vergeblich, denn sie unterliegen der Überzahl und werden gefangengenommen. König Hring würde in seinem Zorn am liebsten beide sofort hinrichten lassen, doch der beliebte Herrauð hat viele Fürsprecher und wird vor seinen Vater gebracht. Der bietet seinem Sohn Frieden an, nicht aber Bósi; in seinen Augen mag man das vielleicht sogar einen Kompromiss nennen. Darauf aber lässt sich Herrauð nicht ein, sondern schwört sogar, er werde denjenigen umbringen, der seinen Blutsbruder tötet, und so finden sich beide wieder im Kerker und warten auf ihre Hinrichtung. Die Sache scheint verfahren, denn der König lässt sich auch von seinen zahlreichen Ratgebern nicht umstimmen und kommentiert: Wer etwas verlangt (auch wenn es ihm schadet), soll es haben (Konungr segir þá, at þat færi eigi illa, at sá hefði brek er beiðizt; Bósa saga, c. 5).¹³ Ein Kompromiss in dieser Angelegenheit gelingt daher nur durch Zwang, der freilich nicht mit Gewalt oder militärischer Stärke erreicht werden kann. Daher greift nun Bósis zauberkundige Ziehmutter Busla ein und sucht den König nachts in seiner Kammer auf, wo sie anfängt, Beschwörungsformeln zu sprechen und Hring zu verfluchen. Der König, bewegungslos ans Bett gebannt, will zunächst nicht nachgeben, bietet dann aber immerhin an, seinen Sohn Herrauð am Leben zu lassen. Erst als Busla den letzten und schlimmsten Teil der als Buslubaen (Bitte der Busla)¹⁴ genannten Beschwörung spricht, der eine handfeste Verwünschung darstellt, lenkt der König auch bei Bósi ein und will ihn verschonen, allein: Straffrei kann er ihn auch nicht davonlassen. Daher rät ihm Busla schließlich, die beiden auf eine gefährliche Botenfahrt zu schicken. Dieser erzwungene Kompromiss – Bósi muss nicht sterben, aber dafür sein Leben aufs Spiel setzen, um dem König als Buße ein goldbeschriebenes Greifenei zu bringen – setzt nun aber erst die eigentliche Haupthandlung in Gang, in der Bósi und Herrauð nicht nur das Greifenei erringen, sondern auch beide ihre Bräute und Königreiche. Die Erzählung mündet so in die für die Abenteuersagas so typischen Themenfelder um Brautfahrt und heroische Bewährung, die oft mit märchenhaften Motiven und Figuren verbunden sind. Der Kompromiss ist also nicht zuletzt narrativ notwendig, damit die beiden Helden ihre eigentliche Abenteuerfahrt erst starten können; er motiviert die Ausfahrt und hält die Handlung in Gang. Er muss aber durch Zauber und Fluchan-
13 Text zitiert nach: Die Bósa-Saga. In 2 Fassungen nebst Proben aus den Bosa-Rimur ok Herrauðs. Hrsg. von Otto Luitpold Jiriczek. Straßburg 1893 (Wiederabdr. Berlin/Boston 2019), hier S. 15 (Die ältere Bósa-Saga). Deutsche Übersetzungen nach: E. Matthias Reifegerste: Die Bósa saga. Eine kritisch kommentierte Übersetzung. In: Mediaevistik 18 (2005), S. 157–208. 14 Zu den Buslubæn, den Zauber- oder Bannsprüchen der Busla, vgl. Wilhelm Heizmann (ed.) 2017, ‘Bósa saga 9 (Busla, Buslubæn 9)’. In: Poetry in fornaldarsögur. Skaldic Poetry of the Scandinavian Middle Ages 8. Hrsg. von Margaret Clunies Ross. Turnhout, S. 25–37; Claiborne W. Thompson: The Runes in Bósa saga ok Herrauds. In: Scandinavian Studies 51 (1978), S. 50–56.
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drohung erst erzwungen werden, da Bósi in seinem heroischen Zorn nicht nur ein kleines Delikt, sondern eine Gewalttat begangen hat, die Blutrache erfordert, um dem dynastischen wie heroischen Anspruch von Ehre Genüge zu tun. Genau das macht es für die Ratgeber wie auch den Blutsbruder Herrauð so schwierig, bei Hring in dem Fall zu vermitteln: Es ist schließlich der (wenn auch ungeliebte und unsympathische, von einer Nebenfrau stammende) Königssohn getötet worden, da ist es mit einer einfachen Buße nicht getan. Deswegen muss Busla den König mit Zauber zum Einlenken zwingen, und der gibt erst bei der letzten und schlimmsten Verwünschung nach. Strafe und Buße müssen natürlich trotzdem sein, dem rechtlichen Rahmen und der Ehre des Königs sollen genauso Genüge getan werden, daher der Kompromiss, der aber vor allem poetologisch notwendig ist, da er erst die Motivation für die nachfolgende Handlung darstellt. Eine ähnliche Ausgangsposition lässt sich auch für das zweite Beispiel konstatieren, das ebenfalls aus den isländischen Fornaldasögur stammt. In der Ragnars saga loðbrókar, der Saga von Ragnar Lodbrok, die im 13. Jahrhundert entstanden ist und an die Völsungasaga anknüpft (also zu den Heldensagas gerechnet wird, nicht den Abenteuersagas), wird der Titelheld nach zahlreichen Heldentaten vom englischen König Ella gefangengenommen und in einer Schlangengrube getötet. Ella schickt nun Gesandte nach Dänemark, um Ragnars Söhne vom Tod ihres Vaters zu unterrichten – wohl wissend, dass diese aller Wahrscheinlichkeit nach mit Krieg und Blutrache reagieren werden. Darum sollen die Boten auch genau auf die Reaktion der vier Brüder achten: Während die jüngeren drei nämlich ihren Zorn kaum zügeln können, bis hin zu körperlichen Auswirkungen (Hvitserk etwa presst einen Spielstein so stark in der Faust, dass das Blut aus den Nägeln spritzt), bleibt der älteste, Ivar ohne Knochen,¹⁵ beherrscht, wenngleich an seiner wechselnden Gesichtsfarbe die unterdrückte Wut erkennbar ist. Und während die Jüngeren sofort zum Rachefeldzug aufbrechen und mit einem Massaker unter den Gesandten schon mal anfangen wollen, bleibt Ivar ruhig und lässt die Boten in Frieden nach Hause ziehen. Damit wird König Ella klar, dass es nur Ivar ist, vor dem er sich und sein Reich in Acht nehmen muss, und genau so kommt es auch: Während die jüngeren Brüder
15 So genannt, weil er seine Beine nicht gebrauchen kann und in den Schlachten stets auf einem Schild sitzend getragen werden muss – was seiner Tapferkeit keinen Abbruch tut. Ob hier wie auch hinter Ragnar Loðbrok selbst wirklich eine konkrete historische Figur steckt, ist mehr als unsicher, die Identifizierung mit Ímar/Inwære, dem historischen König von Dublin aus dem 9. Jahrhundert, ist jedenfalls alles andere als sicher, vgl. Elizabeth Ashman Rowe: Vikings in the West. The Legend of Ragnarr Loðbrók and His Sons. Wien 2012, S. 159–161; vgl. ebd. auch ausführlich zur Stoff- und Überlieferungsgeschichte der Saga. Vgl. zu dieser Frage bereits A. H. Smith: The Sons of Ragnar Lothbrok. In: Saga-Book of the Viking Society 11.2 (1935), S. 173–191, zu Ivar vgl. S. 179–183.
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eilig eine Heerfahrt organisieren, will Ivar lieber mit König Ella verhandeln; und als das überstürzt zusammengezogene Heer, noch dazu durch das Fehlen von Ivars Streitmacht dezimiert, beim Angriff auf England scheitert, begibt sich Ivar zum großen Unmut seiner Brüder¹⁶ zu König Ella, um einen Ausgleich mit ihm zu finden: Ek em kominn a fund ydarrn, ok vil ek męla til sętta ¹⁷ vid þic ok slikrar sęmdar, sem þu villt giort hafa til min. Ok nu se ek þat, at ek hefi ecki vid þer, ok þicke mer þat betra at þiggia af ydr slika semd, sem þu villt mer veita enn lata mina menn fleire fyrir ydr eda sialfan mik (Kap. 16, S. 164). „Ich bin zu dir gekommen, und will über einen Vergleich mit dir unterhandeln: Ich erwarte solche Ehre von dir, wie du mir gewähren willst. Denn da ich sehe, dass ich dir nicht gewachsen bin, dünkt es mir besser, von dir die Ehre zu empfangen, die du mir zugestehen willst, als das Leben noch mehrerer meiner Leute oder mein eigenes aufs Spiel zu setzen.“
Ella zögert zwar noch, da er der Sache nicht ganz traut, doch Ivar kommt ihm noch einmal entgegen: Ek mun til litils męla vid þik, ef þu lętr þat til. Skal ek þat sveria þer a moth, at ek skal alldri vera i mot þer. „Meine Forderungen an dich sind nicht groß, und wenn du sie erfüllen willst, so schwöre ich dir dagegen, dass ich niemals gegen dich streiten will“.
Anders als seine Brüder, anders auch als König Hring in der Bósa saga, besteht Ivar also nicht auf der Blutrache als einzig angemessene Entschädigung für den Tod des nahen Verwandten, sondern kommt Ella entgegen und gibt sich mit einer Buß16 Eine Buße kommt für die übrigen Brüder nicht in Frage; Hvitserk stellt selbst nach dem gescheiterten Rachefeldzug explizit fest: „Wir jedoch werden niemals Geldbuße für unseren Vater annehmen“ (Eun alldri skulu ver fe taka eptir fedr varn, Kap. 16, S. 164, zitiert nach: Völsungasaga ok Ragnars saga loðbrókar. Hrsg. von Magnus Olsen. Kopenhagen 1906–1908; Übersetzung nach: Nordische Nibelungen. Die Sagas von den Völsungen, von Ragnar Lodbrok und Hrolf Kraki. Aus dem Altnordischen übertragen von Paul Herrmann. Hrsg. und mit einem Nachwort von Ulf Diederichs. München 1985). Auch der Tod ihrer Halbbrüder wurde zuvor schon mit einem Rachefeldzug beantwortet: Für die drei Brüder zählt nur die Blutrache; sie erweisen sich mit dem Motto ‚Auge um Auge‘ also erneut unfähig, Kompromisse einzugehen, oder anders ausgedrückt: Beim Verwandtenmord gibt es ähnlich wie in der Bósa saga keine Möglichkeit zum gütlichen Ausgleich – damit gehen die Brüder aber zugleich ihrer Niederlage entgegen. 17 Hier wird ganz bewusst ein terminus technicus der Rechtssprache eingesetzt: Der Rechtsterminus sætt zielt auf einen Vergleich ab (vgl. Hartmut Böttcher: Art. Blutrache, II: Rechtshistorisches. In: RGA 3, S. 85–101, hier S. 94) und bekundet in diesem Kontext ausdrücklich den Willen zur Verhandlung, zur Schlichtung: Ivar kommt also explizit zu Ella als jemand, der zur Aussöhnung, zum Ausgleich bereit ist (an dieser Stelle sei herzlich Wilhelm Heizmann, LMU München, für seine skandinavistische Expertise, nicht nur im Zusammenhang mit der isländischen Rechtsterminologie, gedankt).
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zahlung zufrieden. Ausgleichszahlungen als Wer- oder Blutgeld sind rechtsgeschichtlich bereits früh etabliert (das Wort ist in den germanischen Sprachen bereits im 8. Jahrhundert belegt); sie sind weder als eine Art Schadensersatz anzusehen, noch als Freikaufen von der Blutrache; vielmehr sollte damit die „Einbuße an Bedeutung, Rang, Ehre […] und sozialem Ansehen“¹⁸ ausgeglichen werden, die eine Familie durch den Tod eines ihrer Mitglieder erlitten hatte. Diese Form des Wergelds als Entschädigung für soziale Einbußen und Ehrverlust einer Sippe ist somit ein rechtsgeschichtlicher Kompromiss, um die Blutrache und die daraus entstehenden Fehden zu verhindern. Beide Motive, Blutrache und Bußgeldzahlungen zur Sühne für eine Tötung, sind vor allem in der isländischen Saga-Literatur weit verbreitet. Als Musterbeispiel kann die Laxdœla saga gelten, in der eine generationenübergreifende Blutfehde handlungsbestimmend ist.¹⁹ Anders als in den Isländersagas ist ein solcher Ausgleich in den Heldensagas kein Thema: Ihre Protagonisten sehen sich in einer unbedingten Pflicht zur Rache, die auch als Akt der Selbstbehauptung wahrgenommen wird, weshalb jegliche Ausgleichsbemühungen wie bei den jüngeren Brüdern Ivars als ehrverletzend aufgefasst werden. Dies entspricht zwar eher der Exorbitanz heroischen Handelns, kann dann aber eine endlose Kette von Rachehandlungen zur Folge haben, deren letzte, endgültige Konsequenz im Nibelungenlied oder der nordischen Atlamál mit der Vernichtung Aller vorgeführt wird. Demgegenüber diskutieren die Isländersagas wie eben die Laxdœla saga die Möglichkeit, den Familienverband gerade nicht in eine Spirale der Gewalt und des Untergangs zu führen und stattdessen andere Formen der Sühne und des Ausgleichs zu suchen.²⁰ 18 Vgl. Wolfgang Schild: Art. Wergeld. In: HRG 5 (1998), Sp. 1268–1271, hier Sp. 1269. Vgl. außerdem Ruth Schmid-Wiegand: Art. Wergeld. In: RAG 33 (2006), S. 457–463, bes. S. 461 zum grundsätzlichen Zusammenhang mit Blutrache und Fehderecht. 19 Vgl. Heinrich Beck: Art. Blutrache, I: Philologisches. In: RGA 3, S. 81–85, hier S. 82–84; Text: Laxdœla saga. Die Saga von den Leuten aus dem Laxartal. Übers. von Rolf Heller, hrsg. von Wilhelm Heizmann. München 2020. 20 Insofern bilden die Isländersagas wohl eher die historische Situation jedenfalls im mittelalterlichen Island ab, wobei anzumerken bleibt, dass derartig umfangreiche Konfrontationen über Generationen und Großfamilien hinweg rechtshistorisch keineswegs gesichert sind (vgl. Böttcher [Anm. 17], bes. S. 96 f.): Auch wenn die nordischen Rechtsquellen, nicht zuletzt die isländischen Grágás, die grundsätzliche Möglichkeit bestimmter Formen der Blutrache (wobei schon die Terminologie unsicher bleibt) bestätigen, sind die literarischen Ausgestaltungen der Isländersagas doch nur von begrenztem Aussagewert für die tatsächlichen historischen Verhältnisse, erst recht natürlich die Heldensagas. Klar scheint, dass es die Möglichkeit zur Rachehandlung gegeben hat und diese auch durchgeführt wurde (anders als auf dem Kontinent, wo dies sehr unsicher bleibt, vgl. ebd., S. 86–91), damit jedoch zum einen keinerlei Verpflichtung verbunden war, Blutrache zum anderen auch nur auf bestimmte Personen beschränkt war (sowohl was die Ausübenden – die unmittelbaren Verwandten des/der Geschädigten – als auch die Betroffenen – nämlich allein der/die
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Die Situation in der Ragnars saga ist insofern außergewöhnlich, als Ivar entgegen der heldenepischen Mechanismen zunächst tatenlos zusieht, wie seine Brüder in stereotyper Manier die Blutrache als einzige Möglichkeit anerkennen, den Tod des Vaters zu sühnen – und dabei krachend scheitern. Erst dann, quasi aus einer Position der Schwäche heraus, begibt sich Ivar zu König Ella und bietet, sehr zum Missfallen der Brüder, einen Ausgleich (sætt) an.²¹ Mit der Annahme des Wergeldes erlischt das Fehderecht, wie es ja auch ausdrücklich Ivars oben zitierter Schwur formuliert; die Zahlung von Wergeld erweist sich daher erneut als wichtiges Instrument zur Friedenswahrung und insofern als Kompromiss, da Ivar zwar nicht auf Buße, jedoch auf Gewalt verzichtet und eine Spirale von Blutfehden verhindert. In diesem Sinne könnte man also Ivar als weisen, versöhnungs- und kompromissbereiten Herrscher sehen, der die Übermacht seines Gegners erkennt und weiteres Blutvergießen verhindern will, indem er dem König Frieden zusichert und zudem auch keine übermäßigen Forderungen stellt. Aber so ist es eben gerade nicht, denn Ellas anfängliches Misstrauen erweist sich zuletzt doch als berechtigt. Ivar nämlich erbittet sich als Buße lediglich ein Stück Land, auf dem er eine Stadt bauen und befestigen lässt, das spätere London.²² Mit der Zeit macht er sich die Gefolgsleute Ellas gewogen, die sich mehr und mehr vom König abwenden – bis die Gelegenheit günstig ist, um die Brüder zum Angriff aufzufordern. Ivar muss seinen Eid auf diese Weise gar nicht brechen, sondern kann ruhig abwarten, bis seine Brüder ins Land einfallen: Denn dem König verweigern nun zu viele Gefolgsleute die Unterstützung, und so können die vier Brüder am Ende doch noch blutige Rache für ihren Vater nehmen, ja mehr noch: Ivar Täter – betrifft). Daneben hat stets schon die Möglichkeit einer Sühneleistung existiert, schon um eine um sich greifende Selbstjustiz und die Schaffung rechtsfreier Räume einzudämmen. Die Annahme einer Buße scheint durchaus nicht unehrenhaft gewesen zu sein (betrachtet man allein die Bußvorschriften der Grágás); vielmehr kam es wohl vor allem dann zu Rachehandlungen, wenn die Zahlung von Wergeld ausblieb. Die Literatur lotet also vor allem die Grenzen dieser Konstellationen aus, spielt die Extremfälle durch und diskutiert die sich daraus ergebenden Widersprüche. Zur rechtlichen Situation in Island und v. a. der Stellung der Grágás vgl. Gudmund Sandvik, Jón Viðar Sigurðsson: Laws. In: A Companion to Old Norse-Icelandic Literature and Culture. Hrsg. von Rory McTurk. Oxford 2005, S. 223–245, hier S. 224–229. 21 Außergewöhnlich ist v. a., dass er dies von sich aus tut, weshalb Ella auch zunächst misstrauisch ist. Der Verzicht auf Blutrache und die Annahme von Wergeld wird in den Sagas sonst meist nämlich nur durch langwierige Verhandlungen und unter Vermittlung hoher Autoritäten, teils sogar nur durch Gewaltandrohung, durchgesetzt, vgl. dazu Beck (Anm. 19), S. 83 f. 22 In anderen Quellen ist es York, was der historischen Situation besser entspräche, da der historische Ælle von 863 bis 867 König von Northumbria war, vgl. Smith (Anm. 15), S. 181 und S. 185; 867 fand die Schlacht um York zwischen den Wikingern und dem König Ælle statt, bei der dieser den Tod fand. York, bereits in angelsächsischer Zeit ‚Hauptstadt‘ von Northumbria, geriet danach wie das gesamte Königreich in die Einflusssphäre der Wikinger.
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übernimmt nun selbst die Herrschaft über England, das er bis zu seinem Tod regiert. Die scheinbare Kompromisslösung, der Ausgleich durch Wergeld, entpuppt sich am Ende nur als List, um doch noch zum Ziel der blutigen Rache zu kommen. Die Figurenzeichnung Ivars bleibt damit konsequent: Er, der statt seiner Beine seinen Verstand gebrauchen muss, wartet klug ab, benutzt die Möglichkeit des Kompromisses, um einen scheinbaren Ausgleich einzugehen, um damit seinen Gegner so lange zu schwächen, bis die Gelegenheit zum Gegenschlag gekommen ist. Auch die beiden Isländersagas zeigen: Heroen gehen ungern Kompromisse ein, und wer doch einen aushandelt, muss einen Grund dafür haben, sei es Zwang oder eine wohldurchdachte List. Es ist aber zudem auffällig, dass die Kompromisse in beiden Fällen eine narratologische Bedeutsamkeit entfalten: In der Bósa saga stößt er die Handlung an und motiviert die eigentliche Ausfahrt der Helden, in der Ragnars saga ist es nur ein Scheinkompromiss, der in Wirklichkeit zur sonst nicht möglichen Blutrache führt. Auf der Handlungsebene wird darin ein gewisses Misstrauen gegenüber Kompromissen deutlich, ihre narratologische Funktionalisierung zeigt darüber hinaus aber, dass der Kompromiss zumindest ein Irritationspotential entfaltet, das einen Wendepunkt der Erzählung markiert.
III Kompromissfiguren? Dietrich und Ecke im Eckenlied Die Möglichkeit, das Irritationspotential von Kompromissen narrativ zu funktionalisieren, mag wie bereits gesagt auch daran liegen, dass die Exorbitanz der Helden, deren oft maßlose Gewalt und eben auch ihre Kompromisslosigkeit in der Sagaliteratur oftmals noch deutlich stärker ausgeprägt sind als etwa in der mittelhochdeutschen Heldenepik. Gerade in der Dietrichepik haben wir es dagegen immer wieder mit dem Aufeinanderprallen unterschiedlicher Wertesysteme zu tun, indem heroische Exorbitanz und höfisches Rittertum miteinander kollidieren oder aber einander bedingen. Besonders prekär werden diese Bedingungen im Eckenlied, was durch die Figurenkonzeption Eckes freilich noch weiter verkompliziert wird: ein Riese, der im höfischen Frauendienst seine heroische Exorbitanz unter Beweis stellen will. Doch der Reihe nach: Das im frühen 13. Jahrhundert entstandene Eckenlied ist Teil der sog. aventiurehaften Dietrichepik, welche die Heldentaten Dietrichs von Bern in den Mittelpunkt stellt, jedoch ohne die historische Anbindung an die literarisch überformte Gestalt Theoderichs d.Gr.; vielmehr werden hier die Kämpfe
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Dietrichs mit Ungeheuern und anderen Gegnern thematisiert.²³ So auch in diesem Text, der von Dietrichs Kampf mit dem Riesen Ecke erzählt, welcher Dietrich herausfordert, um sich mit dem berühmtesten Recken zu messen und dadurch seinen Ruhm zu vergrößern. Soweit, so konventionell: Die Thematik unterscheidet sich kaum von der anderer Texte, wo Dietrich gegen Riesen (Sigenot), Zwerge (Laurin) oder Drachen und Riesen (Virginal) kämpft. Doch Ecke ist anfangs gar nicht als Riese erkennbar. Vielmehr setzt die Handlung mit der Vorstellung dreier Helden ein: Es sasen held in ainem sal; / si rettont wunder ane zal / von userwelten recken (Str. 2,1–3). Die drei Helden sind her Vasolt, her Egge (Str. 2,4 und Str. 2,6) und der wild Ebenrot (Str. 2,7) – nur bei letzterem deutet zumindest das Epitheton auf eine Herkunft außerhalb des ritterlich-heroischen Milieus. Dass es sich bei ihnen um Riesen handelt, wird an keiner Stelle deutlich;²⁴ im Gegenteil werden die drei immer wieder als „Helden“ tituliert (her Vasolt sprach – er was ein helt; Str. 12,1) und unterhalten sich über den Ruhm des größten aller Helden, Dietrichs von Bern: Dessen Ansehen will Ecke übertrumpfen und seinen eigenen Ruhm mehren, weshalb er beschließt, sich ihm entgegenzustellen, denn: swas mir bekam ie helde gůt in stúrmen ald in striten, den han ich noch gesiget an. doch ist min groͤ stú swaͤ re das ich niht ze fehten han. (Str. 15,9–13)
23 Vgl. zur aventiurehaften Dietrichepik Victor Millet: Germanische Heldendichtung im Mittelalter: Eine Einführung. Berlin/New York 2008, S. 332–370, zur komplexen Überlieferung des Eckenliedes vgl. Joachim Heinzle: Einführung in die mittelhochdeutsche Dietrichepik. Berlin/New York 1999, S. 109–113. Grundlegend für die folgenden Überlegungen ist die Fassung E2, zitiert nach der Ausgabe von Francis B. Brévart. Stuttgart 1986. 24 Vgl. Uta Störmer-Caysa: Kleine Riesen und große Zwerge? Ecke, Laurin und der literarische Diskurs über kurz oder lang. In: 5. Pöchlarner Heldenliedgespräch. Hrsg. von Klaus Zatloukal, Wien 2000, S. 157–175, hier S. 159. Störmer-Caysa erkennt vielmehr eine Ununterscheidbarkeit von Riese und Held, indem Ecke es für sich abweist, ein (für die Heldenepik) ‚typischer‘ Riese zu sein: „Seine natürliche Größe kann er zwar nicht ändern, seine soziale Riesenrolle aber will er gänzlich ablegen“ (S. 160). Mit Lena van Beek: Riesen und Helden. Erklärungsmodelle für eine unfeste Dichotomie. In: Die Dechiffrierung von Helden. Aspekte einer Semiotik des Heroischen vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Hrsg. von Florian Nieser. Bielefeld 2021, S. 123–140, hier bes. S. 125–129, ist freilich festzuhalten, dass der mhd. Begriff helt (ebenso wie das ahd. helidos) nicht mit dem modernen Heldenbegriff gleichgesetzt werden darf und in seiner Ambivalenz durchaus auch auf Riesengestalten angewendet werden konnte (vgl. noch die Herogonie der spätma. Heldenbuchprosa). Es gibt also keine Dichotomie „Held – Riese“, wohl aber eine Dichotomie von Riesen und ritterlichen Heroen, vgl. ebd., S. 134 f.
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Unterstützung erhält er von drei Königinnen, die sich in der Nähe befinden und Ecke bitten, Dietrich im Kampf nicht zu töten, sondern zu ihnen zu bringen, da sie sich nach Dietrich sehnen (in wais, wes er mich hat gewent, / das sich als unverdienot / min herz nach im sent; Str. 26,11–13). Dafür stattet ihn Seburg, die älteste der Königinnen, mit der unzerstörbaren Rüstung Otnits aus, deren Geschichte kurz rekapituliert wird, und verspricht Ecke zusätzlich, er dürfe unser aine minnen (Str. 30,10), sollte er Dietrich unversehrt herbringen. Indem Ecke auszieht, um sich einen Namen zu machen, folgt er zunächst dem probaten Aventiureschema der heroischen Herausforderung.²⁵ Ecke freilich ist kein ritterlicher Held, sondern ein Riese, der ein Held sein will, und genau darum braucht er auch die Rüstung, die ihn als solchen kenntlich macht. Es ist die Rüstung eines berühmten Helden, die ihm dennoch passt. Doch genau dadurch werden die Brüche der Figurenkonzeption erst recht sichtbar: Otnits Rüstung kann Ecke sich aneignen, nicht jedoch seinen Namen oder heroischen Status. „Das Dilemma Eckes besteht darin, dass er selbst keinen Namen und keine Geschichte hat – allenfalls eine marginale –, wohl aber seine Waffen.“²⁶ Ecke ist damit nicht nur der Mehrung seines eigenen Ruhmes verpflichtet, sondern stellt sich auch noch in den Frauendienst; ein Motiv der höfischen Literatur, das freilich auch vielfach in Kritik gerät, weil es (wie z. B. im Parzival) die ritterlichen Helden allzu oft in den Tod führt. Dass auch Ecke dieses Schicksal droht, wird durch die Geschichte von Otnits Rüstung noch verstärkt: Denn Otnit hilft die hiebfeste Rüstung seines Zwergenvaters am Ende nichts; er wird von Drachenkindern aus den Ringen förmlich herausgesaugt. Mit der Aneignung von Otnits Rüstung übernimmt Ecke zwar nicht dessen Geschichte, jedoch das tödliche Ende, das mit diesem Gegenstand verbunden ist.²⁷ Zum mythischen Status von Eckes Waffen und ihrer Geschichte hat Udo Friedrich die wesentlichen Punkte bereits dargelegt,²⁸ so dass ich mich mit diesen knappen Hinweisen begnügen kann: Klar ist, dass auch Ecke zuletzt im Kampf mit Dietrich sterben und sein Gegner sich seiner Rüstung und Waffen bemächtigen wird. Die beiden berühmten Träger, Otnit und Wolf Dietrich, unterlaufen „die klassische Aitiologie der Waffe“, denn nicht ihre Er25 Vgl. Marie-Luise Bernreuther: Herausforderungsschema und Frauendienst im Eckenlied. In: ZfdA 117 (1988), S. 173–201, hier S. 177 f. 26 Udo Friedrich: Transformationen mythischer Gehalte im Eckenlied. In: Ders. (Anm. 2), S. 129–150, hier S. 143. 27 Vgl. Pia Selmayr: Die Rüstung des Helden. Gattungsinterferenzen zwischen aventürehafter Dietrichepik und spätem Artusroman. In: Gattungsinterferenzen. Der Artusroman im Dialog. Hrsg. von Cora Dietl, Christoph Schanze, Friedrich Wolfzettel. Berlin/Boston 2016 (SIA 11), S. 57–78, hier S. 65–70. Ecke selbst nimmt den tödlichen Ausgang des bevorstehenden Zweikampfes ausgerechnet bei der Übergabe der Rüstung bereits vorweg: von úns zwen nieman schaidet, / es entů des ainen tot (Str. 25,8 f.), vgl. Bernreuther (Anm. 25), S. 186. 28 Zum folgenden vgl. Friedrich (Anm. 26), bes. S. 135–140.
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folgsgeschichte wird erzählt, sondern „signifikante Stationen ihres Versagens“.²⁹ Indem sich Ecke ausgerechnet diese agency aneignen will, ist sein Ende schon vorgezeichnet, denn es ist das erwartbare Schicksal des Riesen, der mit einem Helden wie Dietrich kämpft, doch trotz allem: Eckes Riesenhaftigkeit kommt zunächst nicht zur Sprache, und wenn man es nicht schon wüsste (womit bei den Rezipienten des Liedes zu rechnen ist), dann könnte man ihn für einen Heros im Frauendienst halten, auch wenn er es mit seiner Ruhmsucht allzu weit treibt. Dieses Bild bekommt erst Risse, als sich Ecke weigert, nach Rüstung und Schwert auch noch ein Pferd von der Königin anzunehmen: ich mag ze fůsse vil wol gan. jo bin ich ze ungefuͤ ge; es treit mich doch der lenge niht mit aller siner krefte (Str. 34,5–8).
Ein Held, der zu Fuß geht, bestens mit einer hochberühmten Rüstung ausgestattet, aber zu groß und zu schwer, genauer: ze ungefuͤ ge, als dass ihn ein Pferd tragen könnte: Eckes Erscheinungsbild ist ebenso widersprüchlich wie seine Motive.³⁰ Diese hier nur skizzierten Widersprüche in der Figurenkonzeption Eckes sind in der Forschung seit langem beobachtet worden: Fasbender spricht von einer „punktuelle[n] Riesenhaftigkeit“, die er als „transitorische[n] Zustand“ auffasst,³¹ Salvan-Renucci beschreibt Ecke blumig als „Grenzgänger zwischen menschlichhöfischer Welt und unheimlich verderblicher wunder-Sphäre“³², und Klanke sieht
29 Ebd., S. 138. 30 Christoph Fasbender: Eckes Pferd. In: Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft. Bd. 14 (2004), S. 41–53, hier bes. S. 46 f., zieht grundsätzlich in Zweifel, dass Ecke das Pferd einzig wegen seiner Riesenhaftigkeit ablehne, und in der Tat wird nicht explizit gesagt, das Pferd könne ihn nicht tragen, weil er zu schwer, zu groß o. ä. wäre: Ecke ist schlicht ze ungefuͤ ge (Str. 34,6). Die Vielzahl der möglichen Bedeutungen dieses Adjektivs verunklärt das ganze eher noch. Ungeachtet dessen, ob Ecke das Pferd nicht nehmen kann (was dann auf seine Riesenhaftigkeit zurückzuführen wäre) oder, wie Fasbender meint, nicht nehmen will (weil er zu Fuß schneller vorankommt?, vgl. ebd., S. 45): Ohne Pferd fehlt ihm trotz der fama seiner berühmten Rüstung ein entscheidendes Merkmal, das ihn vom heroischen Ritter absetzt, weshalb Dietrich sich zunächst auch nicht auf einen Kampf einlassen möchte. 31 Ebd., S. 51. 32 Françoise Salvan-Renucci: Das Zusammenspiel von Abgrenzungs- und Angleichungstendenzen in der Darstellung der Riesen als Gegenspieler Dietrichs und seiner Helden. Am Beispiel der Gestalt Eckes. In: Ètudes médiévales. Bde. 9–10. Amiens 2008, S. 196–205, hier S. 200.
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„Eckes Identität fragmentiert“³³. Während sich aber höfische und heroisch-exorbitante Dispositionen nicht unbedingt ausschließen, zumal beiden gleiche oder zumindest ähnliche Wertvorstellungen wie êre, prîs usw. inhärent sind, ist die Übernahme dieser Axiologie bei einem Riesen eigentlich gänzlich unmöglich. Riesen sind ordnungsstörende, monströse Wesen, die die soziale, zivilisatorische Werteordnung bedrohen; narrativ schlägt sich das in der Dichotomie von Kultur und Natur nieder. Riesen sind damit zwar durchaus exorbitante Figuren, die aber als Repräsentanten des Chaotischen und Wilden zunächst nicht an den ethischen Maßstäben heroischen oder ritterlichen Handelns teilhaben.³⁴ Bei Ecke ist das anders. Er will Ruhm und Ehre im Kampf erwerben, begibt sich wie ein Frauenritter auf Aventiurefahrt, wird mit einer geschichtsträchtigen Heldenrüstung eingekleidet, trägt ein Schwert statt der riesentypischen Keule. Zugleich aber ist und bleibt er ein Riese (und wird später auch als solcher benannt), der zu Fuß geht statt zu reiten, und damit wiederum fehlt ihm, der nicht nur für seinen Ruhm, sondern im Frauendienst unterwegs ist, das wichtigste ritterliche Merkmal. Man kann daher Ecke als hybride Figur bezeichnen, dem riesische wie ritterlichheroische Eigenschaften und Qualitäten gleichermaßen eingeschrieben sind. Der eigentlich aus der Biologie stammende Begriff des Hybriden ist allerdings in der Literaturwissenschaft zwar verbreitet, dort jedoch nur unscharf verwendet:³⁵ Als hybrid gelten beispielsweise Figurenkonzeptionen, die sich aus unterschiedlichen narrativen Strukturen speisen.³⁶ Auf diese Weise überlagern sich teils widersprüchliche Konzepte, Elemente und Darstellungsformen, sowohl was die Erzähl-
33 Andreas Klanke: Die Ries*innen im Eckenlied – Vertraute Fremde. In: Riesen. Entwürfe und Deutungen des Außer/Menschlichen in mittelalterlicher Literatur. Hrsg. von Ronny F. Schulz, Silke Winst. Wien 2020, S. 103–125, hier S. 110. 34 Vgl. dazu den in Anm. 33 genannten Band, grundlegend: Jeffrey Jerome Cohen: Of Giants. Sex, Monsters, and the Middle Ages. Minneapolis/London 1999, für die skandinavische Epik vgl. Katja Schulz: Riesen. Von Wissenshütern und Wildnisbewohnern in Edda und Saga. Heidelberg 2004, für die mhd. Literatur: Hans Fromm: Riesen und Recken. In: DVjs 60 (1986), S. 42–59; Alan Lena van Beek: Riesen in der Literatur des Mittelalters: Diskursive Formationen im deutschen Sprachraum. Frankfurt a. M. 2021, hier bes. S. 75–108 (zu Ecke vgl. S. 75–79). Zur ambivalenten Dichotomie von Riese und Held vgl. oben, Anm. 24. 35 Vgl. Julika Griem: Art. Hybridität. In: Metzler-Lexikon der Literatur- und Kulturtheorie. Stuttgart ²2001, S. 260 f, hier S. 260: „H[ybridität] ist selbst ein bewußt hybrid gefaßter Begriff und damit ebenso wie die Phänomene, die er hervortreiben will, schwer zu lokalisieren und immer wieder neu zu verhandeln.“ 36 So führt beispielsweise Lydia Miklautsch: Montierte Texte – hybride Helden. Zur Poetik der Wolfdietrich-Dichtungen. Berlin/New York 2005, S. 242 f., Montage und Hybridität eng, um die aus heroischen, höfischen und geistlichen Strukturelementen „angereichert[e]“ (ebd.) Konzeption der Wolfdietrichfigur als hybrid zu beschreiben: Die Montage unterschiedlicher Erzählmuster und Handlungselemente erzeuge entsprechend hybride Figuren.
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strukturen betrifft als auch die damit verbundenen Figuren.³⁷ Hybride Figuren zeichnen sich demnach dadurch aus, dass sich in ihnen unterschiedliche, teils unvereinbare Konzeptionen, Wertvorstellungen und Erzählmodelle verbinden, ja regelrecht überblendet werden. Entscheidend dabei scheint mir zu sein, dass die Überlagerung unterschiedlicher Konzeptionen auf allen Ebenen Brüche erzeugt, ja förmlich ausstellt. Die einzelnen Konzeptionen, Axiologien usw. stehen daher zwar nicht unverbunden übereinander, sind jedoch weiterhin sichtbar. Bildhaft verkörpert ist dies z. B. in der Figur des Kentauren, ein Zwitterwesen halb Pferd, halb Mensch, an dem zwar beides unmittelbar zusammengehört, jedoch scharf voneinander zu unterscheiden ist.³⁸ Bei Ecke hingegen sind diese Grenzen fluide, transitorisch; es ist eben nicht auf den ersten Blick zu erkennen, ob er Riese oder Held ist (jedenfalls nicht innerhalb der Erzählung). Anders als der hybride Kentaur ist er nicht eine Figur des ‚Sowohlals-auch‘, sondern vielmehr eine des ‚Weder-noch‘. Im Unterschied zum Konzept des Hybriden, das unterschiedliche oder gar sich ausschließende Eigenschaften, Merkmale und Erscheinungsformen in einer Figur sichtbar nebeneinanderstellt, sehe ich daher in der Denkfigur des Kompromisses die Möglichkeit, nicht nur Gegensätzliches zu verbinden oder zu überblenden, sondern daraus etwas Neues, eine Figur des Dritten zu schaffen. Im Kompromiss stehen die differierenden Merkmale oder Konzepte nicht einfach mehr oder weniger unverbunden nebeneinander, so dass sie zwar ein Ganzes bilden, an dem dennoch die ambigen Bestandteile des jeweils anderen zu erkennen sind. Vielmehr erfordert der Kompromiss Gegenseitigkeit, Äquivalenz und Komplementarität.³⁹ Denn das Wesen des Kompromisses besteht ja gerade darin, dass sich zwei Seiten einander soweit annähern, dass eine Vereinbarkeit beider Teile möglich ist, um ein gemeinsames Drittes zu bilden. Das ist gerade nicht einfach der kleinste gemeinsame Nenner; ein Kompromiss zeichnet
37 Vgl. Stephan Fuchs: Hybride Helden: Gwigalois und Willehalm: Beiträge zum Heldenbild und zur Poetik des Romans im frühen 13. Jahrhundert. Heidelberg 1997, S. 372, der etwa für Wolframs Willehalm konstatiert, der Text habe „die Tendenz, in dichtester Fügung des Nicht-Zusammenfügbaren das Widersprüchliche zu verweben, als Widersprüchliches sichtbar zu lassen und nachgerade sichtbar zu machen“. 38 Vgl. Friedrich (Anm. 26), S. 138 f., der mit Dietmar Peschel-Rentsch: Pferdemänner. Kleine Studien zum Selbstbewußtsein eines Ritters. In: Ders.: Pferdemänner. Sieben Essays über Sozialisation und ihre Wirkungen in mittelalterlicher Literatur. Erlangen/Jena 1998, S. 12–47 den Kentauren zwischen Ecke (der zu ungefuͤ ge für das Pferd ist) und Dietrich (der sich weigert, gegen einen Unberittenen zu kämpfen) sieht. Vgl. auch Udo Friedrich: Der Ritter und sein Pferd. Semantisierungsstrategien einer Mensch-Tier-Verbindung im Mittelalter. In: Ders. (Anm. 2), S. 67–90. 39 Vgl. nochmals Greiffenhagen (Anm. 3), S. 94–97.
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sich vielmehr gerade dadurch aus, dass er einen dritten Weg wählt, in dem dennoch beide Positionen zu finden sind.⁴⁰ In diesem Sinne wäre daher zu überlegen, Ecke nicht als hybride Figur zu sehen, sondern vielmehr als eine Art heroische Kompromissfigur: Er ist – schon von seiner Größe her – riesenhaft und seine Gesprächspartner Vasolt und Ebenrot sind es ebenfalls. Jedoch trägt er die Rüstung zweier hochberühmter Helden, ist nicht mit der für Riesen typischen Stange oder Keule bewaffnet, sondern mit einem so scharfen Schwert, dass es Dietrich sich zusammen mit der Rüstung nach Eckes Tod aneignet; es ist als Eckesachs in der Dietrichepik bekannt.⁴¹ Dagegen aber ist er trotz berühmter Heldenrüstung nur zu Fuß, ohne Pferd unterwegs, und damit wiederum fehlt ihm das wichtigste ritterliche Merkmal; darum ist es auch schwierig, Dietrich zum Zweikampf zu bewegen, denn dieser tritt erklärtermaßen nur gegen Berittene an. Weder gehört er eindeutig zu den Riesen (und das nicht nur in der Benennung, denn ebenso unscharf ist ja die Bezeichnung helt), noch ist er eindeutig ein ritterlicher Heros. Er ist insofern eine Figur des Dritten, als er klare Dichotomien überwindet. Fraglich ist allerdings, ob dieser Kompromiss aufgeht. Denn in der Figur Eckes sind zwar die Grenzen und Dichotomien unterschiedlicher Konzeptionen verwischt, aber diese brechen am Ende eben doch wieder auf. Das eben zeigt der Ausgang von Eckes aventiure, vor allem aber sein Gegner Dietrich. Schon im Gespräch zu Beginn der Handlung entsteht ein ambivalentes Bild von Dietrich, dessen Ruhm zwar unbestritten ist – sonst wäre er ja kein adäquater Gegner für Ecke – dem aber auch durchaus fragwürdige Taten nachgesagt werden: Die einen loben, die anderen verabscheuen ihn. Auf seiner Suche nach Dietrich findet Ecke einen todwunden Helden und seine von Dietrich erschlagenen Begleiter und erhält ebenfalls zwiespältige Nachrichten über seinen Gegner: Denn der fremde Ritter ist so stark verwundet, seine Rüstung derart zerstört, dass Ecke von einer übernatürlichen Kraft ausgeht: enkain swert es getůn enmak: / es hat getan von himel / der wilde dunrslak. (Str. 56,11–13) Helferich, der todwunde Mann, rät Ecke, Dietrich aus dem Weg zu gehen, denn er habe noch nie einen so tapferen Mann gesehen. Dietrichs Rüstung sei vollkommen und strahle blendend, seine Kampfkraft sei so fürchterlich, dass Helferich schon von der Namensnennung das Grauen packt. Vor allem aber sei Dietrichs Größe erschreckend: ze solcher lenge so er hat, / so kann im niht genossen (Str. 60,7 f.). Ausgerechnet den Riesen also warnt man vor der über-
40 Vgl. zur Figur des Dritten umfassend Georg Simmel: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Gesamtausgabe Bd. 11. Hrsg. von Otthein Rammstedt. Frankfurt a. M. ²1995, S. 63–159. 41 Vgl. Selmayr (Anm. 27), S. 70 f.
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mäßigen Körpergröße Dietrichs! Die Verhältnisse scheinen sich beinahe umzukehren: Während Dietrich Angst und Schrecken verbreitet, verbindet Ecke dessen Opfer die Wunden. Wer Ritter ist und wer Riese: Das ist an dieser Stelle nicht festzulegen.⁴² Diese Interferenzen zeigen sich besonders beim anschließenden Zweikampf zwischen Ecke und Dietrich. Held vs. Riese: Das ist eigentlich eine Konstellation, deren Ausgang von vornherein feststeht. Das Eckenlied aber, das wurde bereits an der Figur des Riesen Ecke selbst klar, funktioniert gerade nicht über klare axiologische Besetzungen. Das zeigt sich, wie gesehen, auch in der Figur Dietrichs, der Ecke erstmal dem Kampf verweigert; das ist zwar ein wiederkehrendes Motiv der gesamten Dietrichepik, doch weigert sich Dietrich hier ausdrücklich, mit einem Fußgänger die Klingen zu kreuzen, er führt also explizit den Status- und Standesunterschied seines Gegners an.⁴³ Die Figur Dietrichs ist also nicht vordringlich jenem Modell des exorbitanten Helden verpflichtet, der Ruhm und Ehre allein daraus bezieht, die größten und mächtigsten Gegner besiegt zu haben – dieses Konzept verfolgt vielmehr Ecke, der als Riese freilich selbst der übermächtige Gegner für einen Helden ist. Dietrichs heroische Exorbitanz ist hingegen zugleich einem ritterlichen Ethos verpflichtet (freilich nicht im gleichen Maße, wie das für die Artusritter der höfischen Romane gilt), das ständische und durchaus auch christliche Wertvorstellungen explaniert und diese auch an bestimmte Präsenz- bzw. Repräsentationsakte (das Pferd, der Reiter, aber auch die Waffen) bindet. Dietrich führt zwar anschließend noch weitere Gründe für seine Weigerung an – er habe keinen Streit mit Ecke, kenne die Frauen nicht, um derentwillen jener kämpft und brauche keine weiteren Ruhmestaten –, doch lässt er sich schließlich im wörtlichen Sinne dazu herab, mit Ecke zu kämpfen: Er steigt vom Pferd und gleicht sich damit seinem Gegner an, dem er nun ebenfalls zu Fuß entgegentritt. Um mit Ecke zu kämpfen, verlässt er also die Ebene der höfisch-ritterlichen Repräsentation: Er kommt ihm insofern entgegen, als er sich zum einen überhaupt auf den Kampf einlässt, zum anderen aber die Gleichwertigkeit beider zu Fuß wiederhergestellt ist. Einen ‚echten‘ Riesen nämlich hätte er auch problemlos aus der überlegenen Position zu Pferde bekämpfen können. Man ist fast geneigt zu sagen: Er geht einen Kompromiss ein, denn nur auf diese Weise ist ein Zweikampf unter Gleichen möglich. Damit deutet sich schon an, was erst im Ausgang des Kampfes vollends ersichtlich wird: Dietrich kann die ‚Kompromissfigur‘ Ecke nur besiegen, indem er seinerseits zur Kompromissfigur wird.
42 Vgl. Störmer-Caysa (Anm. 24), S. 161–163. 43 Vgl. zum Motiv von Dietrichs Zagheit Hildegard Elisabeth Keller: Dietrich und sein Zagen im ‚Eckenlied‘ (E2): Figurenkonsistenz, Textkohärenz und Perspektive. In: JOWG 14 (2003/04), S. 55–75.
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Der folgende Kampf nämlich entwickelt sich sehr zu Ungunsten Dietrichs: Schon bald seines Schildes beraubt, muss er notdürftig Deckung unter den Bäumen suchen, während Eckes wunderbare Rüstung für sein Schwert undurchdringlich bleibt. Erst jetzt, in seiner größten Bedrängnis, findet Dietrich zu seinem berüchtigten Zorn: do hat her Dietherich unerforht ains loͮ wen můt gewunnen. alsus do merte sich sin maht. […] Ir kraft wart do geliche stent und an ir baider kumber gent (Str. 120,9–121,2).
Erst durch seinen heroischen Furor also kann Dietrich wieder für ausgeglichene Verhältnisse sorgen, der Zorn aber verleiht ihm übermenschliche Löwenkräfte, gleicht ihn also der Wilde an, von der sich Ecke gerade absetzt.⁴⁴ Der wundert sich denn auch: Von wannan ist dú kraft dir komen? / du hast vil sterk uf dich genomen (Str. 122,1 f.). Dietrich kann somit nur einen Ausgleich herstellen, indem er ein Stück weit zum Riesen, zum Wilden wird, indem er sich also jener Seite annähert, von der aus Ecke wiederum sich dem ritterlichen Helden nähert. Bei einem Kompromiss treffen sich beide Parteien idealerweise in der Mitte und können dann einen neuen Status quo miteinander eingehen. Zwischen Dietrich und Ecke wären an dieser Stelle somit die besten Bedingungen für einen Waffenstillstand und einen friedlichen Ausgleich gegeben. Doch was im höfischen Roman möglich, ja sogar erstrebenswert ist – ein Unentschieden bei Kräftegleichheit (z. B. zwischen Gawein und Parzival, zwischen Gawein und Iwein, ja selbst zwischen Parzival und Feirefiz), ist hier keine Option: Dietrich macht klar, dass er sich keinesfalls von Ecke zu den drei Königinnen bringen ließe, denn damit würde er ja seine Niederlage eingestehen. Umgekehrt weigert sich Ecke mehrfach, sich zu ergeben und ins Gefolge Dietrichs aufgenommen zu werden: Ein Kompromissvorschlag Dietrichs, der Ecke sogar in den gleichen Rang wie seine übrigen Gefolgsleute versetzen würde. Denn Helden machen eben keine Kompromisse, jedenfalls nicht auf der Handlungsebene und schon gar nicht im Kampf.⁴⁵ Und so wird dieser umso
44 Vgl. Störmer-Caysa (Anm. 24), S. 164: Je länger Dietrich kämpft, desto riesischer erscheint er. 45 Kompromisshandeln ist in erster Linie soziale Interaktion, setzt aber vor allen Dingen Vertrauen, Ambiguitätstoleranz und gegenseitige Kooperation voraus (vgl. Greiffenhagen [Anm. 3], S. 106 f. und S. 111) – all dies wird man bei Ecke und Dietrich (wie auch den anderen zuvor angeführten Beispielen) vergebens suchen, denn dies läuft der heroischen Exorbitanz zuwider. Von der Unmöglichkeit der Kompromisse auf der Handlungsebene unberührt sind die strukturellen Kom-
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erbitterter fortgesetzt, nun jedoch nicht mehr mit den Schwertern, sondern als Ringkampf. Indem die Kontrahenten sich nun ausschließlich auf ihre körperliche Stärke verlassen, sind ritterliche Regeln ab jetzt völlig suspendiert. Und so – nur so, jenseits aller Regeln – kann Dietrich seinen Gegner dann auch besiegen: Er schlägt ihm mit dem Schwertknauf so lange auf den Kopf, bis Ecke bewusstlos zusammenbricht, um ihm dann den undurchdringlichen Waffenrock anzuheben und ihn zu erstechen: er hůb im uf die slizze, die waren baid von golde rot: er stach das swert durch Eggen: das twang in michel not! (Str. 140,10–13)
Permanent also verstößt Dietrich gegen seine eigenen Grundsätze, ritterliche Regeln und seine Ehre; nur auf diese Weise kann es überhaupt zum Kampf kommen und nur dadurch kann er den Kampf schließlich beenden. Uta Störmer-Caysa konstatiert, Dietrich habe sich „den Ritter Ecke, um zu siegen, für sich wieder zum Riesen machen“ müssen, „er musste Ecke für sich auf das Riese-Sein reduzieren“⁴⁶. Denn nur ein Wesen, das außerhalb der menschlichen Ordnung und ihren Regelund Wertesystemen steht, darf der Held seinerseits ohne Beachtung ritterlicher Regeln töten – wobei sich Dietrich im Kampf ja wie gesehen selbst mehr und mehr dem Wilden, dem Riese-Sein angleicht. Damit aber scheint der in Eckes Figur angelegte Kompromiss gescheitert: Dietrich erschlägt ihn, wie man halt einen Riesen erschlägt; Ecke findet als Riese den Tod – durch einen Helden, der selbst mehr wie ein Riese erscheint. Doch unmittelbar nach seinem Sieg setzt Dietrich diese nur scheinbare Eindeutigkeit wieder aus: Nicht nur ist er sich klar darüber, dass dieser unehrenhafte Sieg ihm keinerlei Ruhm einbringen wird, er beklagt in fünf aufeinanderfolgenden Strophen beinahe elegisch Eckes Schicksal, während er seine eigene, untreue Tat verflucht: Egge, mich rúwet din lip! din úbermůt und schoͤ ne wip went dir den lip verkoͮ fen. des můs ich dir von schulden jehen, wan ich nie degen han gesehen sus nach dem tode loͮ fen, als ain du, helt, hie hast getan (Str. 142,1–7).
promisse, die in den Figurenkonzeptionen von Dietrich und Ecke liegen, welche hier zur Diskussion gestellt werden sollen. 46 Ebd., S. 166.
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Schon die Bezeichnungen helt und degen machen aus Ecke wieder einen gleichwertigen Gegner für Dietrich;⁴⁷ der Kompromiss, der beide Figuren einander angenähert hat, wird erneut aufgerufen: Ecke wird wie ein ungefuͤ ger Riese erschlagen, aber wie ein tapferer Heros beklagt. Ebenso zwiespältig ist Dietrichs weiteres Vorgehen: Er beginnt, dem ohnmächtigen und tödlich verwundeten Ecke die Rüstung auszuziehen, nicht als Beute jedoch, sondern damit jeder von seiner schandhaften Tat erfahren könne. Während Dietrich den todwunden Riesen in seiner Klage als ritterlichen Helden preist, wendet er sich mit dem verwerflichen Akt des rêroup zugleich von den ritterlichen Tugenden ab: Im gleichen Maße, wie Ecke verritterlicht wird, nähert sich Dietrich wieder dem Unzivilisierten, Riesenhaften an. Anstelle des sterbenden Ecke wird nun Dietrich vollends zur Kompromissfigur: Indem er sich der wunderbaren Rüstung bemächtigt, entzieht er Ecke die äußerlich sichtbaren Zeichen des exorbitanten Helden. Zugleich aber ist die Rüstung so groß, dass Dietrich sie kürzen muss, was erneut die Riesenhaftigkeit Eckes gegenüber Dietrich hervorhebt. Überdies eröffnet sie eine Differenz zu den Helden der Vorzeit, Otnit und Wolf Dietrich, von denen die Rüstung ursprünglich stammt – und die damit die gleiche riesenhafte Statur wie Ecke gehabt haben, welche Dietrich trotz seiner exorbitanten Größe nicht erreicht. Dadurch beraubt er aber Ecke eben jener Kennzeichen, die ihn äußerlich vom Riesen unterscheiden sollten;⁴⁸ indem Dietrich sich nun die Rüstung aneignet, holt er sie wieder in die Sphäre der höfisch-heroischen Welt – doch sie passt eben nicht und muss zurechtgestutzt werden. Damit bestimmt künftig Dietrich die Geschichte der Rüstung: Er wird kein Ende wie Ecke oder Otnit erleben.⁴⁹ Die letzte Handlung Dietrichs ist es dann, seinen Gegner zu enthaupten und den Kopf an seinen Sattel zu binden – aber nicht aus eigenem Antrieb, sondern weil der sterbende Ecke ihn explizit darum bittet. Man kann darin einen letzten Akt der Ritterlichkeit Eckes sehen, der es seinem Gegner damit ermöglicht, die unehrenhafte Tötung und den rêroup für andere unsichtbar zu machen; damit hätte sich Ecke zuletzt als Ritter erwiesen und zugleich dem riesisch gewordenen Dietrich seinerseits wieder „die Ritterschaft zurückgegeben“⁵⁰. Man kann es aber auch andersherum sehen: Die Enthauptung ist ein archaischer Akt, der im Kontext der
47 Vgl. ebd., S. 168: Mit helt und degen hatte Ecke zuvor Dietrich angesprochen und zum Kampf aufgefordert. 48 „Waffentragen ist Vorrecht des Adels, ist Ausdruck seines Gewaltmonopols und markiert den sozialen Unterschied. Sie ist Bestandteil ritueller gesellschaftlicher Akte.“ Friedrich (Anm. 26), S. 139. 49 Vgl. Selmayr (Anm. 27), S. 69, die bemerkt, dass das einzige, was Dietrich bei der Begegnung mit Ecke interessiert, eben jene Rüstung (und ihre Herkunft) ist, und nicht etwa Ecke (der eben keine Geschichte hat). 50 Störmer-Caysa (Anm. 24), S. 167.
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meisten Narrative fast ausschließlich Ungeheuern und außermenschlichen Gegnern zukommt; zugleich dient sie dazu, sich die ungeheure Stärke des Gegners selbst anzueignen. Damit aber würde am Ende Ecke als enthaupteter, seiner Rüstung und damit aller Zeichen höfischer Repräsentation entledigter Riese übrigbleiben; ebenso aber würde Dietrich ihn mit all seinen Widersprüchen und Kompromissen mit sich nehmen, ja gewissermaßen aufnehmen.⁵¹ Denn es ist schon bemerkenswert, dass bei der anschließenden Fahrt Dietrichs in Eckes Land, auf die ich hier nicht mehr eingehen kann, praktisch niemand den an Dietrichs Sattel baumelnden Kopf des Riesen erkennt: Ecke ist eine Figur des Dritten geworden, im Gegensatz zu den übrigen Riesen, die Dietrich nun allesamt erschlägt – ausgerechnet mit dem von Ecke erbeuteten Schwert und in dessen Rüstung. Erst als er zu den drei Königinnen kommt, schleudert er diesen Eckes Kopf vor die Füße und macht ihnen schwere Vorwürfe, da sie es waren, die Ecke in den Tod geschickt hätten. Damit übt er eine unverhohlene Kritik am höfischen Frauendienst, dem er die eigentliche Schuld an Eckes Schicksal gibt. Udo Friedrich hat die Widersprüchlichkeit des Eckenliedes damit begründet, „dass es zwei Heldenmodelle verbindet. Es konfrontiert die endlose Dynamik des Heros mit dem sozial integrierten Ritter und bringt sie zum Stillstand“⁵². Diese beiden Modelle werden nun aber weder gegeneinander ausgespielt, noch in irgendeiner Weise vereindeutigt oder auch nur moralisch bewertet – etwa in dem Sinne, dass Dietrich der Sieg zukomme, weil er im Gegensatz zu Ecke auf Gottes Hilfe vertrauen will.⁵³ Vielmehr zeigt sich am Ende auch Dietrich als eine Kompromissfigur, doch anders als Ecke macht genau dies seinen Ruhm und Erfolg aus: Als exorbitanter Held richtet er sich durchaus an ritterlich-höfischen Wertmaßstäben aus, die er jedoch im Kampf immer wieder verlassen kann, sobald dies notwendig ist – ohne sie jedoch vollkommen aufzugeben. Schon sein heroischer Zorn, der ihn in manchen Erzählungen gar Feuer speien lässt, unterstreicht diesen wilden, monströsen, man könnte vielleicht auch sagen: riesenhaften Teil Dietrichs. Die unterschiedlichen Konzeptionen und Axiologien können jedoch nur dadurch die Figur Dietrichs zum Erfolg führen, indem sie nicht einfach nebeneinanderstehen, sondern einen tragfähigen Kompromiss bilden. Exorbitanz ist nur erfolgreich, wenn sie kontrollierbar
51 Das nähert sich eher der Deutung von Hartmut Bleumer an, der Ecke gleich zwei Tode sterben sieht: Die nachträgliche Enthauptung habe in Hinblick auf die weitere Handlung eine Doppelfunktion, denn Eckes Geschichte ist zwar zu Ende, nicht aber Dietrichs, der er nun „die Richtung und das weitere Programm vor[gibt] – die Bewältigung des glücklosen Sieges über Ecke“. Hartmut Bleumer: Narrative Historizität und historische Narration. Überlegungen am Gattungsproblem der Dietrichepik. Mit einer Interpretation des ‚Eckenliedes‘. In: ZfdA 129 (2000), S. 125–153, hier S. 149. 52 Friedrich (Anm. 26), S. 135. 53 So die Auffassung von Salvan-Renucci (Anm. 32), S. 203 f.
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bleibt: Nur als exorbitanter Held, der in sich ritterliche Tugenden und wilde Riesenkräfte vereinigt – nicht im Sinne einer hybriden Konzeption nebeneinanderstellt, nicht überblendet, sondern immer wieder kompromisshaft miteinander in Einklang bringt, kann sich Dietrich in der mittelhochdeutschen Heldenepik als der politisch agierende, pragmatische Held etablieren, als der er stets wahrgenommen wird. Das Eckenlied zeigt beispielhaft, worin dieser Kompromiss gründet, der das Außergewöhnliche der Figur Dietrichs ausmacht, zugleich aber die Kompromissfigur Eckes scheitern lässt.
Friedrich Michael Dimpel
Fort mit Lehrmeinungen: Zum zweifelhaften Widerruf von Trevrizent im Parzival Ausgangspunkt des Beitrags ist Trevrizents Aussage im IX. Buch, dass das Schicksal der gefallenen Engel noch nicht feststeht. Die Forschung hat überlegt, ob Trevrizent damit Parzival von einer desperatio abhalten und ihn implizit doch zur Gralssuche ermuntern wolle, was allerdings in Widerspruch zu Trevrizents Widerruf im XVI. Buch steht. Denkbar ist, dass die dogmatische Aussage der Autoritätsinstanz Trevrizent, die neutralen Engel seien doch verloren, auf Rezeptionsebene ebenso hinterfragt werden muss, wie Parzival lernen muss, die Ratschläge von Mutter und Gurnemanz zu hinterfragen; dies umso mehr, da menschlichen Figuren das Wissen über Gottes Entscheidungen zum Umgang mit den Engeln nicht zugänglich sein kann. Diese Überlegungen fügen sich in ein Parzival-Verständnis, nach dem es Wolfram in mehrfacher Hinsicht um weltanschauliche und poetologische Kritik an Autoritäten geht. Der Parzival würde so ganz grundlegend einer kritisch-zweifelnden Rezeptionshaltung zuarbeiten und als Lehre mitführen, dass man sich nicht von Lehrmeinungen leiten lassen soll, sondern besser ein eigenes Urteil findet. Als Perceval bei Chrétien auf seinen Einsiedler-Oheim trifft, gesteht er gleich zu Beginn seiner Beichte sein Frageversäumnis (V. 6364–6387)¹. Daraufhin erhält er einige wenige Informationen zum Gral, zur Schuld am Tod seiner Mutter sowie Ermahnungen zum Kirchgang und zur Unterstützung von Witwen und Waisen. Als Bußleistung wird ihm auferlegt, zwei Tage die Nahrung des Einsiedlers zu teilen, ein Gebet zu lernen, das er nur unter größter Gefahr aussprechen darf, und seine Sünden zu beweinen. Mit zwei Tagen und nicht ganz 180 Versen ist die Buße zeitlich und narrativ recht knapp bemessen. Bei Wolfram füllt das Gespräch mit Trevrizent den größten Teil von Buch IX. Es ist nicht nur etwa um den Faktor acht länger als bei Chrétien, es ist zudem weit weniger übersichtlich. Parzival erhält eine unglaubliche Vielzahl an Informationen, Ratschlägen und Hinweisen zu ganz unterschiedlichen Themenfeldern: Ein buntes Kaleidoskop an Informationen zum Gral und zum Personal der Gralsburg, Informationen zu seiner Verwandtschaft, auch zu Trevrizent selbst. Dazu kommen zu-
1 Chrétien de Troyes: Der Percevalroman (Le Conte du Graal). Übersetzt und eingeleitet von Monica Schöler-Beinhauer. München 1991 (Klassische Texte des romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben 23). https://doi.org/10.1515/9783110792737-014
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mindest im weiteren Sinn theologische Belehrungen, allerdings nicht unbedingt nur mit solchen Inhalten, wie man sie in einer typischen Bußpredigt erwarten würde. Am Ende steht bekanntlich, dass Parzival seinen Gotteshass aufgibt und umkehrt: nim buoz für missewende, / unt sorge et umb dîn ende (499,27 f.), sagt Trevrizent, und erteilt Absolution: gip mir dîn sünde her (502,25).² Bereits der Weg, auf dem Trevrizent das Argumentationsziel ansteuert, dass Parzival seinen Hass auf Gott aufgeben muss, schlägt Haken wie der Hase im Prolog – ein recht verschlungener Umweg, der in seiner Dunkelheit ans Elsterngleichnis erinnert: Nach Luzifers Höllenfahrt habe Gott aus der Erde Adam geformt, einer von Adams Söhnen habe seiner Großmutter die Jungfräulichkeit geraubt. Ähnlich, wie viele Rezipienten Schwierigkeiten haben dürften, in der Echtzeit des Hörverstehens das Elsterngleichnis zu erschließen, konstatiert Parzival als textinterner Rezipient ein Nicht-Verstehen, bevor Trevrizent ihm die hermeneutische Auflösung gewährt: Kains Großmutter sei die Erde, die mit Abels Blut ihre Unschuld verloren habe. Über weitere Umwege wie das Lob von reinen Jungfrauen und Ausführungen zur Erbsünde wird Parzival zur Umkehr ermahnt, erstmals in 465,11 f. und nochmals nach einem weiteren Umweg über Plato und Sibille in 467,9 f. Die Fülle der teils auch etwas merkwürdigen Informationen in diesen knapp 1.400 Versen sei deshalb unterstrichen, weil Trevrizent sich in Buch XVI bezichtigt, in Buch IX gelogen zu haben. Diese Selbstbezichtigung zielt eventuell auch auf die Frage, ob man den Gral erstrîten (798,26) kann, vor allem jedoch auf elf Verse, die bei einer ersten Lektüre neben den anderen Wunderlichkeiten wohl gar nicht allzu sehr hervorstechen, und an denen allenfalls zeitgenössische Rezipienten mit ausgeprägtem theologischen Spezialistenwissen mehr Anstoß nehmen konnten als an den übrigen Belehrungen: di newederhalp gestuonden, dô strîten beguonden Lucifer unt Trinitas, swaz der selben engel was, die edelen unt die werden muosen ûf die erden zuo dem selben steine. der stein ist immer reine. ich enweiz op got ûf si verkôs,
2 Wolfram von Eschenbach: „Parzival“. Studienausgabe, 2. Aufl. Mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann. Übersetzung von Peter Knecht. Mit Einführungen zum Text der Lachmannschen Ausgabe und in Probleme der ‚Parzival‘-Interpretation von Bernd Schirok. Berlin/New York 2003.
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ode ob ers fürbaz verlôs. was daz sîn reht, er nam se wider. (471,15–25)
Diese Information folgt auf die Information zum Gral, dass die regulären Gralsdiener schon als Kinder berufen werden und immer ohne Sünde leben. Bevor die menschlichen Gralsdiener der erzählten Gegenwart beim Gral waren, war der Engelschor beim Gral, der sich beim Kampf von Luzifer und Trinitas neutral verhalten hat. Trevrizent reklamiert aber, nicht zu wissen, ob Gott diesen Engeln verziehen hat, oder ob er sie weiterhin als verloren gegeben hat – denkbar wäre es auch, das Tempus in 23–25 als gnomisches Präteritum in dem Sinn aufzufassen, dass Trevrizent nicht weiß, ob ihnen die Vergebung Gottes irgendwann zuteilwird. Trevrizents Widerruf im XVI. Buch wird eingeleitet mit seinem Erstaunen darüber, dass Parzivals Gralssuche Erfolg hatte: grozer wunder selten ie geschach, sît ir ab got erzürnet hât daz sîn endelôsiu Trinitât iwers willen werhaft worden ist. (798,2–5)
Bei der Proposition ab got erzürnet hât handelt es sich um eine Interpretationshandlung³ der Figur, die zumindest syntaktisch im Gewand einer Tatsachenbehauptung daherkommt. Um eine solche Aussage tatsächlich als Fakt ausgeben zu können, wäre ein Einblick in das „Figureninnere“ von Gott notwendig – ein Wissen also, das menschlichen Figuren nicht verfügbar sein kann. Trevrizents Interpretation steht zudem in einem Spannungsverhältnis zu anderen Informationen im Text: Man hat erfahren, dass Parzival sich nach seinem Gespräch mit Trevrizent von seinem Zorn auf Gott abgewandt hat und dass Parzival nach Auskunft von Cundrie deshalb zum Gral darf, weil im Gral die entsprechende Inschrift erschienen ist. Bereits im IX. Buch hat Trevrizent konstatiert, dass der Gral eben per Inschrift beruft (468,12–14; 470,21 f.). Wenn man erzürnen nicht auf die Emotion Zorn beziehen möchte, sondern so lesen wollte, dass Parzival durch sein beharrliches Streben eine Voraussetzung für eine positive göttliche Entscheidung ermöglicht haben könnte, so wäre Trevrizents Aussage stimmig zu den übrigen Textinformationen. Eine solche harmonisierende Lektüre würde jedoch den Umstand verhüllen, dass die Figur eine problematische Aussage trifft, für deren Autorisierung sie nicht
3 Cornelia Herberichs: Erzählen von den Engeln in Wolframs ‚Parzival‘. Eine poetologische Lektüre von Trevrizents Lüge. In: PBB 134 (2012), S. 39–72, hier S. 62, spricht von einem „Missverständnis“; vgl. auch Bernd Schirok: Ich louc durch ableitens list. Zu Trevrizents Widerruf und den neutralen Engeln. In: ZfdPh 106 (1987), S. 46–72, hier S. 53 f.
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einstehen kann, weil sie ebenso wie faktische Aussagen zum Schicksal der neutralen Engel auf unverfügbarem Wissen beruht.⁴ Auf diese problematische Aussage folgt nun die Selbstbezichtigung: ich louc durch ableitens list vome grâl, wiez umb in stüende. (798,6 f.) Hier ist zunächst problematisch, dass die Extension der Lüge unklar bleibt: Trevrizent hat im IX. Buch recht viel über den Gral gesagt – gelogen sein könnte all das oder auch nur ein Detail. Die Forschung (dazu unten ausführlich) hat neben dem Schicksal der neutralen Engel insbesondere die Aussichtslosigkeit der Gralssuche als Bezugspunkt ausgemacht – das Thema wird unmittelbar zuvor mit dem erzürnen (798,3) berührt; nach der Korrektur des Engel-Schicksals kommt Trevrizent auf dieses Thema zurück: mich müet et iwer arbeit (798,23) – „Dazu bekümmert mich Eure Qual“.⁵ ez was ie ungewonheit, daz den grâl ze keinen zîten iemen möhte erstrîten: ich het iuch gern dâ von genomn. (798,24–27)
Der letzte Vers wird meist so verstanden, dass Trevrizent seinen Neffen gern von der Gralssuche abgebracht hätte – so etwa Peter Knecht⁶; ich komme unten darauf zurück. Evident ist der Bezug des ich louc auf das Schicksal der Engel: daz die vertriben geiste mit der gotes volleiste bî dem grâle wæren, kom iu von mir ze mæren, unz daz si hulde dâ gebiten. (798,11–15)
4 Aussagen wie „obwohl er [Trevrizent] weiß, daß von Anfang an […] ihre Verdammung objektiv feststand“ (Schirok, Anm. 3, S. 59) sind nicht nur deshalb problematisch, weil Figurenrede prinzipiell unzuverlässig sein kann, sondern auch, weil es sich um Seinsbereiche handelt, von denen Menschen kein sicheres Wissen möglich ist. 5 Eigene Übersetzung. Peter Knecht (Anm. 2) übersetzt müet mit Präteritum. Zwar finden sich zu müejen auch Präteritalform ohne Rückumlaut bei Wolfram. Andernorts steht jedoch im Parzival und im Willehalm beim Präteritum stets müete statt müet. Man darf also davon ausgehen, dass Trevrizent Parzivals Probleme im Zusammenhang mit dem Gral und Anfortas Schmerzen immer noch bedauert und dass dieser Vers nicht nur sein damaliges Mitleid – eventuell als Grund für die Lüge? – thematisiert; das Mitleid wird hier nun im Nachhinein an den neuen Gralskönig adressiert. 6 Knecht (Anm. 2).
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Euch wurde von mir die Information gegeben, dass die verbannten Geister auf Veranlassung Gottes beim Gral gewesen wären, solange sie dort auf Gottes Huld warteten. [Übersetzung F.D.] Bemerkenswert ist nun die angebliche Rekapitulation seiner früheren Aussage: got ist stæt mit sölhen siten, er strîtet iemmer wider sie, die ich iu ze hulden nante hie. (798,16–18) Gott ist aber auf solche Art und Weise konsequent, er kämpft immer gegen diese Geister, von denen ich gesagt habe, dass die in seiner Huld sind. [Übersetzung F.D.]
Die meisten Übersetzer übersetzen ze hulden nante so, dass kein Widerspruch zu Trevrizents Aussage in IX entsteht, dass das Schicksal der Engel offen sei;⁷ etwa Knecht: „von denen ich behauptet habe, sie könnten Versöhnung finden“. Allerdings will er nunmehr die Engel damals ze hulden benannt haben – er hätte damals also behauptet, die Engel seien bereits oder würden künftig erlöst.⁸ Er behauptet also beim Widerruf, dass er etwas anderes gesagt hat, als er tatsächlich gesagt hat – etwas pointiert: Er lügt bei dem, was er gelogen haben will. Die Engel jedenfalls, so die nunmehr gültige Lehrmeinung, sind êweclîch verloren: die vlust si selbe hânt erkorn. (798,22) Trevrizents Widerruf wirft einige Fragen auf. Die Crux besteht darin, dass die Informationen, die der Rezipient in Figurenrede erhält, recht knapp ausfallen; die Bezüge sind nicht eindeutig und eine Innensicht in das tatsächliche Figurenwissen und in die Intentionen von Trevrizent erhält man nicht, so dass alle Aussagen nur als Inferenzen möglich und nur bis zu einem gewissen Grad plausibilisierbar sind.
7 Harmonisierend auch etwa Schirok (Anm. 3), S. 58 f.; ihm folgend Cornelia Schu: Vom erzählten Abenteuer zum Abenteuer des Erzählens. Überlegungen zur Romanhaftigkeit von Wolframs Parzival. Frankfurt a. M. [u. a.] 2002 (Kultur, Wissenschaft, Literatur 2) [http://www.gbv.de/dms/bs/toc/ 337812349.pdf ], S. 318. 8 Um zu prüfen, ob ze hulden benennen nicht auch auf einen noch offenen Vorgang verweisen kann, habe ich die MhdBDB konsultiert. Die Suchanfrage „ze+hulde+benennen“ führt nicht zu relevanten Ergebnissen; „ze+hulde“ zeigt, dass diese Phrase meistens mit einem Verb kombiniert wird wie komen, suochen, werben, (ver)dienen, hân, gewinnen etc., so dass durch die Wahl des Verbs entschieden wird, ob die Huld bereits erworben ist oder ob sie erst noch erworben werden müsste. In Parzival und Willehalm wird ze häufig in der Bedeutung von nhd. ‚als‘ oder‚in‘ verwendet (vgl. etwa 746,19, 768,21, 796,19, Wh. 262,17, Wh. 297,9; ‚in‘ nicht nur lokal; etwa 32,22). Die Kombination von ze und benennen findet sich bei Wolfram häufiger in der hier vertretenen Auffassung: diu sî ze dienste dar benant (24,24 ähnlich 599,20); ebenfalls im Gralskontext: des steines phliget immer sider / die got dar zuo benande (471,26 f.). Deutlich analog und mit Bezug zur Erlösungsfrage sind die vielzitierten Willehalm-Verse konstruiert: sol ir got Tervigant / si ze helle han benant (Wh. 20,11 f.); diene sint zer vlüste niht benant (Wh. 307,11); ob von dem vater siniu kint / hin zer vlust benennet sint (Wh. 307,27 f.).
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Fragen lässt sich etwa: Bezieht sich die Lüge nur auf das Schicksal der neutralen Engel, oder auch auf die Aussichtlosigkeit von Parzivals Gralssuche? Zu welchem Zweck könnte ausgerechnet die Autoritätsfigur Trevrizent gelogen haben? Zumindest auf die letzte Frage gibt es einigermaßen plausible Antworten.
I Die Motivierung der Engelsaussagen bei Schirok Bernd Schirok sieht in Trevrizents Aussage zum offenen Schicksal der neutralen Engel in Buch IX den Versuch, Parzival zur religiösen Umkehr zu motivieren.⁹ Parzival, der sich im Zustand des Gotteshasses befindet, soll die Hoffnung bekommen, dass er Vergebung finden kann, wenn er bereut und sich Gott wieder zuwendet. Das angeblich wahre Schicksal der neutralen Engel könnte ihm diese Hoffnung rauben: Wenn nicht nur Luzifers Engel, die sich gegen Gott gewandt haben, in die Hölle fahren, sondern auch die, die sich neutral verhalten, wie stünde es dann um mit Parzival, der sich aktiv von Gott losgesagt hat? Trevrizent würde deshalb das Bild eines strafenden Gottes meiden und vorgeben, er wüsste nicht, ob die Engel vielleicht doch noch gerettet wurden, damit Parzival nicht der desperatio verfalle (S. 62). Den Bezugspunkt der Aussage, dass Trevrizent zu der Frage gelogen haben will, wie es um den Gral steht (798,7 f.), sieht Schirok ausschließlich in der Engelslüge, nicht aber auch in seiner Auskunft zur Gralssuche in Buch IX: jane mac den grâl nieman bejagn / wan der ze himel ist sô bekant / daz er zem grâle sî benant. (468,12– 14) In dieser Sache würde Trevrizent keine Lüge revidieren, es handle sich nur um eine „Fehlinterpretation“ der Figur (S. 54) und nicht um eine „bewusste Falschaussage“ (S. 55), Trevrizent hat schließlich Parzival darüber informiert, dass man per Inschrift zum Gral benannt werden kann.¹⁰ Schiroks Interpretationsentscheidung, den Widerruf nur auf das Engelsschicksal zu beziehen und nicht auch auf die Möglichkeit den Gral zu erlangen, ist insofern problematisch, als der allgemeine Bezug auf den Gral direkt in der Folgezeile auf die Formulierung ich louc folgt; zudem betont Trevrizent nach den Ausführungen zum Engelsschicksal in 798,24–26 ein weiteres Mal nach 798,2 f. die Schwierigkeiten, den Gral zu erstrîten. Ob die Chancen der Gralssuche deshalb von der Engelfrage abzukoppeln sind, bleibt zumindest fraglich.
9 Schirok (Anm. 3), S. 62. 10 Auch Schu (Anm. 7), S. 315, sieht keinen Bezug der Lüge auf die Möglichkeiten von Parzival, den Gral zu finden.
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Obschon Schirok festhält, dass man laut Trevrizent per Inschrift zum Gral benannt werden kann, versteht er doch Trevrizents Aussagen in IX so, dass er seinen Neffen von der mutmaßlich unmöglichen Gralssuche abbringen will, er würde ihm deshalb ein anderes „Ersatzziel“ (S. 63) in Anschluss an Reither vermitteln wollen: das Streben nach „höchsten ritterlichen Erfolge[n]“.¹¹ Dass Parzival am Ende dann doch durch ihn auf den Weg zum Gral gebracht wird, habe Trevrizent nicht intendiert (S. 64). Er hätte nach Schirok also Parzival unfreiwillig geholfen, auch wenn er dabei „gegen eine von ihm generell als gültig angesehene Norm“ verstoßen musste, als es situativ geboten war – ein Handeln, zu dem Parzival beim Frageversäumnis noch nicht in der Lage war (S. 72). Schiroks These, Trevrizent habe Parzival mit seiner Auskunft zum Engelsschicksal zur religiösen Umkehr bewegen wollen, verhält sich konkordant zu seinen übrigen seelsorgerischen Ratschlägen. Wenn man allerdings davon ausgehen möchte, dass Trevrizent sehr daran interessiert sein muss, Anfortas erlöst zu sehen, dann wäre es unplausibel, Parzival von weiteren Anstrengungen abzuhalten, die Gralsburg zu finden – wenn Parzival in der dritten Sigune-Szene mit Sigunes Unterstützung der Spur Cundries folgt, scheint zumindest der Keim einer Erlösungshoffnung vorhanden zu sein. Parzival selbst ist nach seiner Verfluchung durch Cundrie nie in die Arme seiner Frau zurückgekehrt; offenbar hat er die Erlösungshoffnung nie ganz fallen lassen und auch von ihm besiegte Ritter zur Gralssuche vergattert.¹² Dass ausgerechnet Trevrizent ihm die Hoffnung und den Antrieb nehmen wollte, selbst wenn es äußerst unwahrscheinlich (ungewonheit; 798,24) ist, seinen Bruder von seinen Schmerzen zu erlösen, scheint mir nicht gut mit dem Voraussetzungssystem¹³ der Figur vereinbar zu sein, zumal Trevrizent nie sagt, dass Anfortas’ Erlösung vollständig unmöglich sei: Er hätte sonst Parzival genauso gut nachhause schicken und ihn zu Kirchgang und ritterlicher Betätigung ermahnen können. Auf ähnliche Widersprüche hat Martin Schuhmann hingewiesen: Wenn man mit Schirok annimmt, Trevrizent habe Parzival tatsächlich von dem Bemühen abhalten wollen, Anfortas zu erlösen, dann wäre die Aussage, die neutralen Engel könnten noch Erlösung finden, „ganz und gar nicht geeignet, jemandem von einem
11 Vgl. Anna Katharina Reither: Das Motiv der ‚neutralen Engeln‘ in Wolframs „Parzival“. Mainz 1965 (Diss. masch.), S. 81. 12 Vgl. Martin Schuhmann: Reden und Erzählen. Studien zur Figurenrede und zum Erzählen in Wolframs „Parzival“ und „Titurel“. Heidelberg 2008 (Frankfurter Beiträge zur Germanistik 49), S. 183. 13 Zum Begriff vgl. Ansgar Nünning: Grundzüge eines kommunikationstheoretischen Modells der erzählerischen Vermittlung. Die Funktion der Erzählinstanz in den Romanen George Eliots. Trier 1989 (Horizonte 2), S. 72–74.
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unmöglichen Vorhaben abzubringen, das man mit und aus Gnade zu Ende bringen kann; sie war eher eine Ermutigung dazu.“¹⁴ Schuhmann skizziert einen interessanten Lösungsversuch, der offenbar davon ausgeht, Trevrizent wolle Parzival bei dem Ziel, Anfortas zu erlösen, unterstützen: Einerseits würde er Parzival im IX. Buch explizit entmutigen (durch seine kategorische Aussage, dass man sich den Gral nicht erstrîten könne, wenn man nicht erwählt sei); andererseits würde er ihn aber gleichzeitig implizit zum Weitersuchen ermutigen (über die Geschichte mit den neutralen Engeln).¹⁵
Dieser Versuch kann immerhin als luzide Beschreibung der Widersprüche gelten, in die man geraten kann, wenn man versucht, Trevrizents Aussagen in IX zu harmonisieren. Schuhmann hat diesen Versuch zur „Rettung des Widerrufs“ jedoch selbst widerrufen, da er nicht zu Trevrizents Widerruf passe, der vor allem eine schlüssige Erklärung zu Trevrizents Verhalten verweigern wolle.¹⁶
II Trevrizents Ermutigung zur Gralssuche – der Ansatz von Cornelia Herberichs Cornelia Herberichs wendet sich deutlich gegen die Auffassung von Schirok, dass Trevrizent Parzival von der Gralssuche hätte ablenken wollen.¹⁷ Wie Schirok sieht Herberichs den Zweck der Aussage zum offenen Schicksal der neutralen Engel darin, dass Trevrizent Parzival nicht demotivieren will. Anders als Schirok vertritt Herberichs die These, dass es Trevrizent mit dieser Aussage nicht nur um Parzivals Seelenheil geht, sondern darum – ähnlich wie in dem Lösungsversuch von Schuhmann –, dass Trevrizent Parzival gerade zur Gralssuche selbst ermutigen wolle (S. 65–67). Das Argument von Schirok, die Aussage, die neutralen Engel wären ewig verdammt, hätte Parzival demotiviert, ergänzt Herberichs durch einen Blick auf den Kontext der Engelsaussage: Zuvor hat Trevrizent berichtet, dass es sich bei den Gralsdienern um glücklich Erwählte handelt, die von Kind an erwählt und ohne Sünde sind (S. 56). Wenn Trevrizent nun von der Verdammnis der neutralen Engel berichten würde, würde Parzival folgern, dass er für eine Berufung zum Gral nicht in Frage komme, weil er nicht als Kind ausgewählt und nicht ohne Sünde sei (S. 56). Aus der Geschichte von den neutralen und den gottestreuen Engeln könne Parzival 14 15 16 17
Schuhmann (Anm. 12), S. 179. Ebd. Ebd. Herberichs (Anm. 3), S. 48 f.
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folgern, dass das Kämpfen für Gott sicheren Lohn bringe; Trevrizent zerstreut damit Parzivals „Zweifel daran, dass das ritterliche Kämpfen einer transzendenten lônLogik“ unterliegen (S. 58): Parzival hat sich ja beklagt, dass Gott ihm beim Gral seine Unterstützung vorenthalten hat, obwohl er viel und erfolgreich gekämpft hat. Wenn Trevrizent nun von einem offenen Schicksal der neutralen Engel berichtet, entwirft er damit auch für Parzival eine offene Zukunft (S. 59). Herberichs kalkuliert hier durchaus mit den Restriktionen der Figurenperspektive von Trevrizent, der im IX. Buch nicht wissen kann, ob Parzival letztlich Erfolg haben wird. Dieses Motiv der Zukunftsoffenheit wird mit dem Engelschicksal parallelisiert (S. 60). Für ihre These, dass es Trevrizent gerade nicht darum gehe, Parzival von der Gralssuche abzuhalten, führt Herberichs an, dass Trevrizent Parzival Mut mache und auf die Hilfsbereitschaft von Gott verweise (S. 52); seine Gralssuche „verurteilt der Onkel mit keinem Wort“ (S. 51). Vor allem konstatiert Herberichs, dass Trevrizent „keine direkten Versuche unternimmt, Parzival vom Gral abzuhalten, noch ihn auf einen Weg zum Gral zu schicken.“ (S. 53)¹⁸ Dass man per Inschrift zum Gral benannt werden muss, lässt sich auch aus dieser Perspektive belasten: Trevrizent verwende eine Strategie, „die auf eine konkrete, imperativische Lenkung Parzivals verzichtet und die es seinem Gesprächspartner erlaubt, Handlungsoptionen selbst abzuwägen“ (S. 49). Parzival erwidert bekanntlich auf Trevrizents Ausführungen, Gott solle ihn, wenn er an strîte wîse sei (472,8 f.), per Inschrift zum Gral benennen, was Trevrizent als hochvart (472,13) kritisiert. Herberichs verweist gegenüber der älteren Forschung darauf, dass sich diese Kritik auch auf ein falsches Verständnis von Ritterschaft beziehen kann (S. 59); ergänzen lässt sich der Hinweis, dass eine Absage an einen Lohnautomatismus als hochvart nicht gleichzusetzen ist mit der Aussage, dass eine Lohngewährung grundsätzlich nicht möglich wäre. Ausgesprochen überzeugend sind die Überlegungen von Herberichs zum Problem des Ratgebens durch Erzählung. Reflektiert wird hier ein theologisches Paradoxon: Weil sich die Zuverlässigkeit des göttlichen lôns einerseits mit der Unverfügbarkeit der göttlichen Gnade andererseits logisch gegenseitig ausschließen, entsteht eine Unsicherheit beim Ratgeben. Wolfram löse dieses Paradoxon nicht theoretisch auf, es werde vielmehr in der Engelslüge narrativ vorgebracht, wenn Trevrizent nicht zu wissen vorgibt, was aus den neutralen Engeln wurde: Trevri-
18 Bereits Peter Wapnewski: Trevrizent: Widerruf und Gralprämissen. In: Wolframs ‚Parzival‘. Studien zur Religiosität und Form. Hrsg. von Peter Wapnewski. Heidelberg 1955, S. 151–173, hier S. 155, hat in den Versen 489,13–21 Trevrizents Hoffnung verortet, dass „Parzival doch noch das ersehnte Ziel erreichen könnte“. Vgl. auch S. 167: „In keinem Fall hatte Trevrizent Aufgabe des zielbewußten Strebens verlangt!“
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zents Wegweisung sei arbeit, zudem wisse Trevrizent nicht, ob es sich um einen Erlösungsweg handle (S. 66 f.). Herberichs Interpretation von Trevrizents Agieren in Buch IX lässt sich als plausibel nachvollziehen; es scheint stimmig, Parzival wie Trevrizent zu unterstellen, jeden Strohhalm festhalten zu wollen, der zu einer Erlösung von Anfortas führen könnte. Selbstverständlich benötigt ein zweiter Anlauf der Erlösungsfrage göttliche Gnade – bereits aber der erste Versuch war auf Gottes Gnade angewiesen. Damit, dass Trevrizent die Erlösung von Anfortas verfolgen könnte, kongruiert auch, dass er in die Hintergrund-Informationen zum Gral das Phönix-Motiv inseriert: Wenn der Gral den Phönix zu Asche verbrennt und wenn aus dieser Asche neues Leben geboren wird (469,8–13), ist ein Motiv berührt, das auch als Figuration der Wiederauferstehung Christi gilt – die Hoffnung auf Wiederauferstehung nach der Katastrophe liegt also nach Trevrizent in der Natur des Grals begründet und kann Parzival nach dem Versagen im Erstversuch durchaus Hoffnung auf einen weiteren Anlauf geben.¹⁹ Wenn man annehmen will, dass Trevrizent das Ziel verfolgt, Parzival mit dem Bericht von den neutralen Engeln entweder theologisch (Schirok) oder zur Gralssuche (Herberichs) zu ermutigen, so wird bei der Zuschreibung einer derart ausgefuchsten Strategie zu einer Figur entweder erstens vorausgesetzt, dass Trevrizent jedem beliebigen Gast, der sich von Gott losgesagt hat und der in Gralsnöten steht, eine solche Beratung zukommen lassen wollte – oder, zweitens, Trevrizent müsste Parzival erkannt haben.
19 Lea Braun weist in ihrem Beitrag im vorliegenden Sammelband darauf hin, dass Cunnewares Lachen, das Parzivals zum besten Ritter qualifizieren sollte, zunächst noch nicht eingelöst wird, sondern erst am Ende des Romans, auch wenn Parzivals Mitleid mit Cunneware und Anator als eine „Vorwegnahme des Mitleids mit Anfortas, das Parzival schlussendlich zum Gralskönig machen wird“, verstanden werden kann. (S. 430) Diese „Voraussage“ lässt sich auch so interpretieren, dass sie einer prospektiven Happy-End-Erwartung des Rezipienten zuarbeiten kann; Cunnewares Voraussage könnte man in dieser Hinsicht als Gegenpol zur Untergangsankündigung am Nibelungenlied-Beginn verstehen. Eine ähnliche Funktion hinsichtlich der Happy-End-Erwartung erfüllt im Parzival das Prolog-Lob in 4,14–26; eng verknüpft mit der Happy-End-Erwartung ist damit – freilich nicht auf der Figurenebene, auf der Trevrizent agiert, sondern auf der Rezeptionsebene – die Erwartung, Anfortas würde Erlösung finden. Mit Cunnewares Lachen wäre damit ein weiterer Kontrapunkt zu Trevrizents Aussage gegeben, dass der Gral nicht erjagt werden könne; eine ähnliche Funktion kann Gawans Entlastung am Beginn von Buch X vom Vorwurf,Vergulahts Vater erschlagen zu haben, erfüllen. Vgl. Friedrich Michael Dimpel: Wertungsübertragung und Kontiguität. Mit zwei Beispielen zur Wertung des Frageversäumnisses im Parzival. In: Journal of Literary Theory 8 (2014), S. 343–367, hier S. 361–364 [http://dx.doi.org/10.1515/jlt-2014-0016].
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Herberichs sieht dieses Problem durchaus, sie setzt mehr oder weniger auf die erste Variante,²⁰ dennoch habe ich den Eindruck, dass einige Formulierungen von Herberichs den Anschein erwecken, sie würde davon ausgehen, dass Trevrizent sich gezielt an Parzival wende.²¹ Möglich ist ein frühes Erkennen oder zumindest eine entsprechende Vermutung durchaus: Sigune und Cundrie wissen darüber Bescheid, dass Parzival die Frage versäumt hat; mit Cundrie war offensichtlich auch die Gralsgesellschaft informiert.²² Die Verfluchung durch Cundrie hat man am Artushof gehört; konkretere Informationen erhält Trevrizent allerdings erst nach dem Bericht von den Engeln in 471,15–29; in 475,2 nennt Parzival seinen Vater und berichtet vom Mord an Ither. Die Frage, ob er Lähelin sei (474,1), wäre dann etwas überraschend. Immerhin hätte Trevrizent selbst im Fall des Nichterkennens vor 475,2 noch reichlich Gelegenheit, Parzival weitere Einschätzungen zu seinen Chancen, Anfortas zu erlösen, mitzugeben – zumindest scheint er aber keinen Bedarf für eine Korrektur an seinen Aussagen zur Gralsburg sehen, nachdem Parzival sich genannt hat. Ein zweites Problem mit Herberichs Interpretation liegt in ihrer Vereinbarkeit mit dem Widerruf – dieses Problem hängt damit zusammen, dass die Extension von ich louc durh ableitens list unscharf bleibt. Wenn Herberichs davon ausgeht, Tre-
20 Vgl. S. 48 f.: „[…] dass selbst, als Trevrizent noch nicht die Identität seines jungen Gastes kennt, seine Aussagen nicht den Schluss zulassen, dass er Parzivals Gralsstreben zu durchkreuzen sucht. Vielmehr ist in Trevrizents Verhalten eine Strategie der Ermöglichung zu erkennen, die auf eine konkrete, imperativische Lenkung Parzivals [sic!] verzichtet und die es seinem Gesprächspartner erlaubt, Handlungsoptionen selbst abzuwägen.“ 21 Vgl. auch S. 65: „[…] eröffnet mit der Engelslüge einen Interpretationsspielraum, der Parzival zum strîten und, damit verbunden, zur Erwartung eines möglichen Lohnes motiviert, ohne das Ende von Parzivals Geschichte selbst absehen zu können.“ Weiterhin S. 66: „Der Weg, auf den Trevrizent seinen Neffen schickte […]“. Auch Alissa Theiß: ich hân ouch mennischlîchen list. Ironie in den Trevrizent-Szenen. ‚dramatisch‘ oder ‚sokratisch‘? In: Ironie, Polemik und Provokation. Hrsg. von Cora Dietl [u. a.]. Berlin/Boston 2014 (SIA 10), S. 73–84 [https://doi.org/10.1515/9783110343915], hier S. 82, geht davon aus, dass Trevrizent Parzival erkannt hat. Petrus W. Tax: Trevrizent. Die Verhüllungstechnik des Erzählers. In: Studien zur deutschen Literatur und Sprache des Mittelalters. Fs. für Hugo Moser. Hrsg. von Werner Besch [u. a.]. Berlin 1974, S. 119–134, hier S. 122 f., geht wiederum davon aus, Trevrizent meine, Lähelin würde vor ihm stehen, den er mit der Engelslüge vor Verzweiflung schützen und vom Gral ableiten wolle. 22 Dass Trevrizent, der als Autorität in Sachen Gralsburg gilt, zwar genau wissen sollte, dass einmal ein tumber man (473,13) beim Gral war, dann jedoch anders als Cundrie nichts von der sensationellen Nachricht wissen sollte, dass es sich dabei um den eigenen Neffen handelte, halte ich für fragwürdig. Dennoch ist es vor diesem Hintergrund merkwürdig, dass er überrascht reagiert, als Parzival das Frageversäumnis gesteht (neve, waz sagestu nuo? 488,21). Eventuell könnte man die Figurenperspektive solcherart rekonstruieren, dass Trevrizent viele Informationen zurückhält und seine Überraschung sehr berechnend vorspielt. Vgl. hierzu etwa Theiß (Anm. 21), S. 82.
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vrizent habe Parzival ableiten wollen, damit Anfortas schließlich erlöst wird, so ist diese rekonstruierte Figurenintention nicht ohne weiteres mit 798,27 vereinbar: ich het iuch gern da von genomn. Geht es hier darum, dass er gelogen hat, um Parzival die ungewisse Gralssuche zu ersparen? Oder wäre dieses ‚Ersparen‘ gänzlich von ich louc zu entkoppeln? Oder deutet gar in 798,23 (mich müet et iwer arbeit) das Wort et einen Neueinsatz an? Meint Trevrizent, letztlich sei alles gutgegangen, weil oder obwohl er gelogen hat? Herberichs versucht, diesen Vers zu integrieren: Wenn Trevrizent im XVI. Buch betont, dass er Parzival gerne die arbeit erspart hätte (ich het iuch gern da von genomn, 798,27), so meint er meines Erachtens damit nicht, dass er die Lüge mit dem Zweck ersonnen hat, Parzival die Mühsal des Kämpfens oder das Leiden an der Gottesferne zu ersparen. Die arbeit war die eine Hälfte des Preises. Schon beim Abschied von seinem Neffen im IX. Buch hatte der Eremit ihm arbeit (499,29) als eine Voraussetzung für die Vergebung seiner Sünden angekündigt. Stimmiger erscheint es also, dass der Eremit nicht nur einräumt, die Beschwernisse geahnt zu haben, welche die durchaus ungewisse Gralssuche kosten würde, und dass er seinem Bedauern Ausdruck gibt, dass er diese Beschwernisse seinem Neffen weder ersparen konnte noch durfte – zu dessen eigenem möglichen Glück sowie zum erhofften Wohl Anfortas’ und der Gralswelt: mich müet et iwer arbeit (798,23). (S. 67)
Zwar fügt sich diese Überlegung gut in eine plausible Rekonstruktion der Figurenperspektive von Trevrizent in Buch IX. Allerdings scheint in 798,27 doch sinngemäß zu stehen: „Ich hätte Euch das gern erspart“. Da steht nicht das, was der Rekonstruktion von Herberichs entspricht, also etwa „ich durfte es Euch nicht ersparen“, sondern gerade das Gegenteil. Eventuell könnte man ich het iuch gern da von genomn (798,27) auch auffassen im Sinn von ‚Ich hätte Euch gern von der Regel ausgenommen / davon weggenommen, dass es ungewohnt ist, dass man den Gral erstreiten kann‘ – nemen kann laut BMZ auch ‚rauben‘, ‚wegnehmen‘ oder ‚ausnehmen‘ heißen, allerdings handelte es sich dabei nicht gerade um ein besonders ökonomisches Verständnis.²³ Von dem Verständnis dieses Verses hängt ein Stück weit die Plausibilität von Herberichs Thesen ab: Wenn Trevrizent Parzival in Bezug auf die Chancen, den Gral zu erringen, belogen haben will, weil er ihm die Suche gern erspart hätte, kann nicht auch gleichzeitig gelten, dass Trevrizent ihm die Suche mit ungewissen Ausgang „weder ersparen konnte noch durfte“, da sie zu Anfortas’ Erlösung führen konnte.
23 Mittelhochdeutsches Wörterbuch von Benecke, Müller, Zarncke, digitalisierte Fassung im Wörterbuchnetz des Trier Center for Digital Humanities, Version 01/23, https://www.woerterbuch netz.de/BMZ, Bd. II/1, Sp. 361a–369.
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III Matthias Däumer: Paradoxien und der überfüllte Himmel Auch bei der Studie von Matthias Däumer habe ich Zweifel am Argumentationsweg. Zentral in den Überlegungen von Däumer ist die Spannung bzw. eine Paradoxie, die er in den Aussagen von Trevrizent zu den neutralen Engeln und der Erzählerrede im Kontext der dritten Kyot-Stelle sieht: er [Flegetânîs] jach, ez hiez ein dinc der grâl des namen las er sunder twâl inme gestirne, wie der hiez ‚ein schar in ûf der erden liez diu fuor ûf über die sterne hôch op die ir unschult wider zôch sît muoz sîn pflegn getouftiu fruht (454, 21–27).
Die schar identifiziert Däumer mit den neutralen Engeln – allerdings handelt es sich bei dieser Identifikation um eine Setzung; das Argument, der referierte FlegetanisBericht stehe „nur 17 Dreißiger vor Trevrizents Erläuterung der Neutralen Engel, war also aller Wahrscheinlichkeit nach Teil derselben Vortragseinheit“,²⁴ ließe sich ebenso gut umdrehen: Immerhin stehen etwa 500 Verse und eine reiche Fülle an anderen Textinformationen dazwischen. Auch wenn ein Bezug dieser Passage auf die neutralen Engel einigermaßen plausibel zu sein scheint, so lässt er sich doch nicht beweisen.²⁵ Eventuell darf man sogar in Frage stellen, ob die Formulierung über die sterne hôch tatsächlich im Sternenschrift-Kontext eines Andersgläubigen zwingend auf den christlichen Himmel zielen muss. Einen Widerspruch dieses Erzählerberichtes zu Trevrizents Aussage zur Verdammnis der Engel lässt sich dann konstruieren, wenn man das Wort op in 454,26 nicht als Frageeinleitung oder als konditionales ‚falls‘ auffasst, sondern wenn man mit Däumer übersetzt: „Weil die ihre Unschuld wieder heimzog, müssen ihn seitdem getaufte Menschen hüten.“ (S. 232) Auch wenn es meiner unten folgenden Argumentation ausgesprochen dienlich wäre, Däumer hier folgen zu können, bin ich doch skeptisch, ob sich op sinnvollerweise kausal übersetzen lässt: In den PWG-
24 Matthias Däumer: Die Paradoxie der unerlösten Erlösung. Überlegungen zu Wolframs Neutralen Engeln. In: Aktuelle Tendenzen der Artusforschung. Hrsg. von Brigitte Burrichter [u. a.]. Berlin/ Boston 2013 (SIA 9), S. 225–239 [https://doi.org/10.1515/9783110310795], hier S. 231. 25 Anders bereits Reither (Anm. 11), S. 42 f.Vgl. etwa auch Susanne Knaeble: Höfisches Erzählen von Gott. Funktion und narrative Entfaltung des Religiösen im ‚Parzival‘. Berlin/New York 2011 (TMP 23), S. 216; Herberichs (Anm. 3), S. 68 f., Anm. 102.
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§ 445–467 habe ich keinen Beleg dafür gefunden;²⁶ ob kommt demnach in Fragesätzen vor sowie in konditionaler, konzessiver Funktion und in der Funktion von daz – mit keiner dieser Varianten ließe sich eine faktische Aussage zum Aufstieg der schar konstruieren. Wenn die Passage auf die neutralen Engel bezogen ist, würde doch zumindest ein Spannungsverhältnis erkennbar: Zwei Stimmen, die in Buch IX das Schicksal der schar bzw. engel nicht als entschieden bzw. als unbekannt benennen, stehen der Widerruf-Position in Buch XVI gegenüber. Däumer konstatiert darüber hinaus eine „intratextuelle Paradoxie“ („Die Neutralen Engel sind erlöst. Die neutralen Engel sind verdammt.“ S. 233), die eine „Entscheidungsleistung des Rezipienten“ (ebd.) einfordere, die von einer Einschätzung der narrativen Hierarchie abhänge: Stellt man Trevrizent und Flegetanis als gleichrangige Quelle auf die gleiche „Autoritätsstufe“ (S. 234), so entstehe gar eine „unlösbare Paradoxie“ (ebd.). Während Däumer den Umstand, dass mit Flegetanis ein Heide als Quelle benannt ist, als „nicht pejorativ“ bezeichnet (S. 233), ließe sich doch einwenden, dass diese Quelle selbst vordergründig sofort diskreditiert wird (der an ein kalp / bette als ob ez wær sîn got. / wie mac der tievel selhen spot / gefüegen an sô wîser diet; 454,2–6), während der Umstand, dass Trevrizents Autorität eventuell dadurch limitiert sein könnte, dass er sehenden Auges gegen Gralsregeln verstoßen hat, zumindest nicht mit wertenden Äußerungen oder gar Erzählerspott kritisiert wird: Wenn Wolfram Flegetanis als seriöse Quelle konzipiert hätte, hätte er den Spott über die Kalbsanbetung leicht fortlassen können. Däumer qualifiziert Trevrizents Widerruf als Lüge (S. 230). Als Motiv für die Lüge wird die augustinische Surrogatstheorie vorgeschlagen: Wenn die neutralen Engel in den Himmel dürften, könnte „in den himmlischen Chören für den Menschen überhaupt kein Platz mehr“ sein (S. 237): Was also würde es bedeuten, wenn die Lücke im Himmelschor, für dessen Füllung der Mensch nach der Surrogatstheorie eigentlich erst geschaffen wurde, plötzlich nicht mehr existierte? Die ganze Schöpfung des Menschen wäre damit hinfällig und seine Erlösungsfähigkeit wie der Sinn seiner Existenz grundlegend in Frage gestellt. […] Mit seiner ersten Lüge wollte Trevrizent (laut Schirok) Parzival vom zwîvel abbringen, beim zweiten Mal alle anderen Figuren – und nicht zuletzt den Rezipienten. Denn wenn dieser von der Entrückung der Neutralen Engel in das zehnte Himmelgestühl erführe, so müsste ihm, um dessen moralische Besserung es dem höfischen Roman doch eigentlich geht, an der Aporie des überfüllten Himmels ‚die Seele sauer werden‘.“ (S. 238)
Dass man allerdings im christlichen Mittelalter massiv unter der Sorge gelitten hätte, eventuell wegen der neutralen Engel keinen Platz im potentiell übervölkerten 26 Hermann Paul: Mittelhochdeutsche Grammatik. Neu bearbeitet von Wiehl, Peter und Grosse, Siegfried. Tübingen 1989.
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Himmel zu haben, scheint doch recht selten Niederschlag in der Literatur gefunden zu haben;²⁷ einem solchen Schreckgespenst hätte Wolfram erst zu Prominenz verhelfen müssen, um dem vermeintlichen Spuk anschließend ein Ende bereiten zu können. Dass Getaufte, denen die Sünden vergeben wurden, in dem Himmel kommen, ist doch ein recht zentraler Grundpfeiler christlicher Theologie. Nach einem anderen Argumentationsweg werde ich im Weiteren ähnlich wie Däumer die These vertreten, dass der Widerruf auch als unzuverlässiges Erzählen aufgefasst werden könnte. Anknüpfen an Däumer würde ich jedoch nur insofern, als ich ebenfalls eine zumindest mögliche Spannung zwischen dem Widerruf und den ähnlich gelagerten Informationen von Flegetanis und Trevrizent in Buch IX sehe. Zentral für meine Argumentation sind jedoch Elemente einer Poetik und einer Weltauffassung, die im Parzival zum Ausdruck gelangt, die von einer Kritik an Autorität und Autoritäten geprägt sind. In diesem Punkt kann man bspw. an Cornelia Schu anknüpfen, die zwar – wohl etwas zu harmonisierend – Schirok folgt;²⁸ gleichzeitig sieht sie jedoch Trevrizents Lüge „im Kontext einer Relativierung von Autorität, die den ganzen Roman auszeichnet und die bereits im Prolog […] einsetzt.“²⁹ Schu plädiert dafür, Trevrizent nicht mehr als überragende Autorität, sondern „als fehlbaren Menschen mit menschlichen Zügen [zu] sehen, dessen Autorität dadurch auch eingeschränkt wird“ (S. 314), dessen Kompetenz zur Lage-Beurteilung begrenzt ist (S. 315).
IV Das Bogengleichnis als Schlüssel? Wenn man als Autor die weltanschauliche Position vermitteln möchte, dass Autorität und Autoritäten stets situativ hinterfragt werden sollten, steht man vor dem Paradoxon, dass es in Widerspruch zu dieser Position stünde, eine solche Lehre mit Hilfe autoritativer Erzählerdidaxe an den Rezipienten zu adressieren. Eher möglich wäre ein solches Vorhaben, wenn man das Scheitern von autoritativen Vorgaben narrativ vorführt und auf alternative Wege der literarischen Vermittlung setzt.
27 Vgl. Ulrich Ernst: Neue Perspektiven zum ‚Parzival‘ Wolframs von Eschenbach. Angelologie im Spannungsfeld von Origenismus und Orthodoxie. In: Das Mittelalter 11 (2006), S. 86–109, passim. Dass diese Fragen in der „frömmigkeits- wie auch theologiegeschichtlichen Forschung kaum eine Rolle“ spielen (S. 91), wäre wohl nicht der Fall, wenn das Thema im Mittelalter selbst eine erhebliche Rolle gespielt hätte. 28 Schu (Anm. 7), insbes. S. 317–320. 29 Schu (Anm. 7), S. 320.
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Interessant sind in diesem Kontext die Überlegungen von Herberichs, die das Bogengleichnis in Hinblick auf Trevrizents didaktisches Konzept analysiert.³⁰ In Trevrizent sieht Herberichs eine Überblendung der Erzählinstanz, etwa hinsichtlich der Funktion der Informationsvergabe zum Gral (S. 47). Deshalb sei das Bogengleichnis auch auf Trevrizents Geschichte von den neutralen Engeln und auf den Widerruf abbildbar: So, wie der Rezipient Informationen zum Gral nicht schon in Buch V erhält, so würde auch Trevrizent Parzival nicht direkt zum Gral schicken, sondern er würde ihn auf Umwegen oder Irrwegen dorthin dirigieren – das ableiten in ich louc durh ableitens list versteht Herberichs in diesem Sinn (S. 64). Dass der Gral einerseits erjagt werden muss und andererseits trotzdem zugleich die Notwendigkeit der Gnade besteht, sei paradox, deshalb könne es keinen einfachen Ratschlag geben, der einfach, direkt und linear erzählt werden könnte: so ein Verfahren nenne das Bogengleichnis sleht, Wolfram ziehe das krumbe vor (S. 65). Dass Wolfram zunächst im Sinne des Bogengleichnisses zutreffende Informationen rund um die Gralsgesellschaft verweigert, wohl auch, um Lernprozess des Rezipienten anzustoßen, ist beim Frageversäumnis ohnehin evident: Die Fokalisierung auf Parzival, der sich um Gurnemanz’ Rat sorgt, schafft Verständnis für sein Schweigen (und kann als Sympathiesteuerungsverfahren betrachtet werden, das gegen einen allzu abrupten Sympathieentzug positioniert sein könnte), auch wenn sowohl Parzival als auch der Rezipient später erkennen dürfen, dass das Schweigen katastrophal falsch war. Sieht man in Trevrizents Rat einen neuerlichen Einsatz eines Erzählkreises, der dem Bogengleichnis folgt, könnte man analog überlegen, dass es nicht die gleiche Leistung für Parzival wäre, wenn er wissen würden, dass Anfortas schließlich ohnehin erlöst wird – eben deshalb, weil es dann nicht ungewiss wäre, wenn man davon ausgehen dürfte, dass es eine Lohnautomatik gibt; eine viel größere Herausforderung besteht darin, sich mit ungewissen Erfolgsaussichten weiterhin um die Erlösung von Anfortas zu bemühen.³¹ Darin darf man wohl auch eine Absage an Chrétiens Kirchgang-Automatik vermuten, die die Umkehr und das Weiterkämpfen recht mechanisch löst. Eventuell steckt darin sogar eine ganz allgemeine Lebenslehre: Man soll das Gute tun, ohne Lohngewissheit zu haben.
30 Herberichs (Anm. 3), S. 41–47. 31 Ähnlich Herberichs (Anm. 3), S. 65 f.
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V Axiologisch unzuverlässige Erzähleräußerungen In einer ähnlichen Weise, wie Herberichs den Sinn der Engelslüge als eine Irreführung in guter Absicht interpretiert, die erst am Ende verständlich wird, habe ich etwa bei Jeschute und Orgeluse eine sich selbstentlarvende Erzähltechnik am Werk gesehen:³² Wolfram gibt sich bei Jeschute und Orgeluse zuerst recht chauvinistisch und lanciert misogyne Äußerungen mit Erzählerstimme. Später wird durch die Informationsvergabe über das Leid der Figur klargestellt, dass Jeschute und Orgeluse ein derart großes Leid zu tragen haben und Mitleid verdienen, so dass die misogynen Kommentare als ungerecht und deplatziert entlarvt werden. Das erste Urteil, das eine autoritative Instanz – der Erzähler! – nahelegt, nämlich, dass Jeschute und Orgeluse geeignete Objekte wären, um verspottet und Opfer sexualisierter Gewalt zu werden, ist also ein falsches Urteil:³³ Der Rezipient kann in Folge der späteren Leiddarstellung die Erkenntnis gewinnen, dass eine hämische Reaktion zu Jeschutes oder Orgeluses Leid unangebracht ist, weil er vorerst nicht ausreichende Informationen erhalten hat, um sich eine situativ gerechte Meinung bilden zu können.³⁴ Das Vorenthalten von Informationen im Sinne des Bogen-
32 Friedrich Michael Dimpel: er solts et hân gediuhet nider. Wertende Erzähleräußerung in der Orgeluse-Handlung von Wolframs Parzival. In: Euphorion 105 (2011), S. 251–281, passim. 33 Die Funktionsweise des Erzählverfahrens sei an einem Beispiel erläutert: Ein Kind kommt neu in eine Gruppe. Weil es im ersten Wortbeitrag stottert und ungewöhnliche Laute hervorbringt, wird es von anderen Kindern ausgelacht. Nach der Erklärung, dass diese kommunikativen Besonderheiten auf einer Behinderung beruhen, schämen sich die lachenden Kinder und reflektieren ihr Verhalten. 34 Sonja Glauch: Zum Problem des unzuverlässigen Erzählers im Mittelalter. In: Historische Narratologie. Hrsg. von Eva von Contzen. Oldenburg 2019, S. 79–124 [https://doi.org/10.25619/BmE2019231], hier S. 99, hat eingewandt, „Machismo-Phantasien des Erzählers“ seien „nichts, was diesen eindeutig in seiner Zurechnungsfähigkeit hätte diskreditieren müssen.“ Glauch schlägt vor, hier nicht von unzuverlässigem, sondern von uneindeutigem Erzählen zu sprechen. Tom Kindt: Unzuverlässiges Erzählen und literarische Moderne. Eine Untersuchung der Romane von Ernst Weiß. Tübingen 2008 (Studien zur deutschen Literatur 184), hier S. 48–51, unterscheidet mimetische und axiologische Unzuverlässigkeit. Während bei mimetisch unzuverlässigem Erzählen die Unzuverlässigkeit oft aufgrund eindeutig widersprüchlicher Textinformationen auch auf deskriptiver Ebene konstatiert werden kann, ist es bei axiologischen Fragestellungen oft nicht möglich, zweifelsfrei zu eruieren, wie es um die evaluative Struktur bestellt ist, so dass man solche Fälle auch als uneindeutig beschreiben kann – in der gleichen Weise, wie man auch bei anderen Typen von Aussagen über Texte, die nicht auf Deskription, sondern auf Interpretation beruhen, von Uneindeutigkeit sprechen kann. Während es ambivalente (bzw. uneindeutige) Konstellationen gibt, denen man zuerkennen kann, dass beispielsweise zwei verschiedene Möglichkeiten, Inferenzen zu bilden, gleichberechtigt im Text angelegt sein können, kann das Sprechen über axiologische Unzuverlässigkeit dort vorgezogen werden, wo sich eine Hierarchie innerhalb einer multiperspektivischen Darstellung ausmachen lässt. So scheint mir bei Jeschute und Orgeluse die evaluative Struktur dadurch dominiert zu sein,
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gleichnisses wird damit zur Bedingung für einen Erkenntnisprozess, der bei linearer vollständiger Informationsvergabe nicht möglich wäre. Die Reihenfolge der Informationsvergabe ist also ausgesprochen entscheidend – mit diesen Beobachtungen gelingt es mir auch, Walter Haugs Bemerkungen zum Erec-Prolog bei Chrétien besser zu verstehen, der die Sinnkonstitution in einem wohlgeordneten Zusammenhang (molt bele conjointure) verortet hat.³⁵ Auch wenn Erzählordnung und Struktur nicht zwingend als zentrales Merkmal für fiktionales Erzählen rubriziert werden müssen,³⁶ können sie doch mitunter durchaus mit literarischer Qualität in Verbindung stehen: Struktur oder sogar nur die Erzählreihenfolge können also entscheidend zum Erkenntnisprozess des Rezipienten beitragen. Mit diesem Verfahren einer sich selbstentlarvenden Erzähltechnik nimmt Wolfram in Kauf, nicht nur Autoritätsfiguren wie Trevrizent eine Lüge einzuschreiben, sondern er demonstriert, dass selbst Erzählerrede zumindest bei Wertungsfragen nicht verlässlich sein muss, sondern dass der Rezipient sich selbst situativ ein Urteil bilden muss – in der gleichen Weise, wie man ex post erkennen kann, dass Parzival sich vor dem Gral ein eigenes Urteil hätte bilden müssen, anstatt Autoritäten blind zu folgen. Wollte man tatsächlich Trevrizent als Überblendung der Erzählerinstanz³⁷ beschreiben, dann würde man wohl weniger nur die sonst unterstellte Autorität der Erzählinstanz auf die Figur übertragen dürfen: Vielmehr müsste man dann umgekehrt die Fehlbarkeit von belehrenden Autoritäten auch auf die Erzählerebene übertragen und Erzählinstanz würde selbst als potentiell fehlbare Instanz kontaminiert, weil sich Trevrizent selbst (495,7–30) trotz des Gral-Verbotes in jüngeren Jahren in den Dienst einer Dame begeben und für sie gekämpft hat. Er hat also bei dem gleichen Fehlertyp versagt, der bei Anfortas zur Verwundung geführt hat. Die Brüder haben damit den Grundpfeiler dafür gelegt, dass Parzival überhaupt ein
dass das Leid von Jeschute und Orgeluse derart ausführlich zur Sprache kommt, so dass ein eventuelles Evozieren von „schenkelklopfende[r] Zustimmung“ (Glauch, ebd.) überschrieben und korrigiert wird – ähnlich, wie im Beispiel der vorausgehenden Fußnote das Verlachen von Behinderten durch das Einspielen von relevanten Informationen korrigiert wird. Ein Spannungsverhältnis zwischen den misogynen Erzähleräußerungen und der folgenden Leiddarstellung wird man auf jeden Fall konstatieren dürfen; die abwertende Komponente, die dem Spott über Jeschute und Orgeluse eigen ist, lässt sich als axiologisch unzuverlässig beschreiben, auch wenn damit keine Tatsachenfeststellung, sondern eine – wie ich meine: plausible – interpretative Aussage getroffen ist. 35 Walter Haug: Literaturtheorie im deutschen Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts. Darmstadt 1985 (Germanistische Einführungen), S. 100–105. 36 Vgl. Sonja Glauch: An der Schwelle zur Literatur. Elemente einer Poetik des höfischen Erzählens. Heidelberg 2009 (Studien zur historischen Poetik 1), S. 153. 37 So Herberichs (Anm. 3), S. 47.
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Problem im Gralskontext bekommen konnte – und das, obwohl sie die Regeln des Grals kannten.³⁸ Ergänzen darf man den Hinweis von Cornelia Schu, dass Trevrizents Autorität auch dadurch eingeschränkt wird, weil er berichtet, Gahmuret angelogen zu haben:³⁹ für dise rede ich dicke swuor manegen ungestabten eit. dô er mich sô vil an gestreit, verholn ichz im dô sagte; des er freude vil bejagte. (498,3–6)
Wenn man davon ausgehen darf, dass Trevrizent mit dem ungestabten eit zunächst abgestritten hat, Herzeloydes Bruder zu sein,⁴⁰ würde sich Trevrizent auch hier bereits als unzuverlässige Informationsquelle erweisen. Gahmuret aber hat sich von Trevrizents Worten nicht täuschen lassen und gezeigt, dass man Aussagen, selbst wenn sie durch Eide autorisiert sind, nicht unbedingt beachten muss, wenn sie dem widersprechen, was situativ offensichtlich richtig ist.⁴¹ Das Befolgen von Lehrmeinungen wird schon früh durch die Erzählung selbst problematisiert; die Ratschläge der Mutter führen bei Jeschute zu Leid, Gurnemanz’ Rat führt dazu, dass Anfortas unerlöst bleibt. Die weltanschauliche Kritik an Au-
38 So auch Schu (Anm. 7), S. 312. 39 Schu (Anm. 7), S. 313 f. 40 So etwa die Übersetzung von Knecht (Anm. 2) sowie der Kommentar zu 498,2 f. in Eberhard Nellmann: Kommentar. In: Wolfram von Eschenbach: Parzival. Nach der Ausgabe Karl Lachmanns, revidiert und kommentiert von Eberhard Nellmann. Übertr. von Dieter Kühn. Frankfurt a. M. 1994 (Bibliothek des Mittelalters 8; Bibliothek deutscher Klassiker 110). Vgl. weiter Theiß (Anm. 21), S. 79. Allerdings wird der Bezug von für dise rede auf die Verwandtschaft zu Herzeloyde nur nahegelegt. 41 Auch in einem anderen Punkt fällt auf, dass Trevrizents Figurenperspektive begrenzt ist: Recht beherzt stuft er neben der Tötung Ithers und dem Gralsversagen auch den Tod von Parzivals Mutter als Sünde ein, von dem Parzival nichts weiß (501,4 f.; 499,20–22). Das Nichtwissen von Parzival über den Tod der Mutter (476,14–22) entspricht dem Nichtwissen von Trevrizent darüber, dass Parzival immerhin nicht aus niederen Motiven beim Gral geschwiegen hat, sondern in der Meinung, sich vorbildlich an Gurnemanz’ Rat zu halten. Ob die Einstufung des Frageversäumnis als Sünde anders ausgefallen wäre, wenn Trevrizent von Gurnemanz’ Rat gewusst hätte, ist für die hier verfolgte Fragestellung weniger wichtig als der Umstand, dass Trevrizent ebenso aus einer limitierten menschlichen Figurenperspektive ohne Kenntnis der relevanten Informationen heraus urteilt wie Parzival, als dieser sich zum Schweigen entschließt: Die Distanz zum Informationsstand des Rezipienten ist doch ganz erheblich. Skeptisch zur Einstufung der Sünden ist auch Schu (Anm. 7), S. 320. Auch Theiß (Anm. 21), S. 77, hat das Bild des alten, wissenden Einsiedlers in Frage gestellt: Er bezeichnet sich bei seinem Treffen mit Gahmuret noch als bartlos und ist offenbar jünger als Parzivals Vater; in seiner Jugend sei er ein „gutaussehender Draufgänger“ gewesen (S. 78).
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toritäten ist auf mehreren Ebenen angesiedelt: Sie steht beim Frageversäumnis im Zentrum, das situativ adäquate Übergehen von autoritativen Aussagen ist das Kernproblem des jungen Parzivals. Weiterhin wird diese Kritik sichtbar auf der Ebene von Erzählerwertungen bei der sich-selbst-entlarvenden Erzähltechnik, und auch auf der Ebene von einzelnen Formulierungen: Elisabeth Schmid sieht in der Veränderung der Erlösungsfrage von hêrre, wie stêt iwer nôt? (484,27) zu oheim, waz wirret dier? (795,29) „eine Spur des Aufbegehrens gegen die förmliche Autorität, deren Verinnerlichung sich beim ersten Besuch auf der Gralsburg verhängnisvoll auswirken sollte.“⁴² Wenn der Parzival auf verschiedenen Ebenen lehrt, dass man Autoritäten und Belehrungen nicht vertrauen darf, sondern selbstbewusst ein eigenes Urteil finden muss, so hat zumindest Parzival später den Mut, selbst zu entscheiden: Er ignoriert die Vorschrift von Gawan, dass er nicht gegen Gramoflanz kämpfen dürfe (701,22–30), er tut also das situativ Richtige, obwohl man es ihm verboten hat.
VI Exkurs: Parzival als Marionette? Parzival wäre nach dieser Lesart also durchaus als eine Figur konzipiert, die plausibel auf ihre Erfahrungswelt reagiert. Dagegen nimmt Florian Kragl eine weniger positive Perspektive zu Parzival ein:⁴³ Parzival folge, so Kragl, in der Gralsburg dem Ratschlag von Gurnemanz unreflektiert wie eine „simple Maschine“ bzw. „Marionette“ (S. 185), während sich Chrétiens Perceval nach einer „figureninternen Reflexion“ (S. 184) gegen die Frage entschieden habe. Freilich wäre es ein Kampf gegen Windmühlen wie auch gegen Wolfram, wenn man die programmatische tumpheit des jungen Parzival in Abrede stellen wollte. In der Tat wird bei Chrétien an drei Stellen vorgeführt, wie Perceval sich den Rat seines Lehrers vor Augen führt und sich deswegen und weil er fürchtet, man könne eine Frage für unschicklich halten, gegen die Frage entscheidet. Auch wenn Wolfram diese drei Passagen zu einer Innensichtpassage zusammengefasst hat (239,8–17), kann ich nicht erkennen, dass Perceval weitere inhaltliche Punkte abwägen würde; es bleibt im Wesentlichen dabei, dass er dreimal an den Rat denkt. Bei Wolfram scheint mir der Verzicht auf eine breite Innenweltdarstellung weniger dazu zu dienen, dass „Parzival als denkende Figur […] kaltgestellt“ wird (Kragl, S. 184), vielmehr könnte es sich um das 42 Elisabeth Schmid: Wolfram von Eschenbach: Parzival. In: Interpretationen: Mittelhochdeutsche Romane und Heldenepen. Hrsg. von Horst Brunner. Stuttgart 1993 (RUB 8914), S. 173–195, hier S. 192. 43 Florian Kragl: Paradoxon und Pointe. Poetiken des Widerspruchs bei Chrétien und Wolfram. In: Poetiken des Widerspruchs in vormoderner Erzählliteratur. Hrsg. von Elisabeth Lienert. Wiesbaden 2019 (Contradiction Studies), S. 155–199.
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Resultat einer Erzählstrategie handeln, wie man sie um 1200 öfters antreffen kann – man denke etwa daran, dass Hartmann eine Auskunft zu den Beweggründen und Zielen von Erec beim Aufbruch nach der Kemenatenszene verweigert, obschon in seinem Inneren doch einiges vorgehen muss. Ähnlich wird die zentrale Entscheidung Parzivals, nach der Verfluchung durch Cundrie nicht nach Pelrapeire zurückzukehren, nicht durch einen inneren Monolog etc. erläutert, was aber doch nicht bedeuten muss, dass Parzival nicht oder unreflektiert auf die Ereignisse reagieren würde. Trotz einer Erzählpolitik, die nur selektiv Einblicke ins Figureninnere gibt, kann eine komplexe Figurenzeichnung dadurch realisiert werden, indem Figurenreden, Handlungen und Handlungsumstände miteinander verzahnt werden; wäre Innenweltdarstellung das einzige Kriterium für psychologische Komplexität, so müsste man diese der Gruppe der extern fokalisierten Romane der Moderne und vielen Filmen gänzlich absprechen. Parzival hat die Ratschläge seiner Mutter tatsächlich präzise abgearbeitet (so auch Kragl, S. 178). Doch er hat dabei durchaus nicht marionettenhaft lernen können, dass das Befolgen des RingraubRates etwa beim Tausch von Jeschutes Schmuck gegen das Nachtlager beim vilân zumindest aus seiner damaligen und noch recht limitierten Figurenperspektive Erfolg gebracht hat. Auch das Befolgen von Gurnemanz’ Ratschlägen wird positiv spürbar: Bei seiner Ankunft in Pelrapeire denkt Parzival explizit über das Schweigegebot nach (188,14–22) – zudem weit ausführlicher als Perceval; vielleicht ist deshalb in der Gralsburg eine dritte und vierte Wiederholung bei Wolfram überflüssig. Sein Schweigen jedenfalls wird in Pelrapeire nicht zum Problem, vielmehr führt eine lineare Kette vom Schweigen zum Gewinn von Frau und Land, so dass das Beachten von Ratschlägen nicht nur im Allgemeinen, sondern dass auch konkret das Beachten des Schweigegebotes ihm zunächst eine positive Erfahrung einbringt. Es ist schlicht kein Anlass gegeben, die Ratschläge zu hinterfragen. Selbst so kleine Details wie das Abwaschen des Rüstungsrostes (Gurnemanz’ Rat dazu in 172,1–5; des ist nach îser râme zît) werden penibel und rekurrent aufgegriffen: In Pelrapeire und in der Gralsburg reagiert man positiv auf die Schönheit, die unter dem râme (186,2 und 228,2) zum Vorschein kommt und bietet ihm darauf die Vorstellung von Condwir amurs bzw. den Mantel von Repanse an – auch hier kann Parzival kaum anderes schlussfolgern, als dass ihm das Befolgen von Ratschlägen bestens dienlich ist. Gut viereinhalb Jahre später hat sich die Figur deutlich verändert: Parzival entscheidet sich im Vorfeld des Gramoflanz-Kampfes dazu, das zu tun, was seinem Freund Gawan nach seinem eigenen Ermessen tatsächlich nützt – auch wenn Gawan ihm den Kampf untersagt hat.
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VII Zweifel als Lernziel – ein unzutreffender Widerruf? Zurück zu Trevrizent: Martin Schuhmann unterstreicht den großen Abstand zwischen der Engelsaussage und dem Widerruf: Aufgrund des großen Abstandes von 9.600 Versen wird die „behauptete Unwahrheit in der Wiederholung erst präsent gemacht. […] Ein Widerruf über so große Strecken und überhaupt jeder Widerruf in einem literarischen Werk ist für den Hörer in erster Linie kein Widerruf, sondern ein Aufmerksamkeitssignal“.⁴⁴ Auch Schuhmann sieht hier die Seriosität von Autoritäten in Frage gestellt: „Zudem zeigt Trevrizents Widerruf, dass es keine bevorzugte Perspektive mehr gibt, keine Figur, die immer Recht hat. Die Wahrheit – wenn es sie gibt – liegt im Prozess, im Erzählen.“⁴⁵
44 Schuhmann (Anm. 12), S. 177. 45 Schuhmann (Anm. 12), S. 188. Schuhmann (S. 187 f.) sieht im Widerruf finale und kausale Logiken an ihren Grenzen geführt: „Die finale Logik der Berufung zum Gral verunklart er durch verschiedene Perspektiven in Figurenrede, die Kausalität in der Berufung einfordern oder behaupten.“ Die Probleme seien am Ende nicht gelöst, sondern nur „stillgestellt. Um dies anzuzeigen, steht der Widerruf und stehen die verschiedenen Perspektiven auf die Erwählung, die die finale Logik anzweifeln.“ (S. 188) Die Probleme, die Schuhmann hier sieht, liegen eventuell auch darin begründet, dass die Dichotomie ‚kausal‘–‚final‘ selbst problematisch ist, wenn man Kausalität als engen Begriff (A verursacht B) auffasst, wo doch Multikausalität, ermöglichende Faktoren, intentionales Handeln etc. oft eine nur lineare Entwicklung als plausibel von vorn motiviert ausgeben; vgl. Friedrich Michael Dimpel: Finalität versus Linearität statt Finalität versus Kausalität:Verknüpfungstechniken im König Rother. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 255 (2018), S. 247– 271, hier S. 248–261. Dass Parzival in Trevrizents Augen den Gral erstrîten (798,26) habe, blendet andere Faktoren aus, die auch zu einer linearen Wahrnehmung beitragen können. Linear plausibel ist, dass Parzival nach der Verfluchung durch Cundrie darauf verzichtet, nachhause zu Condwir amurs zu reiten; er erlegt sich stattdessen ein Leben in Distanz zur Geliebten auf und entsagt seinen königlichen Privilegien. Vor allem aber sucht er die Nähe zu Anfortas – etwa nach der dritten Sigune-Begegnung und auch dadurch, dass er besiegte Gegner wie Vergulaht (424,22) zur Gralssuche verpflichtet. Die eigentliche Leistung Parzivals besteht nach diesen Überlegungen nicht im Kampferfolg, sondern darin, von dem Bemühen um Anfortas nicht abzulassen und zu seiner Verantwortung zu stehen. Während er nach der Verfluchung durch Cundrie noch auf Gurnemanz’ Rat als Ausrede verweist, erwähnt er Trevrizent gegenüber Gurnemanz mit keinem Wort; stattdessen steigt er dort mit dem Worten vom Pferd ich bin ein man der sünde hât. (456,30) Auch wenn Parzival nach allem, was man ihm gesagt hat, Grund hat, ausgesprochen pessimistisch zu sein, Anfortas erlösen zu können, tut er doch das einzige, was ihm mit Blick auf dieses Ziel überhaupt möglich ist. Will man Trevrizents Aussage zum unbekannten Schicksal der neutralen Engel als Bestärkung in seinem Erlösungsstreben auffassen, so könnte man Trevrizent vielleicht eine existentialistische Haltung zusprechen (ein Hinweis auf Camus in etwas anderem Kontext findet sich bei Däumer [Anm. 24], S. 226 und 238): Parzival möge das Richtige tun – in der Hoffnung, dass er nicht zwingend
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Eine Grundhaltung des Zweifelns dürfte als Lernziel des Parzival vorstellbar sein: Der Rezipient hat erfahren, dass Autoritäten wie Trevrizent lügen können – Däumer zitiert das Sprichwort „Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht…“⁴⁶. Wird seine Glaubwürdigkeit damit grundsätzlich in Zweifel gezogen, so könnte ebenso die Selbstbezichtigung der Lüge unzutreffend sein – bei der Selbstbezichtigung handelt es sich um eine zweifelhafte Aussage, die weniger an Parzival adressiert sein könnte, dem es mittlerweile ja gegeben war, Anfortas erlösen zu dürfen, sondern eher an den Rezipienten, quasi wie ein ‚Schachtelmännchen‘, das den Rezipienten aufschrecken soll. Sollte tatsächlich der neutrale Engelschor in die Hölle fahren, obwohl im Prolog der Elsternfarbige gefeiert wird und obwohl das Bild eines vergebungsbereiten Gottes gezeichnet wird? Verweist nicht die Lügenbehauptung vor allem auf sich selbst und fordert einen mündigen Rezipienten ein? Selbst im direkten Umkreis des Widerrufs finden sich weitere Widersprüche: Kurz vor dem Widerruf hält Trevrizent noch an der Unergründlichkeit Gottes im Sinne negativer Theologie fest: dô sprach er„got vil tougen hât. / wer gesaz ie an sînen rât, / ode wer weiz ende sîner kraft?“ (797,23–25) Darauf folgen dezidierte Aussagen über das definitive Schicksal der Engel, obschon dieses Wissen weder Figuren noch Rezipienten zugänglich ist und auch nicht von ihnen nachgeprüft werden kann.⁴⁷ Weiterhin mutet es recht unvereinbar an, dass Trevrizent in 798,3 angibt, Parzival habe Gott zu einer Änderung seiner Haltung veranlasst (ab got erzürnet hât), während er beim Engel-Widerruf recht pauschal betont, got ist stæt (798,16), Gott sei also konsequent und würde seine Haltung nicht ändern: damit begründet er das Engelsschicksal.⁴⁸ Wenn man Trevrizents Figurenrede beim Widerruf als unzuverlässig einstufen möchte,⁴⁹ wird es interessant, zu überlegen, wie diese Unzuverlässigkeit sich in
Sisyphos sein muss. Eine solche Haltung mag nicht im Sinne einer kausalen Logik die Erlösung verursachen, aber doch ein linear plausibles Verhalten sein, das als Voraussetzung für die Gnade Gottes eingestuft werden könnte: Parzival entscheidet sich selbst dafür, das ihm Mögliche zu tun – längst vor Buch IX. Vgl. zur Gnade im Kontext von deditio-Prozessen Stephan Fuchs-Joliet: Von der Gnade erzählen. Parzival, Gottes hulde und die Gesetze des Grals Sprache. In: Frühmittelalterliche Studien 41 (2007), S. 435–446, passim. 46 Däumer (Anm. 24), S. 227. 47 Für den Hinweis auf diesen Widerspruch im Erlanger Oberseminar im Sommersemester 2021 danke ich Sonja Glauch. 48 Beatrice Trînca danke ich für den Hinweis auf diesen weiteren Widerspruch. Auf einen ähnlichen Widerspruch weist Däumer (Anm. 24), S. 228, hin: „Warum wurden die Neutralen Engel, die ja analog zu Parzival sündigten, verdammt, während ihr menschliches Analogon Gralskönig wird? Von göttlicher Gerechtigkeit ist da ja wohl nicht zu sprechen.“ Zu Gottes stæte ebd., S. 230. 49 Zum Konzept vgl. Ansgar Nünning: Unreliable Narration zur Einführung. Grundzüge einer kognitiv-narratologischen Theorie und Analyse unglaubwürdigen Erzählens. In: Unreliable Narration.
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Bezug auf die Unterscheidung von axiologischer und mimetischer Unzuverlässigkeit verhält – letztere ist im Mittelalter selten.⁵⁰ Beim Widerruf handelt es sich nicht im Sinne mimetischer Unzuverlässigkeit um die Behauptung falscher Tatsachen bei der narrativen Informationsvergabe, sondern um eine Meinung zu einem kirchlichen Dogma, die mit einer Bewertung einhergeht (gut/böse homolog zu erlöst/verloren), die also dem axiologischen Bereich nähersteht als dem mimetischen Bereich. Bei dem Verkünden von Lehrmeinungen steht Trevrizent in einer Reihe mit der Mutter und Gurnemanz, die bei ihren Ratschlägen nicht die Kompetenz zu situativ klugem Handeln vermittelt haben, sondern Dogmen. Aus einer Warte, die im Parzival auch ein Lehrstück gegen Lehrmeinungen sieht, kann man womöglich nicht die Aussage zum unbekannten Schicksal der neutralen Engel, sondern den Widerruf, die Engel wären definitiv verloren, als unzutreffend bewerten. Schon Wapnewski hat die Position vertreten, dass sich der Widerruf fragwürdig ausnehme.⁵¹ Zwar mag Wapnewskis Folgerung, die Athetese von 798 (S. 172 f.), unplausibel sein. Doch im Buch IX betont Wolfram den Vergebungswillen Gottes; zudem stellt der Parzivalprolog nach meinem Verständnis in Aussicht, nicht nur von durchweg guten oder schlechten Figuren erzählen zu wollen, sondern gerade von elsternfarbigen, die sowohl am Himmel als auch an Hölle einen Anteil haben und die anders als der gänzlich Schwarze gerade nicht verloren sind.⁵² Der Zweifel, der am Beginn des Parzival als Herausforderung für die Seele beschrieben wird (1,2), wird gerade mit dem Elsterfarbigen, der auch am Himmel Anteil hat, verbunden; er ist nicht identisch mit dem unstæte[n] geselle[n] (1,10), er führt nicht wie valsch geselleclîcher muot zum hellefiure (2,17 f.). Wenn nun die Engel, die in der Mitte zwischen den treuen Engeln und Luzifers Chor stehen, gänzlich verloren wären, würde damit auch ein Widerruf der Prologformulierung
Studien zur Theorie und Praxis unglaubwürdigen Erzählens in der englischsprachigen Literatur. Hrsg. von Ansgar Nünning, Carola Surkamp, Bruno Zerweck. Trier 1998, S. 3–39. Rainer Warning: Narrative Hybriden. Mittelalterliches Erzählen im Spannungsfeld von Mythos und Kerygma (Der arme Heinrich, Parzival). In: Präsenz des Mythos. Konfigurationen einer Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von Udo Friedrich, Bruno Quast. Berlin/New York 2004 (TMP 2), S. 19–33, hier S. 30 f., bezeichnet Wolfram als einen „höchst unzuverlässig[en]“ Erzähler. Von der Beglaubigung des Speisewunders, das Wolfram nicht auf seinen Eid, sondern auf den des Rezipienten nimmt, schlägt Warning einen Bogen zu den neutralen Engeln und Trevrizents Widerruf, der durch das „erzählerische Spiel mit der Lüge“ vorbereitet sei. 50 Vgl. Kindt (Anm. 31), S. 48–51. 51 Wapnewski (Anm. 18), insbesondere S. 164–166. Auch Heino Gehrts: abe erzürnen, das Bindewort ob. Zwei Wolframfragen. In: ZfdPh 79 (1960), S. 291–301, hier S. 297, bezeichnet 798 als „unharmonische[n] Einschub“, der „auf theologische Einrede hin abgefaßt wurde.“ 52 Vgl. Friedrich Michael Dimpel: daz safer ime golde. Der ‚Parzival‘-Prolog zwischen Wiedererzählen und Anderserzählen. In: ZfdA 144 (2015), S. 294–324, hier S. 305–307.
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der mac dennoch wesen geil: / wand an im sint beidiu teil, / des himels und der helle (1,7–9) einhergehen. Zweifel ist letztlich das Konzept, das Parzival nicht qua Lehrsatz, sondern durch Lebenserfahrung lernen darf: Zweifel gerade an Lehrsätzen und pauschalen Statements.⁵³ Parzival muss selbst Kompromisse ausloten zwischen abstrakten Lehrmeinungen und den Anforderungen, die situative Konstellationen notwendig machen. Dem gegenüber macht sich Trevrizents Widerruf recht überraschend frei von solcher Erkenntnisskepsis wie auch von menschlichen Wissensschranken.⁵⁴ Er schlüpft nun ganz kompromisslos in die Rolle des Vertreters der einen reinen Lehre: Die Aussage über die neutralen Engel im Buch IX – dass Trevrizent nicht wisse, ob sie Gnade gefunden haben – ist der Typus von Aussagen, der Menschen über eine solche Frage überhaupt nur möglich ist; darüber hinaus kann der Mensch nur glauben. In 798,18 behauptet er nun, er hätte die Engel früher als erlöst bezeichnet (die ich iu ze hulden nante, s. o.): Bereits die Aussage über das, was er früher gesagt habe, ist unzutreffend, er hatte in Buch IX nur sein Nichtwissen in dieser Angelegenheit ausgestellt.⁵⁵ Die These, dass nicht die erste Engelsaussage, sondern dass der Widerruf selbst unzutreffend sein könnte, hat einen Bereich zum Gegenstand, bei dem interpretative Aussagen nur bis zu einem gewissen Grad plausibilisiert werden können. Gerade weil Wolfram keine Einblicke in Trevrizents Gedankenwelt gewährt, lässt sich über seine Intentionen und über das, was die Figur für wahr oder falsch halten könnte, lediglich spekulieren. Nur auf dem Weg der Interpretation, nicht aber im Sinne von unanfechtbaren Schlussfolgerungen sind Aussagen möglich, dass der Widerruf zumindest in einem Spannungsverhältnis, wenn nicht gar in Widerspruch zu anderen Aussagen wie etwa im Prolog steht. Es geht somit auch nicht um die
53 Nine Miedema: Zur historischen Narratologie am Beispiel der Dialoganalyse. In: Historische Narratologie. Mediävistische Perspektiven. Hrsg. von Harald Haferland, Matthias Meyer. Berlin/New York 2010 (TMP 19), S. 35–67, hier S. 66, zieht ebenfalls eine Linie vom Prolog zum Widerruf: Im Widerruf würde Trevrizent Haken schlagen; sein sprunghaftes Sprechen „wird somit, in Analogie zum hakenschlagenden Erzählen im gesamten Parzival, als eine Redestrategie ausgelegt.“ Man kann demnach nicht nur auf der Erzählerebene, sondern auch auf der Ebene der Figurenrede von „dialogisierter Narratologie“ sprechen. 54 Christiane Witthöft: Zweifel, Skeptizismus und das Dilemma der Wahrheitsfindung in der höfischen Epik des Mittelalters. Skizze eines Forschungsfeldes. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 62 (2021), S. 33–66, hier S. 44, sieht im Brandan eine „intertextuelle Verbindung zwischen biblischer Figur, irischem Heiligen und den Neutralen Engeln“, im Parzival rechnet sie „die nichtentscheidungswilligen Wesen […] zur Figurenwelt des Zweifels.“ 55 Auch Wapnewski (Anm. 18), S. 169, weist auf die Diskrepanz zu dem hin, was Trevrizent in Buch IX gesagt haben will; er bleibt aber dabei, dass die Engel laut der späteren Aussage auf „Begnadung oder Verdammnis“ warteten.
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Frage, ob Trevrizent in 798 womöglich intentional⁵⁶ lügen könnte, sondern darum, dass der Widerruf auf der Ebene der gesamten Aussagestruktur als dissonant zu dieser Aussagestruktur aufgefasst werden kann: Der Rezipient kann erkennen, dass die kategorische Aussage zur Verdammnis der neutralen Engel ebenso wenig zutreffend ist, wie die Ratschläge von Mutter und Gurnemanz kategorische Gültigkeit beanspruchen können. Wollte man solche Plausibilitätsüberlegungen meiden, müsste man wohl dabei bleiben, mit Bumke „eins der vertracktesten Parzivalprobleme“ zu konstatieren⁵⁷ oder mit Schuhmann⁵⁸ eine Konstruktion von Kohärenzen meiden und dabei bleiben, dass im Parzival nicht alles so ganz aufgeht, oder aber die Widersprüchlichkeiten als bewusst vom Autor gesetzt betrachten. Doch zumindest innerhalb der erzählten Welt scheint das, was Trevrizent dem neuen Gralskönig in 798 bedeutungsschwanger beichtet, nicht weiter relevant zu werden. Im Buch IX hat Trevrizent mit seiner These zur möglichen Erlösung der neutralen Engel noch einen Kompromiss ausgelotet zwischen theologischen Dogmen und der Vergebungsbereitschaft Gottes, zugleich auch ein Kompromiss zwischen Gnade und Strafe, der gut mir der Unverfügbarkeit menschlichen Wissens über Gottes Absichten zusammengeht. Am Romanende wird er jedoch zum Exponenten einer ausgesprochen kompromisslosen Position. Recht überraschend scheint das Ausgeben einer unhinterfragbaren Lehrmeinung fröhliche Urstände zu feiern, obwohl sich das strikte Befolgen der Vorgaben von seiner Mutter und Gurnemanz längst als fatal erwiesen hat. Jedenfalls tut Parzival die neuerliche kompromisslose Lehrmeinung von Trevrizent recht rasch ab und entgegnet noch halbwegs höflich: „Ja, Du hast mir einmal in großer Not geraten, und auch später will ich nochmal Deinen Rat haben“ (799,6–8; eigene Paraphrase). Auf den Inhalt von Trevrizents Widerruf geht Parzival jedoch mit keinem Wort ein, die ernsten Dogmen werden vielmehr auf eine komische Ebene überführt, wenn das Schicksal der Engel Parzival nicht weiter zu tangieren scheint. Ihn interessiert vielmehr ein ganz anderer Engel: Er will nichts als nur möglichst rasch in die Arme seiner Frau gelangen (799,2–5 und 9–11).
56 So Däumer (Anm. 24), S. 230: „[…] möchte ich den Verdacht äußern, dass der Einsiedler zur Abwendung des zwîfels bewusst ein zweites Mal lügt“. 57 Joachim Bumke: Die Wolfram-von-Eschenbach-Forschung seit 1945. Bericht und Bibliographie. München 1970, S. 263. 58 Vgl. Schuhmann (Anm. 12), S. 176: „[…] dass dieser spätere Widerruf in sich gebrochen ist, weil er keine schlüssig auflösbare Perspektive auf den Text mehr eröffnet.“
Lea Braun
Arbeit an der Zukunft: Prophetische Voraussagen als Motor von Erkenntnis- und Entscheidungsprozessen in der mittelhochdeutschen Literatur um 1200 (Nibelungenlied und Parzival) Kompromissfindung ist ein soziales und kommunikatives Phänomen. Ihre gesellschaftliche Notwendigkeit entsteht aus einer Situation des Dissens zwischen mehreren Parteien oder aus einer aporetischen Gegenüberstellung von Positionen, die nicht ohne Weiteres in Deckung gebracht werden können und damit zum Anlass eines Aushandlungsprozesses werden. Ziel dieses Prozesses ist die „Angleichung verschiedener Standpunkte, als ein Modus zur Lösung von Konflikten, indem alle Parteien darin übereinstimmen, einige ihrer Forderungen zu reduzieren“.¹ Um vom initialen Dissens zu dem für alle Parteien akzeptablen Kompromiss zu gelangen, bedarf es nicht nur der Teilnahmebereitschaft der involvierten Parteien, sondern zunächst der Feststellung des Sachverhalts und der konfligierenden Aussagen. Darauf folgt generell eine Phase der Reflexion, der kritischen Abwägung von Positionen, Ansprüchen und Handlungsoptionen. Wesentliche Voraussetzung einer klaren und für alle Parteien akzeptablen Kompromisslösung ist also die Infragestellung und zweifelnde Prüfung der als wahr und gesichert präsentierten Positionen, ein ausreichender sozialer Druck, der eine Lösung für die Betroffenen notwendig macht, sowie das Erreichen einer für alle Parteien zufriedenstellenden Position.² Derartige Prozesse der Erkenntnisfindung und Positionsbildung werden in der mittelalterlichen Literatur immer wieder dargestellt – in Form von Beratungen, Reflexionen, Disputationen oder Gerichtsprozessen. Die Herausforderungen, die mit diesen sozial und politisch komplexen Prozessen einhergehen, sowie ihre erfolgreiche oder misslungene Bewältigung sind in vielen erzählenden Texten als wichtige, wenn nicht zentrale Scharnierstelle der Handlung inszeniert. In diesem Aufsatz werde ich mich diesem Phänomen aus einer vielleicht auf den ersten Blick 1 Klaus-Dieter Osswald: Art. Kompromiß. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie online, http://dx.doi.org/ 10.24894/HWPh.1986 [Zugriff: 17.12. 2022]. 2 Vgl. Stephen D. White: „Pactum … Legem Vincit et Amor Judicium“. The Settlement of Disputes by Compromise in Eleventh-Century Western France. In: Ders.: Feuding and Peace-Making in EleventhCentury France. Farnham/Burlington 2005 (Variorum collected studies series 817), S. 281–308. https://doi.org/10.1515/9783110792737-015
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überraschenden Richtung nähern: der Darstellung und narrativen Funktion von prophetischen Voraussagen in der mittelhochdeutschen Literatur um 1200. Prophetische Voraussagen erzeugen, so ließe sich erwarten, das Gegenteil von Kompromissen, stellen sie doch ein vermeintlich sicheres Wissen über die Zukunft und korrekte Handlungsweisen in Aussicht, welche Prozesse der Meinungsbildung, der Abwägung von verschiedenen Handlungsalternativen oder der Festsetzung von Recht und Unrecht obsolet machen. Die durch den eingeschränkten menschlichen Blickpunkt bedingte Notwendigkeit zur kritischen Reflexion unterschiedlicher Positionen wird ersetzt durch das transzendente Diktat des Vorherbestimmten. Es gilt nicht mehr, das richtige Handeln durch Abwägung festzustellen, sondern nurmehr, das als richtig und wahr Zugesicherte umzusetzen. Damit erledigt sich eigentlich auch jegliche Bemühung um soziale Prozesse der Kompromissbildung oder Konsensfindung. Dies insbesondere, so könnte man annehmen, in der christlichen mittelalterlichen Kultur, die grundsätzlich geprägt ist von dem Glauben an eine heilsgeschichtlichen Providenz, von einem vorherbestimmten Ablauf der Ereignisse und einem festen Ziel.³ Schließlich sind in der mittelalterlichen Theologie und Kultur auf Voraussagen⁴ basierende Zukunftserwartungen die Norm, nicht die Ausnahme, und der Einfluss von Figuren wie Joachim von Fiore zeigen, dass Prophetie auch im 12. Jahrhundert die Geschicke von Politik und Religion lenkt. Doch genau diese auf den ersten Blick offensichtliche Opposition von Voraussage und Prozessen der Urteilsbildung gilt so nicht für die höfische Literatur um 1200. Ganz im Gegenteil ist es oftmals die narrative Funktion von prophetischen Voraussagen, Prozesse der Deutung, des Abwägens und der Urteilsbildung anzustoßen, anstatt sie zu beenden. Ob als self fulfilling prophecies, deren Artikulation erst das von ihnen vorhergesagten Ergebnis hervorbringt, als Orakelsprüche, die
3 Aus der umfangreichen Literatur zum Phänomen der Prophetie im Mittelalter sei hier nur exemplarisch verwiesen auf Harald Burger: Vorausdeutung und Erzählstruktur in mittelalterlichen Texten. In: Typologia Litterarum. Festschrift für Max Wehrli. Hrsg. von Stefan Sonderegger, Alois Maria Haas, Harald Burger. Zürich/Freiburg i.Br. 1969, S. 125–153; William L. Craig: The Problem of Divine Foreknowledge and Future Contingents from Aristotle to Suarez. Leiden [u. a.] 1988 (Brill’s Studies in Intellectual History 7); Jonathan Green: Printing and Prophecy. Prognostication and Media Change, 1450–1550. Ann Arbor 2012 (Cultures of Knowledge in the Early Modern World); Anke Holdenried: The Sibyl and Her Scribes. Manuscripts and Interpretation of the Latin Sibylla Tiburtina c. 1050–1500. Aldershot [u. a.] 2006 (Church, Faith, and Culture in the Medieval West); Christel MeierStaubach, Martina Wagner-Egelhaaf (Hrsg.): Prophetie und Autorschaft. Charisma, Heilsversprechen und Gefährdung. Berlin 2014; Klaus Oschema, Bernd Schneidmüller (Hrsg.): Zukunft im Mittelalter. Zeitkonzepte und Planungsstrategien. Ostfildern 2021 (Vorträge und Forschungen 90). 4 Mit dem Begriff ‚Voraussage‘ bezeichne ich verbal formulierten Vorausdeutungen, die auf unterschiedlichen narrativen Ebenen eines Textes auftreten, sowie deren Interpretation und Transmission.
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intensive hermeneutische Operationen produzieren, oder als widersprüchliche Prophezeiungen, die durch Reflexions- und Prüfversuchen evaluiert werden müssen – immer wieder dienen prophetische Voraussagen als Prüfstein und Stein des Anstoßes, an dem sich Figuren, Erzähler und Publikum reiben, als Motor von Erkenntnis- und Entscheidungsprozessen, der Konflikte und Aporien offenlegt und diese damit erst bearbeitbar macht. Im Folgenden möchte ich erproben, diese ambivalente Inszenierung von prophetischen Voraussagen in der Literatur um 1200 als eine narrative Strategie zu lesen, die auf zweierlei zielt: erstens darauf, Widersprüche und konfligierende Interessen durch die dogmatische Setzung der Prophetie offenzulegen oder erst zu produzieren, und zweitens darauf, diese Konflikte in dem so eröffneten Raum der Reflexion und Evaluation zu bearbeiten. Diese Strategie ermöglicht, Prozesse der Urteilsbildung als Kommunikationsprozess und Handlungsablauf erzählerisch zu entfalten und damit Reibungsstellen sowohl zu exponieren als auch durch die prophetische In-Aussicht-Stellung einer zukünftigen Lösung zu versöhnen. Sie geht oftmals einher mit Techniken der Ambiguisierung, die als Gegengewicht zu der vermeintlich prophetischen Klarheit fungieren. So werden komplexe narrative und diskursive Versuchsanordnungen erzeugt, in denen Urteils- und Konsensbildung angesichts des eigentlich Unhinterfragbaren vorgeführt werden.⁵ In dieser Hinsicht, so meine These, weist das Erzählen von Prophetie und ihren narrativen Funktionen deutliche Analogien zur literarischen Darstellung von Kompromissbildung auf.⁶ Zwar – und dies ist ein wesentlicher Unterschied – sind
5 Ich verwende das Konzept der Ambiguität im Sinne von Christiane Witthöft als „literarische Vorund Darstellungen unentscheidbarer Gegensätze“ (Christiane Witthöft: Sinnbilder der Ambiguität in der Literatur des Mittelalters. Der Paradiesstein in der Alexandertradition und die Personifikation der Frau Welt. In: Ambiguität im Mittelalter. Formen zeitgenössischer Reflexion und interdisziplinärer Rezeption. Hrsg. von ders., Oliver Auge. Berlin/Bosten 2016 [TMP 30], S. 179–202, hier S. 179), die eine „schwankende Perzeptionsleistung“ (ebd., S. 202) erzeugen und vorführen. In ihrem rezenten Beitrag zu vorwärts- und rückwärtsgewandten Weissagungen im Nibelungenlied und der Crône diskutiert Christiane Witthöft die Inszenierung und Differenzierung von magischen Wahrheitstechniken in literarischen Szenen, „in denen um die Deutungshoheit des Wahren gerungen wird“ (Christiane Witthöft: Auf der Suche nach Gewissheit. Ordale, Orakel und Tugendproben im Magie- und Wahrheitsdiskurs heldenepischen und höfischen Erzählens [„Nibelungenlied“, „Diu Crone“]. In: Magie und Literatur. Erzählkulturelle Funktionalisierung magischer Praktiken in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von Andreas Hammer, Wilhelm Heizmann, Norbert Kössinger. Berlin 2022 [Philologische Studien und Quellen 280], S. 77–108, hier S. 83). 6 Martin Benjamin unterscheidet zwischen Kompromiss als „process“ und als „outcome“ und betont, dass „the process of compromise need not result in its intended outcome“ (Martin Benjamin: Splitting the Difference. Compromise and Integrity in Ethics and Politics. Lawrence, Kan. 1990, S. 5). In diesem Sinne fokussieren meine Überlegungen eine Analogie des Umgangs mit prophetischen Voraussagen zum Kompromiss als prozessualem Vorgehen.
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die präsentierten Positionen nicht gleichwertig, sondern weisen durch die Miteinbeziehung einer transzendenten Instanz meist ein Wissens- und Autoritätsgefälle auf.⁷ Aber genau dieses Gefälle wird in den erzählenden Texten oftmals zum Ansatzpunkt und Gegenstand der kritischen Hinterfragung. Insofern auf die dogmatische Setzung der Prophetie mit starken Gegenpositionen, zweifelbasierten Abwägungen oder Angleichungen oppositioneller Positionen reagiert wird, konfrontieren die Texte dichotomische Haltungen zur Zukunft und ihrer narrativen Bewältigung. Die Analyse der dabei eingesetzten Strategien, deren Ergebnisse durch das schlussendliche Eintreffen der Prophetie nicht gänzlich relativiert werden,⁸ soll auch dazu dienen, ein Licht auf die Darstellung von Entscheidungsfindungsprozessen in der mittelhochdeutschen Literatur um 1200 zu werfen. Im Folgenden werde ich in close readings der 25. Âventiure aus dem Nibelungenlied und der Cunnewâre-Episode aus Wolframs Parzival meinen Ansatz zur Analyse von prophetischen Voraussagen in Erzähltexten herausarbeiten und an den Beispielen diskutieren, wie prophetische Voraussagen ambiguisiert und damit für die narrative Aushandlung von Konflikten und divergenten Positionen funktionalisiert werden.
I Die hohe Relevanz der Zukunftsvoraussagen im Nibelungenlied ist spätestens seit Burghart Wachingers Studie in den Blick der Forschung geraten.⁹ Das Interesse galt 7 Vgl. grundsätzlich zum Verhältnis von Wissen und Macht in der Prophetie Daniel Weidner, Stefan Willer: Fürsprechen und Vorwissen. Zum Zusammenhang von Prophetie und Prognostik. In: Prophetie und Prognostik.Verfügungen über Zukunft in Wissenschaften, Religionen und Künsten. Hrsg. von dens. München 2013 (Trajekte), S. 9–19. 8 Für Prozesse der Kompromissbildung, bei denen sich die Parteien auf eine gemeinsame prozessuale Bearbeitung einigen, kann es nach Benjamin auch zu Ergebnissen kommen, in denen nur eine der Parteien Recht bekommt (Benjamin [Anm. 6], S. 6). Er argumentiert dafür, dass auch solche Prozesse unter bestimmten Umständen als Kompromiss bezeichnet werden können (ebd.). Edgar Bodenheimer versteht Kompromiss als „a thing intermediate between or blending qualities of two different things“ (Edgar Bodenheimer: Compromise in the Realization of Ideas and Values. In: Compromise in Ethics, Law and Politics. Hrsg. von J. Roland Pennock, John W. Chapman. New York 1979, S. 142–159, hier S. 142). 9 Burghart Wachinger: Studien zum Nibelungenlied: Vorausdeutungen, Aufbau, Motivierung. Tübingen 1960; Siegfried Beyschlag: Die Funktion der epischen Vorausdeutung im Aufbau des ‚Nibelungenliedes‘. In: PBB 76 (1954), S. 38–55; Adrien Bonjour: Anticipations et prophéties dans le „Nibelungenlied“. In: Études Germaniques 7 (1952), S. 241–251; Witthöft: Suche (Anm. 5). Wachinger und andere unterscheiden dabei kategorial zwischen den vom Erzähler getätigten Vorausdeutungen (Prolepsen) und den Voraussagen der intradiegetischen Figuren. Schulz spricht im Kontrast dazu
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und gilt hier meist den prophetischen Träumen der weiblichen Figuren¹⁰ sowie insbesondere der dichten proleptischen Struktur des Textes.¹¹ Verhältnismäßig wenig Aufmerksamkeit dagegen haben die Prophezeiungen der merewîp in der 25. Âventiure gefunden.¹² Dies ist umso erstaunlicher, als die zentrale Funktion dieser Âventiure als Scharnierstelle für die Handlung des Nibelungenliedes wiederholt beobachtet wurde.¹³ In der folgenden Darstellung und Analyse werde ich auf diese Bedeutung im größeren Kontext der Erzählung nur punktuell eingehen und mich vor allem auf die prophetischen Aussagen und ihre narrative Funktionalisierung konzentrieren. Sie erfolgen, als die burgundischen Könige auf dem Weg zu ihrer Schwester Kriemhild und deren Mann Etzel an der Donau anlangen. Die Reisegruppe ist un-
am Beispiel der dritten Âventiure von Vorausdeutungen der Figuren, die primär auf das implizite Publikum wirken, als einem Fall der Metalepse (vgl. Armin Schulz: Fremde Kohärenz Narrative Verknüpfungsformen im Nibelungenlied und in der Kaiserchronik. In: Historische Narratologie – Mediävistische Perspektiven. Hrsg. von Harald Haferland, Matthias Meyer. Berlin/New York 2010 (TMP 19), S. 339–360, hier S. 346). Witthöft schließlich setzt mit Jacob Grimm voraus- und rückwärtsgewandte Weissagungen in Beziehung und verknüpft die Prophezeiung der merewîp mit der Bahrprobe nach Siegfrieds Ermordung. 10 Vgl. David G. Mowatt: A Note on Kriemhilde’s Three Dreams. In: Seminar. A Journal of Germanic Studies 7 (1971), S. 114–122. 11 Vgl. Anm. 9 sowie So Shitanda: Kommunikative Funktionen der epischen Vorausdeutungen im Nibelungenlied. In: Doitsu-bungaku-ronshū 16 (1983), S. 68–85; Burger: Vorausdeutung (Anm. 3). 12 Zuletzt ausführlich Witthöft: Suche (Anm. 5), die sowohl die Erzähltraditionen und Inszenierung der merewîp als auch die Verknüpfung von Weissagung und Wasser ausführlich diskutiert. Zwar bezeichnet Wachinger diese Passage als „die bedeutsamste aller Vorausdeutungen“ (Wachinger [Anm. 9], S. 38), behandelt sie aber auf nur einer halben Seite (vgl. auch seine genauere Diskussion von Hagens Reaktion und ihren Konsequenzen in Version C, ebd., S. 46–48). Beyschlag (Anm. 9) geht zwar alle Vorausdeutungen des Nibelungenliedes durch, erwähnt die Meerfrauen jedoch mit keinem Wort. Ausführlich zu dem Motiv der weissagenden Wasserfrauen Panzer, der sie als Schwanfrauen und ihre Gewänder als Schwanengefieder identifiziert (vgl. Friedrich Panzer: Nibelungische Problematik. Siegfried und Xanten, Hagen und die Meerfrauen, Magyaren und Hunnen. Heidelberg 1954 [Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse 3], S. 17–22); sowie Andreas Kraß: Meerjungfrauen. Geschichten einer unmö glichen Liebe. Frankfurt a. M. 2010, S. 207. Vgl. auch Danielle Buschinger, die die Funktion der Episode im Vergleich zur Thidrekssaga herausarbeitet (Danielle Buschinger: Warum brauchen Helden Wasserfeen? Hagen und die „merewip“ im Nibelungenlied. In: Das „Nibelungenlied“ und „Das Buch des Dede Korkut. Literaturwissenschaftliche Analysen des zweiten interkulturellen Symposiums in Mainz. Hrsg. von Kamal M. Abdullayev, Sieglinde Hartmann. Baku/Frankfurt a. M. 2015 [Imagines Medii Aevi 28], S. 90–99). 13 Jan-Dirk Müller betont, dass die Donau in der Erzählung eine Grenze markiere, hinter der „eine bedrohliche Welt“ beginne (Jan-Dirk Müller: Spielregeln für den Untergang. Die Welt des Nibelungenliedes. Tübingen 1998, S. 305). Bonjour merkt an, dass um die Reise der Burgunder zu Etzel herum die Menge der intradiegetischen Voraussagen „se multiplient“ (Bonjour [Anm. 9], S. 249).
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eins, wie der breite Fluss überquert werden kann. Hagen von Tronje macht sich auf den Weg, um einen Fährmann zu finden, und begegnet einer Gruppe von übernatürlich gezeichneten merewîp: er hôrte wazzer giezen, losen er began, in einem schœnem brunnen. daz tâten wîsiu wîp, di wolden sich dâ küelen und badeten ir lîp. ¹⁴
Hagen schleicht ihnen nach und stiehlt ihre Kleider, worauf eine der merewîp, Hadeburc genannt, ihm anbietet, im Gegentausch für die Kleider den Ausgang ihrer Reise vorherzusagen. Hagen stimmt zu und erhält die folgende Voraussage: „[…] ir mügt wol rîten in Etzeln lant. des setze ich iu ze bürgen mîne triuwe hi zehant, daz helde nie gefuoren in deheiniu rîche baz nâch alsô grôzen êren. nu geloubet wærliche daz.“ ¹⁵
Erfreut gibt Hagen die Kleidung zurück, nur um in einem nächsten Schritt eine weitere Prophezeiung von der Meerfrau Sigelint zu erhalten: „ich wil dich warnen, Hagen, daz Aldriânes kint: durch der wæte liebe hât mîn muome dir gelogen kümestu hin zu Hiunen, sô bistu sêre betrogen. Jâ soltu kêren widere. daz ist dir an der zît, wand ir helde küene alsô geladet sît, daz ir sterben müezet in Etzeln lant. Swelhe dar gerîtent, di habent den tôt an der hand.“ ¹⁶
14 „Er hörte das Wasser einer schönen Quelle rauschen und begann, genau hinzuhören. Es waren weissagende Frauen, die dort badeten und sich abkühlen wollten“ (Nibelungenlied, Str. 1530,2–4). Ich konzentriere meine Untersuchung auf die Handschrift B. Zitiert nach: Das Nibelungenlied. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Nach der Handschrift B hrsg. von Ursula Schulze. Ins Neuhochdeutsche übersetzt und kommentiert von Siegfried Grosse. Stuttgart 2016 (RUB 18914). Alle Übersetzungen stammen aus dieser Ausgabe, sofern nicht anders markiert. Ausführlich zu dieser Passage Witthöft: Suche (Anm. 5), S. 88–92. 15 „Ihr könnt wohl in Etzels Land reiten. Ich bürge Euch mit meiner Treue dafür, dass niemals Helden besser in irgendein Reich gereist sind, um ihr Ansehen zu stärken. Das könnt ihr wahrhaftig glauben.“ (Nibelungenlied, Str. 1534). Zur Tradition des Kleiderdiebstahls und dem darin zum Ausdruck kommenden Dominanzspiel, in dem „Wahrheitsvermittlung erneut zum Spielball im Machtdiskurs“ wird, vgl. Witthöft: Suche (Anm. 5), S. 92. 16 „‚Ich will Dich warnen, Hagen, Sohn Aldrians: Um die Kleider zurückzubekommen, hat meine Muhme Dich belogen. Wenn Du zu den Hunnen kommst, wirst Du sehr betrogen werden. Ja, Du solltest umkehren. Noch ist Zeit dazu, denn Ihr kühnen Helden seid eingeladen worden, um in Etzels
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Diese Prophezeiung wird vom Erzähler zwar als rehte („wahr“, Nibelungenlied, Str. 1535,4) bekräftigt, Hagen aber will sie zunächst nicht glauben und wirft Sigelint Lügen vor.¹⁷ Diese aber bekräftigt ihre Voraussage und präzisiert sie um eine Information, die für Hagens weiteres Handeln zentral wird: niuwan des küneges kappelân werde gesund zurück in Gunthers Land kommen,¹⁸ sollten sie weiter reisen. Hagen tut sich weiterhin schwer mit dieser Prophetie,¹⁹ bittet das aller wîseste wîp aber höflich um einen Rat, wie sie die Donau überqueren sollen. Der nachfolgende Versuch, den Fährmann Elses zur Überfahrt zu bewegen, schlägt fehl;²⁰ Hagen tötet ihn und setzt eigenhändig die Burgunder über, ohne seinen Königen zunächst von den Ereignissen zu berichten. Als er die letzten Männer über das Wasser transportiert, bedenkt er die vremder mære ²¹ der merewîp und beschließt, die Prophezeiung zu testen. Er packt den Kaplan, wirft ihn über Bord und stößt ihn sogar auf den Grund. Verzweifelt versucht der Kaplan, ans andere Ufer zurückzukehren, aber nur ein Wunder rettet ihn vor dem Ertrinken swi er niht swimmen kunde, im half diu gotes hant, daz er wol kom gesunder hin wider ûz an daz lant. Dô stuont der arme priester unde schutte sîne wât. dâ bî sach wol Hagen, daz sîn niht wære rât,
Land sterben zu müssen. Alle, die dorthin reiten, haben schon den Tod berührt.‘“ (Nibelungenlied, Str. 1536,2–1537). 17 Dô sprach aber hagene: „ir trieget âne nôt. / wi möhtez sich gefüegen, daz wir alle tôt / solden dâ belîben durch iemens haz?“ („Da entgegnete Hagen: ‚Ihr braucht nicht zu lügen. Wie könnte es möglich sein, dass wir dort alle sterben sollten nur aus Hass einer einzelnen Person?‘“, Nibelungenlied, Str. 1538,1–3). 18 „ez muoz also wesen, / daz iuwer deheiner kan dâ nicht genesen, / niuwan des küneges kappelân. Daz ist uns wol bekant. / Der kumet gesunt widere in daz Guntheres lant.“ („‚Es muss so sein; keiner von Euch kommt mit dem Leben davon, bis auf den Kaplan des Königs. Das wissen wir ganz genau. Der kehrt unversehrt in Gunthers Land zurück.‘“, Nibelungenlied, Str. 1539). Müller betont, dass hier nicht zufällig der Kaplan zum Gegenstand der Prüfung gemacht wird. Vielmehr findet eine Ersetzung der im Besitz von überlegenen Wissen befindlichen Figuren statt: „Der pfaffe muß, wo er nicht Wissender ist, wenigstens Opfer des Wissens sein, des anderen Wissens, das Hagen und die merwî p vertreten. […] Und selbst Gott, indem er ihn rettet, bestä tigt damit zuvö rderst dem Heros, was der von den Wasserfrauen weiß“ (Müller [Anm. 13], S. 195 f.). 19 „daz wære mînen herren müelich ze sagene, / daz wir alle zen Hiunen solden vliesen den lîp. […]“ („‚Das wäre meinem Herrn schwer beizubringen, dass wir alle bei den Hunnen unser Leben verlieren sollten‘“, Nibelungenlied, Str. 1540,2 f.). 20 Vgl. zu den Komplexitäten dieser Szene Müller (Anm. 13), S. 305–308. 21 „der seltsamen Worte“ (Nibelungenlied, Str. 1571,2).
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daz im für wâr sageten diu wilden merewîp. er dâhte: „dise degene müezen verliesen den lîp. ²²
Doch auch nachdem er die Prophezeiung geprüft und für wahr befunden hat, teilt er sie zunächst nicht dem Rest seiner ‚Reisegruppe‘ mit, sondern zerstört stattdessen das Boot, so dass ihnen der Rückweg endgültig versperrt ist, und bereitet die Männer auf die sofortige Weiterreise vor. Erst als die Pferde geladen und das weitere Vorgehen geklärt ist, berichtet Hagen von der Prophezeiung: „[…] vil ungefüegiu mære, die tuon ich iu bekant: wir enkumen nimmer wider in Burgonden lant. Daz sageten mir zwei merwîp hiute morgen fruo, daz wir niht komen widere. Nu rât ich, waz man tuo […].²³
Die Reisegruppe reagiert zunächst ängstlich. Als Hagen sie aber auf die kommenden Auseinandersetzungen mit Gelfrat und Else, in deren Land sie eingedrungen sind, vorbereitet, reisen sie weiter und kämpfen. Die Prophezeiung wird im Folgenden nicht wieder erwähnt. Es wird deutlich, dass die beiden Prophezeiungen der merewîp einen Konflikt erzeugen, der Hagen zunächst in eine Aporie und dann in einen Prozess der zweifelbasierten Abwägung und Prüfung zwingt, schlussendlich aber neue Handlungsimpulse erzeugt.²⁴ Um die narrative Entfaltung und spezifischen Funktionen von Prophezeiungen genauer zu verstehen, analysiere ich sie im Folgenden als Kommunikationsprozess, in den eine Triade von Sender, Medium und Empfänger involviert ist. Er dient der schrittweisen verbalen Übermittlung und Reflexion von Zukunftswissen und kann
22 „Er konnte zwar nicht schwimmen, aber die Hand Gottes half ihm, dass er gesund wieder aus dem Wasser an Land kam. Da stand der arme Priester und schüttelte seine Kleider. Da erkannte Hagen, dass es unabwendbar war, was ihm die wilden Meerfrauen vorhergesagt hatten. Er dachte: ‚Diese Ritter müssen ihr Leben verlieren.‘“ (Nibelungenlied, Str. 1576,2–1577,4). Version C des Nibelungenliedes bietet hier eine sehr interessante Variante, in der der Kaplan Hagen verflucht und Gott bittet, ihn nie wieder über den Rhein kommen zu lassen (vgl. auch Wachinger [Anm. 9], S. 46–48).Vgl. Witthöft: Suche (Anm. 5) für eine ausführliche Diskussion dieser Szene und relevanter Textvarianten. Sie betont, dass der Kaplan hier „als Medium der Wahrheitsfindung dient“ (ebd., S. 95) und zugleich die Macht Gottes ausweist. 23 „,[…] Ich muss Euch eine unheilvolle Nachricht mitteilen: Wir werden nie wieder in das Land der Burgunden zurückkehren. Das haben mir zwei Meerfrauen heute am frühen Morgen gesagt, dass wir nicht zurückkommen werden. Nun rate ich, was man tun soll […].‘“ (Nibelungenlied, Str. 1584,2– 1585,2). Im Weiteren erläutert er auch seinen vergeblichen Versuch, die Frauen der Lüge zu überführen, und erklärt so den Mordanschlag am Kaplan (Nibelungenlied, Str. 1586). 24 Diese kritische Prüfung findet sich nicht in anderen Versionen der Sage, wie Buschinger betont (vgl. Buschinger [Anm. 12], S. 97).
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verschiedene Agenten, Stationen und Funktionsstellen beinhalten. Die Sender von prophetischen Botschaften sind meist transzendente Instanzen, die über exklusives Zukunftswissen verfügen, z. B. ein Gott, Teufel oder ähnliche übernatürliche Figuren. Die Botschaft des Senders wird entweder verschlüsselt übermittelt, z. B. in Form von Zeichen, Wahrträumen oder mantischen Praktiken, die dann in einem weiteren Schritt entschlüsselt, das heißt interpretiert werden müssen. Diese Aufgabe kann Priestern, Wahrsagern oder Gelehrten obliegen, sie kann aber auch von anderen Figuren ausgeführt werden. Alternativ wird die Botschaft direkt mithilfe eines Propheten oder Wahrsagers vermittelt, in welchem die Rolle des Kommunikationsmediums und Interpreten zusammenfallen. Die Empfänger der Nachricht, seien es Einzelpersonen oder eine Gemeinschaft, nehmen diese Botschaft auf und bewerten sie im Kontext ihrer spezifischen historischen und kulturellen Situierung. Sowohl die Glaubwürdigkeit des Senders als auch des Mediums bzw. Interpreten spielen hier eine zentrale Rolle und können die Aufnahme und den Umgang mit der Botschaft erheblich beeinflussen. Auch die spezifischen Praktiken, Traditionen und Überzeugungen der Empfängerkulturen in Bezug auf Voraussagen müssen stets mitberücksichtigt werden. Bei der Anwendung dieses Analysemodells auf die Prophezeiungen im Nibelungenlied ist zunächst auffällig, dass der oder die Sender der Voraussage unbekannt bleiben. Die merewîp werden als übernatürliche Wesen geschildert: Si swebten sam di vogele vor im ûf der fluot. ²⁵ Ihre Fähigkeiten werden zwar von Hagen positiv bewertet, deren Ursprung bleibt jedoch unerklärt.²⁶ Eventuell fallen Sender und Medium hier also zusammen, auf jeden Fall aber gibt es neben Hagens Bewertung der merewîp keine Instanz, die ihre Glaubwürdigkeit bestätigt. Die Funktionsstelle des primären Empfängers der Botschaft und des Interpreten fallen in Hagen zusammen. Interessanterweise bedarf es für Hagen nahezu keiner Interpretation der Prophetien – sie scheinen unmittelbar verständlich. Der Schwerpunkt liegt vielmehr ganz auf der Frage nach der Glaubwürdigkeit der beiden Voraussagen, bzw. auf dem Prozess des Abwägens zwischen beiden. Nachdem sich Hagen zunächst zweifelnd zum Wahrheitsgehalt der zweiten Aussage
25 „Sie schwammen wie Vögel vor ihm auf dem Strom“ (Nibelungenlied, Str. 1533,1). 26 des dûhten in ir sinne starc und guot („Deshalb hielt er ihre überirdischen Sinne für stark und gut“, Nibelungenlied, Str. 1533,2). Der Vergleich mit Vögeln macht sie zu Zwischenwesen, die nach Buschinger eine anderweltliche Grenze markieren und Hagen mit Wissen aus dieser Anderwelt ausstatten (vgl. Buschinger [Anm. 12], S. 97). Witthöft verweist auf den traditionellen Zusammenhang zwischen Hybridität und Weisheit, u. a. bei Konrad von Megenberg (vgl. Witthöft: Suche [Anm. 5], S. 91). Wachinger betont, dass nur die merewîp als übernatürliche Wesen im Nibelungenlied die Zukunft „in ihrer Ganzheit voraus[sehen]“ (Wachinger [Anm. 9], S. 39), gibt hierfür aber keine Belege im Text.
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positioniert, liefert Sigelint eine Reihe von Detailinformationen, die Hagens Vergangenheit (den Namen seines Vaters) und die nahe Zukunft (das Überleben des Kaplans) betreffen und praktische Überprüfbarkeit ermöglichen. Erst nachdem diese Überprüfung erfolgt ist, übermittelt Hagen die prophetische Botschaft an ihren weiteren Empfängerkreis, die drei Könige und ihre Reisegruppe. Diese mehrfache Doppelung – der Prophetien²⁷ und prophetischen Figuren, der Empfängerschaft sowie der zweiteiligen Übermittlung – erzeugt trotz der vermeintlichen Eindeutigkeit der Botschaften eine Verunklarung, die sowohl die intraund extradiegetische Wirkung der prophetischen Botschaften als auch Hagens Verhalten als Vertreter seines Hofes affiziert. Einerseits hebt die Voraussage Sigelints zwar das Wissensgefälle zwischen implizitem Publikum und intradiegetischen Figuren auf – war das Publikum bereits seit der ersten Âventiure informiert, dass die Burgunder wegen des Streits der zwei Königinnen jæmerliche sterben werden,²⁸ so wissen dies nun auch die Protagonisten selbst. Andererseits ist diese prophetische Botschaft als Warnung vor dem Untergang intendiert, denn noch könnten Gunther und seine Leute die Reise abbrechen und sicher nach Hause zurückkehren. In dieser Hinsicht reiht sie sich ein in die prophetischen Träume Kriemhilds und Utes, die ebensolche Warnungen bieten und ebenfalls nicht handlungswirksam werden. Der Grund hier ist im Falle der merewîp-Prophetie Hagens Umgang mit der Voraussage, denn er verzögert die Übermittlung der Botschaft so lange, dass sie ihre warnende Funktion verliert – aus Sigelints Konjunktiv kümestu hin zu Hiunen, sô bistu sêre betrogen. / Jâ soltu kêren widere wird Hagens Indikativ: vil ungefüegiu mære, die tuon ich iu bekant: / Wir enkumen nimmer wider in Burgonden lant. Damit wird auch Hagens Rolle für die Burgunder gedoppelt: Er wird zugleich ihr trost ²⁹ und der Agent ihres Unterganges.³⁰
27 Buschinger (Anm. 12), S. 96 betont, dass die Dopplung der Prophetie nur im Nibelungenlied, nicht in anderen Überlieferungstraditionen der Sage, zu finden ist. 28 Nibelungenlied, Str. 4,4. Vgl. Schulz in Bezug auf die Warnungen von Sivrits Eltern in der 3. Âventiure, die zwar intradiegetisch erfolgen, jedoch für Schulz funktional die gleiche Bedeutung haben wie Vorausdeutungen. (Schulz [Anm. 9], S. 346). 29 Nibelungenlied, Str. 1526,2. Müller (Anm. 13), S. 196 weist darauf hin, dass Hagen für die Nibelungen an Etzels Hof auch eine seelsorgerische Funktion übernehme und über besonderes Wissen im Bereich der letzten Dinge der Kriegergesellschaft verfüge. Vgl. auch Elisabeth Lienert: Können Helden sich ändern? Starre Muster und flexibles Handeln im „Nibelungenlied“. In: ZfdA 144 (2015), S. 477–491, hier S. 484. 30 „By withholding the truth Hagen deprives his lords of the opportunity to reconsider; he decides for them – manipulates them. When he finally tells the whole truth in order to forewarn them – and tell he must as it is his duty as a vassal – he confronts them with a fait accompli: there is no way back“ (Holger Homann: The Hagen Figure in the Nibelungenlied: Know Him by His Lies. In: Modern Language Notes [MLN] 97,3 [1982], S. 759–769, hier S. 764).
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Dass diese Passage Konflikte und Aporien auf mehreren Ebenen ausstellt und produziert, ist offensichtlich. Inwiefern lässt sich hier aber über die Phase der kritischen Prüfung vom Wahrheitsgehalt der Voraussagen hinaus von einem analogen Phänomen zur Kompromissbildung sprechen? Schließlich akzeptiert Hagen die Wahrheit der zweiten Prophezeiung und stellt durch sein folgendes Verhalten sicher, dass das Vorausgesagte voll eintrifft. Der Ausgang des Nibelungenliedes lässt sich schwerlich als Kompromiss oder Konsens bezeichnen. Betrachtet man jedoch die einzelnen Stationen der prophetischen Voraussage und Hagens Bewältigungsstrategien, so werden Parallelen deutlich. Zunächst lässt sich feststellen, dass hier ein schrittweiser Prozess des Zweifelns, der kritischen Abwägung und der Urteilsbildung narrativ entfaltet wird, der Hagens Handeln vorausgeht und ihn zu einer klaren Position führt. Der Konflikt, den Hagen anlässlich der provozierenden Voraussagen bearbeitet, ist allerdings nur das Echo einer bereits vor Beginn der Reise entstandenen Aporie (eine weitere Doppelfigur des Textes): Als nämlich die Boten Kriemhilds an Gunthers Hof ankommen und die Burgunder zu Etzel einladen, werden zwei dichotomische Positionen formuliert. Während die königlichen Brüder davon überzeugt sind, dass Kriemhild ihnen verziehen hat und sie ruhigen Gewissens und ehrenhaft zu Etzel reisen können, widerspricht Hagen dieser Überzeugung scharf. Er warnt Gunther, mit einem solchen Vorgehen erkläre er sich selbst den Krieg (ir habt iu selben widerseit, Nibelungenlied, Str. 1455,5) und bekräftigt im Folgenden: „[…] welt ir Kriemhilde sehen, ir müget dâ verliesen di êre und ouch den lîp. jâ ist vil lancræche des künec Etzeln wîp.“³¹
Seine und des Küchenmeisters Rumolt Warnungen werden genauso wenig berücksichtigt wie Utes Traum³² oder die prophetischen Warnungen der Meerfrauen. Zwar entschließt sich Hagen, seine Könige über die Donau zu begleiten, seine eigene Voraussage über das Kommende wird aber an keiner Stelle relativiert.³³
31 „[…] Wenn Ihr Kriemhild besuchen wollt, dann könnt Ihr sehr wohl Ansehen und Leben verlieren. Denn die Gemahlin des Königs Etzel lässt niemals ihren Racheplan fallen.“, Nibelungenlied, Str. 14558,2–4. 32 Interessanterweise ist es Hagen selbst, der die Handlungsrelevanz dieses Traumes ablehnt: „Swer sich an troume wendet“, sprach do Hagene, / „der enweiz der rehten mære niht ze sagene, / wenn ez im ze êren volleclichen stê. […]“ („‚Wer sich an den Traum hält‘, sagte da Hagen, ‚der weiß nicht recht zu sagen, wann das, was er tut, voll zu seinem Ansehen passt. […]‘“, Nibelungenlied, Str. 1507,1–3). 33 Vgl. Bonjour (Anm. 9), S. 249.
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Die gedoppelten Prophezeiungen legen also einen im Kern des Hofs vorhandenen Konflikt offen, bei dem Hagen auf der einen Seite steht – machtlos, das von ihm selbst Vorausgesagte zu verhindern –, die Könige und ihre Handlungsmacht dagegen auf der anderen Seite. Sigelints Voraussage bestätigt nurmehr Hagens Befürchtungen. Dementsprechend ist sein zweiter Einwand gegen die Prophetie auch nicht mehr auf ihre Glaubwürdigkeit, sondern auf ihre Vermittelbarkeit ausgerichtet: Sie sei seinen Herren müelich ze sagene („schwer beizubringen“).³⁴ Es ist unter diesen Umständen wenig wahrscheinlich, dass die Warnung Frucht tragen wird.³⁵ Hagens Verhalten ist von der Forschung oft als unverständlich oder gar dämonisch kritisiert worden.³⁶ Die herausgearbeiteten Funktionen der merewîpProphetien und ihren Kontext berücksichtigend, möchte ich im Folgenden eine Lesart vorschlagen, die Hagens Handeln als eine produktive Arbeit an der vorausgesagten Zukunft perspektiviert, als einen Versuch der Bewältigung, der einen Handlungsspielraum innerhalb des Unvermeidlichen eröffnet.³⁷ Dieser Spielraum
34 „daz wære mînen herren müelich ze sagene, / daz wir alle zen Hiunen solden vliesen den lîp. […]“ („‚Das wäre meinem Herrn schwer beizubringen, dass wir alle bei den Hunnen unser Leben verlieren sollten‘“, Nibelungenlied, Str. 1540,2 f.). 35 Vgl. hierzu Wachinger (Anm. 9), S. 44–48. 36 Die Figur des Hagen und ihre Funktion für die Handlung hat in der Forschung viel Aufmerksamkeit gefunden.Vgl. für einen Überblick ausführlich Annette Gerok-Reiter: Individualität. Studien zu einem umstrittenen Phänomen mittelhochdeutscher Epik. Tübingen 2006 (Bibliotheca Germanica 51), S. 55–99. Vgl. auch Katherine DeVane Brown: Courtly Rivalry, Loyalty Conflict, and the Figure of Hagen in the Nibelungenlied. In: Monatshefte für Deutschsprachige Literatur und Kultur 107,3 (2015), S. 355–381; Volker Mertens betont, dass Hagen von Beginn an als im Besitz von überlegenem Wissen dargestellt wird (Volker Mertens: Hagens Wissen – Siegfrieds Tod. Zu Hagens Erzählung von Jungsiegfrieds Abenteuern. In: Erzählungen in Erzählungen. Phänomene der Narration in Mittelalter und früher Neuzeit. Hrsg. von Harald Haferland. München 1996 [Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 19], S. 59–69), vgl. auch Wachinger (Anm. 9), S. 51. Für Homann wird Hagen nach der Begegnung mit den Meerfrauen zu einem Teil der „demonic world“ (Homann [Anm. 30], S. 766); seine Rolle sei nun, das Eintreten des vorausgesagten Schicksals zu garantieren. In dieser Hinsicht sieht Homann sogar eine Art Kooperation mit Kriemhild gegeben (ebd., S. 767). Lienert: Helden (Anm. 29), S. 487 spricht von „radikal untergangsbejahendem Verhalten“ im Anschluss an die Unheilsprophezeiung der Wasserfrauen. Müller (Anm. 13), S. 290 betont v. a. Hagens Lügen und Heimlichkeit in der Passage, die mit der in der und den folgenden Szenen dominierenden Dunkelheit korrespondiere: „Mit der Überschreitung der Donau scheint das Licht, in dem heroisches Handeln zu stehen hat, vollends gelöscht“. Für Witthöft wird Hagen auch als der Prüfende „indirekt zum Handlanger der mantischen Praktik und zum Werkzeug der verifizierten Prophezeiung“ (Witthöft: Suche [Anm. 5], S. 96). 37 Das Ziel dieser Lesart ist nicht, die Widersprüche und Brüche im Text zu negieren oder den Figuren eine stringente Psychologie zu unterstellen, sondern die narrativen Spezifika des insze-
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erschließt sich bei einer genaueren Analyse der beiden scheinbar so leicht verständlichen prophetischen Botschaften. Auf den ersten Blick wirken die Prophezeiungen dichotomisch und einander ausschließend – während Hadeburc die Reise zu Etzel guten Gewissens empfiehlt, warnt Sigelint vor ihr. Bei genauerer Betrachtung wird jedoch deutlich, dass die Prophezeiungen sich keineswegs ausschließen: Hadeburc heißt die Reise aufgrund der Akkumulation von êre gut, die sie für die Burgunder bedeuten würde: daz helde nie gefuoren in deheiniu rîche baz / nâch alsô grôzen êren (Nibelungenlied, Str. 1534,2 f.), und beschreibt weitere Rahmenbedingungen der Reise nicht, während Sigelint möglichen Ehrerwerb mit keinem Wort erwähnt, sondern ganz den Tod der Männer fokussiert: daz ir sterben müezet in Etzeln lant. / swelhe dar gerîtent, di habent den tôt an der hand (Nibelungenlied, Str. 1537,3 f.). Offensichtlich schließen sich Tod und Ehrakkumulation in der mittelalterlichen Heldenepik nicht aus; die Bereitschaft, das eigene Leben aufs Spiel zu setzen, ist sogar Voraussetzung für den Erwerb von êre und prîs. ³⁸ Auch Hagens Reaktion nach abgeschlossener KaplanPrüfung macht explizit, dass er die erste Voraussage nicht für widerlegt hält: Er erkennt, daz im für wâr sageten diu wilden merewîp. ³⁹ Der Erzähler nutzt hier den Plural, macht also deutlich, dass dieses Urteil beide Prophezeiungen betrifft, sie also komplementär funktionieren.⁴⁰ Diese Lesart verändert die Ausgangslage, in der sich Hagen nach dem Übersetzen über die Donau befindet, erheblich: Ausgehend von seiner in der Beratungsepisode geäußerten Befürchtung, bei der Reise könnten die Burgunder di êre und ouch den lîp verlieren,⁴¹ wird die zweite Sorge um ihr Leben von Sigelints Prophezeiung bestätigt. Hadeburcs Prophezeiung bietet jedoch eine Option, wie Hagens erste Befürchtung, der Verlust der êre, nicht nur verhindert, sondern ins Gegenteil verkehrt werden kann: Die Reise zu den Hunnen wird hier reperspektiviert als Gelegenheit zu exzeptionellem Ehrerwerb. Damit zeigen die beiden Voraussagen zusammen gelesen einen Ausweg aus der von Hagen befürchteten absoluten Katastrophe auf: Zwar kann der Tod nicht abgewendet werden; nach der
nierten Entscheidungsprozesses herauszuarbeiten (vgl. für die Herausforderungen der Figurenanalyse im Nibelungenlied Lienert: Helden [Anm. 29]). 38 Vgl. Otfrid Ehrismann: Ehre und Mut, Âventiure und Minne. Höfische Wortgeschichten aus dem Mittelalter. München 1995, S. 65–70. 39 „Da erkannte Hagen, dass es unabwendbar war, was ihm die wilden Meerfrauen vorhergesagt hatten“ (Nibelungenlied, Str. 1577,2). 40 Knapp angedeutet bei Wachinger (Anm. 9), S. 38. 41 Ein Echo dieses Motivs findet sich auch in der Abschiedsformel des Bischofs von Speyer bei der Abreise der Burgunder: […] got müez ir êre dâ bewarn („[…] Gott möge ihr Ansehen dort beschützen.“, Nibelungenlied, Str. 1505,4). Vgl. Wachinger (Anm. 9), S. 37.
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Logik des Kriegeradels aber kann er semantisch umgewertet werden zum Triumph, wenn sich die Burgunder im Folgenden gemäß den Regeln kämpferischen Ehrerwerbs verhalten. Dass dies vom Moment des Übersetzens an die Motivation von Hagens Handeln ist, macht er selbst am Ende der 25. Âventiure explizit. Gefragt, warum er das Fährboot zerstört habe, antwortet er: Dô sprach der helt von Tronege: „ich tuon iz ûf den wân, ob wir an dirre reise deheinen zagen hân, der uns entrinnen welle durch zegeliche nôt, der muoz an disem wâge doch lîden schameliche tôt.“ ⁴²
Die figura etymologica auf zagen hebt hervor, gegen welche Haltung Hagen hier anarbeitet, ebenso die Erwähnung des schameliche[n] tô[des], die die Sorge um Verlust von Ehre und Leben noch einmal aufruft. Hagen agiert an dieser Stelle als Stellvertreter und Schutz der Burgunder. Sein Ziel ist jedoch nicht der Erhalt ihres Lebens, sondern der ihrer Ehre, und sein eskalatives Verhalten im weiteren Verlauf macht deutlich, dass er auf einen mit den Prophezeiungen kompatiblen Tod und das Vermeiden der Ehrlosigkeit zielt.⁴³ Insofern bieten die Voraussagen der merewîp Anlass und Raum für Reflexion und Positionsbildung und eine Perspektive für Hagen, die zwar kein Kompromiss, wohl aber eine dritte Option zwischen dem sicheren Daheimbleiben und dem Verlust von êre und lîp aufzeigt.⁴⁴ Die Analyse des prozessualen Kommunikationsaktes ‚Voraussage‘ erweist somit, dass durch die an dieser Scharnierstelle eingefügten Prophezeiungen bereits vorhandene und nicht lösbare Konflikte aufgerufen und bearbeitbar gemacht werden. Die durch mehrfache Dopplungen erzeugten Ambiguitäten der Voraussage und ihrer Funktion im Kontext der Erzählung eröffnen zudem einen Handlungsspielraum, der zwar die vorausgesagte Zukunft nicht negiert, Hagen aber eine Möglichkeit zur produktiven Arbeit an ihr bietet. Wie gezielt manche Texte diese ambiguen Funktionen prophetischer Botschaften einsetzen, soll im nächsten Schritt an der Cunnewâre-Episode gezeigt werden.
42 „Da sagte der Held von Tronje: ‚Das tue ich in folgender Voraussicht; falls wir auf dieser Fahrt irgendeinen Feigling bei uns haben sollten, der uns aus Angst entrinnen will, so muss er an diesem Fluss doch elend zugrunde gehen‘“ (Nibelungenlied, Str. 1580). 43 Vgl. Lienert: Helden (Anm. 29), S. 490. Für Hagens Position und daraus folgende Rolle vgl. Brown (Anm. 36), S. 364 f.; Müller (Anm. 13), S. 196 f.; Buschinger (Anm. 12), S. 97. 44 Gegen Wachinger (Anm. 9), S. 50, der Hagens Verhalten als bewusste Ablehnung der Prophezeiung liest und darin einen Ausdruck seines „heroischen Trotzes und seiner Schicksalsbereitschaft“ sieht.
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II Der Parzival Wolframs von Eschenbach ist ein Roman voller Voraussagen, die ein komplexes Verweis- und Providenzgeflecht bilden. Von der typologischen Beziehung des Vaters Gahmuret mit dem Sohn Parzival, über prophetische Träume, heilsgeschichtliche Bezüge, Erzählerprolepsen und diverse Voraussagen der Figuren bis hin zur großen Prophetie des Grals über Parzivals Zukunft sind die Figuren, der Erzähler und auch das implizite Publikum in einen narrativen Zeitentwurf eingebunden, der umfassend Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in Beziehung setzt, aber auch immer wieder in Konflikt miteinander bringt.⁴⁵ Voraussagen werden getätigt, nur um gleich darauf in Frage gestellt oder relativiert zu werden. Ich möchte im Folgenden beispielhaft eine Szene diskutieren, die breite Aufmerksamkeit in der Forschung gefunden hat, deren spezifischer Charakter als Voraussage jedoch höchstens beiläufig gestreift wurde. Es geht um Cunnewâres Lachen und Antanors Sprechen beim ersten Anblick Parzivals.⁴⁶ Meine These ist, dass die narrative Verschaltung von prophetischer Zukunftsgewissheit und am-
45 Vgl. zuletzt ausführlich zur Zeit im Parzival Antje Sablotny: Zeit und âventiure in Wolframs von Eschenbach Parzival. Zur narrativen Identitätskonstruktion des Helden. Berlin 2020 (Deutsche Literatur. Studien und Quellen 34), sowie zu derartigen Konflikten Uta Störmer-Caysa: Ein Schatten aus möglichen Vergangenheiten. Effekte konfligierender und widersprüchlicher Begründungen in Wolframs „Parzival“. In: Erzähllogiken in der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Akten der Heidelberger Tagung vom 17. bis 19. Februar 2011. Hrsg. von Christian Schneider, Florian Kragl. Heidelberg 2013 (Studien zur historischen Poetik 13), S. 71–89. 46 Vgl. die vorherigen Diskussionen dieser Szene u. a. bei Jutta Eming: Die Tränen der Cunneware. Zu codierten Emotionen in Erzählsituationen gestörter Ordnung. In: Emotion und Handlung im Artusroman. Hrsg. von Cora Dietl [u. a.]. Berlin 2017 (Schriften der internationalen Artusgesellschaft 13), S. 155–171; Irene Erfen: Das Lachen der Cunnewâre. Bemerkungen zu Wagners „Parsifal“ und Wolframs „Parzival“. In: Sprachspiel und Lachkultur. Beiträge zur Literatur- und Sprachgeschichte. Rolf Bräuer zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Angela Bader [u. a.]. Stuttgart 1994 (Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik 300), S. 69–87; Waltraud Fritsch-Rößler: Lachen und Schlagen. Reden als Kulturtechnik in Wolframs Parzival. In: Verstehen durch Vernunft. Festschrift für Werner Hoffmann. Hrsg. von Burkhardt Krause. Wien 1997 (Philologica Germanica 19), S. 75–98; Kurt Nyholm: Warum lacht Cunnewâre? Überlegungen zu „Parzival“ 151,11–19. In: Kleine Beiträge zur Germanistik. Festschrift für John Evert Härd. Hrsg. von Bo Andersson, Gernot Michael Müller. Uppsala 1997, S. 223–237; Katharina Philipowski: Das Gelächter der Cunnewâre. In: Zeitschrift für Germanistik 13,1 (2003), S. 9–25; Hans Rudolf Velten: Lachen und Schweigen in Wolframs „Parzival“. In: Lachen und Schweigen. Grenzen und Lizenzen der Kommunikation in der Erzählliteratur des Mittelalters. Hrsg. von Werner Röcke, dems. Berlin/Boston 2017 (TMP 26), S. 77–100; Annette Volfing: und wolt iuch hân gebezzert mite. Keie, Cunneware and the Dynamics of Punishment. In: Punishment and Penitential Practices in Medieval German Writing. Hrsg. von Sarah Bowden, ders. London 2018 (King’s College London. Medieval Studies 26), S. 43–63.
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biguer Verunsicherung in dieser Passage genutzt wird, um höfische Idealität und defizitären Ist-Zustand, den kommenden Gralskönig Parzival und den unwissenden Tölpel Parzival kollidieren zu lassen und diese Differenz so als Handlungsimpuls fruchtbar zu machen.⁴⁷ Bei seiner Ankunft am Artushof im dritten Buch findet Parzival die arthurische Gesellschaft in Unordnung vor.⁴⁸ Ithers von Gaheviez Herausforderung und Herrschaftsanspruch haben einen Eklat produziert und den Hof ins Chaos gestürzt. Auch Parzival selbst präsentiert sich weit entfernt von der höfischen Idealität eines Ritters, trotz seiner körperlichen Vollkommenheit. Ausgestattet mit einem jämmerlichen Pferd und einem Narrengewand, den normativen und wenig hilfreichen Handlungsanweisungen der Mutter, sowie einer nur mehr vagen Vorstellung von Ritterschaft stürmt er vor König Artus und verlangt, augenblicklich zum Ritter gemacht zu werden. Sein Auftritt wird zum Anlass einer Meinungsverschiedenheit zwischen Keie und Artus: Während der König Parzivals körperliche Schönheit bemerkt und ihm gegenüber wohlwollend auftritt, will Keie ihn gegen Ither ausspielen, denn man sol hunde umb ebers houbet gebn,⁴⁹ also bereit sein, Jagdhunde für
47 Vgl. für die Untersuchung von Kompromissfiguren im Parzival auch den Beitrag von Friedrich Michael Dimpel in diesem Band. 48 Dieser defizitäre Zustand der Unordnung ist wiederholt angemerkt worden, vgl. Dominik Streit: Von Soltane nach Munsalvaesche Raum und Zeit im ,Parzival‘ Wolframs von Eschenbach. In: Narratologie und mittelalterliches Erzählen. Autor, Erzähler, Perspektive, Zeit und Raum. Hrsg. von Eva von Contzen, Florian Kragl. Berlin/Boston 2018 (Das Mittelalter. Beihefte 7), S. 233–266, hier S. 242; Günther W. Rohr: Ich sihe hie mangen Artûs. Der Artûshof im ,Parzival‘ Wolframs von Eschenbach. In: „Und wer bist du, der mich betrachtet?“ Populäre Literatur und Kultur als ästhetische Phänomene. Festschrift für Helmut Schmiedt. Hrsg. von Helga Arend. Bielefeld 2010, S. 297–311; Joachim Bumke: Wolfram von Eschenbach. 8., völlig neu bearb. Aufl., Stuttgart [u. a.] 2004 (Sammlung Metzler), S. 183; Julia Richter: Spiegelungen. Paradigmatisches Erzählen in Wolframs „Parzival“, Berlin/Bosten 2015 (MTU 144), S. 64. Vgl. für eine grundsätzlichere Diskussion der arthurischen Idealität und ihrer Problematisierung Friedrich Wolfzettel: Der Artushof: ideale Mitte oder problematische Idealität? In: Artushof und Artusliteratur. Hrsg. von Matthias Däumer. Berlin/Boston 2010 (Schriften der Internationalen Artusgesellschaft 7), S. 3–20; Ricarda Bauschke-Hartung: Der Artushof als Provokation. Überlegungen zum Konzept der ‚Symbolstruktur‘. In: Ironie, Polemik und Provokation. Hrsg. von Cora Dietl, Christoph Schanze, Friedrich Wolfzettel. Berlin/Boston 2014 (Schriften der Internationalen Artusgesellschaft 10), S. 225–238. 49 „‚[…] Ein paar Hunde muß man schon drangeben können, wenn man das Haupt des Ebers haben will.‘“ Parzival, 150,22. Zitiert nach: Wolfram von Eschenbach: Parzival. Studienausgabe. Mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann. Mit Einführung zum Text der Lachmannschen Ausgabe und in Probleme der Parzival-Interpretation von Bernd Schirok. 2. Aufl. Berlin/New York 2003. Alle Übersetzungen stammen aus dieser Ausgabe, sofern nicht anders markiert. Vgl. zu dieser Metapher Coralie Rippl: (V)Erkennen und Anerkennen in Wolframs „Parzival“. In: Anerkennung und die Möglichkeiten der Gabe. Literaturwissenschaftliche Beiträge. Hrsg.
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das Erlegen des Ebers zu opfern. Parzival und Keie setzen sich durch, und so kehrt junge Fremde zurück zu Ither, um ihn herauszufordern und schlussendlich zu töten. Vom Beginn der Szene an exemplifizieren die Unruhe des Hofes und der Umgang mit der Parzivalfigur eine Disharmonie im Kern des Artushofes. In diesem labilen, konfliktbeladenen Moment führt der Erzähler die Figur der Cunnewâre von Lalant ein, diu fiere und diu clâre, die unter den anderen edlen Frauen bei der Königin sitzt und zunächst ganz über ihre prophetische Funktion definiert wird, denn, wie der Erzähler berichtet, sie enlachte decheinen wîs, sine sæhe in die den hôhsten prîs hete od solt erwerben: si wolt ê sus ersterben, allez lachen si vermeit, unz daz der knappe fü r si reit: do erlachte ir minneclîcher munt. ⁵⁰
Dieses prophetische Lachen findet in der Öffentlichkeit des Hofes statt. Eine Reaktion zeigt aber zunächst nur der Seneschall Keie, der so wie Hagen im Nibelungenlied in die Funktionsstelle des primären Empfängers der Prophetie und Stellvertreters seiner Gemeinschaft gesetzt wird. Mit einer Gewaltexplosion bestraft er die Prophetin für ihre Botschaft: Er packt Cunnewâre bei ihren Zöpfen und verprügelt sie vor den Augen des gesamten Hofes, durch die wât unt durch ir vel. ⁵¹ Auch verbal verurteilt er die lachende Voraussage als smæhiu letze, mit der Cunnewâre ihren eigene prîs vertan habe, und rechtfertigt seinen gewalttätigen Übergriff als erzieherische Maßnahme:
von Martin Baisch. Frankfurt a. M. 2017 (Hamburger Beiträge zur Germanistik 58), S. 197–240, hier S. 212 f. 50 „Dort bei ihnen saß auch in ihrem klaren Glanz und mit edlem Stolz die Dame Cunnewâre. Die lachte niemals, unter gar keinen Umstä nden, bis zu dem Tag, da ihr der vor Augen kä me, der hö chsten Ruhm auf Erden hä tte oder gewinnen sollte. Anders wollte sie’s nicht tun, eher wollte sie sterben. Nicht das kleinste Lachen war ihr auf die Lippen gekommen bis zu dem Augenblick, da sie den Knaben dort unten reiten sah: Da kam ein Lachen ü ber ihren sü ßen Mund.“ (Parzival, 151,10–19). 51 Dô nam Keye scheneschlant / froun Cunnewâren de Lâlant / mit ir reiden hâre: / ir lange zö pfe clâre / die want er umbe sîne hant, / er spancte se âne tü rbant. / ir rü ke wart kein eit gestabt: / doch wart ein stap sô dran gehabt, / unz daz sîn siusen gar verswanc, / durch die wât unt durch ir vel ez dranc. („Es packte nä mlich Keye, der Seneschall, die edle Cunnewâre de Lâlant bei den Lockenhaaren, ihre Zö pfe, die klaren, wickelte er fest um seine Hand: So war sie solide angehä ngt, und das ohne eiserne Beschlä ge! Obwohl ihr Rü cken keinen Eid zu leisten hatte, kam er doch in heftige Berü hrung mit dem Richterstab, der auf sie niedersauste, bis er ganz zerschlissen war. Die Hiebe drangen durch das Kleid und durch ihre Haut.“ Parzival, 151,21–30).
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‚iwerm werdem prîse ist gegebn ein smæhiu letze: ich pin sîn vä ngec netze, ich soln wider in iuch smiden daz irs enpfindet ûf den liden. ez ist dem kü nge Artü s ûf sînen hof unt in sîn hûs sô manec werder man geriten, durch den ir lachen hât vermiten, und lachet nu durch einen man der niht mit ritters fuore kan.‘⁵²
Keies Reaktion macht deutlich, was für ein Skandalon die Identifikation Parzivals als Träger des hôhsten prîs ist. Im Versuch, diese Botschaft als falsch zu markieren, arbeitet er zugleich daran, ihre Implikationen für die Hofgemeinschaft abzuwenden.⁵³ Während Reaktionen des Hofes ganz ausbleiben, positioniert sich der Erzähler klar gegen Keies Handeln: Er bezeichnet ihn als unwîse und seine Gewalt als unfuoge,⁵⁴ da sie nicht Cunnewâres Stand entspreche und nur ungeahndet bleibe, weil ihre Brüder abwesend vom Hofe seien.⁵⁵ Wie im Nibelungenlied wird auch in dieser Szene eine zweite Voraussage mit der ersten verknüpft, denn Cunnewâres prophetisches Lachen provoziert nicht Keies Gewaltreaktion, sondern auch den stummen Antanor dazu, sein Schweigen zu brechen. Antanors Schweigen wird ambivalent charakterisiert. Einerseits wird er
52 „Hochadelige Ehre habt Ihr von Euch fortgejagt mit Schande. Ich bin ihr Netz und habe sie wieder eingefangen. Jetzt will ich sie zur Sicherheit in Euern Leib festschmieden, an allen Gliedern sollt Ihr sie spü ren. Zum Hof des Kö nig Artûs und in sein Haus sind schon viele wirklich edle Mä nner hergeritten, die Euch nicht zum Lachen bewegen konnten – und nun macht Euch einer lachen, der keine Ahnung hat vom ritterlichen Leben.“ (Parzival, 152,2–12). Vgl. Volfing (Anm. 46) für eine detaillierte Lesart dieser Passage. 53 Vgl. Fritsch-Rößler (Anm. 46), S. 84. Ich lese hier Keie als aktiv in seiner Truchsess-Funktion handelnd (vgl. unten), anders als Anette Volfing, die sein Gewalthandeln „in terms of his inability to distinguish between an objective wrong and a source of personal irritation“ interpretiert (Volfing [Anm. 46], S. 45). 54 „Unrecht“, Parzival, 152,18. 55 Die komplexe Rolle von Cunnewâres Familie im Parzival ist von Markus Stock umfassend aufgearbeitet worden (vgl. Markus Stock: Cunneware de Lalant and Her Brothers. The Other Family in Wolfram’s „Parzival“. In: Diz vliegende bîspel. Ambiguity in Medieval and Early Modern Literature. Essays in Honor of Arthur Groos. Hrsg. von Marian E. Polhill, Alexander Sager. Göttingen 2020 [Transatlantische Studien zu Mittelalter und Früher Neuzeit 9], S. 39–52). Für eine detaillierte Diskussion der Erzählerfigur in ihrer Positionierung zu Keie vgl. Volfing (Anm. 46), S. 55–57, die betont, dass die Unterstützung des Erzählers für Keie umso deutlicher wird, je mehr seine soziale Isolation am Hof fortschreitet.
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für einen tôr gehalten, andererseits ist seine Stummheit semantisch ebenso aufgeladen wie die Abwesenheit von Cunnewâres Lachen; sie potenziert dieses sogar: sîn rede unde ir lachen was gezilt mit einen sachen: ern wolde nimmer wort gesagn, sine lachte diu dâ wart geslagn. dô ir lachen wart getan, sîn munt sprach ze Keyen sân ‚got weiz, hêr scheneschlant, daz Cunnewâre de Lâlant durch den knappen ist zerbert, iwer freude es wirt verzert noch von sîner hende, ern sî nie sô ellende.‘ ⁵⁶
Wiederum reagiert Keie mit Gewalt auf die prophetische Botschaft; wiederum wird die Reaktion der Hoföffentlichkeit nicht geschildert. Nur Parzival, angetrieben vom Mitgefühl für das Leid der beiden, will Keie angreifen, wird jedoch vom Gedränge des Hofes davon abgehalten. Stattdessen kehrt er zu Ither zurück, tötet ihn, nimmt seine Rüstung an sich und bricht zu weiteren Abenteuern auf. Diese kurze Szene bietet eine Fülle von Konflikten und konfligierenden Positionen, die zunächst keine narrative Auflösung finden. Der im Hintergrund stehende rechtliche Streit zwischen Artus und dem Herrschaftsansprüche auf Bertâne erhebenden Ither bleibt unklar; sein Tod stürzt den Hof und insbesondere die Königin in Trauer und hat für seinen Verwandten Parzival weitreichende Konsequenzen.⁵⁷ Cunnewâres und Antanors Demütigung bleiben zunächst offen und Keies Gewalt ungesühnt. Thematisch lässt sich als Kern dieser Szene der Konflikt zwischen unterschiedlichen Einschätzungen von hövescheit und êre ausmachen, der Wolfram
56 „Bei ihm war aber das Reden, so wie bei dem Mä dchen das Lachen, an ein und dieselbe Bedingung geknü pft. Er hatte nie ein Wort sprechen wollen, solange sie, die jetzt Schlä ge bekam, nicht lachte. Als aber ihr Lachen verklungen war, da sprach sein Mund zu Keye: ‚Gott weiß, mein Herr Seneschall, daß Cunnewâre de Lâlant um dieses Knaben willen verprü gelt wurde; so wird denn einmal von seiner Hand Euer Glü ck zerfetzt werden, mag er jetzt auch als ein ganz hilfloses Waisenkind erscheinen‘“ (Parzival, 152,23–153,6). 57 Vgl. zu den Implikationen der Szene und der daraus folgenden ambivalenten Identität Parzivals u. a. Judith Schönhoff: Parzival und der Rote Ritter. Ritterlicher Zweikampf und Schuld in den Gralsromanen von Wolfram von Eschenbach und Chrétien de Troyes. In: Spannungsfelder. Literatur und Gewalt. Hrsg. von Thomas Erthel [u. a.]. Frankfurt a. M. 2013 (Münchener Studien zur literarischen Kultur in Deutschland 46), S. 157–170; Rippl (Anm. 49).
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immer wieder beschäftigt.⁵⁸ Dieser Konflikt betrifft den Status von Parzival als potentiellem Ritter, aber auch den Status des in Chaos befindlichen Artushofs selbst, und in der Inszenierung der Szene wird deutlich, dass sich dieser Konflikt durch die beteiligten Figuren nicht adäquat lösen lässt: Der Köng als potentieller Friedensstifter bleibt passiv.⁵⁹ Parzival, der als Vermittler zwischen dem Herausforderer Ither und dem Hof dienen könnte, tötet stattdessen die eine Konfliktpartei. Keie weiß sich nur mit Gewalt zu helfen, und Parzival reist weiter, ohne als Ritter in den Artushof integriert zu werden. Die Aporie dieser Szene, die sich in den vertanen Handlungschancen ausdrückt, wird exemplifiziert durch den Umgang mit Cunnewâres und Antanors Voraussage, denn die ambivalente Einschätzung Parzivals als Gotteswunder und bestem Rittermaterial einerseits, als lächerlicher Trappe und bloßem Hund, den man bedenkenlos opfern kann, andererseits, erfährt mit der normativen Setzung von Cunnewâres Lachen eigentlich eine Vereindeutigung: Parzival ist derjenige, der den hôhsten pris besitzt oder erwerben wird.⁶⁰ Keie jedoch lehnt die Richtigkeit dieser Prophetie ab. Seine gewalttätigen Einhegungsbemühungen setzen eine Kette von Aktionen und Reaktionen Parzivals, Cunnewâres und Keies in Gang,⁶¹ die nicht nur die Wahrheit der Voraussage bestätigen, schlussendlich Cunnewâres êre restituieren und Keie in seine Schranken weisen, sondern auch, so meine These, als pro-
58 Vgl. Elisabeth Lienert: Zur Diskursivität der Gewalt in Wolframs „Parzvial“. In: Wolfram von Eschenbach – Bilanzen und Perspektiven. Eichstätter Kolloquium 2000. Hrsg. von Wolfgang Haubrichs, Eckart C. Lutz und Klaus Ridder. Berlin 2002 (Wolfram-Studien XVII). S. 223–245; Judith Lange: Zur Verschränkung von Krieg, Minne und weiblicher Herrschaft in Wolframs „Parzival“. In: Gewalt, Krieg und Geschlecht im Mittelalter. Hrsg. von Amalie Fößel. Berlin 2020, S. 415–436. 59 Auch Ulrich Wyss betont, dass König Artus „seltsam unpräsent, irgendwie abwesend“ in dieser Szene sei (Ulrich Wyss: Der Schatten des Körpers des Königs. In: Körperkonzepte im arthurischen Roman. Beiträge der Deutschen Sektionstagung der Internationalen Artusgesellschaft 23.–26. 2. 2005 in Rauischholzhausen. Hrsg. von Friedrich Wolfzettel. Tübingen 2007 [Schriften der Internationalen Artusgesellschaft], S. 21–32, hier S. 26.) 60 Für Mireille Schnyder wird Cunnewâres Lachen „zum Zeichen und Inbegriff der nicht sprachlich zu fassenden Heilsgewissheit […] und durch seine scheinbare Sinnlosigkeit innerhalb des höfischen Regelsystems, unvorbereitet und plötzlich, auch Ausdruck des in diese Ordnung einbrechenden Anderen“ (vgl. Mireille Schnyder: Topographie des Schweigens. Untersuchungen zum deutschen höfischen Roman um 1200. Göttingen [u. a.] 2003 [Historische Semantik 3], S. 129). 61 Vgl. Werner Röcke: Provokation und Ritual. In: Der Fehltritt. Vergehen und Versehen in der Vormoderne. Hrsg. von Peter von Moos. Köln/Weimar/Wien 2001 (Norm und Struktur 15), S. 343–362, hier S. 359. Rohr merkt an, dass körperliche Gewalt im Parzial ständig präsent gehalten werde, und „dass Gewalt oder deren Androhung, die ordnungsstiftend wirken sollen, mit der Schaffung labiler Gleichgewichte auch negative Folgen evozieren können […] dass die Anwendung von Gewalt, selbst wenn sie in einen Triumph mündet, auch neue Feindschaften und neuen Hass provoziert.“ (Rohr [Anm. 48], S. 298).
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zessuale Bearbeitung der Konfliktsituation und ihrer letztlichen Beilegung durch eine Form von Interessensausgleich gelesen werden können. Voraussetzung für diese Funktion der prophetischen Botschaften ist ihre gezielte Verunklarung und eine damit einhergehende Verunsicherung der eigentlich klaren Voraussage auf mehreren narrativen Ebenen. Um diese Ambiguisierung herauszuarbeiten, sollen im nächsten Schritt die einzelnen Funktionsstellen und Stationen des prophetischen Kommunikationsaktes genauer untersucht werden. Zunächst ist auffällig, dass die transzendente Instanz, von der Cunnewâre ihr Wissen empfängt, ungenannt bleibt. Das Wissen um die besondere Bedeutung von Cunnewâres Lachen wird vom Erzähler vermittelt, nicht von einer intradiegetischen Figur. Die Information enthält aber Widersprüche: Der erste Teil suggeriert mit dem Präteritum enlachte eine Faktizität; es werden keine Gründe für diese Beschränkung angegeben. Mit dem zugesetzten si wolt ê sus ersterben wird zwar die Entschlossenheit Cunnewâres betont, damit aber die Entscheidung gegen das Lachen von einer externen bzw. transzendenten Instanz, die es unterbinden könnte, in ihren Willensbereich verschoben. Unklar bleibt auch, woher ihr Wissen über Parzivals Vortrefflichkeit und damit die Angemessenheit des Lachens stammt.⁶² Der Status von Cunnewâre als Medium einer transzendenten Botschaft bleibt also unsicher. Auch das Lachen als Voraussage hat Teil an dieser Unsicherheit. Seine Bedeutung ist in eine präsentische und futurische Komponente unterteilt: Cunnewâre wird nur lachen, wenn sie denjenigen sieht, der den hôhsten prîs / hete od solt erwerben. Nur der zweite Teil dieser Aussage stellt im engeren Sinne eine prophetische Voraussage dar; der erste Teil bietet eine Perspektive auf den Jetztzustand. Ob beide Komponenten oder nur eine in diesem Moment zutreffen, wird nicht präzisiert. Hans Rudolf Velten versteht Lachen und Schweigen als „situative Marker, die über die Spannung zwischen dem Gehörten und dem Gemeinten, wie auch über den affektiven Zustand der Sprecher informieren“.⁶³ Insofern bedarf Lachen stets einer Interpretation und Kontextualisierung. Dieser Tatbestand wird im Falle Cunnewâres noch dadurch verschärft, dass Parzivals Verhalten tatsächlich lächerlich, also zum Lachen ist, und der Text die Komik seines Auftritts lustvoll ausbuchstabiert: Wie eine Trappe stolziert Parzival vor Artus auf und ab. Cunnewâres Lachen ist also trotz seiner vom Erzähler explizierten Aussagefunktion ambivalent, inso-
62 Vgl. Fritsch-Rößler (Anm. 46), S. 80–82, die betont, dass sowohl die genaue Form des Lachens als auch die voraussagende Natur von Cunnewâres Lachen im Dunkeln bleiben und hierfür mehrere Übersetzungen vergleicht. 63 Velten (Anm. 46), S. 77. Vgl. auch Philipowski (Anm. 46).
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fern es zwischen drei performativen Funktionen oszilliert: Lachen als Markierung von Komik, Lachen als Ausdruck höfischer vreude und Lachen als Voraussage.⁶⁴ Was den oder die Empfänger der Botschaft betrifft, so produziert die narrative Inszenierung der Voraussage auch hier Ambivalenzen. Dem impliziten Publikum ist Parzivals besonderer Status bereits durch diverse Prolepsen des Erzählers und durch den Drachentraum Herzeloydes bekannt – Cunnewâres Lachen dient nurmehr als Bestätigung. Zwar liefert der Erzähler dem impliziten Publikum einen Deutungskontext für Cunnewâres Lachen und bietet damit eine Auslegung, die über hohe Verbindlichkeit und Autorität verfügt; diese Auslegung wird aber nicht explizit auf die intradiegetische Figurenebene getragen. Keies wütende Reaktion macht deutlich, dass dem Hof die semantische Relevanz des Lachens bekannt ist; sie wird allerdings nur ex negativo, in ihrer Ablehnung durch den Seneschall, aufgerufen. Seine Strategie zur Diskreditierung der Voraussage ist eine dreifache: Zum einen kontrastiert er ihren Inhalt, d. h. die Charakterisierung Parzivals als des höchsten prîses Würdigen, mit Parzivals Verhalten und Erscheinung. Er unterschlägt damit die bereits diskutierte temporale Offenheit der Voraussage und fixiert sich ganz auf die Gegenwart.⁶⁵ Zweitens kontrastiert er Parzival mit den ehrenvollen Ritter der Tafelrunde und spielt damit den Hof gegen Parzival aus, denn seine Erwählung kommt einer Beleidigung aller anderen und der Institution selbst gleich. Drittens stellt er Cunnewâres kognitive Kompetenzen in Frage und konstatiert ihren Ehrverlust, da sie nicht in der Lage sei, werdekeit zu erkennen; er diskreditiert also die Voraussagende und ihre Fähigkeit, das verliehene Wissen korrekt anzuwenden. Interessanterweise wird jedoch der unklar bleibende Sender und Cunnewâres grundsätzliche Kompetenz zur Voraussage nicht in Frage gestellt. Der Artushof ist Zeuge dieser Vorgänge, bleibt jedoch gänzlich passiv. Auch die Königin, unter deren Schutz Cunnewâre eigentlich steht, greift nicht ein. Dies kompromittiert zum einen den Hof und seine êre, zum anderen verstärkt es Keies Rolle als Truchsess, als Stellvertreter des Königs und Garanten der höfischen Idealität. Auch diese Funktion wird jedoch sofort wieder problematisiert, indem
64 So auch Stock (Anm. 55), S. 49 f., Philipowski (Anm. 46), S. 22. Fritsch-Rößler sieht noch eine weitere mögliche Interpretation von Cunnewâres Lachen, die sie als Grund für Keies Gewalt ansieht – er missverstehe das Lachen als „ein spottendes – über die werden ritter“ (Fritsch-Rößler [Anm. 46], S. 87). Sie lehnt eine komische Komponente der Szene entschieden ab. Mireille Schnyder versteht Cunnewâres Lachen als Heilsgewissheit, die sich der höfischen Ordnung entzieht (vgl. Schnyder [Anm. 60], S. 128). 65 Vgl. Fritsch-Rößler (Anm. 46), S. 86.
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Keie sich Cunnewâre gegenüber massiv unhöfisch verhält und damit die Störung am Artushof, die er abwenden will, noch deutlicher markiert.⁶⁶ Die narrative Inszenierung der zweiten Prophetie durch Antanor, die funktionell mit der Cunnewâres verschaltet ist, produziert ebenfalls Ambiguität. Antanor wird wegen seines Schweigens für eine tumben gehalten, ein Wort, mit dem auch Parzival wiederholt attribuiert wird. Beide, Antanor und Cunnewâre, sind somit intersektional als marginalisierte Figuren markiert: Cunnewâre ist eine unverheiratete Frau ohne männlichen Schutz; Antanor ist ein scheinbar nicht adeliger tumber. Wo Cunnewâre mit Hilfe der ritualisierten Handlungsmuster der höfischen Gesellschaft – Frauendienst und schlussendlich Heirat – durch Restitution ihrer êre in die höfische Gesellschaft reintegriert wird,⁶⁷ verschwindet Antanor weitestgehend aus der Erzählung, sobald er seine voraussagende Funktion erfüllt hat. Die Kontextualisierung von Antanors Voraussage durch den Erzähler ist noch uneindeutiger als die von Cunnewâres Lachen: Beides ziele auf einen sachen. Auch hier ist von wolde die Rede, es könnte sich also um einen eigenständigen Entschluss handeln.⁶⁸ Die performativen Voraussagen sind funktional geschaltet: er wolde nimmer wort gesagen, / sine lachte diu dâ wart geslagen. Es ist möglich, dass Antanor auf Cunnewâres Lachen reagiert und nicht auf Parzival, zumal nicht explizit beschrieben wird, dass er Parzival überhaupt sieht. Darüber hinaus ist sein Reden an sich zwar gleichzusetzen mit der Voraussage von Parzivals kommendem Ruhm, der Inhalt seiner Worte ist aber eine neue Voraussage, die sich auf die Konsequenzen für Keies Fehlverhalten bezieht. Letztlich bietet diese Passage also zwei komplex aufeinander Bezug nehmende Voraussagen; eine betrifft das Schicksal Parzivals, die andere das Schicksal Keies. Die zweite Voraussage wird jedoch erst durch die Reaktion auf die erste Voraussage möglich, denn nur weil Keie mit Gewalt reagiert, wird Parzival sein Glück verzerren. Entgegen der gemeinhin angenommenen Funktion von einer Voraussage wird in dieser Szene also auf mehreren Ebenen narrative Ambiguität erzeugt.⁶⁹ 1. Es entsteht ein komplexes Wissensgefälle zwischen implizitem Publikum und intradiegetischen Figuren, das vom Erzähler produziert wird. 2. Alle involvierten
66 Vgl. Eming (Anm. 46). Zu Keies unhöfischem Verhalten vgl. ausführlich Volfing (Anm. 46). 67 Vgl. Eming (Anm. 46). 68 In verschiedenen Untersuchungen der Episode wurde auf die Parallelen zur Zacharias-Geschichte im Lukasevangelium hingewiesen (vgl. Nyholm und Erfen [Anm. 46]). Der Priester Zacharias wird bis zur Benamsung seines Sohnes, Johannes des Täufers, mit Stummheit geschlagen. Dann löst Gott seine Zunge (Lk 1,5–22; 57–64). Die semantische Verknüpfung mit der biblischen Geschichte verläuft über die Ankunft eines Erwählten. Im „Parzival“ ist Antanors Sprechen allerdings an Cunnewâres Lachen gebunden, nicht an Parzivals Ankunft. 69 Zur Erzeugung von Unklarheit im Parzival vgl. auch Störmer-Caysa (Anm. 45).
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Funktionsstellen – Parzival als Gegenstand, Cunnewâre als Medium und Keie in seiner Stellvertreterfunktion für den Hof als Empfänger der Botschaft – verlieren an êre und sind auf unterschiedliche Weise in den gewaltsamen Konflikt involviert. Die Voraussage produziert Zweifel, Aporien und unterschiedliche Bemühungen, diese Unsicherheit einzuhegen und zu kompensieren. Dass diese Ambiguität ganz bewusst hergestellt ist, verdeutlicht der Vergleich mit Chrétiens Gestaltung dieser Szene im Perceval,⁷⁰ dessen Prophezeiungen sehr viel eindeutiger ausfallen und neben dem jungen Mädchen von einem Narren geäußert werden.⁷¹ Dieser Narr kündet später noch weitere aventures an: Keu soll von Perceval binnen zweier Wochen für seine Untaten bestraft werden, indem dieser ihm den rechten Arm zwischen Ellbogen und Achsel brechen wird. König Artus selbst verweist dann nach dem Kampf zwischen Keu und Perceval auf diese Prophezeiung und bestätigt sie als bis ins Kleinste eingetroffen. Chrétiens Prophezeiungen sind also klar einer Figur zugewiesen – dem Narren, der einen Sonderstatus am Hof hat. Sie sind expliziter und präziser und werden durch das Mädchen selbst auch Perceval mitgeteilt, wodurch das Lachen als Zeichen disambiguiert wird. Der angekündigte gebrochene Arm fungiert als eindeutiger Beweis der Korrektheit dieser Prophezeiungen. Schließlich erfahren die Prophezeiungen eine Bestätigung durch die höchste Autorität des Hofes.⁷² Kurt Nyholm schlussfolgert, dass für Chrétien „die Demonstration der Unfehlbarkeit der Voraussage zentral“⁷³ sei. Über Wolframs Bearbeitung der Szene urteilt er: „Ihre organische Verankerung ist irgendwie undurchsichtig geworden, und das Motiv bleibt in der Luft hängen. […] Das Prophetische tritt zurück und ist unwichtig geworden“.⁷⁴ Ich argumentiere dagegen, dass das Voraussageelement bei Wolfram keineswegs unwichtig ist, sondern vielmehr narrativ refunktionalisiert
70 Vgl. für einen ausführlichen Vergleich Fritsch-Rößler (Anm. 46), S. 90–92, die bei Wolfram ein angewandtes, aber verdrehtes Narren-Motiv gegeben sieht, und Erfen (Anm. 46) Überlegungen zur unterschiedlichen Informationsvergabe in den Szenen. 71 Chrétien de Toryes: Le Roman de Perceval ou Le Conte du Graal. Altfranzösisch/Deutsch. Übersetzt und hrsg. von Felicitas Olef-Krafft. Stuttgart 2009 (RUB 8649). Hier sei nur knapp auf die Unterschiede verwiesen: Auch Chrétiens Perceval reist zum Artushof, um Ritter zu werden und verlangt Ithers Rüstung. Im Wegreiten begegnet er aber einem schönen Mädchen, das ihn anlacht und ihm zusichert, ihrer Meinung und ihrem Gefühl nach (pens und croi) werde er der beste Ritter aller Zeiten werden. Den Kontext dieses Lachens referiert auch hier der Erzähler, er zitiert aber lediglich die Weissagung eines anwesenden Narren, der das Lachen prophetisch angekündigt hatte. 72 In Wolframs Parzival ist es Kingrun, der Cunnewâres Prophetie noch einmal erwähnt und als wahr bestätigt (Parzival, 221,21–25), ohne jedoch konkrete Beweise zu nennen (vgl. Fritsch-Rößler [Anm. 46], S. 85). 73 Nyholm (Anm. 46), S. 227. 74 Ebd., S. 229.
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wird, und zwar im Kontext seiner Poetologie des zwîvels, die in der Forschung intensiv aufgearbeitet wurde und sich in einer Verunsicherung und Infragestellung von scheinbar sicherem Wissen ausdrückt.⁷⁵ Ziel von Cunnewâres Lachen und Antanors Reden ist es nicht, abwägendes Prüfen und Urteilsbildung abzuschließen, sondern vielmehr sie anzustoßen und über diesen Prozess die involvierten Funktionsstellen zu transformieren.⁷⁶ Dieser Prozess der kritischen Prüfung einer Prophezeiung, die sich letztlich durch Parzivals Aufnahme in die Tafelrunde und seine Einsetzung als Gralskönig bewahrheitet, wird aber nicht direkt in der interpretatorischen Auseinandersetzung mit dem Lachen geleistet, sondern verschoben in die dynamische Figurenrelation Keie – Cunnewâre – Parzival. Die Frage der Wahrheit von Cunnewâres Prophetie wird – anders als bei Chrétien – am Hof nicht diskursiv verhandelt. Der Verlust ihrer Ehre durch Keies gewaltsame Demütigung einerseits, andererseits Parzivals Bemühungen um Restitution dieser Ehre in Form der ihm unterlegenen Kämpfer, die er in ihren Dienst stellt, entfalten die kritische Prüfung des prophetischen Lachens stattdessen narrativ, ohne es direkt zu thematisieren.⁷⁷ Diese Verschiebung ist umso interessanter, als sie die Figuren an sehr unterschiedliche Punkte des Macht- und Informationsgefüges setzt und damit den Konflikt, den Keie und Parzival austragen, auf mehreren Ebenen gleichzeitig ausspielt. Keie geht es wie bereits dargestellt um den Status des Artushofes und seiner Ritter. Seine Aufgabe als Seneschall des Königs ist es, so formuliert Wolfram im sechsten Buch, Artus und seinen Hof vor unwürdigen Besuchern, aber auch generell vor Schande zu schützen.⁷⁸ Als merkaere hat er die Aufgabe und die Kompetenz, die 75 Vgl. Bruno Quast: Diu bluotes mâl. Ambiguisierung der Zeichen und literarische Programmatik in Wolframs von Eschenbach Parzival. In: DVjs 77,1 (2003), S. 45–60; Friedrich Michael Dimpel: daz safer ime golde – Der ‚Parzival‘-Prolog zwischen Wiedererzählen und Anderserzählen. In: ZfdA 144 (2015), S. 294–324. 76 Auch Volfing betont die „obvious structural importance of the Keie-Cunnewâre episode for marking the stations of Parzival’s career“ (Volfing [Anm. 46], S. 46). 77 Dass Gewalt gegen Frauen ein zentrales Thema des Parzival ist, hat u. a. Ulrich Ernst gezeigt. Ulrich Ernst: Liebe und Gewalt im „Parzival“ Wolframs von Eschenbach. Literaturpsychologische Befunde und mentalitätsgeschichtliche Begründungen. In: Chevaliers errants, demoiselles et l’autre. Höfische und nachhöfische Literatur im europäischen Mittelalter. Festschrift für Xenja von Ertzdorff zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Trude Ehlert. Göppingen 1998 (GAG 544), S. 215–243. Vgl. auch Elisabeth Lienert: Begehren und Gewalt. Aspekte einer Sprache der Liebe in Wolframs „Parzival“. In: Wahrnehmung im „Parzival“ Wolframs von Eschenbach. Actas do Coloquio Internacional 15 e 16 de Novembro 2002. Hrsg. von John Thomas Greenfield. Porto 2004. S. 193–210; Lienert: Diskursivität (Anm. 58). 78 Artûses hof was ein zil, / dar kom vremder liute vil, / die werden unt die smæhen, / mit siten die wæhen. / Swelher partierens pflac, / der selbe Keien ringe wac […] / er was ein merkære. / er tet vil rûhes willen schîn / ze scherme dem herren sîn: / partierre und valsche diet, / von den werden er die
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werden von den partierre und valsche diet zu unterscheiden und letztere streng zu behandeln, ihm werden also vom Erzähler besondere Urteilskompetenzen und Handlungsberechtigungen zugewiesen, auch wenn sein Handeln wie in der Cunnewâre-Episode wiederholt als hochproblematisch dargestellt wird.⁷⁹ In dieser Hinsicht agiert Keie also im Rahmen seines Aufgabenbereichs am Hof, wenn er Parzival und Cunnewâres Prophezeiung ausgehend von Parzivals defizitären Verhalten aus dem Hof auszuschließen versucht. Parzival dagegen verfügt als Zeuge der resultierenden Gewalt nicht über das notwendige Wissen, um die Szene korrekt zu interpretieren, da die Bedeutung von Cunnewâres Lachen nur indirekt durch Keies Kommentar und auf extradiegetischer Ebene durch den Erzähler expliziert wird. So ist Parzival mit einem ihm unverständlich bleibenden Vorgang konfrontiert. Er versteht die Markierung seines auserwählten Status nicht und verpasst die prophetische Bedeutung der Szene.⁸⁰ Sein Handeln ist damit nicht wie Keies durch die Bestätigung oder Ablehnung der Voraussage begründet, sondern getrieben von dem Wunsch, Cunnewâres Schmerzen und Demütigung zu lindern. Diese rufen bei Parzival herze leit hervor – eine Vorwegnahme des Mitleids mit Anfortas, das Parzival schlussendlich zum Gralskönig machen wird und das hier spontan wirksam wird: do muose der junge Parzivâl / disen kumber schouwen / Antanors unt der frouwen. / im was von herzen leit ir nôt […].⁸¹ Auf dieser Ebene des Konflikts ist es also nicht die Prophezeiung, sondern vielmehr Keies Reaktion auf sie, die den Prozess von Parzivals Ehrakkumulation und damit letztlich die Erfüllung der Voraussage initiiert.⁸²
schiet: / er was ir fuore ein strenger hagel, / noch scherpfer dan der bin ir zagel. („Der Hof des Artûs war ein Ort, wo viele Fremde hinkamen, berü hmte wie berü chtigte, Mä nner von auserlesenem Geschmack und Benehmen. Leute mit Roßtä uschermanieren galten Keye wenig – jeder aber, der Courtoisie hatte und der Gesellschaft von Edelleuten wert war, fü r den wußte er alle Ehren aufzubieten und ihm gefä llig zu sein. […] Er war einer, der alles merkte. Er gab sich oft ungeschliffen und grob, um seinem Herrn Deckung zu geben. Aus der Gesellschaft des Adels las er die falschen Fü nfziger und Verrä ter aus; solchen Existenzen war er ein bö ser Hagelschlag und giftiger als ein Bienenschwanz.“ Parzival, 296,25–297,12). 79 Diese Aussage ist in der Forschung viel und kritisch diskutiert worden. Grundsätzlicher zu Keies Rolle vgl. Röcke (Anm. 61); Volfing (Anm. 46), hier auch eine ausführliche Diskussion rezenter Forschung (S. 45 f.). 80 Grundsätzlich zu Parzivals Verstehen und Missverstehen vgl. Walter Haug: Warum versteht Parzival nicht, was er hört und sieht? Erzählen zwischen Handlungsschematik und Figurenperspektive bei Hartmann und Wolfram. In: Positivierung von Negativität. Letzte kleine Schriften. Hrsg. von Ulrich Barton. Tübingen 2008, S. 141–156. 81 „Das also mußte der junge Parzival da sehen, wie ü bel es dem Antanor erging und der Dame. Ihr Unglü ck krä nkte ihn tief in seinem Herzen.“ (Parzival, 153,14–17). 82 Vgl. Volfing (Anm. 46), S. 50–57 für eine Diskussion der Stationen dieses Prozesses.
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In dieser Hinsicht wird Cunnewâres Lachen zum Stein des Anstoßes. Die doppelte Temporalität der Prophetie zwischen gegenwärtiger und zukünftiger Erfüllung (den hôhsten prîs / hete od solt erwerben) spannt einen narrativen Raum auf, in dem die scheinbar unüberbrückbare Distanz zwischen der im Jetztzustand defizitären Parzivalfigur und seiner von Cunnewâre, Antanor und dem Erzähler angekündigten Idealität überbrückt werden kann. Diese Differenz und ihre schrittweise Auflösung stellen zwar keinesfalls die Richtigkeit der Prophezeiung in Frage und können in dieser Hinsicht nicht als Kompromiss im engeren Sinne gelesen werden. Denn es wird – wie in der 25. Âventiure des Nibelungenliedes – die Richtigkeit der Prophetie schlussendlich bestätigt. Dennoch möchte ich vorschlagen, dass die narrative Entfaltung des Konflikts zwischen Keie und Parzival als eine Art Ausgleich, eine Annäherung der beiden Parteien im Sinne eines konsensualen Herrschaftsverbandes gelesen werden kann, wie sie typisch für den Wolframschen Artushof ist.⁸³ Indem Parzival mit seinen Kämpfen viele werde Ritter an den Hof bringt und selbst Mitglied der Tafelrunde wird, erhöht er deren Reputation, arbeitet also in gewisser Weise in die gleiche Richtung wie Keie, denn auch dieser ist um die Sicherung der arthurischen Ehre und Idealität bemüht. Wie Hagens Verhalten im Nibelungenlied führt dieses Bemühen Keies nicht nur zu ethisch problematischem Handeln, sondern auch zu weiterer Gewalt, letztendlich zur Tjoste der Blutstropfenszene, bei der sich Keie Arm und Bein bricht. Anders als die von Keie ausgeübte Gewalt gegen hilflose und marginalisierte Figuren, wird diese Gewalt aber eingehegt durch das höfische Ehre- und Interaktionssystem, denn sie erfolgt im Rahmen eines Zweikampfes. Dieser Prozess von Keies anfänglicher Deutungshoheit über Cunnewâres Prophetie in seiner Funktion als Stellvertreter und Wächter des Hofes bis hin zu der Bestätigung von Cunnewâres Ehre und Parzivals Idealität wird als schrittweise Bewegung der sozialen In- respektive Exklusion der beiden Streitparteien dargestellt.⁸⁴ Im Verlauf der Handlung distanzieren sich die Miglieder des Hofes zunehmend von Keies Gewalt gegen Cunnewâre – sie fungieren damit wie ein Stim-
83 Wie Rohr betont: „Ausgleich und Kompromiss sind die grundlegenden Prämissen, die die Artûsvon der Grâlgesellschaft unterscheidet“ (Rohr [Anm. 48], S. 310). Vgl. zum historischen Konzept der konsensualen Herrschaft Bernd Schneidmüller: Konsensuale Herrschaft. Ein Essay über Formen und Konzepte politischer Ordnung im Mittelalter. In: Reich, Regionen und Europa in Mittelalter und Früher Neuzeit. Festschrift für Peter Moraw. Hrsg. von Paul-Joachim Heinig [u. a.]. Berlin 2000 (Historische Forschungen 67), S. 53–87; Steffen Patzold: Konsens und Konkurrenz. Überlegungen zu einem aktuellen Forschungskonzept der Mediävistik. In: Frühmittelalterliche Studien 41 (2007), S. 75–103. 84 Vgl. Volfing (Anm. 46), S. 47.
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mungsbarometer für die zunehmende Erfüllung der Voraussage. Cunnewâre gewinnt an êre und letztlich sogar einen Ehemann. Keie verliert an dignitas ⁸⁵ und agiert spätestens in der Blutstropfenszene nicht mehr als Stellvertreter des Artushofes, sondern als Einzelfigur in einer Reihe von kämpfenden Artusrittern; stattdessen wird Gâwân eine hervorgehobene Rolle zugewiesen.⁸⁶ Die in der Cunnewâre-Episode gebildeten Urteile der unterschiedlichen Aktanten werden im narrativ entfalteten Prozess von Parzivals ritterlicher Ehrakkumulation schrittweise be- und widerlegt. Cunnewâres letztliche Überlegenheit liegt darin, die Zukunft bzw. das Potenzial Parzivals zu erkennen; ihre prophetische Kompetenz wird durch den Handlungsverlauf und die Aufnahme Parzivals in die Tafelrunde bestätigt. Keies Beurteilung des beim ersten Hofbesuch noch defizitären Parzival wird als unzureichend, da nur auf den Ist-Zustand fokussiert, entlarvt. Auf unterschiedliche Weise bewegen beide Parteien sich auf einen von der Voraussage markierten Punkt in der Zukunft zu, an dem ihre konfligierenden Standpunkte zusammenfallen und die gestörte Harmonie des Hofes wieder hergestellt ist. Die Voraussage wird, indem sie zunächst eine gewalttätige Eskalation der verschiedenen Positionen verursacht, zum Motor für einen Prozess der Angleichung von Erwartungen und Standpunkten, an dessen Ende die Transformation höfischer Idealität zu einem neuen Verständnis von Ritterschaft und Parzivals Berufung zum Gralskönig stehen.
III Dass prophetische Voraussagen Zweifel, reflektierende Dialoge und Urteilsbildung initiieren oder verstärken, anstatt sie zu beenden, ist ein häufiges Phänomen der mittelhochdeutschen Literatur. Die narrativen Inszenierungen von Prophetie im Parzival und Nibelungenlied gehen noch einen Schritt weiter, indem sie die verschiedenen Phasen und Funktionsstellen des Kommunikationsakts ‚Voraussage‘ bewusst verunklaren und damit sowohl die Frage nach der Sicherheit eines so
85 Vgl. Gerd Althoff: Königsherrschaft und Konfliktbewältigung im 10. und 11. Jahrhundert. In: Ders.: Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Frieden und Fehde. Darmstadt 1996, S. 21–56, hier S. 36, der dies als Konsequenz von fehlgehenden Rebellionen im Konflikt mit Königsherrschaft beschreibt. 86 Keie selbst ist der einzige, der den Konflikt an diesem Punkt nicht als gelöst ansieht (vgl. Volfing [Anm. 46], S. 45). Auf der individuellen Figurenebene ist für ihn also keine Annäherung gegeben, die Opposition besteht weiter. Sie verliert aber für den Rest der Figuren an sozialer Bedeutung und hat im Folgenden keine Handlungsrelevanz mehr.
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vermittelten Wissens stellen, als auch das eskalative Potential normativer Zukunftssetzungen vorführen. Der Kommunikationsakt ‚Prophetie‘ dient im Nibelungenlied wie im Parzival dazu, Reflexions- und Abwägungsprozesse in Gang zu setzen, die bereits vor dem Auftreten der Voraussage latent oder explizit vorhandene Konflikte bearbeitbar machen. In beiden Szenen werden dabei Inkongruenzen offengelegt: im Nibelungenlied die unterschiedlichen Erwartungshaltungen und Einschätzungen der Situation durch Hagen und seine Könige, im Parzival die Defizite der Parzivalfigur und des Artushofes im Kontrast zu höfischen Idealen. Die merewîp-Prophetie im Nibelungenlied erlaubt Hagen, seine Zukunftsbefürchtungen in Gewissheit zu verwandeln, die vorhandene und in den Beratungsszenen ausgedrückte Aporie zu bearbeiten und durch die Fokussierung auf Ehrakkumulation die unentrinnbare Situation semantisch umzuwerten. Im Parzival wird die auf der diskursiven Ebene von der normativen Setzung des Lachens ausgelöste Aporie verschoben auf die Ebene der histoire und so austragbar mit den Mitteln des ritterlichen Kampfes, der mit seiner Sieg/Niederlage-Dichotomie und sukzessiven êre-Akkumulation Klarheit über Parzivals Fähigkeiten schafft. Prophetie fungiert als Stein des Anstoßes, der diese Inkongruenzen und Konflikte offenlegt, durch Ambiguisierungen Zweifel erzeugt⁸⁷ und gerade dadurch eine produktive Arbeit an der Zukunft ermöglicht, welche die dichotomischen Positionen auf sehr unterschiedliche Weise integriert und gleichzeitig die Prophetie wahr werden lässt.⁸⁸ Hier und in anderen Erzählungen sind prophetische Voraussagen damit nicht als oppositionell zu Prozessen der Meinungs- und Konsensbildung zu verstehen, sondern als Impulse, die solchen Prozessen einen konkreten Anlass geben und gleichzeitig ihre Notwendigkeit sichtbar machen. Sie stoßen so narrative Prozesse an, die die Handlung der Erzählungen voranbringt, vor allem aber einen Reflektionsraum zwischen den Polen der Providenz und der menschlichen Handlungsmöglichkeiten aufspannt. Um Kompromisse im Sinne eines Entgegenkommens auf „halbem Wege“ handelt es sich freilich nicht, denn in beiden Episoden treffen die Prophezeiungen letztlich zu. Sie können weder abgewendet noch abgewandelt werden. In den
87 Zweifel ist hier verstanden als „das de[r] mentale[…] Zustand der Ungewißheit und de[r] Akt des Infragestellens (Bezweifelns)“ (Stefan Lorenz: Art. Zweifel. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie online, http://dx.doi.org/ 10.24894/HWPh.5000 [Zugriff: 17.12. 2022]). Vgl. auch Witthöft: Suche (Anm. 5), S. 81, die den literarischen Umgang mit Weissagungen in einem „Spannungsfeld von Zweifel und Gewissheit“ verortet. 88 Zur Ambiguität als Mittel zur Klärung von politischen Konflikten vgl. Gerd Althoff: Ambiguität als Stärke und Schwäche einer ehrbewussten Gesellschaft. In: Auge, Witthöft (Anm. 5), S. 273–286.
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Analysen beider Darstellungen von Prophezeiungen hat sich jedoch gezeigt, dass die Texte mit Doppelungen und Veruneindeutigungen arbeiten – im Parzival in Form der präsentischen und futurischen Komponenten der Prophetie, im Nibelungenlied in Form der scheinbar oppositionellen Voraussagen –, die in gewisser Weise durchaus das Erreichen eines ‚Sowohl-als-auch‘-Zustandes narrativ entfalten. Menschliche Intentionen und providentielle Setzungen mögen zu Beginn der Passagen im Konflikt stehen, werden jedoch im narrativen Prozess harmonisiert oder zumindest teilweise in Deckung gebracht. Analog zur Kompromissbildung fungiert der Kommunikationsakt ‚Prophetie‘ als prozessuale narrative Entfaltung von Positionen und Konflikten. Gerade durch die Betonung der Prozessualität und der schrittweisen Bearbeitung von Widersprüchen und Konflikten, durch die Thematisierung von Wissensgefällen und die Vorführung von Erkenntnisprozessen und Urteilsbildung, wird ein Ausweg aus der Aporie möglich.
Register (Autoren, Werke, Personen/Figuren) Bearbeitet von Sarah Scharrer
Abaelard, Peter 36, 53, 55, 61, 69, 72, 74 f., 97 – Collationes sive Dialogus inter Philosophum, Iudaeum et Christianum 36, 53, 69 – Sic et non 53 Actus Silvestri 95 Ad abolendam 96 Adam 19, 33–35, 37, 49, 380 Adolf II., Gf. von der Mark 244 Adolf VI., Gf. von Berg 251 Adolf von Lüttich 240 f., 251 Ælle [Ella], Kg. von Northumbria 362 f., 365 Aeneas 299–305, 307–309, 311–316, 319–321, 324–326, 328–330, 332, 334, 337, 341–343, 347 f. Albertus Magnus 50, 184, 239, 243, 252, 255 Albrecht der Bär 226 Alexander III., der Große 288, 344 Alexander III., Papst 79, 90, 274 Alexios I. Komnenos, Ks. 26, 280, 287, 289 Andronikos II., Ks. 291 Andronikos III., Ks. 291 Anna Komnene 280, 287, 289 f. Anonymous Tarragonensis 289 Aristoteles 50, 53 Arnaud Otha 111 Arnold Amaury, Ebf. von Narbonne 105, 115 f., 118, 120 Balduin von Luxemburg 243, 245, 251, 291 Benoît de Termes, Bf. 111 Bernard de Simorre, Bf. 109 Bernardus Raimundus, Bf. 103 Bernhard, Mgf. 211 Bernhard von Clairvaux 75 Bernoldus Constantiensis 20, 86 f., 89 Boethius, Anicius Manlius Severinus 37, 72 Bohemund I. von Antiochia 289 Bonizo von Sutri 20, 89 – Liber ad amicum 89 Bósa saga 360 f., 363, 366 Boso, Kardinal 90 https://doi.org/10.1515/9783110792737-016
Boso I., Gf. der Provence 212, 218 f. Brandan 22, 135 f., 158–172, 403 Bruno Querfurtensis 80 – Vita quinque fratrum 80 Bruno von Merseburg 20, 84, 88 – Buch vom Sachsenkrieg 84, 89 Calixt III., Papst 229 Cäsarius von Heisterbach 58, 119 f. Chanson de la Croisade albigeoise 106, 109, 116 f., 119 Chrétien de Troyes 147, 353, 379, 394, 396, 398, 423, 428 f. – Perceval 379, 398 f., 428 Clemens IV., Papst 275 Crypianus, Thascius Caecilius 114 Diego von Osma 105–107, 109, 111 f., 114 Dietrich von Bern 28, 358 f., 366–369, 371–378 Dietrich von Isenburg 243 Dominikus 105–107, 109–111, 114 f. Eberhard, Gf., Hz. von Franken 211 Eckenlied 28, 355, 358, 366–368, 370, 373, 377 f. Meister Eckhart 178, 183 f. Elsbeth von Oye 23, 175, 177–201 – Offenbarungen 23, 175, 177–182, 184 f., 187, 189, 191–198, 200 f. – Vita 176 f., 179, 182, 201 Eneas 337–347, 349–351, 356 Engelbert II., Gf. von der Mark 250 Engelbert II. von Valkenburg 251 f. Engelbert III., Gf. von der Mark 243, 255 Eva 19, 33–35 Flodoard von Reims 210–213, 217–219, 226 Fornaldasögur 28, 360, 362 Friedrich I., Ks. Barbarossa 5, 20, 24, 79, 219– 224, 226–228, 230 f. Friedrich II., Ks. 90 f. Friedrich III. von Saarwerden 242 f., 248, 255
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Register (Autoren, Werke, Personen/Figuren)
Gaucelm von Lodève, Bf. 100 f. Genesis 33 Georgios 291 Gerardus de Fracheto 106 f. Gerhard VII., Gf. von Jülich 249–251, 253 Gerhard von Blankenheim 243 Gerhard von Thorn 250 Giselher, Bf. von Merseburg 81 Gottfried von Straßburg 2, 8, 14 f., 38, 136, 177, 297, 353 – Tristan 2, 8, 13–15, 38, 136, 297, 353 Grágás 364 f. Gratianus de Clusio 94, 96 – Concordantia discordantium canonum (Decretum Gratiani) 94 Gregor VII., Papst 85–87, 96 Gregor von Tours 212 Gregor X., Papst 252, 275 Guilabert de Castres, Bf. 111 Guillaume de Puylaurens 106, 112 f. Gundacker von Judenburg 35 – Christi Hort 35 Heidenreich von Essen 250 Die Heidin (B) 12 f. Heinrich I., Kg. 218 f. Heinrich II., der Zänker 216 f. Heinrich II. Jasomirgott 219–222, 230 Heinrich II. von Virneburg 242, 247, 249, 251, 253 Heinrich II. von Waldeck 253 Heinrich III., der Löwe 24, 219–222, 226–228, 230, 232 Heinrich IV., Ks. 20, 84–89 Heinrich von Veldeke 27, 335, 339–343, 345– 351, 353 – Eneide 346 Heribert II., Gf. von Vermandois 211 f., 226 Hildegard von Bingen 185 Hugo von Franzien 210, 212 Hugo von Reims, Ebf. 210 Innocenz III., Papst 96 f., 99, 105, 108 f., 113, 115, 272 Innocenz IV., Papst 90 Ioannes Skylitzes 289 Isaak, Gf. von Cambrai 211
Johann II., Hz. von Brabant 247 Johann III., Hz. von Brabant 241, 248, 251 Johannesevangelium 22, 129, 136, 139, 155, 165, 168, 186 Jordan von Sachsen 106–110 – Libellus de principiis ordinis praedicatorum 106 f. Juno 27, 300–303, 305–312, 314–328, 332, 334, 336 f., 341–343, 345, 351 Jupiter 27, 300, 302–312, 314, 316–325, 327– 332, 334, 336 f., 341–343, 345, 348, 351 Justinian I., Ks. 280 Karl II., der Kahle, Ks. 213 f., 224–226 Knud Laward 211 Konrad I. von Hochstaden 251, 254 Konrad III., Kg. 219 Konrad von Heimesfurt 22, 135 f., 140, 144–149, 150 f., 154, 156–158, 172 – Hinvart 22, 136, 140, 144, 149, 151, 154, 158, 165 Konstantin I., Ks. 94 Kudrun 359 f. Kuno II. von Falkenstein 255 Lampert Hasungen 20, 85 f. – Annales 85 Laurentius von Somercote 25, 261–263, 272– 274, 277 – Der Traktat über die Vornahme von Bischofswahlen 25, 261, 263, 272 f. Laxdœla saga 364 Leibniz, Gottfried Wilhelm 73 Leon VI., Ks. 26, 282 – Sylloge tacticorum 26, 282 f. Lothar I., Ks. 225 Lothar III., Ks. 211 Ludwig II., der Deutsche, ostfrk. Kg. 213, 224 f., Ludwig II. von Hessen 242 Ludwig IV., westfrk. Kg. 212, 239 Magnus, Kg. von Schweden 211 Manuel I. Komnenos, Ks. 26, 290 Margarete von Thorn 250 Margaretha Ebner 196 f. Marguerite Porete 200
Register (Autoren, Werke, Personen/Figuren)
Maria, Mutter Gottes 21 f., 121–133, 135, 138 f., 144–149, 152, 153, 156 Matthaeus Parisiensis 91 Maurikios I., Ks. 284–286 Mechthild von Magdeburg 179 f., 185 Michael Psellos 289 f. de Montaigne, Michel Eyquem 1, 73 Navigatio Sancti Brendani 22, 136, 159 f., 164, 166 f., 169–172 Neutrale Engel 22, 28, 35, 161 f., 164–168, 172, 379, 381 f., 384–388, 391 f., 394, 400–404 Nibelungenlied 29, 355, 357, 359, 364, 388, 405, 407–418, 421 f., 431–434 Nicolaus de Curbio [Nicolaus von Calvi] 90 Nikephoros Gregoras 291 Nikolaus von Kues 39, 57, 61, 70, 72–74, 76 – De pace fidei 74 – Idiota de sapientia 76 Ötenbacher Schwesternbuch 182, 201 Otto I., Ks. 212 Otto II., Ks. 81–83, 217 Otto III., Ks. 80, 216 f. Otto, Bf. von Freising 24, 220–223, 226–228, 232 Paulus, Apostel 85, 93, 149, 170 Peter von Castelnau 105 Peter von Vaux-de-Cernay 106, 115, 117–119 – Historia Albigensis 106–109, 111, 115–118 Petros, Präfekt Ägyptens 286 Petrus, Apostel 85 f., 89, 145 f., 149, 156, 158 Petrus Cantor 97 Petrus von Pavia 103 Philipp, der Bruder 21, 121–123, 126–133 – Marienleben 21, 121–123, 126 f., 130–133 Philipp II., Kg. von Frankreich 115, 223 Prokopios von Kaisareia 285 Radulph von Fontfroide 105, 108, 111 Ragnars saga loðbrókar 360, 362 f., 365 f. Raimund V., Gf. der Provence 100 Raimund VI., Mgf. der Provence 116 Raimund von Baimiac 103
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Raimundus Lullus 19 f., 33, 39–42, 44, 47–66 69–75, 172 – Ars brevis 47, 50, 52–57, 59, 63 – Ars demonstrativa 42, 50, 71 – Ars generalis ultima 50 – Felix oder Das Buch der Wunder 19, 40, 51, 70 – Liber de gentili et tribus sapientibus 58, 60, 66 – Libre de contemplació en Déu 56 – Lo Desconhort 75 – Logica nova 49–57, 73 – Vita coaetanea 58 Rainald von Montpeyroux, Bf. von Béziers 115 f., 118 Rainer von Fossanova 105 Raymond Trencavel, Vizegf. von Albi und Carcassonne 100 Reinald I., Gf. von Geldern 247 Reisefassung des St. Brandan 22, 136, 159, 165, 167, 172 Richard I., Löwenherz 223 Robert Guiskard, Hz. von Apulien 287 Robert von Auxerre 113 Rolandinus Passagerii 25, 261–269, 277 – Summa totius artis notariae 25, 261–266, 268 Roman d’Eneas 27, 335, 337, 339–347, 351, 353 Romanos I. Lakapenos, Ks. 287 Rudolf, westfrk. Kg. 212, 217 f. Rudolf Agricola 59 – De inventione dialectica libri tres 59 Rudolf von Rheinfelden 20, 87–90, 270 Salimbene Parmensis 90 Sicard de Lautrec, Vizegf. 100 Sichar 212 Siegfried von Westerburg 252 Silvester I., Papst 94 f. Simeon I. 288 Tankred von Lecce, sizilischer Kg. 223 Theoderich der Große, Kg. 366 Theodoros Metochites 291 Thietmar von Merseburg 81–83, 87, 211, 215– 217 – Chronicon 81
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Register (Autoren, Werke, Personen/Figuren)
Thomas, Apostel 22, 135–140, 143–152, 154– 158, 160 f., 163–165, 167 f., 172 Thomas von Aquin 34, 50, 183 – Summa Theologiae 34 Ulrich von Etzenbach 10 f. – Wilhalm von Wenden 10 f., 15 Urban IV., Papst 275 Venus 27, 300–320, 322–326, 328 f., 334, 336– 338, 340–343 Vergilius Maro, Publius 27, 295, 297–301, 303, 311, 317, 319, 326, 328, 331–337, 339, 341– 343, 345 f., 348–353 – Aeneis 27, 297–302, 304, 306, 309 f., 320, 324, 326 f., 329, 332–336, 342 f., 346 f., 350– 353 Vita beate virginis Marie et Salvatoris rhythmica 126, 176 Vita Heinrici IV. imperatoris 88 Völsungasaga 28, 362 f.
Walram von Jülich, Ebf. und Kurfürst von Köln 241, 243–245, 251 Wido, Bf. von Soissons, Bf. 210 Wikbold von Holte, Ebf. und Kurfürst von Köln 250 Wilhelm, Bf. von Albi 100 f. Wilhelm II., Hz. von Aquitanien 217, 248 Wilhelm II., Hz. von Jülich 248 Wilhelm IV., Gf. von Hennegau-Holland 244 Wilhelm IV., Gf. von Jülich 251 Wilhelm von Gennep, Ebf. und Kurfürst von Köln 244, 248 Wolfram von Eschenbach 2, 28 f., 58, 67, 135, 168, 371, 379–383, 385, 387, 391–399, 402– 404, 408, 419 f., 422–424, 428–430 – Parzival 28 f., 135, 168, 368, 374, 379–405, 408, 419–434 – Willehalm 58, 382 f.