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German Pages 184 Year 1999
SIMMA I WEILER I ZÖCKLER
Kompetenzen und Grundrechte
Schriften zum Europäischen Recht Herausgegeben von
Siegfried Magiera und Detlef Merten
Band 59
Kompetenzen und Grundrechte Beschränkungen der Tabakwerbung aus der Sicht des Europarechts
Von Bruno Simma, J. H. H. Weiler und Markus C. Zöckler
Duncker & Humblot . Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Simma, Bruno: Kompetenzen und Grundrechte: Beschränkungen der Tabakwerbung aus der Sicht des Europarechts I von Bruno Simma, J. H. H. Weiler und Markus C. Zöckler. - Berlin : Duncker und Humblot, 1999 (Schriften zum europäischen Recht ; Bd. 59) ISBN 3-428-09278-3
Alle Rechte vorbehalten 1999 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany
©
ISSN 0937-6305 ISBN 3-428-09278-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 9
Vorwort Die Bedeutung der lebhaften öffentlichen Debatte über die Richtlinie der EG zur Regelung der Tabakwerbung geht weit über die im Vordergrund stehenden ernstzunehmenden Gesundheitsrisiken des Rauchens und die Auseinandersetzung über Wege zur Reduzierung dieser Risiken hinaus. Hinter dieser gesundheitspolitischen Kontroverse verbirgt sich vielmehr die grundsätzlichere juristische Problematik, welche Schranken der europäischen Rechtsetzung - gerade auch gegenüber den Mitgliedstaaten - gezogen werden. Kompetenzen und Grundrechte - diese Eckwerte der Gemeinschaftsordnung stellen die primären Ansatzpunkte dar, um der europäischen Rechtsetzungsmacht Grenzen zu ziehen. Das europäische Dogma ist eindeutig: Die Union beruht auf dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und darf nur innerhalb der durch den Vertrag gesetzlich übertragenen Befugnisse tätig werden. Ebenso wie die Union in Gesetzgebungsund Verwaltungsakten den Kern der die Mitgliedstaaten bindenden Grundrechte zu respektieren hat, wird von ihr eryvartet, daß sie die grundlegenden Grenzen ihrer eigenen Kompetenzen beachtet. Aus diesem Grunde hatte der Europäische Gerichtshof, als er in seinem berühmtesten Fall Van Gend en Loos die neue europäische Rechtsordnung aus der Taufe hob, größten Wert darauf gelegt, daß die Mitgliedstaaten ". .. in begrenztem Rahmen" ihre Souveränitätsrechte eingeschränkt haben. Aber wer kann heute sagen, wo diese Grenzen liegen? Nach einem vielzitierten Aper~u eines amerikanischen Juristen lebt das Recht nicht von Logik:, sondern von Erfahrung ("the life oflaw is not logic but experience"). Wahrscheinlich führten Erfahrungen einen prominenten europäischen Juristen, der jetzt Richter am Gericht erster Instanz ist, im Jahre 1990 zu der lobenswert scharfsinnigen Schlußfolgerung, daß "es einfach keinen Souveränitätskern als solchen gibt, auf den sich die Mitgliedstaaten gegenüber der Gemeinschaft berufen können". Das Unbehagen gegenüber einer scheinbar unbegrenzten Macht der Gemeinschaft und der Union zeigte sich sowohl in der breiten Öffentlichkeit als auch in der Reaktion der nationalen Gerichte, wie zum Beispiel im Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts. In mancher Hinsicht war der Maastricht-Vertrag mit der Verankerung des viel gerühmten Subsidiaritätsprinzips im positiven Recht eine direkte Reaktion auf diese vorangegangenen Erfahrungen. Heute wissen wir, daß das Subsidiaritätsprinzip oft nur eine Fata Morgana ist: Vielversprechend von weitem,
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Vorwort
aber irreführend, wenn aus der Nähe betrachtet. Die anpassungsfähigen Konturen des Konzepts geben der Gemeinschaft eine Entschuldigung für ihre Untätigkeit, wenn sie nicht agieren will, und erlegen keine wirklichen Beschränkungen auf, wo es notwendig wäre. Die Schranken der Gemeinschaftskompetenzen werden somit auch nach dem Amsterdamer Vertrag ein brisantes Thema bleiben. Eine Untersuchung dieser Schranken am Beispiel des Verbots von Tabakwerbung erscheint uns daher ein lohnenswertes Unterfangen. Weite Teile der öffentlichen Meinung, zu denen auch wir uns rechnen, sind überzeugt, daß die Gefahren des Rauchens und konsequenterweise auch der Tabakwerbung (insbesondere für junge Menschen) hinreichend bewiesen sind. Vermutlich würden in den meisten Mitgliedstaaten signifikante Beschränkungen oder sogar ein Totalverbot der Tabakwerbung von der Mehrheit befürwortet. Es ist einfach, gegen übermäßigen europäischen Einfluß zu protestieren, wenn wir den tatsächlichen Inhalt einer Euro-Regelung ablehnen. Aber rechtfertigt die Tatsache, daß das Ziel erstrebenswert erscheint, den Erlaß jeder europäischen Regelung? Die Angelegenheit wird dadurch weiter kompliziert, daß wir uns der Macht bewußt sind, die nationale und internationale Tabakproduzenten und Zigarettenhersteller ausüben. Aber soll die Unbeliebtheit dieser privaten Akteure ausreichen, um die öffentlichen Akteure auf europäischer Ebene zum Erlaß. von Beschränkungen zu ermächtigen? Vor dem Hintergrund dieser Fragen werden in Abschnitt C. dieser Monographie die europäischen Kompetenzen für eine Regelung von Tabakwerbung erörtert. Das Totalverbot der Tabakwerbung stellt unser Empfinden aber noch in anderer Weise auf die Probe. Jedermann befürwortet Menschenrechte und insbesondere die Meinungsfreiheit. In Europa hat sich sowohl auf der nationalen als auch auf der internationalen Ebene ein ausgewogeneres Verständnis von Meinungsfreiheit herausgebildet als in den Vereinigten Staaten. In Amerika wird das berühmte "First Amendment" der amerikanischen Verfassung so ausgelegt, daß es zum Beispiel auch das Recht einer Bande von Neonazis schützt, in voller Montur durch ein Wohngebiet jüdischer Überlebender zu marschieren. In Europa würden viele Länder solche Fälle von "Meinungsfreiheit" gemäß den nationalen und internationalen Normen verbieten und anderen gesellschaftlichen Werten den Vorzug einräumen. Verschiedene geschichtliche Hintergründe, verschiedene Wertvorstellungen und verschiedene politische Kulturen beleben die zwei Verfassungssysteme aufbeiden Seiten des Atlantiks. Steht also die Tabakwerbung in der europäischen Rechtsordnung unter nationalem oder internationalem verfassungsrechtlichem Schutz? Diese Frage soll im Mittelpunkt des Abschnitts D. der Monographie stehen.
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Vorwort
Im abschließenden Absclmitt F. prüfen wir den Gemeinsamen Standpunkt des Rates vom 12. Februar 1998, der schließlich zur Annahme der Richtlinie 98/43/EG fiihrte, daraufhin, ob die darin vorgenommenen Änderungen ausreichend erscheinen, um die gegenüber dem früheren Richtlinienvorschlag aus dem Jahre 1992 vorgebrachte Kritik, es fehle an einer ausreichenden Rechtsgrundlage der Gemeinschaft, zu entkräften. Unsere Untersuchung geht auf ein unabhängiges Rechtsgutachten zurück, das wir für den deutschen Verband der Zeitschriften- und Zeitungsverleger im Jahr 1993 erstellt haben. In einem Nachtragsgutachten haben wir im Mai 1998 außerdem den Gemeinsamen Standpunkt des Rates vom 12. Februar 1998 auf seine Vereinbarkeit mit dem Gemeinschaftsrecht untersucht. Unsere Auftraggeber hatten uns nicht darum gebeten, "ihren Fall" zu vertreten, sondern erwarteten unsere unvoreingenommene Meinung zur Rechtslage; der Leser wird feststellen, daß unsere Ausführungen sich nicht immer mit dem decken, was eigentlich im besten Interesse des Verbandes gelegen wäre. Das Kapitel über die Gemeinschaftskompetenzen wurde hauptsächlich von Joseph Weiler bearbeitet; Bruno Simma und Markus Zöckler zeichnen vor allem für das Kapitel über die Grundrechte des Gemeinschaftsrechts verantwortlich. Beim Redigieren des Textes und der Vorbereitung für die Veröffentlichung haben wir nur in begrenztem Umfang aktualisierende Änderungen vorgenommen. Obgleich das ursprüngliche Rechtsgutachten, auf dem dieser Text im wesentlichen basiert, bereits im Jahr 1993 erstellt wurde, ist seitdem nichts geschehen, was Änderungen unserer dargelegten Meinung erforderlich erscheinen ließe, ganz im Gegenteil: Die angesprochenen Fragen sind heute noch so drängend wie bereits damals, wenn sie sich nicht noch zugespitzt haben. Einige jüngst erschienene Artikel zu diesem Thema wurden dem Literaturverzeiclmis hinzugefügt. Die Arbeit von Thomas von Danwitz ("Produktwerbung in der Europäischen Union zwischen gemeinschaftsrechtlichen Kompetenzschranken und europäischem Grundrechtsschutz"), erschienen in dieser Reihe als Band 47, konnte bedauerlicherweise bei Fertigstellung des Manuskripts nicht mehr berücksichtigt werden. Unser ganz besonderer Dank gilt Christina Volquartz für ihre unermüdliche redaktionelle Arbeit in den letzten Stufen der Vorbereitung des Textes für die Veröffentlichung. Bruno Simma (München)
J.H.H. Weiler (Cambridge, Ma.) Markus ZöckJer (München)
Inhaltsverzeichnis A. Einleitung..................... . ........ . . . . . . . . . .......... . . . . . .... 13 B. Die vorgeschlagene Richtlinie im Kreuzfeuer der Europapolitik . . . . . . . . . . .. 16
1. Der Inhalt des Richtlinienvorschlags ................................ 16
n. m.
Die politische Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 17 Faktische Prämissen der Abhandlung ... . . . . . . . .......... . . . ........ 19
C. Kompetenz der Europäischen Gemeinschaften zum Erlaß der vorgeschlagenen Richtlinie .......................................................... 20
I. Gliederungshinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 20
n. m.
Hintergrund und Zusammenhang .................................. 20 Die Bedeutung der Achtung der im EWG-Vertrag festgelegten Grenzen der Gemeinschaftskompetenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 22
IV. Die Bestimmung der Grenzen der Gemeinschaftskompetenzen . . . . . . . . . .. 25 V. Die Überschreitung der Kompetenzgrenzen durch den Richtlinienvorschlag
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1. Inhalt und Rechtsgrundlage des Riclitlinienvorschlags nach Ansicht der Kommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 28 2. Haupt- und Nebenziel der Richtlinie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 29 3. Die Rechtfertigung durch Gesichtspunkte des Binnenmarktes. . . . . . . .. 38 a) Das Verbot der direkten Werbung ........................... 38 aa) Ortsgebundene Werbung: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 40 bb) Printwerbung in Zeitungen und Zeitschriften ....... . . . ..... 40 (1) Örtlich werbende Zeitungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 41 (2) Werbebeilagen in Zeitungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 41 cc) Integrale Werbung in Zeitungen mit einem europäischen Markt. 42 b) Das Verbot der indirekten Werbung .......................... 45 c) Ergebnis................................................ 46 4. Die Beseitigung von Wettbewerbsverzerrungen als Rechtfertigungsgrund filr die Rechtsetzung ................................... : 46 VI. Die geeignete Rechtsgrundlage fllr die Richtlinie ...................... 50
vn.
Subsidiarität ................................................... 58
10
Inhaltsverzeichnis 1. Das Merkmal der Kompetenzzuweisung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 60 2. Das Merkmal der VerhäItnismäßigkeit ............................ 60 3. Das Merkmal der "Subsidiarität im streng rechtlichen Sinn" .......... 66 VIll. Die Reaktion der nationalen Gerichte und die Gefahr einer Verfassungskrise 68 l. Vorbemerkung .............................................. 68
2. Die Mutation der Gemeinschaftskompetenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 70 a) Extension ............................................... 72 b) Absorption.............................................. 74 c) Inkorporation............................................ 77 d) Expansion .............................................. 78 3. Die mögliche Reaktion der nationalen Gerichte .................... 81
D. Die Vereinbarkeit des Richtlinienvorschlages mit den Grundrechten des Gemeinschaftsrechts .................................................... 84 I. Einleitung
.................................................... 84
l. Die grundrechtliche Problematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 84
2. Eingrenzung der Fragestellung ................................. 84 3. Kompetenzfrage und Menschenrechte ........................... 85 4. Gliederungshinweise .................... . . . .................. 86 II. Grundrechtsbindung der EG ................... . .................. 86 1. Grundlagen der Grundrechtsbindung der EG ....... . . . . . . . . . . . . . .. 87 2. Selbständigkeit der EG-Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 88 3. Einschränkungsmöglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 90 4. Prüfungsumfang: Die Richtlinie als Gegenstand der grundrechtlichen Prüfung ......................................... " ......... 92 5. Handlungen der Mitgliedstaaten (Umsetzung der Richtlinie in nationales Recht) ..................................... . . . . . . . .. 93
m.
Internationale Menschenrechte als Rechtserkenntnisquelle für Grundrechte des Gemeinschaftsrechts ......................................... 94 l. Meinungs- und Pressefreiheit .................................. 94
a) Europäische Menschenrechtskonvention (Art. 10 EMRK) ........ 94 aa) Der Schutzbereich des Art. 10 EMRK und die Werbung ...... 94 bb) Eingriff in die Meinungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 99 cc) Rechtfertigung des Eingriffs nach Art. 10 Absatz 2 EMRK ..
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b) VN-Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPbpR) .. . . . . .
105
c) Helsinki-Prozeß ............................. ;..........
109
2. Freiheit des Berufes und der wirtschaftlichen Betätigung. . . . . . . . . . .
112
Inhaltsverzeichnis
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a) EMRK...............................................
112
b) Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte.......... ................... . ........... . ..... c) Europäische Sozialcharta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
113 113
3. Der Schutz des Eigentums durch das Erste Zusatzprotokoll der EMRK
113
IV. Die gemeinsame Verfassungstradition der Mitgliedstaaten ............. 120 1. Meinungs- und Pressefreiheit ................................
120
a) Schutz der Werbung in den Mitgliedstaaten. . . . . . . . . . . . . . . . . .
120
b) Exkurs (U.S.A., Kanada, Schweiz, Österreich) ...............
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2. Berufs- und wirtschaftliche Unternehmensfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . .
124
3. Eigentum ................................................
125
4. Aussagen zu einem Totalverbot der Tabakwerbung . . . . . . . . . . . . . . .
126
5. Ergebnis.................................................
127
V. Schutzbereich der Grundrechte im Gemeinschaftsrecht ... . . . . . . . . . . . .. 127 1. Bisherige Rechtsprechung des EuGH zur Meinungsfreiheit ........
127
2. Bisherige Rechtsprechung des EuGH zur Berufsfreiheit .. . . . . . . . . .
128
3. Bisherige Rechtsprechung des EuGH zum Eigentumsrecht . . . . . . . . .
129
VI. Zulässigkeit der Grundrechtseinschränkung im Gemeinschaftsrecht ... . .. 129 1. Prognose- und Beurteilungsspielraum des Gesetzgebers ......... . .
131
2. Gesundheitsschutz als legitimes Ziel des Gemeinschaftsrechts ......
134
3. Geeignetheit des totalen Verbots. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
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4. Erforderlichkeit des eingesetzten Mittels. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
136
5. Indirekte Werbung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
138
6. Gesundheitsschutz flirJugendliche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
141
7. Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne ................. . .......
142
8. Rechtfertigung durch das Ziel der Rechtsharmonisierung ..........
142
VII. Grundsätzliche rechts politische Erwägungen ........................ 144
E. Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse ................. . ...... 146 F. Die Vereinbarkeit der Richtlinie 98/43/EG mit dem Gemeinschaftsrecht ... 147
1. Einleitung ...................... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 147 II. Anwendungsbereich und Reichweite der Richtlinie nach dem Gemeinsamen Standpunkt des Rates. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 148 ill. Die Tarnung von Ursprung, Zweck und Auswirkungen der Richtlinie .... 151
IV. Veröffentlichungen aus Drittländern .... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 155
Inhaltsverzeichnis
12
V. Die Artikel 57 Abs. 2 und 66 - ein Visum für die Richtlinie?
158
VI. Gesundheitsschutz als Ausnahmetatbestand
160
VII. Zusammenfassung der Ergebnisse ................... . ............ 161
Entscheidungsveneichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 163 Literaturveneichnis ................................................... 167 Annexe
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1. Richtlinienvorschlag der Kommission vom 30. April 1992
n. m.
Richtlinie 98/43/EG vom 6. Juli 1998
171 175
Stellungnahme des Rechtsausschusses des Parlaments zum Gemeinsamen Standpunkt des Rates vom April 1998 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 181
A. Einleitung Rauchen tötet! Von der Richtigkeit dieser Aussage sind die Autoren dieser Abhandlung überzeugt. Am 30. April 1992 hat die Kommission einen Richtlinienvorschlag vorgelegt, der die Werbung für Tabakerzeugnisse in allen Mitgliedsstaaten nahezu vollständig verbieten sollte; arn 6. Juli 1998 verabschiedete der Rat schließlich eine Richtlinie, die nicht nur die Werbung, sondern auch das Sponsoring für Tabakerzeugnisse einem umfassenden Verbot untelWirft. I Daß die Fragen nach den Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaften zum Erlaß dieser Richtlinie und nach der Vereinbarkeit mit den Grundrechten des Gemeinschaftsrechts gestellt werden, soll keinesfalls die Gesundheitsschädlichkeit des Rauchens in Frage stellen. Es soll lediglich geklärt werden, wer den aufgrund der Gesundheitsschädlichkeit gegebenen Regelungsbedarf ausfüllen darf. Auch nach Erlaß der Richtlinie erscheint eine Klärung notwendig, denn immer noch steht die Frage danach, wie sich die Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaften begrenzen lassen, im Brennpunkt der europapolitischen und - rechtlichen Diskussion. Die Problematik der Richtlinie reicht somit weit über sie selbst hinaus Die dringende Notwendigkeit einer Begrenzung oder zumindest einer klaren Abgrenzung der nationalen von den europäischen Kompetenzen kann heute nicht mehr bestritten werden. Unklarheit herrscht aber nach wie vor über das "wie", die Art und Weise, in der die Abgrenzung vorgenommen werden soll.
I Geänderter Vorschlag der Kommission flIr eine Richtlinie des Rates über eine Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedsstaaten betreffend die Werbung für Tabakerzeugnisse (EG-ABI. C 129/5 vom 21.5.92 = KOM (92) 196 endg. -SYN 194; von der Kommission gern. Art. 149 Abs.3 des EWG-Vertrages am 30. April 1992 vorgelegt), abgedruckt in ANNEX I zu dieser Abhandlung. Gemeinsamen Standpunkt (EG) NT. 15/98, vom Rat festgelegt am 12. Februar 1998 im Hinblick auf den Erlaß der Richtlinie 98/ lEG des Europäischen Parlaments und des Rates vom ... zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über Werbung und Sponsoring zugunsten von Tabakerzeugnisse (EG-ABI. C 91/34 vom 26.3.1998); abgedruckt in ANNEX II zu dieser Abhandlung. Richtlinie 98/43/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Juli 1998 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über Werbung und Sponsoring zugunsten von Tabakerzeugnisse (EG-ABI. L 213/9 vom 30.07.1998).
14
A. Einleitung
Diese Frage soll jedenfalls im Hinblick auf den Richtlinienvorschlag von 1992 in Teil C und hinsichtlich des Gemeinsamen Standpunktes des Rates, der der am 6. Juli 1998 erlassenen Richtlinie zugrundeli~gt, in Abschnitt F. geklärt werden. Da es sich dabei aber um einen fast schon klassischen Vorgang handelt - die Kommission rechtfertigt eine Maßnahme, für deren Hauptziel sie eigentlich keine Kompetenz beanspruchen kann, mit Notwendigkeiten des Binnenmarktes - kann der Abgrenzungsvorschlag auf eine Vielzahl anderer Bereiche übertragen werden, in denen die Argumentation ähnlich verl~ufl:. Schließlich hat auch das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts die Einhaltung und die exakte Abgrenzung der Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaften mit einem Schlag aus der rein europapolitischen oder akademischen Diskussion herausgelöst. Das Gericht hat mit seinem Urteil einen offenen Konflikt zwischen dem EuGH und dem Bundesverfassungsgericht und damit eine europäische Verfassungskrise erheblichen Ausmaßes in greifbare Nähe rücken lassen. Die Konsequenzen eines Urteils des Bundesverfassungsgerichts, in dem es feststellt, daß den Europäischen Gemeinschaften die Kompetenz zu einer bestimmten Maßnahme fehlt und die Bundesrepublik an diese deshalb nicht gebunden ist, lassen sich nur schwer abschätzen, aber wohl kaum unterschätzen. Mit Sicherheit würde die daraus resultierende Verfassungskrise den altbekannten Konflikt der Solange-Rechtsprechung um die Grundrechte an Brisanz bei weitem übertreffen. Auch der Streit um die Nichtbefolgung der Bananen-Verordnung durch deutsche Gerichte berührte diese Problematik. Allerdings wurde in diesem Fall die Nichtigkeitsklage Deutschlands vom Gerichtshof ZUrückgewiesen. 2 Die zweite Frage, die sich stellt, mag nicht von ähnlich grundlegender europarechtlicher und -politischer Bedeutung sein, obwohl auch hier ein Aufleben des Grundrechts-Konflikts zwischen dem EuGH und dem Bundesverfassungsgericht zumindest theoretisch denkbar wäre. Zumindest fehlt es in Deutschland nicht an hörbaren Stimmen, auch unter den Staatsrechtslehrern, die für die Meinungsäußerungsfreiheit der Tabakindustrie in die Bresche springen. Auch wenn ein Konflikt mit europarechtlichen Dimensionen noch in weiter Ferne scheint, steht doch das generellere Thema Werbung und Meinungsäußerungsfreihet immer wieder im Mittelpunkt der Öffentlichkeit und der juristischen Fachwelt. Seien es die (europarechtsbedingten) Warnhinweise auf Zigarettenverpackungen oder aus neuester Zeit das Verbot der heißdiskutierten Benneton-Werbung durch den Bundesgerichtshof. Auch im außereuropäischen Ausland ist insbesondere die Tabakwerbung ein umstrittener Bereich der Meinungsäußerungsfreiheit. Erst kürzlich entschied der oberste Gerichtshof Kanadas zur großen Überraschung der dortigen Anti-Raucher Bewegung, daß das in Kanada seit 1988 geltende fast vollständige Verbot der Tabakwerbung verfassungswidrig ist. Er beurteilte das Verbot als unangemesse
2
EuGH Urteil vom 5. Oktober 1994 - Rs. 280/93, Slg. 1994, S. 4973.
A. Einleitung
15
Beschränkung der Freiheit der Hersteller, mit den Konsumenten über ein legales Produkt zu kommunizieren. 3 Dabei konzentriert sich die Diskussion sowohl außerhalb als auch innerhalb Europas fast ausschließlich auf nationale Grundrechte. Teil D dieser Abhandlung bietet einen Beitrag zu einer Erweiterung dieser Debatte um die völker- und europarechtliche Ebene in der Hofihung, die Diskussion in Deutschland damit etwas bereichern zu können.
3
New York Times v. 22. September 1995, S. A6.
B. Die vorgeschlagene Richtlinie im Kreuzfeuer der Europapolitik I. Der Inhalt des Richtlinienvorschlags Der Inhalt des in Annex I enthaltenen Richtlinienvorschlags soll hier nur kurz vorgestellt werden: Der Richtlinienvorschlag wollte fast alle Fonnen der Werbung für Tabakerzeugnisse sowohl in direkter als auch in indirekter Fonn innerhalb des Gebietes der Gemeinschaft verbieten. Dabei dehnte die letzte Fassung des Richtlinienvorschlages das Verbot der Tabakwerbung auf alle Fonnen "der mündlichen und schriftlichen Kommunikation" aus. Wie die fIiiheren Vorschläge erfaßte sie direkte und indirekte Werbung einschließlich der nicht-produktbezogenen Werbung, "die das Werbeverbot zu umgehen versucht, indem sie Namen, Marken, Symbole und andere Unterscheidungsmerkmale verwendet, die sich auf Tabakerzeugnisse beziehen" (Art. 1, 1. Spiegelstrich). Direkte Werbung für Tabakerzeugnisse sollte nur noch in "Tabakverkaufsgeschäften" zugelassen sein, d.h. "auf den Verkauf von Tabak spezialisierten Verkaufsstellen, die zur Bedienung ihrer Kunden über einen geschlossenen Innenraum verfügen", wobei Geschäfte mit mehreren Verkaufsabteilungen für verschiedene Produkte (z.B. Kaufhäuser) nicht unter diese Begriffsbestimmung fallen sollten. Die letzte Fassung nimmt unter engen Voraussetzungen teilweise die indirekte Werbung für Nicht-Tabakprodukte vom Werbeverbot aus. Nach Art. 2a darf mit einer Handelsmarke für Nicht-Tabakprodukte dann geworben werden, wenn diese Marke "ursprünglich für andere Erzeugnisse als Tabakerzeugnisse angemeldet wurde" und der Umsatz für Tabakprodukte nicht mehr als die Hälfte des Umsatzes mit Nicht-Tabakprodukten der gleichen Marke ausmacht, der Umsatz mit Tabakprodukten also 1/3 des Gesamtumsatzes von Produkten der gleichen Marke nicht überschreitet. Den Mitgliedstaaten wird nach Art. 3 freigestellt, die Werbung in Tabakgeschäften zuzulassen. Fernsehwerbung fällt nicht unter den Richtlinienvorschlag, da Art. 13 der Richtlinie 89/552/EWG zur Koordinierung bestimmter Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Ausübung der Fernsehtätigkeit ("Rundfunkrichtlinie,,)4 bereits "jede Fonn der Fernsehwerbung für Zigaretten und andere Tabakerzeugnisse" untersagt hat.
11. Die politische Diskussion
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11. Die politische Diskussion Um ein umfassendes Verständnis von der Problematik zu bekommen erscheint es hilfreich, auch den politischen Hintergnmd kwz zu beleuchten. Es wird sich zeigen, daß in der politischen Diskussion die rechtlichen Argumente, v.a. eine möglicherweise fehlende Kompetenz auf Seiten der Eurpäischen Gemeinschaft, eine eher untergeordnete Rolle gespielt haben. Seit der Rat 1986 sein Programm "Europa gegen.den Krebs" startete, wurde eine Vielzahl von Richtlinien verabschiedet, die darauf abzielten, den Tabakkonsum in der Gemeinschaft zu verringern. Die darin enthaltenen Maßnahmen reichen von einem Rauchverbot in öffentlichen Bereichen, strengen Vorschriften über die Beschriftung von Tabakprodukten und einer Grenze für den Teergehalt von Zigaretten bis hin zu einem im Oktober 1989 verabschiedeten Verbot der Fernsehwerbung für Zigaretten und andere Tabakprodukte. 5 Keine dieser Maßnahmen war jedoch annähernd so umstritten wie das hier zur Diskussion stehende vollständige Verbot der direkten und indirekten Tabakwerbung. Der Richtlinienvorschlag aus dem Jahre 1992 hat selbst mehrere äußerst umstrittene Vorgänger, auf die hier nicht näher eingegangen werden soll.6 Auch der Vorschlag von 1992 ist jedoch im Rat steckengeblieben. Seit drei Jahren blockiert eine Minderheit von fünf Staaten (Großbritannien, Deutschland, Holland, Griechenland und Dänemark) dessen Verabschiedung. Der insgesamt über sechs Jahre andauernde Streit fand sowohl im Rat als auch in der Kommission statt. Auch das Europäische Parlament wurde nicht verschont. Die Debatte um die Vorschläge der Kommission hat angeblich die heftigste LobbyingKampagne in der Geschichte des Parlaments ausgelöst. 7 Außerhalb der Organe der Gemeinschaft wird die europäische Öffentlichkeit regelmäßig in ganzseitigen Anzeigen der Tabakindustrie über bestehende oder bevorstehende Brüsseler Beschrän-
4
EG-ABI. Nr. L 298/23 vom 17.0ktober 1989.
5 Sämtliche Nachweise in: JenniferA. Lesny, Tobacco Proves Addictive: The European Community's Proposal to Ban Tobacco Adervertising, in: Vanderbilt Journal of Transnational Law, Vol. 26 (1993), S. 149ff. (153). 6 Vgl.Melissa N Kumit, The Uncertain Future ofTobacco Advertising in the European Community, in: Boston College International & Comparative Law Review, Vol. 17, NO.l (1994), S. 177ff.
7 Boris Johnson, Tobacco Lobby Wins EC Reprieve, in: Daily Telegraph (London), 17.1.1992, S.9.
2 Simma u.
3.
18
B. Die Richtlinie im Kreuzfeuer der Europapolitik
kungen der Rauchfreiheit informiert. Dabei konzentrieret sich die Diskussion im wesentlichen auf die folgenden Argumente und Streitpunkte. 8 Die Gegner des Vorschlags bestreiten bereits, daß überhaupt ein kausaler Zusammenhang zwischen der Werbung filr Tabakprodukte und dem Konsum derselben besteht. Sie behaupten, daß die Werbung lediglich Einfluß auf die Markenwahl der bereits exisitierenden Konsumenten hat. Demgemäß wäre das Werbeverbot schon gar nicht dazu geeignet, die von der Kommssion verfolgten gesundheitspolitischen Ziele zu erreichen. Im Gegensatz dazu vertreten die Befürworter eines Werbeverbots die Auffassung, daß Werbung nicht nur Raucher dazu animiert mehr zu rauchen und davon abhält aufzuhören, sondern daß sie entscheidend dazu beiträgt, daß Nichtraucher, auch Kinder, zu Rauchern werden. Die Tabakindustrie könne nur so die geschätzten 440.000 Raucher ersetzen, die jedes Jahr an durch Tabakkonsum bedingten Krankheiten sterben. Beide Seiten greifen zu ihrer Unterstützung auf eine Vielzahl mehr oder weniger wissenschaftlicher Untersuchungen zurück. Ein weiteres Argument der Minderheit im Rat besteht darin, daß nach ihrer Auffassung freiwillige Vereinbarungen zwischen der Industrie und den Regierungen auf nationaler Ebene wirksamer seien als ein gemeinschaftsweites Verbot. Die Kommission und die Mehrheit der Mitgliedstaaten halten derartige Vereinbarungen hingegen nicht filr ausreichend. Sie weisen insbesondere darauf hin, daß diese meist nicht umfassend seien und deren überwachung und Durchsetzung sich in der Regel als sehr schwierig erweise. Die Tabakindustrie würde sich ferner freiwillig niemals Regelungen unterwerfen, die ihre Interessen ernsthaft gefährden würden. Genau solche Regelungen seien aber notwendig. Die Kommission stützt sich weiterhin auf Umfragen, nach denen drei Viertel der EG-Bürger ein Werbeverbot befürworten. Darüberhinaus sei ein Werbeverbot notwendig, um die vollständige Integration und den freien Verkehr von Waren innerhalb der Gemeinschaft zu fördern. Da bereits einige Mitgliedstaaten ein vollständiges Werbeverbot erlassen haben, bestünde die Gefahr, daß diese die freie Zirkulation von Publikationen aus Mitgliedstaaten mit weniger strengen Regeln verhindern würden. Ganz im Gegensatz dazu hält die gegnerische Seite das Werbeverbot für eine letztlich protektionistische Maßnahme der Mitgliedstaaten, die über ein staatliches Tabakmonopol verfügen und dieses vor privaten Wettbewerbern schützen wollen. Danach hätte das Werbeverbot eher wettbewerbsbeschränkende Wirkungen und
8 Vgl. dazu eingehend und mit umfassenden Nachweisen die in Fn.5 und 6 aufgefllhrten Artikel.
m. Faktische Prämissen
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würde der Industrie nützen, die es gerade zu beschränken versucht. Andererseits würden in der privaten Zigarettenindustrie und einigen anderen Bereichen, die von der Tabakwerbung profitieren, voraussichtlich 150.000 Arbeitsplätze verloren gehen. Zeitungen und Zeitschriften würden über 150 Millonen DM an Werbeeinnahmen entgehen. Außerdem wird der Europäischen Gemeinschaft widersprüchli ches Verhalten vorgeworfen, da sie nach wie vor die Tabakindustrie in beträchtlichem Maße subventioniert. Neben den negativen wirtschaftlichen Auswirkungen eines Werbeverbots fürchten die Gegner einen "Dominoeffekt" . Die Richtlinie könnte möglicherweise nur den Anfang eines exzessiven Harmonisierungsaktionismus der Kommission darstellen, der schließlich alle Produkte erfassen könnte, die die Kommission für schädlich hält. Die Entscheidung über den Umgang mit derartigen Produkten und der Werbung für diese ist in den einzelnen Mitgliedstaaten jeweils unterschiedlich ausgefallen. In einem nicht zu unterschätzenden Maße sind diese Entscheidungen in den Mitgliedstaaten Ausdruck ihrer unterschiedlichen Wertvorstellungen, der jeweiligen politischen Kultur und des Lebensstils. Es gibt keine einhellige Meinung zu diesen Fragen in den verschiedenen Gesellschaften und Staaten der Europäischen Gemeinschaft und viele meinen, es sollte sie auch nicht geben. Schließlich werden auch die für uns allein relevanten Argumente vorgebracht: Das Werbeverbot wird als Angriff auf die Meinungsäußerungsfreiheit gesehen, zumal das angepriesene Produkt in allen Mitgliedstaaten der Gemeinschaft legal vertrieben werden darf Ferner wird die Kompetenz der Europäischen Gemeinschaft zum Erlass der Richtlinie entweder gänzlich bestritten oder Art. 235 des EWGVertrags für die richtige Rechtsgrundlage gehalten.
111. Faktische Prämissen der Abhandlung Zu der Frage, ob die in der Richtlinie vorgeschlagenen Maßnalnnen politisch wünschenswert sind, wird hier selbsverständlich keine Stellung bezogen. Untersucht werden sollen allein die rechtlichen Fragen. Dennoch werden folgende faktische Prämissen der Abhandlung zugrunde gelegt: 1. Es soll als Faktum angenommen werden, daß ein Zusammenhang zwischen Tabakkonsum und ernsthaften Risiken für Gesundheit und Leben besteht. 2. Es soll weiterhin als Faktum angenommen werden, auch wenn diese Frage heftig umstritten ist, daß zu einem gewissen Grade ein Zusammenhang zwischen der Werbung für Tabak und einem erhöhten Konsum von Tabak besteht.
2*
C. Kompetenz der Europäischen Gemeinschaften zum Erlaß der vorgeschlagenen Richtlinie I. Gliederungshinweise Es soll zunächst der Hintergrund der gesellschaftlichen und rechtlichen Zusammenhänge dargelegt werden, vor welchem das Thema behandelt werden soll (II.). Sodann werden kurz die Auswirkungen einer Verletzung der Grenzen der Gemeinschaftskompetenzen erklärt (III.). Danach wird die Begrenzung der Zuständigkeiten der Gemeinschaft analysiert (IV.), woran sich eine Untersuchung über die Art und Weise anschließt, in welcher der Richtlinienvorschlag in seiner letzten Fassung diese Grenzen überschreitet (V.). Nachfolgend wird die Frage nach einer angemessenen Rechtsgrundlage (VI.) untersucht, um mit einer Analyse über die Vereinbarkeit des Vorschlags mit dem Grundsatz der Subsidiarität (VIII.) abzuschließen.
11. Hintergrund und Zusammenhang Unbestritten erfuhr das vorgeschlagene Verbot von Tabakwerbung erhebliche Zustimmung in der europäischen Öffentlichkeit. Mit großem Nachdruck wurde argumentiert, daß ein derartiges Verbot positive gesellschaftliche und gesundheitliche Auswirkungen zeitigen WÜrde. Im Richtlinienvorschlag lag einerseits eine Maßnahme vor, die als Mittel möglicherweise sogar als wirksames Mittel - zur Förderung ernster Belange der öffentlichen Gesundheit eingesetzt werden sollte. Insofern lag es im öffentlichen Interesse, die Richtlinie in ihrer weitreichenden und allumfassenden Form zu erlassen. Dieses unterstellte Interesse muß jedoch gegen gleichermaßen wichtige öffentliche Belange abgewogen werden: Überschreitet dieser Entwurf, all seinen Nutzen einmal unterstellt, die der Europäischen Gemeinschaft übertragenen Kompetenzen? Die Frage der Achtung der Grenzen der übertragenen Kompetenzen stellt keine formal-juristische Streitigkeit dar. Vielmehr handelt es sich dabei um eine Frage, die vor dem Hintergrund der allgemeinen politischen Auseinandersetzung um die Ratifizierung des Vertrages von Maastricht an aktueller Schärfe gewonnen hat. Der Vertrag über die Europäische Union stellt mit einer bisher unerreichten Deutlichkeit fest:
n. Hintergrund und Zusammenhang
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"Die Gemeinschaft wird innerhalb der Grenzen der ihr in diesem Vertrag zugewiesenen Befugnisse und gesetzten Ziele tätig." (Art. 3b EG-Vertrag in der Fassung nach Maastricht)
Dennoch steht fest, daß sich die öffentliche Meinung in Europa bei der Diskussion über den Vertrag von Maastricht vor allem hinsichtlich der Grenzen von Gemeinschaftskompetenzen und deren Bestimmbarkeit besorgt gezeigt hat; weitverbreitet ist auch heute noch die Furcht, daß "Brüssel" in einer wachsenden Anzahl von Bereichen an Macht gewinnt, die innerhalb des Aufgabengebietes der Mitgliedstaaten verbleiben sollten - unabhängig davon, wie weise oder vernünftig die vorgeschlagenen Maßnahmen der Gemeinschaft auch immer sein mögen. Der Richtlinienvorschlag über Werbung für Tabakerzeugnisse ist folglich von heute auf morgen zu einer Art Präzedenzfall darüber geworden, inwieweit sich die Gemeinschaftsorgane sowie die einzelnen Mitgliedstaaten dem Grundsatz beschränkter Gemeinschaftskompetenzen tatsächlich verpflichtet fühlen. Unter den Organen und den Mitgliedstaaten herrscht allgemeine Übereinstimmung darüber, daß der Gemeinschaft keine unbeschränkte Zuständigkeit und Regelungsgewalt zusteht und auch nicht zustehen sollte. Lippenbekenntnisse zu diesem Grundsatz werden jedoch leicht abgegeben, solange sie sich ohnehin mit den gewünschten politischen Zielen vereinbaren lassen. Das Bekenntnis zur Achtung der Grenzen des Gemeinschaftsrechts - in diesem Fall des Grundsatzes begrenzter Gemeinschaftskompetenzen - wird jedoch auf die Probe gestellt, wenn die konkreten Folgen problematisch sind und - wie in diesem Fall - verlangen, daß eine Maßnahme unterbleibt, die ein in der Sache selbst möglicherweise begrüßenswertes Ziel fördert.
Im Folgenden wird dargelegt werden, daß der Richtlinienvorschlag über Tabakwerbung in seiner gegenwärtigen Fassung die Zuständigkeitsbeschränkungen der Europäischen Gemeinschaft und daher die Kompetenz der Gemeinschaft überschreitet. Darüber hinaus scheint er auch die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und Subsidiarität, welche die Gesetzgebung der Gemeinschaft stets zu beachten hat, zu verletzen. Bestätigt wird dieses Ergebnis durch den Inhalt der neuen, im Vertrag über die Europäische Union niedergelegten Politikbereiche, insbesondere durch das Kapitel über das Gesundheitswesen. Auf diesem Gebiet schließt Art. 129 im Titel X des EG-Vertrages in der Fassung nach Maastricht ausdrücklich jede Rechtsangleichung von Gesetzen und Verordnungen zum Gesundheitswesen der Mitgliedstaaten aus. Nach im Zeitpunkt des Richtlinienvorschlags geltendem Gemeinschaftsrecht hat die Gemeinschaft im Bereich der öffentlichen Gesundheit lediglich die Kompetenz, das zu tun, was unbedingt notwendig ist, um sicherzustellen, daß die von den einzelnen Mitgliedstaaten erlassenen Maßnahmen zur Regelung der öffentlichen Ge-
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c. Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaften
sundheit das Funktionieren des Gemeinsamen Markt nicht beeinträchtigen. Dessen Wlgeachtet, und unter dem Deckmantel von Art. IOOa EWG-Vertrag, maskiert sich die vorgeschlagene Richtlinie als Maßnahme, mit der das sachgemäße Funktionieren des Gemeinsamen Marktes sichergestellt werden soll. Tatsächlich aber stellt sie eine weitreichende Überschreitung der Kompetenz im Bereich des Gesundheitswesens dar, die der Gemeinschaft nicht zusteht. In der Tat kann nachgewiesen werden, daß der Richtlinienvorschlag auch jede vernünftige Sorge um den Binnenmarkt und mögliche Rechtfertigung durch dieses Gemeinschaftsziel überschreitet9 . Dies bedeutet jedoch nicht, daß die der Tabakwerbung auferlegten Beschränkungen zwangsläufig unerwünscht ode rechtswidrig wären. Nach der hier vertretenen Auffassung darf ein fast vollständiges Verbot- das nur als eine die öffentliche Gesundheit schützende Maßnahme gerechtfertigt werden könnte und sowohl die Grenzen von Art. IOOa EWG-Vertrag als auch jeder anderen Rechtsgrundlage der Gemeinschaft weit überschreitet - nicht von der Gemeinschaft erlassen werden und sollte daher im Aufgabenbereich der einzelnen Mitgliedstaaten verbleiben, um von den Regierungen und Parlamenten innerhalb der dort geltenden verfassungsrechtlichen Schranken entschieden zu werden.
111. Die Bedeutung der Achtung der im EWG-Vertrag festgelegten Grenzen der Gemeinschaftskompetenzen Der Europäischen Gemeinschaft steht eine sehr große Anzahl an Kompetenzen im Bereich von Wirtschaft und Sozialem zu. Darüber hinaus ist die Abgrenzung der Kompetenzen weder statisch noch ist sie als solche konzipiert. Im Laufe der Entwicklung der Gemeinschaft sind auch ihre Kompetenzen gewachsen: Sowohl durch ausdrückliche Änderungen der Verträge als auch zu einem wesentlichen Teil im Wege eines evolutiven Prozesses, der vom Europäischen Gerichtshof bestätigt worden ist, sind die Kompetenzen der Gemeinschaft ausgedehnt worden, um sie den Zielen und der dynamischen Entwicklung der Gemeinschaft anzupassen. Trotz dieses eindrucksvollen Wachstums bleibt jedoch das in den Verträgen verankerte Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung unberührt und muß als solches gewahrt werden. Er kommt sowohl im primären Europarecht als auch in der 9 Sogar im Europäischen Parlament, das den gesundheitspolitischen Zielen des Richtlinienvorschlags sehr wohlwollend gegenübersteht, hat diese Maßnahme die Überprüfung durch den Rechtsausschuß nur knapp mit einem Abstimmungsergebnis von 15 zu 13 bestanden. Siehe Agence Europe vom 1.2.92 (Nr. 5659) S. 10. Im Parlament wurde der Kommissionsvorschlag mit 150 - 123 - 12 und der vom Parlament geänderte Vorschlag mit 158 - 141 - 8 angenommen. Die Frage der Zuständigkeit und Rechtsgrundlage war eines der zentralen Gravamina der Maßnahme.
ill. Die Bedeutung der Kompetenzgrenzen
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Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs vielfach zum Ausdruck. Zwn Beispiel sieht Art. 3 EWG-Vertrag u.a. "die Angleichung der innerstaatlichen Rechtsvorschriften, soweit dies für das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes eiforderlich ist" vor. Gemäß Art. 4 EWG-Vertrag handelt jedes Organ "nach Maßgabe der ihm in diesem Vertrag zugewiesenen Befugnisse". Schließlich erwähnt Art. 173 EWG-Vertrag u.a. "die Unzuständigkeit" als Grund für die Nichtigerklärung von Rechtsakten des Rates und der Kommission. lo Schon in der frühen Judikatur des Gerichtshofes wurde festgestellt "Der Vertrag beruht auf einer Souveränitätsbeschränkung der Mitgliedstaaten zugunsten supranationaler Organe und zu einemfestumrissenen Zweck, .... Der den Vertrag beherrschende Rechtsgrundsatz ist der der begrenzten Zuständigkeit. Die Gemeinschaft ist eine juristische Person des öffentlichen Rechts, und als solche hat sie die for die Durchfohrung ihrer Aufgaben und Erreichung ihrer Ziele erforderliche Rechts- und Geschäftsfähigkeit ... ,jedoch auch nur diese."u
In seiner betühmten Entscheidung Van Gend & Loos stellte das Gericht fest, "... daß die Gemeinschaft eine neue Rechtsordnung des Völkerrechts darstellt, zu deren Gunsten die Staaten, wenn auch in begrenztem Rahmen, ihre Souveränitätsrechte eingeschränkt haben ... ."12
Nicht unerwähnt sollte bleiben, daß die obersten Gerichte der Mitgliedstaaten bei der Annahme der neuen Rechtsordnung und der Billigung des Vorrangs von Gemeinschaftsrecht ihre Entscheidungen stets auf das Verständnis einer Gemeinschaft mit begrenzten Befugnissen gegründet haben. So hat z.B. das italienische Verfassungsgericht in seiner benilimten Frontini Entscheidung den Vorrang ausschließlich "auf der Grundlage genau bestimmter Merlanale der Trennung von Zuständigkeiten" akzeptiert. 13 Die Einhaltung des Grundsatzes beschränkter Kompetenzen wird seit Inkrafttreten der Einheitlichen Europäischen Akte (EEA) am 1. Juli 1987, die der Gemeinschaft in vielen ihrer Tätigkeitsbereiche zu einer Entscheidungsfindung durch Mehrheitsvotwn ermöglicht hat, noch zwingender. Wo vor der EEA eine Recht-
10
Der EuGH hat in seiner Judikatur das Parlament dieser Liste von Organen hinzugefUgt.
11 EuGHUrteii vom 12.Juli.1957 -verb. Rs. 7/56 und 3-7/57 (Algera u.a.), Slg. 1957, dt. Fassg. S. 83 (Schlußanträge des GA Lagrange, dt. Fassg. S. 167 (Hervorhebungen im Original). 12 EuGH Urteil vom 5.2.1963 - Rs. 26/62 (Van Gend & Laos), Slg. 1963, S. 1 (25) (Hervorhebung durch die Autoren).
13 Abgedruckt in Common Market Law Rev. (1974), S. 372 (385). (Hervorhebung durch die Autoren).
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C. Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaften
setzung der Gemeinschaft de facto die Zustimmung sämtlicher Mitgliedstaaten benötigte, wodurch die Respektierung der mitgliedstaatlichen Kompetenzen 14 sichegestellt war, besteht eine derartige Garantie heute nicht mehr. Bevor nun erklärt werden soll, wie die Grenze der Gemeinschaftskompetenzen, die von dem Richtlinienvorschlag überschritten worden ist, zu ziehen ist, sollen die Hauptgründe für eine unbedingte Einhaltung dieser Abgrenzung kurz aufgezeigt werden. Dadurch wird deutlich, wie überragend wichtig und notwendig es ist, die Grenze der Gemeinschaftskompetenzen nicht zu überschreiten. - Rechtsstaatlichkeit Wie der EuGH erklärt hat, stellt die Gemeinschaft ein auf dem Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit beruhendes System dar. Die Gemeinschaft verlangt unbedingte Einhaltung des Gemeinschaftsrechts sowohl von den Mitgliedstaaten als auch von den Einzelpersonen. Von den Gerichten der Mitgliedstaaten wird erwartet, daß sie das Gemeinschaftsrecht durchsetzen. Die Gemeinschaft kann aber keine Treue zur EG-Rechtsordnung verlangen, wenn sie selbst den Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit mißachtet. Sollte der Grundsatz der beschränkten Kompetenzen von den Gemeinschaftsorganen untergraben werden, wäre nicht nur die gegenüber Gemeinschaftsrecht bestehende moralische Verpflichtung gefährdet, darüber hinaus würde die ernsthafte Gefahr bestehen, daß ein oder mehrere oberste bzw. Verfassungsgerichte der Mitgliedstaaten sich weigerten, der Maßnahme Geltung zu verschaffen, wodurch die Gemeinschaft jäh in eine gefährliche Verfassungskrise gestürzt werden würde. Auch wären heftige Reaktionen der nationalen Gesetzgeber zu befürchten. - Dekonzentration von Gewalt Der Grundsatz der beschränkten Zuständigkeit und der zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten geteilten Kompetenzen ist kein rein formal-juristisches Prinzip. Vielmehr verkörpert dieser Grundsatz einen grundlegenden Aspekt der Demokratie. Er stellt die Tendenz eines jeden staatliche Gewalt ausübenden Organs, diese in äußerster Weise für sich zu nutzen, unter Kontrolle und ist dazu bestimmt, eine allzu exzessive Anhäufung von Gewalt auf einer Hoheitsebene zu unterbinden. Die Beachtung dieses Grundsatz wird in dem Maße notwendiger, in dem die Gemeinschaft wächst und die Möglichkeit Einzelner schwindet, die Regierungsstruktur der Gemeinschaft zu beeinflussen. Etwas weniger Anlaß zur Sorge würde bestehen, wenn sich die Gemeinschaftsorgane, insbesondere die Kommission und das Parla-
14 Betont werden sollte, daß auch einstimmige Entscheidungen des Rates (z.B. nach Art. 235 EWG-Vertrag) eine Überschreitung der Grenzen der Gemeinschaftskompetenzen darstellen können. Die Einstimmigkeit einer Entscheidung bietetfiir sich allein also keineswegs eine Gewähr für die Rechtmäßigkeit einer Maßnahme.
IV. Bestimmung der Kompetenzgrenzen
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ment, ein größeres Maß an Selbstbeschränkung in Fragen der Zuständigkeiten auferlegen würden. Statt dessen läßt sich eine gegenteilige Tendenz feststellen. 15 - Das DemokratiedefIzit
In der Gemeinschaft kommt dem Prinzip der Gewaltenbegrenzung eine besonders markante Bedeutung zu. Obgleich die Befugnisse des Europäischen Parlaments gewachsen sind, ist es doch nach wie vor richtig, daß sich der Ministerrat, der die Regierungsebene darstellt, in den meisten Bereichen die endgültige Zustimmung zu Rechtsetzungsvorhaben der Gemeinschaft vorbehalten hat, ohne dabei selbst in irgendeiner Weise der Kontrolle eines gewählten Parlaments unterworfen zu sein. Eine Überschreitung der Zuständigkeitsbereiche gefährdet daher nicht nur den Grundsatz der Dekonzentration von Gewalt, sondern überträgt darüber hinaus noch ein gefährliches Maß an gesetzgeberischer Gewalt in einen Bereich, in welchem wahre parlamentarische Verantwortlichkeit nur schwach ausgeprägt, bestenfalls indirekt und zuweilen gar nicht vorhanden ist. - Vielfalt Naturgemäß neigt die Rechtsetzung der Gemeinschaft in vielen Fällen dazu, den Mitgliedstaaten einheitliche Normen, Standards und Verhaltensregeln aufzuerlegen. Vielfach wird dies mit größerer wirtschaftlicher Effizienz und sozialer Mobilität begründet. Dennoch gewinnt damit die Gefahr der Auslöschung einer reichen Vielfalt gesellschaftlichen Verhaltens sowie sozialer und kultureller Werte, insbesondere im Bereich eines Gemeinsamen Marktes und eines Europa ohne Grenzen, an besonderer Aktualität. Eine Möglichkeit, dieser Gefahr vorzubeugen, besteht in der Einhaltung von Zuständigkeitsbeschränkungen der Gemeinschaft. Nebenbei sei erwähnt, daß dieser Gesichtspunkt in zunehmender Weise sogar von der Kommission in deren "entspannteren" Einstellung zur Rechtsangleichung gemäß ihrer sogenannten "Neuen Vorgehensweise zur Rechtsangleichung" anerkannt wird. 16
IV. Die Bestimmung der Grenzen der Gemeinschaftskompetenzen Wie können die Grenzen der Zuständigkeit der Gemeinschaft bestimmt werden? Dafür bieten sich mehrere Methoden an.
Il Hierzu ausfiihrlicher Weiler, The Transformation ofEurope, in 100 Yale Law Journal (1991) S. 2403-2483.
16 Vgl. zum Beispiel Richtlinie 88/378 zur Sicherheit von Kinderspielzeug, EG-ABI. 1988 L 187/1.
C. Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaften
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Die am weitesten verbreitete Art der Begründung von Rechtsetzungsgewalt der Gemeinschaft ist durch ausdrückliche Kompetenzzuweisung im Vertrag in so unterschiedlichen Bereichen wie Verkehr, Wettbewerb, gemeinsame Handelspolitik, Landwirtschaft und dergleichen. Sogar in diesen ausdrücklichlich zugewiesenen Bereichen sind die übertragenen Kompetenzen jedoch nicht immer unbegrenzt. So hat der Gerichtshof z.B. klargestellt, daß ein Handelsabkommen Merkmale aufweisen kann, die von der gemeinsamen Handelspolitik nicht gedeckt sind, so daß solche Verträge notwendigerweise nur als "gemischte" Abkommen geschlossen werden können, wenn die Mitgliedstaaten wegen der ihnen vorbehaltenen Kompetenzen als selbständige Parteien den Verträgen beitreten. Gelegentlich bestimmt der Vertrag einen Bereich der Politik, so z.B. im Bereich Verkehr, in dem der Gemeinschaft die Zuständigkeit übertragen, ihr aber die notwendigen Kompetenzen zur Vollziehung nicht ausdrücklich erteilt worden sind. Es ist allerdings heute verfestigte Rechtsprechung, daß diese Kompetenzen impliziert werden können. 17 Der Vertrag bestimmt zwar die Ziele der Gemeinschaft, er ordnet diesen aber nicht eindeutig einen Politikbereich zu ihrer Vollziehung zu. In diesem Fall gelangt man an die äußersten Grenzen der Gemeinschaftszuständigkeit. Trotzdem erlaubt es Art. 235 EWG-Vertrag der Gemeinschaft, unter strengen materiellen Voraussetzungen (z.B. muß eine Politik für das Funktionieren des gemeinsamen Marktes notwendig sein) und ebenso strengen Verfahrensvoraussetzungen (z.B. Einstimmigkeit) ihre Zuständigkeit zur Erreichung dieser Ziele auszuweiten. Doch sind auch hier die Möglichkeiten nicht unbegrenzt. Die oben aufgeführten drei Methoden können als Zuweisung von "originärer" bzw. "primärer" Zuständigkeit der Gemeinschaft bezeichnet werden. Andererseits werden der Gemeinschaft Kompetenzen zugewiesen, die am besten als "abgeleitete" bzw. "sekundäre" Zuständigkeit zu bezeichnen sind. Die "abgeleitete" Zuständigkeit läßt sich am besten an Hand eines Fallbeispiels erklären. Die berühmte Casagrande- Entscheidung des EuGH befaßt sich mit der EG-Verordnung 1612/68, die unter anderem einige der Pflichten der Mitgliedstaaten gegenüber Wanderarbeitnehmern der Gemeinschaft regelt. Unbestritten kommt der Gemeinschaft auf diesem Gebiet "originäre" Gesetzgebungskompetenz zu. Die Verordnung enthält jedoch auch eine Regelung, die sich auf die Bildungseinrichtungen bezieht, die Kindern von Wanderarbeitnehmern zur Verfügung gestellt werden müssen. Das Land Bayern trug vor dem EuGH vor, daß eine solche Regelung die außerhalb des gesetzgeberischen Zuständigkeitsbereichs der Gemeinschaft liegende
17
EuGH Urteil vom 3 l.März. 1971 - Rs. 22170 (''AETR'~, Slg. 1971, S. 263.
IV. Bestimmung der Kompetenzgrenzen
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und nach deutschem Verfassungsrecht den Ländern vorbehaltene Bildungspolitik beeinträchtige. Das Gericht stellte fest, "Daraus folgt aber nicht, daß die Ausübung der der Gemeinschaft übertragenen Befugnisse irgendwie eingeschränkt wäre, wenn sie sich auf Maßnahmen auswirken kann, die zur Durchfllhrung etwa der Bildungspolitik ergriffen worden sind. ,,18
Obgleich, und dies ist mit aller Deutlichkeit hervorzuheben, die Gemeinschaft bei der Durchführung ihrer Wanderarbeitnehmerpolitik in Bildungsrecht und -politik ihrer Mitgliedstaaten eingreifen kann, verfügt sie damit weder über die Kompetenz zu einer eigenen Bildungspolitik noch ist sie befugt, Bildungsgesetze zu erlassen, die nicht notwendig sind zur Verwirklichung einer Gemeinschaftspolitik, für die eine "originäre" Zuständigkeit besteht. Für das richtige Verständnis der Zuständigkeitsbeschränkungen der Gemeinschaft nach Art. lOOa EWG-Vertrag, der angeblich die Rechtsgrundlage für den Richtlinienvorschlag über Tabakwerbung darstellt, ist dies entscheidend. 19 Unbestritten ist die Gemeinschaft nach Art. lOOa EWG-Vertrtag zuständig zum Erlaß von Maßnahmen zur Rechtsangleichung, die das Ziel eines Binnenmarktes eines Raumes ohne Binnengrenzen, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gemäß den Bestimmungen des Vertrages gewährleistet ist - fördern. Die Bereiche dieser potentiellen Rechtsangleichung sind zwangsläufig sehr weit. Es ist dieses extrem weite Ausmaß und die Tatsache, daß politisch, gesellschaftlich und kulturell empfindliche Bereiche des Gemeinwohls der Mitgliedstaaten von Rechtsangleichungsmaßnahmen der Gemeinschaft durch Art. lOOa berührt werden können, die eine strenge Beachtung des "abgeleiteten" bzw. "sekundären" Charakters der Gemeinschaftszuständigkeit in diesen Fällen notwendig machen. Daher sollte und darf die Gemeinschaft nicht unter dem Deckmantel der Rechtsangleichung zur Förderung von wirtschaftlichen Zielen des Binnenmarktes versuchen, eine eigene Gesundheitspolitik oder Normen zum Gesundheitsschutz, eine öffentliche Sicherheitspolitik oder Normen zur öffentlichen Sicherheit, eine Politik der öffentlichen Moral oder Normen zur öffentichen Moral oder eine eigene Kulturpolitik usw. zu erlassen. In diese Bereiche darf sie nur in dem Maße eindringen, das für die Errichtung des Binnenmarktes unbedingt notwendig ist.
18
EuGH Urteil vom 3.Juli.l974 - Rs. 9/74 (Casagrande), Sig. 1974, S. 773 (779 Rn. 6).
19 In dieser Abhandlung soll der schwierigen Frage, ob Art. 100a oder Art. 100 die geeignete Rechtsgrundlage fllr eine solche Maßnahme darstellt, nur insoweit nachgehen, als Art. 100a nach seinem eigenen Wortlaut "abweichend von Art 100" erlassen worden ist, und daher nicht angenommen werden kann, daß sämtliche daraufhin gemäß Art. 100 erlassenen Gesetze nunmehr auf Art. 100a übertragen werden können.
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C. Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaften
Denkbar ist, daß eine Maßnahme der Gemeinschaft mehr als nur einem Ziel dient. Die Tatsache, daß sie einem außerhalb des Vertrages befmdlichem Ziel dient, oder daß sie möglicheIWeise sogar vor dem Hintergrund eines Zieles ultra vires erlassen worden ist, macht sie nicht zwangsläufig rechtswidrig, wenn sie (und nur in diesem Fall) auf eine zulässige Rechtsgrundlage im Vertrag gestützt werden kann. 20
V. Die Überschreitung der Kompetenzgrenzen durch den Richtlinienvorschlag J. Inhalt und Rechtsgrundlage des Richtlinienvorschlags nach Ansicht der Kommission
Der Richtlinienvorschlag ergänZt und vervollständigt das bereits bestehende Werbeverbot ftlr Tabak im Fernsehen, indem er jede Form der Werbung tur Tabakerzeugnisse, sei es direkter oder indirekter Art, in sämtlichen Medien innerhalb der Gemeinschaft verbietet. "Unbeschadet der Richtlinie 89/522/EWG sind alle Arten der Werbung rur Tabakprodukte auf dem Gebiet der Gemeinschaft verboten. ,,21
Die einzige Ausnahme wäre Werbung innerhalb von "Tabakgeschäften", die in Art. I, Ziff. 3 des geänderten Vorschlages der Kommission wie folgt definiert werden: " ... auf den Verkauf von Tabak spezialisierte Verkaufsstellen, die zur Bedienung ihrer Kunden über einen geschlossenen Innenraum verfugen. Geschäfte mit mehreren Verkautabteilungen filr verschiedene Produkte fallen nicht unter diese Begriffsbestimmung."
I
Eine wichtige Unterscheidung muß hier hinzugefilgt werden. Gelegentlich werden Maßnahmen der Rechtsangleichung in Bereichen erlassen, in welchen die Gemeinschaft "originäre" bzw. "primäre" Zuständigkeit besitzt. Der vor kurzem entschiedene TitandioxidFall ist ein Beispiel (Urteil vom 11.6.1991 - Rs. C-300/89 (Titandioxid), Slg. 1991, S. 12867). Dort hat die Gemeinschaft eine Rechtsangleichungsmaßnahme in einem Bereich erlassen - Umweltschutz - in dem es eine etablierte Gemeinschaftspolitik und Befugnis gibt. In dem Rinderhormon-Fall ist die Gemeinschaft auch auf einem Gebiet tätig geworden, in dem sie originäre/primäre Zuständigkeit besaß, nämlich auf dem Gebiet der Landwirtschaft (Urteil vom 23.2.1988 - Rs. 68/86 (Rinderhormone), Slg. 1988, S. 855). In diesen Fällen kann, wie unten ausgeruhrt werden wird, das Ausmaß an Rechtsangleichung durch die Gemeinschaft breiter ausfallen, als wenn die Rechtsangleichung allein durch den Abbau von Wettbewerbsverzerrungen gerechtfertigt würde. In solchen Bereichen jedoch (wie dem Gesundheitswesen oder der öffentlichen Moral), in welchen der Vertrag der Gemeinschaft keine originäre/primäre Zuständigkeit übertragen hat, müssen sich die Übergriffe durch Rechtsakte auf ein Mindestmaß beschränken. 20
21
Art. 2 Abs. 1 des Geänderten Richtlinienvorschlags der Kommission, a.a.O. (Fußn. 1).
V. Die Überschreitung der Kompetenzgrenzen
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Einige begrenzte Arten indirekter Werbung wären nach Art. 2, Abs. 2 und 2a des Vorschlages zugelassen: "(2) Die Mitgliedstaaten wachen darüber, daß eine Handelsmarke, deren Bekanntheitsgrad in erster Linie mit einem Tabakerzeugnis verbunden ist, nicht fur die Werbung in anderen Marktbereichen verwendet wird, solange sie im Bereich der Tabakwerbung eingesetzt wird. (2a) Die Bestimmungen von Abs. 2 berühren nicht das Recht eines Unternehmens, für andere Erzeugnisse als Tabakerzeugnisse unter seiner Handelsmarke zu werben, sofern a) der Umsatz rur Tabakerzeugnisse der gleichen Handelsmarke, auch wenn sie von einer anderen Gesellschaft vertrieben werden, nicht mehr als die Hälfte des Umsatzes bei anderen Erzeugnissen als Tabakerzeugnissen dieser Handelsmarke ausmacht und b) diese Handelsmarke ursprünglich für andere Erzeugnisse als Tabakerzeugnisse angemeldet wurde. "
Aus der Einleitung zu dem Vorschlag sowie aus seinen erklärenden Ausführungen ergibt sich offensichtlich, daß das Hauptanliegen des Vorschlags, die Sorge um die öffentliche Gesundheit zusammen mit dem Wunsch nach Minderung der durch das Rauchen bedingten Risiken ist. Auch wenn sich der Vorschlag auf eine "Resolution" des Rates und der Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten von 1986 über ein Aktionsprogramm der Europäischen Gemeinschaften gegen den Krebs22 bezieht, ist dennoch klar, daß die Gemeinschaft nach dem EWG-Vertrag keine originäre Rechtsetzungsbefugnis auf dem Gebiet des Gesundheitswesens besitzt. Auch nach dem Maastrichter Vertrag zur Europäischen Union würde die Kompetenz der Gemeinschaft in Gesundheitsangelegenheiten diese Art von Rechtsetzung in keinem Falle decken. Die Kommission greift daher als Rechtsgrundlage für ihren Vorschlag auf Art. lOOa EWG-Vertrag zurück. 2. Haupt- und Nebenziel der Richtlinie
Der Schlüssel zur vorliegenden Analyse des Richtlinienvorschlags ist eine Analyse seines Ziels und Inhalts (le but et le contenu23 ). Nach der hier vertretenen Ansicht stellt der Schutz der öffentlichen Gesundheit dessen Hauptziel dar, während die Bezugnahme auf Argumente des Binnenmarktes zweitrangig ist. Die Richtigkeit dieser Feststellung wird sowohl aus der Art und Weise deutlich, in welcher die Richtlinie von der Kommission erklärt und von vielen im Parlament verstanden worden ist, als auch aus den zentralen Vorschriften ihrer operativen Teile.
22
EG-ABI. C 184/19 vom 23.Juli.1986.
23
EuGH Urteil vom 7. Juli 1992 - Rs. 295/90 (Parlament/Rat), Slg.1992, S. 1-4193.
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c. Kompetenzen
der Europäischen Gemeinschaften
Es sollen daher zunächst Ziele und Inhalt des Richtlinienvorschlages untersucht werden, um auf dieser Grundlage darzulegen, daß sich das Hauptziel außerhalb des Vertrages befmdet und daß der Inhalt jede Rechtfertigung durch Argumente des Binnenmarktes überschreitet. Da die Kommission vorgeschlagen hat, die Richtlinie auf Art. lOOa EWG-Vertrag zu stützen, werden von ihr in der Einleitung der Richtlinie die Dimensionen des Binnenmarktes, nämlich seine Bedeutung für den freien Verkehr von Medien als Werbeträger für Tabak sowie seine Bedeutung für die Beseitigung von Wettbewerbsverzerrungen in diesem Bereich, besonders hervorgehoben. Wie bereits ausgefülut, ist es selbstverständlich möglich, daß ein Rechtsakt mehr als nur ein Ziel verfolgt und, daß mit der Erreichung dieses einen Zieles auch andere Ziele erreicht werden dürlen. Im Zusammenhang mit der Suche nach der richtigen Rechtsgrundlage muß aber nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zwischen Hauptziel und -inhalt sowie Nebenziel und -inhalt unterschieden werden. 24 Das Hauptziel und dessen Inhalt werden dann über die geeignete Rechtsgrundlage entscheiden. 25 Die Frage nach der richtigen Rechtsgrundlage gestaltet sich allerdings noch viel schwieriger, wenn es nicht darum geht herauszufinden, welche von zwei Vertragsgrundlagen die richtige ist, sondern wenn geklärt werden soll, ob der Gemeinschaft überhaupt eine Rechtsgrundlage zur Verfügung steht. Auch in einem solchen Fall kann ein Rechtsakt mehr als nur einem Ziel dienen. So kann ein Rechtsakt, der zu Recht ein Ziel der Gemeinschaft i.S. des EWG-Vertrages verfolgt, daneben auch der Verwirklichung anderer Zwecke dienen, die außerhalb der Kompetenzen der Gemeinschaft liegen. In diesem Fall wäre der Rechtsakt nicht rechtswidrig. Der Richtlinienvorschlag zur Tabakwerbung fällt indessen in eine andere Kategorie. Er stellt einen Rechtsakt dar, dessen Hauptanliegen und Hauptinhalt die öffentliche Gesundheit ist. Für die öffentliche Gesundheit steht der Gemeinschaft jedoch weder vor noch nach dem Inkrafttreten des Maastrichter Vertrages zur Europäischen Union die Kompetenz zur Rechtsangleichung zu. Diese Einschätzung kann zwei mögliche Konsequenzen nach sich ziehen: a) Die radikalere Konsequenz wäre, daß eine Maßnahme, bei der allein ein Nebenzweck noch von der Kompetenz der Gemeinschaft gedeckt ist, der Haupt-
24 EuGH Urteil vom 4. Oktober 1991 - Rs. 70/88 (PariamentIRat), Slg. 1991, S. 1-4529 (1-4566 f. Rn. 17). 25 EuGHUrteil vom 17. März 1993 - Rs. 155/91 (Abfall) abgedruckt in EuZW 1993, S. 290-292).
V. Die Überschreitung der Kompetenzgrenzen
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zweck jedoch außerhalb der Gemeinschaftskompetenz liegt, bereits aus diesem Grunde zwückgezogen und neugefaßt werden müßte. Falls erlassen, sollte der Rechtsakt fur ungültig erklärt werden. Es sei darauf hingewiesen, daß der Gerichtshof bei seiner Entscheidungsfindung in Fragen der Vereinbarkeit von innerstaatlicher Gesetzgebung mit dem EG-Vertrag nicht nur die Auswirkungen, sondern auch die Ziele von Rechtsnormen prüft. Gesetze, deren Ziel in einer verdeckten Handelsbeschränkung besteht, werden schärfer beurteilt als nationale Gesetze, die Ziele in Politikbereichen verfolgen, die den Mitgliedstaaten vorbehalten sind. In der Henn & Darby-Entscheidung und in den Sonntags arbeits-Entscheidungen berücksichtigt der Gerichtshof ausfuhrlich das rechtmäßige Ziel des in Frage stehenden Gesetzes trotz seiner Auswirkungen auf den Gemeinsamen Markt. Demgegenüber hat der protektionistische Zweck der nationalen Gesetzgebung in einigen Entscheidungen zur Steuerdiskriminierung sowie zum freien Warenverkehr den Gerichtshof dazu bewogen, in den nationalen Normen einen Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht zu erkennen. 26 Wenn Rechtsetzungskompetenzen der Gemeinschaft mißbraucht werden könnten, indem Rechtsakte erlassen werden, deren Hauptzweck außerhalb der Ziele des EWG-Vertrages liegt, so sollte die Gemeinschaft aus Gründen der politischen Redlichkeit von solchen Vorhaben Abstand nehmen, selbst wenn solche Rechtsakte sich teilweise vorgeblich oder tatsächlich auf die Vervollständigung des Binnenmarktes auswirken. Im Fall ihres Erlasses sollten solche Rechtsakte aus den gleichen Gründen wieder aufgehoben werden. Der hier diskutierte Vorschlag der Kommission ist ein Beispiel für einen derartigen Mißbrauch von Rechtsetzungskompetenzen der Gemeinschaft. Selbst wenn diese Auffassung abgelehnt werden sollte, wäre der Vorschlag der Kommission auch nach der weniger strengen Alternative zu mißbilligen: b) Bei einem Rechtsakt, dessen Nebenzweck noch von der Kompetenz der Gemeinschaft gedeckt ist, dessen Hauptzweck jedoch gänzlich außerhalb der Gemeinschaftskompetenz liegt, sind nur die Teile rechtmäßig und gültig, die einem rechtmäßigen Ziel der Gemeinschaft dienen, während alle jene, die ein Ziel außerhalb der Reichweite des EWG-Vertrages verfolgen, rechtswidrig und folglich ungültig sind. Im vorliegenden Fall wären nur die Bestimmungen zulässig, die nachweislich dem legitimen Zweck der Verwirklichung des Binnenmarktes dienen. Die Bestimmungen, deren Sinn sich allein aus dem Schutz der öffentlichen Gesundheit erklären läßt, wären hingegen unzulässig.
26 EuGH Urteil vom 14. Dezember 1979 - Rs. 34/79 (Henn u. Darby), Slg. 1979, S. 3795; EuGHUrteil vom 23. November 1989 - Rs. C-145/88 (Torfaen), Slg. 1989, S. 3851. Vgl. auch EuGH Urteil vom 8. Januar 1980 - Rs. 21/79 (Kommission gegen Italien), Slg. 1980, S. 1; EuGH Urteil vom 14. Januar 1981 - Rs. 46/80 (Vinal gegen Orbat), Slg. 1981, S.77.
C. Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaften
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Auf dem Gipfel von Edinburgh hat der Europäische Rat bei der Überprüfung des Subsidiaritätsgrundsatzes folgendes betont: "Der Grundsatz, daß die Gemeinschaft nur dann handeln kann, wenn ihr hierzu die Befugnis erteilt wurde - demnach ist die Befugnis der einzelnen Staaten die Regel und die der Gemeinschaft die Ausnahme -, war schon immer ein grundlegendes Merkmal der Rechtsordnung der Gemeinschaft (prinzip der Zuweisung von Befugnissen). "27
Er fügte hinzu, daß "Um diesen Absatz [d.h. das Prinzip der Zuweisung von Befugnissen] korrekt anzuwenden, müssen sich die Organe davon überzeugt haben, daß die in Betracht gezogene Maßnahme innerhalb der Grenzen der in dem Vertrag zugewiesenen Befugnisse liegt und mit ihr eines oder mehrere der durch den Vertrag gesetzten Ziele erreicht werden sollen. Bei der Prüfung des Entwurfs der Maßnahme muß festgestellt werden, welches Ziel damit erreicht werden soll, ob sich die Maßnahme in bezug auf eines der Ziele des Vertrags begründen läßt, und ob die rur die Annahme erforderliche Rechtsgrundlage gegeben ist. "28
Wie noch zu zeigen sein wird, umgeht der Richtlinienvorschlag diese strengen Voraussetzungen des Prinzips der Zuweisung von Befugnissen. Zunächst muß jedoch die Frage nach dem Hauptziel des Richtlinienvorschlags beantwortet werden. Wie in der Analyse der Rechtsgrundlage näher ausgeführt werden wird, bestehen sowohl die einleitende Begründung, als auch der Inhalt des Vorschlags aus einem Gemisch aus Besorgnis um einerseits den freien Verkehr der Medien (rechtmäßiges Ziel) und andererseits die öffentliche Gesundheit (rechtswidriges Ziel, soweit es nicht nur Nebenziel einer rechtmäßigen Rechtsharmonisierung zur Herstellung des freien Verkehrs ist). Bei der ersten, weniger restriktiven Fassung der Richtlinie haben Erwägungen zur Herstellung eines freien Marktes tatsächlich ein Ziel gebildet29 . In der späteren Fassung dominieren jedoch deutlich die Erwägungen zur öffentlichen Gesundheit.
27 Europäischer Rat in Edinburgh, Tagung der Staats- und Regierungschefs der Europäischen Gemeinschaft am 11. und 12. Dezember 1992: Schlußfolgerungen des Vorsitzes, Teil A Anlage I, Absatz2.i), in Presse-und Inforrnationsamt der Bundesregierung, Bulletin v. 28. Dezember 1992 (Nr. 140), S. 1277 (1280)- Hervorhebung durch die Autoren. Die "Schlußfolgerungen des Vorsitzes" werden im folgenden zitiert als "Europäischer Rat in Edinburgh, in Bulletin v. 28.12.1992, S. 1277 ( ... )". 28
Europäischer Rat in Edinburgh, in Bulletin v. 28.12.1992, S. 1277 (1281).
29
EG-ABI. C 124/5 vom 19. Mai 1989.
V. Die Überschreitung der Kompetenzgrenzen
33
Sehr aufschlußreich ist in dieser Hinsicht das erklärende Memorandum der Kommission Doc 0437EN91800 vom 8. März 1991, 3. überarbeitete Fassung. Abschnitt I des Memorandums beginnt mit einem zusammenfassenden Überblick der gegenwärtigen Gesetzgebung in den verschiedenen Mitgliedstaaten (S. 3 & 4). Das Memorandum stellt fest 30 "Die Kommission beabsichtigte ursprünglich ... , die Vorschriften der Mitgliedstaaten zur Presse- und Plakatwerbung rur Tabakprodukte zu vereinheitlichen. ,,31 Daraufhin hat die Kommission ihren Vorschlag zurückgenommen und einen neuen angekündigt, der auf eine vollständige Rechtsangleichung der Bestimmungen über Werbung für Tabakerzeugnisse abzielt.
In Abschnitt II erklärt die Kommission die "Grundlage" der Gemeinschaftsalction. Es erscheint sinnvoll, diesen Abschnitt in seiner Gesamtheit wiederzugeben: "Die Informationsmedien in den zwölf Mitgliedstaaten haben mehr und mehr grenzüberschreitenden Charakter. Mehr und mehr Bürger der einzelnen Mitgliedstaaten haben Zugang zu den Medien anderer Mitgliedstaaten, sei es durch Radio, Fernsehen, Kino, die Printmedien oder Plakate. Die Tabakwerbung folgt diesem Trend, und dies um so mehr, als sie von multinationalen Unternehmen verstärkt zentral entworfen wird sowie mit Themen arbeitet, die auf Gemeinschaftsebene, ja sogar weltweit die gleichen sind. In den fünfziger Jahren wurde der Tabakkonsum, insbesondere der von Zigaretten, in Europa ein sozial angesehenes Verhalten und mit einem positiven Image verbunden, das durch Werbung gepflegt wurde. Dreißig Jahre später ist Tabak nun zu einem unserer schwerwiegendsten Gesundheitsprobleme geworden. Tabak ist die wichtigste Todesursache bei Lungenkrebs und ein wesentlicher Verursachungsfaktor bei einer Vielzahl anderer schwerer Erkrankungen, etwa bei Herz- und Kreislaufkrankheiten. Tabakerzeugnisse sind in den Mitgliedstaaten der europäischen Gemeinschaft jedes Jahr rur den Tod von etwa 430.000 Menschen verantwortlich. Mindestens 25% der Todesfälle im Alter zwischen 35 und 69 Jahren und 10% der Todesfälle bei über 70 Jährigen wurden durch Tabak verursacht. Falls der gegenwärtige Trend anhält, werden nach Schätzungen der WHO in den 31 europäischen Staaten von den jungen Menschen, die
30 Dieses Dokument der Kommission (Nr. Doc 0437EN91800 vom 8. März 1991,3. überarbeitete Fassung) liegt nicht in einer amtlichen deutschen Übersetzung vor. Die folgenden Zitate und Auszüge sind die Übersetzung der Autoren. Die inhaltlichen Aussagen dieses Dokumentes finden sich jedoch mit unwesentlichen sprachlichen Änderungen vollständig im endgültigen Richtlinienvorschlag der Kommission (Dokument KOM (91) 111 endg. - SYN 194 vom 6. Juni 1991) wieder.
31 Später wird dargelegt werden, warum die Rechtsangleichung betreffend die Anschlagund Plakatwerbung außerhalb der Gemeinschaftskompetenz ist (siehe unten C. VIT.).
3 Simma u. a.
34
C. Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaften 1990 noch keine 25 Jahre alt sind, im Jahre 2025 bereits 2 Millionen an den Folgen des Rauehens sterben. 32 Angesichts dieser Tatsache haben die Mitgliedstaaten im Jahre 1986 in ihrem Programm "Europa gegen den Krebs" die Bekämpfung des Rauehens als eines ihrer vorrangigen Ziele angesehen. Die Werbung ist in diesem Zusammenhang einer der Faktoren der Marktexpansion für Tabakerzeugnisse. Die massive Überflutung mit Bildern und Botschaften, die den Verbrauch von Tabakerzeugnissen fördern sollen, verdrängt jeden Gedanken an die Schädlichkeit des Rauehens und verleitet junge Menschen dazu, Verhaltensweisen anzunehmen, die als sozial akzeptabel dargestellt werden. Auch wenn nicht von allen anerkannt wird, daß die Werbung in einzigartiger und direkter Wcise verantwortlich ist für den Einstieg in den Tabakkonsum bzw. die Tabakabhängigkcit, ist es cin Faktum, daß die Werbung eine grundlegende Rolle spielt bei der Förderung des Rauchens, ines Verhaltens, was allgemein in der Kindheit und Jugend übernommen wird. Etwa 60% der Raucher beginnen vor dem 13. Lebensjahr, über 90% vor dem 20. Lebensjahr. Folgt man der Tabakindustrie, dann bestünde der Sinn der Werbung einfach darin, die Raucher zu cinem Wechsel der Marke zu bewegen und damit einen besseren Wettbewerb zwischen den auf dem Markte angebotenen Erzeugnissen zu gewährleisten33 . Zweifellos versucht jede Werbung per definitionem, den Marktanteil des betreffenden Erzeugnisses zu vergrößern. Nichtsdestotrotz, die allgegenwärtige Tabakwerbung dringt in das Bewußtsein der gesamten Bevölkerung, Kinder wie Erwachsene, Nichtraucher wie Raucher, ja selbst Raucher, die eigentlich das Rauchen aufgeben möchten. Nehmen wir das Beispiel der Kinder und Jugendlichen: Sehr viele von ihnen kommen mit Zigarettenrauchen bereits in sehr jungem Alter in Berührung. Einige werden es schaffen, mit dem Rauchen aulZuhören, andere jedoch nicht. Ist es nicht eine einsichtige Schlußfolgerung, daß junge Leute, die durch Werbung zur Markentreue erzogen wurden, wohl auch - und gerade hierdurch - regelmäßige Raucher werden? Wenn die Werbung nicht neue Kunden anzie-
32
[Fußnote des Originaldokunlentsj:
Dr. Richard Peto, University ofOxford, Clinical Trial Service Unit & ICRF Cancer Studies U nit; Chairman of the WHO Consultative Group on statistical aspects of tobacco-related disease. Consultation on the Statistical Aspects of Tobacco-Related Mortality. Convened by the World Health Organization in Geneva in October 1989. Epidemiology: "Tobacc-attributable mortality: global estimates and projections". Tobbacco Alert. World Health Organization, Januar 1991. "It can be done". A World Health Organization report on the first European conference on tobacco policy in Madrid, 7. - 11. November 1988. 33
[Fußnote des Originaldokuments]:
Tye, J.B., Warner, K.E., Glantz, S.A., "Tobacco advertising and consumption: Evidence of a social relationship" , J. Public Health Policy (1987), 492-508.
V. Die Überschreitung der Kompetenzgrenzen
35
hen würde, Jahr für Jahr, Monat für Monat, Tag für Tag, wenn mit anderen Worten der Wettbewerb zwischen konkurrierenden Gesellschaften um Marktanteile tatsächlich keinen Einfluß auf die Gesamtmenge konsumierten Tabaks hätte, dann würde der Tabakkonsum zweifellos sehr rasch fallen als Ergebnis demographischer Entwicklung und dem frühzeitigen Tode von Rauchern die Opfer von durch Tabak verursachten Krankheiten sind. Mit dieser Analyse der Rolle der Werbung für Tabakerzeugnisse soll nicht behauptet werden, daß nicht auch andere Faktoren junge Menschen zum Rauchen bewegen, u.a. das Verhalten von Freunden, von Lehrern, Eltern und Beziehungen sowie Persönlichkeiten, die als Vorbilder gesehen werden. Es bleibt jedoch ein Faktum, daß die Tabakwerbung gerade darauf abzielt, ein bestimmtes Image von sympatischer Atmosphäre, Abenteuertum und Heldenfiguren zu beschwören, mit anderen Worten: eine metaphorische Phantasiewelt zu benutzen. Tabak ist ein frei erhältliches Produkt und unterliegt als solches den Gesetzen des Marktes und des Wettbewerbs. Das bedeutet, daß der Verbraucher Zugang zu Produktinformationen haben muß und daß ein Vertriebssystem ermöglicht werden muß. Da auf der anderen Seite der Tabakkonsum anerkanntermaßen extrem schädlich ist, sollten Informationen über Tabakprodukte nur denen zugänglich sein, die daran wirklich interessiert und davon auch betroffen sind, d.h. den Käufern. Aus diesem Grunde darf die Werbung nur in Tabakgeschäften zugelassen werden und in solchen Innenräumen, die über Geschäftsräume verfügen, in denen speziell Tabakkäufer bedient werden. Jedoch bieten die Verkaufs stellen für Tabakprodukte, die dem allgemeinen Publikumsverkehr offen stehen, wie Kioske und Verkaufsstände, Supermärkte oder Einkaufscenter, nicht den nötigen Schutz - vor allem für Jugendliche -, wie er sowohl seitens der Industrie als auch seitens der Gesundheitsbehörden für erforderlich gehalten wird. Da die Werbung innerhalb von Tabakgeschäften zugelassen bleibt, kann der Tabakkäufer sich weiterhin über die unterschiedlichen Tabakmarken und -arten informieren, wobei gleichzeitig die übrige Bevölkerung gegen diese Werbung abgeschirmt wird. Der Inhalt der Werbung in den Verkaufsstellen bleibt dabei den gesundheitsrechtlichen Anforderungen des jeweiligen Mitgliedstaates unterworfen. Um die Beschränkungen der direkten Werbung zu umgehen und um ein Markenimage zu wecken oder zu stärken, hat sich die Tabakindustrie der indirekten Werbung zugewandt. Studien über Werbung zeigen jedoch, daß die überwiegende Mehrheit der Jugendlichen diese Art von produktübergreifender Werbebotschaft als Werbung für die damit assoziierten Tabakwaren auffaßt. Die jugendlichen Verbraucher bemerken keinen Unterschied. Wenn man sich vorstellt, wie diese Werbung normalerweise betrachtet wird, dann ist in der Tat klar, daß wegen des hohen Bekanntheitsgrades der Tabakmarken, die in diesen Anzeigen dargeboten werden, die Werbung für andere Erzeugnisse offensichtlich wie eine Werbung für Tabakerzeugnisse dieser Marke wahrgenommen wird. Wir haben es daher wesentlich mit einer Aufforderung zum Verbrauch von Tabak und nicht etwa anderer Erzeugnisse zu tun l4 .
3*
C. Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaften
36
Die Tabakindustrie hat im übrigen kürzlich begonnen, eine andere Art von Werbekampagne zu entwickeln, die auf Jugendliche abzielt: Dabei wird die Marke eines bei Jugendlichen gut eingefilhrten Produktes verwendet, um ein neues Tabakerzeugnis unter gleichem Namen einzufilhren. Dabei überträgt sich der maximale psychologische Appeal für Jugendliche von dem eingeführten Produkt auf das Tabakerzeugnis. Diese neue Strategie muß untersagt werden, da sonst das Verbot der Tabakwerbung umgangen wird. Außerdem verzerrt diese Praxis, das positive Image eines anderen Produktes für Tabakwerbung zu nutzen, die Wettbewerbsbedingungen zwischen den Tabakerzeugnissen bzw. bietet den Konkurrenzmarken einen Anreiz, auf ähnliche Praktiken der Umgehung des Verbotes zurückzugreifen. Die Werbung muß Beschränkungen unterworfen werden, die dem Schutz der Rechte anderer und allgemeiner Interessen zu dienen bestimmt sind. Im Falle der Tabakwerbung ist ein angemessener Schutz der Volksgesundheit ein legitimes öffentliches Interesse. Der Richtlinienvorschlag ist sowohl mit der Pariser Konvention (Stockholm, 14. Juli 1967) als auch mit der Richtlinie der Gemeinschaft zu den Handelsmarken (89/104/EWG) vereinbar. 35 Der Abbau aller Handelsschranken bis 1992 verlangt daher, daß die nationalen Vorschriften für die Tabakwerbung in allen verschiedenen Medien, vereinheitlicht werden. Artikel 100 A, Absatz 3 der Einheitlichen Akte verlangt im übrigen: "Die Kommission geht in ihren Vorschlägen nach Absatz 1 in den Bereichen Gesundheit, Sicherheit, Umweltschutz und Verbraucherschutz von einem hohen Schutzniveau aus." Das einzige Mittel um zu gewährleisten, daß eine solche vollständige Harrnonisierung von einem hoheit Schutzniveau ausgeht, ist die Genehmigung der Werbung ausschließlich innerhalb der Verkaufsstellen für Tabakerzeugnisse. Diese Werbung beeinträchtigt nicht das Funktionieren des Binnenmarktes. Eventuelle Bestimmungen der Mitgliedstaaten (oder auch freiwillige Abkommen) bezüglich dieser Werbung werden hiervon nicht berührt. Unter gleichzeitiger Beachtung der Anforderungen des Gesundheitsschutzes im Sinne des EWG-Vertrages muß der freie Verkehr der Medien sichergestellt und die Entstehung von Handelsbarrieren aufgrund von unterschiedlichen nationalen Bestimmungen zur Tabakwerbung verhindert werden. Angesichts des derzeitigen Stands der Gesetzgebung in den Mitgliedstaaten sowie ihrer voraussichtlichen Entwicklung kann eine vollständige Harrnonisierung nur durch ein Verbot der Tabakwerbung außerhalb von Verkaufsstellen erreicht werden.
34 [Fußnote des Originals]: Aitken, P.P. u.a., "Brand-stretching" advertisements for cigarettes: the impact on children", Health Education Journal (1985) 44, 201-202. 35
[Fußnote des Originals]: EG-ABI. L 40/1 vom 1l. Februar 1989.
V. Die Überschreitung der Kompetenzgrenzen
37
Angesichts der gegenseitigen Verflechtung der Werbemedien und um das Risiko von Wettbewerbsverzerrungen und einer Umgehung der Verbotsregeln zu vermeiden, muß dieses Verbot alle Formen und Mittel der Werbung abdecken, mit Ausnahme der Femsehwerbung, die bereits durch Richtlinie 89/552/EWQl6 untersagt ist.
In den zwölf Mitgliedstaaten liegen die Ausgaben für Tabakwerbung nicht höher als 3% der Gesamtausgaben für Werbung für alle Erzeugnisse und Dienstleistungen. In Norwegen, wo Tabakwerbung seit 1975 verboten ist, betrug die Zuwachsrate für Werbung für alle Erzeugnisse in den acht Jahren vor dem Verbot 3,9 % im Vergleich zu 5,6 % in den acht Jahren nach dem Verbot. Das norwegische Beispiel zeigt, daß ein Werbeverbot die wirtschaftliche Situation der Presse nicht verschlechtert hat. "
Einige Dinge sind bei dieser BegründWlg der Gemeinschaftsaktion bemerkenswert.
Am auffallendsten ist das überwiegende Gewicht, welches ganz offen der Sorge um die öffentliche GesWldheit beigemessen wird. Außer einem flüchtigen Hinweis im ersten Absatz enthält der Hauptteil der ersten 21 Abschnitte der Erklärung der Grundlage zur Gemeinschaftsaktion einen kwzen Überblick über die ernsten Gesundheitsrisiken, die durch das Rauchen verursacht werden sowie eine Analyse des Beitrages, den die Werbung in all ihren Formen hierzu leistet. Dies mag alles richtig sein, dennoch bleiben diese ÜberlegWlgen außerhalb des gesetzgeberischen Rahmens der Gemeinschaftsziele. 37 Nach einer Erklärung über die Gefahren des Rauchens Wld der WerbWlg kommt der erklärende Bericht zu dem Ergebnis, daß die BeseitigWlg von Handelshemmnissen eine RechtsangleichWlg der innerstaatlichen Vorschriften über WerbWlg für Tabakerzeugnisse in allen Informationsmedien verlangt. Das ist eine Wlschlüssige Folgerung. Ohne Zweifel muß nachgewiesen werden, warum z.B. Wlterschiedliche innerstaatliche Vorschriften über PlakatwerbWlg ein Handelshemmnis darst~llen. Die Kommission beruft sich auf zwei Argumentationsstränge: a) "... Bürger der einzelnen Mitgliedstaaten haben Zugang zu den Medien anderer Mitgliedstaaten, sei es durch Radio, Fernsehen, Kino, die Printmedien oder Plakate. "38
36
[Fußnote des Originals]: EG-ABI. L 298/23 vom 17. Oktober 1989.
37 Es sei denn, man vertritt die eher abwegige Auffassung, daß die Gesundheit von EGStaatsangehörigen für sich bereits eine Gemeinschaftsmaßnahme rechtfertigt, da sich Krankheit z.B. auf die Wirtschaft ungünstig auswirken würde. 38 Richtlinienvorschlag der Kommission (Dokument KOM (91) 111 endg. - SYN 194 vom 6. Juni 1991), S. 4.
C. Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaften
38
Die Angehörigen eines Mitgliedstaates kommen mit Plakatwerbung anderer Mitgliedstaaten auf ihren Reisen in diese anderen Mitgliedstaaten in Berührung. Dies kann jedoch nicht eine legitime Grundlage für eine Rechtsangleichung sein. Wäre dies der Fall, hätte die Gemeinschaft die uneingeschränkte Kompetenz, in jedem einzelnen gesellschaftlichen Bereich, in dem die Wahrscheinlichkeit sozialer Berührungsptmkte besteht, Rechtsakte zu erlassen, seien es straf- oder vertragsrechtliche Normen oder das Recht der unerlaubten Handlung etc. Um nur ein Beispiel zu nennen: Nehmen wir an, daß das Rauchen in Gaststätten in einem Mitgliedstaat verboten und in einem anderen Mitgliedstaat erlaubt ist. Hielte sich ein Staatsangehöriger des ersten Mitgliedstaates in einem Restaurant des zweiten Mitgliedstaates auf, so hätte die Gemeinschaft nach dem Denkmodell der Kommission bereits eine Rechtsgrundlage erworben. b) Mit dem zweiten von der Kommission angebotenen AnsatzpWlkt soll das Risiko einer Wettbewerbsverzerrung und einer Umgehung der Gesetze und Bestimmungen beseitigt werden. Dieser Ansatzpunkt wird in einem eigenen Abschnitt über Wettbewerbsverzerrung behandelt werden. 39 Abschließend sei noch einmal festgehalten, daß sich Begründung und Einleitung des Richtlinienvorschlags auf verschiedene Gesichtspunkte stützen. Während in der Begründung die Aspekte der öffentlichen Gesundheit überwiegen, liegt der Argumentationsschwerpunkt der Einleitung auf dem Binnenmarkt. Durch diese Verlagerung der GesichtspWlkte wird eine Maßnahme, die sich überwiegend mit der öffentlichen Gesundheit befaßt als eine solche ausgegeben, die die Verwirklichung des Binnenmarktes anstrebt. Inwieweit trotzdem das Argument des Binnenmarktes die Richtlinie zu tragen vermag, soll Gegenstand des Folgenden Abschnitts sein. 3. Die Rechtfertigung durch Gesichtspunkte des Binnenmarktes a) Das Verbot der direkten Werbung
Im Folgenden soll der Inhalt des Richtlinienvorschlags und dessen angeblicher Rechtfertigung durch Gesichtspunkte des Binnenmarktes untersucht werden. Die Rechtfertigung des Vorschlages mit Argumenten des Binnenmarktes läßt sich wie folgt zusammenfassen: -
Einige Mitgliedstaaten haben Beschränkungen, manche sogar ein vollständiges Verbot, der Werbung für Tabakerzeugnisse erlassen.
39
Siehe unten Abschnitt C.V.4.
V. Die Überschreitung der Kompetenzgrenzen
39
-
Die AufheblUlg aller Handelshemmnisse bis Dezember 1992 verlangt nach einer RechtsangleichlUlg der innerstaatlichen BestimmlUlgen über WerblUlg für Tabakerzeugnisse in allen Informationsmedien. In ErmangellUlg einer solchen RechtsangleichlUlg würde der freie Verkehr der lUlterschiedlichen Medien innerhalb der Gemeinschaft, in denen WerblUlg für Tabakerzeugnisse geschaltet wird, behindert werden, wodurch ein lUlZUlässiges Handelshemmnis entstünde.
-
Da Art. 100 a (3) EWG-Vertrag bei Maßnahmen zur Rechtsangleichung ein hohes Schutzniveau im Bereich der Gesundheit fordert, ist ein vollständiges Verbot angezeigt.
-
Sogar dort, wo keine BehinderWlg des freien Verkehrs nachgewiesen werden kann, würde das Bestehen einer uneinheitlichen innerstaatlichen Gesetzgebung zur TabakwerblUlg eine WettbewerbsverzerrWlg für die Tabak- und Werbeindustrie darstellen, die beseitigt werden muß. Die Beseitigoog von Wettbewerbsverzemmgen rechtfertigt nach AuffasslUlg der Kommission eine RechtsharmonisierWlg auf der Grundlage von Art. 100a EWG-Vertrag.
Nach der hier vertretenen AuffasslUlg überschreitet ein vollständiges Verbot das Maß an RechtsangleichlUlg, das zur Verwirklichung des Binnenmarktes ("Raum ohne Binnengrenzen, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, DienstleistlUlgen lUld Kapital gemäß den Bestimmungen dieses Vertrages gewährleistet ist", Art. 8a EWG-Vertrag) notwendig ist. Ein solches Verbot ist daher ultra vires und rechtswidrig. Im Bereich des GeslUldheitswesens, in welchem die Gemeinschaft keine originäre Zuständigkeit ausübt und, anders als im Bereich des Umweltrechts, wo dies der Fall ist, kann sie nur insoweit handeln, als die Berücksichtigoog der Interessen des Binnenmarktes dies verlangt. Daher sind alle jene Formen der WerblUlg, die keinen Bezug zum Binnenmarkt haben, vom Verbot aUSZlIDehmen, es sei denn, es ließe sich eine andere rechtmäßige RechtsgTlUldlage für derartige HarmonisierWlgen finden. Selbst eine flüchtige Überprüfung des Richtlinienvorschlages wird zeigen, daß ein vollständiges Werbeverbot nicht geeignet ist, Handelshemmnisse in werbenden Medien zwischen den Mitgliedstaaten zu beseitigen, die möglicherweise eine uneinheitliche Gesetzgebung in diesem Bereich aufweisen. Der Begründungsansatz der Kommission in diesem Fall - insbesondere die Berufung auf das Argument der WettbewerbsverzerrWlg - würde einen äußerst gefahrlichen PräZedenzfall für zukünftige Rechtsetzungsvorhaben der Gemeinschaft schaffen. Die Tür für Eingriffe der Gemeinschaft auf der GrWldlage von Mehrheitsentscheidungen in praktisch allen Bereichen gesellschaftlicher und kultureller Gesetzgebung und Politik der Mitgliedstaaten würde geöffnet, wodurch der GrlUldsatz der Subsidiarität zu einem inhaltsleeren Begriff verkommen würde. 40 Im Inter-
40
C. Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaften
esse der Klarheit soll jedoch auf Fragen des freien Verkehrs (der Medien) und der Wettbewerbsverzerrung getrennt eingegangen werden. Die folgende nichterschöpfende Auflistung von Beispielen verdeutlicht die Tatsache, daß der Richtlinienvorschlag das Bedürfnis an Rechtsangleichung überschreitet: aa) Ortsgebundene Werbung Ein Musterbeispiel ist selbstverständlich die standortgebundene Plakat- und Litfaßsäulenwerbung. Anders als Zeitungen, Fernsehsendungen und indirekte Werbeprodukte, die sämtlich gehandelt werden können und einen grenzüberschreitenden Markt haben mögen, kann das Verbot von standortgebundener Werbung nicht mit Argumenten des freien Warenverkehrs gerechtfertigt werden und müßte daher, wenn es sich dabei um den einzigen Rechtfertigungsansatz handeln sollte, von der Richtlinie ausgeschlossen werden. Tatsächlich stellen die uneinheitliche Nonnen, die in diesem Bereich bestehen, eher Regelungen der Anwendung eines Produkts als Regelung der Qualität des Produktes dar. Diese Nonnen entsprechen daher eher nationalen Regelungen, die das Rauchen in einer Gaststätte untersagen, als solchen, mit denen ein Mitgliedstaat die Einfuhr von Zigaretten verbietet. Es kann kaum argumentiert werden, daß, z.B. durch den Entschluß eines Mitgliedstaates, Standwerbung in offener Landschaft zu verbieten, die Gemeinschaft die Kompetenz zur Rechtsangleichung in diesem Bereich erlangen kann, da dies ein Handelshemmnis darstelle. Das Verbot ortsgebundener Werbung könnte deshalb allenfalls mit Argumenten der "Wettbewerbsverzerrung" oder der Dienstleistungsfreiheit der Werbeindiustrie gerechtfertigt werden. bb) Printwerbung in Zeitungen und Zeitschriften Oberflächlich betrachtet hat es den Anschein, daß, da Zeitungen und Zeitschriften Erzeugnisse sind, die einen grenzüberschreitenden Markt haben, eine uneinheitliche Gesetzgebung unter den Mitgliedstaaten zu einer Behinderung des freien Verkehrs fuhren könnte. Verbietet z.B. Portugal sämtliche Werbung von Tabakwaren und tut
40 Die Tatsache, daß die Gemeinschaft und ihre Mitgliedstaaten in der Vergangenheit Gesetze erlassen haben, ohne die verfassungsrechtlichen Grenzen der Zuständigkeit europäischen Gemeinschaft zu berücksichtigen, sollte nicht dazu führen, verfassungsrechtliche Unachtsamkeit noch weiter zu tolerieren. Siehe Urteil vom 26. März 1987 - Rs. 45/86 (APS), Slg. 1987, S. 1493.
V. Die Überschreitung der Kompetenzgrenzen
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dies z.B. Deutschland nicht, könnten deutsche Zeitschriften, die Werbung für Tabakwaren enthalten, in Portugal nicht frei in den Verkehr gebracht werden. Eine Rechtsangleichung an den portugiesischen Standard erschiene nach Art. 100a Abs. 3 erforderlich. Diese Logik eines vollständigen Verbotes jeglicher Printwerbung ist jedoch mechanistisch, zu weitreichend und daher unverhältnismäßig und überschreitet das, was zur Erreichung des Binnenmarktes im Bereich der Printmedien wirklich notwendig ist. Demnach wäre ein vollständiges Verbot in den Printmedien auch ultra vires und rechtswidrig. Hierzu zwei Beispiele: (1) Ortlieh werbende Zeitungen
Es gibt einen wachsenden Bereich von Werbung in Zeitungen, die meistens wöchentlich für einen kleinen, örtlichen Markt - Z.B. einer mittelgroßen Stadt oder einem Stadtteil innerhalb einer großen Stadt - publiziert, gratis an die Einwohner verteilt werden und hauptsächlich aus bezahlter, sich auf eine bestimmte Örtlichkeit konzentrierende Werbung bestehen. Tatsächlich haben diese örtlich werbenden "Zeitungen" außerhalb ihrer örtlichkeit überhaupt keinen und gewiß keinen europäischen Marke l . Tabakwerbung in einer solchen örtlich werbenden "Zeitung" eines Mitgliedstaates, der sie nicht verbietet, wird keine nennbaren Auswirkungen auf den innergemeinschaftlichen Handel solcher Zeitungen haben. 42 Ein Verbot dieser Art von Werbung kann allein aus gesundheitspolitischen Gründen gerechtfertigt werden, die nicht von Art. 100 a EGV gedeckt sind und wofür die Gemeinschaft keine Kompetenz besitzt. (2) Werbebeilagen in Zeitungen Eine andere Art der Printmedienwerbung ist die der örtlichen Werbebeilage. Diese Beilagen sind eigens hergestellte und gesondert der Zeitung beigefügte Werbematerialien, die - häufig auf Glanzpapier - keinen integralen Bestandteil der Zeitung bilden, sondern ihr zum Teil erst in den Vertriebszentren eingelegt werden. Sie fmden sich häufig in den Wochenendausgaben von Zeitungen und richten sich teilweise gezielt an einen örtlich begrenzten Adressatenkreis. Typischerweise enthalten "internationale" oder "europäische" Ausgaben von Zeitungen - jene Aus41 Als Grenzfall könnte man sich das Beispiel einer örtlich werbenden "Zeitung" in einer Grenzstadt vorstellen, die einen Markt auf der anderen Seite der Grenze hat. Wir WUrden dies als de-minimis bezeichnen, in der Art vergleichbar mit dem Begriff von de-minimis im europäischen Wettbewerbsrecht.
42 Die Rechtfertigung der Richtlinie mit Argumenten der "Wettbewerbsverzerrung" ist in diesen Fällen noch fadenscheiniger als im Falle der ortsgebundenen Werbung.
42
c. Kompetenzen
der Europäischen Gemeinschaften
gaben, die an ausländische Vertreiberstellen versandt werden - keine Werbebeilagen, meistens um Transportkosten einzusparen. Wäre der Richtlinienvorschlag allein damit befaßt, die Beseitigung von Handelshemmnissen und den freien Verkehr von Zeitungen zu gewährleisten, wäre es ausreichend zu verlangen, daß Werbebeilagen für Tabakwaren in den Ländern, in denen Tabakwerbung erlaubt ist, nicht in Ausgaben verwendet werden, die zum grenzüberschreitenden Gebrauch vertrieben werden. Das würde der derzeitigen Praxis der Industrie entsprechen, würde keine unterschiedlichen Herstellungsverfahren erfordern (wie dies bei industriellen Erzeugnissen der Fall sein könnte, die den unterschiedlichen Rechtsvorschriften der verschiedenen Mitgliedstaaten genügen müssen) und den Bedürfnissen des gemeinschaftsinternen Marktes vollkommen genügen. Der Vertrieb von Zeitungen ist ein äußerst zentralisierter Vorgang, bei dem praktisch weder Zweitvertrieb noch ein Markt für Parallelirnporte existiert. Ein vollständiges Verbot von Beilagen mit Tabakwerbung stellt die Richtlinie dort, wo eine problemlos durchführbare und weniger einschränkende Maßnahme besteht und ein Totalverbot daher aus Gründen des gemeinschaftsinternen Marktes nicht notwendig ist, weit außerhalb des Rahmens von Art. I OOa und ist ultra vires. 43 cc) Integrale Werbung in Zeitungen mit einem europäischen Markt Der Richtlinienvorschlag wirft auch die Frage nach der Verhältnismäßigkeit seines Inhalts auf, denn von der Gesamtzahl an Zeitungs- und Zeitschriftentiteln hat nur ein kleiner Teil tatsächliche oder potentielle Auswirkungen auf den gemeinschaftsinternen Handel. Eine vertiefte Analyse dieser Frage erfolgt bei der Be-
43 Diese Konstruktion ruft daher nach einer fakultativen Rechtsangleichung, für die es im Gemeinschaftsrecht viele Beispiele gibt. Dem Mitgliedstaat bleibt freigestellt, ob er den Gemeinschaftsstandard rur nationale Sachverhalte annehmen möchte oder nicht, doch ist rur jede Form des grenzüberschreitenden Handels der Gemeinschaftstandard zwingend vorgeschrieben. Fakultative Rechtsangleichung kann nicht auf Waren angewandt werden, die zu Teilen größerer industrieller Erzeugnisse werden. Daher wird der Mitgliedstaat z.B. bei Sicherheitsvorschriften von elektrischen und mechanischen Einzelteilen gezwungen, die Gemeinschaftsstandards anzunehmen (vollständige Rechtsangleichung), da diese Einzelteile nach der Einrugung in andere fertige Produkte in den freien Verkehr gebracht werden und dann eine Gefahr außerhalb der Grenzen des Mitgliedstaates darstellen können. Bei fertigen Produkten ist eine vollständige Rechtsangleichung weit weniger erforderlich. Bei losen Zeitungsbeilagen, die an der Verteilerstelle kontrolliert werden können, besteht jedoch kein wirtschaftlicher Bedarf nach vollständiger Rechtsangleichung. Obgleich in der Gemeinschaft diese Form einer fakultativen Rechtsangleichung kaum noch angewendet wird, sollte ihr Nutzen vor dem Hintergrund des Subsidiaritätsprinzip neu überdacht werden.
V. Die Überschreitung der Kompetenzgrenzen
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handlung der Subsidiarität. 44 Das Ergebnis wird dort zeigen, daß ein vollständiges Verbot in dem Richtlinienvorschlag den gesamten Wirtschaftsbereich belastet, obwohl sich das Problem der Handelshemmnisse nur für sehr wenige Publikationen stellt. Unter den drei oben aufgeführten Erwägungen erscheint es vorstellbar, daß es den Mitgliedstaaten erlaubt sein sollte, ihre interne Gesetzgebung beizubehalten, während ein Rechtsakt der Gemeinschaft zwingend nur für den grenzüberschreitenden Handel eingreifen sollte. Auf den ersten Blick erscheint diese Konstruktion einem einfachen Grundgedanken des Binnenmarktes zu widersprechen. Was für ein Binnenmarkt wäre es, wenn darin zwei Maßstäbe Seite an Seite bestehen könnten? Bei zahlreichen industriellen Gütern würde die Existenz unterschiedlicher Standards genau den Zwecken des Binnenmarktes, z.B. der Kostendegression durch Maasenfertigung, zuwiderlaufen. Auf der anderen Seite steht jedoch der Grundsatz der Subsidiarität, der eben nicht nur einen Verfassungsgrundsatz, sondern auch eine Philosophie repräsentiert, die mehr Achtung für die dezentralisierten Charakterzüge eines föderalen Systems verlangt. Können völlig uniforme, keine Differenzierungen zulassende Standards für sämtliche Waren denn mit dem so verstandenen Subsidiaritätsprinzip vereinbar sein? Das wäre in der Tat eine sehr vereinfachte Auffassung eines Binnenmarktes, der so noch nicht einmal in hochentwickelten föderalen Staaten wie den USA besteht und der dem Geist der Subsidiarität sicher widersprechen würde. Der Begriff "Binnenmarkt" ist kein Grundsatz, der alle anderen konkurrierenden Grundsätze, einschließlich dem der Zuständigkeitsbegrenzung und der Autonomie und Vielfalt der Mitgliedstaaten, in Bereichen, in denen die Gemeinschaft keine originäre und primäre Rechtsetzungsgewalt besitzt, außer Kraft setzt. Zur Verdeutlichung: Die Mitgliedstaaten haben auf dem Gebiet der öffentlichen Moral des Verlagswesens sehr unterschiedliche Normen und Standards. In einigen Mitgliedstaaten ist die Darstellung frontal abgebildeter Nacktheit in der Werbung verboten, während andere eine weniger strenge Einstellung haben. Ebenso legen Mitgliedstaaten sehr unterschiedliche Maßstäbe an, wenn es um die Beurteilung sexuell freizügiger Waren geht. Diese Unterschiede sind Ausdruck der gesellschaftlichen Werte und Sitten. Ein potentiell großer Markt für solche Waren innerhalb der Gemeinschaft kann sich jedoch nicht entwickeln, weil der freie Verkehr dieser Waren durch unterschiedliche Normen der Mitgliedstaaten verhindert wird.
44
Siehe unten Abschnitt C. VII.
44
C. Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaften
Hätte die Gemeinschaft auf Grund dieses Sachverhalts tatsächlich die Kompetenz zum Erlaß von Richtlinien, die Z.B. das Maß an Nacktheit in der Werbung oder den Grad an "Freizügigkeit" bei pornographischen (oder erotischen) Produkten im Interesse des Binnenmarktes harmonisieren würden? Könnte die Gemeinschaft tatsächlich Maßnahmen ergreifen, wn ein maximales Schutzniveau für die öffentliche Moral durchsetzen und Z.B. jede Form der Nacktheit verbieten? Könnte die begrenzte Kompetenz der Gemeinschaft zur Rechtsangleichung so ausgeweitet werden, daß die Gemeinschaft damit die durch soziale Wertvorstellungen geprägten Normen der öffentlichen Moral innerhalb der Mitgliedstaaten gestaltet? Die Antwort ist eindeutig: Die Gemeinschaft besitzt keine Zuständigkeit in diesem Bereich und sie kann eine solche auch nicht einfach deshalb erlangen, weil eine Maßnahme in irgendeiner Form dem Binnenmarkt dient. Selbst eine vollständige Einigkeit der Regierungen innerhalb des Rates könnte nicht eine solche Kompetenz begründen. Wie bereits oben ausgeführt, besteht in einigen Fällen der Rechtsangleichung, wie Z.B. bei Sicherheitsmerkmalen von Produktbestandteien oder von industriellen Gütern, wahrscheinlich keine Alternative zu einem Einheitsmaßstab. Damit stellt sich das Problem, wie die Grenze zu ziehen ist zwischen Fällen, in welchen ein uniformer Standard bei der Harmonisierung unbedingt notwendig ist, und solchen, bei denen der Binnenmarkt auch ohne diese Einheitlichkeit durchaus funktionieren kann. Hier soll kein Lackmus-Test für die Abgrenzung angeboten werden. Doch können einige vorläufige Kriterien angegeben werden, insbesondere die folgenden zwel: -
Der Gemeinschaft sollte ein größerer Spielrawn in Bereichen offenstehen, in welchen die Rechtsangleichung Teil einer anerkannten Gemeinschaftspolitik ist, wie Z.B. beim Umweltschutz, in der Landwirtschaft, usw.
-
Demgegenüber muß dort, wo die Gemeinschaft ihre Kompetenz allein aus dem Ansatzpunkt des Binnenmarktes ableitet, ein größeres Maß an Vorsicht walten. Insbesondere, wenn die Rechtsangleichung ein nicht-technisches Gebiet berührt und dabei in Bereiche übergreift, wo unterschiedliche Gesellschaften in rechtmäßiger Weise ihre eigenen Wertvorstellungen haben und beibehalten wollen, muß der Maßstab dessen, was unbedingt notwendig ist, sehr hoch angesetzt werden. Einschränkungen der Werbung - in der Tat jede Einschränkung der Meinungsäußerung - stellt einen solchen Bereich dar. Die Grenzlinie der Achtung vor den gesellschaftlichen Wertvorstellungen der Mitgliedstaaten sollte soweit wie möglich unversehrt bleiben. Einige Gesellschaften sind mit einem hohen Maß an Regierungsfürsorge einverstanden. Andere hüten eifersüchtig die Eigenständigkeit des Individuwns bis hin zur Freiheit, sich selbst zu schaden. Die Gemeinschaft darf in diese Bereiche unter dem Deckmantel des freien Verkehrs nicht einbrechen, wenn es angemessene'Alternativen gibt.
V. Die Überschreitung der Kompetenzgrenzen
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b) Das Verbot der indirekten Werbung Wie oben bereits ausgeführt wurde, wäre die Verwendung von Tabakmarken zur Werbung für andere "unschädliche" Waren (z.B. Bekleidung) oder die Verwendung von Markennamen "unschädlicher" Waren mit hohem Ansehen zur Werbung für neue Tabakprodukte nach dem Richtlinienvorschlag verboten. Die Auswirkungen des partiellen Verbotes von indirekter Werbung gefährden ein Unternehmen in der freien Nutzung seines eigenen gewerblichen Eigentums bei der Vermarktung einer Ware, die ZlUD gegenwärtigen Zeitpunkt jedenfalls vollkommen legal ist. Man stelle sich ein qualitätsbewußtes Unternehmen aus der Parfümbranche vor, das sich einen guten Ruf durch die Herstellung qualitativ hochwertiger Prestigeprodukte erworben hat. Man stelle sich weiter vor, daß dieses Unternehmen in den Bereich der Tabakwaren expandieren möchte - eine Ware, die in allen Mitgliedstaaten legal ist. Nach dem Richtlinienvorschlag ließe sich darlegen, daß das Unternehmen seinen Markennamen für das neue Produkt (Tabak) nicht verwenden dürfte, da die Nutzung der Namensbekanntheit der anderen Produkte eine indirekte Form der Werbung für Tabak darstellen würde. Dieses Verbot wirft ernsthafte rechtliche Probleme auf, von denen hier nur einige kurz erwähnt seien: aa) Mit Sicherheit berührt dieses Verbot das Recht auf Eigentum, das von den Verfassungen der Mitgliedstaaten garantiert wird. Zugegeben besteht dieses Recht nicht vorbehaltlos, das heißt Einschränkungen ZlUD Schutz von Interessen der Allgemeinheit sind zulässig, sofern die Einschränkungen verhältnismäßig sind zur Erreichung eines verfassungsmäßigen Zieles. bb) Selbst wenn der Schaden aus indirekter Werbung gravierend wäre, ließen sich viele Konstellationen denken, in welchen es schwierig wäre, innergemeinschaftliche Auswirkungen und somit eine Rechtsgrundlage nachzuweisen, auf die sich das Verbot der indirekten Werbung stützen ließe. In ihren ursprünglichen Fassungen hatte die Kommission das Verbot der indirekten Werbung nicht mitein bezogen; dies wurde erst später als explizit gesundheitspolitische Maßnahme hinzugefügt.Ihre Begründung mit Argumenten des Binnenmarktes fällt in vielen Fällen dürftig aus: Einige Tabakmarken werden ausschließlich regional vertrieben. Das Betreiben von Werbung für andere Waren durch die Hersteller solcher Marken könnte weder den Handel zwischen Mitgliedstaaten beeinträchtigen, noch hätte es nennenswerte Auswirkungen auf den Binnenmarkt oder auf wesentliche Aussclmitte desselben. Hierzu folgende Ungereimtheit: Restriktive Praktiken oder der Mißbrauch einer marktbeherrschenden Stellung hinsichtlich solch örtlich begrenzter Tabakwaren wären aufgrund ihrer internen Dimension nicht Gegenstand des Gemeinschaftsrechts, indirekte Werbung dagegen wäre davon erfaßt. Ein vollständiges Verbot indirekter Werbung, das nicht differenziert zwischen Waren mit einer nur
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c. Kompetenzen
der Europäischen Gemeinschaften
nationalen und solchen mit einer grenzüberschreitenden Verbreitung, erweist sich im Hinblick auf die Gnmdsätze der Verhältnismäßigkeit und der Subsidiarität erneut als äußerst fragwürdig.
c) Ergebnis Anhand der Beispiele wird also deutlich, daß der Richtlinienvorschlag mit seinem weitreichenden Verbot in vielerlei Hinsicht das für den freien Verkehr erforderliche Maß an Rechtsangleichung überschreitet. Ausgehend von der Richtigkeit der vorgenommenen Analyse wäre damit die ursprüngliche Hypothese bewiesen, daß der Richtlinienvorschlag in seiner gegenwärtigen Fassung nicht nur in seiner Begründung, sondern auch in seinem Inhalt den Binnenmarkt als Maske für das verwendet, was in Wirklichkeit in erster Linie eine Maßnahme der öffentlichen Gesundheit darstellt, für die der Gemeinschaft die Kompetenz zur Rechtsangleichung nach Art. 100a EWG-Vertrag fehlt. Selbst wenn diese überlegung nicht richtig wäre, weist die Richtlinie zumindest einige Merkmale auf, die das für die Beseitigung von Handelshemmnissen notwendige Maß an Rechtsangleichung überschreiten.
4. Die Beseitigung von Wettbewerbsverzerrungen als Rechtfertigungsgrund für die Rechtsetzung Eine alternative Begründung für die Rechtsangleichung, die zunehmend in Mode gerät, und zwar insbesondere in den am weitest hergeholten Rechtsetzungsvorschlägen, ist die der Beseitigung von Wettbewerbsverzerrungen. Die Beseitigung von Wettbewerbsverzerrungen ist eine anerkannte und wichtige Dimension zur Erreichung des Binnenmarktes. Sie wurde z.B. im Umweltbereich verwendet, um Richtlinien zu erlassen, die es den Herstellern in den verschiedenen Mitgliedstaaten ermöglichen, auf einer Ebene miteinander zu konkurrieren. Wäre z.B. das Abfallgesetz eines Mitgliedstaates strenger als das eines anderen, würde sich das auf den Endstückpreis einer Ware auswirken und so den Wettbewerb verzerren. Im vorliegenden Fall ist das Verzerrungsargument dort relevant, wo die Notwendigkeit einer Rechtsangleichung nicht durch direkte Handelshemmnisse gerechtfertigt werden kann, wie z.B. beim Verbot von Plakatwerbung. Die Argumentation ist in etwa wie folgt:
Wenn in einem Mitgliedstaat ein Verbot für Tabakwerbung auf Plakaten besteht und in einem anderen diese Werbung zugelassen wird, führt diese Divergenz zu einer "Verzerrung des Wettbewerbs": In der Werbeindustrie der verschiedenen Mitgliedstaaten und auch unter den Tabakerzeugern wären die Werber und Erzeuger
V. Die Überschreitung der Kompetenzgrenzen
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aus weniger strengen Mitgliedstaaten bevorzugt. Um diese Verzerrung des Wettbewerbs zu beseitigen, muß die Gemeinschaft die Kompetenz haben, diese nationalen Normen nach Art. lOOa EWG-Vertrag anzugleichen. Hierbei handelt es sich um eines der gefährlichsten Argumente, auf welches die Zuständigkeit der Gemeinschaft gestützt werden kann. Daher ist äußerste Vorsicht am Platze. Diese Argumentation mißbraucht nämlich die durchaus legitimen Anliegen des Abbaus von Wettbewerbsverzerrungen. Sie ist aus zahlreichen Gründen äußerst bedenklich. Hier seien diejenigen aufgelistet, die am problematischsten erscheinen: Mit der Berufung auf Wettbewerbsverzerrungen würden der Gemeinschaft praktisch unbegrenzte Kompetenzen zur Rechtsangleichung zuwachsen. Denn von fast jedem Gesichtspunkt innerstaatlicher Sozialgesetzgebung kann behauptet werden, daß er auch wirtschaftliche Auswirkungen hat, welche ihrerseits den "Wettbewerb verzerren". Daher könnte etwa wie folgt argumentiert werden: a) Unterschiedliche Steuers ätze bei der Einkommens- bzw. Körperschaftssteuer wirken sich auf deren wirtschaftliche Fähigkeit aus, Profit zu erwirtschaften, zu investieren und sich an Forschungsvorhaben zu beteiligen. Danach hätte die Gemeinschaft, die Einkommens- bzw. Körperschaftssteuer anzugleichen, da eine uneinheitliche Steuer den Wettbewerb von Individuen und Unternehmen verzerrt. Kann aber ernsthaft behauptet werden, daß die Gemeinschaft - durch Mehrheitsentscheidung - die Steuersätze der Einkommens- bzw. Körperschaftssteuer in den verschiedenen Mitgliedstaaten ohne Änderung des Vertrags und auf der alleinigen Grundlage von Art. 1OOa EWG-Vertrag angleichen darf? b) Auch die Dauer der Schulpflicht wirkt sich auf den Arbeitsmarkt aus. Das in der Schule erworbene Wissen wirkt sich auf die Fähigkeit der Schüler im Berufsleben aus: Danach hätte die Gemeinschaft eine Kompetenz im Bildungswesen, da Unterschiede in der Qualität zukünftiger "Arbeitnehmer" den Wettbewerb verzerren wird. c) Auch das Bestehen der Wehrpflicht beeinflußt den Arbeitsmarkt, so daß die Gemeinschaft den Militärdienst angleichen könnte, um eine Wettbewerbsverzerrung in diesem Bereich auszuschließen. d) Die Anzahl der jährlichen Feiertage wird den Wettbewerb von Unternehmen verzerren, mit der Folge, daß der Gemeinschaft die Kompetenz zur Angleichung der nationalen Feiertage zustünde. e) Die strafrechtliche Haftung von Unternehmensleitern wird die Unternehmen zwingen, sich in unterschiedlicher Höhe zu versichern. Auch hier wäre Rechtsangleichung durch die Gemeinschaft "gefordert".
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c. Kompetenzen
der Europäischen Gemeinschaften
f) Die öffentlichen Moralmaßstäbe von sexuell freizügigen Darstellungen werden nennenswerte Auswirkungen auf die Kinoindustrie haben und würden folglich der Rechtsangleichung der Gemeinschaft unterliegen.
g) Das Rauchverbot in öffentlichen Einrichtungen wird die Tabakindustrie und die Gesundheit von zukünftigen Arbeitnehmern beeinflussen und müßte folglich Gegenstand der Rechtsangleichung durch die Gemeinschaft sein. h) Die Ladenöffuungszeiten von Geschäften und Lokalen sowie die Gesetzgebung der Mitgliedstaaten, die das Mindestalter von Jugendlichen für die Abgabe von Alkohol vorschreibt, werden den Alkoholkonsum beeinflussen und müßten daher Gegenstand der Rechtsangleichung durch die Gemeinschaft sein. Einige dieser Beispiele können als absurd und abwegig betrachtet werden. Dennoch folgen sie genau der Begründung, die zur Rechtfertigung der Gemeinschaftskompetenz zur Regelung der Werbung für Tabakerzeugnissen, die offensichtlich kerne grenzüberschreitenden Auswirkungen haben, herangezogen wird. Die Liste der Beispiele ist endlos und jeder Versuch, die Gemeinschaftskompetenz zu beschneiden, wäre zum Scheitern verurteilt. Die Verbindung von Argumenten der Wettbewerbsverzerrung mit dem Gebot eines "hohen Schutzniveaus" in Art. 1OOa Abs. 3 EWG-Vertrag, z.B. beim Gesundheitsschutz, kann zu dem absurden Ergebnis führen, daß jedes Mal, wenn ein oder mehrere Mitgliedstaaten eine neue Maßnahme zum Gesundheitswesen erlassen, sie damit nicht nur die Gemeinschaft, sondern auch alle anderen Mitgliedstaaten zwingen würden, diese Maßstäbe in rein internen Angelegenheiten anzunehmen, damit der Wettbewerb nicht "verzerrt" werde. Auf diese Weise könnte ein Mitgliedstaat die Kosten seiner sozialen und wirtschaftlichen Entscheidungen in alle anderen Mitgliedstaaten exportieren. Wenn man die Berufung der Kommission auf Argumente der Wettbewerbsverzerrung vor dem Hintergrund der politischen Ökonomie des Binnenmarktes betrachtet, so erscheint diese Argumentation aus zwei Gründen besonders widersprüchlich: Die Rechtfertigung der Angleichung durch "Wettbewerbsverzerrungen" steht paradoxerweise der Philosophie des Binnenmarktes und eines Europa ohne Grenzen entgegen. Wenn z.B. Plakatwerbung in einem Staat zugelassen und in einem anderen verboten wird, werden Tabakhersteller in verschiedenen Mitgliedstaaten, die nach der Philosophie des Binnenmarktes ermutigt werden, die Gemeinschaft als einen großen Markt zu behandeln, auf Plakaten in den Ländern werben, wo sie dies dürfen und nicht dort, wo es verboten ist. Auf jedem Markt werden sie auf der gleichen Basis miteinander konkurrieren. Das Gleiche gilt für die Dienstleistungsunternehmen der Werbebranche.
V. Die Überschreitung der Kompetenzgrenzen
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Der zweite Grund ist sogar noch durchschlagender und kann an Hand eines Beispiels aus den USA illustriert werden. In den Vereinigten Staaten ist der riesige Markt für Babynahrung zwischen drei großen Herstellern aufgeteilt. Angeblich aus Gründen der Gesundheit hatten diese Hersteller miteinander abgesprochen, einen Verhaltenskodex für ihre Unternehmen anzunehmen, der sämtliche Werbung für Mutterrnilchersatz verbat. Der Grund dafür war, Frauen nicht vom Stillen abzuhalten, da nach ärztlichem Gutachten keine künstliche Milch so gesund sein kann wie Muttermilch. Als ein großer europäischer Hersteller den Versuch unternahm, in diesen Milliardenmarkt einzubrechen, gelang ihm das nicht. Das Verbot der Werbung war ein wirksames Hemmnis gegen das Eindringen eines Konkurrenzproduktes auf den Markt. 45 In sämtlichen Mitgliedstaaten ist das Rauchen von Zigaretten legal. In den Mitgliedstaaten, wo Werbung erlaubt ist, wird es das vollständige Werbeverbot sein (das eben auch Medien erfaßt, die nicht von einen in den anderen Mitgliedstaat zirkulieren), das zu einer Wettbewerbsverzerrung führen wird, da es konkurrierenden Zigarettenmarken aus anderen Mitgliedstaaten praktisch die Möglichkeit nimmt, sich auf dem örtlichen Markt zu etablieren. Wie kann demnach eine Grenzlinie zwischen den Wettbewerbsverzerrungen gezogen werden, die Gegenstand einer Rechtsharmonisierung sein können, und jenen, bei denen dies nicht der Fall ist? Nach allem soll nicht behauptet werden, daß es Verzerrungen des Wettbewerbs durch unterschiedliche nationale Normen nicht gibt und daß solche Verzerrungen in bestimmten Fällen nicht durch eine Rechtsangleichung der Gemeinschaft geheilt werden können. In der Tat hat der Gerichtshof Wettbewerbsverzerrungen als legitime Rechtfertigung für eine Rechtsangleichung anerkannt. 46 Hier sollen jedoch zwei grundsätzliche Begrundungswege vorgeschlagen werden, deren Voraussetzungen sämtlich erfüllt sein müssen, bevor eine aus uneinheitlicher Gesetzgebung der Mitgliedstaaten resultierende Wettbewerbsverzerrung als Grundlage für eine Rechtsangleichung herangezogen werden kann. Zunächst sollte schlicht nachgewiesen werden, daß die Divergenzen der verschiedenen nationalen Normen das Konkurrenzverhältnis zwischen den Unternehmen auf dem Binnenmarkt überhaupt beeinflussen. Es wurde bereits gezeigt, daß
45 Eine Beschreibung der Marktabschottung gegenüber Nestle durch Beschränkungen der Werbung gibt D. Lee, Nestle foray into Baby formula market falters, in: LA Times v. 16. August 1993. Zu den kartellrechtlichen Fragen siehe das Verfahren Abbot Labs gegen Federal Irade Commission, 1992 FIC Lexis 155 (10. Juni 1992). 46
Titanoxid-Urteil, a.a.O. (Fußn. 20).
4 Simma u. a.
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der Europäischen Gemeinschaften
weder die Tabak- noch die Werbeindustrie und wahrscheinlich noch nicht eimnal die Medienindustrien (die auf offenem Feld kaum miteinander konkurrieren) in ihrem Wettbewerbsverhältnis durch eine uneinheitliche nationale Werbegesetzgebung fur Tabakerzeugnisse beeinträchtigt wären. Im Gegensatz dazu war dies bei der Umweltschutzgesetzgebung in der Titandioxid- Entscheidung und der RindjIeisch-Hormon-Entscheidung47 , wo die unterschiedlichen Gesetze die Preisfestsetzung sowie das Wettbewerbsverhältnis in grenzüberschreitenden Märkten mit harter Konkurrenz direkt beeinflußt haben, nicht der Fall. Zweitens ist hervorzuheben, daß bei der Titandioxid-Entscheidung und der RindjIeisch-Hormon-Entscheidung die Rechtsangleichung Materien betraf, die in den Bereich einer expliziten Gemeinschaftspolitik fielen, mit anderen Worten, wo die Gemeinschaft bereits nach dem Vertrag zur Rechtsetzung ermächtigt ist. Wo die Gemeinschaft indessen keine originäre Kompetenz zur Rechtsetzung hat, wie z.B. im Bereich der Einkommens- und Körperschaftssteuer oder der öffentlichen Moral, sollten ihr diese Kompetenzen nicht ohne eine ausdIilckliche Vertrags änderung und lediglich auf der Grundlage der "Wettbewerbsverzerrung" (wie in dem Beispiel der Plakatwerbung) übertragen werden. Wie die oben aufgeführten Beispiele belegen, würden sich die Kompetenzen der Gemeinschaft praktisch unbegrenzt ausweiten, werm eine Rechtsetzung der Gemeinschaft in diesen Situationen zugelassen würde. Die Rechtfertigung der Rechtsangleichung durch Wettbewerbsverzerrungen ist also in diesem Fall nicht nur eine leicht durchschaubare Verkleidung des gesundheitspolitischen Zieles, auf das der Richtlinienvorschlag eigentlich ausgerichtet ist, sondern stellt eine ernsthafte Gefahr für den fundamentalen gemeinschaftsrechtlichen Grundsatz der begrenzten Kompetenzzuweisung dar.
VI. Die geeignete Rechtsgrundlage für die Richtlinie Selbst wenn der Gemeinschaft eine Kompetenz zum Erlaß der vorgeschlagenen Richtlinie zustünde, was wie oben ausgeführt nicht der Fall ist, verbliebe dennoch die Frage, auf welche Rechtsgnmdlage der Vorschlag richtigerweise gestützt werden müßte. Diese Frage ist v.a. deshalb von Bedeutung, weil eine Maßnahme der Gemeinschaft, die auf eine falsche Rechtsgrundlage gestützt wird, nichtig ist. 48
47
RindjIeisch-Hormon-Urteil, Titanoxid-Urteil, a.a.O. (Fußn.20).
48 Siehe z.B. EuGH Urteil vom 26. März 1987 - Rs. 45/86 (Kommission/Rat), Slg. 1987, S. 1493 (1522, Rn. 22).
VI. Die geeignete Rechtsgrundlage
51
Der Richtlinienvorschlag wird auf den Vertrag als Ganzen, insbesondere jedoch auf Art. 100a EWG-Vertrag gestützt. Vor dem Hintergrund der Abfall-Entscheidung49 wird dargelegt werden, daß die Heranziehung von Art. 100a EWGVertrag fehlerhaft ist. In ihrer letzten weitreichenden Fassung käme als Rechtsgrundlage für die Richtlinie allein Art. 235 EGV in Betracht. Nach dem Maastrichter Vertrag über die Europäische Union muß bei der Suche nach einer Rechtsgrundlage insbesondere Art. 129 EGV berücksichtigt werden. Das Abfall-Urteil betraf die Richtlinie des Rates 9lI156/EWG50, die die Richtlinie 75/442/EWG51 geändert hat. Die vorgeschlagene Rechtsgrundlage der AbfallRichtlinie von 1991 in der von der Kommission vorgeschlagenen Fassung war die gleiche wie beim Richtlinienvorschlag über Tabakwerbung: "gestützt auf den Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, insbesondere auf Art. 100a,"
Im Fall der Abfall-Richtlinie von 1991 hat der Rat die Rechtsgrundlage einstimmig wie folgt geändert: "gestützt auf den Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, insbesondere auf Art. 130s, .. 52
Art. 130s ist eine besondere Bestimmung in Titel XVI (Umwelt) des EWGVertrages. Das Verfahren für die Entscheidungsfindung sieht anders als Art. 100a EWG- Vertrag eine einstimmige Beschlußfassung durch den Rat und die bloße Anhörung des europäischen Parlaments vor. Demgegenüber sieht Art. 1OOa EWGVertrag (mit einigen Ausnahmen) eine Mehrheitsentscheidung sowie ein Verfahren der Zusammenarbeit mit dem europäischen Parlament vor.
Die Kommission (mit dem Europäischen Parlament als Streithelfer) erhob Klage nach Art. 173 gegen den Rat (auf dessen Seite das Königreich Spanien als Streithelfer intervenierte) mit dem Ziel, die Richtlinie in der vom Rat erlassenen Fassung für nichtig zu erklären. Hervorzuheben ist, daß in diesem wie auch im Fall des Vor-
49
Abfall-Urteil, a.a.O. (Fußn.25).
50 EG-ABI. L 78/32 vom 26. März 1991 (Richtlinie des Rates vom 18. März 1991 zur Änderung der Richtlinie 75/442/EWG über Abfalle). 51 EG-ABI. L 194/47 vom 25. Juli 1975 (Richtlinie des Rates vom 15. Juli 1975 über AbHille). 52 Präambel der Richtlinie des Rates 91/156/EWG vom 18. März 1991, EG-ABI. L 78/32 vom 26. März 1991.
4*
c. Kompetenzen
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der Europäischen Gemeinschaften
schlags über Tabakwerbung die Auseinandersetzung über die Frage der Rechtsgrundlage keine rein fonnale Angelegenheit darstellt. Da die alternativen Artikel "... unterschiedliche Regeln fIlr die Willensbildung des Rates enthalten und sich die Wahl der Rechtsgrundlage somit auch auf die inhaltliche Ausgestaltung des angefochtenen Verordnungen auswirken konnte."s3
Wenn die falsche Rechtsgrundlage zu den oben aufgeführten Folgen führt, so ist die Maßnahme mit dem Recht der Gemeinschaft unvereinbar. Dabei verlangt der Gerichtshofs in ständiger Rechtsprechung objektive Kriterien für die Wahl der Rechtsgrundlage: "Im Rahmen des Zuständigkeitssystems der Gemeinschaft kann die Wahl der Rechtsgrundlage eines Rechtsaktes nicht allein davon abhängen, welches nach der Überzeugung der Organe das angestrebte Ziel ist, sondern muß sich auf objektive, gerichtlich überprüfbare Umstände gründen. "S4
Im Hinblick auf die Abfall-Richtlinie von 1991 trug die Kommission vor, "... die RichtIinie verfolgt sowohl Ziele des Umweltschutzes als auch der Herstellung und des Funktionierens des Binnenmarktes. Infolgedessen hätte sie allein auf der Grundlage von Art. 100a des Vertrages verabschiedet werden müssen."ss
Aus den gleichen Gründen wählte die Kommission Art. 1OOa EWG-Vertrag als Rechtsgrundlage für den Vorschlag zw- Tabakwerbung. Zur Unterstützung dieser Position hat sich die Kommission auf die Titandioxid-Entscheidung gestützt. 56
In der Abfall-Entscheidung verteidigte der Rat seine Ablehnung von Art. 100a und dessen Ersetzung durch Art. 130s mit der Begründung, daß der letztere "die richtige Rechtsgrundlage der Richtlinie 91/156IEWG [sei], die ihrem Ziel und ihrem Inhalt nach vor allem den Schutz der Gesundheit und der Umwelt bezwecke. ,,57
Die Situation beim Richtlinienvorschlag über Tabakwerbung stellt sich ähnlich dar. Ziel und Inhalt des Vorschlags beziehen sich im wesentlichen auf den Schutz der Gesundheit. Was die Ziele der Abfall-Richtlinie betrifft., so hat der Gerichtshof festgestellt,
53 APS-Urteil, a.a.O. (Fußn. 40), S.1520, Rn. 12. 54
Abfall-Urteil, a.a.O. (Fußn. 25), Rn. 11.
5S
Abfall-Urteil, a.a.O. (Fußn. 25), Rn. 5.
56
Titanoxid-Urteil, a.a.O. (Fußn. 20).
57
Abfall-Urteil, a.a.O. (Fußn. 25), Rn. 6.
VI. Die geeignete Rechtsgrundlage
53
"Zum Ziel der Richtlinie 911156IEWG heißt es in der der vierten, sechsten, siebten und neunten Begründungserwägung, daß die Mitgliedstaaten zur Erreichung eines hohen Umweltschutzniveaus Maßnahmen zu treffen haben, um das Entstehen von Abfällen zu begrenzen und um die Rückfuhrung und Wiederverwendung von Abfällen als Rohstoffe zu fördern, und daß sie Entsorgungsautarkie erreichen und das Verbringen ihrer Abfälle vermindern müssen."S8
Entsprechende Schlußfolgerungen sollten auch beim Richtlinienvorschlag über Tabakwerbung gezogen werden. In der Einleitung zwn Richtlinienvorschlag über Tabakwerbung sind u.a. folgende "ETW'ägungsgrunde" zu fmden: "... Diese Richtlinie muß daher den Schutz der Gesundheit, insbesondere junger Menschen, gebührend berücksichtigen .... Der Europäische Rat von Mailand vom 28. und 29. Juni 1985 hat auf die Bedeutung eines europäischen Aktionsprogrammes zur Krebsbekämpfung hingewiesen. Der Rat und die im Rat vereinigten Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten haben in ihrer Entscheidung vom 7. Juli 1986 über ein Aktionsprogramm der Europäischen Gemeinschaften gegen den Krebs 59 als Ziel diess Programmes die Verbesserung der Gesundheit und der Lebensqualität der Bürger der Gemeinschaft durch eine Verringerung der Zahl der Krebserkrankungen genannt. Dabei haben sie den Kampf gegen den Tabakkonsum als vorrangig anerkannt. Jahr tUr Jahr verursachen Tabakerzeugnisse in den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft den Tod vieler Menschen. Die Werbung spielt bei der Förderung des Rauchens, insbesondere bei Kindern und Jugendlichen, eine nicht zu unterschätzende Rolle .... Auf der anderen Seite ist der Tabakkonsum äußerst schädlich für die Gesundheit. Es erscheint daher zweckmäßig, diese Information ausschließlich den tatsächlichen Interessenten, d.h. den Verbrauchern von Tabakerzeugnissen, zugänglich zu machen .... Indem die Möglichkeit der Werbung innerhalb dieser Verkaufsstellen gewährleistet wird, erfullt die Werbung ihre wesentliche Rolle; gleichzeitig ist damit der Schutz der Bevölkerung im allgemeinen und der Kinder und Jugendlichen im besonderen gewährleistet."
Zu beachten ist, daß der Richtlinienvorschlag über Tabakwerbung auch "ETW'ägungsgründe" enthält (insbesondere die ersten), die sich mit dem Funktionieren des Binnenmarktes befassen: "In den Mitgliedstaaten gelten unterschiedliche Vorschriften für die Werbung für Tabakerzeugnisse. Diese Werbung reicht über die Grenzen der Mitgliedstaaten hinaus. Die Unterschiede sind derart, daß sie Handelshemmnisse rur den freien Verkehr von Produkten, die dieser Werbung dienen, sowie von Dienstleistungen in diesem Betrieb bilden
58
Abfall-Urteil, a.a.O. (Fußn. 25), Rn. 8.
59
[Fußnote des Originals]: EG-ABI. C184 vom 23. Juli 1986, S. 19.
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der Europäischen Gemeinschaften
und zu Wettbewerbsverzerrungen fUhren können. Sie behindern damit die Schaffung und das Funktionieren des Binnenmarktes. Es scheint geboten, diese Handelshemmnisse zu beseitigen. Zu diesem Zweck sind die Vorschriften über die Werbung fUr Tabakerzeugnisse zu harmonisieren. Dabei ist den Mitgliedstaaten jedoch die Möglichkeit zu belassen, unter bestimmten Voraussetzungen die Maßnahmen zu treffen, die sie aus Gründen des Gesundheitsschutzes fUr notwendig halten. Gemäß Art. JOOa, Absatz 3 des Vertrages, geht die Kommission in ihren Vorschlägen nach Abs. 1 in den Bereichen Gesundheit, Sicherheit, Umweltschutz und Verbraucherschutz von einem hohen Schutzniveau aus. "
Ein weiterer "Erwägungsgrund" kombiniert Aspekte des Binnenmarktes Wld der GesWldheit miteinander: "Angesichts der gegenseitigen Abhängigkeit zwischen allen Werbemitteln - Druckwerke, Rundfunk, Fernsehen, Film, mündliche Werbung - sowie zur Vermeidung von Wettbewerbsverzerrungen und einer Umgehung der Regelung muß diese Harmonisierung alle Formen und Mittel der Werbung mit Ausnahme der Fernsehwerbung, die bereits durch die Richtlinie 89/522/EWG des Rates 60 erfaßt ist, abdecken."
Insgesamt kann man dreizehn "Erwägungsgrunde zählen, die sich auf die Ziele der Richtlinie beziehen. Von diesen sind drei auf den Binnenmarkt bezogen, einer ein gemischter Wld insgesamt neWl allein am GeSWldheitsschutz orientiert. Obwohl die Kommission die Überlegungen zum Binnenmarkt an den Anfang der EinleitWlg gestellt hat, liegt doch das Hauptgewicht der Zielsetzung auf der GesWldheit. Tatsächlich läßt sich die legislative Vorgeschichte der Richtlinie wahrscheinlich auf das im Jahre 1985 vom Europäischen Rat in Mailand ins Leben gerufene Aktionsprogramm gegen den Krebs zurückführen. Hinsichtlich des Inhalts führt der Gerichtshof in der Abfall-Richtlinien-EntscheidWlg aus, "lnhaItIich verpflichtet die Richtlinie die Mitgliedstaaten namentlich dazu, die Verhütung oder Verringerung der Erzeugung von Abfallen sowie deren Verwertung und Beseitigung ohne Gefährdung der menschlichen Gesundheit und der Umwelt zu fOrdern und eine unkontrollierte Ablagerung, Ableitung und Beseitigung von Abfällen zu verbieten (Artikel 3 und 4). Damit verpflichtet die Richtlinie die Mitgliedstaaten zur Errichtung eines integrierten und angemessenen Netzes von Beseitigungsanlagen, das es sowohl der Gemeinschaft insgesamt als auch jedem einzelnen Mitgliedstaat erlaubt, die Entsorgungsautarkie durch die Beseitigung ihrer Abfalle in einer der am nächsten gelegenen Entsorgungsanlagen zu erreichen (Artikel 5). Zur Verwirklichung dieser Ziele erstellen die Mitgliedstaaten Abfallbewirtschafiungspläne und können das Verbringen von Abfällen, das diesen Plänen nicht entspricht, unterbinden (Artikel 7). Schließlich verpflichtet die
60
[Fußnote des Originals]: EG-ABI. L298 vom 17. Oktober 1989, S. 23.
VI. Die geeignete Rechtsgrundlage
55
Richtlinie die Mitgliedstaaten, die Beseitigungsunternehmen und -anlagen Genehmigungs-, Melde- und Kontrollregelungen (Artikel 9 bis 14) zu unterwerfen und bekräftigt aufdem Gebiet der Abfallbeseitigung das in Art. l30r n EWGV aufgestellte Verursacherprinzip (Artikel 15)" .61
Der Gerichtshof kommt hinsichtlich der Ziele und des Inhalts der Abfall-Richtlinie zu folgendem Ergebnis: "Wie sich aus dem Vorstehenden ergibt, ist die strittige Richtlinie ihrem Ziel und ihrem Inhalt nach darauf gerichtet, die Bewirtschaftung von Industrie- und Haushaltsabfällen im Einklang mit den Erfordernissen des Umweltschutz~s sicherzustellen. ,,62
Eine vergleichende Analyse des Richtlinienvorschlags über Tabakwerbung, die mit ihren Maßnahmen weit über die Belange der Freiheit des Waren- und Dienstleistungsverkehrs (Verbot von Plakatwerbung usw.) hinausgeht, kommt zu demselben Ergebnis: In seinem Inhalt ist der Richtlinienvorschlag hauptsächlich eine Maßnahme zur Beseitigung von Gesundheitsrisiken, die sich aus der Ermutigung zum Rauchen ergeben. Diese Schlußfolgerung ist umsomehr begründet, als die Richtlinie nicht den freien Verkehr innerhalb der Gemeinschaft ermöglicht, sondern im Gegenteil vielmehr eine wirtschaftliche Betätigung fast vollständig unterbindet. Dies unterstreicht wiederum den gesundheitspolitischen Charakter. 63 Der Gerichtshof hat in der Abfall-Entscheidung zugestanden, daß die Richtlinie auch dazu bestimmt war, die nationalen Regelungen, die den "Markt" für Abfall und die Dienstleistungen zur Abfallbeseitigung betreffen, anzugleichen. 64 Er konzedierte auch, daß die Abfall-Richtlinie zu einer Angleichung der Wettbewerbsbedingungen in diesem Bereich innerhalb der Gemeinschaft beitragen würde. 6s Ohne die Richtlinie könnte es zu Störungen im freien Verkehr von Abfall als Ware wie auch als Dienstleistung kommen. Hinzu kommt, daß Unternehmen in den Mitgliedstaaten unterschiedlichen nationalen Regelungen zur Abfallbeseitigung unterliegen würden und folglich uneinheitlichen Wettbewerbsbedingungen ausgesetzt wären. 66 Dieser Nebeneffekt für den Binnenmarkt reichte für den Gerichtshof in der Abfall-Entscheidung jedoch nicht:
61
Abfall-Urteil, a.a.O. (Fußn.25), Rn. 9.
62
Abfall-Urteil, a.a.O. (Fußn. 25), Rn. 10.
63
Abfall-Urteil, a.a.O. (Fußn. 25), Rn. 14 u. 15.
64
Abfall-Urteil, a.a.O. (Fußn. 25), Rn. 16.
6l
Abfall-Urteil, a.a.O. (Fußn. 25), Rn. 17.
66
Abfall-Urteil, a.a.O. (Fußn. 25), Rn. 17.
C. Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaften
56
"Entgegen der Ansicht der Kommission macht jedoch der Umstand, daß die Errichtung oder das Funktionieren des Binnenmarktes betroffen ist, allein die Anwendung von Art. 100a EWGV noch nicht erforderlich. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes ist nämlich der Rückgriff auf Art. 100a EWGV nicht gerechtfertigt, wenn der zu erlassende Rechtsakt nur nebenbei eine Harmonisierung der Marktbedingungen innerhalb der Gemeinschaft bewirkt. "67 "Dies ist hier der Fall. Hauptzweck der in Art. 1 Richtlinie 911156IEWG vorgesehenen Harmonisierung ist es, im Interesse des Umweltschutzes die EffIZienz der Bewirtschaftung von Abfällen gleich welchen Ursprungs in der Gemeinschaft sicherzustellen; nur nebenbei wirkt sie sich auf die Wettbewerbs- und Handelsbeziehungen aus. Dadurch unterscheidet sie sich von der Richtlinie des Rates 89/428IEWG, die Gegenstand des Titandioxid-Urtei\s (Urteil vom 11.6.1991 - Rs. C-300/89, Slg. 1991, S. 1-2867) war und die darauf gerichtet ist, die nationalen Rechtsvorschriften über die Produktionsbedingungen in einem bestimmten Industriesektor mit dem Ziel der Beseitigung der Wettbewerbsverzerrungen in diesem Sektor anzugleichen" .68
Dem Hinweis des Gerichts zur Reihenfolge der Ziele bei einer Maßnahme der Gemeinschaft kann nicht viel Gewicht beigemessen werden. Allein aus der Tatsache, daß die Kommission beim Tabak-Richtlinienvorschlag in den ersten Absätzen der Erwägungsgrunde die Rechtsangleichungs- und Marktüberlegungen erwähnt, folgt nicht zwingend, daß es bei der Richtlinie im Wesentlichen um den Binnenmarkt geht und die Gesundheitspolitik von nur untergeordneter Bedeutung ist. Wäre dies der Fall, müßten die Kommission oder der Rat lediglich die Marktüberlegungen an den Anfang stellen, wenn sie es vorziehen, eine vorgeschlagene Maßnahme, die wie Z.B. die Abfall-Richtlinie mehr als nur ein Ziel verfolgt, auf der Grundlage von Art. lOOaEWG-Vertrag zu erlassen. Es handelt sich hier um eine Frage des Inhalts und nicht etwa der Form: Ist der Richtlinienvorschlag hauptsächlich eine Maßnahme der Gesundheitspolitik, bei der Marktüberlegungen eine eher beiläufige Rolle spielen? Wäre dies der Fall, und nach unserer Analyse des Richtlinienvorschlags ist es so, muß das Ergebnis hier dasselbe sein wie in der Abfall-Entscheidung des Gerichtshofs: "... der Rückgriff auf Art. 100a EWGV [ist] nicht gerechtfertigt, wenn der zu erlassende Rechtsakt nur nebenbei eine Harmonisierung der Marktbedingungen innerhalb der Gemeinschaft bewirkt. ,,69
67 Abfall-Urteil, a.a.O. (Fußn. 25), Rn. 19 mit Verweis auf das Urteil vom 4. Oktober 1991 - Rs. C-70/88 (Parlament/Rat), Slg. 1991, S. 1-4529 Rn. 17. 68
Abfall-Urteil, a.a.O. (Fußn. 25), Rn. 20.
69
Abfall-Urteil, a.a.O. (Fußn. 25), Rn. 19.
VI. Die geeignete Rechtsgrundlage
57
In der Abfall-Entscheidung bot sich neben Art. IOOa als alternative Rechtsgrundlage Art. 130s an. Was wäre nun die angemessene Rechtsgrundlage für den Richtlinienvorschlag zur Tabakwerbung? Wie bereits vorgetragen, gibt es für die Richtlinie in ihrer gegenwärtigen Form nach dem EWG-Vertrag keine Rechtsgrundlage, die eine sich unter dem Deckmantel der gemeinschaftsinternen Rechtsangleichung maskierende Maßnahme der Gesundheitspolitik decken könnte. Wenn jedoch der Bereich der öffentlichen Gesundheit als stillschweigendes Ziel unter das Dach des Vertrages gebracht werden könnte, dann wäre aufjeden Fall als Rechtsgrundlage der Art. 235 EWG-Vertrag zu erwägen, da dieser wegen seiner stärkeren verfahrensrechtlichen Sicherheiten gerade bei einer Maßnahme mit umstrittener Rechtsgrundlage geeigneter erscheint. 70 Andererseits gibt es nach dem Maastrichter Vertrag über die Europäische Union eine klare alternative Rechtsgrundlage für Maßnahmen, die hauptsächlich mit dem Gesundheitswesen befaßt sind, nämlich Art. 129 EG-Vertrag in der Fassung von Maastricht im Titel X (Gesundheitswesen). Nach diesem Artikel wäre die Gemeinschaft gehindert, Maßnahmen zu erlassen, welche die Gesetze und Verordnungen von Mitgliedstaaten in Angelegenheiten des Gesundheitswesens angleichen, obgleich sie auf eine Zusammenarbeit in diesem Bereich hinwirken könnte. Dieses Argument sollte nicht so verstanden werden, daß die Gemeinschaft nach dem Inkrafttreten des Vertrages über die Europäische Union keine Maßnahme zur Rechtsangleichung in Angelegenheiten mehr erlassen kann, die die öffentliche Gesundheit betreffen. Schließlich ist der Schutz der menschlichen Gesundheit einer der in Art. 36 genannten Gründe und darüber hinaus in der Cassis-de-Dijon Rechtsprechung des Gerichtshofes ein zwingendes Erfordernis bei der Rechtfertigung von Einschränkungen des Warenverkehrs. Nach dem Urteil des Gerichtshofes zur Abfallrichtlinie ist dies alles eine Frage der Gewichtung. Maßnahmen, die sich in erster Linie mit der öffentlichen Gesundheit befassen, sollten in der Tat nach den Vorschriften des Vertrages von der Rechtsangleichung ausgenommen werden. Maßnahmen, die in erster Linie am Binnenmarkt orientiert sind, können demgegenüber, wie in der Titandioxid-Entscheidung bekräftigt, Gegenstand der Rechtsangleichung sein. Die Grenze wird sich nicht immer einfach ziehen lassen.
70 In dieser Hinsicht s.a. EuGH Urteil vom 12. Juli 1973 - Rs. 8/73 (Massey-Ferguson GmbH), Slg. 1973, S. 897) und die Anmerkungen des Generalanwalts Lenz im EuGH Urteil vom 26. März 1987 - Rs. 45/86 (KommissionIRat), Slg. 1987, S. 1493 (1512 Rn. 80). (In beiden Fällen herrschte Streit darüber, ob Art. 235 oder eine alternative Rechtsgrundlage heranzuziehen war.).
c. Kompetenzen
58
der Europäischen Gemeinschaften
Im Fall des Richtlinienvorschlags über Tabakwerbung hat die Kommission in ihrer radikalen Strategie die vorgeschlagenen Maßnahmen deutlich als solche des Gesundheitsschutzes abgefaßt. Es wäre nicht unvorstellbar, daß die Richtlinie bei Vornahme angemessener und angebrachter Änderungen, durch die z.B. nichtgrenzüberschreitende Medien vom Werbeverbot ausgenommen würden, auf Art. 100a EWG-Vertrag gestützt werden könnte.
VII. Subsidiarität Im Folgenden soll die Vereinbarkeit des Richtlinienvorschlags mit dem Grundsatz der Subsidiarität untersucht werden. Der Grundsatz der Subsidiarität wurde in Art. 3b des Maastrichter Vertrages über die Europäische Union ausdrücklich als Rechtsnorm formuliert: Artikel3b [Subsidiaritätsprinzip] "Die Gemeinschaft wird innerhalb der Grenzen der ihr in diesem Vertrag zugewiesenen Befugnisse und gesetzten Ziele tätig.
In den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, wird die Gemeinschaft nach dem Subsidiaritätsprinzip nur tätig, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen auf Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden konnten und daher wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können. Die Maßnahmen der Gemeinschaft gehen nicht über das für die Erreichung der Ziele dieses Vertrages erforderliche Maß hinaus. "
Zur Erläuterung des Prinzips hat der Europäische Rat auf dem Gipfels von Edinburgh unter anderem folgendes festgestellt: "Die Europäische Union beruht auf dem Subsidiaritätsprinzip, wie in den Artikeln A und B des Titels I des Vertrags über die Europäische Union dargelegt ist. Dieses Prinzip trägt dazu bei, daß die nationale Identität der Mitgliedstaaten gewahrt und ihre Befugnisse erhalten bleiben. Es bezweckt, daß Beschlüsse im Rahmen der Europäischen Union so bürgernah wie möglich gefaßt werden. ,,71
Betont werden muß hier noch, daß die Gemeinschaft bereits vor Inkrafttreten des Vertrages über die Europäische Union, also auch im Zeitpunkt des Richtlinienentwurfs, an die Grundzüge des Subsidiaritätsprinzips gebunden war. Der Europäische Rat hat das Prinzip wie folgt näher erläutert: "Artikel3b des EG-Vertrags besteht aus drei Hauptelementen:
71
Europäischer Rat in Edinburgh, in Bulletin v. 28.12.1992, S. 1277 (1280).
Vll. Subsidiartät
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einer strikten Grenze rur das Tätigwerden der Gemeinschaft (Absatz 1); einer Regel (Absatz 2) zur Beantwortung der Frage: "Soll die Gemeinschaft tätig werden?" Dies gilt rur Bereiche, die nicht in die ausschließliche Zuständigkeit der Gemeinschaft fallen; einer Regel (Absatz 3) zur Beantwortung der Frage: "In welchem Maße und auf welche Weise soll die Gemeinschaft tätig werden?" Dies gilt unabhängig davon, ob die Maßnahme unter die ausschließliche Zuständigkeit der Gemeinschaft fällt oder nicht. Die drei Absätze entsprechen drei verschiedenen Rechtsgrundsätzen, die Vorläufer in den bestehenden Gemeinschaftsverträgen bzw. in der Rechtsprechung des Gerichtshofs haben: i)
Der Grundsatz, daß die Gemeinschaft nur dann handeln kann, wenn ihr hierzu die Befugnis erteilt wurde - demnach ist die Befugnis der einzelnen Staaten die Regel und die der Gemeinschaft die Ausnahme -, war schon immer ein grundlegendes Merkmal der Rechtsordnung der Gemeinschaft (prinzip der Zuweisung von Befugnissen).
ii) Der Grundsatz, daß die Gemeinschaft nur dann tätig werden soll, wenn ein Ziel besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden kann als auf der Ebene der einzelnen Mitgliedstaaten, ist im Ansatz oder implizite in einigen Bestimmungen des EGKS-Vertrags und des EWG-Vertrags enthalten; in der Einheitlichen Europäischen Akte wird dieser Grundsatz für den Umweltbereich aufgestellt (Subsidiaritätsprinzip im streng rechtlichen Sinn). iii) Der Grundsatz, daß die von der Gemeinschaft einzusetzenden Mittel im Verhältnis zum verfolgten Ziel stehen sollen, ist Gegenstand einer fest etablierten Rechtsprechung des Gerichtshofs, deren Reichweite allerdings begrenzt ist und die ohne die Grundlage eines besonderen Artikels im Vertrag entwickelt wurde (Grundsatz der Verhältnismäßigkeit oder Intensität). ,,72
Es wird sich zeigen, daß Art. 3b zwei Grundsätze abdeckt, nämlich Kompetenzzuweisung und Verhältnismäßigkeit, die bereits als operative, rechtlich bindende Grundsätze der Gemeinschaft bestehen. Im Hinblick auf den zweiten Grundsatz ("Subsidiaritätsprinzip im streng rechtlichen Sinn") ist zu beachten, daß - entgegen vielen Mutmaßungen in der Literatur - der Europäische Rat selbst die Auffassung vertreten hat, daß es sich dabei um ein rechtlich bindendes und justiziables Prinzip handelt: "Dem Prinzip der Subsidiarität können keine direkten Auswirkungen entnommen werden, wenngleich die Auslegung dieses Prinzips, wie auch eine Überprüfung seiner Übereinstimmung mit den Gemeinschaftssorganen hinsichtlich solcher Angelegenheit, die in den Bereich des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft fallen, der Kontrolle des Gerichtshofs unterliegt. "
72
Europäischer Rat in Edinburgh, in Bulletin v. 28.12.1992, S. 1277 (1280).
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c. Kompetenzen
der Europäischen Gemeinschaften
Ein Schlüsselelement der Subsidiarität ist, daß die Gemeinschaftsorgane und hauptsächlich die Kommission verpflichtet sind, vor Einbringung eines Entwurfes in ein Rechtsetzungsverfahren eine Subsidiaritätsüberprüfung vorzunehmen. Es ist nicht Aufgabe des Einzelnen, den Beweis dieser Überprüfung bei Angriffen auf Gemeinschaftsmaßnahmen zu erbringen. Der Richtlinienvorschlag besteht den Subsidiaritätstest in zweierlei Hinsicht nicht, nämlich aus inhaltlichen und verfahrensrechtlichen Gründen. Die Analyse wird zeigen, daß die vorgeschlagene Richtlinie einige der operativen Elemente der Subsidiarität nicht beachtet. Darüberhinaus wird deutlich werden, daß die Kommission ihren Vorschlag vorgelegt hat, ohne all seine Auswirkungen zur Subsidiarität zu bedenken. J. Das Merkmal der Kompetenzzuweisung
Das erste Merkmal der Subsidiarität ist das Prinzip der Kompetenzzuweisung die allgemeine Beschränkung von Handlungen der Gemeinschaft. Die Erläuterungen, die der Europäische Rat zu diesem Merkmal gegeben hat, wurden bereits erwähnt: "Die Erfiillung der Kriterien dieses Absatzes ist eine Bedingung für jedes Tätigwerden der Gemeinschaft. Um diesen Absatz korrekt anzuwenden, müssen sich die Organe davon überzeugt haben, daß die in Betracht gezogene Maßnahme innerhalb der Grenzen der in dem Vertrag zugewiesenen Befugnisse liegt und mit ihr eines oder mehrere der durch den Vertrag gesetzten Ziele erreicht werden sollen. Bei der Prüfung des Entwurfs der Maßnahme muß festgestellt werden, welches Ziel damit erreicht werden soll, ob sich die Maßnahme in bezug auf eines der Ziele des Vertrags begründen läßt, und ob die für die Annahme erforderliche Rechtsgrundlage gegeben ist."73
Nach ausführlicher Beschäftigung mit der Frage der Kompetenzen und der Rechtsgrundlage der Gemeinschaft kommt man zu dem Ergebnis, daß die vorgeschlagene Richtlinie in ihrer letzten Fassung gegen den ersten Abschnitt von Art. 3b des EG-Vertrages verstoßen würde.
2. Das Merkmal der Verhältnismäßigkeit Im Hinblick auf das dritte Merkmal der Subsidiarität werden an dieser Stelle die vom Europäischen Rat aufgestellten Leitlinien zur Auslegung des dritten Merkmals wiedergegeben und sodann erörtert, inwieweit die Richtlinie in ihrer gegenwärtigen 73 Europäischer Rat in Edinburgh, in Bulletin v. 28.12.1992, S. 1277 (1281).
Vll. Subsidiartät
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Fassung damit übereinstimmt. Dabei soll nur aufgezeigt werden, wo es an einer Vereinbarkeit fehlt: "i) Dieser Absatz findet auf alle Maßnahmen der Gemeinschaft Anwendung, unabhängig davon, ob die betreffenden Bereiche unter ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen oder nicht. ii) Die finanzielle oder administrative Belastung der Gemeinschaft, der Regierungen der Mitgliedstaaten, der örtlichen Behörden, der Wirtschaft und der Bürger muß so gering wie möglich gehalten werden und in einem angemessenen Verhältnis zu dem angestrebten Ziel stehen. ,,74
N ach der hier vertretenen Ansicht stehen die fmanziellen Belastungen, die die Wirtschaftsunternehmen - nämlich die Zeitungs- und Zeitschriftenverleger - als Ergebnis des vollständigen Verbotes treffen, in keinem Verhältnis zu dem Ziel, den freien Verkehr von gedruckten Nachrichten- und UnterhaHungsmedien sicherzustellen. Im Vergleich zu der Gesamtzahl der Zeitungs- und Zeitschriftentitel in den zwölf Mitgliedstaaten ist die Zahl der Zeitungen und Zeitschriften mit einem nennenswerten gemeinschaftsweiten Markt, der über ihren örtlichen oder nationalen Markt hinausgeht, verschwindend gering. Mit Ausnahme einer Handvoll von Zeitungen ist der Prozentsatz der außerhalb der nationalen Grenzen verkauften Exemplare ebenfalls verschwindend gering. Demgegenüber stellen die Einnahmen aus der Tabakwerbung bei vielen Presseerzeugnissen einen großen Anteil aller Werbeeinnahmen dar. Die folgenden Zahlen sollen als Beispiel dienen75 : Die IVW (lnformationsgemeinschaft zur Feststellung der Verbreitung von Werbeträgern), die die vierteljährlichen Auflagenzahlen von Zeitungen und Zeitschriften überprüft, die deutsche Verleger ihren Werbekunden angeben, veranschlagt, daß auf dem Zeitschriftensektor von l.528 Titeln 337 Titel überhaupt nicht exportiert werden. Trotzdem wären selbst diese 337 Titel oder etwa 20% der in Deutschland herausgegebenen Periodika vom Verbot der Tabakwerbung betroffen. Im Fall anderer Sprachen kann davon ausgegangen werden, daß ähnliche oder gar höhere Prozentsätze von Zeitschriften betroffen werden. Anscheinend werden von allen veröffentlichten Exemplaren lediglich 6,01% außerhalb Deutschlands verkauft. Richtet man den Blick auf die zehn größten
74
Europäischer Rat in Edinburgh, in Bulletin v. 28.12.1992, S. 1277 (1282).
75 Wir stützen uns auf die Angaben, die uns der Verband Deutscher Zeitschriftenverleger e.v. zur Verfllgung gestellt hat. Obgleich wir die Angaben rur verläßlich halten und auch die Unterlagen, auf die sie sich stützen, sich bei unseren Akten befinden, haben wir sie dennoch nicht selber nachgeprüft.
62
c. Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaften
Periodika-Verleger (die 85% des Marktes ausmachen), so gehen von ihren Exporten aus Deutschland (ein Bruchteil ihres Gesamtverkaufs - vgl. die 6 %-Zahl oben) lediglich 22,7 % in andere EWG-Staaten, d.h. in den innergemeinschaftlichen Handel. Davon, so schätzen die Verleger, werden 82,9% an deutsche Touristen im Ausland verkauft. Der eigentliche innergemeinschaftliche Absatz beläuft sich, so wird weiter veranschlagt, auf 3,87 % der gesamten Exporte. Am verblüffendsten erweist sich aber der veranschlagte Prozentsatz der tatsächlichen innergemeinschaftlichen Verkäufe beliebter deutscher Zeitschriften. Der Verband der Verleger schätzt diese Zahl auf lediglich 0,27 % aller verkauften Exemplare. Bei technischen und wissenschaftlichen Zeitschriften muß diese Zahl noch geringer sein.
In Deutschland sind keine Zahlen über den Verkauf von Zeitungen außerhalb Deutschlands erhältlich. Jedoch schätzt der Springer-Konzern nach Angaben des deutschen Verbandes der Verleger den Anteil der wahren innergemeinschaftlichen Verkäufe (also nicht an deutsche Touristen) auf etwa 0,07 % seiner gesamten Zeitungsproduktion. Natürlich handelt es sich bei diesen Zahlen lediglich um Schätzungen. Doch spiegeln die Zahlen eine Größenordnung wider, die für den Markt bezeichnend ist. Von einem zum anderen Mitgliedstaat können sich dabei Unterschiede ergeben (höhere Prozentsätze für einige englische und französische Publikationen und niedrigere Prozentsätze für z. B. dänische, portugiesische und griechische Publikationen). Angaben über den niederländischen Zeitschriftenmarkt legen die Annahme einer älmlichen Größenordnung nahe: ein jährlicher Absatz von über 500 Mio. Exemplaren, von denen weniger als 5 % außerhalb der Niederlande, zumeist in Belgien, verkauft werden. Wenn diese Zahlen einigermaßen repräsentativ sind, erlauben sie zwei Schlußfolgerungen: a) Wenn es tatsächlich das Ziel des Richtlinienvorschlags ist, den freien Verkehr der Printmedien in der Gemeinschaft sicherzustellen, wird dies durch ein vollständiges Werbeverbot für Tabakerzeugnisse nur mit erheblichen wirtschaftlichen Belastungen erreicht (d.h. dem resultierenden Verlust der Werbeeinnahmen), die bereits bei oberflächlicher Betrachtung zu dem angestrebten Ziel in keinem Verhältnis stehen, wenn man die große Anzahl von Titeln, die niemals außerhalb eines Mitgliedstaates verkauft werden, und den relativ geringen Prozentsatz (weniger als 1%) von Titeln in Betracht zieht, die außerhalb eines Mitgliedstaates verkauft werden. Zur Herstellung des freien Warenverkehrs für eine geringe Anzahl von Titeln, die tatsächlich innerhalb der Gemeinschaft gehandelt werden, schlägt der Richtlinienvorschlag vor, Tabakwerbung in allen Titeln zu verbieten, von denen die meisten die nationalen Grenzen niemals überschreiten werden. Wenn wirtschaftlicher Verhältnismäßigkeit überhaupt noch eine Bedeutung zukommt, dann sollte sie
VII. Subsidiartät
63
hier beachtet werden. Jedoch sind das wahre Ziel und der wahre Inhalt der Richtlinie die Gesundheit, und der Binnemnarkt ist in Wahrheit zweitrangig. b) Die Kommission müßte zmnindest eine vollständige, objektive Überprüfung dieser Frage vornehmen, wollte sie getreu dem dritten Merkmal der Subsidiarität handeln. Es ließe sich argumentieren, daß selbst wenn die Auswirkungen gering sind, diese doch bestehen und, daß keine Alternative zu einem vollständigen Verbot besteht. Diese Art der Argumentation wäre jedoch bedenklich. Modeme Verlagsund Drucktechnologie vereinfacht die Herstellung von "grenzüberschreitenden Ausgaben" mit unterschiedlichen Werbepaketen in zunehmendem Maße. Diese Alternative müßte von der Kommission zmnindest untersucht und begründet abgelehnt werden. Die Kommission legt in der Tat in ihrem erläuternden Bericht eine Zahl vor, nämlich den Prozentsatz der Tabakwerbung am Gesamtwerbebudget für alle Waren und Dienstleistungen in der Gemeinschaft. "In den zwölf Mitgliedstaaten liegen die Ausgaben für Tabakwerbung nicht höher als 3 % der Gesamtausgaben für Werbung für andere Erzeugnisse und Dienstleistungen. ,,76
Diese Feststellung der Kommission ist in zweierlei Hinsicht verblüffend: Erstens stellt sie eine irrelevante Statistik für die wirtschaftliche Proportionalität auf. Nicht der Prozentsatz der Tabakwerbung an der Gesamtwerbung ist relevant, sondern der Vergleich der wirtschaftlichen Kosten, die den Medien durch Ausfall der Werbeeinnahmen entstehen, mit der Gewichtigkeit der behaupteten Handelshemmnisse. Bei den großen deutschen Verlagen belaufen sich die Einnahmen aus Tabakwerbung nämlich auf einen erheblichen Anteil an ihren gesamten Werbeeinnahmen. Zweitens ist die Angabe der Kommission aus einem anderen Grunde von Bedeutung. Der alternative Beweggrund für die Rechtsangleichung ist die Wettbewerbsverzerrung. Wie bereits ausgeführt, gibt es keine nennenswerte Verzerrung im Tabaksektor, da in jedem Mitgliedstaat für Tabakerzeugnisse unter konkurrierenden Produkten auf gleicher Basis geworben werden darf. Oben wurde bereits bereits festgestellt, daß Werbeverbote die Einführung neuer Marken aus anderen Mitgliedstaaten auf dem heimatlichen Markt praktisch ausschließen würden. 77 Die Einführung neuer Marken ist von der Werbung abhängig. Das vollständige Verbot sogar für Werbemedien, die die Grenzen nicht überschreiten, wird einen aufgeteilten Markt von Tabakerzeugnissen verfestigen.
76 Doc 0437EN91800 v. 8. 3. 1991, Rev. 3, S. 9 (Ebenso in Richtlinienvorschlag der Kommission (Dokument COM (91) 111 endg. - SYN 194 vom 6. Juni 1991, S. 12). 77
Siehe oben Abschnitt C. v'5.
c. Kompetenzen
64
der Europäischen Gemeinschaften
Die Wettbewerbsverzenung muß daher im Bereich der Werbeindustrie liegen. Wie oben ausgeführt, ist dies ein fadenscheiniges Argument. Werbeagenturen aus allen Mitgliedstaaten könnten nämlich in den Mitgliedstaaten, in denen Werbung weiterhin erlaubt ist, durchaus auf dem Markt der nicht-grenzüberschreitenden Werbemedien miteinander konkurrieren. Aber selbst wenn diese Behauptung zu Unrecht aufgestellt worden wäre, sollte der zweite Absatz von Art. 3b EGV in Erinnerung gerufen werden: "In den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, wird die Gemeinschaft nach dem Subsidiaritätsprinzip nur tätig, sofern und soweit die Ziele der Betracht gezogenen Maßnahmen auf Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden können und daher wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können."
Wenn Tabakwerbung weniger als 3 % des gesamten Werbesektors ausmacht, wie kann die Kommission dann der Auffassung sein, diese potentielle Verzenung des Wettbewerbs in einem so kleinen Teilbereich des Werbemarktes stelle eine schwerwiegende und beachtliche Verzenung dar, die ein vollständiges Verbot rechtfertige? Und könnte man tatsächlich behaupten, daß dies mit Art. 3b Abs. 2 vereinbar sei, wonach ein Handeln der Gemeinschaft wegen des "Umfangs" eines Problems gerechtfertigt sein muß? Nach der hier vertretenen Auffassung obliegt es gemäß dem Prinzip der Subsidiarität den Gemeinschaftsorganen, die Notwendigkeit einer Maßnahme wegen "Umfang und Wirkungen" schlüssig vorzutragen. In keiner ihrer Stellungnahmen hat die Kommission auch nur versucht, diesen Nachweis schlüssig zu erbringen. Die Zahlen, die sie der Öffentlichkeit vorgelegt hat, legen die gegenteilige Schlußfolgerung nahe.
An dieser Stelle sei mit den Leitlinien des Europäischen Rats zur Auslegung des Subsidiaritätsprinzips fortgefahren: "iii) Gerneinschaftsmaßnahrnen sollten den Mitgliedstaaten soviel Entscheidungsspielraum einräumen, wie sich mit der Gewährleistung des Ziels der Maßnahme und der Einhaltung der Bestimmungen des Vertrags vereinbaren läßt. Dabei wäre gleichzeitig Sorge dafür zu tragen, daß auch bewährte einzelstaatliche Regelungen sowie die Struktur und das Funktionieren der Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten beachtet werden. Vorbehaltlich des Erfordernisses einer ordnungsgemäßen Durchführun g sollten die Maßnahmen der Gemeinschaft den Mitgliedstaaten alternative Möglichkeiten bieten, um die Ziele der Maßnahmen zu erreichen. ,,78
Unverkennbar ist, daß ein vollständiges Verbot mit dieser Auslegung in einem Spannungsverhältnis steht. Es ist bislang nicht nachgewiesen worden, daß diese Maßnahme wirklich notwendig ist:
18
Europäischer Rat in Edinburgh, in Bulletin v. 28.12.1992, S. 1277 (1282).
Vll. Subsidiartät
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"iv) Erweist es sich als notwendig, auf Gemeinschaftsebene bestimmte Nonnen festzulegen, so sollten Mindestnonnen in Erwägung gezogen werden; dabei wäre den Mitgliedstaaten freigestellt, selbst höhere Nonnen festzulegen, und zwar nicht nur in Bereichen, in denen der Vertrag dies erfordert (Artikel 118a und BOt), sondern auch in anderen Bereichen, soweit dies mit den Zielen der vorgeschlagenen Maßnahme oder dem Vertrag vereinbar ist. ,,79
Der Vorschlag tut genau das Gegenteil. Er stellt die höchsten Anforderungen auf, sogar für nicht-grenzüberschreitende Medien, die für den Binnenmarkt irrelevant sind und bei denen der Wettbewerb nicht in nennenswerter Weise verzerrt wird. Die Unvereinbarkeit des Vorschlages mit dieser Leitlinie zur Auslegung ist auffallend. "v) Für die Maßnahme ist eine möglichst einfache Fonn zu wählen; dabei muß jedoch darauf geachtet werden, daß das Ziel der Maßnahme in zufriedenstelIender Weise erreicht wird und die Maßnahmen tatsächlich zur Anwendung gelangt. Die Rechtsetzungstätigkeit der Gemeinschaft sollte über das erforderliche Maß nicht hinausgehen. Dementsprechend wäre unter sonst gleichen Gegebenheiten eine Richtlinie einer Verordnung und eine Rahmenrichtlinie einer detaillierten Maßnahme vorzuziehen. Gegebenenfalls sollten Maßnahmen, die nicht rechtsverbindlich sind, wie beispielsweise Empfehlungen, der Vorzug gegeben werden. Ferner sollte überlegt werden, ob nicht fakultative Verhaltenskodizes zweckmäßig wären. ,,80
Zumindest sollte die Kommission die Möglichkeit ausloten, einen freiwilligen Verhaltenskodex mit den Medien zu erreichen, um die Schwierigkeiten beim innergemeinschaftlichen Handel, gering wie sie sind, durch Selbstbeschränkung zu beseitigen. Wie oben erwähnt machen neue Technologien dies möglich. Was die korrekte Vorgehensweise betrifft, so würde allein ein Scheitern solch eines freiwilligen Verhaltenskodex die Gemeinschaft berechtigen, eine Regelung durch Erlaß von Richtlinien in Erwägung zu ziehen. Eines scheint festzustehen: eine solche Untersuchung ist nicht etwa unterblieben, weil sie nicht möglich wäre, sondern weil sie in der Tat möglich ist, aber nicht zu einem vollständigen Verbot von Tabakwerbung führen würde. Dieses Resultat wünscht die Kommission aus Gründen der öffentlichen Gesundheit nicht. "vi) Wo es nach dem Vertrag angebracht ist und sofern seine Ziele damit erreicht werden können, sollten bei der Wahl der Gemeinschaftsmaßnahmen solche Maßnahmen bevorzugt werden, mit denen die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten gefördert wird und die die Maßnahmen der Mitgliedstaaten koordinieren, ergänzen, vervollständigen oder unterstützen. ,,81
Von einer derartigen Vorgehensweise ist nichts bekannt.
79
Europäischer Rat in Edinburgh, in Bulletin v. 28.12.1992, S. 1277 (1282).
80
Europäischer Rat in Edinburgh, in Bulletin v. 28.12.1992, S. 1277 (1282).
81
Europäischer Rat in Edinburgh, in Bulletin v. 28.12.1992, S. 1277 (1282).
5 Simma u. a.
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C. Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaften
"vii) Bei örtlich begrenzten Schwierigkeiten, die nur bestimmte Mitgliedstaaten betreffen, sollten die erforderlichen Maßnahmen der Gemeinschaft nicht auf andere Mitgliedstaaten ausgedehnt werden, es sei denn, dies ist zur Erreichung eines Vertragsziels erforderlich. "82
Diese Auslegungsleitlinie ist für den Richtlinienvorschlag in besonderem Maße einschlägig. Nur Printmedien, die in weiter verbreiteten Sprachen (Englisch, Französisch usw) oder in Sprachen, die in mehr als einem Mitgliedstaat gesprochen werden, publiziert werden, haben Aussicht auf Verbreitung auch außerhalb eines Mitgliedstaates. Nur bei diesen Medien können sich folglich auch Probleme beim innergemeinschaftlichen Handel ergeben. Bei Medien, die in weniger weit verbreitet gesprochenen Sprachen veröffentlicht werden, werden kaum Probleme des grenzüberschreitenden Handels auftauchen. Anders ausgedrückt - warum sollten beispielsweise dänische, spanische oder griechische Medien gezwungen werden, die Lasten für die Lösung eines Binnenmarktproblems (falls es überhaupt eines ist!) mitzutragen, wenn durch dieses Problem tatsächlich nur Medien anderer Mitgliedstaaten beeinträchtigt werden? Vom Verfahren her wird nicht deutlich, ob die Kommission diese Frage überhaupt bedacht hat.
Am Schluß dieser Analyse des ersten und dritten Merkmals der Subsidiarität sei noch einmal darauf hingewiesen, daß diese Merkmale bereits vor Inkrafttreten des Maastrichter Vertrages Teil des geltenden Gemeinschaftsrechts gewesen sind. Allein das zweite Merkmal ist möglicherweise ein neues, erst durch den Maastrichter Vertrag eingeführtes Element des Subsidiaritätsgrundsatzes. 3. Das Merkmal der "Subsidiarität im streng rechtlichen Sinn" Wendet man sich diesem zweiten Merkmal der Subsidiarität zu ("Subsidiaritätsprinzip im streng rechtlichen Sinn"), so sind auch hier einige der Auslegungsleitlinien des Europäischen Rates der Betrachtung wert. Im Hinblick auf den zweiten Absatz von Art. 3b hat der Eur:->päische Rat ausgeführt. "i) .. .Damit ein Tätigwerden der Gemeinschaft gerechtfertigt ist, muß dem Rat der Nachweis erbracht werden, daß die beiden Anforderungen des Subsidiaritätskriteriums erfOJlt sind: die jeweiligen Ziele der vorgeschlagenen Maßnahmen können auf der Ebene der Mitgliedstaaten durch deren Tätigwerden nicht ausreichend verwirklicht und daher besser durch Tätigwerden seitens der Gemeinschaft erreicht werden. ,,83
Ausgehend von der Annahme, daß das vordringliche Ziel des Richtlinienvorschlages die öffentliche Gesundheit ist, müßte eine derartige Maßnahme nach dieser Auslegungsleitlinie generell den Mitgliedstaaten vorbehalten sein:
82
Europäischer Rat in Edinburgh, in BuJletin v. 28.12.1992, S. 1277 (1282).
83
Europäischer Rat in Edinburgh, in BuJletin v. 28.12.1992, S. 1277 (1281).
VII. Subsidiartät
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"ü) Folgende Leitlinien sollten bei der Prüfung der Frage, ob die obengenannte Bedingung erfüllt ist, zugrunde gelegt werden: Die zur Prüfung vorliegende Frage hat transnationale Aspekte, die durch Maßnahmen der Mitgliedstaaten nicht zufriedenstellend geregelt werden können, und/oder Maßnahmen der Mitgliedstaaten allein oder das Fehlen gemeinschaftlicher Maßnahmen WOrden zu den Erfordernissen des Vertrags im Widerspruch stehen (beispielsweise zu dem Erfordernis, Wettbewerbsverzerrungen zu beheben oder verschleierte Handelsbeschränkungen zu vermeiden oder den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt zu stärken) oder in anderer Weise die Interessen der Mitgliedstaaten erheblich beeinträchtigen, und/oder dem Rat muß der Nachweis erbracht werden, daß Maßnahmen auf Gemeinschaftsebene aufgrund ihrer Größenordnung oder ihrer Auswirkungen im Verhältnis zu einem Tätigwerden auf der Ebene der Mitgliedstaaten deutliche Vorteile erbringen würden. ,,84
Die vorausgegangenen Analyse macht deutlich, daß viele der genannten Voraussetzungen nicht erfüllt sind. Wie ausgeführt, hat nur ein Teilaspekt der vorliegenden Problematik grenzüberschreitende Auswirkungen, und dennoch gibt der Kommissionsvorschlag vor, daß die gesamte Problematik grenzüberschreitende Auswirkungen habe. Ferner wurde bereits oben herausgestellt, daß das Verbot von Werbung eher sicherstellen wird, daß Tabakerzeugnisse aus einem Mitgliedstaat unüberwindbare Schwierigkeiten beim Vordringen in neue Märkte haben werden, als daß eine Wettbewerbsverzerrung beseitigt werden würde. Ebenso wurde ausgeführt, daß uneinheitliche nationale Regeln für Werbung sich nicht auf die Tabakindustrie auswirken würden, da die Hersteller auf jedem nationalen Markt unter den gleichen Bedingungen miteinander konkurrieren könnten. Darüber hinaus wäre auch die Werbebranche nicht beeinträchtigt, da auch hier Werbeagenturen auf den nationalen Märkten unter gleichen Bedingungen miteinander konkurrieren könnten. Mit Bezug auf "Umfang und Auswirkungen" der Maßnahme wurde weiter ausgeführt, daß das innergemeinschaftliche Element zu gering ist, um ein vollständiges Verbot rechtfertigen zu können. "iii) Die Gemeinschaft sollte nur dann tätig werden, um einzelstaatliche Rechtsvorschriften, Vorschriften und Normen zu harmonisieren, wenn dies zur Erreichung der Vertragsziele erforderlich ist. ,,85
5*
84
Europäischer Rat in Edinburgh, in Bulletin v. 28.12.1992, S. 1277 (1281).
85
Europäischer Rat in Edinburgh, in Bulletin v. 28.l2.1992, S. 1277 (1281).
c. Kompetenzen
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der Europäischen Gemeinschaften
Es wurde wiederholt ausgeführt, daß der Richtlinienvorschlag in seiner gegenwärtigen Fassung nicht notwendig ist, wn ein Ziel des Vertrages zu erreichen. Notwendig wäre er nur für ein Ziel, das vom Vertrag nicht gedeckt ist. "iv) Die Feststellung, daß ein Gemeinschaftsziel von den Mitgliedstaaten nicht ausreichend verwirklicht und somit besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden kann, muß auf qualitativen oder - soweit möglich - auf quantitativen Kriterien beruhen. ,,86
Der Kommission ist es nicht gelungen, mit quantitativen Belegen die Notwendigkeit der Maßnahme in einer Weise nachzuweisen, die der wirtschaftlichen Komplexität des Vorschlags angemessen gewesen wäre. Ergebnis: Der Richtlinienvorschlag in seiner letzten Fassung erfüllt nicht die Erfordernisse der Subsidiarität. Dies liegt zumindest teilweise daran, daß diese gesetzgeberische Initiative lange vor der Annahme von Art. 3b EGV und der Auslegungsleitlinien des Europäischen Rates von Dezember 1992 ihren Anfang nahm. In der Sache dürfte aber feststehen, daß ein vergleichbarer Vorschlag nicht der sorgfältigen Überprüfung, die der Europäische Rat von Edinburgh vorschreibt, standhalten würde oder sollte, weil die Richtlinie als gesundheitspolitische Maßnahme und in erster Linie aus gesundheitspolitischen Gründen vorgeschlagen worden ist.
VIII. Die Reaktion der nationalen Gerichte und die Gefahr einer Verfassungskrise 1. Vorbemerkung Dieser letzte Punkt von Teil C geht über die eigentliche Frage der Rechtmäßigkeit des Richtlinienvorschlages hinaus. Die Annahme des Vorschlages in seiner hier behandelten Fassung könnte zu einer größeren Verfassungskrise zwischen dem EuGH und einem oder mehreren obersten Verfassungsgerichten in den Mitgliedstaaten, z.B. dem deutschen Bundesverfassungsgericht, führen. Die Analyse und die Argumente sind in diesem Punkt deshalb nicht normativ, sondern beschreibend und voraussagend. Die Situation erscheint ähnlich der, in der eine Maßnahme der Gemeinschaft wegen Verletzung von Grundrechten angegriffen wurde. Zu dieser bekannten Problematik hatte das deutsche Bundesverfassungsgericht (ebenso wie der italienische Verfassungsgerichtshof) anfänglich den automatischen Vorrang des Gemeinschaftsrechts abgelehnt, sofern die Gemeinschaft gegen die von der nationalen
86
Europäischer Rat in Edinburgh, in Bulletin v. 28.12.1992, S. 1277 (1281).
VIII. Die Reaktion der nationalen Gerichte
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VeIfasSlIDg geschützten Grundrechte verstoßen konnte. 87 Erst zwölf Jahre später sah das BWldesveIfasSlIDgsgericht hauptsächlich au/Grund des vom EuGH gewährten Schutzes der Grundrechte davon ab, die Rechtssetzung der Europäischen Gemeinschaft zu überprüfen, solange der vom EuGH gewährte Rechtsschutz fortdauern würde. 88
In der gegenwärtigen Situation stehen wir aber einer anderen möglichen Klagekonstellation gegenüber: Gegenstand der Klage wäre hier, ob die Rechtsetzung der Europäischen Gemeinschaft die ihr von den Mitgliedstaaten übertragenen Kompetenzen überschreitet. Das entscheidende Problem ist dann verfahrensrechtlicher Art: Wer sollte über diese Frage entscheiden, der EuGH oder die nationalen Verfassungerichte? Wenn die Angelegenheit Z.B. vor dem deutschen BWldesverfassWlgsgericht verhandelt werden würde: Müßte es das Verfahren aussetzen Wld nach Art. 177 EWG-Vertrag dem EuGH vorlegen, weil eine Frage des Gemeinschaftsrechts aufgeworfen wird? Oder könnte es feststellen, daß die Übertragung von Zuständigkeiten an die Gemeinschaft eine Angelegenheit des deutschen VerfassWlgsrechts Wld daher vom BWldesverfassungsericht selbst zu entscheiden sei? Dies ist das Problem der Kompetenz-Kompetenz in seiner schärfsten Form. Vom Standpunkt des Europäischen Gemeinschaftsrechts ist die Antwort klar Wld eindeutig. Der EuGH hat festgestellt, daß kein nationales Gericht (auch nicht ein Gericht, das nicht zur Vorlage beim EuGH verpflichtet ist) berechtigt wäre, eine Maßnahme der Gemeinschaft gleich aus welchem GrWld aufzuheben (einschließlich Fälle fehlender Kompetenz), ohne vorher dem EuGH vorgelegt zu haben. 89 Wie werden jedoch das deutsche BundesverfassWlgsgericht oder ein entsprechendes Verfassungsgericht eines anderen Mitgiedstaates auf KompetenzüberschreitWlgen der Gemeinschaft reagieren? Wenn wir die Problematik der GrWldrechte heranziehen, so erscheint es naheliegend, daß das nationale Gericht sowohl den Stand der Rechtsprechung zur Abgrenzung der Gemeinschaftskompetenzen als auch die Rolle des EuGH als Hüter der begrenzten Kompetenzen der Gemeinschaft einer näheren Prüfung Wlterziehen werden. Dieser Befund erweckt nicht Wlbedingt Vertrauen in die Fähigkeit und Bereitschaft der Gemeinschaftsorgane, das Konzept der begrenzten Gemeinschaftskompetenzen zu schützen oder zu achten. Er könnte das deutsche BWldesverfassungs-
87
BVerfGE 37, 271 (Solange I).
88
BVerfGE 73, 339 (Solange II).
89 EuGH Urteil vom 22. Oktober 1987 - Rs. 314/85 (Foto Frost), Slg. 1987, S. 4199. Vgl. auch Cruz-Vi/aca & Pica"a, Y-a-t-il des limites materielles a la revision des traites instituant les Communautes Europeennes?, 1-2 Cahiers de Droit Europeen, 3 (1993).
C. Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaften
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gericht dazu veranlassen, die Inanspruchnahme der Kompetenz-Kompetenz durch den EuGH zurückzuweisen, und so eine Verfassungskrise heraufzubeschwören, deren Auswirkungen viel weiter reichen würden als die der früheren Krise wegen der Beachtung von Grundrechten. Die folgende Analyse wird diese Prognose untermauern. Es sei erneut betont, daß in diesem Teil die Analyse beschreibend ist und eher von einer rechtspolitischen als von einer rechtlich-normativen Perspektive ausgeht. Sie führt jedoch zu einer Vorhersage über die möglichen Reaktionen der Gerichte der Mitgliedstaaten, die ihrerseits bestimmte nicht-rechtliche Gefahren im Gefolge haben könnten, die so mittelbar aus der Annahme der Richtlinie in ihrer derzeitigen Fassung resultierten. Insbesondere das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Vereinbarkeit des Vertrages über die Europäische Union mit dem Grundgesetz beweist die Richtigkeit der unten näher dargelegten Prognose: Im Maastricht-Urteil werden die Organe der Gemeinschaft in aller Deutlichkeit gewarnt, daß das Bundesverfassungsgericht sich vorbehalten könnte, selbst zu überprüfen, ob die Gemeinschaft mit einzelnen Rechtsakten die ihr gesetzten Kompetenzgrenzen überschritten haben könnte. 9o 2. Die Mutation der GemeinschaJtskompetenzen
Das System der Europäischen Gemeinschaft hat ein "Schmelztiegelethos" für sich abgelehnt, spricht stattdessen in der Präambel zu seinem grundlegenden Vertragsinstrument von einem "immer engeren Zusarnmenschluß der europäischen Völker" und sah die Zuständigkeit der Gemeinschaft begründet in deren Übertragung durch die Mitgliedstaaten (mit vorbehaltenen Kompetenzen, die auf diese Weise bei den Mitgliedstaaten verbleben) und verankert in einem völkerrechtlichen Vertrag, der eine Klausel enthält, die eine Änderung dieses Vertrages von der Zustimmung durch die Parlamente sämtlicher Mitgliedstaaten abhängig macht. 91 Vor diesem Hintergrund besteht wenig Zweifel, daß das "ursprüngliche" Verständnis des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung eher restriktiv war und daß ein Erweiterung der sachlichen Zuständigkeiten nicht einfach zu erreichen sein sollte. Diese Auffassung wurde nicht nur von Wissenschaftlern geteilt92 , sondern sie zeigte sich auch in der
90 BVerfG, Urteil des zweiten Senats vom 12. Oktober 1993 (verb. Verfassungsbeschwerden 2 BvR2134/92 und 2 BvR 2159/92), BVerfGE 89,155 (im folgenden zitiert als "Maastricht-Urteil").
91
Art. 236 EWG-Vertrag.
92 Ein klassisches Beispiel dieses ursprünglich engen Verständnisses ist dasjenige von Richter Pescatore, der später einer der herausragenden Vorkämpfer einer ausdehnenden und evolutiven Sicht der Gemeinschaft wurde: Pescatore, Les relations exterieures des Communautes europeennes, RdC (1961-II), S. 1 ff.
VIll. Die Reaktion der nationalen Gerichte
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Praxis der Mitgliedstaaten und der Gemeinschaftsorgane93 sowie des EuGH selbst. In einer seiner berühmtesten Entscheidungen, Van Gend en Laos, spricht der EuGH; wie bereits erwähnt, von der Gemeinschaft als einer "neue[n] Rechtsordnung des Völkerrechts ... , zu deren Gunsten die Staaten, wenn auch in begrenztem Rahmen, ihre Souveränitätsrechte eingeschränkt haben ... ".94 Zuvor war, wie ausgeführt, in noch deutlicherer Sprache, wenngleich in Bezug auf die Montanunion, festgestellt worden: "Der Vertrag beruht auf einer Souveränitätsbeschränl.wng der Mitgliedstaaten zugunsten supranationaler Organe und zu einemfestumrissenen Zweck, .... Der den Vertrag beherrschende Rechtsgrundsatz ist der der begrenzten Zuständigkeit. Die Gemeinschaft ist eine juristische Person des öffentlichen Rechts, und als solche hat sie die for die Durchfohrung ihrer Aufgaben und Erreichung ihrer Ziele erforderliche Rechts- und Geschäftsfähigkeit ... , jedoch auch nur diese."95
Entgegen diesem ursprünglichen Verständnis der Grenzen der Gemeinschaftskompetenzen wurde der Grundsatz der enumerativen Kompetenzen als Begrenzung der sachlichen Gemeinschaftskompetenzen (ohne eine Änderung des Vertrages) in den 70er und Anfang der 80er Jahre ernsthaft erschüttert und mehrmals verletzt96 . Als verfassungsrechtliches Ergebnis stellte sich heraus, daß es keinen Kernbereich staatlicher Hoheitsgewalt gibt, der dem Zugriff der Gemeinschaft entzogen wäre. Wie eine besonders markante Stimme in der Bewertung der heutigen Gemeinschaft formulierte: "Es gibt einfach keinen Kernbereich staatlicher Souveränität, auf den sich die Mitgliedstaaten per se gegenüber der Gemeinschaft berufen können. "97 Aufgrund dieses Wachstumsprozesses und als Konsequenz der ihm innewohnenden Mechanik sind die Garantien der Kompetenzabgrenzung zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten bis zur Unkenntlichkeit aufgeweicht worden. Somit besteht Grund zur Furcht vor der Reaktion der nationalen Verfassungsgerichte auf eine
93 Z. B. griff der Rat bei der Annahme der Verordnung Nr. 803/68 über den Zollwert der Waren (EG-ABI. 1968 L 148/6 vom 28.6.1968) auf Art. 235 EWG-Vertrag als Rechtsgrundlage zurück, weil er in den Vorschriften über die Zollunion nach seiner Auffassung keine ausreichende implizite Zuständigkeit besaß. 94
Van Gend & Loos-Urteil, a.a.O. (Fußn. 12) (Hervorhebung durch die Autoren).
95 Schlußanträge des GA Lagrange zum Urteil vom 12. Juli 1957 - verb. Rs. 7/56 und 37/57 (Algera u.a.), Slg. 1957, dt. Fassg. S. 167 (Hervorhebungen im Original). 96 An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, daß diese Analyse sich auf die Frage der materiellen Kompetenzen beschränkt. Bei Veränderungen, die die Organe oder die institutionellen Beziehungen betreffen, wird von den betroffenen Beteiligten streng auf der Einhaltung des Vertrages bestanden. 97 Lenaerts, Constitutionalism and the many Faces ofFederalism, 38 AJ.Com.L. (1990), S. 205 (220, Übersetzung der Autoren).
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C. Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaften
Klage, mit der direkt die Frage nach den Grenzen der Gemeinschaftskompetenzen aufgeworfen wird. Wie ist es zu dieser Aufweichung gekommen? Es gibt viele Beispiele, bei denen der Vertrag als ein "Rahmendokument" eine Veränderung ohne Vertragsänderung verlangt oder sie ermöglicht. Ein Versuch, die Verteilung der Zuständigkeiten von Gemeinschaft und Mitgliedstaaten in schematischen Begriffen aufzuzeigen, würde in etwa das folgende Bild ergeben: Einmal gibt es Handlungsbereiche, in denen der Gemeinschaft keine Zuständigkeit übertragen ist. Dann gibt es Handlungsbereiche, die als solche der Gemeinschaft eigen und die außerhalb des Zugriffs der Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten liegen. Schließlich gibt es weite Handlungsbereiche, in denen sich die Zuständigkeiten der Gemeinschaft und die der Mitgliedstaaten überschneiden und miteinander konkurrieren. Eine sehr strenge Auffassung des Enumerationsprinzips würde nahelegen, daß diese Abgrenzung, wie immer auch ihr genauer Inhalt sein mag, nur in Übereinstimmung mit den Bestimmungen über die Vertragsänderung verändert werden könnte und sollte. Stattdessen verläuft die Geschichte der "Mutation" der Gemeinschaftszuständigkeiten ganz anders. Es lassen sich vier Kategorien von verfassungsrechtlicher Mutation in der Geschichte der Gemeinschaft ausmachen. 98
a) Extension Extension betriffi die Mutation im Bereich autonomer Gemeinschaftskompetenz. Am deutlichsten wird diese Kategorie durch das Beispiel der wohlbekannten Geschichte der Entwicklung eines höherrangigen Grundrechtsschutzes in der Gemeinschaft veranschaulicht. Der Vertrag enthält bekanntlich ausführliche Bestimmungen für die Überprüfung von Maßnahmen der Gemeinschaft durch den EuGH. Jedoch enthält er weder einen Grundrechtskatalog, an dem sich Akte der Gemeinschaft messen lassen müßten, noch erwähnt er solche Grundrechte als Prüfungsmaßstab. Und dennoch hat das Gericht in einem 1969 begonnenen und in den 70er Jahren
98 V gl. ausführlich zu den im folgenden verwendeten Begriffen "Extension", "Absorption", "Inkorporation" und "Expansion" Weiler, a.a.O. (Fußn. 15), S. 2437 ff.
VllI. Die Reaktion der nationalen Gerichte
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venestigten Prozeß 99 ein vorzügliches loo Instrument für diese Art der Überprüfung entwickelt. Unabhängig von den rechtlichen Beweggründen für diese Entwicklung (die aber insgesamt überzeugend sind) und von der politischen Motivation, hätte dies nicht stattfinden können, wenn der Gerichtshof einer strikten Auffassung zulässiger Änderungen in der Zuweisung von Kompetenzen gefolgt wäre, wonach eine solche dramatische Veränderung allein durch Vertrags änderung hätte enolgen dünen. Ein ebenso bemerkenswertes, wenn auch späteres Beispiel aus dem Bereich autonomer Zuständigkeit der Gemeinschaft betraf die Passivlegitimation des Europäischen Parlaments und dessen Aktivlegitimation gegenüber Akten anderer Gemeinschaftsorgane. Die einfache und klare Sprache des Vertrages schien sowohl die Aktiv- als auch die Passivlegitimation des Europäischen Parlaments auszuschließen 101. Und dennoch hat der Gerichtshof in einer eingehenden systematischen (und nach der hier vertretenen Auffassung gänzlich gerechtfertigten l02 ) Auslegung des Vertrages zunächst die Passivlegitimation des Europäischen Pariaments l03 und sodann nach einigem Zögern l04 auch die Aktivlegitimation l05 festgestellt. Im F a11 der Extension war der Hauptakteur das Gericht selbst, während andere Organe dabei eine eher passive Rolle spielten. Es sollte jedoch beachtet werden, daß diese Zuständigkeitsmutation trotz der drastischen Art der Maßnahmen selbst recht begrenzt war, da sie auf Änderungen innerhalb des eigenen Bereichs der Gemeinschaft begrenzt blieb und keine unmittelbaren Auswirkungen auf den Zuständigkeitsbereich der Mitgliedstaaten hatte. Tatsächlich hat die Rechtsprechung zu den Grundrechten die Handlungsfreiheit nur der Gemeinschaft beschnitten lO6 ; ähnlich
99 Für eine umfassende Darstellung und Analyse der Rechtsprechung zum Grundrechtsschutz in der Gemeinschaft, siehe Clapham, Human Rights and the European Community: A Critical Overview (erschienen als Band 1 von Cassese, Clapham & Weiler (Hrsg.), European Union - The Human Rights Challenge (Bd. 1-3)) (1991). 100 Zur Kritik siehe Weiler, Eurocracy and Distrust: Some questions conceming the role of the European Court of Justice in the protection offundamental human rights within the legal order ofthe European Community, in: 61 Wash. L. Rev. 1103 (1986).
101
S. Art. 173 EWG-Vertrag.
102
Weiler, Pride and Prejudice - Parliament v. Council, in: 14 ELRev. (1989), S. 334.
103
EuGH Urteil vorn 23. April 1986 - Rs. 294/83 (Les Verts), Sig. 1986, S. 1339.
104
EuGHUrteil vorn 27. September 1988 - Rs. 302/78 (Comitologie), Sig. 1988, S. 5615.
105
EuGH Urteil vorn 22. Mai 1990 - Rs. C-70/88 (Tschernobyl), Sig. 1990, S. 1-2041.
106 Indirekt beschneidet dies selbstverständlich die Freiheit der Mitgliedstaaten, durch den Rat der Gemeinschaft zu handeln.
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C. Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaften
verhielt es sich auch bei der Klagebefugnis des Europäischen Parlaments. Darüber hinaus gibt es schwerwiegende Gründe, dem Gerichtshof Zustimmung für seinen Aktivismus in diesen Fällen zu zollen. Dennoch handelt es sich dabei um Aktionen eines Gerichts, aus denen viel eher ein liberaler als ein restriktiver Standpunkt hinsichtlich der eigenen Zuständigkeitsgrenzen abgelesen werden kann. b) Absorption Absorption ist eine viel einschneidendere Form der Mutation. Sie liegt dann vor, wenn die rechtsetzenden Organe der EG bei Ausübung substantieller, der Gemeinschaft übertragener Legislativgewalt - oft unbeabsichtigt - in Zuständigkeitsbereiche der Mitgliedstaaten außerhalb der ausdrücklichen Gemeinschaftszuständigkeiten vordringen. Ein eindrucksvolles Beispiel - eines unter vielen l07 - bietet der Sachverhalt, der der Casagrande-Entscheidung lOB zugrunde lag. Donato Casagrande, ein italienischer Staatsangehöriger, Sohn eines italienischen Wanderarbeitnehmers, hatte sein ganzes Leben in München verbracht. 1971 bis 1972 war er Schüler einer deutschen Realschule. Das Bayerische Ausbildungsförderungsgesetz (BayAföG) gewährte Kindern, die die Klassen 5 bis 10 der weiterführenden Schulen besuchten und nicht über die erforderlichen Mittel verfügten, eine monatliche Ausbildungsbeihilfe des Landes. Die Stadt München lehnte seinen Antrag auf Beihilfe unter Hinweis auf Art. 3 dieses Gesetzes ab, der alle Nicht-Deutschen mit Ausnahme von Staatenlosen und Asylberechtigten von der Berechtigung ausschloß. Casagrande, der im Wege der Anfechtungsklage vor dem zuständigen deutschen Verwaltungsgericht gegen die Ablehnung der Förderung vorging, stützte sich im wesentlichen auf Art. 12 der Ratsverordnung 1612/68 109 . Der Artikel sieht vor: "Die Kinder eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaates, der im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaates beschäftigt ist oder beschäftigt gewesen ist, können, wenn sie im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaates wohnen, unter den gleichen Bedingungen wie die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaates am allgemeinen Unterricht sowie an der Lehrlings- und Berufsausbildung teilnehmen.
107 Vgl. insbes. EuGH Urteil vom 10. Dezember 1969 - verb. Rs. 6 u. 11169 (KommissionIFrankreich), Slg. 1969, S. 523, und die Besprechung dazu bei Lenaerts, Constitutionalism and the many Faces ofFederalism, 38 A.J.Com.L. (1990), S. 205 (220). 108
Casagrande-Urteil, a.a.O. (Fußn. 18).
109 Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer, EG-ABI. NT. L 257/2 vom 15.10.1968.
VIII. Die Reaktion der nationalen Gerichte
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Die Mitgliedstaaten fördern die Bemühungen, durch die diesen Kindern ermöglicht werden soll, unter den besten Voraussetzungen am Unterricht teilzunehmen."
Der Bayerische VeIWaltungsgerichtshof ersuchte - in vorbildlichem Verständnis der Rolle des EuGH als Prüfungsinstanz - wn eine Vorab entscheidung über die Vereinbarkeit der bayerischen Gesetzesbestimmung mit Art. 12 der Ratsverordnung. Die Frage der Kompetenzen und ihrer Mutation zeigt sich am besten in der Stellungnahme der Bayerischen Landesanwaltschaft, die sich an dem Verfahren beteiligt hatte. Der Rat, so wurde vorgetragen, habe seine Kompetenzen nach Art. 48 und 49 EWGV überschritten. "Danach habe er lediglich die mit der Arbeitnehmerstellung zusammenhängenden Fragen zu regeln. Hieraus sei zu schließen, daß der Arbeitnehmer allein hinsichtlich detjenigen sozialen Leistungen einen Anspruch auf Gleichberechtigung habe, die mit dem Arbeitsverhältnis selbst und mit dem Aufenthalt der Familie in unmittelbarem Zusammenhang stünden."llo Art. 12 der Verordnung ist dieser Auffassung nach so zu verstehen, daß Kinder von Wanderarbeitnehmern zwar unter denselben Bedingungen zugelassen werden müssen, nicht jedoch ein Anrecht auf Ausbildungsbeihilfen haben. Der Bayerische Landesanwalt hat somit vehement die bloße Möglichkeit eines Konfliktes zwischen Art. 12 und dem BayAFöG ausgeschlossen, weil Art. 12 keinesfalls auf Ausbildungsbeihilfen anwendbar sei; zumindest plädierte er wegen des Zuständigkeitsproblems für eine enge Auslegung dieser Bestimmung. Diesem Vorbringen lag aber vor allem das tiefere Argwnent zugrunde, daß Bildungspolitik außerhalb der Gemeinschaftskompetenzen liege, daß die Verordnung daher die Grenzlinie überschreite und daß die von Casagrande vertretene Auslegung keinesfalls Bestand haben könne. Wie sollte das Gericht mit dieser Frage wngehen? In seiner Argwnentation sind zwei Stufen auszumachen. Auf der ersten Stufe liegt das Gewicht in einer Auslegung der betreffenden gemeinschaftsrechtlichen Bestimmung in dem Bemühen, ihren vollen Umfang zu verstehen. Es ist wichtig festzuhalten, daß das Gericht auf dieser ersten Stufe so tat, als befände es sich in einem juristischen Freirawn ohne Begrenzungen der Reichweite des Gemeinschaftsrechts. So vetwundert nicht, daß das Gericht bei seiner Auslegung des Art. 12 der Verordnung zu dem Ergebnis kommt, daß der Artikel die Vergabe von Beihilfen erfaßt. Auf der zweiten Stufe wendet sich das Gericht dem Problem der Zuständigkeitsmutation zu. Wir müssen uns vergegenwärtigen, daß sich der Hauptgrund für die
110
Casagrande-Urteil, a.a.O. (Fußn. 18), S. 776.
C. Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaften
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Rechtswidrigkeit einer Maßnahme - Verstoß gegen den Vertrag - zweifellos auch auf das Fehlen einer Kompetenz erstrecktill . Das Gericht erkannte zunächst, "[d]ie Bildungspolitik gehört zwar als solche nicht zu den Materien, die der Vertrag der Zuständigkeit der Gemeinschaftsorgane unterworfen hat. ,,112
Dieser Hinweis auf die Zuständigkeit der Gemeinschaftsorgane muß erwähnt werden, denn die Entscheidung befaßt sich immerhin mit einem Aspekt "sekundärer Rechtsetzung" durch die politischen Organe. Jedoch führt das Gericht in seinem Schlüsselsatz (übrigens keinem Beispiel von Klarheit) aus: "Daraus folgt aber nicht, daß die Ausübung der der Gemeinschaft übertragenen Befugnisse irgendwie eingeschränkt wäre, wenn sie sich auf [nationale} Maßnahmen auswirken kann, die zur Durchführung etwa der Bildungspolitik ergriffen worden sind. ,,11l
Jetzt verstehen wir die Relevanz der zweistufigen juristischen Analyse. Auf Stufe I klärt das Gericht die Bedeutung einer gemeinschaftsrechtlichen Maßnahme. Die Auslegung mag teleologisch sein, aber nicht notwendigerweise in dem Ausmaß, wie sie das Gericht bei der Entwicklung des höherrangigen Rechts der Grundrechte vorgenommen hatte. Absorption unterscheidet sich auf diese Weise von Extension. Auf der zweiten Stufe stellt das Gericht fest, daß nationale Maßnahmen, soweit sie dem Gemeinschaftsrecht widersprechen, von der Maßnahme der Gemeinschaft absorbiert und verdrängt werden. Es ist nicht - so das Gericht - die Gemeinschaftspolitik, die in nationale Bildungspolitik eingreift. Es ist die nationale Bildungspolitik, die die gemeinschaftliche Politik der Freizügigkeit beeinträchtigt und daher zurückzustehen hat. Die Kategorie Absorption verlangt ebenfalls nach einem Kommentar. Erwähnt werden sollte, daß bei dieser Art der Mutation mindestens zwei Gruppen von Handelnden eine Rolle bei der Infragestellung der strengen Enumeration spielen: in erster Linie der Gesetzgeber, als da sind in diesem Fall Kommission, Parlament und Rat (mit entscheidender Stellung der Regierungen der Mitgliedstaaten) sowie die Rechtsprechung. Wichtig ist, erneut die Grenzen der Absorption hervorzuheben. Diese erweitert die Wirkung von Gemeinschaftsrechtsetzung über die Zuständigkeit der Gemeinschaft hinaus. Streng genommen gibt sie jedoch der Gemeinschaft keine originäre Rechtsetzungsbefugnis (z. B. auf dem Gebiet der Bildungspolitik). Die Gemeinschaft könnte im Licht von Casagrande nicht eine eigene, vollständige Bildungspolitik verkünden.
111
Vgl. Art. 173 EWG-Vertrag.
112
Ca~agrande-Urteil, a.a.O. (Fußn.106) S. 779, Rn.6.
113
Casagrande-Urteil, a.a.O. (Fußn. 18), S. 779, Rn.6 (Hervorhebung durch die Autoren).
VIlI. Die Reaktion der nationalen Gerichte
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Diese Unterscheidung kann aber nicht die grundsätzliche Bedeutung der Absorption und ihrer Einbeziehung als eine wichtige Form der Mutation vermindern. Das kann ermessen werden, wenn man sich die Folgen einer Rechtspolitik vorzustellen versucht, die die Möglichkeit der Absorption ablehnen würde. Der Rahmen für eine wirksame Durchführung einer Politik, für die die Gemeinschaft unmittelbar zuständig ist, würde in einer Gesellschaft, in der es unmöglich ist, saubere Trennungslinien zwischen gesellschaftlicher und Wirtschaftpolitik zu ziehen, erheblich eingeschränkt; zur gleichen Zeit wird jedoch das Prinzip der Enumeration eindeutig geopfert und ausgehöhlt. Und selbstverständlich wird dabei auf eine eindeutige Präferenz zugunsten der Gemeinschaftskomptenz und nicht zugunsten der staatlichen Kompetenzen abgestellt. In gewisser Weise legt die Sprache des Gerichts einfach die Anwendung des Vorrangprinzips nahe. Hier liegt aber kein klassischer Fall der Vorrangproblematik vor. Nach allem kann Vorrang im Hinblick auf Fragen der Zuständigkeit nur bedeuten, daß jede Handlungsebene in den ihr zugewiesenen Bereichen Vorrang hat. Hier ist jedoch ein Kompetenzkonflikt gegeben. Das Gericht legt nahe, daß in solchen Konfliktfällen das Gemeinschaftsrecht vorgeht. Darin liegt die besondere Tragweite der Kompetenzerweiterung durch Absorption. c) Inkorporation ll4 Dieser Begriff ist der Verfassungsgeschichte der Vereinigten Staaten entlehnt und beschreibt das Verfahren, durch das die verfassungsmäßig garantierten Grundrechte, die sich ursprünglich ausschließlich gegen Maßnahmen des Bundes richteten, mit Hilfe des 14. Amendments auf Maßnahmen der Einzelstaaten erweitert worden sind. Die Möglichkeit der Inkorporation erscheint innerhalb des Gemeinschaftssystems auf den ersten Blick unwahrscheinlich. Wir haben bereits auf das Fehlen eines Grundrechtskatalogs der Gemeinschaft hingewiesen. Inkorporation im Bereich des Gemeinschaftsrechts würde nicht nur einen, sondern zwei Akte von weitreichendem richterlichen Aktivismus beinhalten: zunächst die Schaffung von höherrangigem Richterrecht fur die Gemeinschaft, und dann dessen Anwendung auf Handlungen der Mitgliedstaaten. In der flühen Wachauf-Entscheidung ll5 und noch deutlicher in der ERT-Entscheidung ll6 hat der EuGH einen Vorstoß in diese Richtung unternommen. Für den Schutz der Grundrechte war dies ein mutiger und gerechtfertigter Schritt,
114 Diese Frage ist eingehend behandelt in: Weiler, The European Court at a Cross Roads: Community Human Rights and Member State Action, in: Capotorti u.a. (Hrsg.), Du droit international au droit de I'integration (1987), S. 821.
11l
EuGH Urteil vom 13. Juli 1989 - Rs. 5/88 (Wachau/), Slg. 1989, S. 2609.
116
EuGHUrteil vom 18. Juni 1991 - Rs. C-260/89 (ERn, Slg. 1991, S. 1-2925.
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C. Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaften
aber doch wieder der Schritt eines Gerichts mit einer eher liberalen als restriktiven Einstellung zu Kompetenzzuweisung und Enumerationsprinzip. d) Expansion Expansion ist die radikalste Form der Zuständigkeitsmutation - und in der Tat genau das, was der Richtlinienvorschlag angestrebt hat. Während wir es im Fall der Absorption mit Gemeinschaftsrechtsetzung auf einem Gebiet zu tun hatten, in welchem die Gemeinschaft eine eindeutige originäre Zuständigkeit hatte und die Mutation in der Weise auftrat, daß die Wirkungen solcher Rechtsetzung aufBereiche übergriffen, die den Mitgliedstaaten vorbehalten sind, bezeichnen wir mit dem Begriff Expansion den Fall, in dem die originäre Rechtsetzung der Gemeinschaft Zuständigkeitsgrenzen "durchbricht".
In Art. 235 EWG-Vertrag fmden wir den Anknüpfungspunkt für weitgefächerte Expansion. Art. 235 ist der "Gummi-Paragraph" der Gemeinschaft, die europarechtliche Entsprechung zur "necessary and proper" -Vorschrift des Art. I, Sect. 8, Subsect. 18 der US-Verfassung. Art. 235 bestimmt: "Erscheint in Tätigwerden der Gemeinschaft erforderlich, um im Rahmen des Gemeinsamen Marktes eines ihrer Ziele zu verwirklichen, und sind in diesem Vertrag die hierfilr erforderlichen Befugnisse nicht vorgesehen, so erläßt der Rat einstimig auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung des Europäischen Parlaments die geigneten Vorschriften."
Nach dem Wortlaut ist dies nichts als eine kodifizierte Fassung von impliziten Kompetenzen ("implied powers"). Art. 235 sollte eindeutig nicht angewandt werden, um die Zuständigkeit der Gemeinschaft durch das Hinzufügen neuer oder durch das Erweitern bereits existierender Ziele zu erweitern. Dies ergibt sich aus der funktionalen Definition in Verbindung mit den andernorts explizit oder implizit erwähnten Zielen des Vertrages. Da aber der Wortlaut des Artikels sprachlich zweideutig ist und Begriffe wie "Ziele" naturgemäß interpretationsfähig sind, bestand die andauernde Frage, inwieweit Art. 235 verwendet werden könne, um ohne ausdrückliche Vertrags änderung über die wörtliche Vertragsdefmition der Handlungsbereiche und Kompetenzen hinauszugehen. Die Geschichte von Art. 235 in der Praxis der Rechtsetzung, der Rechtsprechung und Wissenschaft hat mehrere Phasen durchlaufen, die die Entwicklung der Gemeinschaft selbst widerspiegeln. In der Zeit von 1958 bis 1973 wurde Art. 235 von den Gemeinschaftsorganenrelativ selten angewendet ll7 , und wenn, dann gewöhnlich eng
117 Eine quantitative Analyse bietet Weiler, TI Sistema Comunitario Europeo (1985), Teil TI, S. 195.
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ausgelegt. Nach der restriktven Auffassung, die damals von allen Interpretatoren geteilt wurde llB, war es die Funktion des Art. 235, innerhalb eines ausdrücklich durch den Vertrag zugewiesenen Handlungsbereichs das Fehlen einer ausdrücklichen Übertragung von Rechtsetzungsbefugnissen zu kompensieren. Zwei Beispiele sollen diese frühe Auffassung illustrieren. Das eine war 1968 der Erlaß der Verordnung 803/68 über den Zollwert auf der Grundlage von Art. 235. Hinter diesem Rückgriff auf Art. 235 stand folgende Annahme: Zwn einen war die Berechnung des Zollwerts notwendig zur Erreichung der Ziele des Vertrages. Da auf der anderen Seite aber die Tätigkeitsbereiche der Gemeinschaft eng ausgelegt werden mußten, konnte man nicht die gemeinsame Handelspolitik oder Art. 28 EWG-Vertrag als Rechtsgrundlagen heranziehen, da diese die Zollwertberechnung nicht ausdrücklich abdeckten. Ein zweites Beipiel ist die Anwendung von Art. 235 als Rechtsgrundlage, wn die Liste der landwirtschaftlichen Erzeugnisse in Anhang 2 zum Vertrag zu erweitern. Hier war es deutlich, daß der Handlungsbereich die in Frage stehende Maßnahme tatsächlich abdeckte, daß es aber keine ausdrückliche Kompetenzzuweisung im Hinblick aufneue Produkte gab. Ein Rückgriff auf Art. 235 erschien notwendig. Die Erklärung für diese quantitativ und qualitativ restriktve Anwendung ist einfach: Quantitativ, weil der Vertrag in dieser Phase des Aufbaus der Grundstrukturen des Gemeinschaftssystems die legislativen Aufgaben und die Übertragung der Rechtsetzungsbefugnisse relativ genau defInierte. Das ursprüngliche legislative Programm hat den häufigen Rückgriff auf Art. 235 einfach nicht verlangt. Qualitativ war diese Periode, vor allem seit Mitte der 60er Jahre, durch eine deutliche Abnahme des "politischen Willens" wenigstens einiger der Mitgliedstaaten gekennzeichnet, aktiv die Ausweitung der Aktivitäten der Gemeinschaft zu fördern.
Im Gefolge des Pariser Gipfels von 1972, auf dem die Mitgliedstaaten ausdrücklich beschlossen hatten, von Art. 235 vollen Gebrauch zu machen und die Gemeinschaft in verschiedene neue Bereiche zu führen, nahm der Rückgriffe auf Art. 235 als alleinige oder zusätzliche Rechtsgrundlage dramatisch zu. Daher gibt es von 1973 bis zum Inkrafttreten der Einheitlichen Europäischen Akte nicht nur quantitativ einen sehr dramatischen Anstieg im Rückgriff auf Art. 235. Daneben nahm auch das Verständnis der qualitativen Tragweite von Art. 235 eine dramatische Entwicklung. In einer großen Vielzahl an Bereichen - Abschluß völkerrechtlicher Verträge, die Gewährung von Sofort-Nahrungsrnittelhilfe an dritte Staaten und die Schaffung
118 So kommentiert z. B. Usher: "Artikel 235 war offensichtlich konzipiert als eine Ausnahmemaßnahme.", in: Usher, The Gradual Widening ofEuropean Community Policy and theBasis of Art. 100 and 235 ofthe EEC Treaty, in: Schwarze/Schermers (Hrsg.), Structure and Dimensions ofEuropean Community Policy (1988), S. 30 (Übersetzung der Autoren).
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C. Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaften
neuer Institutionen, wn nur einige Beispiele zu nennen 1l9 - hat die Gemeinschaft in einer Weise Gebrauch von Art. 235 gemacht, die einfach nicht mit der engen Interpretation des Artikels als einer Kodifikation von implied powers in ihrem instrumentalen Sinn vereinbar ist. Nur eine wahrlich radikale und "kreative" Auslegung dieser Bestimmung konnte deren Heranziehung z.B. als Rechtsgrundlage für die Gewährung von Sofort-Nahrungsmittelhilfe an nichtassoziierte Staaten l20 erklären und rechtfertigen. Aber diese weite Auslegung, an der sich alle politischen Organe beteiligtenl2l, bedeutete, daß es praktisch unmöglich werden würde, eine Maßnahme zu finden, die nicht unter die "Ziele des Vertrages"122 subsumiert werden könnte. Das stellt den Höhepunkt des Prozesses der Mutation und die Grundlage dafür dar, daß nach unserer Auffassung nicht nur nicht länger ein Kernbereich staatlicher Funktionen als tatsächlich immun gegenüber Gemeinschaftsmaßnahmen angesehen werden kann (was eigentlich eine Frage der Absorption ist), sondern auch, daß es keinen materiellen Bereich sachlicher Kompetenz gibt, der vom Gemeinschaftshandeln auf der Grundlage von Art. 235 ausgeschlossen wäre. Es ist nicht nur so, daß die Zuständigkeitsgrenzen der Gemeinschaft inhaltlich stärker durch die Entwicklung in den 70er Jahren als z.B. durch die Einheitliche Europäische Akte erweitert wurden. Die grundlegende systematische Mutation der 70er Jahre, die ihren Höhepunkt im Prozess der Expansion hatte, führte zu dem Ergebnis, daß jede Form der wirksamen rechtlichen Begrenzung dieser Expansion scheinbar verschwunden war.
119 Für eine ausfUhrlichere Darstellung des weiten Gebrauchs und der weiten Auslegung vgl. z.B. Usher, a.a.O. (Fußn. 116), und Smit/Herzog, Law ofthe European Community, Bd. 6, (1991), S. 269. 120 Die gemeinschaftlichen Rahmenverordnungen ilber Nahrungsmittelhilfe und die Verwaltung der Hilfe sind typischerweise auf Art. 43 (Gemeinsame Landwirtschaftspolitik, auch GLP) und 235 gemeinsam gestiltzt worden. So z.B. Ratsverordnung 3331/82, EG-ABI. Nr. L 352/1 (1982). Solange die Nahrungsmittelhilfe ein Mittel ist, um die Überschilsse der GLP abzubauen, stehen Rechtsgrundlage und Zuständigkeit außer Frage. Die Einbeziehung von Art. 235 wilrde Nahrungsmittelhilfe decken, die nicht so eng mit den Zielen und Mechanismen der GLP verbunden ist. Es ist nur schwer erkennbar, wie dem Funktionieren des Gemeinsamen Marktes, außer bei einer sehr weiten Auslegung, durch humanitäre Nahrungsmittelhilfe an nichtassoziierte Staaten gedient wird. Aber vgl. Mareneo, Les conditions d'application de I'article 235 du Traite CEE, in: 12 RMC (1970), S. 147. 121 Das Parlament hat auf die Anwendung von Art. 235 bereits deshalb gedrängt, weil es sich dabei um eine Bestimmung handelt, nach der die Anhörung des Parlaments vorgeschrieben ist.
122 An anderer Stelle ist mit einem Augenzwinkern argumentiert worden, daß bei dieser Auslegung auch die Verteidigungspolitik eine zulässige Anwendung von Art. 235 wäre, da der Gemeinsame Markt kaum funktionieren würde, wenn die Territorien der Mitgliedstaaten besetzt wären, Weiler, a.a.O. (Fußn. 115), S. 188.
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3. Die mögliche Reaktion der nationalen Gerichte Es wurde bereits daraufhingewiesen, daß in diesem Teil nicht eine streng normative Analyse vorgelegt werden soll. Vielmehr wurde eine Beschreibung rechtspolitischer Art angeboten, die, je nach Standpunkt, positiv oder negativ bewertet werden kann. Ein nicht-normatives Ergebnis aber ist unausweichlich: Ein nationales Verfassungsgericht wie das deutsche Bundesverfassungsgericht könnte die Geschichte der Zuständigkeitsmutation der letzten zwei Jahrzehnte wenig vertrauenserweckend finden, wenn es mit der Frage konfrontiert wird, ob es seine eigene Kontrolle der Kompetenzgrenzen der Gemeinschaft aufgeben soll oder nicht. Die Hinnahme neuer rechtlicher Grundstrukturen der Gemeinschaft durch die Gerichte der Mitgliedstaaten in den 60er und fiiihen 70er Jahren gründete sich auf eine Art von stillschweigendem gegenseitigen Verständnis zwischen nationalen Gerichten und dem Gerichtshof: Indem der EuGH nahelegt, daß die neue Rechtsordnung "in begrenzten Bereichen" gelte, hat er nicht einfach einen Grundsatz des europäischen Gemeinschaftsrechts festgestellt, den später wieder aufzuheben er als Urheber desselben frei wäre. Er hat die obersten Gerichte der Mitgliedstaaten eingeladen, die neue Rechtsordnung in dem Verständnis zu akzeptieren, daß sie tatsächlich in ihren Anwendungsbereichen beschränkt sein würde. Die Annahme durch die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten war häufig ausdrücklich von diesem Verständnis geprägt. So hat der italienische Verfassungsgerichtshof diese Prämisse ausdrücklich festgestellt, als er schließlich den Vorrang des Gemeinschaftsrechts akzeptierte: "auf der Grundlage eines präzisen Kriteriums der Kompetenzabgrenzung"123. Auch das Urteil des Bundesverfassungsgericht zur Vereinbarkeit des Maastrichter Vertrages über die Europäische Union mit dem Grundgesetz konzentriert sich wesentlich auf das Problem der begrenzten Gemeinschaftskompetenzen und die Frage, ob die Grenzen der Gemeinschaftszuständigketi hinreichend bestimmbar sind. Im Ergebnis bejaht das Bundesverfassungsgericht die Vereinbarkeit des Zustimmungsgesetzes mit dem Grundgesetz und faßt seine Begründung wie folgt zusammen: "Die Aufgaben der Europäischen Union und die zu ihrer Wahrnehmung eingeräumten Befugnisse werden dadurch in einer hinreichend voraussehbaren Weise normiert, daß das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung eingehalten, keine Kompetenz-Kompetenz rur die Europäische Union begründet und die Inanspruchnahme weiterer Aufgaben und
123
Frontini-Entscheidung a.a.O. (Fußn. 13).
6 Simma u.
3.
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Befugnisse durch Europäische Union und Europäische Gemeinschaften von Vertragsergänzungen und Vertragsänderungen abhängig gemacht, mithin der zustimmenden Entscheidung der nationalen Parlamente vorbehalten wird."124
In den Urteilsgründen wird sodann detailliert untersucht, inwieweit der Maastrichter Vertrag dem Prinzip der begrenzten Einzelerrnächtigung treu bleibt: "Ebenso bekräftigt die neue Grundsatznorm des Art. 3 b EGV im ersten Absatz, daß die Gemeinschaft nur innerhalb der Grenzen der ihr im Vertrag zugewiesenen Befugnisse und gesetzten Ziele tätig wird. Die sodann folgenden Regelungen des Subsidiaritätsprinzips (Art. 3 b Abs. 2 EGV) und des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes (Art. 3 b Abs. 3 EGV) sind als Kompetenzausübungsschranken ausgestaltet. ,,125
Die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts zu den Prinzipien der begrenzten Einzelerrnächtigung und der Subsidiarität sowie dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz decken sich mit denen dieser Analyse und bedürfen daher keiner eingehenderen Darlegung. Weit wichtiger als das Ergebnis des Maastricht-Urteils und seine Begründung ist, welche Prüfungskompetenz das Bundesverfassungsgericht für sich in Anspruch nimmt. Zum einen unterzieht das Gericht den Maastrichter Vertrag einer detaillierten inhaltlichen Prüfung und nimmt insofern eine Auslegung zukünftig geltendes Gemeinschaftsrechts vor. Zum anderen beansprucht das Bundesverfassungsgericht die Kompetenz, auch in Zukunft darüber zu wachen, ob Handlungen der Gemeinschaft deren begrenzte Zuständigkeiten überschreiten: "Entscheidend ist, daß die Mitgliedschaft der Bundesrepublik Deutschland und die daraus sich ergebenden Rechte und Pflichten - insbesondere auch das rechtsverbindliche unmittelbare Tätigwerden der Europäischen Gemeinschaften im innerstaatlichen Rechtsraum - für den Gesetzgeber voraussehbar im Vertrag umschrieben und durch ihn im Zustimmungsgesetz hinreichend bestimmbar normiert worden sind .... Das bedeutet zugleich, daß spätere wesentliche Änderungen des im Unions-Vertrag angelegten Integrationsprogramms und seiner Handlungsermächtigungen nicht mehr vom Zustimmungsgesetz zu diesem Vertrag gedeckt sind .... Würden etwa europäische Einrichtungen oder Organe den Unions-Vertrag in einer Weise handhaben oder fortbilden, die von dem Vertrag, wie er dem deutschen Zustimmungsgesetz zugrundeliegt, nicht mehr gedeckt wäre, so wären die daraus hervorgehenden Rechtsakte im deutschen Hoheitsbereich nicht verbindlich. Die deutschen Staatsorgane wären aus verfassungsrechtlichen Gründen gehindert, diese Rechtsakte in Deutschland anzuwenden. Dementsprechend prüft das Bundesverfassungsgericht, ob Rechtsakte der europäischen Einrichtungen und Organe sich in den Grenzen der ihnen eingeräumten Hoheitsrechte halten oder aus ihnen ausbrechen .... ,,126
124
BVerfG, Maastricht-Urteil, a.a.O. (Fußn. 90), S. 18l.
125
BVerfG, Maastricht-Urteil, a.a.O. (Fußn. 90), S. 193.
126
BVerfG, Maastricht-Urteil, a.a.O. (Fußn. 90), S. 187 f.
VIII. Die Reaktion der nationalen Gerichte
83
Sollte das BlUldesverfasslUlgsgericht (oder andere nationale Gerichte) in Zuktmft extensiv die BeachtlUlg der Kompetenzgrenzen der Gemeinschaft selbst überwachen, so wäre dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften eine zentralisierte Überprüfung von Fragen der Gemeinschaftskompetenz lUlffiöglich lUld damit die Einheit des Gemeinschaftsrechts ernsthaft gefährdet. Wie das Maastricht-Urteil des BlUldesverfasslUlgsgerichtes deutlich belegt, könnte die AufweichlUlg wirksamer Garantien der KompetenzverteillUlg lUld das allmähliche Fortschreiten dieser Erosion die nationalen Gerichte zu dem Ergebnis fuhren, daß sie allein als wirksame Hüter nicht einfach gegenüber der Gemeinschaft, sondern im Rahmen der Gemeinschaft auch gegenüber ihren eigenen RegierlUlgen auiZutreten haben. Als Ergebnis bleibt demnach festzuhalten: In den früheren Abschnitten dieser Analyse wurde in strikt juristischen Kategorien argumentiert, daß der Richtlinienvorschlag in seiner gegenwärtigen FasslUlg rechtswidrig ist. In diesem Abschnitt jedoch kommt zum Ausdruck, daß er auch äußerst unklug ist. Er könnte als Präzedenzfall einer KompetenzüberschreitlUlg eine VerfasslUlgskrise heraufbeschwören, deren politische Auswirklmgen kaum lUlterschätzt werden können.
6'
D. Die Vereinbarkeit des Richtlinienvorschlages mit den Grundrechten des Gemeinschaftsrechts J. Einleitung 1. Die grundrechtliehe Problematik Das von dem Richtlinienvorschlag angestrebte Totalverbot der direkten und indirekten Werbung triffi nicht nur die Hersteller von Tabakprodukten, sondern bei der indirekten Werbung auch unabhängige Unternehmen und Lizenznehmer aus anderen Branchen. Zeitschriften und Zeitungen (ebenso z.B. Vermieter von Plakatflächen) entgehen erhebliche Einnahmen aus der Anzeigenwerbung. Sekundär betroffen sind zahlreiche Unternehmen, die an der Herstellung der Werbung beteiligt sind (z.B. Werbebranche, Druckereien) und nun lukrative Aufträge solcher Kunden verlieren, die dem direkten und/oder indirekten Werbeverbot unterliegen. In der Begründung des geänderten Vorschlages vom 6. Juni 1991 gesteht die Kommission, "[d]ie Werbung ist ein bedeutender Wirtschaftsfaktor, der sich aus wichtigen Grundrechten ableitet" .127 Der Richtlinienvorschlag beeinträchtigt die verschiedenen betroffenen Unternehmen des Produktions- und Medienbereiches in unterschiedlicher Intensität in jeweils unterschiedlichen grundrechtlich geschützten Interessenbereichen. Ein totales Werbeverbot wirft insbesondere Fragen auf zur Vereinbarkeit mit den Grundrechten der Meinungsäußerungs- und Pressefreiheit, des Eigentumsschutzes und des Rechts auf freie Berufsausübung.
2. Eingrenzung der Fragestellung Die Bindung der Europäischen Gemeinschaft an Grundrechte gehört zu den anerkanntesten Errungenschaften der bisherigen Entwicklung des Gemeinschaftsrechts. Die Verpflichtung der Gemeinschaft zur Achtung der Grundrechte bildet eine der wesentlichsten Grundlagen für die Legitimität ihrer Rechtsordnung. Im Zentrum der folgenden Untersuchung steht die Frage, ob der Richtlinienvorschlag im Einklang mit den Grundrechten des Gemeinschaftsrechts steht.
127 Geänderter Vorschlag der Kommission vom 6. Juni 1991, KOM(91) 111 endg. - SYN 194, EG-ABI. Nr. C 167 vom 27. Juni 1991, S. 4.
I. Einleitung
85
Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs sind auch die Mitgliedstaaten an die Grundrechte des Gemeinschaftsrechts gebunden, wenn sie im Bereich des Gemeinschaftsrechts handeln (siehe dazu unten Abschnitt D.II.5.). Diese Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten wird z.B. relevant bei der Umsetzung von Richtlinien oder auch der Einführung nationaler Werbeverbote, die den freien Warenverkehr beeinträchtigen können. Die vorliegenden Ausführungen werden sich jedoch auf die Prüfung beschränken, ob die Richtlinie selbst mit Gemeinschaftsrecht und den Grundrechten vereinbar ist, d.h. ob Gemeinschaftsorgane Grundrechte durch die Richtlinie verletzen würden. Die Vereinbarkeit mit den Grundrechten des Grundgesetzes wird inzident nur soweit erwogen, wie dies zur Konkretisierung der "gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten" geboten erscheint; eine erschöpfende Prüfung der Vereinbarkeit mit deutschem Verfassungsrecht ist nicht intendiert. Es sei darauf verwiesen, daß die Kommission in ihrer Begründung des Entwurfs der Tabakwerbung-RL davon ausgeht, daß keine Bedenken bezüglich der Vereinbarkeit mit internationalem Markenrecht bestehen. 128 Da die Vereinbarkeit des Richtlinienvorschlages mit Normen des internationalen Markenrechts unabhängig von der Grundrechtsproblematik zu beurteilen ist, wird auch diese Frage hier nicht angesprochen werden. 3. Kompetenz/rage und Menschenrechte
Im Falle der EG-Richtlinie zum Verbot der Tabakwerbung sind die Meinungs-, Informations- und Pressefreiheit, der Eigentumsschutz und die Berufsfreiheit betroffen, also Rechte, bei denen nur durch Gesetz der Umfang der Gewährleistung bestimmt oder Eingriffe in diesen vorgenommen werden dürfen. Bei allen Grundrechten, die laut Verfassung, Verträgen zum Schutz der Menschenrechte oder eben auch auf der Ebene des Gemeinschaftsrechts nur durch ein Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes eingeschränkt werden dürfen, besteht insofern ein untrennbarer Zusammenhang zwischen der Kompetenzfrage und der Vereinbarkeit mit Grundrechten.
128 Vgl. KOM (91) 111 endg., a.a.O. (Fußn. 125), S. 8. Siehe zu diesen Fragen des Markenrechts z.B. Kur, Zur Benutzung von Zigarettenmarken fur andere Produkte, GRUR Int. (1990), S. 442 (444 ff.), id., Restrietions Under Trademark Law as Flanking Maneuvers to Support Advertising Bans - Convention Law Aspects, International Review of Industrial Property and Copyright Law (lIC) (1992), S. 31-45; Schricker, Zur Werberechtspolitik der EG - Liberalisierung und Restriktion im Widerstreit, GRUR Int. (1992), S. 347-361.
86
D. Die Vereinbarkeit mit den Grundrechten
Eingriffe in die Grundrechte bedürfen selbstverständlich eines rechtmäßigen Gesetzes. Die Rechtswidrigkeit eines ultra vires erlassenen Gesetzes führt deshalb über den Gesetzesvorbehalt notwendig zu der Konsequenz, daß auch ein rechtswidriger Eingriff in ein Grundrecht vorliegt. Bei allen Konstellationen, in denen im kompetenzrechtlichen Teil C. dieser Untersuchung das Fehlen einer Kompetenz der EG zur Rechtsvereinheitlichung nachgewiesen wurde, liegt folglich auch notwendig eine Verletzung der Grundrechte vor. Eine selbständige substantielle Prüfung der Fragen des Schutzes der Grundrechte ist deshalb nur erforderlich, wenn der EG eine Kompetenz zur Rechtsvereinheitlichung nicht abgesprochen werden könnte und sie zur Rechtsetzung befugt wäre. 4. Gliederungshinweise Im Abschnitt 11. sollen zunächst allgemein die Grundlagen und der Umfang der Bindung der Europäischen Gemeinschaften an Grundrechte erörtert werden. Der Inhalt der Grundrechte der Gemeinschaft wurde vom Gerichtshof aus im wesentlichen zwei Rechtserkenntnisquellen gewonnen. Zum einen orientierte sich der Europäische Gerichtshof an den Verträgen zum Schutze von Menschenrechten, die von den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft ratifiziert worden sind. Eine überragende Rolle als Leitlinie für die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes hat dabei die Europäische Menschenrechtskonvention erlangt. Im Abschnitt III. wird daher untersucht werden, wie Werbeverbote nach den internationalen Verträgen zum Schutz der Menschenrechte zu beurteilen sind. Die zweite wesentliche Erkenntnisquelle für Grundrechte des Gemeinschaftsrechts bildet die gemeinsame Verfassungstradition der Mitgliedstaaten, die vom Gerichtshof im Wege einer wertenden Rechtsvergleichung herangezogen wird. Diese gemeinsame Verfassungstradition der Mitgliedstaaten der Gemeinschaft und ihre Leitlinien für die Beurteilung von Werbeverboten sind Gegenstand des Abschnitts IV. Auf der Grundlage dieser Auswertung der Rechtserkenntnisquellen soll der Schutzbereich der Grundrechte des Gemeinschaftsrechts (Abschnitt V.) und die Zulässigkeit von Einschränkungen der betroffenen Grundrechte (Abschnitt VI.) untersucht werden.
11. Grundrechtsbindung der EG Weder die Römischen Verträge noch spätere Änderungen insbesondere des EWG-Vertrages etablierten explizit einen Katalog von Grundrechten, der den Schutz der Marktbürger gegenüber Handlungen der Gemeinschaftsorgane garantieren würde.
II. Grundrechtsbindung der EG
87
1. Gn.mdlagen der Grundrechtsbindung der EG Auch ohne eine vertraglich nonnierte Vorgabe ist die Bindung der Gemeinschaftsgewalt an Grundrechte dennoch in der Rechtsprechung des Gerichtshofes sukzessive entwickelt worden und heute allgemein anerkannt. Den Anstoß zu dieser richterrechtlichen Entwicklung des Grundrechtsschutzes gaben insbesondere Urteile nationaler Gerichte, allen voran die des Bundesverfassungsgerichts, die sich eine Kompetenz zur Überprüfung gemeinschaftlicher Rechtsakte anhand nationaler Grundrechte solange vorbehalten wollten, wie auf der Ebene des Gemeinschaftsrechts selbst noch kein ausreichender Grundrechtsschutz gewährleistet wurde. 129 Auch Palament, Kommission und Rat haben in ihrer Gemeinsamen Erklärung vom 5.4.1977 die rechtliche Bindung der Gemeinschaftsorgane an die Grundrechte in der Form anerkannt, wie sie vom Gerichtshof entwickelt worden ist. 130 Diese Erklärungen stellen zwar keine rechtlich bindenden Rechtsakte dar; sie wurden jedoch vom Gerichtshof in seiner Rechtsprechung wiederum durchaus als Interpretationshilfe ("soft law" der EG) berücksichtigt. Diese Gemeinsame Erklärung wurde später ergänzt durch die Erklärung des Europäischen Parlaments über Grundrechte und Grundfreiheiten vom 12.4.1989 131 und die vom europäischen Rat am 9. Dezember 1989 angenommene Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer. 132
In der Präambel der Einheitlichen Europäischen Akte 133 bekräftigen die Vertragsstaaten die Verantwortung der Staaten Europas, "... geschlossen und solidarisch zu handeln, um ... ganz besonders für die Grundsätze der Demokratie und der Wahrung des Rechts und der Menschenrechte, denen sie sich verpflichtet fühlen, einzutreten ... "
Eine Bindung an Grundrechte wird erstmals ausdrücklich festgeschrieben im Vertrag von Maastricht. Der Vertrag bestätigt die Bindung der Europäischen Gemeinschaft an Grundrechte insbesondere die Europäische Menschenrechtskonvention. In der Präambel des Vertrages über die Europäische Union bekennen sich die Vertragsstaaten
129
BverfG, Solange I, a.a.O. (Fußn. 87).
130
EG-ABI. Nr. C 103/1 vom 5. April 1977.
III
EG-ABI. Nr.C 120/51 vom 12. April 1989 (Dok. A2-3/89).
ll2
COM (89) 471.
l3J
BGBI. II 1986, S. 1102 (1104).
88
D. Die Vereinbarkeit mit den Grundrechten "... zu den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie und der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten und der Rechtsstaatlichkeit, ... "
In Artikel F Absatz 2 der allgemeinen Bestimmungen für die Europäische Union findet sich die von der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes erarbeitete Formel zur Grundrechtsbindung im Gemeinschaftsrecht wieder: "Die Union achtet die Grundrechte, wie sie in der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts ergeben."
Ebenso wird für die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres im Artikel K.2 in Absatz 1 festgehalten: "Die in Artikel K.1 genannten Angelegenheiten werden unter Beachtung der Europäischen Konvention vom 4. November 1950 zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten ... behandelt."
Auch wenn in den Verträgen der Europäischen Gemeinschaft ein expliziter Grundrechtskatalog fehlt und die EG selbst keine völkerrechtlichen Verträge zum Schutz der Menschenrechte ratifiziert hat, ist die Bindung der Gemeinschaft an Grundrechte heute ein unbestrittener Eckpfeiler ihres Verfassungsrechts.
2. Selbständigkeit der EG-Grundrechte
In seinen Leitentscheidungen zum Grundrechtsschutz gegenüber Handlungen der Gemeinschaftsorgane hat der Gerichtshof die Grundrechte den "allgemeinen Rechtsgrundsätzen" des Gemeinschaftsrechts zugeordnet. Auch wenn eine klare Aussage des Gerichtshofes zur Rechtsgrundlage seiner Rechtsprechung zu den Grundrechten fehlt, läßt sich diese am ehesten in Artt. 173 und 164 EWG-Vertrag fmden. 134 Ausgangspunkt fi1r die Rechtsprechung des Gerichtshofes ist die Eigenständigkeit des Gemeinschaftsrechts. Bei der Entwicklung des Inhalts und der Tragweite der Grundrechte im Gemeinschaftsrecht hat der Gerichtshof Anregungen aus verschiedenen "Rechtserkenntnisquellen" aufgenommen:
114 Die Rechtsgrundlage der Grundrechtsprechung des Gerichtshofes ist in der Literatur umstritten. Vgl. Weiler, Methods ofProtection ofFundamental Human Rights in the European Community: Towards a Second and Third Generation ofProtection, in Cassese, Clapham, Weiler (Hrs.), Human Rights and the European Community: Methods ofProtection (1991), S. 555 (618f.).
II. Grundrechtsbindung der EG
89
- "die gemeinsamen Verrassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten"; - internationale Verträge zwn Schutze der Menschenrechte, an deren Abschluß die Mitgliedstaaten beteiligt waren oder denen sie beigetreten sind. Die wichtigste und am häufigsten vom Gerichtshof herangezogene Konvention zwn Schutze von Grundrechten ist die Europäische Menschenrechtskonvention. - Schließlich greift der Gerichtshof auf das "soft law" der Gemeinschaft zwn Grundrechtsschutz zurück. Dazu zählen insbesondere die Gemeinsame Erklärung der Versammlung, des Rates und der Kommission vom 5.4.1977 135 und auch die Erklärung der Grundrechte und Grundfreiheiten des Parlaments vom 12. April 1989. 136 Da diese Erklärungen wiederum auf die vorgenannten Quellen grundrechtlicher Garantien verweisen, hat die Berufung des Gerichtshofes auf diese eher eine bekräftigende denn eine originäre Begründungsfunktion. Die Verweise auf diese Normierungen von Grundrechten wurden jedoch nie im Sinne einer strikten rechtlichen Bindung der Gemeinschaft an diese nationalen oder internationalen Grundrechtsgarantien verstanden. Daß internationale Menschenrechtsverträge für die Gemeinschaft nur Erkenntnisquellen und nicht etwa streng bindende Rechtssätze seien können, ergibt sich daraus, daß die Gemeinschaft weder Vertragspartei der EMRK noch eines anderen internationalen Menschenrechtspaktes ist. Dies wurde zwar vielfach angeregt und auch von den Gemeinschaftsorganen gerade in Bezug auf die EMRK ernsthaft erwogen, wurde jedoch aus verschiedensten, hier nicht näher darzulegenden Gründen verworren. 137 In diesem Sinne hat auch der EuGH in seinem Gutachten 138 entschieden. Der Ministerrat hatte gemäß Art. 228 EGV dem Gerichtshof die Frage vorgelegt, ob die Gemeinschaft der Menschenrechtskonvention als Vertragspartei beitreten kann. Mangels gemeinschaftsrechtlicher Kompetenz ist dies jedoch nicht möglich. Auch die gemeinsame Verrassungstradition der Mitgliedstaaten stellt nur eine Rechtserkenntnisquelle dar. Zwar wurde wiederholt argwnentiert, die Mitgliedstaaten wären qua eigenen Verrassungsrechts nicht autorisiert, Hoheitsrechte auf die Gemeinschaft zu übertragen, deren Ausübung den nationalen Grundrechtsschutz aushöhlen würde. Zwnindest seit die italienischen und deutschen Verrassungs-
III
EG-ABI., a.a.O.(Fußn. 130).
1J6
EG-ABI., a.a.O. (Fußn. 131).
JJ7 Die Überlegungen zum Beitritt der EWG zu einzelnen !LO-Abkommen stellt hier einen Sonderfall dar. Vgl. EuGH Gutachten 2/91 vom 19.3.1993. 1J8
EuGH Gutachten 2/94 vom 28. März 1996 (OJ No C 180,22.6.96).
D. Die Vereinbarkeit mit den Grundrechten
90
gerichte sich von einem ausreichenden Grundrechtsschutz auf Gemeinschaftsebene überzeugt sahen und auf eine Grundrechtskontrolle (unter gewissen Vorbehalten) verzichtet haben, ist diese Position nicht mehr haltbar. Ausdrücklich hingewiesen sei hier auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, nach der eine Überprüfung der Vereinbarkeit sekundären Gemeinschaftsrechts mit dem Grundgesetz erst dann in Betracht kommt, wenn im Gemeinschaftsrecht "der vom Grundgesetz als unabdingbar gebotene Grundrechtsschutz nicht verwirklicht werden sollte". 139 Die Grundrechte des Gemeinschaftsrechts sind daher nicht identisch mit z.B. denen der nationalen Verfassungen oder etwa der EMRK, auch wenn diese sich beim Schutzbereich und den Einschränkungsmöglichkeiten sehr ähneln. So wurden im Falle Hoechst AG.! Kommission Geschäftsräume von Gesellschaften aus dem Schutzbereich des Art. 8 EMRK (Schutz der Privatsphäre) herausgenommen, obwohl diese z.B. nach dem Grundgesetz geschützt sind. 140 Andererseits urteilte der Gerichtshof im Fall Niemietz, der Schutzbereich des Art.8 EMRK beschränke sich nicht auf die Privatsphäre, sondern erfasse auch Geschäftsräume. 141
3. Einschränkungsmöglichkeiten Der Gerichtshof hat sich bislang nicht klar und eindeutig zum Verhältnis der einzelnen Quellen des Grundrechtsschutzes zueinander geäußert. Gerade bei den zulässigen Einschränkungen von Grundrechten und den Schranken solcher Einschränkungen wird immer wieder die Frage nach dem Standard des Grundrechtschutzes, d.h. der Höhe des Schutzniveaus, gestellt. So sind bei der Bezugnahme auf die "gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten" Fälle denkbar, wo in den einzelnen Mitgliedstaaten ein unterschiedlich hohes Schutzniveau garantiert wird. Divergierende Standards können sich auch insofern ergeben, als sich die Judikatur des Gerichtshofes kumulativ aufMenschenrechtskonventionen und die Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten stützt. Dies führt jedoch nicht zu einer Senkung des Schutzniveaus, denn die Rechtsprechung des Gerichtshofes enthält keinerlei Hinweise darauf, daß Divergenzen im Schutzniveau auf der Suche nach dem größten gemeinsamen Nenner zum niedrigsten Schutzniveau führen. Ebensowenig besteht ein Automatismus, der notwendig
139
BVerfG EuGRZ (1989), S. 339 (340).
140 EuGH Urteil vom 17. Oktober 1989 - Rs. 46/87 u. 227/88 (Hoechst), Sig. 1989, S. 2859. Kritisch dazu Clapham, A Human Rights Policy for the European Community, 10 Yearbook ofEuropean Law (1990), S. 309 (337 f.). 141
Fall Niemielz Serie A Nr. 251.
II. Grundrechtsbindung der EG
91
den höchsten nationalen Grundrechtsstandard auch für die Gemeinschaftsebene verbindlich machen würde. In der Rechtsprechung finden sich so zum einen Fälle, in denen der Gerichtshof nicht dem Maximalstandard eines Mitgliedstaates gefolgt ist, wie der bereits erwähnte Fall Hoechst AG.! Kommission deutlich macht. Daneben enthält die Rechtsprechung des EuGH jedoch auch Beispiele bereit, in denen über das Schutzniveau der EMRK und auch der Verfassungstradition der Mitgliedstaaten runausgegangen wurde. 142 Die Frage nach der Höhe des Schutzniveaus ist jedoch nicht nur wegen der möglichen Divergenzen der "Erkenntnisquellen" für die Grundrechte des Gemeinschaftsrechts kaum schematisch zu beantworten. Die Betonung der Eigenständigkeit des Gemeinschaftsrechts auch im Bereich des Grundrechtschutzes durch den Gerichtshof erschwert zusätzlich den Vergleich von nationalen und gemeinschaftlichen Standards beim Grundrechtsschutz. So verwies der Gerichtshof wiederholt auf gemeinschaftsspezifische Schranken der Grundrechte: "In der Gemeinschaftsrechtsordnung erscheint es weiterhin auch berechtigt, für diese Rechte bestimmte Begrenzungen vorzubehalten, die durch die dem allgemeinen Wohl dienenden Ziele der Gemeinschaft gerechtfertigt sind, ... ,,143
Es ist also festzuhalten, daß sowohl die Bestimmung des Schutzbereiches von Grundrechten als auch die Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen auf Gemeinschaftsebene nicht zwingend im Ergebnis die konkrete Ausgestaltung des Grundrechtsschutzes aus den nationalen Verfassungsordnungen oder internationalen Menschenrechtsverträgen übernimmt. Aus der bislang entwickelten Judikatur und Dogmatik ergeben sich jedoch deutliche Hinweise, daß der Gerichtshof einen hohen Standard des Grundrechtsschutzes anstrebt. Dafür sprechen insbesondere die Beweggrunde, die runter der richterrechtlichen Entwicklung des Grundrechtsschutzes in der Gemeinschaft stehen: Der Gerichtshof bezweckte einen Grundrechtsschutz, der ihm die Gefolgschaft der nationalen Gerichte bei seiner Dogmatik vom Vorrang des Gemeinschaftsrechts sichern sollte.
142 EuGHUrteiI vom 18. Oktober 1989 - Rs. 374/87 (Orkem), 81g. 1989,8.3283 ff. Vgl. dazu Lenaerts, Fundamental Rights to be Included in a Community Catalogue, in 16 European LawReview(1991), 8. 367 (380 f.); Clapham, A Human Rights Policy for the European Community, in 10 Yearbook ofEuropean Law (1990), 8. 309 (336 f.). 143
EuGH Urteil vom 14. Mai 1974 - Rs. 4/73 (No/ci), 81g. 1974,491 (508, Rn. 14).
92
D. Die Vereinbarkeit mit den Grundrechten
Zusammenfassend kann festgehalten werden, daß der Gerichtshof einen hohen Standard des Grundrechtsschutzes anstrebt, der jedoch nicht unbedingt identisch ist mit dem auf nationaler Ebene gewährten.
4. Prüfungsumfang: Die Richtlinie als Gegenstand der grundrechtlichen Prüfung Die grundrechtliche Prufung könnte sich zum einen auf die nationalen Normen beziehen, mit denen die Mitgliedstaaten Richtlinien der Gemeinschaft in innerstaatliches Recht umsetzen. Formal spricht dafür, daß Richtlinien im Normalfalle keine unmittelbare Wirkung zukommt. Richtlinien der Gemeinschaft verpflichten zunächst nur die Mitgliedstaaten, durch Umsetzungsnormen einer Richtlinie innerstaatlich Wirkung zu verleihen. Sollte ein Mitgliedstaat dieser Verpflichtung nicht innerhalb der Umsetzungsfrist nachkommen, so kann die Richtlinie nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes nicht im Wege einer unmittelbaren Geltung Pflichten für den einzelnen begrunden. 144 Diesen Standpunkt hat der Gerichtshof auch im Fall Dori 145 vertreten, als er die horizontale Drittwirkung von Richtlinien erneut abgelehnt hat. Streng genommen wird daher in den Rechtskreis der durch die Richtlinie Betroffenen erst dann eingegriffen, wenn nationale Normen zur Umsetzung der Richtlinie in Kraft treten. Die Zweistufigkeit des Rechtsetzungsverfahrens und die fehlende unmittelbare Wirkung darfjedoch nicht daruber hinwegtäuschen, daß die Gemeinschaft selbst bei Erlaß der Richtlinie die Grundrechte als Teil der allgemeinen Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts zu beachten hat. Nach Art. 189 Abs. 3 EWG-Vertrag haben die Mitgliedstaaten lediglich eine Wahlfreiheit hinsichtlich der Form und der Mittel der Umsetzung; das "Ziel", bzw. Ergebnis, der innerstaatlichen Implementierung ist jedoch verbindlich durch die Richtlinie selbst vorgegeben. Umfang, Intensität und Rechtswidrigkeit von Einschränkungen der Individualrechte, die durch oder aufgrund der innerstaatlichen Norm vorgenommen werden, hängen insofern davon ab, wieweit die umzusetzende Richtlinie selbst bereits diese Eingriffe inhaltlich bestimmt. Vergleichend sei darauf hingewiesen, daß auch im nationalen Recht z.B. bei der Überprufung von Verwaltungsakten der Eingriffsverwaltung inzident die Grundrechtskonformität der ermächtigenden Norm untersucht werden kann. Ein rechts144 Vgl. dazu folgende Entscheidungen des EuGH: Urteil vom 26. Februar 1986 - Rs. 152/84 (Marshall), Slg. 1986 S. 723,749; Urteil vom 12. Mai 1987 - verb. Rs. 372-374/85 (Traen u.a.), Slg. 1987 S. 2141 ff., Leitsatz 2; Urteil vom 11. Juni 1987 - Rs. 114/86 (Pretore di Salo), Slg. 1987 S. 2545 ff., Leitsatz 4; Urteil vom 8. Okt. 1987 - Rs. 80/86 (Kolpinghuis Nijmegen), Slg. 1987 S. 3969 ff., Leitsätze 1 und 2. 145
EuGH Urteil vom 14. Juli 1994, Rs 91/92 (Dori v. Recreb Sr/), Slg. 1994, S. 3325.
II. Grundrechtsbindung der EG
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widriger Eingriff in Rechtspositionen des einzelnen kann also bereits in der Richtlinie selbst angelegt sein, so daß bei deren Umsetzung eine Verletzung von Grundrechten unausweichlich ist. Gegenstand der Prüfung muß daher die Richtlinie selbst sem.
5. Handlungen der Mitgliedstaaten (Umsetzung der Richtlinie in nationales Recht) Neuere Entwicklungen in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes zeigen deutlich, daß auch die Mitgliedstaaten an die Grundrechte des Gemeinschaftsrechts gebunden sind, sofern sie im Bereich des Gemeinschaftsrechts handeln. l46 So ist mittlerweile festgestellt, daß die Mitgliedstaaten bei der Durchsetzung von Normen aus EG-Verordnungen die Grundrechte des Gemeinschaftsrechts zu beachten haben. 147 Erst kürzlich hat der Europäische Gerichtshof festgestellt, daß die Mitgliedstaaten insbesondere auch bei jeder Einschränkung der Grundfreiheiten an die Grundrechte des Gemeinschaftsrechts gebunden sind. 148 Gerade die letztere Fallgruppe einer Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten wird relevant bei Werbeverboten, die selbständig von den einzelnen Mitgliedstaaten erlassen werden, denn solche nationalen Werbeverbote beeinträchtigen fraglos die Freiheit des Warenverkehrs in der Gemeinschaft. Ebenso sind die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung von EG-Richtlinien in das innerstaatliche Recht an die Grundrechte des Gemeinschaftsrechts gebunden. Für den Fall, daß eine Richtlinie den Mitgliedstaaten einen gewissen Spielraum bei der inhaltlichen Umsetzung zubilligt, der nicht notwendig zu einer Verletzung von Grundrechten fuhren muß, sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, die Richtlinie unter Beachtung der Grundrechte des Gemeinschaftsrechts umzusetzen. Sie haben die Richtlinie insofern "grundrechtskonform" auszulegen und in innerstaatliches Recht zu überführen. Die hier untersuchte Richtlinie läßt in Art. 3 den Mitgliedstaaten nur eine sehr eingeschränkte Freiheit beim Verbot der Werbung in Tabakgeschäften; hier dürfen auf nationaler Ebene Ausnahmen vom Werbeverbot eingeräumt werden. Grundrechtsvorgaben des Gemeinschaftsrechts für die nationale Umsetzung betreffen jedoch nicht die Fragestellung dieser Analyse. 146 EuGH Urteil v. 25. November 1986 - verb. Rs. 201 u. 202/85 (KIenseh), Slg. 1986, S. 3477 (3505-3512); EuGH Urteil v. 11. Juli 1985 - verb. Rs. 60 u. 61/84 (Cim!iheque), Slg. 1985, S. 2605 (2618-2628).
147
Wachauf-Urteil, a.a.O. (Fußn 115), S. 2611-2614, 2639-2641.
148
ERT-Urteil, a.a.O. (Fußn. 116).
94
D. Die Vereinbarkeit mit den Grundrechten
III. Internationale Menschenrechte als Rechtserkenntnisquelle für Grundrechte des Gemeinschaftsrechts 1. Meinungs- und Pressefreiheit Bei Werbeverboten stellt sich sowohl bei internationalen Verbürgungen als auch nationalen Verfassungen die Frage, wie weit die Meinungs- und Pressefreiheit sich auch auf die unterschiedlichen Formen von Werbungsäußerungen erstreckt. a) Europäische Menschenrechtskonvention (Art. 10 EMRK) Der Schutz des Rechts auf freie Meinungsäußerung wird in Art. 10 Abs. 1 der Europäische Menschenrechtskonvention wie folgt formuliert: "Jeder hat Anspruch auf freie Meinungsäußerung. Dieses Recht schließt die Freiheit der Meinung und die Freiheit zum Empfang und zur Mitteilung von Nachrichten oder Ideen ohne Eingriffe öffentlicher Behörden und ohne Rücksicht aufLandesgrenzen ein. Dieser Artikel schließt nicht aus, daß die Staaten Rundfunk-, Lichtspiel- oder Fernsehunternehmen einem Genehmigungsverfahren unterwerfen. ,,149
aa) Der Schutzbereich des Art. 10 EMRK und die Werbung Der Schutzgehalt des Artikel 10 Absatz 1 konzentriert sich auf die Freiheit des
Meinungsbildungsprozesses in Unabhängigkeit von staatlicher Beeinflussung. 150 Die im Satz 2 gegebenen Konkretisierungen lassen sich systematisch in eine aktivem
und eine gleichwertige passive l52 Kommunikationsfreiheit unterscheiden.
Auch wenn die Pressefreiheit in Artikel 10 nicht ausdrücklich genannt ist, wird allgemein als selbstverständlich angenommen, daß alle Arten von Druckerzeugnissen wie etwa Bücher, Zeitungen, Zeitschriften, Plakate, Flugblätter etc. erfaßt sind, da der Schutzumfang des Artikel 10 nicht auf bestimmte Medien eingeschränkt ist.
149 BGB!. 1952 n S. 685. Bei der deutschen Textfassung ist zu beachten, daß die Konvention ursprünglich in englischer und französischer Sprache formuliert worden ist und nur diese beiden Fassungen rur die Auslegung in gleicher Weise maßgeblich sind. 150 Vgl. van Dijk/van Hoof, Theory and Practice ofthe European Convention on Human Rights (2. Autl., 1990), S. 407 fund 413. 151 "Freiheit ... zur Mitteilung von Nachrichten oder Ideen"; "freedom to ... impart information and ideas"; "liberte ... de communiquer des informations ou idees".
152 "Freiheit zum Empfang ... von Nachrichten und Ideen"; "freedom ... to receive information and ideas"; "liberte de recevoir ... des information ou idees".
m. Internationale Menschenrechte
95
Dies hat der Gerichtshoffur Menschenrechte ausdrücklich anerkannt, z.B. in seinem grundlegenden Sunday Times Urteil. 153 Gerade Entscheidungen des Gerichtshofes für Menschenrechte aus den letzten Jahren zeigen deutlich, daß der Schutzbereich des Artikel 10 alle Formen der Kommunikation umfassen soll, solange sie nur geeignet sind, Informationen und Ideen zu übertragen. So heißt es im Urteil zum Falle Autronic AG: " ... Article 10 applies not only to the content of information but also to the means of transmission or reception since any restriction imposed on the means necessarily interferes with the right to receive and impart information. ,,154
Die Unbegrenztheit der Medien der Kommunikation ist bei der Auslegung des Artikel 10 insofern eine Reflexwirkung des Schutzes des Inhalts der Kommunikation. Fraglich ist, ob auch die Werbung vom Schutzbereich des Artikel 10 umfaßt wird. Inhaltlich wird von Artikel 10 jede Mitteilung geschützt, die der Meinungsbildung dienlich sein kann. Auch wenn die Menschenrechtsorgane in Straßburg durchaus einen weiten Begriff vom Inhalt der Informationen vertreten, die durch Artikel 10 erfaßt werden, so ist die Einbeziehung der Werbung in diesen Schutzbereich keineswegs selbstverständlich. Die Kommission und der Gerichtshof haben noch nicht endgültig dazu Stellung bezogen, wie weit sie bestimmte Formen der Werbung in den Schutzbereich des Art. 10 EMRK einbeziehen wollen. Die Europäische Menschenrechtskommission befaßte sich erstmals mit Werbung
im Zusammenhang mit Artikel 10 im Falle Church 0/ Scientology v. Sweden. 155 In
diesem Verfahren beklagten sich die Beschwerdeführer über eine gerichtliche Verfugung, die ihnen untersagte, bestimmte Formulierungen in einer Werbeanzeige zu verwenden, die in ihrem Mitteilungsblättchen für Mitglieder publiziert wurde. Die Kommission sah dies im Ergebnis als einen Eingriff in den Schutzbereich von Artikel 10 Absatz 1 an, der jedoch unter Gesichtspunkten des Verbraucherschutzes, 153 Fall Sunday Times, Urteil vom 26. April 1979, Serie A Nr. 30. Zur Bedeutung der Pressefreiheit siehe auch die jüngere Entscheidung im Falle Oberschlick, Urteil vom 22. November 1990, Serie A Nr. 204, Rn. 57 f.
IS4 Fall Autronic AG, Urteil vom 22. Mai 1990, Serie A Nr. 178, Rn. 47. Speziell zur Einspeisung von empfangenen Radiosendungen in ein Kabelnetz siehe den Fall Groppera Radio AG et al., Urteil vom 28. März 1990, Serie A Nr. 173, Rn. 55, wo der Gerichtshof es nicht für erforderlich erachtete, eine präzise Definition und Unterscheidung von "information" und "ideas/idees" zu geben. ISS FalIX and Church ofScientology v. Sweden, Antrag Nr. 7805/77, Entscheidung vom 5. Mai 1979, Decisions and Reports Bd. 16 (1979), S. 68 fT., 73. Siehe dazu die eingehende Darstellung bei Pinto, La liberte d'information et d'opinion en droit international (1984), S. 206-208.
D. Die Vereinbarkeit mit den Grundrechten
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also dem Schutze der Rechte anderer Personen im Sinne von Absatz 2, gerechtfertigt war. In ihrer Entscheidung wurde die Schutzwürdigkeit der informativen Werbung angenommen, deren Grenzen allerdings nicht eindeutig klargestellt: " ... the Commission is not of the opinion that commercial'speech' as such is outside the protection conferred by Article 10 Cl), ... "IS6 Der Schutz der informativen Werbung wurde in einer späteren Entscheidung von der Kommission ausdrücklich bestätigt.ls7 Im übrigen verraten nicht nur die Formulierung "commercial speech" sondern auch die in den Kommissionsentscheidungen verfolgte Argumentation deutlich eine starke Anlehnung an die Rechtsprechung des u.S.-amerikanischen Supreme Court zum Schutz der Werbung. In einem späteren Verfahren vor Kommission und Gerichtshof für Menschenrechte, dem Falle Bartholdls8 , haben beide Konventionsorgane eine Stellungnahme zum Schutze der Werbung unter der Konvention bewußt ausgeklammert. Dem Beschwerdeführer war vorgeworfen worden, er habe durch Stellungnahmen gegenüber der Presse, die anschließend sehr werbewirksam publiziert worden waren, Regeln des lauteren Wettbewerbs und tierärztliche Standesregeln verletzt. Die Bundesrepublik Deutschland plädierte unter anderem, die publizierten Angaben des Beschwerdeführers stellten Werbernaßnahmen dar, die keinen Schutz unter Artikel 10 genössen. Sowohl Kommission als auch Gerichtshof qualifIzierten die fraglichen Äußerungen jedoch als Presseinterview und nicht als Werbung, über deren Schutz folglich nicht mehr entschieden werden mußte: " ... Article 10 is applicable, without needing to inquire in the present case whether or not advertising as such comes within the scope of the guarantee under this provision. "IS9
Nach Aussage des Gerichtshofes hat die Kommission hier wiederum als obiter dictum und unter Hinweis auf den Fall Church 01 Scientology v. Sweden dargestellt, daß "commereial advertising did not fall outside the scope and intendment of Artiele 10".160
IS6
FallX and Church ofScientology v. Sweden, a.a.O. (Fußn. 155), S. 73.
IS7 Fall Liljenberg et al. v. Sweden, Antrag Nr. 9664/82, Entscheidung vom 1. März 1983 (erwähnt in Cohen-Jonathan, La Convention Europeenne des Droits de l'Homme (1989), S. 460. ISS Fall Barthold, Urteil vom 25. März 1985, Serie A Nr. 90. Siehe dazu die eingehende Darstellung bei Pinto, La liberte d'infonnation et d'opinion en droit international (1984), S. 208-211.
IS9
Fall Barthold, a.a.O. (Fußn. 158), Rn. 42.
160
Fall Barthold, a.a.O. (Fußn. 158), Rn. 39, S. 20.
ill. Internationale Menschenrechte
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Der neueste Fall vor den Konventionsorganen, der sich mit Publikationen in einem wirtschaftlichen Zusammenhang befaßte, erbrachte ebenfalls keine eindeutige Klärung, wie weit die Werbung vom Schutzbereich des Artikel 10 erfaßt ist. Im Falle Markt Intern Verlag GmbH und Klaus Beermann 161 ging es nicht um eine reine Werbungsanzeige wie im Fall Church 0/ Scientology v. Sweden, sondern um einen redaktionell bearbeiteten Bericht, der durch Wahmehmung wirtschaftlicher Interessen geprägt war. Die Beschwerdeführer hatten Leserbriefe unzufriedener Kunden von Versandgeschäften in einem Artikel veröffentlicht und waren wegen Verstoßes gegen die Regeln des lauteren Wettbewerbs zu einem Ordnungsgeld im F alle einer Wiederholung verurteilt worden. Das von Markt Intern veröffentlichte Blatt sollte die Interessen der mittelständischen Drogisten und Parfümerien gegenüber großen Ketten und dem Versandhandel vertreten. Nach Ansicht der Kommission ist die Meinungsfreiheit in Artikel 10 nicht auf Stellungnahmen von künstlerischem, religiösem, wissenschaftlichem oder politischem Gehalt beschränkt, sondern umfaßt auch die hier vorliegenden Informationen über besondere Geschäftspraktiken. Die Entscheidung enthält dann folgende Klarstellung: "The Commisssion is not required to express an opinion on the question to what extent 'purely competition-related promotional statements' are covered by Article 10, since the publication at issue does not fall into this category ... ,,162
Die Entscheidung der Kommission bietet weder eine Defmition für ein "purely competition-related promotional statement" an, noch legt sie dar, wo die Grenze zu ziehen sei zwischen derart wettbewerbsorientierten werbenden Aussagen einerseits und einer Meinungskundgabe mit wirtschaftlichem Inhalt andererseits. Das Urteil des Gerichtshofs im Falle Markt Intern Verlag GmbH und Klaus Beermann scheint der Argumentation der Kommission genau zu folgen, billigt der Werbung selbst jedoch nicht eindeutig den Schutz des Artikel 10 zu:
"[The article] conveyed information of a commercial nature. Such information cannot be excluded from the scope of Articel 10 (1) which does not apply solely to certain types of information or ideas or forms of expression .. ."163
Dem Urteil des Gerichtshofes kann mit Sicherheit entnommen werden, daß die Mitteilung von "Informationen wirtschaftlicher Art" in den Schutzbereich des Art.
161 Fall Markt Intern Verlag GmbH und Klaus Beermann, Urteil vom 20. November 1989, Serie A Nr. 165. 162 Entscheidung der Kommission, id., Rn. 202, S. 34 (Anschließend folgt ein Verweis auf den früheren Fall Church ofScientology, a.a.O. (Fußn. 155). 163
FaJlMarkt Intern Verlag GmbH und Klaus Beermann, a.a.O. (Fußn. 161), Rn. 26, S.
17. 7 Simma u. a.
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D. Die Vereinbarkeit mit den Grundrechten
10 (I) fällt. Ähnlich wie bei der Entscheidung der Kommission fehlt jedoch auch hier eine klare Definition des Begriffes "Infonnation". Dieser ließe sich zum Beispiel eng auslegen im Sinne einer Mitteilung von Tatsachenbehauptungen; nicht ausgeschlossen erscheint jedoch auch eine weite Auslegung im Sinne jeder gedanklichen Mitteilung. hn letzteren Falle wären wohl auch sämtliche Fonnen der reinen hnagewerbung geschützt, auch wenn sie auf jede F onn schriftlicher Mitteilung verzichtet. Ein klares Bekenntnis ZlUll Schutz jeder Fonn der Werbung kann insofern weder den Urteilsbegrundungen des Gerichthofes noch den Entscheidungsgrunden der Kommission entnommen werden. Festzuhalten bleibt, daß in der Rechtsprechung der Straßburger Organe genügend Präjudizien vorliegen, nach denen auch wirtschaftlich orientierte "Infonnationen" in den Schutzbereich des Art. 10 EMRK einzubeziehen sind. Eine Infonnationen vermittelnde Werbung wird also mit Sicherheit geschützt. Bislang fehlt jedoch ein klares Votum darüber, ob der hnage- oder Erinnerungswerbung, die sich aufbildliche Darstellungen in Verbindung mit dem jeweiligen Warenzeichen beschränkt, ebenfalls der Schutz der Meinungsfreiheit zugute kommt. 164 Drei Argumente sprechen für eine extensive Auslegung des Schutzbereichs, die im Ergebnis jede Fonn der Werbung umfassen würde: - Das erste Argument appelliert an die "Offenheit" des Begriffes "Infonnation". Auch die reine hnagewerbung stellt eine Kommunikation zwischen Produktanbieter und Konsument her und enthält eine Werbebotschaft, die den Konsumenten zum Kauf des Produktes anregen soll. Eine Gedankenmitteilung kann ihr also nicht ohne weiteres abgesprochen werden, auch wenn keine objektiven Tatsachenbehauptungen aufgestellt werden. Gerade die Parallelen zur Kunstfreiheit belegen, daß die Gedankenmitteilung eben nicht in Fonnen sprachlicher Kommunikation erfolgen muß oder etwa gar auf die Mitteilung von Fakten oder Tatsachenbehauptungen beschränkt wird. Es wäre demnach widersprüchlich, wenn man im Bereich der wirtschaftlich orientierten Werbung objektive Tatsachenbehauptungen verlangte, während man gleichzeitig im Bereich der Öffentlichkeitsarbeit ("PR"-Aktionen) zu gesellschaftlichen Zwecken Äußerungen uneingeschränkt zuläßt, die genauso wie die Werbung auf eine emotionale, assoziative Reaktion des Rezipienten zielen. Gerade die Öffentlichkeitsarbeit politischer und
164 Ein Seitenblick auf die Diskussion und Rechtsprechung in Deutschland zeigt, daß ein Schutz der Werbung von deutschen Gerichten meist unter der Rubrik von Art. 12 und 14 GG und nicht der Meinungsfreiheit diskutiert wird (Nachweise bei Degenhardt, in: Bonner Kommentar, Zweitbearbeitung von Art. 5 Abs. 1 und 2, Rn. 149 ff.). Die Berufsfreiheit und das Eigentum werden aber in der EMRK gerade nicht geschützt und sollten auch nicht mittelbar über Art. 10 EMRK erfaßt werden. Dies war der Kern des Plädoyers der Bundesregierung im Falle Markt Intern.
III. Internationale Menschenrechte
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gesellschaftlicher Interessengruppen bedient sich ja der Werbebranche Wld kopiert die Methoden der wirtschaftlich orientierten WerbWlg. So steht denn auch der "Informationsgehalt" politischer Werbeplakate durchaus auf der gleichen Stufe wie wirtschaftliche WerbWlg. - Das zweite Argument stützt sich auf die Auslegoogsmethodik der Straßburger Menschenrechtsorgane. Im Interesse eines möglichst effektiven Schutzes der Rechte des Einzelnen hat der Gerichtshof in ständiger RechtsprechWlg eine autonome Interpretation der Konvention verfolgt. Aus der bisherigen Spruchpraxis zum Effektivitätsprinzip läßt sich ein Gnmdsatz "in dubio pro libertate" entwickeln, der bei der Auslegoog von unbestimmten Rechtsbegriffen zu einer Vermutung für eine extensive Auslegoog des Schutzbereiches der gewährten Menschenrechte führt. 165 - Das dritte Argument beruft sich auf das rechtsstaatliche Gebot der Rechtsklarheit und auch auf Praktikabilitätsargumente der RechtsprechWlgspraxis: Sollte die RechtsprechWlg den Versuch Wlternehmen, Wlter Berufimg auf den fehlenden Informationsgehalt bestimmte Formen der WerbWlg aus dem Schutzbereich des Art. 10 EMRK auszuschließen, so wäre es angesichts der Unbestimmtheit des Begriffs "Information" geradezu unmöglich, die Grenzlinie zwischen geschützter und ungeschützter Werbung klar zu deflnieren. l66 Vor diesem Hintergrund sprechen gute Gründe dafür, zunächst alle Formen der Werbung in den Schutzbereich des Art. 10 EMRK aufZWlehmen. Wie sich zeigen wird, bedeutet eine Erweiterung des Schutzbereichs von Art. 10 EMRK auf alle Formen der WerbWlg jedoch nicht, daß die WerbWlg automatisch auch gegenüber Eingriffen das gleiche Schutzniveau genießt wie etwa politische MeinWlgsäußerungen. bb) Eingriff in die MeinWlgsfreiheit Sobald eine Tätigkeit in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit fällt, stellt jede Einschränkung der gewährten Freiheit einen Eingriff dar, der Wlter den Voraussetzungen des Art. 10 Abs. 2 EMRK gerechtfertigt werden muß. Eine Richtlinie der EG, die die WerbWlg für bestimmte Produkte Wlter anderem in Presseorganen generell untersagt, hindert die Presseorgane daran, von ihnen für die Veröffentlichung bestimmte Anzeigen oder Beilagen den Lesern zur Kenntnis zu bringen, Wld stellt somit eindeutig einen Eingriff in die Freiheit der Presse dar. (Für die Anwen165 Zur Auslegungsmethodik des Gerichtshofes siehe Merrills, The development of internationallaw by the European Court ofHuman Rights (1988). 166
7*
Lerche, Werbung und Verfassung (1967), S. 76 ff.
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D. Die Vereinbarkeit mit den Grundrechten
dung einer de minimis-Ausnahme, die wegen Geringfügigkeit einen Eingriffverneinen würde, gibt es keine Anhaltspunkte). cc) Rechtfertigung des Eingriffs nach Art. 10 Absatz 2 EMRK Die möglichen Einschränkungen der Meinungsfreiheit werden in Art. 10 Abs. 2 der Konvention wie folgt formuliert: "Da die Ausübung dieser Freiheiten Pflichten und Verantwortung mit sich bringt, kann sie bestimmten, vom Gesetz vorgesehenen Formvorschriften, Bedingungen, Einschränkungen oder Strafandrohungen unterworfen werden, wie sie vom Gesetz vorgeschrieben und in einer demokratischen Gesellschaft im Interesse der nationalen Sicherheit, der territorialen Unversehrtheit oder der öffentlichen Sicherheit, der Aufrechterhaltung der Ordnung und der Verbrechensverhütung, des Schutzes des Gesundheit und der Moral, des Schutzes des guten Rufes oder der Rechte anderer, um die Verbreitung von vertraulichen Nachrichten zu verhindem oder das Ansehen und die Unparteilichkeit der Rechtsprechung zu gewährleisten, unentbehrlich sind. ,,167
Das Merkmal "prescribed by law" macht deutlich, daß jeder Eingriff in ein Menschenrecht formal zunächst einer rechtlichen Grundlage bedarf. Ein nationales Gesetz, das vom Parlament verabschiedet worden ist, wird nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte dieses formale Kriterium in jedem Falle erfüllen. l6S Eine Richtlinie der EG weist unübersehbare Parallelen mit einem nationalen Gesetz auf und ist in Art. 189 Absatz 3 EWGV ausdrücklich als Rechtsakt der Europäischen Gemeinschaften anerkannt.
In der Literatur wird vereinzelt verlangt, daß ein Eingriff in die Rechte der EMRK letztlich auf eine Ermächtigung durch einen demokratisch legitimierten Gesetzgeber zurückgehen müsse. Dies wird damit begründet, daß jede Delegation von Gesetzgebungsbefugnissen am Kriterium einer "democratic society" zu messen sei. 169
167 BGBI. 1952 II S. 686. Bei der deutschen Textfassung ist zu beachten, daß die Konvention ursplÜnglich in englischer und französischer Sprache formuliert worden ist und nur diese beiden Fassungen fur die Auslegung in gleicher Weise maßgeblich sind.
161 Auch das Fallrecht der Mitgliedstaaten mit einer Common-Law Tradition ist vom Gerichtshof als "law" anerkannt worden. Siehe z.B. das Urteil im Falle Sunday Times, a.a.O. (Fußn.153), S.31. 169 So etwa Fu"er, La pratique des etats membres du Conseil de l'Europe, in: La Circulation des informations et le droit international (Colloque de Strasbourg 1978), S. 65-85 (84): " ... prevues par la loi, a savoir une acte emanant de l'autorite representative de la legitimite democratique". Auch ausdrückliche Zweifel an der ausreichenden demokratischen Legitimation von Gesetzgebungsakten der EG werden geäußert, siehe van Dijklvan Hoof, Theory and Practice of the European Convention on Human Rights (2. Aufl. 1990), S. 580.
III. Internationale Menschenrechte
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Letztlich beruhen die Rechtsetzungsbefugnisse der EG jedoch auf der Ratifikation des EWGV und der Einheitlichen Europäischen Akte dmch demokratisch legitimierte nationale Parlamente. Bei aller Kritik am DemokratiedefIzit der Emopäischen Gemeinschaften 170 fehlt es demnach dennoch nicht an einer zumindest mittelbar demokratisch legitimierten Rechtsgrundlage. Das Erfordernis einer ausreichenden Rechtsgrundlage verweist auf das interne Rechtssystem der Staaten, bzw. im vorliegenden Falle der Europäischen Gemeinschaft, die Eingriffe in die geschützten Rechtspositionen vornehmen. Die Überprüfung der Vereinbarkeit eines Rechtsaktes mit insbesondere dem internen Verfassungsrecht obliegt in erster Linie den nationalen Organen, bzw. der EG. Die Zw-ückhaltung der Kommission und des Gerichtshofes in Straßburg beruht jedoch allein auf Kompetenzerwägungen und Gesichtspunkten des "judicial self-restraint".171 Implizit verlangt die Spruchpraxis der Organe der Europäischen Menschenrechtskonvention eindeutig, daß den formellen und materiellen Anforderungen des internen Rechts bei Erlaß des einschränkenden Rechtsaktes entsprochen werden muß. Die Bindung des nationalen Normgebers an die eigene Verfassung und die Selbstbindung dmch eigene Verfahrensordnungen gehören zu den fundamentalsten Gehalten des Rechtsstaatsprinzips. Die Beachtung rechtsstaatlicher Grundsätze ist nach Art. 3 i. V.m. Art. 4 Satzung des Emoparates sogar Voraussetzung für die Mitgliedschaft im Europarat. l72 Sofern der Europäischen Gemeinschaft eine Kompetenz zum Erlaß von absoluten Werbeverboten fehlt, wäre auch der Eingriff in Art. lO EMRK wegen Verstoßes gegen rechtsstaatliche Grundsätze nicht gerechtfertigt. Nur für den Fall, daß absolute Werbeverbote zum Zwecke der Rechtsharmonisierung auf Art. lOOa EWGV gestützt werden könnten, stellt sich die Frage, ob diese Eingriffe verhältnismäßige Mittel zur Erreichung von Zwecken sind, die von der Emopäischen Menschenrechtskonvention in Art. lO Absatz 2 anerkannt werden.
170 Siehe die Hinweise bei Weiler, The Transformation of Europe, in: 100 Yale L. J. (1991), S. 2403 (2466 ff.). 171 Vgl. Fall Barthold, a.a.O. (Fußn. 158), S. 22: n... the logic ofthe system ofsafeguard established by the Convention sets limits upon the scope of the power of review exercisable by the Court in this respect. It is in the first place for the national authorities, notably the courts, to interpret and apply the domestic law: the national authorities are, in the nature ofthings, particularly qualified to settle the issues arising in this connection. n
172 Vgl. dazu auch den dritten Absatz der Präambel der Satzung des Europarates: n... individual freedom, politica\ liberty and the rule oflaw, principles which form the basis ofall genuine democracyn. BGBI. II 1950, S. 263.
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D. Die Vereinbarkeit mit den Grundrechten
Das Kriteriwn der Rechtsklarheit ist bei genau bestimmten Totalverboten der Werbung sicherlich unproblematisch erfüllt. Der Gerichtshof verlangt jedoch weiter, daß die einschränkende Nonn für den Einzelnen erkennbar sein muß, so daß dieser sein Verhalten auf die rechtlichen Anforderungen einstellen kann. Da eine unmittelbare Anwendung von Richtlinien zu Lasten des Bürgers im Gemeinschaftsrecht grundsätzlich nicht anerkannt ist, kann ein Eingriff in die Rechte des Einzelnen erst bei Umsetzung der Richtlinie in nationales Recht eintreten. Von diesem Zeitpunkt an liegt jedoch eine amtliche Veröffentlichung des betreffenden Gesetzes vor, die den Kriterien der Vorhersehbarkeit des Rechtseingriffs genügt. Das Merkmal "necessary in a democratic society": Der Eingriff in die Meinungsfreiheit muß einem der in Art. 10 Absatz 2 EMRK enwnerativ aufgezählten Zwecke dienen und die Kriterien der Verhältnismäßigkeit in Bezug auf das jeweilige Schutzgut erfüllen, wobei den Mitgliedstaaten ein gewisser Beurteilungsspielrawn ("margin of appreciation") eingeräwnt wird. Erklärtes Ziel der EG-Richtlinie ist zunächst die Harmonisierung der nationalen Rechtsvorschriften zum Verbot der Werbung für bestimmte Produkte. Die Rechtsharmonisierung ist ausdrücklich nicht als rechtfertigender Zweck in Art. 10 Absatz 2 EMRK aufgeführt. Die Entscheidungspraxis der Kommission und des Gerichtshofes zeigt jedoch, daß die Straßburger Organe die von der Regierung angegebenen Eingriffszwecke selbst einer eigenständigen Wertung unterziehen. So ist es wiederholt vorgekommen, daß Kommission oder Gerichtshof einen anderen Eingriffszweck angenommen haben als die Regierungen des Vertragsstaates. Im Falle Bartholdrechtfertigte die Bundesregierung Deutschland das Werbeverbot für Tierärzte damit, daß die Dientsleistungen der Tierärzte letztlich dem Schutz der menschlichen Gesundheit dienten und deshalb ein Werbeverbot von Art. 10 Absatz 2 EMRK gedeckt sei. Die Kommission sah den Eingriffszweck jedoch im Schutz der Rechte anderer, insbesondere der Kunden. 113 Kommission und Gerichtshoffolgen also nicht der subjektiven Zwecksetzung des Nonngebers, sondern vertreten eine objektive autonome Bestimmung der Eingriffszwecke im konkreten Falle. Die Rechtsharmonisierung kann nicht unter den Eingriffszweck "Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung" subsumiert werden. Da es sich wn eine Einschränkung eines Menschenrechts handelt, ist dieser unbestimmte Rechtsbegriff eng auszulegen. Der englische Text spricht von "prevention of disorder" und verdeutlicht, daß der Eingriff notwendig sein muß zur Venneidung einer Störung, die die Grundlagen der betreffenden Ordnung berührt. Die öffentliche Ordnung ist in keinem Falle gleichzusetzen mit dem nationalen "ordre public" und schützt nicht
17]
Siehe Fall Barthold, a.a.O. (Fußn. 158), S. 23 (Gerichtshof) und S. 37 (Kommission).
ill. Internationale Menschenrechte
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jegliche staatliche Politik. 174 Mit Frowein ist daran festzuhalten, daß "öffentliche Ordnung" in Art. 10 Abs. 2 EMRK noch arn ehesten mit dem Begriff der "öffentlichen Ordnung" im deutschen Polizeirecht identifIziert werden kann. m Damit ist klargestellt, daß Ordnung nicht damit gleichgesetzt werden kann, daß in einem sozialen Bereich einheitliches Verhalten vorgeschrieben wird. Da Rechtsharmonisierung im Ergebnis nur unterschiedliche nationale Normen durch eine homogene EG-weite Regelung ersetzen soll, sind die Grundlagen einer Ordnung keineswegs berührt. Die Einheitlichkeit von Normen als solche dient im Grunde genommen nur der Vereinfachung des Handelsverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten und der Herstellung des Binnenmarktes. Die Rechtsharmonisierung steht insofern Normen gleich, die zur Verwaltungserleichterung erlassen werden. 176 Da der Gesetzgebungszweck "Rechtsharmonisierung" selbst bereits von der EMRK nicht als legitimer Grund eines Rechtseingriffs anerkannt wird, braucht insofern nicht auf die Frage eingegangen zu werden, ob der Eingriff zur Realisierung dieses Zweckes verhältnismäßig ist. 177 Der Schutz der Gesundheit ist in Art. 10 Absatz 2 EMRK jedoch ausdrücklich als ein öffentliches Interesse genannt, welches Eingriffe in die Meinungsfreiheit rechtfertigen kann. Verhältnismäßigkeit und Prüfungsstandard: Sowohl Kommission als auch Gerichtshofhaben wiederholt die besondere Bedeutung der Presse für den Bestand und das Funktionieren einer demokratischen Gesellschaft hervorgehoben. 178 Grundsätzlich wird deshalb für Eingriffe in die Pressefreiheit ein "pressing social need" gefordert, also eine strenge Verhältnismäßigkeitsprüfung durchgeführt. 179 Von diesern
174 Engel, Der Ordnungsvorbehalt in den Schranken der Europäischen Menschenrechtskonvention, in: Schweizerisches Jahrbuch für internationales Recht (1989), S. 41 ff., 86. 175 Frowein, Das Problem des grenzüberschreitenden Informationsflusses und des "domaine reserve", in: 19 Berichte der deutschen Gesellschaft für Völkerrecht (1979), S. 1-38, 24.
176 Für letztere hat die Kommission angedeutet, daß "administrative convenience" Eingriffe in Menschenrechte auf keinen Fall rechtfertigen könne. Siehe Europäische Kommission für Menschenrechte, Application No. 5712172, Entscheidung v. 18. Juli 1974,46 Collection of Decisions S. 112, 116. 177 Davon zu unterscheiden ist die oben in Abschnitt C. behandelte Frage, ob ein Bedarf zur Rechtsharrnonisierung nachweisbar ist und der Inhalt der Richtlinie verhältnismäßig ist zur Befriedigung dieses Harrnonisierungsbedarfs. 178
Siehe nur den Fall Lingens, Urteil vom 8. Juli 1986, Serie A Nr. 103, S. 26, para. 41.
179
Siehe Fall Barthold, a.a.O. (Fußn. 153), S. 25, para. 55.
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D. Die Vereinbarkeit mit den Grundrechten
Grundsatz macht die Kommission jedoch eine ausdrückliche Ausnahme, wenn es spezifisch um werbende Aussagen geht: ..... the Commission considers that the test of'necessity' in the second paragraph of Article 10 should therefore be a less strict one when applied to restraints imposed on commercial 'ideas' ... 180
Auch der Gerichtshof betont in ständiger Rechtsprechung, daß die Intensität der von ihm ausgeübten Kontrolle von den jeweiligen Umständen abhängig ist. 181 Nach der vom Gerichtshof entwickelten Doktrin der "margin of appreciation" wird den Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der Konvention ein gewisser Beurteilungsspielraum ("margin of appreciation") zugestanden insbesondere bei der Beurteilung der Frage, welche Eingriffe zum Zweck der Realisierung bestimmter Schutzzwecke noch als verhältnismäßig angesehen werden können. Der Umfang dieses Beurteilungsspielraumes war innerhalb des Gerichtshofes bei der Entscheidung über den bisher einzigen Fall, bei dem es um Einschränkungen der Publikationsfreiheit im wirtschaftlich relevanten Berech ging, der Entscheidung im Falle Markt Intern, heftigst umstritten. Ähnlich wie bei der Kommission heißt es in den Entscheidungsgründen des Gerichtshofes: "Such a margin of appreciation is essential in commercial matters and, in particular, in an area as complex and fluctuating as that ofunfair competition ... I82
Sowohl beim Gerichtshof als auch der Kommission herrscht Uneinigkeit darüber, wie diese "margin of appreciation" dogmatisch zu verstehen ist. Während einzelne Mitglieder der Organe dahin tendieren, darin eher eine Beschränkung der Überprüfungszuständigkeit des jeweiligen Organs zu sehen, interpretieren andere dieses Konzept eher im Sinne einer verringerten Überprüfungsdichte. So erinnern einzelne Formulierungen der "margin of appreciation" stark an Vorstellungen unterschiedlich dichter Prüfung der Verhältnismäßigkeit, an Rücksichtnahmen gegenüber der stärkeren Sachnähe und Entscheidungskompetenz des nationalen Gesetzgebers oder auch an die Respektierung eines Beurteilungsspielraums des Gesetzgebers. Unabhängig davon, wie genau die Grundlagen der "margin of appreciation" dogmatisch konstruiert werden, bleibt festzuhalten, daß das Straßburger Gericht im Ergebnis in Werbesachen eine weniger strikte Prüfung der Verhältnismäßigkeit durchfuhrt. Die Prüfung beschränkt sich dann auf die Frage, ob überhaupt vernünftige Gründe für eine Einschränkung der Werbung bestehen. Wenn unterschiedliche
180 Fall X and Scientology Church v. Sweden, a.a.O. (Fußn. 155), S. 73; siehe auch die Stellungnahme der Kommission im Fall Markt Intern, a.a.O. (Fußn. 161), S. 39, para. 231.
181
Fall Barthold, a.a.O. (Fußn. 158), S. 25, para. 55.
182
Fall Markt Intern, a.a.O. (Fußn. 161), S. 20, para. 33.
III. Internationale Menschenrechte
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Standpunkte zur Angemessenehit und Erforderlichkeit einer Maßnahme denkbar sind, wird der Gerichtshof die Einschätzung der nationalen Legislative oder Verwaltung nicht durch seine eigene ersetzen, sondern das nationale Ermessen respektieren. Als Ergebnis kann festgehalten werden, daß im Bereich der wirtschaftlich orientierten Kommunikation eindeutig weitergehende Einschränkungen zulässig sind, als in anderen Bereichen der politischen und gesellschaftlichen Kommunikation. Für die Verhältnismäßigkeit von Grundrechtseingriffen im Bereich der Werbung reicht es aus, wenn die staatliche Maßnahme auf vernünftige Erwägungen gestützt werden kann, die nicht offenbar fehlerhaft sind. b) VN-Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPbpR) Alle Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften sind dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte beigetreten. Die selben Staaten sind aber auch sämtlich Parteien der Europäischen Menschenrechtskonvention. In den beiden Vertragswerken zeigen sich beim Schutz einzelner Menschenrechte weitreichende Parallelen. So stimmt auch Art. 19 IPbpR in Aufbau und Inhalt weitgehend mit Art. 10 EMRK überein.
Art. 19 Abs. 2 IPbpR erstreckt den Schutzbereich auf sämtliche Beeinträchtigungen der Meinungsäußerungsfreiheit und entfaltet insofern auch eine horizontale Drittwirkung. Diese horizontale Wirkung des IPbpR läßt sich mittelbar insbesondere auch aus Art. 2 Absatz 3 Ziffer a) ableiten: Danach ist Rechtsschutz gegen Verletzungen der im Pakt garantierten Rechte auch dann zu gewährleisten ("notwithstanding", "alors meme"), wenn staatliche Organe die Verletzung begehen. 183 Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit wird in Art. 19 Abs. 2 des Paktes wie folgt formuliert: 11 Jedermann hat das Recht auf freie Meinungsäußerung; dieses Recht schließt die Freiheit ein, ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen Informationen und Gedankengut jeder Art in Wort, Schrift oder Druck, durch Kunstwerke oder andere Mittel eigener Wahl sich zu beschaffen, zu empfangen und weiterzugeben. 11
Hinsichtlich des persönlichen Anwendungsbereichs ist ein Unterschied zwischen der EMRK und dem IPbpR festzustellen. Während die EMRK ihren persönlichen Anwendungsbereich eindeutig auch auf Personengruppen und juristische Personen
183 So ausdrücklich auch Nowak, UNO-Pakt über bürgerliche und politische Rechte und Fakultativprotokoll- CCPR-Kommentar (1989), Art. 2 Rn. 20 (insbes. Fußn. 60), Art. 19 Rn. 18 f.
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D. Die Vereinbarkeit mit den Grundrechten
erstreckt, scheinen nach dem Wortlaut von Art. 2 Absatz I IPBPR die Staaten nur verpflichtet, die Rechte des Paktes ohne jedwede Diskriminierung allen "Individuen" zu gewähren. Da auch Art. I und 2 des Fakultativprotokolls nur von einem Beschwerderecht des "Individuums" sprechen, schließen einige Autoren daraus, daß juristische Personen keine Beschwerdelegitimation besitzen. 184 Eine Auswertung der travaux preparatoires ergibt keine klare Antwort auf die Frage, ob der Schutz des Paktes sich auch auf juristische Personen erstreckt. Bei den Beratungen im Dritten Ausschuß der Generalversammlung schlug die Vertreterin Japans vor, "individuals" durch "persons" zu ersetzen, gerade um auch juristische Personen deutlich zu erfassen, hatte damit jedoch keinen Erfolg. 18s Andere Äußerungen deuten hingegen an, daß durch die Formulierung in erster Linie Umgehungen des Schutzes des Individuums verhindert und nicht etwa die Rechtsfilhigkeitjuristischer Personen aberkannt werden sollte. 186 Systematisch spricht filr die Einbeziehung juristischer Personen auch, daß im selben Art. 2 in Absatz 3 bereits von "Person" gesprochen und die Rechtsschutzgarantie also gerade nicht auf Individuen beschränkt wird. Darüberhinaus läßt sich teleologisch argumentieren, daß einige Rechte des Paktes einen starken Gruppenbezug aufweisen (z.B. Art. I, Art. 18 Absatz 3, Art. 21, Art. 22) und insofern eine Beschränkung des Schutzes aufIndividuen als Rechtsträger der kollektiven Orientierung dieser Rechte widersprechen WÜrde. Aus diesen Gründen kann davon ausgegangen werden, daß auch juristische Personen und Personengruppen in den Anwendungsbereich des Paktes fallen. 187 Wird die Werbung vom IPbpR geschützt? Der französische Text des Art. 19 Abs. 2 spricht von "liberte d'expression", der englische von "freedom of expression". Teilweise wird unter Berufung auf den Wortlaut der französischen und englischen Textfassung der Schutzwnfang auf Äußerungen aller Art ausgedehnt, gleichgültig ob es sich um "Meinungen, Tatsachen, Informationen, unterhaltende oder werbende Aussagen" handelt. l88 Bei näherer Betrachtung erscheint diese Annahme jedoch keineswegs selbstverständlich.
184 Vgl. Nachweise bei Nowak, Die Durchsetzung des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte, EuGRZ (1980), S. 532ff. (538, Fußn. 68). 185 Siehe dazu die Sitzungsprotokolle der 1257. bis 1259. Sitzung, D.N. Dok. AlC.3/SR.1257-1259. 186 Vgl. D.N. Dok. AlC.3/SR.1257 para. 22 (Stellungnahme des Vorsitzenden Diaz Casanueva), D.N. Dok. AlC.3/SR.1258 para 2 (Stellungnahme des rumänischen Vertreters Ionascu). 187
Nowak, CCPR-Kommentar, a.a.O. (Fußn. 183), Art. 2 Rn. 24 f.
188
So Gomig, Äußerungsfreiheit und Informationsfreiheit als Menschenrechte (1988), S.
252.
III. Internationale Menschenrechte
107
Der Pakt stellt letztlich einen Komprorniß dar, der im harten Ringen zwischen den antagonistischen Auffassoogen der westlichen ood der (ehemals) sozialistischen östlichen Staaten ausgehandelt worden ist. Die Zugeständnisse des Westens zeigen sich z.B. deutlich in Art. 19 Abs. 3 Satz I des Paktes. Dabei bemühten sich beide Blöcke, jeweils ihre eigene nationale Verfassoogsvorstelloog vom Schutz der Menschenrechte auf internationaler Ebene durchzusetzen. Auch wenn die westliche Position sich zwar in den Gnmdsätzen völkerrechtlich durchgesetzt hat, wird allgemein zugestanden, daß der Pakt als Kompromiß einen völkerrechtlichen Mindeststandard darstellt, der allerdings nicht den Mindeststandard der westlichen Staaten erreicht, wie er etwa in der EMRK niedergelegt ist. 189 Dem traditionellen sozialistischen Rechtsdenken war eine streng individualistische Konzeption subjektiver Rechte völlig fremd. 190 Gänzlich oodenkbar erschienen auch groodrechtliche Gewährleistungen im Sinne eines status negativus, die in planwirtschaftlichen Systemen die private ooternehmerische Tätigkeit, also auch die Werbung dafur, vor staatlichen Eingriffen schützen. Gerade aus dem sozialistischen Lager gibt es daher allenfalls Stellungnahmen, die z.B. in der FinanziefWlg der Presse durch Werbeanzeigen eine Gefahr für die Freiheit des Meinoogsbildoogsprozesses sahen. 191 Die westlichen Staaten bemühten sich um eine individualistische ood pluralistische Konzeption der Meinoogsfreiheit; die Staaten sollten durch den Pakt verpflichtet werden, innerstaatlich einen freien Meinoogsbildoogsprozeß ohne staatliche ReglementiefWlg ood LenkWlg zu dulden. 192 Was die Haltung der westlichen Staaten zum Schutz der Werboog betrifft, muß besonders berücksichtigt werden, daß die obersten Verfassoogsgerichte in einigen westlichen Staaten zur Zeit der Beratoogen des Paktes sich eindeutig gegen einen Schutz der Werboog im Rahmen der Meinoogsfreiheit ausgesprochen hatten. 193 Vor diesem Hintergrund muß bezweifelt werden, daß der im Pakt etablierte Mindeststandard der Meinoogsfreiheit sich tatsächlich auch auf die Werboog erstrecken sollte.
189 Vgl. etwa Tomuschat, Die Bundesrepublik Deutschland und die Menschenrechtspakte der Vereinten Nationen, 26 VN (1978), S. 1 f1 (4); Streinz, Meinungs- und Informationsfreiheit zwischen Ost und West (1981), S. 117 ff. 190 v. Mangoldt, The Cornrnunist Concept of Civil Rights and Human Rights under International Law, in: G. Brunner u.a. (Hrs.), Before Reforms - Human Rights in the Warsaw Pact States 1971-1988 (1990), S. 27 ff. (35 0. 191 Vgl. z.B. United Nations, Seminar on Freedom ofInformation, Rome, 7-20 April 1964 (UN Doc. ST/TAOIHR/20) S. 26 u. 28. 192
Vg!. die ausführlichen Darlegungen bei Streinz, a.a.O. (Fußn. 189), S. 129-184.
193 Siehe z.B. das Urteil des U.S. Supreme Courts im Falle Valentine v. Christinsen, 316 US 52 (1942).
108
D. Die Vereinbarkeit mit den Grundrechten
Diese restriktive Auslegung des Paktes bezüglich des Schutzes der Werbung wird ferner mittelbar auch dadurch gestützt, daß die travaux preparatoires zum Pakt keine Anhaltspunkte dafür ergeben, daß das Thema der Schutzwürdigkeit der Werbung überhaupt jemals erwogen worden wäre. 194 Auch in den bisherigen Beratungen des Menschenrechtsausschusses sind Beschränkungen oder Verbote der Werbung nicht erörtert worden. 195 Die möglichen Schranken der Meinungsfreiheit werden in Art. 19 Abs. 3 des Paktes wie folgt formuliert: "Die Ausübung der in Absatz 2 vorgesehenen Rechte ist mit besonderen Pflichten und einer besonderen Verantwortung verbunden. Sie kann daher bestimmten, ges etzlich vorgesehenen Einschränkungen unterworfen werden, die erforderlich sind a) fur die Achtung der Rechte oder des Rufs anderer; b) rur den Schutz der nationalen Sicherheit, der öffentlichen Ordnung (ordre public), der Volksgesundheit oder der öffentlichen Sittlichkeit."
Das Merkmal der "Erforderlichkeit" einer Einschränkung etabliert Kriterien einer Verhältnismäßigkeitsprüfung. Wie schon bei der EMRK festgestellt, wurde auch in der Praxis des Menschenrechtsausschusses wiederholt auf einen Beurteilungsspielraum der Mitgliedstaaten bei der Implementierung der Verpflichtungen des Paktes Bezug genommen. 196 Angesichts der erheblichen Divergenzen der ideologischen und politischen Strukturen in den Mitgliedstaaten ist dieser Beurteilungsspielraum gerade bei universellen Menschenrechtsabkommen erheblich weiter zu ziehen als bei regionalen Abkommen zwischen homogeneren Gesellschaftssytemen wie z.B. der EMRK. Abschließend läßt sich folgendes festhalten: Vergleicht man die Formulierung der Menschenrechtsschranken in Art. 10 Abs. 2 EMRK und Art. 19 Abs. 3 IPBPR und berücksichtigt den Charakter des Paktes als globales Menschenrechtsabkommen, so erscheinen nach dem Pakt weitergehende Einschränkungen der Werbefreiheit möglich, als dies, wie oben bereits dargelegt, ohnehin schon nach der Europäischen Menschenrechtskonvention zulässig wäre.
194 Siehe die gesammelten Materialien in Bossuyt, Guide to the "Travaux Preparatoires" of the International Covenant on Civil and Political Rights (1987), S. 378-402.
195 Vgl. die Zusammenfassung der Arbeit des Ausschusses bei McGoldrick, The Human Rights Committee. Its Role in the Development ofthe International Covenant on Civil and Political Rights (1991), S. 459-480. 196 Siehe etwa die Stellungnahme von Tomuschat: UN Doc. E/CN.4/SR 610 pr. 49. Für weitere Nachweise zur "margin of appreciation" in der Praxis des Ausschusses siehe McGoldrick, a.a.O. (Fußn. 190), S. 467f.
m. Internationale Menschenrechte
109
c) Helsinki-Prozeß Zum Status der Verpflichtungen des Helsinki-Prozesses ist anzumerken, daß Vereinbarungen im Rahmen des sogenannten Helsinki-Prozesses nach einhelliger Meinung nicht rechtlich verbindlich sind. Dokumente, die im Rahmen des HelsinkiProzesses angenommen werden, postulieren diesen Ausschluß einer strengen rechtlichen Verbindlichkeit regelmäßig durch den Hinweis, daß diese Dokumente nicht nach Art. 102 der Charta der Vereinten Nationen registrierbar seien. 197 Auch wenn die Helsinki-Dokumente deshalb "nur" als soft law bezeichnet werden können, schließt dies natürlich nicht aus, daß der EuGH sie als Erkenntnisquellen bei der Entwicklung seiner Grundrechtsdogmatik mitberücksichtigt. Hinsichtlich des Schutzumfangs der Meinungsfreiheit setzten sich die westlichen Länder bei den Beratungen in Helsinki u.a. nachdrücklich für eine freiere Verbreitung der Medien in allen Teilnelunerstaaten ein, während der Osten bemüht war, durch Einführung von Schutzklauseln den Informationsfluß zu kontrollieren. Im Katalog der Grundprinzipien bekennen sich die Teilnelunerstaaten im Prinzip VII zur Achtung von "human rights and fundamental freedoms, including the freedom ofthought, conscience, religion or belief, for all without distinction as to race, sex, language or religion".198
Bei allen Bemühungen um einen Schutz der Meinungsfreiheit im Rahmen des Helsinki-Prozesses muß jedoch ernsthaft bezweifelt werden, daß die wirtschaftlich motivierte Werbung ebenfalls in den Schutzbereich dieses Menschenrechts einbezogen werden sollte. Die Schlußakte von Helsinki enthält zwar selbst keinen detaillierten Katalog der Menschenrechte. Sie verweist stattdessen auf die Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und andere internationale Abkommen zum Schutz der Menschenrechte, insbesondere die Internationalen Pakte. 199 Wie oben bereits ausgeführt ist jedoch gerade beim Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte ein Schutz der Werbung äußerst zweifelhaft. Im vierten Teil der Schlußakte, dem sogenannten Korb III, wird die Absicht erklärt, die Verbreitung und den Zugang zu Zeitungen und anderen Druckerzeugnis-
197 Vgl. z.B. die Gipfelerklärung von Helsinki vom 10. Juli 1992, in: Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, Helsinki-Dokument 1992 - Herausforderung des Wandels, Bulletin der Bundesregierung Nr. 82 (23. Juli 1992), S. 777 (781 Rn. 46). 198 Conference on Security and Co-operation in Europe, Final Act [August 1, 1975], 14 LL.M. 1292,1295 (1975).
199 Absatz 8 Prinzip VII der Schlußakte, a.a.O. (Fußn. 198), S. 1296.
110
D. Die Vereinbarkeit mit den Grundrechten
sen zu verbessern. 2OO Dieses wesentliche Anliegen der westlichen Staaten ist in späteren KSZE-Dokwnenten als Verpflichtung und Ziel wiederaufgegriffen worden. 201 Es fehlen jedoch auch hier ausdrückliche Hinweise darauf, ob die Werbung von der Meinungsfreiheit erfaßt ist. Der historische und politische Kontext des Helsinki-Prozesses spricht dafür, daß die Funktion der freien Kommunikation im klassischen Sinne darin gesehen wurde, daß diese die essentielle Gnmdlage für demokratische Gesellschaftsfonnen darstellt und die Beachtung aller anderen Menschenrechte absichert. Die Freiheit der wirtschaftlich motivierten Werbung stand also sicherlich nicht im Vordergrund und ist bislang auch noch nicht auf den Folgetreffen diskutiert worden. Trotz der Zweifel, die hinsichtlich der Einbeziehung der Werbung in den im Helsinki-Prozeß zugrundegelegten Schutzumfang der Meinungsfreiheit bestehen, soll an dieser Stelle kurz auch auf bestehenden Einschränkungen der Meinungsfreiheit eingegangen werden. Der Text der Helsinki -Dokumente erweckt manchmal den Anschein, daß die angesprochenen Freiheitsrechte uneingeschränkt gewährt werden. So stellt die Charta von Paris lediglich fest "... every individual has the right to ... freedom of expression", ohne auf Einschränkungsmö glichkeiten hinzuweisen. 202 Wie bei allen anderen internationalen Verbürgungen der Meinungsfreiheit sind jedoch auch im Rahmen der KSZE die üblichen Einschränkungsmöglichkeiten gegeben. Zum einen ist die einschränkende Ausstrahlung der anderen Gnmdprinzipien der Schlußakte zu beachten. Am Schluß des Prinzipienkataloges der Schlußakte von Helsinki wird zu ihrem Verhältnis untereinander ausgeführt: "All the principles ... will be equally and unreservedly applied, each ofthem being interpreted taking into account the others. ,,203
Diese gegenseitige Beschränkung der Prinzipien wurde gerade im osteuropäischen Schrifttum zur KSZE besonders hervorgehoben. 204 Einschränkungsmöglich-
200
A.a.O. (Fußn. 198), S. 1313 fT. (insbes. 1316).
201 Vgl. etwa Conference on Security and Co-operation in Europe, Concluding Document ofthe Madrid Session [Madrid, September 9, 1983],22 I.L.M. (1983), S. 1395 (1403).
202 Conference on Security and Co-operation in Europe, Charter of Paris for a New Europe and Supplementary Document to Give Effect to Certain Provisions of the Charter [paris, November 21,1990],30 I.L.M. (1991), S. 190 (194). 203 Conference on Security and Co-operation in Europe, Final Act, a.a.O. (Fußn. 198), S. 1292 (1296). 204 Vgl. etwa die Stellungnahme aus DDR-Sicht von Hänisch, Helsinki - Ergebnisse und Perspektiven (1977), insbes. S. 34 ff.
III. Internationale Menschenrechte
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keiten für die Menschenrechte ergeben sich daher insbesondere vor dem Hintergrund von Prinzip I (Staatliche Souveränität): "[The participating States] will also respect each other's right freely to choose and develop its political, social, economic and cultural systems as as its right to determine its laws and regulations" /05
und dem Prinzip VI (Nichteinmischung in innere Angelegenheiten): "The participating States will refrain from any intervention, direct or indirect, individual or collective, in the internal or external affairs falling within the domestic jurisdiction of another participating State ... ".206
Zum anderen zeigt der inhaltliche Verweis in Prinzip VII auf andere internationale Verpflichtungen der Staaten im Bereich des Menschenrechtsschutzes, daß die KSZE sich an diesem Schutzstandard orientiert, die danach bestehenden Schranken der Gnmdrechtsgewährungen also mit einbezieht und nicht über jenes Schutzniveau hinausgeht. Über diese Inkorporierung internationaler Menschenrechtsabkommen gelangen natürlich auch alle ideologischen Auslegungsdivergenzen, die z.B. beim Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte bestehen, auch in die Auslegung der KSZE-Dokumente. Die Möglichkeit der Einschränkung von Grundrechten ist deshalb auch im Rahmen der KSZE-Verpflichtungen selbstverständlich gegeben. So heißt es in bezug auf die Meinungsfreiheit im Schlußdokument der Moskauer Folgekonferenz zur Menschlichen Dimension ausdrücklich: "Any restriction in the exercise ofthis right will be prescribed by law and in accordance with international standards. ,,207
205
Schlußakte von Helsinki, a.a.O. (Fußn. 198), S. 1293.
206 Schlußakte, a.a.O. (Fußn. 198), S. 1294. Vgl. dazu insbesondere Simma, Grenzüberschreitender Informationsfluß und domaine reserve der Staaten, in: Berichte der Dt. Ges. für Völkerrecht Bd. 19 (1979), S. 39 ff. 207 Conference on Security and Co-operation in Europe, Document of the Moscow Meeting on the Human Dimension, Emphasizing Respect for Human Rights, Pluralistic Democracy, the Rule ofLaw, and Procedures fOT Fact-Finding, 30 I.L.M. (1991), S. 1670 (1682). Vgl. so auch schon Conference on Security and Co-operation in Europe, Document ofthe Copenhagen Meeting ofthe Conference on the Human Dimension [Copenhagen, June 29,1990],29 I.L.M. (1990), S. 1305 (1311). Auch die jüngeren KSZE-Dokumente enthalten nahezu identische Formulierungen zu den Einschränkungsmöglichkeiten, vgl. Conference on Security and Co-operation in Europe, Report to the CSCE Council from the CSCE Seminar ofExperts on Democratic Institutions [Oslo, November 15, 1991],31 I.L.M. (1992), S. 374 (384); Conference on Security and Co-operation in Europe, Report ofthe CSCE Meeting of Experts on National Minorities [Geneva, July 1-19, 1991],30 I.L.M. (1991), S. 1692 (1701).
112
D. Die Vereinbarkeit mit den Grundrechten
Als Ergebnis kann festgehalten werden, daß bei aller Bedeutung, die dem KSZEProzeß zweifelsohne für die Entspannung der Ost-West-Beziehungen und die Demokratisierung der Verhältnisse in Osteuropa zukommt, die Menschenrechtsverpflichtungen der KSZE jedenfalls kein höheres Schutzniveau als andere internationale Menschenrechtsabkommen stipulieren und sicherlich hinter den Gewährleistungen der EMRK zurückbleiben.
2. Freiheit des Berufes und der wirtschaftlichen Betätigung Im Bereich der Berufsfreiheit oder auch eines allgemeineren Rechts auf Gewerbefreiheit oder wirtschaftliche Betätigung geben die internationalen Menschenrechtsverträge (wenn überhaupt) wenig Ansatzpunkte, die einen effektiven Schutz für die von einem Werbeverbot betroffenen Unterne1unen der Tabak-, Werbe- oder Druckindustrie versprechen. a)EMRK Die EMRK begründet in Art. 4 Abs. 2 lediglich ein Verbot der Zwangs- oder Pflichtarbeit. Es fehlen jedoch klare Aussagen über eine Garantie der Berufs- oder Gewerbefreiheit. Einen indirekten Schutz erfährt die freie Berufsausübung allenfalls über den Schutzbereich anderer Rechte. So hatten Kommission und Gerichtshof wiederholt Einschränkungen der Werbung von Freiberuflern zu prüfen; diese Fälle wurden dann jedoch allein unter Gesichtspunkten der Meinungsfreiheit (Art. 10 EMRK) geprüft. Ein weiteres Beispiel für einen indirekten Schutz der Berufsfreiheit fmden wir in der Rechtsprechung des Gerichtshofes zu Art. I des Ersten Zusatzprotokolls, die durch ihre extensive Interpretation des Begriffs "Eigentum" den Schutzbereich so weit zieht, daß auch die Berufsausübung geschützt wird. Kommission Wld Gerichtshof sahen im Falle Van Marle et al. 208 auch KWldenstamm und "goodwill" als Form des Eigentums geschützt, was zwei Richter in ihrer abweichenden MeinWlg als einen Schutz der freien BerufsausübWlg ansahen, der von der EMRK Wld dem Ersten Zusatzprotokoll nicht gewährt werde. 209
108
Fall Van Marle et al., Urteil vom 26. Juni 1986, Serie A Bd. 101.
109 Joint Dissenting Opinion der Richter Sir Vincent Evans and Gersing im Fall Van Marle et al., a.a.O. (Fußn. 208), S. 21.
ill. Internationale Menschenrechte
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b) Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte 2lO Art. 6 des Paktes gewährt ein "Recht auf Arbeit". Dieses Recht des einzelnen, "seinen Lebensunterhalt durch frei gewählte oder angenommene Arbeit zu verdienen," hat nach seinem eindeutigen Wortlaut jedoch einen so stark individualrechtlichen Charakter, daß juristische Personen (anders als bei Art. 19 IPBPR, siehe oben Abschnitt D.III.l b) sich darauf nur schwer werden berufen können. Aus dem "Recht auf Arbeit" läßt sich wohl auch nicht eine allgemeine Gewerbefreiheit oder Freiheit unternehmerischer Betätigung ableiten, da das Recht auf Arbeit typischerweise als Recht der Arbeitnehmer konzipiert ist.
Hinzuweisen ist darauf, daß nach Art. 4 des Paktes die Ausübung dieses Rechtes durch Gesetze eingeschränkt werden darf, sofern der ausschließliche Zweck des Gesetzes darin besteht, "das allgemeine Wohl in einer demokratischen Gesellschaft zu fördern". c) Europäische Sozialcharta211 Auch die Europäische Sozialcharta enthält in Art. 1 Ziff. 2 "ein Recht des Arbeitnehmers", "seinen Lebensunterhalt durch eine frei übernommene Tätigkeit zu verdienen". Diese wird ergänzt durch eine Verpflichtung der Vertragsparteien, "die Vorschriften über die Beschäftigung ausländischer Arbeitnehmer einzeln oder gemeinschaftlich zu liberalisieren" (Art. 18 Ziff. 3 ESC). Wie schon bei Art. 6 des Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte gilt auch hier, daß sich aus diesem Arbeitnehmerrecht nicht eine allgemeine Gewerbefreiheit oder Freiheit unternehmerischer Betätigung ableiten läßt.
3. Der Schutz des Eigentums durch das Erste Zusatzprotokoll der EMRK Das Verbot der Werbung für Tabakprodukte wirkt sich unmittelbar auf die Möglichkeiten der Produzenten aus, im Wettbewerb mit Konkurrenten Marktanteile zu vergrößern und damit ihre Umsätze zu steigern. Einschränkungen der Produktwerbung betreffen daher neben der Meinungsfreiheit in erster Linie die unternehmerische Betätigungsfreiheit, die im wesentlichen vom Schutzbereich der Berufsfreiheit erfaßt wird.
210
BGBl1973 II S. 1570.
2lI
BGBl. 1964 II S. 1262.
8 Simma u. a.
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D. Die Vereinbarkeit mit den Grundrechten
Auch das Unternehmen als Ganzes wird vielfach dem Schutzbereich der Eigentumsgewährleistung unterstellt. Sofern staatliche Eingriffe zu einer existentiellen Bedrohung für den Bestand eines Unternehmens führen könnten, würde die Eigentumsgarantie als Abwehrrecht relevant werden. Zur Zeit sind allerdings keine Anzeichen für solch gravierende Folgen der Richtlinie ersichtlich. 212 Der Schutzbereich des Eigentums kann jedoch auch dann berührt sein, wenn die wirtschaftliche Nutzung von Handelsmarken im Bereich von Nicht-Tabakprodukten untersagt wird (Verbot der sogenannten "indirekten Werbung"). Der geänderte Richtlinienvorschlag enthält in Art. 2 Absatz 2 zunächst ein allgemeines Verbot der "indirekten Werbung": "Die Mitgliedstaaten wachen darüber, daß eine Handelsmarke, deren Bekanntheitsgrad in erster Linie mit einem Tabakerzeugnis verbunden ist, nicht für die Werbung in anderen Marktbereichen verwendet wird, solange sie im Bereich der Tabakwerbung eingesetzt wird."
Von diesem allgemeinen Verbot wird sodann in Art. 2 Absatz 2a unter bestimmten Voraussetzungen eine Ausnahme für solche Unternehmen statuiert, die in den Markt der Tabakerzeugnisse diversifiziert haben. Im Zentrum der folgenden Analyse steht daher die Frage, ob ein Verbot der Nutzung der Handelsmarke für die Werbung für Nicht-Tabakprodukte eine Verletzung der Eigentumsgewährleistung darstellt. Die Formulierung des Eigentumsschutzes hat in Art. 1 des Ersten Zusatzprotokolls der EMRK folgende Fassung erhalten: "Jede natürliche oder juristische Person hat ein Recht auf Achtung ihres Eigentums. Niemandem darf sein Eigentum entzogen werden, es sei denn, daß das öffentliche Interesse es verlangt, und nur unter den durch Gesetz und durch die allgemeinen Grundsätze des Völkerrechts vorgesehenen Bedingungen. Die vorstehenden Bedingungen beeinträchtigen jedoch in keiner Weise das Recht des Staates, diejenigen Gesetze anzuwenden, die er für die Regelung der Benutzung des Eigentums im Einklang mit dem Allgemeininteresse oder zur Sicherung der Zahlung der Steuern oder sonstigen Abgaben oder von Geldstrafen für erforderlich hält. "2\3
212 Vgl. auch Lerche, Grundrechtsfragen eines gemeinschaftsrechtlichen Verbots mittelbarer Werbung (1990), S. 27 f.
213
BGBI. 1956 TI S. 1880.
ill. Internationale Menschenrechte
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Auch hier ist wie bei der Europäischen Menschenrechtskonvention zu beachten, daß das Zusatzprotokoll ursprünglich in englischer und französischer Sprache fonnuliert worden ist und nur diese beiden Fassungen für die Auslegung in gleicher Weise maßgeblich sind. Wenn die deutsche Textfassung durchgängig von "Eigentum" spricht, so verschleiert dies die UnschäIfe der Begriffe in der englischen und französischen Originalfassung. 214 So spricht der englische Text in Art. I Abs. I konsequent von "possessions", während der französische in Satz 1 von "biens" und in Satz 2 beim Entzug von Rechtspositionen den engeren Begriff "propriete" verwendet. In Art. lAbs. 2, d.h. bei der staatlichen Kontrolle der Nutzung der individuellen Rechtsposition, spricht der englische Text erstmalig von "property", der französische jedoch von "reglementer l'usage des biens". Für die Auslegung der Europäische Menschenrechtskonvention sind jedoch nicht notwendig die Rechtskonzepte maßgeblich, die mit diesen Rechtsbegriffen etwa im französischen oder englischen Recht verbunden werden. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in ständiger Rechtsprechung darauf bestanden, daß die Begriffe der Europäische Menschenrechtskonvention "autonom" auszulegen seien, denn nur so lassen sich gemeinsame Standards bei der Durchsetzung der Europäische Menschenrechtskonvention herausbilden. Auch wenn im Prozeß der autonomen Auslegung allgemeine Rechtsgrundsätze und auch die Rechtsanschauungen der Mitgliedstaaten mit einfließen, so ist die daraus erwachsende europäische Menschenrechtsordnung dennoch nicht an einzelne staatliche Rechtsordnungen gebunden. 2lS Im Fall James hat der Gerichtshof für Menschenrechte sich bei der Auslegung von Art. I Erstes Zusatzprotokoll denn auch ausdrücklich gegen eine engere an den französischen Text angelegte Interpretation ausgesprochen und eine "autonome" Begriffsbestimmung vorgenommen: "The expression 'pour cause d'utilite publique' used in the French text of Article 1 may indeed be read as having the narrow sense argued by the applicants, ... That, however, is not decisive, as many Convention concepts have been recognised in the Court' s caselaw as having an 'autonomous' meaning. "216
214
Siehe den französischen und englischen Originaltext in BGBI 1956 II S. 1880.
211 Eingehender zur "autonomen" Auslegung durch den EuGMR, siehe R. Bernhardt, Internationaler Menschenrechtsschutz und nationaler Gestaltungsspie1raum, in: Bernhardt, Geck, laenicke & Steinberger (Hrsg.), Völkerrecht als Rechtsordnung - Internationale Gerichtsbarkeit - Menschenrechte (Festschrift rur Herrnann Mosler) (1983), S. 75 (79 f.); J. G. Merrills, a.a.O. (Fußn. 165), S. 64 ff. 216
8"
Fall James, Urteil vom 21. Februar 1986, Serie A Nr. 98, S. 31 (Rn. 42).
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D. Die Vereinbarkeit mit den Grundrechten
Im folgenden soll erörtert werden, inwieweit die "autonome" Bestimmung des Begriffs "Eigentum" durch den Gerichtshof für Menschenrechte nur das Eigentum im engeren Sinn umfaßt, beziehungsweise inwieweit auch der Gewerbebetrieb in den Schutzbereich miteinbezogen wird. Hinsichtlich des Eigentums im engeren Sinn ist festzuhalten, daß der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte bislang in keiner Entscheidung ausdrücklich dazu Stellung genommen hat, ob auch Warenzeichen oder gewerbliche Muster von Art. 1 Abs. 1 erfaßt werden. Die Europäische Kommission für Menschenrechte hat bei einer Beschwerde, die aus anderen Gründen für unzulässig erklärt wurde, jedoch Patentrechte erörtert und somit dem Grunde nach Art. 1 Abs.l für anwendbar gehalten. 217 So bejahen einige Autoren mit guten Gründen die Anwendung des Art. I des Ersten Zusatzprotokolls ratione materiae auch auf Patent-, Urheber- und Warenzeichen. 218 Bezüglich einer weiten Auslegung des Begriffs "Eigentum", die effektiv auf einen Schutz des Gewerbebetriebes bzw. der Berufsausübungsfreiheit i.S. des deutschen Verfassungsrechts hinausläuft, hatten Europäische Kommission und Gerichtshoffür Menschenrechte im Jahre 1986 im Falle Van Marle et al. vertreten. 219 Die Beschwerdeführer hatten über mehrere Jahre als selbständige Buchführer gearbeitet, bis die niederländische Regierung per Gesetz eine Prüfung zur berechtigten Führung des Titels "Registeraccountant" verlangte. In der Nichtanerkennung als staatlich anerkannte Buchfuhrer sah der Gerichtshof eine Beeinträchtigung eigentumsgleicher Rechtspositionen i.S. von Art. I: "The Court agrees with the Commission that the right relied upon by the applicants may be likened to the right of property embodied in Article 1: by dint of their own work, the applicants had built up a clientele; this had in many respects the nature of a private right and constituted an asset and, hence, apossession within the meaning ofthe first sentence of Article 1. ,,220
217 Unveröffentlichte Entscheidung E 7830177, zit. in Peukert, Der Schutz des Eigentums nach Art. 1 des Ersten Zusatzprotokolls zur Europäischen Menschenrechtskonvention, EuGRZ (1981), S. 97,103 Anm. 55. 218 J. Frowein & W. Peukert, EMRK-Kommentar (1985), S. 256; E. RiedeI, Theorie der Menschenrechtsstandards: Funktion, Wirkungsweise und Begründung wirtschaftlicher und sozialer Menschenrechte mit exemplarischer Darstellung der Rechte auf Eigentum und Arbeit in verschiedenen Rechtsordnungen (1986), S. 69; Schermers, The international protection of the right of property, in: Matscher & Petzold (Hrs.), Protecting Human Rights: The European Dimension (Studies in Honor ofGerard J. Wiarda) (2. Autl. 1990),639-645.
219
Fall Van Marle et al., a.a.O. (Fußn. 208).
220 Fall VanMarleetal,a.a.O. (Fußn. 208), Rn. 41 (Zur Entscheidung der EuKMR, siehe Rn. 122 f.).
III. Internationale Menschenrechte
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Geschützt wird also der "goodwill" der etablierten Buchführungskanzlei. Da der Kundenstanun schrwnpfte und der Umsatz der Beschwerdeführer zurückging, erkannte der Gerichtshof eine Beeinträchtigung des Rechts auf "peaceful enjoyment of their possessions", die allerdings im konkreten Falle gerechtfertigt war. 221 Die Richter Sir Vincent Evans und Gersing bestanden in ihrer abweichenden Meinung darauf, daß es sich hier nicht um "Eigentum" handelte, sondern daß hier lediglich eine Regelung der Berufsausübung vorläge,222 eine Rechtsauffassung, die zwar dem nationalen Recht der meisten Mitgliedstaaten entsprechen mag, aber deswegen noch lange nicht mit der "autonomen" Interpretation der Begriffe der Europäische Menschenrechtskonvention übereinstimmen muß. Diese Rechtsprechung von Europäischer Kommission und Gerichtshof für Menschenrechte wurde im Jahre 1989 dahingehend konkretisiert, daß der Schutzbereich des Art. 1 des Ersten Zusatzprotokolls auch die mit dem Betrieb eines Gewerbebetriebes zusanunenhängenden wirtschaftlichen Interessen erfaßt. Im Falle Tre Traktörer AB Iiigten die Beschwerdeführer, daß der Entzug einer staatlichen Lizenz zum Ausschank alkoholischer Getränke in einem Restaurant eine Verletzung von Art. 1 Erstes Zusatzprotokoll darstelle. Der Gerichtshof stimmte mit der Kommission darin überein "that the economic interests connected with the running of [the restaurant] Le Cardinal were 'possessions' for the purpose of Article 1 ofthe Protocol. ,,223
Auch hier sah der Gerichtshof eine Beeinträchtigung von "possessions" wiederum darin begrundet, daß der Lizenzentzug sich nachteilig auf den "Goodwill" und den Wert des Gewerbebetriebes auswirkte. 224 Für die Beurteilung von Warenzeichenrechten nach dem Ersten Zusatzprotokoll ist die Behandlung der Schanklizenz im Fall Tre Traktörer AB besonders bedenkenswert. Weder Kommission noch Gerichtshof sehen nämlich in der Schanklizenz
221
Fall Van Marle, a.a.O. (Fußn .208), Rn. 42.
222 In ihrer Begründung erkennen sie zwar an, "goodwill may indeed for certain purposes be an element of the economic value of a person's business and thus an integral part of his property", halten die angeblichen Verluste der Beschwerdeführer in diesem Falle aber lediglich für enttäuschte "professional expectations". Fall Van Marle, a.a.O. (Fußn. 208), Joint Dissenting Opinion der Richter Sir Vincent Evans und Gersing, S. 21. 223 Fall Traktörer AB, Urteil vom 7. Juli 1989, Serie A Bd. 159, Rn. 53. Siehe auch die Entscheidung der EuKMR, ebenda, Rn. 109-111. 224 Fall Traktörer AB, a.a.O. (Fußn. 223), Rn. 43 u. 53. Diese Entscheidung war in der Kommission nicht unumstritten. Die Mitglieder Martinez und Campinos lehnten diese indirekte Anerkennung als "Eigentum" ab, da die Schanklizenz streng personenbezogener Natur und nicht übertragbar war: a.a.O. (Fußn. 223), S. 37.
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D. Die Vereinbarkeit mit den Grundrechten
ein selbständiges Eigentumsrecht i.S. von Art. 1 Abs. 1. Statt dessen wird die Lizenz als unselbständiger Teil des Betriebsvennögens der Beschwerdeführer eingeordnet. Hier zeigt sich eine deutliche Tendenz hin zu einern Schutz des "Eigentums", der sich eher auf die Gesamtheit aller eigentumsgleichen Rechtspositionen denn auf das einzelne eigenturnsgleiche Recht bezieht. Aus dieser Klassifizierung folgt unweigerlich, daß bei Entzug der Lizenz kein Entzug des Eigentums i.S. von Art. 1 Abs. 1 Satz 2 sondern eine Regelung der Nutzung des Eigentums i.S. von Art. 1 Abs. 2 vorliegt. 223 Stellt man sich nun die Frage, ob im Falle eines totalen Werbeverbotes auch für die indirekte Werbung eine geschützte Rechtsposition beeinträchtigt wird, so ist festzuhalten, daß das Warenzeichen als solches nicht beseitig wird. Untersagt wird die Verwendung in der Werbung. Der Abwehrcharakter des Warenzeichenrechts (z.B. unzulässige Verwendung durch andere) bleibt unangetastet. Insofern handelt es sich um eine Nutzungsbeschränkung und keinen Eigentumsentzug. Bezüglich der Einschränkungen der Nutzung des "Eigentums"gelten andere, weniger strengeAnforderungen. Solange nicht ein Entzug des Eigentums durch staatliche Eingriffe vorliegt, gewährt Art. 1 Abs. 2 den Staaten einen nahezu unbegrenzten Entscheidungsspielraum bei der Frage, welche Regelungen der Eigentumsnutzung "erforderlich" sind. Im Gegensatz zu anderen Vorbehalten der Europäische Menschenrechtskonvention, die regelmäßig verlangen, daß die jeweilige Einschränkung eines Rechts zum Schutz eines anerkannten Rechtsgutes notwendig oder unentbehrlich ist,226 überläßt die Fonnulierung in Art. 1 Abs. 2 des Zusatzprotokolls die Entscheidung über die Notwendigkeit einer Nutzungsregelung den Staaten: "as it deerns necessary". So stellte der Gerichtshof in seinem Urteil Handyside ausdrücklich fest: "this paragraph sets the Contracting States up as sole judges of the 'necessity' for an interference. Consequently, the Court must restrict itselfto supervising the lawfulness and the purposes ofthe restriction in question. "227
In einern späteren Urteil im Falle Marckx präzisierte der Gerichtshof diese Passage wie folgt:
225 Fall Traktörer AB, a.a.O. (Fußn. 223), Rn. 55 (So auch die Meinung der Kommission: siehe, a.a.O. (Fußn. 223), S. 30, Rn. 113. 226 Vgl. Art. 8 Abs. II ("notwendig ist"), Art. 9 Abs. 2 ("notwendige Maßnahmen ... sind"), Art. 10 Abs. 2 ("unentbehrlich sind"), Art. 11 Abs. 2 ("notwendig sind"). 227
Fall Handyside, Urteil vom 7. Dezember 1976, Sero A Nr. 31 (1976), S. 29.
III. Internationale Menschenrechte
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"Ihis paragraph sets the Contracting States up as sole judges ofthe 'necessity'for such a law. ,1228
Aus dieser späteren KlarsteIlung hat die Kommission gefolgert, daß die Notwendigkeit des Gesetzes selbst zwar nicht überprüfbar sei, wohl aber die Rechtrnäßigkeit der einzelnen aufgrund des Gesetzes erlassenen Maßnahmen. In seinen neueren Entscheidungen hebt der Gerichtshof regelmäßig hervor, daß die Mitgliedstaaten einen weiten Ennessenspielraum genießen sowohl bei der Einschätzung, wann ein öffentliches Interesse staatliche Eingriffe verlangt, als auch bei der Wahl der Mittel zur Durchsetzung dieses Interesses. Der Gerichtshof übt sich hier in richterlicher Zurückhaltung und akzeptiert diese staatlichen Eingriffe in die Nutzung des "Eigentums" "unless that judgment be manifestly without reasonable foundation. ,,229
Diese verringerte Kontrolldichte der richterlichen Überprüfung fmdet sich sowohl beim Nachweis eines legitimen öffentlichen Interesses als auch bei der sich anschließenden Verhältnismäßigkeitsprüfung. Bislang ist aus der Rechtsprechung kein Fall bekannt, in dem ein legitimes öffentliches Interesse verneint worden wäre. Anders als bei z.B. Art. 8-11 Europäische Menschenrechtskonvention sind bei Art. 1 Abs. 1 Erstes Zusatzprotokoll die zulässigen Ziele einer staatlichen Reglementierung nicht abschließend aufgezählt. In Betracht kommen hier der Gesundheitsschutz aber auch das allgmeine Ziel einer Harmonisierung der Marktordnungen in den Mitgliedern der EG. Der vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte durchgeführte Test der Verhältnismäßigkeit einer Einschränkung nach Art. lAbs. 2 Erstes Zusatzprotokoll besteht in einem allgemeinen Abwägen. Nicht verlangt wird das Kriterium der Erforderlichkeit i.S. des am geringsten schädigenden Eingriffs.23o Ein Kenner der Rechtsprechung des Gerichtshofes bedauerte jüngst, daß der Gerichtshof "den Vertragsstaaten hinsichtlich der Eigentumsgewährleistung einen derart weiten Ennessensspielraum einräumt und das Prinzip der Verhältnismäßigkeit so einschränkend auslegt, daß unbescholtene Bürger, deren Eigentumsrecht wie im vorlie-
228 Fall March, Urteil vom 13. Juni 1979, Ser. A Nr. 31 (1979), S. 28 Rn. 64 (Hervorhebung der Verfasser). 229 Fall Mellacher et al., Urteil vom 19. Dezember 1989, Serie A Nr. 169, Rn. 45 (unter Verweis auf den Fall James etai., a.a.O. (Fußn. 216), S. 32, Rn. 46).
230 Fall Mellacher et al., a.a.O. (Fußn. 229), S. 28.
120
D. Die Vereinbarkeit mit den Grundrechten
genden Fall erheblich beeinträchtigt wurde, keinerlei Aussicht haben, vor den Straßburger Instanzen Genugtuung zu erhalten. 01231
IV. Die gemeinsame Verfassungstradition der Mitgliedstaaten Im Rahmen dieser Abhandlung kann eine extensive Analyse der Aussagen der Verfassungen aller Mitgliedstaaten zu einem Werbeverbot für Tabakwaren unmöglich geleistet werden. In den folgenden überlegungen zu den Grundrechten der Mitgliedstaaten wird ein Schwerpunkt bei der Bestimmung des jeweiligen Schutzbereiches liegen. Ein besonderes Augenmerk gilt sodann den Möglichkeiten zur Einschränkung von Grundrechten und insbesondere der Frage, wie weit dem Gesetzgeber bei der Einschränkung der Wirtschaftswerbung ein gesetzgeberisches Ermessen zugebilligt wird, das seitens der Verfassungsgerichte nur einer eingeschränkten Verhältnismäßigkeitskontrolle unterliegen würde. Eine detaillierte Prufung der Verhältnismäßigkeit von Grundrechtseinschränkungen durch die Europäische Gemeinschaft ist dem Abschnitt VI. vorbehalten.
1. Meinungs- und Pressefreiheit a) Schutz der Werbung in den Mitgliedstaaten Die Meinungs- und Pressefreiheit ist in allen Verfassungen der Mitgliedstaaten der Gemeinschaft geschützt. 232 Einschränkungen dieser Freiheiten werden zugelassen zum Schutz der Rechte anderer (z.B. Ehrschutz) und insbesondere auch zum Schutze der Jugend. Hervorzuheben ist jedoch, daß die Werbung für wirtschaftliche Zwecke einen deutlich geringeren Schutz genießt. So nimmt z.B. die Verfassung der Niederlande in ihrem Art. 7 Abs. 4 die Wirtschaftswerbung ausdrücklich von der Garantie der Meinungs- und Pressefreiheit aus. Nach einem Urteil des italienischen Verfassungsgerichtshofes erstreckt sich die Pressefreiheit des Art. 21 Abs. 2 der Verfassung (OlDie Presse darf weder Genehmigungen noch Zensuren unterliegen. nicht auf Veröffentlichungen, die lediglich Werbung enthalten. 233 OI
)
231 Peukert, Zur Notwendigkeit der Beachtung des Grundsatzes des Vertrauensschutzes in der Rechtsprechung des EGMR zu Eigentumsfragen, EuGRZ (1992), S. 1 (4). 232 Siehe die umfassende Studie von Gomig, a.a.O. (Fußn. 188), S. 466-729 zum Schutz in den KSZE-Staaten.
233
Corte cost. sent. 38/1965.
IV. Die gemeinsame Verfassungstradition
121
In der Btmdesrepublik ist nach wie vor umstritten, wie weit auch Äußertmgen der kommerziellen Werbtmg vom Schutzwnfang des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 Gnm.dgesetz erfaßt werden. 234 Die Judikatur des Btmdesverfasstmgsgerichts hat ntm grtmdSätzlich anerkannt, daß auch Wirtschaftswerbtmg den Schutz der Meintmgsfreiheit genießt, "wenn eine Ankündigtmg einen wertenden, meintmgsbildenden Inhalt hat oder Angaben enthält, die der Meinungsbildung dienen". m Bereits früher war klargestellt worden, daß eine Meinungsäußertmg auch dann Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG unterfalle, "wenn sie wirtschaftliche Vorteile bringen soll". 236 Auch Zeittmgsanzeigen sind vom Bundesverfassungsgericht als "Nachrichten" anerkannt worden, sofern "der Anzeigende seine eigene Meinung vertreten Will".237 Diese differenzierenden Stellungnahmen in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Schutz der Werbtmg binden werbende Aussagen immer noch an eine inhaltsbezogene "Meinungsbildung", der auch weite Teile der Literatur folgen. Vor diesem Hintergrtmd erscheint es ausgeschlossen, daß auch die reine Imagewerbung oder Werbung mit bloßer Warenzeichenangabe dem Schutz der Meinungsfreiheit unterfällt. 238 Dies schließt jedoch nicht aus, daß diese Formen der nicht-meinungsbildenden Werbung in den Schutzbereich anderer Gnm.drechtsnormen wie etwa Art. 14 und Art. 12 GG fallen. 239
Unabhängig davon, ob Werbungsaussagen als Meintmgsäußertmgen qualifiziert werden, hat das Bundesverfassungsgericht den Anzeigenteil von Zeitungen dem Schutz der Pressefreiheit unterstellt. 240 Dabei wurde jedoch eine Differenziertmg
234
Vgl. die Ausführungen und Nachweise bei Lerche, a.a.O. (Fußn. 212), S. 55 ff.
23l BVerfGE 71,162 (175). Frühere Entscheidungen hatten den Schutzbereich wesentlich restriktiver ausgelegt. Vgl. z.B. BVerfGE 40, 371 (382). 236
BVerfGE 30, 336 (352 f.). Vgl. auch BVerfGE 53,96 (99).
m BVerfGE 21, 271 (279). 238
So auch Lerche, a.a.O. (Fußn. 207), S. 56 Fn. 118 mit weiteren Nachweisen, 59.
239 Fälle von Imagewerbung (Trikots, Qualifikationsbezeichnungen etc.) wurden von deutschen Gerichten z.B. unter der Rubrik von Art. 12 und 14 GO als einschlägigerer Grundrechtsnorm diskutiert, vgl. Nachweise bei Degenhardt, Zweitbearbeitung von Art. 5 Abs. 1 und 2 (September 1987), in: Bonner Kommentar), Rn. 153 f. So z.B. auch BVerfGE 40, 371 (382) [Urteil vom 10.12.1975]: Nachdem das Gericht festgestellt hatte, daß im konkreten Falle allein die Wirtschaftswerbung betroffen war, prüft es Art. 12 (Berufsausübungsfreiheit) und nicht Art. 5 (Meinungsfreiheit).
240 BVerfGE 21,271 (278); 64,108 (114 f1, insb. 118 f.). Vgl. auch Bullinger, Freiheit von Presse, Rundfunk, Film, in: IsenseelKirchhof (Hrs.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VI (1989), S. 667 (675).
122
D. Die Vereinbarkeit mit den Grundrechten
zwischen dem redaktionellen und dem Anzeigenteil einer Zeitung vorgenommen und für letzteren weitergehende Einschränkungen zugelassen. 241 b) Exkurs (U.S.A., Kanada, Schweiz, Österreich) Ein Blick auf die Situation in einigen Staaten, die jedenfalls zum Zeitpunkt des Richtlinienvorschlags keine Mitglieder der EU waren, die jedoch der gleichen freiheitlichen Verfassungstradition verpflichtet sind, bestätigt die festgestellte Tendenz, daß der kommerziellen Werbung nur ein sehr geringes Schutzniveau zugebilligt wird.
Gerade die verfassungsrechtliche Beurteilung von Werbebeschränkungen in den Vereinigten Staaten erscheint insofern aufschlußreich, als der Meinungsfreiheit in der amerikanischen Verfassungstradition ein außerordentlich hoher Stellenwert eingeräumt wird. Im Urteil Valentine v. Christinsen242 des U.S. Supreme Court wurde die Werbung noch vollständig aus dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit des First Amendment ausgenommen. Erst in den siebziger Jahren änderte der Supreme Court in seinem Urteil Virginia State Board 0/Pharmacy v. Virginia Citizens Consumer Couneif43 diese Rechtsprechung, gestand der Werbung aber nur einen sehr viel geringeren verfassungsrechtlichen Schutz zu. Wie weit die Einschränkungen der Werbung durch staatliche Eingriffe gehen können, zeigte sich deutlich im Urteil des Supreme Court im Fall Posadas de Puerto Rieo Assoes. v. Tourism Co. 0/Puerto Rie0 244 , in dem ein Totalverbot der Werbung für Glücksspiele angegriffen wurde. Zunächst anerkannte das Gericht, daß die Werbung für Glücksspiele den Schutz des First Amendment genieße, da sie weder irreführend sei, noch für eine rechtswidrige Handlung werbe, denn das Glücksspiel war durchaus in Puerto Rico erlaubt. Dem Staat wurde sodann zugebilligt, daß das Interesse an der Gesundheit, Sicherheit und Wohlfahrt der Bevölkerung möglichelWeise ein Werbeverbot rechtfertigen könne. Die Frage, ob die Regierung zu Recht annehme, daß ein totales Werbeverbot im Kampf gegen das Glücksspiel geeignet sei, ob also Werbung das Glücksspiel fördere, wurde ohne Umschweife bejaht: "[T]he fact that appellant has chosen to litigate
241
BVerIDE 64,108 (118f.).
242
Urteil r:alentine v. Christinsen, 316 US 52 (1942) des U.S. Supreme Court.
243
Urteil Virginia State Board 0/Pharmacy v. Virginia Citizens Consumer Counei/, 425
244
Urteil Posadas de Puerto Rieo Assoes. v. Tourism Co.
US 748 (1976) des U.S. Supreme Court. (1986) des U. S. Supreme Court.
0/Puerto
Rieo, 106 S. Ct. 2968
IV. Die gemeinsame Verfassungstradition
123
this case all the way to this Court indicates that appellant shares the legislature's view". Bei der Überprüfung der Verhältnismäßigkeit verzichtete das Gericht auf eine detaillierte Kontrolle. Die Beweislast für die Ungeeignetheit der Maßnahme wurde de facto dem Kläger aufgebürdet; bei der Erforderlichkeit der Maßnahme wurde es der Regienmg überlassen, ob weniger einschneidende Maßnahmen (z.B. öffentliche Aufklärungskampagnen) ebenso geeignet wären. Bemerkenswert ist auch die Antwort des Gerichts auf das Argument der Kläger, die Regienmg könne die Werbung deshalb nicht verbieten, weil sie das Glücksspiel nach wie vor zulasse: "[A]ppellant has the argument backwards. '" [I]t is precisely because the govemment could have enacted a wholesale prohibition of the underlying conduct that it is permissible for the government to take the less intrusive step of allowing the conduct, but reducing the demand through restrictions on advertising". Eine ganz ähnliche Situation besteht in Kanada. Vor Einfühnmg der Canadian Charter 01Rights and Freedoms lehnte der kanadische Supreme Court den Schutz von "economic speech" ab und erlaubte den Provinzen weitgehende Beschränkungen der Werbung durch Anwälte. 24S Mittlerweile ist der Schutz der Werbung auch im kanadischen Verfassungsrecht anerkannt, jedoch wie in den U.S.A. unter starken Einschränkungsmöglichkeiten. Im Falle RJR Macdonald Inc., Imperial Tobacco Ltd. v. Attorney General olCanada, Attorney General 01 Quebec246 hatte jedoch ein erstinstanzliches Gericht das kanadische Werbeverböt für Tabak als einen Verstoß gegen die Meinungsfreiheit angesehen. Der Hauptgnmd lag im Unvermögen der Regienmg, einen Zusammenhang zwischen Werbung und Konsum nachzuweisen247 . Ein Urteil des kanadischen Supreme Court liegt inzwischen ebenfalls vor. Er kam zu dem gleichen Ergebnis wie das erwähnte erstinstanzliche Gericht 248. Das schweizerische Bundesgericht unterscheidet bei der Pressefreiheit zwischen Äußerungen mit ideellem Inhalt und solchen, die "egoistischen Zielen" dienen. Letztere sollen nicht den Schutz der Pressefreiheit genießen, sondern im Rahmen der Handels- und Gewerbefreiheit viel stärkeren Beschränkungen unterworfen werden können. 249
24l A.G. Canada v. Law Society ofBritish CoJumbia, [1982] 2 S.C.R. 307 (364). Siehe die Darstellung bei CotJer, Freedom ofExpression, in: Mestral u.a. (Hrs.), The Limitation of Human Rights in Comparative Constitutional Law (1986), S.353 tf. (insbes. 370 f.). 246
[1991] Rec. de Jurispr. du Quebec 2260-2313.
247
[1991] Rec. de Jurispr. du Quebec 2260, 2309f.
248
Urteil des kanadischen Supreme Court, a.a.O. (Fußn. 3).
249
BGE 36 I, S. 39ff. (41); 42 I, S. 74ff. (81ff.).
124
D. Die Vereinbarkeit mit den Grundrechten
Auch die österreichische Rechtsprechung gewährt der kommerziellen Werbung grundsätzlich nicht den Schutz der Meinungs- und Pressefreiheit in Art. 13 des Staatsgrundgesetzes. 250
2. Berufs- und wirtschaftliche Unternehmensfreiheit Auch das Recht der freien Berufsausübung ist in allen Verfassungsordnungen der Mitgliedstaaten geschützt. Vielfach wird auch ausdrücklich mit unterschiedlichen Formulierungen die Freiheit der privaten Wirtschaftsinitiative oder des Handels geschützt. m Nach dem Grundgesetz stehen Berufsfreiheit und Eigentwnsschutz nicht in einem Verhältnis exklusiver Spezialität, sondern sind "funktionell aufeinander bezogen"252: Anders als bei Art. 14 GG, der dem Schutz des "Erworbenen" dient, bezweckt Art. 12 Abs. 1 GG den Schutz des "Erwerbsvorganges". Auch die Teilnahme der Unternehmen am Wettbewerb durch Werbung ist eine Form der durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützten Berufsausübung m Eine gezielte Beschränkung der Werbung für bestimmte Produkte berührt insofern auch den Schutzbereich der Berufsfreiheit des betroffenen Unternehmers. Auch das Bundesverfassungsgericht hat daher des Mteren Werbungsbeschränkungen gerade an Hand von Art. 12 Abs. 1 GG überprüft. 254 Bei Werbeverboten handelt es sich um eine Regelung der reinen Berufsausübung. Einschränkungen sind aus sachgerechten und vernünftigen Gründen des Gemeinwohls zulässig. Das Bundesverfassungsgericht billigt dem Gesetzgeber einen weiten Gestaltungsspielraum zu, der bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit nur sehr eingeschränkt kontrolliert wird: "Das Grundgesetz läßt dem Gesetzgeber im Zusammenhang mit Berufsausübungsregelungen ein erhebliches Maß an Freiheit ... und räumt ihm bei der FestIegung der zu verfolgenden berufs-, arbeits- oder sozialpolitischen Ziele eine ebenso weite GestaItungsfreiheit
250
Vgl. Nachweise bei Gomig, a.a.O. (Fußn. 188), S. 613.
251 Vgl. die Übersicht bei Rengeling, Grundrechtsschutz in der Europäischen Gemeinschaft (1992), S. 16 fT.
m Dies wurde ausdrücklich betont in BVerfGE 50,290 (365). Gleiches läßt sich über das Verhältnis zur Schutzrichtung des Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG sagen. m So auch Lerche, a.a.O. (Fußn. 212), S. 50. 254
Vgl.
Z.B.
BVerfGE 76,196 (205f. m.w.N.); 71,183 (198fT.) u.a.m.
IV. Die gemeinsame Verfassungstradition
125
wie bei der Bestimmung wirtschaftspolitischer Ziele ein .... Der Gesetzgeber darf dabei Gesichtspunkte der Zweckmäßigkeit in den Vordergrund stellen ... ."255
Berücksichtigt man den hohen Stellenwert des Schutzes der menschlichen Gesundheit im Grundgesetz im Vergleich zu sozial- und wirtschaftpolitischen Zielen, so kann bei Werbeverboten zum Gesundheitsschutz eine noch weitergehende Zurückhaltung der Gerichte erwartet werden. 3. Eigentum Das Privateigentum ist in allen Verfassungen der Mitgliedstaaten garantiert. Es sei insbesondere daraufhingewiesen, daß auch das Warenzeichen als eigentumsgleiches Recht verfassungsrechtlichen Schutz genießt. 256 Enteignungen werden nur aus Gründen des Allgemeinwohls gegen Entschädigung durch Gesetz zugelassen. Alle Verfassungsordnungen lassen Einschränkungen des Eigentums im Interesse des allgemeinen Wohls zu. 257 Da die Bestimmung der Ziele des Gemeinwohls, die eine Eigentumsbeschränkung rechtfertigen können, im allgemeinen dem Gesetzgeber überlassen ist, verfügt er über einen verhältnismäßig weiten Entscheidungsspielraum. 258 Bei Prognoseentscheidungen und komplizierteren sozialen und wirtschaftlichen Sachverhalten werden dem Gesetzgeber überdies ein Beurteilungsspielraum und gewisse Typisierungen zugestanden. 259 Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung wird aus diesem Grunde auch das Kriterium der Erforderlichkeit nicht mit aller Strenge zu handhaben sein. 260 Im Ergebnis steht ähnlich wie beim Ersten Zusatzprotokoll zur EMRK dem Gesetzgeber bei der Bestimmung der Sozialbindung des Eigentums ein erheblicher Gestaltungsspielraum zu.
255
BVerfGE 77, 308 (332).
256
Vgl. fIlr Deutschland: BVerfGE 78, 58 (71).
257
Vgl. die Übersicht bei Rengeling, a.a.O. (Fußn. 251), S. 16 fI.
258
Vgl. Lerche, a.a.O. (Fußn. 212), S. 31.
259
Papier, in: MaunzJDürig/HerzogiScholz, Kommentar zum Grundgesetz, Art. 14, Rn.
260
Lerche, a.a.O. (Fußn. 212), S. 36.
262 fI.
126
D. Die Vereinbarkeit mit den Grundrechten
4. Aussagen zu einem Totalverbot der Tabakwerbung
In einigen Mitgliedstaaten der Gemeinschaft bestehen bereits Werbeverbote für Tabakprodukte. So existieren in Frankreich, Italien und Portugal bereits seit geraumer Zeit Totalverbote der öffentlichen Werbung für Tabakprodukte. In keinem dieser Länder wurden diese Totalverbote als verfassungswidrig verworfen. Da nicht von einer vollständigen Homogenität der Verfassungsordnungen in allen Mitgliedstaaten ausgegangen werden kann, indiziert die Verfassungsmäßigkeit der Totalverbote in diesen Ländern jedoch nicht, daß eine Untersuchung der Verfassungen anderer Länder ohne solche Totalverbote zu dem gleichen Ergebnis kommen würde. Von daher ist ein Blick auf die Länder geboten, in denen sich die Kritik am Richtlinienvorschlag gerade auf grundrechtliche Argumente stützt. So hat sich insbesondere die deutsche Regierung bei ihrer Ablehnung des Richtlinienvorschlages darauf gestützt, daß hier ein unverhältnismäßiger Eingriff in die Meinungs- und Berufsausübungsfreiheit vorliege. Die derzeitigen Zweifel der Bundesregierung an der Zulässigkeit eines Totalverbots leiten sich daraus her, "daß angesichts der bislang nicht geklärten Wirkungsmechanismen zwischen Werbung und Konsumverhalten die Annahme der EG-Kommission, mit den in ihren Richtlinienvorschlägen vorgesehenen sehr weitgehenden Beschränkungen der Werbung einen günstigen Einfluß auf den Konsum von Tabakerzeugnissen bewirken zu können, durch Fakten nicht hinreichend belegbar ist. ... Das BMG vermag daher jedenfalls nach dem bisherigen Erkenntnisstand die Frage nicht begründet zu beantworten, ob tiefgreifende Werbebeschränkungen, ... , geeignet und erforderlich sind, einen möglichen Anreiz zu rauchen, insbesondere bei jungen Menschen, zu beseitigen. ,,261
Die Bundesregierung anerkennt demnach grundsätzlich, daß legitime Belange wie der Gesundheits- und Jugendschutz die Werbeverbote rechtfertigen könnten, sofern die Geeignetheit und Erforderlichkeit eines Verbotes tatsächlich belegt werden kann. Da im Rahmen dieser Analyse die grundsätzliche Geeignetheit von Werbeverboten angenommen wird, bleibt im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung zu erörtern, ob der Gemeinschaft weniger einschneidende Maßnahmen als ein Werbeverbot zur Verfügung stehen. Die Rechtsmeinung der Bundesregierung ist jedoch nicht maßgeblich für die Verfassungsauslegung. Zur Problematik eines totalen Werbeverbotes für Tabak liegen bislang allerdings keine autoritativen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes vor. Hingewiesen werden muß jedoch auf zahlreiche freiwillige und gesetzliche Werbebeschränkungen und -verbote für bestimmte Produkte, z.B.
261 Bericht der Bundesregierung über Möglichkeiten der weiteren Einschränkung der Werbung filr Tabakerzeugnisse, Bundesrats-Drucksache 598/92, S. 9f. (Hervorhebung durch die Autoren).
V. Schutzbereich der Grundrechte
127
verschreibilllgspflichtige Arzneimittel, die zum Zwecke des Verbraucher-, Gesillldheits- illld Jugendschutz bestehen illld verfassilllgsrechtlich offenbar nicht beanstandet werden. Werbeverbote für einzelne "kritische" Produkte sind also nicht per se verfassilllgswidrig. Lerche weist darauf hin, daß Maßnahmen zum Schutz der evident bedeutsamen Volksgesillldheit auch "empfmdliche Einbußen" in eigentumsrechtliche Positionen rechtfertigen können. 262 Mutmaßilllgen über den Ausgang eines Verfahrens vor dem Verfassilllgsgericht sind sicherlich müßig. Berücksichtigt man jedoch den hohen Stellenwert der menschlichen Gesillldheit im Gefüge der VerfasSilllgswerte des Grillldgesetzes, den geringen Schutz der Wirtschaftswerbilllg illld den vergleichbar weiten Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers bei Regelilllgen der Berufsausübilllg illld der Bestimmilllg der Sozialbindilllg des Eigentums, so haben wir plausible Gründe für die Annahme, daß ein Werbeverbot zum Gesillldheitsschutz (insbesondere von Jugendlichen) keineswegs eindeutig einen Grillldrechtsverstoß darstellen würde, sondern womöglich Aussichten auf eine verfassilllgsgerichtliche Anerkennilllg hätte.
5. Ergebnis Meinilllgs- illld Berufsfreiheit sowie der Schutz des Eigentums werden in allen Verfassilllgsordnilllgen der Mitgliedstaaten gewährleistet. Bei Eingriffen in diese Grundrechte zum Schutz von Interessen des Gemeinwohls steht dem Gesetzgeber gerade im Bereich der Wirtschaftswerbilllg ein Gestaltilllgsspielraum zu. In keinem der Mitgliedstaaten würde ein Totalverbot der Tabakwerbilllg eindeutig einen Grillldrechtsverstoß darstellen.
v. Schutzbereich der Grundrechte im Gemeinschaftsrecht Wie bereits oben dargelegt, besteht keine strenge Bindilllg der EG an die Ergebnisse, die sich bei der Prüfung der Vereinbarkeit von Werbeverboten mit den nationalen Verfassilllgsordnilllgen illld internationalen Menschenrechtsverträgen ergeben.
1. Bisherige Rechtsprechung des EuGH zur Meinungsfreiheit
Aus der Rechtsprechilllg des EuGH ist bislang kein Fall bekannt, in dem gemeinschaftsrechtliche Normen zur Bezeichnilllg oder Etikettiefilllg von Produkten auf ihre Vereinbarkeit mit dem Grillldrecht der Meinilllgsfreiheit überprüft worden
262
Lerche, a.a.O. (Fußn. 212), S. 38.
128
D. Die Vereinbarkeit mit den Grundrechten
wären. Schon in mehreren Fällen hatte sich der EuGHjedoch mit nationalen Reglementierungen der Werbung zu befassen. Dabei stand jeweils die Frage im Mittelpunkt, ob diese nationalen Regelungen unzulässig eine der Grundfreiheiten beeinträchtigten. 263 In einem Urteil zum griechischen Rundfunk- und Fernsehmonopol stellte der Gerichtshof klar, daß Einschränkungen der Grundfreiheiten (z.B. nach Art. 66 i.v.m. 56 EWGV) "unter Beachtung des allgmeinen Grundsatzes der in Art. IO EMRK verbürgten Meinungsfreiheit zu beurteilen sind". 264
2. Bisherige Rechtsprechung des EuGH zur Berufsfreiheit Berufsfreiheit i.S. von Gewerbefreiheit ist zwar nicht durch internationale Menschenrechtsverträge geschützt, wohl aber in den Verfassungen der Mitgliedstaaten. Nicht übersehen werden darf gerade bei der Freiheit der Berufsausübung und der wirtschaftlichen Betätigung, daß die Grundfreiheiten des EWG-Vertrages und die dahinteistehende Philosophie der Integration durch grenzüberschreitende Wirtschaftstätigkeiten einen stark grundrechtlichen Bezug haben. Die Grundfreiheiten werden daher vielfach auch ausdrücklich als "Grundrechte" der Gemeinschaftsordnung bezeichnet. Der Gerichtshofhat auch die Berufsfreiheit als Grundrecht des Gemeinschaftsrechts anerkannt. In den meisten entschiedenen Fällen wurde die Berufsfreiheit im Zusammenhang mit dem Eigentumsschutz erörtert. 265 Bei der Grundrechtsprufung wurde oft nicht einmal zwischen beiden Rechten klar unterschieden. In Bezug auf Einschränkungen der Berufsfreiheit hat der Gerichtshof immer wieder betont, daß dieses Recht nur in den Grenzen gewährleistet wird, die durch die dem Gemeinwohl dienenden Ziele der Gemeinschaft gesetzt werden, soweit dadurch nicht der Wesensgehalt dieses Rechts angetastet wird. 266 Es verwundert daher wenig, daß bisher alle Berufungen auf eine Verletzung der Berufsfreiheit
263 Vgl. z.B. EuGH Urteil vom 25.7.1991 - verb. Rs. C-l/90 u. C-176/90 (Aragonesa de Publicidad), frz. Sig. 1991, S. 1-4151; EuGH Urteil vom 7.3.1990 - Rs. C-362/88 (GBINNO), Sig. 1990, S. 1-667; EuGH Urteil vom 10.7.1980 - Rs. 152/78 (Kommission .I. Frankreich), Sig. 1980, S. 2299.
264 EuGH Urteil vom 18.6.1991 - Rs. C-260/89 (Elliniki Radiophonia Tileorassi AE .I. Dimotiki Etairia Pliroforissis et Sotirios Kouvelas), frz. Sig 1991,1-2925,1-2964 Rn. 43 (abgedruckt in EuZW (1991), S. 507 (510». 265 Vgl. z.B. EuGH Urteil v. 11.7.1989 - Rs. C-265/87 (Schräder), Sig. 1989, S. 2237 (2267ff.). 266 EuGH Urteil vom 8.10.1986 - Rs. 234/85 (Strafsache Franz Keller), Sig. 1986, S. 2897 (2912).
VI. Zulässigkeit der Grundrechtseinschränkung
129
durch Akte der Gemeinschaft, die sich als AusübWlgsbeschränkungen erwiesen, vor dem Gerichtshof erfolglos waren. 267
3. Bisherige Rechtsprechung des EuGH zum Eigentumsrecht Der Schutz des Eigentums ist in zahlreichen EntscheidWlgen des EuGH als Grundrecht der Gemeinschaft anerkannt worden. Auch die gewerblichen Schutzrechte sind vom Gerichtshof als eigentumsgleiche Rechte anerkannt worden. Ausgeschlossen vom Schutzbereich des Eigentums werden in ÜbereinstimmWlg mit den nationalen VerfassWlgsordnWlgen sogenannte kaufmännische Interessen oder Erwerbschancen. 268 Bei der Überprüfung von Einschränkungen des Eigentums hat der Gerichtshof unter Berufung auf die gemeinsame VerfassWlgstradition der Mitgliedstaaten Wld Art. I des Ersten Zusatzprotokolls der EMRK immer wieder die "soziale FWlktion" des Eigentumsrechtes betont. 269
VI. Zulässigkeit der Grundrechtseinschränkung im Gemeinschaftsrecht Da die Gemeinschaft bislang über keinen ausdrücklich formulierten GrWldrechtskatalog verfügt, sucht man vergebens nach einer klaren Systematik von GrWldrechtsschranken. In der Praxis hat der Gerichtshof die Möglichkeit von Einschränkungen der GrWldrechte aus einer vergleichenden Analyse der VerfassWlgstraditionen der Mitgliedstaaten Wld der internationalen Menschenrechtsverträge abgeleitet. Regelmäßig stellte der Gerichtshof daher in seinen EntscheidWlgen fest, daß die in Frage stehenden GrWldrechte nicht absolut gewährt würden, sondern im Interesse von Gemeinschaftsgütern eingeschränkt werden könnten. Schon in seinen ersten EntscheidWlgen zum Schutz der GrWldrechte in der Gemeinschaft hat der Gerichtshof klar ausgesprochen, daß die Gewährung von
267 Vgl. dazu Gölz, Verfassungsschranken interventionistischer Regulierung nach europäischem Gemeinschaftsrecht im Vergleich zum Grundgesetz, in: Europa-Institut der Universität des Saarlandes, Wissenschaftliches Kolloquium zum Völkerrecht, Europarecht und Verfassungsrecht anläßlich des 75. Geburtstages von Günther Iaenicke (Vortragsreiche des EuropaInstituts Nr. 166) (1989), S. 27 (37 f.). 261 Vgl. EuGH Urteil vom 18.3.1980 - verb. Rs. 154,205,206,226 bis 228, 263 und 264/78 sowie 39, 31, 83, und 85/79 (VaIsabbia), Slg. 1980, S. 907 (1010). 269
EuGH Urteil vom 13.12.1979 - Rs. 44/79 (Hauer), Slg. 1979, S. 3727 (3746 ff.).
9 Simma u. a.
130
D. Die Vereinbarkeit mit den Grundrechten
Grundrechten sich "in Ziele und Zwecke der Gemeinschaft einfügen" müsse. 270 Damit wird deutlich herausgestellt, daß Gemeinwohlinteressen, die Grundrechtseingriffe legitimieren können, nicht mit denen, die auch auf der Ebene der Mitgliedstaaten existieren, identisch sein müssen. Sowohl Inhalt als auch Gewichtung dieser Ziele und Zwecke können daher in der Verfassungsordnung der Gemeinschaft und deren Mitgliedstaaten unterschiedlich ausgeprägt sein. Diese Behauptung gemeinschaftsspezifischer Grundrechtsschranken ist zu einem festen Bestandteil aller späteren Entscheidungen zum Grundrechtsschutz geworden. Wie weit Ziele und Zwecke der Gemeinschaft Eingriffe in Grundrechte rechtfertigen können, wird vom Gerichtshof in einer Verhältnismäßigkeitsprüfimg untersucht, die sich in ihrer Struktur eng an das Muster der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes anlehnt: "Nach [dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit] sind Maßnahmen, durch die den Wirtschaftsteilnehmern finanzielle Belastungen auferlegt werden, nur rechtmäßig, wenn sie zur Erreichung der zulässigerweise mit der fraglichen Regelung verfolgten Ziele geeignet und erforderlich sind. Dabei ist, wenn mehrere geeignete Maßnahmen zur Auswahl stehen, die am wenigsten belastende zu wählen; ferner müssen die auferlegten Belastungen in angemessenem Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen. ,,271
Die Verhältnismäßigkeit eines Grundrechtseingriffs hängt ab von der Art der belastenden Maßnahme, der Bedeutung des zu schützenden Rechtsgutes und der Beziehung zwischen Maßnahme und Schutzobjekt. Wie der Gerichtshof die Verhältnismäßigkeit von Werbeverboten prüfen wird, ist schwierig vorherzubestimmen. Zum einen spielen faktische Vorfragen eine wesentliche Rolle bei der "Geeignetheit" des eingesetzten Mittels. Auch bei der "Erforderlichkeit" geht es weitgehend um faktische Fragen. Dabei ist zunächst zu klären, ob auch alternative Mittel geeignet sind. Sodann sind Kriterien zu entwickeln, nach denen die Effektivität der einsetzbaren Alternativen miteinander verglichen werden kann. Bei jeder denkbaren Alternative ist außer ihrer Effektivität und den unmittelbaren Kosten auch der Kollateraleffekt dieser jeweiligen Maßnahmen abzuschätzen. Vielfach lassen sich Effektivität und Folgewirkungen nur mit Prognoseentscheidungen auf der Grundlage von nicht absolut verifIzierbaren Untersuchungen abschätzen. Neben diesen faktischen Fragen spielt insbesondere beim Übermaßverbot die relative Wertigkeit des rechtfertigenden lnteresses im Vergleich zu den durch die Maßnahme betroffenen Interessen eine kaum zu überschätzende Rolle. Offensicht-
270 EuGH Urteil vom 17.12.1970 - Rs. 11/70 (Internationale Handelsgesellschaft), Slg. 1970, S. 1125 (1135, Rn. 4).
271
EuGH Urteil Schräder, a.a.O. (Fußn. 265), S.2269, Rn. 21.
VI. Zulässigkeit der Grundrechtseinschränkung
131
lieh werden recht Wlterschiedliche Urteile darüber gefällt werden, welches relative Gewicht dem GeSWldheitsschutz oder Jugendschutz einerseits Wld den konkurrierenden Freiheiten der betroffenen Unternelunen andererseits zukommen soll. Der reine Text gemeinschaftsrechtlicher Normen gibt keine allgemeine Antwort darauf, welches der konkurrierenden Güter höher einzustufen sei. (Schutz der GrWldrechte Wld GrWldfreiheiten, GesWldheitsschutz, Jugendschutz). Dementsprechend Wlterschiedlich wird dann die Grenze gezogen, jenseits derer eine "übermäßige" Einschränkung vorliegen soll. Eine verläßliche Aussage über das voraussichtliche Ergebnis einer Prüfung der Verhältnismäßigkeit durch den Gerichtshofwird zusätzlich dadurch erschwert, daß seine Urteile äußerst selten genauere Ausführungen zur Prüfung der Verhältnismäßigkeit enthalten, sondern sich stattdessen oft auf das Ergebnis dieser Prüfung beschränken. 272 1. Prognose- und Beurteilungsspielraum des Gesetzgebers
Die Überprüfung der Geeignetheit von Eingriffen zum GesWldheitsschutz läßt drei mögliche Alternativen zu: Die Maßnalune ist eindeutig geeignet zum Schutz der GesWldheit. Es besteht keine absolut gesicherte Erkenntnis darüber, ob die Maßnalune geeignet ist. Die Maßnalune ist eindeutig Wlgeeignet, da sie sich nachweislich nicht positiv auf den GesWldheitsschutz auswirkt.
hn ersteren Falle wäre zu prüfen, ob das geeignete Mittel auch erforderlich (d.h. Fehlen eines weniger eingreifenden geeigneten Mittels) Wld verhältnismäßig i.S. einer wertmäßigen Proportionalität erscheint. hn letzteren Falle wäre ein Eingriff in GrWldrechte natürlich mangels Geeignetheit des Mittels als eindeutig rechtswidrig zu qualifIzieren. Die Zwischenposition einer unklaren Sachlage scheint gerade im Falle eines Verbots der TabakwerbWlg gegeben zu sein. Während die Tabakindustrie vehement insistiert, daß die TabakwerbWlg lediglich dem Kampf der konkurrierenden Untemelunen um einen konstanten KWldenstamm diene, berufen sich Regierungen auf Studien, denen zufolge die WerbWlg zumindest dazu beitrage, auch neue Raucher heranzuziehen (besonders Wlter Jugendlichen), Wld Rauchern den
272 So die Kritik von Tomuschat, Aller guten Dinge sind ill?, in EuR (1990), S. 340 (357); Streinz, Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz und Europäisches Gemeinschaftsrecht (1989), S.425 t1
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D. Die Vereinbarkeit mit den Grundrechten
Ausstieg aus dem Tabakkonsum zu erschweren. Die Lösung dieser Sachfragen soll jedoch nicht Gegenstand der vorliegenden Untersuchung sein. 273 Für den Juristen stellt sich bei dieser nicht völlig geklärten Sachlage jedoch auch die Frage, ob ein Normgeber unter diesen Umständen dennoch einen Eingriff in Gnmdrechte vornehmen darfund welche Darlegungs- und Begrundungspflichten ihn treffen. Eng damit verknüpft ist die Frage, wie intensiv ein Gericht eine solche Schutznorm auf ihre Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht überprüfen wird. Die Rechtsprechung des Gerichtshofes enthält deutliche Hinweise darauf, daß eine richterliche Zurückhaltung bei der Überprüfung sowohl des administrativen als auch legislativen Ermessens geübt wird. Der Kommission wurde z.B. ein "weiter Ermessensspielraum" bei der Einschätzung von möglichen Folgen von Währungsmaßnahmen zugebilligt.274 Sofern bei der Beurteilung komplexer Sachverhalte ein derart weiter Ermessensspielraum zugebilligt wird, beschränkt sich die richterliche Kontrolle darauf zu prüfen, ob "kein offensichtlicher Irrtum oder Ermessensmißbrauch unterlaufen ist" oder ob die Grenzen des Ermessenspielraumes nicht "offensichtlich" überschritten sind. 27s Eine vergleichbare richterliche Zurückhaltung zeigt sich in Ansätzen beim Gerichtshof auch gegenüber dem Rat. 276 In einern Streit zwischen Italien und dem Rat über eine Verordnung zur gemeinsamen Marktorganisation für Getreide hielt der Gerichtshof fest ..... , daß das Ziel der fraglichen Gemeinschaftsregelung, ... , rur den Rat die Notwendigkeit mit sich bringt, eine komplexere wirtschaftliche Situation zu beurteilen. ... In einem solchen Fall erstreckt sich das Ermessen, über das der Rat bei der Würdigung einer komplexen wirtschaftlichen Situation verfugt, nicht allein auf die Art und die Tragweite der zu erlassenden Vorschriften, sondern bis zu einem gewissen Grade auch auf die Ermittlung der zugrunde liegenden Daten, was insbesondere bedeutet, daß es dem Rat frei steht, sich gegebenenfalls auf globale Feststellungen zu stützen ... 277
Auch bei der Prüfung der Verhältnismäßgkeit von Grundrechtseingriffen wurde von Kommentatoren immer wieder angemerkt, daß der Gerichtshof die Rechtsetzung durch EG Organe mit Zurückhaltung überprüft. Der Gerichtshof geht teilweise so
273
Siehe oben Abschnitt B.rn.
274 EuGH Urteil v. 14.5.1975 - Rs. 74/74 - (CNTA), Slg. 1975, S. 533 (547). 275 EuGH Urteil v. 25.5.1978 - Rs. 136/77 - (Racke), Slg. 1978, S. 1245 (1256) Rn. 4. 276 Siehe Nachweise bei Pemice, in Grabitz, Kommentar zum EWG-Vertrag, Art. 164, Rn.
38 ff.
277
14).
EuGHUrteilv. 12.7.1979-Rs. 166/78-(ItalienIRat),Slg. 1979,S.25 75 (2599, Rn.
VI. Zulässigkeit der Grundrechtseinschränkung
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weit, daß an Stelle einer eingehenden Verhältnismäßigkeitsprüfung pauschal auf den Gestaltungsspielraum der Organe der Gemeinschaft verwiesen wird: "Auch das Eigentumsrecht und die Berufsfreiheit sowie die Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes sind nicht verletzt. Nach ständiger Rechtsprechung kommt den rechtsetzenden Organen der Gemeinschaft hinsichtlich Art und Tragweite der zu treffenden Maßnahmen ein weiter Gestaltungsspielraum zu, wenn ... ein komplexer wirtschaftlicher Sachverhalt zu beurteilen ist. Aus den Akten ergibt sich nichts dafur, daß dieser Spielraum im vorliegenden Fall überschritten worden wäre; diese Rügen sind daher ebenfalls zurückzuweisen. ,,271
Mit Everling muß man wohl konstatieren, daß bei der Beurteilung der Einschränkungvon Grundrechten "Gesetzgebung und Verwaltung ein erheblicher Ermessensspielraum" eingeräumt wird. 279 Wie weit dieser Gestaltungsspielraum reicht, zeigt deutlich das Urteil im Falle Schräder, bei dem die Verhältnismäßigkeit einer Einschränkung der Berufsfreiheit und des Eigentumsrechts in Frage stand: "Was die gerichtliche Nachprüfbarkeit dieser Voraussetzungen [der Verhältnismäßigkeit] betrifft, so ist allerdings darauf hinzuweisen, daß der Gemeinschaftsgesetzgeber im Bereich der Gemeinsamen Agrarpolitik über einen Ermessenspielraum verfilgt, der seiner politischen Verantwortung, die ihm die Art. 40 und 43 EWG-Vertrag übertragen, entspricht. Folglich kann die Rechtmäßigkeit einer in diesem Bereich erlassenen Maßnahme nur dann beeinträchtigt sein, wenn diese Maßnahme zur Erreichung des Ziels, das das zuständige Organ verfolgt, offensichtlich ungeeignet ist. ,,280
Diese Überlegungen zur Kontrolldichte sind ein deutlicher Beleg dafür, daß auch der Gemeinschaft bei der Beurteilung der Erforderlichkeit und bei der Beachtung des Übermaßverbots ein weiter Spielraum zusteht. Die Ziele des Werbeverbots sind zum einen die Rechtsvereinheitlichung zur Herstellung eines gemeinsamen Marktes für alle Presseprodukte und zum anderen der Gesundheitsschutz. Beide Ziele werden kumulativ zur Rechtfertigung des Verbotes herangezogen. Angesichts ihres unterschiedlichen Charakters und ihrer unterschiedlichen Legitimationskraft sollen sie im folgenden gesondert untersucht werden.
218
20).
EuGHUrteil vom 27.6.1989 - Rs. 113/88 (Leukhardt), Slg. 1989, S. 1991 (2015, Rn.
279 Everling, Brauchen wir "Solange III"?, in: EuR (1990), S. 195 (209). Ebenso im Ergebnis Rengeling, a.a.O. (Fußn. 251), S. 221; Streinz, a.a.O. (Fußn. 272), S. 410-419; Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, Bd. TI (1988), S. 833 f. 280
Schräder-Urteil, a.a.O. (Fußn. 265), S.2270, Rn. 22.
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D. Die Vereinbarkeit mit den Grundrechten
2. Gesundheitsschutz als legitimes Ziel des Gemeinschaftsrechts Seit der Ändenmg des EWG-Vertrages durch die Einheitliche Europäische Akte zählt auch der Gesundheitsschutz nunmehr explizit zu den besonderen Anliegen der Gemeinschaft, wie es klar in Art. 100 a Abs. III EWGV zum Ausdruck kommt: "Die Kommission geht in ihren Vorschlägen nach Absatz 1 in den Bereichen Gesundheit, Sicherheit, Umweltschutz und Verbraucherschutz von einem hohen Schutzniveau aus."
Der Gesundheitsschutz findet eine weitere Stütze in der Präambel des EWGVertrages, in der die Mitgliedstaaten erklären "... , die stetige Bessenmg der Lebensund Arbeitsbedingungen ihrer Völker als wesentliches Ziel anzustreben[.]" Art. 2 des EWG-Vertrages, die zentrale Norm für die Aufstellung von Zielen der EG, stellt der Gemeinschaft die Aufgabe, "... eine beschleunigte Hebung der Lebenshaltung ... zu fördern, ... "
Der Begriff "Lebenshaltung" in Art. 2 EWG-Vertrag wird im Wege einer systematischen Auslegung, die insbesondere die Präambel und Art. 117, 130a, 130r etc. berücksichtigt, weit ausgelegt, so daß nicht nur der Lebensstandard, sondern auch die Lebensqualität erhöht werden soll. 281 Diese Vorschriften des Gemeinschaftsrechts belegen, daß die Gemeinschaft durchaus Aspekte des Gesundheitsschutzes bei ihren Rechtsetzungsvorhaben berücksichtigen kann und sogar soll. In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, daß sich daraus jedoch keineswegs eine Kompetenz der Gemeinschaft in Fragen des Gesundheitsschutzes ableiten läßt (vgl. die ausführliche Darlegung oben in Abschnitt C.). N ach Art. 3 Ziff. 0 des durch den Maastrichter Vertrag geänderten Vertrages besteht die Tätigkeit der Gemeinschaft auch darin, einen "Beitrag zur Erreichung eines hohen Gesundheitsschutzniveaus" zu leisten. Hierbei wird der Gemeinschaft im neuen Art. 129 EG-Vertrag aufgegeben, die Mitgliedstaaten bei ihrer Tätigkeit zur Sicherstellung eines hohen Gesundheitsheitsschutzniveaus zu unterstützen. Zusammenfassend muß festgestellt werden, daß keine Zweifel daran bestehen, daß auch der Gesundheitsschutz ein legitimes Ziel des Gemeinschaftsrechts darstellt, zu dessen Verwirklichung Grundrechtseinschränkungen denkbar sind.
281 Vgl. z.B. Zuleeg, in: GroebeniThiesinglEhlermann (Hrs.), EWG-Vertrag Kommentar (4. Aufl., 1991), Art. 2 Rn. 15; Grabitz, in: Grabitz (Hrs.), Kommentar zum EWG-Vertrag, Art. 2, Rn. 7.
VI. Zulässigkeit der Grundrechtseinschränkung
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3. Geeignetheit des totalen Verbots Hinsichtlich der Frage, ob ein totales Verbot der direkten Wld indirekten Tabakwerbung geeignet ist, den Tabakkonsum einzuschränken und damit einen wirksamen Beitrag zum GesWldheitsschutz zu leisten, liegt dieser UntersuchWlg die Annahme zugrunde282 , daß ein tatsächlicher Zusammenhang zwischen WerbWlg Wld Konsum ebenso wie zwischen Konsum und GesundheitsgefährdWlgen besteht. Ihren Ursprung hat diese faktische Prämisse auch darin, daß der Europäische Gerichtshof selbst in seinen Urteilen offenbar selbstverständlich eine ursächliche BeziehWlg zwischen WerbWlg Wld Konsum angenommen hat. So findet sich im Urteil des Gerichtshofes zu diskriminierenden WerbebeschränkWlgen für alkoholische Getränke folgende Aussage, die Wlproblematisch auf WerbWlg für andere Produkte übertragbar ist: "Dagegen ist die von der französischen Regierung hergestellte Verbindung zwischen der Regelung der Werbung für alkoholische Getränke und dem Kampf gegen den Alkoholismus anzuerkennen. Es läßt sich nämlich nicht bestreiten, daß die Werbung einen Konsumanreiz darstellt und daß die umstrittene Regelung daher in gewissem Umfang dem in Artikel 36 EWG-Vertrag als Rechtfertigungsgrund anerkannten Gesundheitsschutz dient. ,,283
Diese AuffasSWlg bestätigte der Gerichtshof in seinem Urteil zu Werbeverboten für alkoholische Getränke in Katalonien: "Somit ist erstens zu untersuchen, ob die streitige gesetzliche Regelung zum Schutz der öffentlichen Gesundheit geeignet und dem angestrebten Ziel angemessen ist. Zum ersten Punkt genügt die Feststellung, daß, wie der Gerichtshof in seinem Urteil vom 10. Juli 1980 in der Rechtssache 152/78 (KommissionlFrankreich, Sig. 1980, 2299, Randnr. 17) entschieden hat, die Werbung einen Konsumanreiz darstellt und daß eine Regelung, die die Möglichkeiten der Werbung rur alkoholische Getränke einschränkt und damit zum Kampf gegen den Alkoholismus beiträgt, dem Schutz der öffentlichen Gesundheit dient. ,,2M
Angesichts dieser pauschalen VerweisWlg auf das eigene frühere Urteil erscheint es äußerst Wlwahrscheinlich, daß der Gerichtshof diese generelle Aussage zur Wirksamkeit der WerbWlg in Zukunft im Falle der TabakwerbWlg revidieren würde.
281
Vgl. dazu oben Abschnitt B. III.
EuGH Urteil v. 1O.7.l980 - Rs. 152178 - (KommissionIFrankreich), Slg. 1980, S. 2299 (2316, Rn. 17). 283
284
Aragonesa de Publicidad-Urteil, a.a.O. (Fußn. 263).
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D. Die Vereinbarkeit mit den Grundrechten
4. Erforderlichkeit des eingesetzten Mittels "Mündiger Verbraucher" : Als Argument gegen ein Werbeverbot wird oft angeführt, ein solches widerspreche diametral dem Konzept des "mündigen Verbrauchers". Durch ein Werbeverbot werde dem Verbraucher die Möglichkeit genommen, sich über das Produkt zu informieren und eine selbständige Meinung über die Gefährlichkeit des Konsums zu bilden. Ein weitreichendes Werbeverbot sei folglich nicht erforderlich, da der Verbraucher sich hinreichend selber schützen könne durch Konsumverzicht. In diesem Zusammenhang wird auf die Rechtsprechung des Gerichtshofes zu nationalen Werbebeschränkungen hingewiesen und insbesondere das Urteil im Falle GB-INNO herangezogen: "... Artikel 30 EWG-Vertrag kann daher nicht in dem Sinne ausgelegt werden, daß nationale Rechtsvorschriften, die den Verbrauchern den Zugang zu bestimmten Infonnationen verwehren, durch zwingende Vorschriften des Verbraucherschutzes gerechtfertigt werden können. "m
Im Fall GB-INNO handelte es sich luxemburgische Verbote, in der Werbung die Dauer eines Sonderangebotes anzugeben und auf frühere Preise hinzuweisen. Der allgemeine Verweis auf die Mündigkeit des Bürgers verliert jedoch überall dort an Überzeugungskraft, wo es sich um potentiell gefährliche Tätigkeiten oder Produkte handelt, wie sich aus zahlreichen Beispielen ersehen läßt. So besteht eine Helmpflicht im Straßenverkehr, obwohl auch jeder Motorradfahrer sehr wohl selbst die erhöhten Unfallrisiken beim Fahren ohne Helm kennt. Zahllose Beispiele aus der Gesetzgebung zum Verbraucherschutz beschränken sich gerade nicht aufWarnungen und Produktinformationen, sondern sehen z.B. auch Verbote für bestimmte gefährliche Stoffe vor. Werbeverbote z.B. für Alkoholika oder rezeptpflichtige Medikamente, wie sie in zahlreichen Mitgliedstaaten existieren, sind weitere Beispiele für staatliche Maßnahmen, die dem Bürger letztlich nicht die freie Entscheidung darüber zugestehen, welche Risiken er eingehen möchte. Um die Tragweite des Urteils im Fall GB-INNO angemessen einschätzen zu können, darf nicht übersehen werden, daß der Gerichtshof im Rahmen seiner Cassisde-Dijon Rechtsprechung die Beachtung der immanenten Schranken des Art. 30 EWG-Vertrag überprüfte. Bei dieser Abwägung der vom Mitgliedstaat geltend gemachten zwingenden Erfordernisse mit dem gemeinschaftlichen Interesse einer Marktöffnung beansprucht der Gerichtshof eine volle Nachprüfung der Verhältnismäßigkeit der einschränkenden Maßnahme. Ganz anders verhält es sich, wenn Werbeverbote durch die ausdrücklichen Vorbehalte des Art. 36 EWG-Vertrag gerechtfertigt werden sollen, wozu ja gerade auch der Gesundheitsschutz zählt. Hier
28l
GB-Inno-Urteil, a.a.O. (Fußn. 263), S. 1-689, Rn. 18.
VI. Zulässigkeit der Grundrechtseinschränkung
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wird den Mitgliedstaaten ein recht weiter Spielraum bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit zuerkannes6, wie sich aus folgender lapidarer Feststellung im Fall des katalonischen Verbots der Alkoholwerbung ersehen läßt: "Es läßt sich daher jedenfalls nicht der Vorwurf erheben, daß die Maßnahme außer Verhältnis zu dem mit ihr offensichtlich verfolgten Zweck stehe.,,287
Festzuhalten bleibt deshalb, daß auch der Gerichtshof Werbeverbote nicht per se als Verstoß gegen das Ideal des infonnierten Verbrauchers ansieht. Als mögliches geringeres Mittel wurde die Beschränkung der Werbung auf die Verpackung des Erzeugnisses selbst vorgeschlagen. Dies geht insofern an den Werbestrategien der Industrie vorbei, als diese sich angesichts der weitgehenden Produktidentität wohl kaum anders als durch Imagewerbung voneinander abgrenzen können. Es erscheint überdies zweifelhaft, ob eine solche Beschränkung der Werbung auf die Verpackung tatsächlich zu einer Abkehr von der Imagewerbung führen würde. Denn zum einen würde sich dann die Imagewerbung auf die Verpackung beziehen können, also z.B. der Inhalt der Plakatwerbung auf die Packung übergehen. Zum anderen ist durch Imagewerbung für Nicht-Tabakprodukte in Verbindung mit Wiedererkennung der Marke der gleiche Effekt zu erzielen. Bei der Erwägung von Aufklärungskampagnen als geringeres Mittel ist zunächst zu berücksichtigen, daß diese Kampagnen kostspielig sein würden und von daher auch die Unkosten in die Abwägung miteinbezogen werden müßten. Weit wichtiger ist jedoch, daß sich der Erfolg von solchen Gegenkampagnen schwer prognostizieren läßt. In zahlreichen Mitgliedstaaten existieren ausgedehnte Kampagnen gegen den Tabakkonsum, die offenbar nicht allzu durchschlagende Erfolge verzeichnen können. Auch Warnungshinweise auf Packungen haben sich nicht als effektiv herausgestellt. Der Gesetzgeber liegt daher im Rahmen seines Spielraumes, wenn er die bisherigen Aufklärungskampagnen als nicht ausreichend einschätzt. Unabhängig von den Erfolgsaussichten von Aufklärungskampagnen ist auch zu berücksichtigen, daß nach Einschätzung des Normgebers, gerade die Imagewerbung selbst einen derartig gravierenden Suggestiveffekt aufweist, daß sie mit dazu beiträgt, Nichtraucher zum Rauchen zu bewegen. Aus der Sicht der Kommission stellt die Werbung selbst eine kausale Gefahrenquelle dar. Vor diesem Hintergrund erscheint es durchaus vernünftig und sogar geboten, nach dem Verursacherprinzip die Gefahr an ihrer Quelle zu kontrollieren. Die Realisierung der Gefahr sollte an
286 Dies betont Z.B. Everling, Die Einwirkung der Grundfreiheiten des EWG-Vertrages auf das Werberecht der Mitgliedstaaten, in: Zentrum für Europäisches Wirtschaftsrecht der Universität Bonn, Vorträge und Berichte Nr. 17 (1992), S. 9f. 287 Aragonesa de Publicidad Exterior-Urteil, a.a.O. (Fußn. 263), S. 8, Rn. 18.
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D. Die Vereinbarkeit mit den Grundrechten
der Quelle illlterbilllden werden anstatt erst durch Gegenkampagnen einen effektiven Schutz anzustreben.
5. Indirekte Werbung Das Verbot wird hauptsächlich mit dem Gesundheitsschutz für Jugendliche begründet. Daß dies ein gewichtiges öffentliches Interesse darstellt, wurde vom Gerichtshof in seinem Urteil zum" Werbeverbot für Alkoholika in Katalonien implizit anerkannt. 288 Ein Verbot der indirekten Tabakwerbung wurde bereits eingehend von Lerche auf seine Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz untersucht. 289 Lerche analysierte jedoch einen früheren Vorschlag der Kommission für eine Richtlinie des Rates betreffend die Presse- und Plakatwerbung für Tabakerzeugnisse. 290 Die Ergebnisse dieser Analyse, die sich insbesondere auch mit der BeeinträchtiglIDg von Art. 14 GG befaßte, sind nicht auf den hier zu prüfenden Richtlinienvorschlag übertragbar. So verlangt der neue Vorschlag ein generelles Verbot nicht mehr allein der indirekten, sondern jetzt auch der direkten Werbung für Tabakerzeugnisse. Damit wurde ein von Lerche zu Recht gerügter innerer Widerspruch der früheren Richtlinie beseitigt291 Darüber hinaus wird das Verbot der indirekten Werbung im neuen Entwurf nicht mehr allein mit möglichen Umgehungen des Verbots der direkten Werbung begründet. Die Kommission geht in ihrer Begründung des geänderten Vorschlags über das reine Umgehungsargurnent hinaus: "Alle Formen der indirekten Werbung erzeugen die gleichen Wirkungen wie direkte Werbung. Es sind daher auch alle Formen der indirekten Werbung zu untersagen, .... ,,292
Aus Sicht der Kommission ist ein Verbot der indirekten Werbung jetzt auch deshalb gerechtfertigt, weil auch diese Werbung, insbesondere aus der Sicht von
288
Aragonesa de Publicidad-Urteil, a.a.O. (Fußn. 263).
289
Lerche, a.a.O. (Fußn. 212).
290 KOM (89) 163 endg./2 - SYN 194; ABI. Nr. C 124/5 vom 19.5.1989. 291 Vgl. Lerche, a.a.O. (Fußn. 212), S. 41 f. 292 KOM (91) 111 endg. - SYN 194, Begründungserwägung im Textvorschlag (S. 19). Lerche ging bei seiner Analyse zu Recht davon aus, daß sich das Verbot der indirekten Werbung in dem von ihm geprüften Richtlinienvorschlag KOM (89) 163 endg./2 - SYN 194 "ausschließlich dem Umgehungsgedanken" verdanke. S. Lerche, a.a.O. (Fußn. 212), S. 16. Daher stellte sich fllr Lerche natürlich auch nicht die Frage, ob das Verbot der indirekten Werbung aus Gtiinden des Gesundheitsschutzes gerechtfertigt sein könnte, vgl. Lerche, a.a.O. (Fußn. 212), S. 31 f.
VI. Zulässigkeit der Grundrechtseinschränkung
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Jugendlichen, eine Werbung für Tabakerzeugnisse darstellt. Im Gegensatz zu dem fiüheren von Lerche analysierten Vorschlag soll das Verbot nun also aus den möglichen schädlichen Folgen der indirekten Werbung auch direkt gerechtfertigt werden. Zwei Fallgruppen können dabei unterschieden werden. 293 Zum einen kann ein Unternehmen eine Marke, die bislang für Tabakprodukte eingefuhrt war, fiir andere Produkte verwenden oder ihre Verwendung durch andere Unternehmen über Lizenzverträge autorisieren. Für den Markeninhaber stellt produktfremde Markenverwendung nicht nur eine potentiell lukrative Einnahmequelle bei Lizenzvergaben dar, sondern sie kann auch u.a. der Imagekonsolidierung und erhöhten Imagepräsenz dienen. Ein Imagetransfer ist also nicht notwendig primär von der Absicht getragen, für die ursprünglich mit der Marke assoziierten Tabakprodukte zu werben. Eine solche produktfremde Verwendung der Marke erscheint jedoch für den Markeninhaber und/oder den Lizenznehmer nur dann sinnvoll, wenn die Marke sich für einen "Imagetransfer" eignet, d.h., daß sie ein möglichst assoziationsdichtes, mit anderen Produktbereichen kompatibles, positives Image verkörpert. In Lizenzverträgen sichert sich der Markeninhaber deshalb verständlicherweise gegen eine "Verwässerung" dieses Images ab. Zu diesem Zweck wird der Verwender der Marke verpflichtet, auch bei der Werbung für markenfremde Produkte die gleichen Image-Elemente fortzuführen, um die Syrnbolfunktion und assoziierte Erlebniswelt der Marke zu bewahren. Gerade an diese Imagegebundenheit einer Marke knüpft die Kommission ihr Verbot der indirekten Werbung an: "Um die Beschränkungen der direkten Werbung zu umgehen und um ein Markenbewußtsein zu wecken oder zu stärken, hat sich die Tabakindustrie der indirekten Werbung zugewandt, ... Wenn man sich vorstellt, wie diese [indirekte] Werbung normalerweise betrachtet wird, dann ist in der Tat klar, daß wegen des hohen Bekanntheitsgrades der Tabakmarken, die in diesen Anzeigen dargeboten werden, die Werbung fur andere Erzeugnisse offensichtlich wie eine Werbung filr Tabakerzeugnisse dieser Marke wahrgenommen wird. Wir haben es daher hier mit einer Aufforderung zum Verbrauch dieser Erzeugnisse zu tun.,,294
Neben der indirekten Werbung, bei der eine Tabakmarke bei der Werbung für Nicht-Tabakprodukte eingesetzt wird, erfaßt das vorgeschlagene Verbot auch solche Marken, die fiir Nicht-Tabakprodukte eingeführt sind und nun auch als Tabakmarke verwendet werden sollen. Dabei kann der Markeninhaber selbst seine Produktpalette erweitern und damit in den Tabakbereich hinein diversifIzieren oder auch Z.B. ein
293 Zur produktfremden Verwendung von Marken vgl. Ruijsenaars, Die Verwertung des Werbewerts bekannter Marken durch den Markeninhaber, GRUR Int. (1988), S. 385 ff.; Völp, Vermarktung bekannter Marken durch Lizenzen, GRUR (1985), S. 843 ff. 294 KOM (91) 111 endg. - SYN 194, Begründung der Kommission, Teil II.2 (S. 7).
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D. Die Vereinbarkeit mit den Grundrechten
Tabakuntemelunen als Lizenzneluner die Verwertung der Marke im Tabakbereich betreiben. Anknüpfungspunkt für das Verbot dieser Form der indirekten Werbung ist für die Kommission, daß eine Marke mit einem positiven Image assoziiert wird und nun auch für Tabakprodukte verwendet werden soll, so daß ein Imagetransfer zum Tabakprodukt hin erfolge. Auch in diesem Falle soll nach Auffassung der Kommission die Werbung für Nicht-Tabakprodukte einen positiven Werbeeffekt für die Tabakprodukte der gleichen Marke zur Folge haben: "Hierbei geht das positive Image und der Impuls der Werbedarbietung, die dieses Produkt bereits erworben hat, auf das neue Tabakerzeugnis ober. ,,195
Bei beiden Formen der indirekten Werbung wird das Verbot der Werbung für Nicht-Tabakprodukte damit begründet, daß das verwandte Werbeimage einen positiven Effekt auch für Tabakprodukte hat. Der Begriff der Werbung wird in der Richtlinie von der Kommission daher auch wesentlich durch die Wirkung der Werbekommunikation und nicht etwa durch die Intention des Werbenden defIniert: "Werbung: Jede Form der Kommunikation - durch Druckwerke, Rundfunk, Fernsehen, Film oder auf mündliche Weise - deren Ziel bzw. deren direkte oder indirekte Wirkung die Verkaufsförderung - einschließlich der Werbung -for ein Tabakerzeugnis ist ... ,,2%
Angesichts der Betonung der Wirkung von Werbung, d.h. Anreiz zum Konsum, besteht insofern zwischen direkter und indirekter Werbung allenfalls ein gradueller Unterschied. Das Verbot der indirekten Werbung trifft jedoch nicht nur die Unternelunen der Tabakindustrie, die den Werbewert ihrer Marken nun nicht mehr in anderen Produktbereichen nutzen können. Betroffen sind auch Lizenzneluner, die Werbung für Nicht-Tabakprodukte betreiben und dabei Namen verwenden, die auch für Tabakprodukte verwendet werden. 297 Um diesem Verbot zu entgehen, könnten diese Unternelunen nur die verwendete Handelsmarke aufgeben und das Produkt stattdessen mit einem anderen Namen fortführen, bzw. neu einführen. Um ein Beispiel zu geben: Für "Camel Fashion" könnte nur weiter geworben werden unter der Bedingung, daß der Name "Camei" nicht mehr bei der Werbung verwendet wird; die Werbestrategie mit Betonung der Abenteuerlust könnte jedoch beibehalten werden.
295
KOM (91) 111 endg. - SYN 194, BegrOndung der Kommission, Teil II.2 (S. 8).
296 KOM (91) 111 endg. - SYN 194, Text des Richtlinienvorschlags (S. 20) (Hevorhebung durch die Autoren). 297 Siehe die differenzierende Regelung des Verbots indirekter Werbung bei Handelsmarken, die ursprOnglich nicht für Tabakerzeugnisse angemeldet waren, in Art. 2a des Geänderten Vorschlags (EG-ABI. Nr. C 129/5 vom 21.5.1992).
VI. Zulässigkeit der Grundrechtseinschränkung
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Eine Beeinträchtigung einer Eigentwnsposition erscheint in diesem Falle insofern ausgeschlossen, als die VeIWendilllg der Marke durch den Lizenznehmer typischerweise auf einem rein schuldrechtlichen Vertrag beruht, der kein eigentwnsgleiches Recht gewährt. Der Schutzbereich der Meinilllgsfreiheit illld der Berufs- illld Wirtschaftsfreiheit ist jedoch durchaus bemhrt. Bei der Verhältnismäßigkeit eines Verbots der indirekten Werbilllg stellen sich bezüglich der Geeignetheit illld Erforderlichkeit des Eingriffs die gleichen Fragen wie beim Verbot der direkten Werbilllg (siehe oben Abschnitt D VI. 3.,4.). Was die Grenzen einer verhältnismäßigen Einschränkung der Berufsfreiheit und des Eigentwns angeht, ist beim Gerichtshof eine starke ZUlÜckhaltilllg bei der Überpmfung festzustellen. Häufig beschränkt sich die Urteilsbegrundilllg auf die Feststellung, daß im jeweiligen Falle jedenfalls nicht der Wesens gehalt dieser Grundrechte angetastet werde. Solange die Berufsausübilllg in veränderter Form, z.B. durch Herstellung anderer Produkte oder Produkten mit anderem Namen, möglich bleibt, erscheint für den Gerichtshof eine Einschränkilllg wohl kaum als unverhältnismäßig: "Diese Regelung [der Referenzmengen in der Milchwirtschaft] tastet das Eigentum und das Recht der freien Berufsausübung nicht in ihrem Wesensgehalt an, da es den betreffenden Wirtschaftsteilnehmern unbenommen bleibt, in dem fraglichen Betrieb etwas anderes als Milch zu erzeugen. ,,298
Gerade für die Bewertill1g der indirekten Werbung läßt sich aus dem genannten Urteil der Schluß ziehen, daß der Gerichtshof den betroffenen Unternehmen durchaus eine Umstellilllg der Produktwerbung durch VeIWendung von nicht "vorbelasteten" Warenzeichen zumuten wird.
6. Gesundheitsschutz für Jugendliche Die Kommission beruft sich in ihrer Begrundung insbesondere auf die gefährliche Suggestivwirkilllg von (direkter wie indirekter) Werbilllg auf Jugendliche. Gerade beim Schutz von Minderjährigen trägt der Gesetzgeber eine besondere Verantwortung, wie sich leicht aus zahlreichen Spezialgesetzen zum Schutz von Jugendlichen ersehen läßt. Anders als beim eIWachsenen Verbraucher wird Jugendlichen gerade nicht bedingilllgslos zugute gehalten, daß sie in voller Eigenverantwortilllg die auf sie einwirkenden Werbekampagnen durchschauen. Die oben eIWähnte Berufung auf den "mündigen Verbraucher" greift insbesondere bei Jugendlichen nicht. Wo der Einzelne sich nicht wirksam gegen Gefahren der Selbstschädigilllg
298
EuGH Urteil vom 10.1.1992 - Rs. C-I77/90 (Kühn), Slg. 1991, S. I-35.
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D. Die Vereinbarkeit mit den Grundrechten
schützen kann, entwickelt sich das Recht auf körperliche Unversehrtheit womöglich zu einem Anspruch auf besondere staatliche Schutzmaßnahmen. 299 Berücksichtigt werden muß insbesondere, daß es wohl kaum eine praktikable Möglichkeit gibt, das Tabakwerbeverbot auf solche Formen zu beschränken, die allein Jugendlichen zugänglich sind. Insofern kann nur ein Totalwerbeverbot effektiv den Schutz der Jugendlichen gewährleisten.
7. Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne In dieser dritten Stufe der Prüfung ist kein optimaler Ausgleich der widerstreitenden Interessen gefordert. Untersucht werden soll lediglich, ob die Schwere des Eingriffs in Grundrechte "in einem Mißverhältnis" steht zu dem durch die Maßnahmen zu erzielenden Schutz von Gemeinwohlinteressen. Für die Abwägung der widerstreitenden Interessen ist dabei von besonderer Bedeutung, inwieweit der personale Kern der betroffenen Grundrechtspositionen angetastet wird. 3°O Im konkreten Fall der Wirtschaftswerbung steht das Streben nach wirtschaftlichem Erfolg hinter dem Interesse an freier Berufsausübung, uneingeschränkter Nutzung des eigentumsgleichen Warenzeichens und Produktwerbung. Ein Werbeverbot betrifft daher nicht so sehr personelle Interessen als viel mehr wirtschaftliche Interessen, so daß der personale Gehalt der Grundrechte von einer Einschränkung des wirtschaftliehen Erfolgsstrebens nicht angetastet wird. Andererseits muß bezüglich des Gesundheitsschutzes von Jugendlichen berücksichtigt werden, daß gerade der präventive Schutz der körperlichen Unversehrtheit sich direkt auf den personalen Kern der Grundrechte als Sicherung der individuellen Freiheit bezieht.
8. Rechtfertigung durch das Ziel der Rechtsharmonisierung Durch ein einheitliches Werbeverbot soll der freie Verkehr der Printmedien in der Gemeinschaft ermöglicht werden und gleichzeitig sollen etwaige Wettbewerbsverzerrungen abgebaut werden. In den Ausführungen zur Kompetenzfrage wurde bereits ausführlich dargelegt, daß ein totales Verbot der direkten und indirekten Werbung nicht durch das Vertragsziel Binnenmarkt gerechtfertigt werden kann. Aus den gleichen Gründen kann auch ein Grundrechtseingriff nicht durch das Ziel des Binnenmarktes allein gerechtfertigt werden (siehe oben Abschnitt C. V.3.).
299 Siehe dazu umfassend Hennes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit (1987). 300 Vgl. Hesse, Funktionelle Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Festschrift f. HHuber (1981), S. 261 (266).
VI. Zulässigkeit der Grundrechtseinschränkung
143
Wie oben bereits dargelegt, kommt man zu einer Prüfung der Vereinbarkeit des Werbeverbots mit Gnmdrechten der Gemeinschaft nur Wlter der kontrafaktischen Annahme, daß die Gemeinschaft eine Kompetenz zum Erlaß der Richtlinie besitzt. Für die weitere Prüfung der Verhältnismäßigkeit muß deshalb grWldsätzlich davon ausgegangen werden, daß die Richtlinie auf Art. 100a EWG-Vertrag gestützt werden könnte. Dies hat jedoch zur Folge, daß die Gemeinschaft sich bei der Rechtfertigung der Gnmdrechtseingriffe hypothetisch auch kumulativ auf Belange des GesWldheitsschutzes und der RechtsvereinheitlichWlg berufen kann. In der EMRK, anderen internationalen Abkommen zum Menschenrechtsschutz Wld auch den nationalen VerfassWlgsordnWlgen fmdet sich kein ausdrücklicher Hinweis darauf, daß die RechtsvereinheitlichWlg als solche ein legitimes Ziel darstellt, das die EinschränkWlg von Gnmdrechten rechtfertigen könnte. Dennoch ist die Europäische Gemeinschaft nicht daran gehindert, eine Einschränkung von Gnmdrechten auch mit dem Ziel des Binnenmarktes zu begründen. In Art. 8a EWG-Vertrag erhält die Europäische Gemeinschaft ausdrücklich den Auftrag, bis zum 31.12.1992 schrittweise den Binnenmarkt zu verwirklichen. Wie bereits dargelegt, haben sich die Gnmdrechte in die Struktur Wld die Ziele der Gemeinschaft einzufügen. Gerade die ErreichWlg des Binnenmarktes stellt ein Beispiel fiir eine gemeinschaftsspezifische GrWldrechtsschranke dar. Danach könnte die Gemeinschaft überall dort, wo GnmdrechtseinschränkWlgen zum Schutz höherwertiger öffentlicher Interessen erforderlich sind, diese durch das Ziel des Binnenmarktes rechtfertigen. Die Eigenständigkeit des Gnmdrechtssystems des Gemeinschaftsrechts besteht eben gerade auch darin, daß die Gemeinschaft spezifische Aufgaben zu erfüllen hat, zu denen auf nationaler Ebene, wie das Beispiel der RechtsvereinheitlichWlg zeigt, kein Äquivalent zu fmden ist. Bei der BestimmWlg der Höhe des Schutzniveaus i.S. des Art. IOOa Abs. 3 EWGV wird den Organen der EG allgemein ein weiter Ermessensspielraum eingeräumt, der nur eingeschränkt vom Gerichtshof überprüft werden SOll.301 Gerade um die Möglichkeit von AusnahmeregelWlgen für Mitgliedstaaten nach Art. 1OOa Abs. 4 EWG-Vertrag auszuschließen, kann eine Richtlinie im Interesse einer Absicherung der RechtsvereinheitlichWlg ein hohes Schutzniveau verlangen. Insofern unterstützt das Ziel der RechtsvereinheitlichWlg die Wahl eines besonders hohen GesWldheitsschutzes auf Gemeinschaftsebene.
301 Siehe Pipkom, in: G/TIE, Art. 100A, Rn. 77; Glaesner, Die Einheitliche Europäische Akte, in: EuR (1986), S. 119 (131).
144
D. Die Vereinbarkeit mit den Grundrechten
VII. Grundsätzliche rechtspolitische Erwägungen Es bleibt festzuhalten, daß sich das Ergebnis einer Verhältnismäßigkeitsprufung wegen der Beurteilung faktischer Vorfragen und der kaum objektiv vollziehbaren Abwägung der widerstreitenden Interessen nur schwer eindeutig prognostizieren läßt. Jedoch sollten folgende eher rechtspolitische Erwägungen, die maßgeblich die Praxis der grundrechtlichen Rechtsprechung des Gerichtshofes beeinflussen, nicht unbeachtet bleiben: Die Rechtsprechung des Gerichtshofes zu den Grundrechten hat sich wesentlich als Antwort auf die Rechtsprechung der nationalen Verfassungsgerichte entwickelt, die sich angesichts fehlenden Grundrechtsschutzes in der Gemeinschaft eine Prufung von Rechtsakten der Gemeinschaft vorbehielten. Gerade aus diesem Grunde orientiert sich der Gerichtshof nach wie vor an dem Grundrechtsstandard der Mitgliedstaaten .. Da gute Grunde für die Annahme sprechen, daß ein totales Werbeverbot nicht gegen die Grundrechte in den Verfassungen der Mitgliedstaaten verstoßen würde, riskierte der Gerichtshof somit keinen Konflikt mit den nationalen Verfassungsgerichten, wenn er auch auf der Ebene des Gemeinschaftsrechts ein solches Verbot für grundrechtskonform hielte. Überdies ersparte er sich dadurch auch die Entscheidung über vorhersehbare Folgefälle, die bei einem Verstoß des Werbeverbotes gegen Grundrechte der Gemeinschaft die Frage aufwerfen würden, ob die nationalen Werbeverbote in Staaten wie z.B. Frankreich, Italien und Portugal nicht eine unzulässige Einschränkung der Grundfreiheiten des freien Marktes darstellen, denn auch bei Einschränkungen der Grundfreiheiten sind die Mitgliedstaaten an die Grundrechte des Gemeinschaftsrechts gebunden. Eine zweite rechtspolitische Erwägung wird für den Gerichtshof dann in den Vordergrund treten, wenn ein Werbeverbot in einzelnen Mitgliedstaaten grundrechtswidrig wäre. Die vergleichende Auswertung der Verfassungsordnungen der Mitgliedstaaten hat ergeben, daß in keiner von diesen bislang ein totales Werbeverbot für verfassungswidrig erklärt worden ist. Es wurde aber auch auf die besonderen grundrechtlichen Bedenken hingewiesen, die gerade im deutschen Schrifttum vorgebracht worden sind. In dieser Situation kann nicht mit absoluter Sicherheit angenommen werden, daß ein totales Werbeverbot mit den Grundrechten des Grundgesetzes vereinbar wäre. In Fällen, in denen die Beurteilung einer Grundrechtsfrage in den Mitgliedstaaten zu unterschiedlichen Ergebnissen führt, würde sich der Gerichtshofjedoch besonders daran orientieren, wie diese Rechtsfrage nach der Europäischen Menschenrechtskonvention oder anderen Menschenrechtsverträgen zu beantworten wäre. Bei derartigen Divergenzfällen bietet gerade die EMRK die Grundlage für einen gemeinschaftsweiten Konsens, wie sich aus der Entscheidung im Falle H oechst ersehen läßt: Nachdem der Gerichtshof festgestellt hatte, daß nicht in allen Mitgliedstaaten Geschäftsräume den Schutz der Wohnung genießen,
Vll. Grundsätzliche Erwägungen
145
gewann er seine Bestimmung des Schutzbereiches unter Berufung auf Art. 8 der EMRK. 302 Der Gerichtshof würde sich deshalb wohl auch dann unmittelbar an die Aussagen der EMRK halten, wenn das totale Werbeverbot für Tabak in den Mitgliedstaaten unterschiedlich verfassungs gerichtlich gewürdigt werden würde. Dies gilt umsomehr, als der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seiner Entscheidung zum Falle Markt Intern 303 klare Leitlinien für die Beurteilung von Beschränkungen der Werbung vorgegeben hat. Da das Werbeverbot, wie dargelegt, mit der EMRK aller Voraussicht nach vereinbar wäre, käme der Gerichtshof auch in dieser Fallkonstellationfolglich zu einer Vereinbarkeit des Verbotes mit den Grundrechten des Gemeinschaftsrechts.
302
Hoechst-Urteil, a.a.O. (Fußn. 140), S. 2924, Rn. 19.
303
Fall Markt Intern, a.a.O. (Fußn. 161).
10 Simma u. a.
E. Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse 1. Der EWG-Vertrag gewährt der Gemeinschaft keine Kompetenz, die vorgeschlagene Richtlinie in ihrer letzten Fassung zu verabschieden. 2. Selbst wenn die Gemeinschaft eine Kompetenz zum Erlaß der Richtlinie in ihrer derzeitigen Fassung hätte (was nicht der Fall ist), wäre Art. IOOa EWG-Vertrag keine gültige Rechtsgrundlage für den Erlaß. Da dieser Fehler nicht rein formaler Natur wäre, WÜrde der Erlaß der Richtlinie auf dieser Rechtsgrundlage zur Rechtswidrigkeit und damit zur Nichtigkeit führen. 3. Selbst wenn die Gemeinschaft eine Kompetenz zum Erlaß der Richtlinie in ihrer letzten Fassung hätte (was nicht der Fall ist), würde die Richtlinie den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verletzen, an den die Gemeinschaft beim Erlaß von Rechtsnormen gebunden ist. 4. Der Erlaß der Richtlinie WÜrde auch gegen den Grundsatz der Subsidiarität verstoßen, der ausdIilcklich in den Maastrichter Vertrag zur Europäischen Union aufgenommen 5. Sollte die Richtlinie in ihrer letzten Fassung erlassen werden und es im Anschluß daran zu einem Streit über ihre Rechtrnäßigkeit vor deutschen Gerich-ten und schließlich vor dem Bundesverfassungsgericht kommen, so halten wir es für wahrscheinlich, daß das Bundesverfassungsgericht sich die endgültige Entscheidung darüber vorbehalten könnte, ob diese Maßnahme der Gemeinschaft noch von den ihr durch den EWG-Vertrag gewährten Kompetenzen gedeckt ist. 6. Für den Fall, daß der Gemeinschaft eine Kompetenz zum Erlaß der Richtlinie in ihrer letzten Fassung zusteht und die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und Subsidiarität respektiert sein sollten (was sämtlich nicht der Fall ist), stellt das geplante Werbeverbot weder eine Verletzung internationaler Menschenrechtsverträge noch einen ungerechtfertigten Eingriff in die Grundrechte des Gemeinschaftsrechts dar.
F. Die Vereinbarkeit der Richtlinie 98/43/EG mit dem Gemeinschaftsrecht I. Einleitung Der Richtlinienentwurf des Jahres 1992 wurde als Maßnahme basierend auf Art.
1OOa EGV vorgeschlagen und sollte alle Formen der Werbung für Tabakprodukte,
sowohl direkte als auch indirekte, auf dem gesamten Gemeinschaftsgebiet verbieten. 304 Der auf dem ursprunglichen Kommissionsvorschlag basierende Gemeinsame Standpunkt des Rates führt einzelne Änderungen ein, z.B. bringt er mit seinem Verweis auf Artikel 57 Abs.2 und 66 zwei neue Rechtsgrundlagen ins Spiep05 Der Rechtsausschuß des Europäischen Parlaments ist nach eingehender Beratung zu dem Schluß gekommen, daß der neue Richtlinienvorschlag, der aus dem Gemeinsamen Standpunkt entstanden ist, ultra vires ist und der Gemeinschaft die Rechtsgrundlage für den Erlaß fehlt. Die Begrundung dieses Votums stimmt in den wesentlichen Punkten mit den oben im Abschnitt C vorgetragenen Argumenten oberein. 306
304 Geänderter Vorschlag rur eine Richtlinie des Rates für die Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften betreffend die Werbung für Tabakerzeugnisse, (92/C 129/04) COM(92) 196 endg. - SYN 194; (von der Kommission gern. Art. 149 Abs. 3 EGV am 30. April 1992 vorgelegt) EG-ABI. Nr. C 167,27 von 27.06.1992, S.3, abgedruckt in ANNEX I zu dieser Abhandlung. Die einzige und eng begrenzte Ausnahme, die der Richtlinenentwurf des Jahres 1992 machte, war die Werbung für Tabakprodukte in "Tabakgeschäften: auf den Verkaufvon Tabak spezialisierte Verkaufsstellen, die zur Bedienung ihrer Kunden über einen geschlossenen Innenraum verfugen. Geschäfte mit mehreren Verkaufsabteilungen rur verschiedene Produkte fallen nicht mehr unter diese Begriffsbestimmung". Weder der Richtlinienentwurf noch der neue Text betrafen die Fernsehwerbung, da diese schon durch die Richtlinie 89/552 in ihrer geänderten Fassung verboten worden war.
305 Gemeinsamen Standpunkt (EG) Nr. 15/98, vom Rat festgelegt am 12. Februar 1998 im Hinblick auf den Erlaß der Richtlinie 98/IEG des Europäischen Parlaments und des Rates vom ... zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über Werbung und Sponsoring zugunsten von Tabakerzeugnisse (EG-ABI. Nr. C 91134 vom 26.03.1998). Der Text der im Gemeinsamen Standpunkt vorgeschlagenen Richtlinie ist identisch mit der Endfassung der Richtlinie 98/43IEG, s. Annex II zu dieser Abhandlung. 306 s. die Mitteilung des Vorsitzenden des Rechtsausschusses an den Präsidenten des Parlaments, abgedruckt in ANNEX mzu diesser Abhandlung. 10'
148
F. Vereinbarkeit der Richtlinie 98/43/EG mit Gemeinschaftsrecht
Trotz der rechtlichen Bedenken des eigenen Rechtsausschusses gab das Parlament mit großer Mehrheit seine Zustimmung zu der im Gemeinsamen Standpunkt vorgelegten Richtlinie, die sodann vom Rat am 6. Juli 1998 verabschiedet wurde. 307 Auf Grund ihrer schwerwiegenden Bedenken hinsichtlich einer ausreichenden Rechtsgrundlage zum Erlaß dieser Richtlinie hat die Bundesrepublik Deutschland eine Nichtigkeitsklage nach Art. 173 EGV erhoben. 308 hn folgenden sollen zunächst die Unterschiede zwischen dem im Gemeinsamen Standpunkt des Rates vom 12. Februar 1998 vorgelegten Richtlinienentwurf und seinem Vorläufer, dem Geänderten Richtlinienvorschlag aus dem Jahre 1992, herausgearbeitet werden. Anschließend wird untersucht werden, ob die im Gemeinsamen Standpunkt des Rates vorgelegten Anderungen hinreichend erscheinen, um die Richtlinie vom Verdikt einer fehlenden Gemeinschaftskompetenz zu befreien. Wenn im folgenden allein von der im gemeinsamen Standpunkt vorgelegten Richtlinie gesprochen wird, so beziehen sich die Aussagen selbstverständlich auch auf die schließlich angenommene endgültige Fassung der Richtlinie. 309
11. Anwendungsbereich und Reichweite der Richtlinie nach dem Gemeinsamen Standpunkt des Rates Die Andenmgen, die der Rat zu dem Entwurf der Kommission vorschlägt, sind in weiten Teilen entweder technischer Natur oder haben nur klarstellende Funktion. In seinen Begrundungen führte der Rat aus, der Text, der in dem Gemeinsamen Standpunkt angenommen wurde, "beschränkt sich im Rahmen des vorgeschlagenen Zieles auf Änderungen, mit denen insbesondere der Anwendungsbereich und die Tragweite der Vorschriften klarer angegeben und besser umrissen werden sollen und/oder mit denen praktischen Bedenken Rechnung getragen werden 8011.,,310
J07 Richtlinie 98/43/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Juli 1998 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über Werbung und Sponsoring zugunsten von Tabakerzeugnisse (EG-ABI. L 213/9 vom 30.07.1998), abgedruckt in ANNEX II zu dieser Abhandlung. JOB Rs. C-376/98 - DeutschlandlParlament u. Rat. Zu weiteren Individualklagen gegen die Richtlinie 98/43/EG s. Europa-Report: Klagen gegen Werbe-Richtlinie rur Tabakerzeugnisse, EuZW 1998, S. 674 f
J09 Die einzigen Änderungen der Formulierung der Richtlinie 98/43/EG gegenüber der im Gemeinsamen Standpunkt vorgelegten Fassung bestehen in notwendigen formellen Ergänungen, wie z.B. dem Einsetzen der Richtliniennummer im Titel und der Daten der Zustimmung des Parlaments, des Ablaufs der Umsetzungsfrist und der Zustimmung des Rates.
II. Anwendungsbereich und Reichweite der Richtlinie
149
Die Neuenmgen hinsichtlich Anwendungsbereich und Reichweite der Richtlinie beziehen sich vor allem auf "a) das Sponsoring, das ausdrücklich einbezogen wird; b) genauere Angaben über den Umfang des Verbots indirekter Werbung durch die Verwendung von Marken (und sonstigen Unterscheidungsmerkmalen); c) die Festlegung bestimmter Bereiche und Aspekte, rur die die Richtlinie nicht gilt und die auf einzelstaatlicher Ebene geregelt werden können, unter anderem die Frage der Verkaufsstellen; d) besondere Bedingungen rur die Anwendung einiger Bestimmungen und die Überwachung... "m
Keine dieser Änderungen schränkt den Gesamtumfang des Anwendungsbereiches der Richtlinie in zufriedenstellender Weise ein. Der Anwendungsbereich bleibt in vollem Umfang erhalten und wird dadurch, daß das Sponsoring nachdrücklich mitaufgenommen wurde, sogar noch erweitert. Gemäß Artikel 3 Abs. I des Gemeinsamen Standpunkts gilt demnach folgendes: "Unbeschadet der Richt1inie 89/552/EG sind alle Arten der Werbung und des Sponsorings für Tabakprodukte auf dem Gebiet der Gemeinschaft verboten"312
Art.2 Abs.1 des Entwurfes von 1991 hingegen lautete: "Unbeschadet der Richtlinie 89/552/EG sind alle Arten der Werbung rur Tabakprodukte auf dem Gebiet der Gemeinschaft verboten"
Die einzigen materiellen Ausnahmen, die bleiben und von dem Gemeinsamen Standpunkt in einigen Punkten nur abgewandelt wurden, betreffen a) die Werbung in Tabakgeschäften; b) Mitteilungen, die ausschließlich für Angehörige des Tabakhandels bestimmt sind, und c) die Bestimmung, die es den Mitgliedstaaten zu gestatten erlaubt, daß ein Name, der bereits guten Glaubens sowohl für Tabakerzeugnisse als auch für andere Erzeugnisse oder Dienstleistungen verwendet wurde, die von ein und demselben Unternehmen vor dem Inkrafttreten dieser Richtlinie in den Verkehr gebracht
310
EG-ABI. Nr. C 91 vom 26.03.1998, S. 38 (39).
m Ibid. 312
Artikel 3 Abs.l des Gemeinsamen Standpunkts.
150
F. Vereinbarkeit der Richtlinie 98/43/EG mit Gemeinschaftsrecht
oder angeboten wurden, in der Werbung für die anderen Erzeugnisse oder Dienstleistungen weiterverwendet werden darf'l3. Insgesamt also beschränkt der Gemeinsame Standpunkt die materielle Reichweite und den Umfang der Richtlinie nicht, sondern, ganz im Gegenteil, er erweitert ihn, indem er das Sponsoring miteinschließt. Die Richtlinie soll sogar dann Anwendung finden, wenn das Sponsoring keine grenzüberschreitende Wirkung hat: Die Förderung des Jahrestreffens des Cockerspanielclubs von Starnberg durch das Land Bayern wäre wegen der schädlichen Einwirkung auf den Binnenmarkt ebenso verboten wie z.B. Sponsoring in Wimbledon. Im Prinzip gelten daher alle Schlußfolgerungen, die bei der Beurteilung des Entwurfes von 1991 gezogen wurden, auch für den Gemeinsamen Standpunkt von 1998.
In dem Gemeinsamen Standpunkt fmdet man zwei Ansatzpunkte, die die Kernthese dieses Gutachtens unterstützen, wonach eine Richtlinie, die nur Handelsbarrieren abbauen und Wettbewerbsverzerrungen beseitigen soll, einen viel engeren Anwendungsbereich haben muß als der gegenwärtige Kommissionsentwurf und der Gemeinsame Standpunkt des Rates: zum einen, daß die gegenwärtige Fassung, in ihrer Vollumfänglichkeit und Reichweite, in erster Linie eine Maßnahme für die öffentliche Gesundheit in der Gestalt einer harmlosen Richtlinie zur Rechtsangleichung des Binnenmarktes darstellt; zum anderen, daß der Entwurf in dieser Form entstand, um die verfassungsrechtlichen Garantien des Vertrages zu umgehen. Diese hätten zumindest eine andere Rechtsgrundlage (z.B. Artikel 235 EGV) für einige Bestimmungen erfordert und das vollständige Verbot des Artikels 3 Abs.l auf Werbe- und Sponsoringmaßnahmen beschränkt, die den Binnenmarkt tatsächlich betroffen hätten. Das Verbot von Tabakwerbung in bestimmten Printmedien, auf Plakaten, in Kinos usw., die wegen ihrer rein lokalen Wirkung keinen Einfluß auf den Binnenmarkt haben, kann nur aus gesundheitspolitischen Gründen gerechtfertigt sein und unterliegt damit nicht der Rechtsangleichung durch die Gemeinschaft, wie Artikel 129 EGV ausdrücklich festlegt.
III Artikel 3 des Gemeinsamen Standpunkts. Der Gemeinsame Standpunkt eröffnet des weiteren die Möglichkeit, die Umsetzung des Art. 3 Abs. 1 bezüglich der Printmedien um ein Jahr, bzgl. Sponsoring um zwei Jahre und weitere drei Jahre bei besonderen weltweiten Ereignissen zu verschieben (vgl. Artikel 6 des Gemeinsamen Standpunkts).
ill. Tarnung von Ursprung, Zweck und Auswirkungen
151
111. Die Tarnung von Ursprung, Zweck und Auswirkungen der Richtlinie Wenn man die Entstehung der Richtlinie über Tabakwerbung ZUIilckverfolgt, kann man klare Strukturen erkennen, die der derzeitige Gemeinsame Standpunkt als letztes und zugleich herausragendstes Beispiel unterstreicht.
In ihren Anfängen wurde die Richtlinie klar als .eine Maßnahme verstanden, die größtenteils die öffentliche Gesundheit betrifil: und nebenbei auch Einfluß auf den Binnenmarkt hat. Als die Richtlinie ihren mühsamen Weg durch das EG-Rechtssetzungsverfahren nahm, wurde das Gesundheitswesen in der Präambel und anderen begründenden Ausführungen immer seltener erwähnt, obwohl das vollständige Verbot mit einer Reichweite über die Belange des Binnenmarktes hinaus unverändert blieb. Der ursprüngliche Entwurf des Jahres 1989 beschäftigte sich mit dem Gesundheitswesen und bezog sich insbesondere auf eine Entscheidung des Europäischen Rates, ein Aktionsprogramm zur Krebsbekämpfung ins Leben zu rufen. Wenn auch dieser Entwurf von 1989 einen viel eingeschränkteren Anwendungsbereich haben sollte, kann man wohl behaupten, daß auch dieser schon teilweise ultra vires war. 114 Durch einige inhaltliche Verbesserungen des Entwurfs von 1989 durch die Kommission entstand schließlich der Entwurf von 1991, der das vollständige Verbot für alle Formen der Werbung, mit den üblichen Ausnahmen für Tabakgeschäfte usw., enthielt. Die Kommission war bewundernswert ehrlich, als sie in ihrem erklärenden Memorandum die Motive für den Schritt von speziellen Verboten, wie sie der Vorschlag von 1989 vorsah, zu einem Gesamtverbot im Jahr 1991 darlegte. lIS Abschnitt I des Memorandum beginnt mit einem zusammenfassenden Überblick der gegenwärtigen Gesetzgebung in den verschiedenen Mitgliedstaaten. Das Memorandum stellt fest: "Die Kommission beabsichtigte ursprünglich ... , die verschiedenen Vorschriften der Mitgliedstaaten zur Presse- und Plakatwerbung für Tabakprodukte zu vereinheitlichen. ,,316
314
EG-ABI. Nr. C 124/5 vom 19.05.1989.
Doc 0437EN91800 vom 8.März 1991,3. Fassung. Das Memorandum der Kommission ist oben im Text abgedruckt bei Fußn. 30-36. 31l
316
Ibid, S. 5.
152
F. Vereinbarkeit der Richtlinie 98/43/EG mit Gemeinschaftsrecht
Wie bereits dargelegt, nahm die Kommission ihren Vorschlag von 1989 zwück und verkündete (im Jahr 1991) einen anderen, der auf die komplette Rechtsangleichung der BestimmWlgen über TabakwerbWlg zielte. In Abschnitt II erklärt die Kommission die "Grundlage" dieser Gemeinschaftsaktion. Hier soll nicht weiter auf die einzelnen Behauptungen über die Schädlichkeit von Tabak oder den Einfluß von WerbWlg eingegangen werden.
Am auffallendsten ist das überwiegende Gewicht, welches ganz offen der Sorge um die öffentliche GesWldheit beigemessen wird. Außer einem flüchtigen Hinweis im ersten Absatz enthält der Hauptteil der ersten 21 Abschnitte der Erklärung der Grundlage zur Gemeinschaftsaktion einen kurzen Überblick über die ernsten Gesundheitsrisiken, die durch das Rauchen verursacht werden sowie eine Analyse des Beitrages, den die WerbWlg in all ihren Formen dazu leistet. Bereits bei der "ÜbersetzWlg" dieser Aktionsgrundlage für den Richtlinienvorschlag von 1991 begann die Gemeinschaft, den Gesundheitsschutz zugunsten des Binnenmarktes in den Hintergrund zu rücken. ln der Präambel des Entwurfes von 1991 gibt es 13 "Erwägungen", die sich wohl auf die ZielsetzWlgen der Richtlinie beziehen. Von diesen sind nach der hier vertretenen AusfassWlg drei marktorientiert, eine gemischt und neun gesWldheitsorientiert. Wenn die Kommission auch die Erwägungen zum Markt an den Anfang der Präambel gesetzt hat, liegt der SchwerpWlkt diesem Gutachten zufolge beim GesWldheitsschutz. Tatsächlich kann die Gesetzgebung der Richtlinie geschichtlich wahrscheinlich auf die Initiative des Europäischen Rates in Mailand im Jahr 1985 für ein Aktionsprogramm zur Krebsbekämpfung zwückgeführt werden. Unter den "Erwägungen" bezüglich "GesWldheit" findet man: "Diese Richtlinie muß den Schutz der Gesundheit, insbesondere junger Menschen, gebührend berücksichtigen."
"Der am 28. und 29. Juni 1985 tagende Europäische Rat hat auf die Bedeutung des Europäischen Aktionsprogramms zur Krebsbekämpfung hingewiesen. Der Rat und die im Rat vereinigten Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten haben in ihrer Entschließung vom 7.Juli 1986 über ein Aktionsprogramm der Europäischen Gemeinschaften gegen Krebs (2) als Ziel dieses Programms die Verbesserung der Gesundheit und der Lebensqualität der Bürger der Gemeinschaft durch die Verringerung der Zahl der Krebserkrankungen genannt. Dabei haben sie die Bekämpfung des Tabakkonsums als vorrangig anerkannt.
rn. Tarnung von Ursprung, Zweck und Auswirkungen
153
Jahr für Jahr verursacht der Konsum von Tabakerzeugnissen in den Mitgliedstaaten den Tod vieler Menschen. Die Werbung spielt bei der Förderung des Rauchens, insbesondere bei Kindern und Jugendlichen, eine nicht zu unterschätzende Rolle." "Auf der anderen Seite ist der Tabakkonsum äußerst schädlich für die Gesundheit. Es erscheint daher zweckmäßig, die Information auschließlich den tatsächlichen interessenten, d.h. den Verbrauchern von Tabakerzeugnissen, zugänglich zu machen." "Indem die Möglichkeit der Werbung innerhalb der Verkaufsstellen gewährleistet wird, erfiillt die Werbung ihre wesentliche Rolle; gleichzeitig ist damit der Schutz der Bevölkerung im allgemeinen und der Kinder und Jugendlichen im besonderen gewährleistet."
Folgende "Erwägungen" beziehen sich auf den Markt: "In den Mitgliedstaaten gelten unterschiedliche Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Werbung rur Tabakerzeugnisse. Diese Werbung reicht über die Grenzen der Mitgliedstaaten hinaus. Die Unterschiede können Handelshemmnisse für den freien Verkehr von Produkten, die dieser Werbung dienen, sowie von Dienstleistungen in diesem Bereich bilden und zu Wettbewerbsverzerrungen führen. Sie behindern damit die Schaffung und das Funktionieren des Binnesmarktes. Es scheint geboten, diese Handelshemmnisse zu beseitigen. Zu diesem Zweck sind die Vorschriften über die Werbung von Tabakerzeugnissen zu harmonisieren. Dabei ist den Mitgliedstaaten jedoch die Möglichkeit belassen, unter bestimmten Voraussetzungen die Maßnahmen zu treffen, die sie aus Gründen des Gesundheitsschutzes für notwendig halten. Gemäß Art. 1OOa Absatz 3 des Vertrages geht die Kommission in ihren Vorschlägen nach Absatz 1 in den Bereichen Gesundheit, Sicherheit, Umweltschutz und Verbraucherschutz von einem hohen Schutzniveau aus."
Die "Erwägung", die Elemente von Markt und die Gesundheit in sich vereint, lautet "Angesichts der gegenseitigen Abhängigkeit zwischen allen mündlichen und schriftlichen Werbemitteln in Druckwerken, Rundfunk, Fernsehen und Film sowie zur Vermeidung von Wettbewerbsverzerrungen und einer Umgehung der Vorschriften muß diese Harmonisierung alle Formen und Mittel der Werbung mit Ausnahme der Fernsehwerbung, die bereits durch die Richtlinie 89/552fEWG des Rates (1) erfaßt ist, abdecken."
Die Analyse der gegenwärtigen Fassung des Gemeinsamen Standpunkts, der das vollständige Verbot der Tabakwerbung in der Öffentlichkeit wiederholt und darüberhinaus auch das Sponsoring erfaßt, ergibt folgendes: Die Gesamtzahl der "Erwägungen" wurde von 17 auf 12 reduziert. Nur zwei (!) beziehen sich auf Erwägungen zur öffentlichen Gesundheit. Eine ist die obligatorische Bezugnahme auf Artikel 1OOa Absatz 3:
154
F. Vereinbarkeit der Richtlinie 98/43/EG mit Gemeinschaftsrecht
"GemäßArt. l00aAbsatz 3 des Vertrages geht die Kommission in ihren Vorschlägen nach Absatz 1 in den Bereichen Gesundheit, Sicherheit, Umweltschutz und Verbraucherschutz von einem hohen Schutzniveau aus. "
In der anderen heißt es: "Diese Richtlinie muß den Schutz der Gesundheit gebührend berücksichtigen; dies gilt insbesondere rur Jugendliche, bei denen die Werbung eine wichtige Rolle der Förderung des Rauehens spielt" .
Das ist alles. Der EntwuIfvon 1998 soll den Leser also überzeugen, daß es sich hierbei nur um eine Verpflichtung gemäß Artikel 100 Abs.3 EGV handelt. Die ausfuhrliche Bezugnahme auf das Aktionsprogramm von Mailand zur Krebsbekämpfung, auf die Todesrisiken, auf die Lebensqualität und andere verwandte Aspekte ist weggefallen. Der Grund dafür ist wohl das Inkrafttreten des Vertrags von Maastricht, insbesondere Titel X (Gesundheitswesen) und Artikel 129. Interessant ist der Vergleich zwischen dem Wortlaut von Artikel 129 und der Präambel der Richtlinienentwurfs von 1991. Artikel 129 bestimmt unter anderem: "Die Gemeinschaft leistet durch Förderung der Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten und erforderlichenfalls durch Unterstützung ihrer Tätigkeit einen Beitrag zur Sicherstellung eines hohen Gesundheitsniveaus. Die Tätigkeit der Gemeinschaft ist auf die Verhütung von Krankheiten, insbesondere der weitverbreiteten schwerwiegenden Krankheiten einschließlich der Drogenabhängigkeit, gerichtet; dabei werden die Erforschung der Ursachen und die Übertragung dieser Krankheiten sowie die Gesundheitsinformation und -erziehung gefordert."
Die Maßnahmen unter diesem Titel sind jedoch auf Zusammenarbeit, Koordinierung und Förderung beschränkt. Rechtsakte zur Rechtsangleichung sind ausdrücklich ausgeschlossen, wie Absatz 4 zeigt: "Als Beitrag zur Verwirklichung der Ziele dieses Artikels erläßt der Rat: gemäß dem Verfahren des Artikel 189b und nach Anhörung des Wirtschafts- und Sozialausschusses und des Ausschusses der Regionen Fördermaßnahmen unter Ausschluß jeglicher Harmonisierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten; "
Artikel 129 wurde durch den neuen Vertrag von Amsterdam geändert und erlaubt nun gesetzgeberische Tätigkeit in zwei bestimmten Bereichen: "a) Maßnahmen zur Festlegung hoher Qualitäts- und Sicherheitsstandards rur Organe und Substanzen menschlichen Ursprungs sowie rur Blut und Blutderivate; diese Maßnahmen hindern die Mitgliedstaaten nicht daran, strengere Schutzmaßnahmen beizuhalten oder einzufllhren;
N. Veröffentlichungen aus Drittländern
155
b) abweichend von Artikel 37 in Bereichen Veterinärwesen und Pflanzenschutz, die unmittelbar den Schutz der Gesundheit der Bevölkerung zum Ziel haben;"311
Für die anderen Bereiche des GesWldheitsschutzes wiederholt der Vertrag von Amsterdam die BestimmWlg von Maastricht: "c) Fördermaßnahmen, die den Schutz und die Verbesserung der menschlichen Gesundheit zum Ziel haben, unter Auschluß jeglicher Harmonisierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten." 318
Zusammenfassend ist festzuhalten, daß das vollständige Verbot der WerbWlg in der Öffentlichkeit nicht mit der HannonisiefWlg des Binnenmarkts begründet werden kann Wld nur als Maßnahme zwn Schutz der öffentlichen GesWldheit gerechtfertigt wäre. Als überzeugende Beweismittel können die Präambel des Richtlinienvorschlags Wld die begründende StellWlgnahme der Konurussion angeführt werden. Der Rat Wld seine Rechtsberater haben den Entwurf von I 991 nicht dahingehend überarbeitet, daß er nur die Formen der WerbWlg verbietet, die tatsächlich Handelsbarrieren Wld WettbewerbsverzeITWlgen darstellen Wld die RegelWlg aller anderen Formen der WerbWlg den Mitgliedstaaten überläßt, die die Kompetenz zur RegelWlg des GeSWldheitswesens innehaben. Vielmehr blieb der materielle Inhalt des Entwurfes bestehen Wld lediglich die Präambel wurde umgeschrieben, um die Erwägoogen zur öffentlichen GesWldheit zu überdecken. Der Vertrag ist, wie der Europäische Gerichtshof in seiner berühmten EntscheidWlg Les Verts darlegte, die VerfassWlg der Gemeinschaft. Maastricht macht klar deutlich, daß keine RechtssetzWlgskompetenz für Maßnahmen für die öffentliche Gesundheit besteht. Der Rat Wld die Konurussion setzen sich demnach bei ihrem Versuch, Maastricht zu umgehen, über die VerfassWlg der Europäischen Union hinweg.
IV. Veröffentlichungen aus Drittländern Der Gemeinsame Standpunkt führt einen neuen Ausnahmetatbestand - oder vielleicht nur eine KlarstellWlg - zu dem vollständigen Verbot ein, den der Entwurf von 1991 noch nicht nannte. Nach Artikel 3 Abs.5 4. Spiegelstrich gilt die Richtlinie nicht für " - den Verkauf von in DrittIändern herausgegebenen und gedruckten Veröffentlichungen, die Werbung rur Tabakerzeugnisse enthalten, wenn diese Veröffentlichungen nicht hauptsächlich für den Gemeinschaftsmarkt bestimmt sind." 311 V gl. Art. 152 Abs. 4 des EGV in der Amsterdamer Fassung. 318
Ibid.
1S6
F. Vereinbarkeit der Richtlinie 98/43/EG mit Gemeinschaftsrecht
In Pwlkt (7) der Präambel des Gemeinsamen Standpunktes wird festgehalten, daß die Richtlinie nicht für diese Veröffentlichungen gilt, "jedoch mit der Maßgabe, daß dabei das Gemeinschaftsrecht und die internationalen Verpflichtungen der Gemeinschaft eingehalten werden. Insoweit ist es Sache der Mitgliedsstaaten, gegebenenfalls angemessene Maßnahmen zu ergreifen."
Regelungen bezüglich Veröffentlichungen aus Drittländern, die nicht hauptsächlich fur den Gemeinschaftsmarkt bestimmt sind und Tabakwerbung enthalten, dürfen nicht auf Gemeinschaftsebene getroffen werden, können aber gegebenenfalls nationalen Beschränkungen unterliegen. Was steckt hinter dieser Regelung? Immerhin unterliegen die Veröffentlichungen, sobald sie in einen Mitgliedstaat eingeführt sind, dem freien Warenverkehr nach Gemeinschaftsrecht. Sie können eine oder zwei VerteilersteIlen auf dem Gemeinschaftsgebiet haben, von denen sie in andere Mitgliedstaaten importiert werden können, z.B. kann eine kanadische Zeitschrift nach Frankreich importiert werden und von dort weiter nach Belgien. Die Einführung von Beschränkungen in einzelnen Mitgliedstaaten würde daher ein Hemmnis für den freien Warenverkehr darstellen und sich negativ auf den Binnenmarkt auswirken. Die Erklärung für diese Ausnahme ist höchstwahrscheinlich, daß der Gemeinsame Markt fur diese Art der Veröffentlichungen relativ klein, geradezu minimal ist und daß die Kompetenz daher bei den Mitgliedstaaten verbleiben soll. Wie bereits erörtert, gibt es auf dem Gemeinschaftsgebiet Tausende von lokalen Zeitungen, Zeitschriften, Werbebeilagen und Werbebroschüren, die zwar grundsätzlich von einem Mitgliedstaat in einen anderen importiert werden könnten, in der Praxis aber nie werden. Genau diese Form der Werbung reicht, entgegen der Voraussetzung in Punkt Cl) des Richtlinienentwurfes und des Gemeinsamen Standpunkts, nicht "... über die Grenzen der Mitgliedstaaten hinaus". Unterschiedliche Regelungen der einzelnen Mitgliedstaaten können daher nicht" ... Hemmnisse für den freien Verkehr von Waren, die der Werbung und dem Sponsoring dienen" bilden. Diese Tatsache wurde offensichtlich in bezug auf Veröffentlichungen aus Drittländern anerkannt, nicht aber für marktinterne Veröffentlichungen mit ebenso minimalen gemeinschaftsweiten Auswirkungen. Das selbe zutreffende Prinzip sollte jedoch für beide Tatbestände Anwendung fmden. Ein Unterschied könnte die wettbewerbsverzerrende Auswirkung sein, die ein Ausschluß von gemeinschaftsinternen Veröffentlichungen vom Tabakwerbeverbot hervorrufen würde. Jedoch wurde bereits gezeigt, daß dies ein unrealistisches Argument ist: Das vollständige Verbot trägt dazu bei, daß lokale und schon etablierte Marken der Tabakbranche auf ihren nationalen Märkten gefestigt werden, weil keine neuen
N. Veröffentlichungen aus Drittländern
157
Marken auf den Markt kommen dürfen. Eine neue Marke kann in einen etablierten Markt nämlich nicht ohne Werbung eingeführt werden. Die Werbebranche ist zu einer der globalsten und transnationalsten Industrien geworden. Solange die Anbieter von Dienstleistungen in der Werbebranche nicht diskriminiert werden, ist es unwahrscheinlich, daß unterschiedliche Regelungen bezüglich verschiedener Werbefonnen und Produkte den Wettbewerb zwischen verschiedenen Finnen in den einzelnen Mitgliedstaaten verzerren. Jedenfalls tun sie es nicht in höherem Maße als unterschiedliche Regelungen zur Einkommenssteuer oder zum Gebrauch sexuell freizügiger Darstellungen in der Werbung. Vereinfacht gesagt stellen unterschiedliche Regelungen über die Fonnen der Werbung als solche keine Hemmnisse für die Dienstleistungsfreiheit dar. Freizügigkeit heißt, sich in den existierenden Werbemarkt einzugliedern, genauso wie in das fremde Steuersystem. Ein vollständiges Werbeverbot in allen Mitgliedstaaten für Maßnahmen, wie z.B. Plakatwände, die keine grenzüberschreitende Wirkung haben, kann kaum eine "Liberalisierung zur Förderung des Warenverkehrs" im Sinne von Artikel 63 Abs. 3 darstellen. Daher liegt der Unterschied zwischen Veröffentlichungen aus Drittländern, die dem Verbot nicht unterstehen, und (nicht gemeinschaftsweiten) lokalen Print- und anderen Medien, auf die das Verbot Anwendung fmdet, weder in deren Einfluß auf den Binnenmarkt noch im Aufbau von Handelshemmnissen, da diese Medien nicht grenzüberschreitend gehandelt werden. Ebensowenig ist er in der Wettbewerbsverzerrung in der Werbebranche zu sehen, da der Wettbewerb nicht verzerrt wird, wenn die Anbieter auf einiger Märkten zugelassen werden und auf anderen nicht. Der Unterschied ist die Auswirkung auf das Gesundheitswesen. Gründe der öffentlichen Gesundheit können erklären, warum lokale Werbung verboten wird, selbst wenn sie weder einen ernstzunehmenden Einfluß auf den Binnenmarkt noch auf den Wettbewerb im Dienstleistungsgewerbe hat. Lokale Veröffentlichungen erreichen (auf ihrem jeweiligen Markt !) viel mehr Menschen als Veröffentlichungen Dritter, die für eine geringe Leserschaft bestimmt ist. Dieser stichhaltige gesundheitspolitische Grund gibt der Gemeinschaft jedoch keine Rechtssetzungskompetenz. Die Rechtsetzungskompetenz der Gemeinschaft aus Art. lOOa (oder aus den speziell zitierten Artikeln 57 Abs. 2 und 66) kann nur herangezogen werden, wenn Handelshemmnisse beseitigt werden müssen oder echte Wettbewerbsverzerrungen bestehen. Im Falle lokaler Medien trifft dies jedoch nicht zu. Lokale Werbung wird offensichtlich nur aus gesundheitspolitischen Erwägungen verboten und nicht aufgrund der behaupteten Erwägungen zum Binnenmarkt.
In diesem Zusammenhang soll nochmal darauf hingewiesen werden, daß Artikel IOOa Abs. 3, der ein hohes Schutzniveau auf den Gebieten des Gesundheitswesens fordert, nicht als Rechtsgrundlage für die Harmonisierung dienen kann. Nur wenn
158
F. Vereinbarkeit der Richtlinie 98/43/EG mit Gemeinschaftsrecht
eine Rechtfertigung ftir die RechtsangleichWlg, wie Handelshenunnisse oder tatsächliche WettbewerbsverzeITWlg, festgestellt ist, taucht die Frage nach dem Grad des Schutzniveaus auf. In Wlserem Fall liegt diese Voraussetzung einer Rechtfertigung nicht vor, sodaß sich die Frage des Schutzniveaus gar nicht stellt.
V. Die Artikel 57 Absatz 2 und 66 - ein Visum für die Richtlinie? Wie ein "Visum" führt der Gemeinsame Standpunkt die Artikel 57 Abs.2 Wld 66 EGV als Rechtsgrtmdlagen zur Ergänzung des Artikel 100a Abs. 2 ein. Zum ersten Mal wurden diese BestirnrnWlgen hier als Rechtsgrtmdlagen vorgeschlagen. Da es nicht offensichtlich ist, warum diese Artikel eine adäquate Rechtsgrtmdlage darstellen sollen, kann man wohl Wlterstellen, daß die Berufung darauf auf ein Unbehagen mit Art. 100a zurückzuführen ist. Rechtlich stellen die Artikel 57 Abs.2 Wld 66 jedoch in keinem Fall eine stärkere Rechtsgrtmdlage als ArtikellOOa dar. Artikel 57 Abs. 1 Wld 2 EGV lauten folgendermaßen: "(1) Um die Aufnahme und Ausübung selbständiger Tätigkeiten zu erleichtern, erläßt der Rat nach dem Verfahren des Artikels l89b Richtlinien fIlr die gegenseitige Anerkennung der Diplome, PTÜfungszeugnisse und sonstigen Befähigungsnachweise. (2)
Zu diesem Zwecke erläßt der Rat vor dem Ende der Übergangszeit Richtlinien zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Aufnahme und Ausübung selbständiger Tätigkeiten. Der Rat bestimmt einstimmig auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung des Europäischen Parlaments über Richtlinien, deren Durchfllhrung in mindestens einem Mitgliedstaat eine Änderung bestehender gesetzlicher Grundsätze der Berufsordnung hinsichtlich der Ausbildung und der Bedingungen fllr den Zugang natürlicher Personen zum Beruf umfaßt. Im übrigen beschließt der Rat nach dem Verfahren des Artikel 189b."
Regelungen der Mitgliedstaaten über TabakwerbWlg können wohl kaum als Vorschriften über die Aufnahme oder AusübWlg selbständiger Tätigkeiten verstanden werden. Der Zweck von Artikel 57 Abs. 2 muß jedoch der gleiche sein wie in Artikel 57 Abs. 1. 319 Der Zweck von Artikel 57 Abs. 1 ist es, Erleichtertmgen für die Aufnahme Wld AusübWlg von selbständigen Tätigkeiten zu schaffen. Das vollständige Verbot von TabakwerbWlg als Teil selbständigen Tätigkeiten mag zwar vielen wichtigen gesWldheitspolitschen Gründen dienen, stellt aber, solange man dem Wortlaut treu bleibt, kaum eine Erleichtertmg für Selbständige bei der Aufnahme Wld AusübWlg ihrer Tätigkeit in einern anderen Mitgliedstaat dar.
319
Vgl. den Wortlaut von Art.57 Abs.2: "Zu dem gleichen Zweck... ".
V. Die Artikel 57 Abs. 2 und 66
159
Würde man der Interpretation des Rates bezüglich des Zwecks von Artikel 57 Abs. 2 folgen, wäre das gesamte Straf- und Zivilrecht eines Landes dem Zugriff der Gemeinschaft ausgesetzt, denn, da sowohl das Strafrecht als auch das Zivilrecht diesen Bereich regeln, könnte dadurch auch die Ausübung selbständiger Tätigkeiten beeinflußt werden. Die eindeutige Absicht des Artikels ist es jedoch, die Rechtsangleichung von Vorschriften zu erlauben und zu fördern, die die Etablierung einzelner Bürger im Berufsleben betreffen; darunter fallen Qualifikationen, Zeugnisse, Lizenzen oder Betriebsftlhrungsmethoden, wie z.B. Regelungen zum Personalbedarf. Andererseits sollen nicht alle gesetzliche Verbote, die nicht direkt auf die Regelung selbständiger Tätigkeiten gerichtet sind, sondern nur allgemeine Verbote darstellen, die auf alle Anwendung fmden, unter die Bestimmung fallen. Artikel 66 EGV lautet folgendermaßen: "Artikel 66. Die Bestimmung der Artikel 55 bis 58 finden auf das in diesem Kapitel geregelte Sachgebiet Anwendung. "
Die Berufung auf Artikel 66 und das Kapitel über Dienstleistungen als Rechtsgrundlage stellt eine ebenso künstliche Konstruktion dar wie die Anwendung von Artikel 57 Abs.2. Bei den Tatbeständen, die Artikel 66 erfassen will, handelt es sich um die verschiedenen Möglichkeiten, die Dienstleistungsfreiheit zu liberalisieren. Wenn man dem Wortlaut treu bleibt, kann das vollständige Verbot der Tabakwerbung nur schwerlich als Teil eines Programmes zur Abschaffung von Beschränkungen im Dienstleistungsverkehr aufgefaßt werden. Nur wenn, was nicht der Fall ist, Tabakwerbeverbote, die in einigen Mitgliedstaaten existieren, als Beschränkungen der Dienstleistungsfreiheit gesehen werden könnnten, wäre es die klare Absicht von Artikel 66, die Gemeinschaft zur Aufhebung dieser Beschränkungen zu ermächtigen: "Solange die Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs nicht aufgehoben sind... ". Dieses Ergebnis ändert sich auch nicht, wenn man die Bestimmungen der Artikel 55-58 auf die Sachverhalte, die das Kapitel über die Dienstleistungen regelt, anwendet. Gemäß Art. 55 könnte der Rat mit qualifizierter Mehrheit auf Vorschlag der Kommission beschließen, daß dieses Kapitel auf bestimmte Tätigkeiten keine Anwendung findet. Insgesamt ist ein vollständiges Verbot bestimmter selbständiger Tätigkeiten wohl kaum mit dem in beiden Kapiteln angesprochenen Zweck der Liberalisierung vereinbar. Diese Möglichkeit kann ausgeschlossen werden, obwohl sich der Rat ausdrücklich auf Artikel 57 Abs. 2 bezieht, wobei er anzeigt, daß die beschränkende Richtlinie als Umsetzung der beiden Kapitel nicht als Ausnahme zu diesen gedacht ist.
160
F. Vereinbarkeit der Richtlinie 98/43/EG mit Gemeinschaftsrecht
VI. Gesundheitsschutz als Ausnahmetatbestand Artikel 5 des Entwurfes von 1991 lautet folgendermaßen: "Diese Richtlinie läßt das Recht der Mitgliedstaaten unberührt, unter Beachtung des Vertrages Vorschriften zu erlassen, die sie zum Schutz des Volksgesundheit im Bereich der Tabakwerbung für erforderlich halten, sofern dies keine Beeinträchtigung der Richtlinie beinhaltet."
Artikel 5 des Entwurfes des Gemeinsamen Standpunkts sieht hingegen vor: "Diese Richtlinie läßt das Recht der Mitgliedstaaten unberührt, im Einklang mit dem Vertrag strengere Vorschriften, die sie zum Schutz der Gesundheit rur erforderlich halten, im Bereich der Werbung oder des Sponsoring zugunsten von Tabakerzeugnissen zu erlassen."
Die ersten beiden Punkte in der Präambel des Gemeinsamen Standpunkts beabsichtigen, die Richtlinie mit Argumenten des Binnenmarktes zu rechtfertigen: "(1 ) In den Mitgliedstaaten gelten unterschiedliche Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Werbung und das Sponsoring zugunsten von Tabakerzeugnissen .... können die genannten Unterschiede Hemmnisse rur den freien Verkehr von Waren, ... , sowie von Dienstleistungen ... bilden ...
(2) Es scheint geboten, diese Handelshemmnisse zu beseitigen."
Artikel 5 hingegen scheint einen Blankoscheck, fast eine Einladung für die Mitgliedstaaten auszusprechen, genau die Unterschiede einzuführen, deren Aufhebung der Zweck der Richtlinie sein soll. Zwar eröffnet ArtikellOOa Abs.4 einem Mitgliedstaat die Möglichkeit, ausnahmsweise trotz einer durch Mehrheitsentscheidung beschlossenen Rechtsangleichung einseitige Rechtsakte zu erlassen, doch muß bedacht werden, daß der Entwurf des Gemeinsamen Standpunkts den Ausnahmecharakter von Artikel lOOa Abs. 4 ändert und ihn von den Sicherungsklauseln wie die Bezugnahme auf "wichtige Erfordernisse" befreit. Wenn auch die Rechtmäßigkeit durch die Klausel "im Einklang mit dem Vertrag" gewahrt ist, zeigt die Änderung von Artikel 5 des Gemeinsamen Standpunkts erneut, daß die öffentliche Gesundheit die Haupterwägung für den Erlaß der Richtlinie ist und daß - außer in den Fällen, in denen nationale Maßnahmen harmonisiert werden, die wirklich den Gemeinschaftshandel hemmen - Artikel 129 die richtige Rechtsgrundlage wäre. 320
320
Artikel 100a Abs. 4 lautet wie folgt:
"Hält es ein Mitgliedstaat, wenn der Rat mit qualifizierter Mehrheit entschieden hat, für erforderlich, einzelstaatliche Bestimmungen anzuwenden, die durch wichtige Erfordernisse im Sinne des Artikels 36 oder in bezug auf den Schutz der Arbeitsumwelt oder den Umweltschutz gerechtfertigt sind, so teilt er diese Bestimmungen der Kommission mit.
VII. Ergebnisse
161
VII. Zusammenfassung der Ergebnisse 1. Die Gemeinschaft hat nach dem Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft keine Kompetenz, die vorgeschlagene Richtlinie, wie sie in dem Gemeinsamen Standpunkt festgelegt wurde, zu erlassen. Die Gemeinschaft hätte auch unter dem Vertrag von Amsterdam keine Kompetenz zum Erlaß der vorgeschlagenen Richtlinie. 2. Selbst wenn die Gemeinschaft die Kompetenz hätte, die Richtlinie in ihrer gegenwärtigen Fassung zu erlassen, was nicht der Fall ist, wäre Art. 100a EGV die falsche Rechtsgrundlage. Da die Wahl einer falschen Rechtsgrundlage mehr als eine reine Formalität darstellt, wäre die Richtlinie gemäß Art. 173 EGV rechtswidrig und nichtig. 3. Selbst wenn die Gemeinschaft die Kompetenz hätte, die Richtlinie in ihrer derzeitigen Fassung zu erlassen, was nicht der Fall ist, würde sie das Verhältnisrnäßigkeitsprinzip verletzen, an das die Gemeinschaft beim Erlaß von Rechtsnormen gebunden ist. 4. Der Erlaß der Richtlinie in ihrer derzeitigen Fassung würde aus materiellen und formellen Gesichtspunkten mit dem Subsidiaritätsprinzip in Widerspruch stehen. 5. Sollte die Richtlinie gemäß ihrem derzeitigen Entwurf verabschiedet werden und es im Anschluß daran zu einem Streit über ihre Rechtmäßigkeit vor nationalen Gerichten kommen, könnten sich das deutsche und dänische Verfassungsgericht vielleicht auch weitere Gerichte, wie z.B. das belgische - bei dem gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts die Entscheidung vorbehalten, ob die Maßnahme die Kompetenzen der Gemeinschaft überschreitet. Dabei ist es durchaus nicht ausgeschlossen, daß die Gerichte zu dem Ergebnis kommen, daß dies der Fall ist. Dieser Richtlinienvorschlag kann demnach die Verfassungskrise zwischen nationalen Gerichten und dem Europäischen Gerichtshof heraufbeschwören, die von jedermann gefürchtet wird.
Die Kommission bestätigt die betreffenden Bestimmungen, nachdem sie sich vergewissert hat, daß sie kein Mittel zur unwillkürlichen Diskriminierung und keine verschleierte Beschränkung des Handels zwischen den Mitgliedstaaten darstellen. In Abweichung von dem Verfahren der Artikel 169 und 170 kann die Kommission oder ein Mitgliedstaat den Gerichtshof unmittelbar anrufen, wenn die Kommission oder der Staat der Auffassung ist, daß ein anderer Mitgliedstaat die in diesem Artikel vorgesehenen Befugnisse mißbraucht. " 11 Simma u. a.
Entscheidungsverzeichnis Urteile des EuGH
Rs. 7/56 u. 3-7/56
Algera u. a.
Fußn.ll,95
Rs.26/62
Van Gend & Loos
Fußn.12,94
Rs. 6 u. 11/69
Kommission ./. Frankreich
Fußn. 107
Rs. 11/70
Internationale Hande1sgeseilschaft
Fußn.270
Rs.22/70
AETR
Fußn.17
Rs.4/73
Nold
Fußn. 143
Rs.8/73
Massey-Ferguson GmbH
Fußn. 70
Rs.9/74
Casagrande
Fußn.18, 108, 110, 112, 113
Rs.74/74
CNTA
Fußn.274
Rs.136/77
Racke
Fußn.275
Rs.152/78
Kommission ./. Frankreich
Fußn.263,283
Rs. 154,205,206,226- 228, Valsabbia 263 u. 264/78 sowie 39, 31,83 u. 85/79
Fußn.268
Rs.166/78
Italien .I. Rat
Fußn.277
Rs.302/78
Comitologie
Fußn.104
Rs.21/79
Kommission .I. Italien
Fußn.26
Rs.34/79
Henn u. Darby
Fußn.26
Rs.44/79
Hauer
Fußn.269
Rs.46/80
Vinal gegen Orbat
Fußn.26
Rs.294/83
Les Verts
Fußn. 103
Rs. 60 u. 61/84
Cinetheque
Fußn. 146
11*
164
Entscheidungsverzeichnis
RS.152/84
Marshall
Fußn. 144
Rs. 201 u. 202/85
Klensch
Fußn. 146
RS.234/85
Strafsache Franz Keller
Fußn.266
RS.314/85
Foto Frost
Fußn.89
Rs. 372-374/85
Traen u.a.
Fußn.144
RS.45/86
APS
Fußn.40,70
RS.80/86
Kolpinghuis Nijrnegen
Fußn. 144
Rs. 114/86
Pretore di Salb
Fußn. 144
Rs. 46/87 u. 227/88
Hoechst
Fußn. 144
RS.265/87
Schräder
Fußn.265,271,280
RS.374/87
Orkern
Fußn.142
RS.5/88
Wachauf
Fußn. 115,147
RS.70/88
Tschernobyl
Fußn. 24, 67,105
Rs. 113/88
Leukhardt
Fußn.278
Rs. 145/88
Torfaen
Fußn.26
RS.362/88
GB-INNO
Fußn.263,285
RS.260/89
ERT
Fußn. 116, 148,264
RS.300/89
Titanoxid
Fußn.20
Rs. 1/90 u. 176/90
Aragonesa de Publicidad
Fußn.263,284,287,288
RS.I77/90
Kühn
Fußn.298
RS.295190
Parlament .I. Rat
Fußn.23
Rs. 155191
Abfall
Fußn. 25, 49, 54, 55, 57, 58-69
RS.91/92
Dori
Fußn. 145
RS.280/93
Bananen-Verordnung
Fußn.2
Entscheidungsverzeichnis
165
Urteile des BVerfG
21,271
Fußn.237,240 Solange I
37,271
Fußn.87,129
30,336
Fußn.236
40,371
Fußn.235,239
50,290
Fußn.252
53,96
Fußn.236
64,108
Fußn.240,241
71,162
Fußn.235
73,339
Solangell
Fußn.88
76, 196
Fußn.254
77,308
Fußn.255
78,58
Fußn.256
89, ISS
Maastricht
Fußn.90, 124, 126
Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte
Serie A Nr. 30
Sunday Tirnes
Fußn. 153,168
Serie A Nr. 31
Handyside
Fußn.227
Serie A Nr. 31
Marcks
Fußn.228
Serie A Nr. 90
Barthold
Fußn. 158,159,160,171, 173,179,181
Serie A Nr. 98
Jarnes
Fußn.216
Serie A Nr. 101
Van Merle et al.
Fußn.208,209,219,220, 221,222
Serie A Nr. 103
Lingens
Fußn.178
Serie A Nr. 159
Traktörer
Fußn.223,224,225
Serie A Nr. 165
Markt Intern Verlag
Fußn. 161,163, 180, 182, 303
GmbH
166
Entscheidungsverzeichnis
Serie A Nr. 169
Mellacher
Fußn.230
Serie A Nr. 173
Groppera Radio AG et a1.
Fußn. 154
Serie A Nr. 178
AutronicAG
Fußn. 154
Serie A Nr. 251
Niemietz
Fußn. 141
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Annex I Geänderter Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Angleichung der Rechts und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten betreffend die Werbung für Tabakerzeugnisse (92/C 129/04 = KOM(92) 196 endg. - SYN 194; gemäß Artikel 149 Absatz 3 des EWG-Vertrags von der Kommission vorgelegt am 30 April 1992) 1 DER RAT DER EUROPÄISCHEN GEMEINSCHAFTEN gestützt auf den Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, insbesondere auf Artikel 100a, auf Vorschlag der Kommission, in Zusammenarbeit mit dem Europäischen Parlament, nach Stellungnahme des Wirtschafts- und Sozialausschusses, in Erwägung nachstehender Gründe:
In den Mitgliedstaaten gelten unterschiedliche Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Werbung für Tabakerzeugnisse. Diese Werbung reicht über die Grenzen der Mitgliedstaaten hinaus. Diese Unterschiede können Handelshemmnisse für den freien Verkehr von Produkten, die dieser Werbung dienen, sowie von Dienstleistungen in diesem Bereich bilden und zu Wettbewerbsverzerrungen führen. Sie behindern damit die Schaffung und das FunktiOineren des Binnenmarktes. Es scheint geboten, diese Handelshemmnisse zu beseitigen. Zu diesem Zweck sind die Vorschriften über die Werbung von Tabakerzeugnissen zu harmonisieren. Dabei ist den Mitgliedstaaten jedoch die Möglichkeit zu belassen, unter bestimmten Voraussetzungen die Maßnahmen zu treffen, die sie aus Gründen des Gesundheitsschutzes für notwendig halten. Gemäß Artikel 100a Absatz 3 des Vertrages geht die Kommission in ihren Vorschlägen nach Absatz I in den Bereichen Gesundheit, Sicherheit, Umweltschutz und Verbraucherschutz von einem hohen Schutzniveau aus.
Die vorgelegten Änderungen beziehen sich auf den ursprünglichen Vorschlag der Kommission für eine Richtlinie des Rates über eine Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten betreffend die Werbung für Tabakerzeugnisse (ABI. Nr. C 167/3 vom 27. Juni 1991 = KOM (91) 111 endg. - SYN 194; von der Kommission gern. Art. 149 Abs. 3 des EWG-Vertrages am 17. Mai 1991 vorgelegt). Sie beschränken sich auf die Einfügung des Absatzes 2a in Artikel 2 der Richtlinie.
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Diese Richtlinie muß den Schutz der Gesundheit, insbesondere junger Menschen, gebührend berücksichtigen. Angesichts der gegenseitigen Abhängigkeit zwischen allen mündlichen und schriftlichen Werbemitteln in Druckwerken, Rundfunk, Fernsehen und Film sowie zur Venneidung von Wettbewerbsverzerrungen und einer Umgehung der Vorschiften muß diese Hannonisierung alle Fonnen und Mittel der Werbung mit Ausnahme der Fernsehwerbung, die bereits durch die Richtlinie 89/552/EWG des Rates(i) erfaßt ist, abdecken. Der am 28. und 29. Juni 1985 in Mailand tagende Europäische Rat hat auf die Bedeutung eines Europäischen Aktionsprogramms zur Krebsbekämpfung hingewiesen. Der Rat und die im Rat vereinigten Vertreter der Regierungen der
Mitgliedstaaten haben in ihrer Entschließung vom 7 . Juli 1986 über ein Aktionsprogramm der Europäischen Gemeinschaften gegen den Krebs(2) als Ziel dieses Programms die Verbesserung der Gesundheit und der Lebensqualität der Bürger der Gemeinschaft durch die Verringerung der Zahl der Krebserkrankungen genannt. Dabei haben sie die Bekämpfung des Tabakkonsums als vorrangig anerkannt. Jahr rur Jahr verursacht der Konsum von Tabakerzeugnissen in den Mitgliedstaaten den Tod vieler Menschen. Die Werbung spielt bei der Förderung des Rauchens, insbesondere bei Kindern und Jugendlichen, eine nicht zu unterschätzende Rolle. Auf der Tagung des Ministerrats vom 3. Dezember 1990 haben sich einige Mitgliedstaaten für eine vollständige Hannonisierung der Tabakwerbung ausgesprochen. Beim derzeitigen Stand der Gesetzgebung in den Mitgliedstaaten sowie angesichts deren voraussichtlicher Entwicklung kann sich eine vollständige Hannonisierung nur auf ein Verbot der Tabakwerbung stützen. Die Tabakindustrie muß jedoch in der Lage sein, unter Beachtung der Markt- und Wettbewerbsgesetze die Verbraucher über verschiedene Wahlmöglichkeiten hinsichtlich der einzelnen Arten und Marken von Tabakerzeugnissen zu infonnieren. Auf der anderen Seite ist der Tabakkonsum äußerst schädlich für die Gesundheit. Es erscheint daher zweckmäßig, die Infonnation ausschließlich den tatsächlichen Interessenten, d.h. den Verbrauchern von Tabakerzeugnissen, zugänglich zu machen. Werbung ist daher einzig und allein den Tabakläden zu gestatten, die über einen geschlossenen Innenraum zur Bedienung ihrer Kunden verfügen. Indem die Möglichkeit der Werbung innerhalb dieser Verkaufsstellen gewährleistet wird, erfüllt die Werbung ihre wesentliche Rolle; gleichzeitig ist damit der Schutz der Bevölkerung im allgemeinen und der Kinder und Jugendlichen im besonderen gewährleistet. Alle Fonnen der indirekten Werbung erzeugen die gleichen Wirkungen wie direkte Werbung. Es sind daher auch alle Fonnen der indirekten Werbung zu untersagen, in denen das Tabakerzeugnis zwar nicht direkt erwähnt wird, in denen aber eine Marke, ein Emblem, ein Symbol oder ein anderes unverwechselbares Erkennungszeichen benutzt wird, das gewöhnlich für Tabakerzeugnisse verwendet wird. Personen oder Organisationen, die gemäß den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften ein berechtigtes Interesse an dieser Frage haben, müssen die Möglichkeit haben, gegen jede Werbung rechtlich vorzugehen, die nicht den Bestimmungen entspricht, welche die Mitgliedstaaten in Anwendung dieser Richtlinie erlassen haben -
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HAT FOLGENDE RICHTLINIE ERLASSEN:
Artikel]
Im Sinne dieser Richtlinie sind: -
Werbung: jede Form der mündlichen und schriftlichen Kommunikation - durch Druckwerke, Rundfunk, Fernsehen oder Film - deren Ziel bzw. deren direkte oder indirekte Wirkung die Verkaufsförderung rur ein Tabakerzeugnis ist einschließlich der Werbung, die, ohne sich unmittelbar auf das Produkt zu beziehen, das Werbeverbot zu umgehen versucht, indem sie Namen, Marken, Symbole und andere Unterscheidungsmerkmale verwendet, die sich auf Tabakerzeugnisse beziehen;
-
Tabakerzeugnisse: alle Erzeugnisse, die zum Rauchen, Schnupfen, Lutschen oder Kauen bestimmt sind, sofern sie ganz oder teilweise aus Tabak bestehen;
-
Tabakgeschäfte: auf den Verkauf von Tabak spezialisierte Verkaufsstellen, die zur Bedienung ihrer Kunden über einen geschlossenen Innenraum verfugen. Geschäfte mit mehreren Verkaufsabteilungen rur verschiedene Produkte fallen nicht unter diese Begriffsbestimmung.
Artikel 2
CI) Unbeschadet der Richtlinie 89/5521EWG sind alle Arten der Werbung rur Tabakprodukte
auf dem Gebiet der Gemeinschaft verboten.
(2) Die Mitgliedstaaten wachen darüber, daß eine Handelsmarke, deren Bekanntheitsgrad in erster Linie mit einem Tabakerzeugnis verbunden ist, nicht rur die Werbung in anderen Marktbereichen verwendet wird, solange sie im Bereich der Tabakwerbung eingesetzt wird. (2a) Die Bestimmungen von Absatz 2 berühren nicht das Recht eines Unternehmens, rur andere Erzeugnisse unter seiner Handelsmarke zu werben, sofern a) der Umsatz rur Tabakerzeugnisse der gleichen Handelsmarke, auch wenn sie von einer anderen Gesellschaft vertrieben werden, nicht mehr als die Hälfte des Umsatzes bei anderen Erzeugnissen als Tabakerzeugnissen dieser Handelsmarke ausmacht und b) diese Handelsmarke ursprünglich rur andere Erzeugnisse als Tabakerzeugnisse angemeldet wurde. (3) Die Mitgliedstaaten wachen darüber, daß neue Tabakerzeugnisse nicht aus dem Bekanntheitsgrad von Handelsmarken Nutzen ziehen, den diese rur andere Produkte als Tabakerzeugnisse erworben haben. (4) Jede Gratisverteilung von Tabakerzeugnissen ist untersagt.
Artikel 3 Die Mitgliedstaaten können die Werbung in Tabakgeschäften zulassen, sofern diese von außen nicht sichtbar ist.
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Artikel 4 Die Mitgliedstaaten wachen darüber, daß ausreichende und wirksame Kontrollmaßnahmen getroffen werden, um die Anwendung der aufgrund dieser Richtlinie erlassenen einzeIstaatlichen Vorschriften sicherzustellen. Diese Maßnahmen müssen Vorschriften umfassen, nach denen Personen oder Organisationen, die nach einzelstaatlichem Recht ein berechtigtes Interesse an der Untersagung einer mit dieser Richtlinie unvereinbaren Werbemaßnahme haben, dagegen entweder gerichtlich oder durch ein Vorstelligwerden bei dem zuständigen Verwaltungsorgan vorgehen können, mit dem Ziel, eine Gerichtsentscheidung oder die Einleitung juristischer Schritte zu erwirken.
Artikel 5 Diese Richtlinie läßt das Recht der Mitgliedstaaten unberührt, unter Beachtung des Vertrages Vorschriften zu erlassen, die sie zum Schutz der Volksgesundheit im Bereich der Tabakwerbung für erforderlich halten, sofern dies keine Beeinträchtigung dieser Richtlinie beinhaltet.
Artikel 6 (1) Die Mitgliedstaaten erlassen und veröffentlichen vor dem 31. Juli 1992 die erforderlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften, um dieser Richtlinie nachzukommen. Sie unterrichten die Kommission unverzüglich davon. Wenn die Mitgliedstaaten diese Vorschriften erlassen, nehmen sie in diesen selbst oder durch einen Hinweis bei der amtlichen Veröffentlichung auf diese Richtlinie Bezug. Die Mitgliedstaaten regeln die Einzelheiten dieser Bezugnahme.
(2) Die Mitgliedstaaten wenden die gemäß Absatz 1 verabschiedeten Vorschiften ab I. Januar 1993 an.
Artikel 7 Diese Richtlinie ist an alle Mitgliedstaaten gerichtet.
Annexll Richtlinie 98/43/EG des Europäischen Parlaments. und des Rates vom 6. Juli 1998 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über Werbung und Sponsoring zugunsten von Tabakerzeugnissen DAS EUROPÄISCHE PARLAMENT UND DER RAT DER EUROPÄISCHEN UNION gestützt auf den Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, insbesondere auf Artikel 57 Absatz 2, Artikel 66 und Artikel 100a, auf Vorschlag der Kommission e), nach Stellungnahme des Wirtschafts- und Sozialausschusses e), gemäß dem Verfahren des Artikels 189b des Vertrags e), in Erwägung nachstehender Gründe: (1)
In den Mitgliedstaaten gelten unterschiedliche Rechts- und Verwaltungsvorschriften fUr die Werbung und das Sponsoring zugunsten von Tabakerzeugnissen. Da diese Werbung und dieses Sponsoring über die Grenzen der Mitgliedstaaten hinaus reichen, können die genannten Unterschiede Hemmnisse fUr den freien Verkehr von Waren, die der Werbung und dem Sponsoring dienen, sowie von Dienstleistungen in diesem Bereich bilden und zu Wettbewerbsverzerrungen fUhren. Sie können auf diese Weise das Funktionieren des Binnenmarktes behindern.
(2)
Es erscheint geboten, diese Handelshemmnisse zu beseitigen. Zu diesem Zweck sind die Vorschriften über die Werbung und das Sponsoring zugunsten von Tabakerzeugnissen anzugleichen. Den Mitgliedstaaten ist jedoch die Möglichkeit zu belassen, unter bestimmten Voraussetzungen Anforderungen festzulegen, die sie aus Gründen des Gesundheitsschutzes fUr notwendig halten.
(3)
GemäßArtikellOOaAbsatz 3 des Vertrags geht die Kommission in ihren Vorschlägen nach Absatz 1 in den Bereichen Gesundheit, Sicherheit, Umweltschutz und Verbraucherschutz von einem hohen Schutzniveau aus. 1
[Fußnote 1 des Originaldokuments] ABI. C 129 vom 21.5.l992, S. 5.
2
[Fußnote 2 des Originaldokuments] ABI. C 313 vom 30.11.1992, S. 27.
1 [Fußnote 3 des Originaldokuments] Stellungnahme des Europäischen Parlaments vom 11. Februar 1992 (ABI. C 67 vom 16.3.l992, S. 35), bestätigt am 3. Dezember 1993 im Verfahren nach Artikel 189b, gemeinsamer Standpunkt des Rates vom 12. Februar 1998 (ABl. C 91 vom 26.3.1998, S. 34) und Beschluß des Europäischen Parlaments vom 13. Mai 1998 (ABI. C 167 vom 1.6.1998). Beschluß des Rates vom 22. Juni 1998.
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(4)
Diese Richtlinie muß daher den Schutz der Gesundheit gebührend berücksichtigen; dies gilt insbesondere für Jugendliche, bei denen die Werbung eine wichtige Rolle bei der Förderung des Rauchens spielt.
(5)
Im Hinblick auf ein reibungsloses Funktionieren des Binnenmarktes hat der Rat auf der Grundlage des Artikel 100a die Richtlinien 89/622/EWG (4) und 90/2391EWG C) erlassen, die die Etikettierung von Tabakerzeugnissen bzw. den höchstzulässigen Teergehalt von Zigaretten betreffen.
(6)
Für die Werbung für Humanarzneimittel gilt die Richtlinie 92/28/EWG (6). Die Werbung rur zur Tabakentwöhnung bestimmte Erzeugnisse fällt nicht in den Anwendungsbereich der vorliegenden Richtlinie.
(7)
Diese Richtlinie gilt nicht für Mitteilungen, die ausschließlich für Angehörige des Tabakhandels bestimmt sind, für die Darbietung der zum Verkauf angebotenen Tabakerzeugnisse und Preisangaben für diese Erzeugnisse sowie - je nach den Verkaufsstrukturen - an den Käufer gerichtete Werbung an Tabakverkaufsstellen sowie für den Verkauf von den Anforderungen dieser Richtlinie nicht entsprechenden Veröffentlichungen aus Drittländern, jedoch mit der Maßgabe, daß dabei das Gemeinschaftsrecht und die internationalen Verpflichtungen der Gemeinschaft eingehalten werden. Insoweit ist es Sache der Mitgliedstaaten, gegebenenfalls angemessene Maßnahmen zu ergreifen.
(8)
Angesichts der bestehenden Wechselbeziehung zwischen allen Mitteln der Werbung mündlich, schriftlich, in Druckwerken, Rundfunk, Fernsehen und Film - muß diese Richtlinie zur Vermeidung von Wettbewerbsverzerrungen und einer Umgehung der Vorschriften alle Formen und Mittel der Werbung mit Ausnahme der Fernsehwerbung, die bereits durch die Richtlinie 89/5521EWG des Rates vom 3. Oktober 1989 zur Koordinierung bestimmter Rechts- und Verwaltungsvorschriften über die Ausübung der Fernsehtätigkeit C) erfaßt ist, abdecken.
(9)
Alle Formen der indirekten Werbung und des Sponsoring sowie eine Gratisverteilung erzeugen die gleichen Wirkungen wie direkte Werbung. Sie sind daher unbeschadet des allgemeinen Rechtsgrundsatzes der freien Meinungsäußerung zu regeln, und zwar einschließlich der indirekten Werbung, die das Tabakerzeugnis zwar nicht direkt erwähnt, aber einen Namen, eine Marke, ein Symbol oder ein anderes Unterscheidungsmerkmal benutzt, das für Tabakerzeugnisse verwendet wird. Die Mitgliedstaaten können die Anwendung diescr Bestimmungen jedoch verschieben, um Gelegenheit zu geben, die Handelspraktiken anzupassen und das Sponsoring zugunsten von Tabakerzeugnissen durch andere geeignete Formen der Unterstützung zu ersetzen.
(10) Unbeschadet der Regelung der Werbung für Tabakerzeugnisse können die Mitgliedstaaten auch weiterhin gestatten, daß bei der Werbung für Erzeugnisse oder Dienst-
4 [Fußnote 4 des Originaldokuments] ABI. L 359 vom 8.12.1989, S. l. Richtlinie geändert durch die Richtlinie 92/41/EWG (ABI. L 158 vom 11.6.1992, S. 30).
5
[Fußnote 5 des Originaldokuments] ABI. L l37 vom 30.5.l990, S. 36.
6
[Fußnote 6 des Originaldokuments] ABI. L 113 vom 30.4.1992, S. l3.
7 [Fußnote 7 des Originaldokuments] ABI. L 298 vom 17.1O.l989, S. 23. Richtlinie geändert durch die Richtlinie 97/36/EG (ABI. L 202 vom 30.7.1997, S. 60).
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leistungen, die mit Tabak nichts zu tun haben, unter bestimmten Bedingungen ein Name verwendet wird, der schon vor Inkrafttreten dieser Richtlinie guten Glaubens sowohl für die betreffenden Erzeugnisse oder Dienstleistungen als auch für Tabakerzeugnisse verwendet wurde. (11) Ein bestehendes Sponsoring von Veranstaltungen oder Aktivitäten, das die Mitgliedstaaten fIlr einen spätestens am 1. Oktober 2006 endenden Zeitraum von acht Jahren nach Inkrafttreten dieser Richtlinie weiterhin gestatten können und fIlr das freiwillige Selbstbeschränkungsmaßnahmen getroffen werden und die Aufwendungen während der Übergangszeit abnehmen, sollte alle Mittel einschließen, mit denen sich die Ziele des Sponsoring im Sinne dieser Richtlinie erreichen lassen. (12) Die Mitgliedstaaten müssen im Rahmen des innerstaatlichen Rechts angemessene und wirksame Kontrollrnaßnahmen treffen, um die Anwendung der von ihnen aufgrund dieser Richtlinie erlassenen Vorschriften sicherzustellenHABEN FOLGENDE RICHTLINIE ERLASSEN: Artikel 1 Zweck dieser Richtlinie ist die Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Werbung und das Sponsoring zugunsten von Tabakerzeugnissen. Artikel 2 Im Sinne dieser Richtlinie sind 1. "Tabakerzeugnisse": alle Erzeugnisse, die zum Rauchen, Schnupfen, Lutschen oder Kauen bestimmt sind, sofern sie ganz oder teilweise aus Tabak bestehen;
2. "Werbung": alle Angaben im geschäftlichen Verkehr, deren Ziel oder deren direkte oder indirekte Wirkung die VerkaufsfOrderung fIlr ein Tabakerzeugnis ist, einschließlich der Werbung, die, ohne unmittelbar auf das Tabakerzeugnis hinzuweisen, das Werbeverbot dadurch zu umgehen versucht, daß sie Namen, Marken, Symbole oder andere Unterscheidungsmerkmale von Tabakerzeugnissen verwendet; 3. "Sponsoring": jeder - öffentlicher oder privater - Beitrag zu einer Veranstaltung oder Aktivität, dessen Ziel oder dessen direkte oder indirekte Wirkung die VerkaufsfOrderung für ein Tabakerzeugnis ist; 4. "Tabakverkaufsstelle": jeder Ort, an dem Tabakerzeugnisse zum Verkauf angeboten werden. Artikel 3 (1) Unbeschadet der Richtlinie 89/552/EWG ist jede Form der Werbung und des Sponsoring in der Gemeinschaft verboten.
(2) Absatz 1 hindert einen Mitgliedstaat nicht zu gestatten, daß ein Name, der bereits guten Glaubens sowohl fIlr Tabakerzeugnisse als auch für andere Erzeugnisse oder Dienstleistungen verwendet wird, die von ein und demselben Unternehmen oder von verschiedenen Unternehmen vor dem 30. Juli 1998 in Verkehr gebracht oder angeboten wurden, in der Werbung fIlr die anderen Erzeugnisse oder Dienstleistungen verwendet wird. 12 Simma u. a.
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Dieser Name darf jedoch nur unter einem Aspekt, der sich von dem rur das Tabakerzeugnis herangezogenen Aspekt deutlich unterscheidet, und ohne sonstige rur ein Tabakerzeugnis bereits benutzte Unterscheidungsmerkmale verwendet werden. (3) a) Die Mitgliedstaaten tragen dafur Sorge, daß kein Tabakerzeugnis den Namen, die Marke, das Symbol oder ein sonstiges Unterscheidungsmerkmal anderer Erzeugnisse oder Dienstleistungen trägt, es sei denn, daß dieses Tabakerzeugnis zu dem in Artikel 6 Absatz 1 genannten Zeitpunkt bereits unter diesem Namen oder dieser Marke oder mit diesem Symbol oder diesen sonstigen Unterscheidungsmerkmalen in Verkehr gebracht worden ist. b) Das Verbot nach Absatz 1 darf bei Erzeugnissen oder Dienstleistungen, die ab dem in Artikel 6 Absatz 1 genannten Zeitpunkt in Verkehr gebracht bzw. angeboten werden, nicht dadurch umgangen werden, daß auf Namen, Marken, Symbole oder sonstige Unterscheidungsmerkmale zurückgegriffen wird, die bereits rur ein Tabakerzeugnis verwendet werden. Um diese Anforderung zu erfullen, dürfen der Name, die Marke, das Symbol oder ein sonstiges Unterscheidungsmerkmal der betreffenden Erzeugnisse oder Dienstleistungen nur unter einem Aspekt verwendet werden, der sich von dem rur das Tabakerzeugnis verwendeten Aspekt deutlich unterscheidet. (4) Jede Gratisverteilung mit dem Ziel oder mit der direkten oder indirekten Wirkung der Verkaufsfärderung rur ein Tabakerzeugnis ist verboten. (5)
Diese Richtlinie gilt nicht rur
- Mitteilungen, die ausschließlich rur die am Tabakhandel Beteiligten bestimmt sind; -
die Aufmachung der zum Verkauf angebotenen Tabakerzeugnisse und ihre Preisauszeichnung an den Tabakverkaufsstellen;
- an den Käufer gerichtete Werbung in auf den Verkauf von Tabakerzeugnissen spezialisierten Einrichtungen und in deren Auslagen und an deren Ladenfassade oder, im Falle von Einrichtungen rur den Verkauf verschiedenartiger Waren oder Dienstleistungen, an den fur den Verkauf von Tabakerzeugnissen vorbehaltenen Stellen sowie in Griechenland an Verkaufsstellen, die aus sozialen Gründen einem besonderen Lizenzsystem unterliegen (sogenannte Periptera;; -
den Verkauf von in Drittländern herausgegebenen und gedruckten Veröffentlichungen, die Werbung rur Tabakerzeugnisse enthalten, wenn diese Veröffentlichungen nicht hauptsächlich rur den Gemeinschaftsmarkt bestimmt sind.
Artikel 4 Die Mitgliedstaaten tragen dafllr Sorge, daß angemessene und wirksame Maßnahmen getroffen werden, um die Anwendung der von ihnen im Rahmen dieser Richtlinie erlassenen Vorschriften sicherzustellen und zu überwachen. Dies kann Vorschriften einschließen, nach denen Personen oder Organisationen, die nach einzelstaatlichem Recht ein berechtigtes Interesse an der Beendigung einer mit dieser Richtlinie unvereinbaren Werbung besitzen,
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dagegen entweder gerichtlich vorgehen oder sich an die Verwaltungsstelle wenden können, die fiir Entscheidungen über entsprechende Beschwerden oder fIlr die Einleitung gerichtlicher Verfahren auf diesem Gebiet zuständig ist.
Artikel 5 Diese Richtlinie läßt das Recht der Mitgliedstaaten unberührt, im Einklang mit dem Vertrag strengere Vorschriften, die sie zum Schutz der Gesundheit rur erforderlich halten, im Bereich der Werbung oder des Sponsoring zugunsten von Tabakerzeugnissen zu erlassen.
Artikel 6 (1) Die Mitgliedstaaten setzen die Rechts- und Verwaltungsvorschriften, die erforderlich sind, um dieser Richt1inie nachzukommen, spätestens am 30. Juli 2001 in Kraft. Sie setzen die Kommission unverzüglich davon in Kenntnis.
Wenn die Mitgliedstaaten diese Vorschriften erlassen, nehmen sie in den Vorschriften selbst oder durch einen Hinweis bei der amtlichen Veröffentlichung auf diese Richtlinie Bezug. Die Mitgliedstaaten regeln die Einzelheiten der Bezugnahme. (2) Die Mitgliedstaaten teilen der Kommission den Wortlaut der wichtigsten innerstaatlichen Rechtsvorschriften mit, die sie auf dem unter diese Richtlinie fallenden Gebiet erlassen. (3)
Die Mitgliedstaaten können die Anwendung des Artikels 3 Absatz 1
-
in bezug auf die Presse um ein Jahr und
-
in bezug auf das Sponsoring um zwei Jahre
verschieben.
In hirueichend begründeten Ausnahmefällen dürfen die Mitgliedstaaten für einen zusätzlichen Zeitraum von drei Jahren, der spätestens am 1. Oktober 2006 abläuft, gestatten, daß ein bestehendes Sponsoring von Veranstaltungen oder Aktivitäten, die weltweit organisiert werden, fortgesetzt wird, sofern -
die fur dieses Sponsoring aufgewendeten Beträge während der Übergangszeit abnehmen;
-
freiwillige Selbstbeschränkungsmaßnahmen getroffen werden, damit die Werbung bei solchen Veranstaltungen oder Aktivitäten weniger sichtbar ist.
Artikel 7 Die Kommission legt dem Europäischen Parlament, dem Rat und dem Wirtschafts- und Sozialausschuß spätestens am 30. Juli 2001 und danach alle zwei Jahre einen Bericht über die Anwendung dieser Richtlinie und insbesondere über die Durchfllhrung und die Auswirkungen von Artikel 3 Absätze 2 und 3 sowie von Artikel 6 Absatz 3 vor; sie fIlgt diesem Bericht gegebenenfalls Vorschläge zur Anpassung dieser Richtlinie an die in diesen Berichten fest-
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gestellten Entwicklungen bei. Diese Anpassung berührt nicht die in Artikel 6 Absatz 3 vorgesehenen Fristen.
Artikel 8 Diese Richtlinie tritt am Tag ihrer Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften in Kraft.
Artikel 9 Diese Richtlinie ist an die Mitgliedstaaten gerichtet.
AnnexID Mitteilung des Vorsitzenden des Rechtsausschusses an den Präsidenten des europäischen Parlaments über die Beurteilung des vom Rat vorgelegten Gemeinsamen Standpunktes durch den Ausschuß vom April 1998 1 Parlement europ6en - Commissionjuridique et des droits des citoyens
Monsieur Jose Maria Gil-Robles (president du Parlement Europeen)
(92/0 13-T00520 WL/vdh)
Objet:
Position commune arretee par le Conseille 12 fevrier 1998 en vue de I'adoption de la directive du Parlament europeen et du Conseil concemant le rapprochment des disposition legislatives, reglementaires et administrative des Etats membres en matieres de publicite et de parrainage en faveur des produits du tabac (C4-0043/98 00/0194 (COD» Examen de la base juridique
Monsieur le President, suite a ma lettre du 26 fevrier 1998, j'ai I'honneur de vous inforrner que la commission juridique et des droits des citoyens a examine, lors de sa reunion des 15 et 16 avri11998, la base juridique choisie par le Conseil dans sa position commune du 12 fevrier 1998. Apres en avoir delibere et avoir entendu le Jurisconsulte du Parlement, elle a decide (12/7/0) de se ralier a la proposition faite par le membre charge des questions de base juridique, M. Janssen van Raay. Celui-ci avait conclu en effet que la Communaute europeenne n'avait pas de competence pour adopter une directive, teile que proposee.
1 Bei Abgabe des Manuskripts lag den Autoren nur eine Kopie des französischen Originaltextes des Ausschußvorsitzenden vor.
12'
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TI est connu que la Commission avait ä l'origine, en 1989, propose une hannonisation partielle des regles nationales en matiere de publicite concemant les fonnes et l'etendue de celle-ci. Faisant suite ä un amendment adopte par le Parlement europeen en premiere lecture, la Commission a ensuite modifie sa proposition dans le sense d'une interdiction totale pour toutes les fonnes de publicite, directe ou indirecte, ainsi que pour le parrainage ("sponsoring"). Suite ä un amendment de la commission economique, monetaire et de la politique industrielle, la commission juridique et des droit des citoyens s'est panchee une premiere fois sur la question de la base juridique et a considere (15/13/0) le 30 janvier 1992 que l'article 100A TCE etait la base juridique appropriee. Le Parlement a donne son avis le 11 fevrier 1992, sans modifier la base juridique. Depuis, la proposition etait devant le Conseil (pendant six ans) avant que celui-ci n'arrete sa position commune. Il est ä constater en premier lieu, que le debat en commission n'a pas tourne autour de la question de savoir si une teile interdiction etait souhaitable ou non. Tous les membres se sont plutöt concentre sur la question de savoir si le traite atrribuait ä la Communaute les pouvoirs requis pour legiferer en la matiere. Il faut rappeier ensuite le principe fondamentale de la Communaute, a savoir le principe des "competences d'attribution". Ce principe veut que toute activite de la Communaute, surtout legislative, doit etre justifiee au regard du traite, la Communaute ne peut pas de son propre chef chercher de nouveaux domaines d'activite. Ce principe est en meme temps garant d'un equilibre entre les institutions de la Communaute, par exarnple le Conseil et les Etats membres. Partant de ces considerations de base, la commission juridique et des droits des citoyens a estime que la proposition de directive ne saurait se fonder sur la base juridique proposee par le Conseil, ä savoir les artic1es 100A, 57 par. 2 et 66 TCE, et ceci notamment pour les raisons suivantes: - L'interdiction de publicite preconisee par la proposition couvre un large eventail d'activites qui se limitent au territoire d'un Etat et n'ont pas d'incidence, directe ou meme indirecte, sur la circulation de marchandises ou de services entre Etat membres (example, affiches publicitaires, annonces dans des journaux locaux etc.). Or, la base juridique choisie ne peut pas justifier de tels effets, etant donne que les dispositions en cause visent a "I'etablissement et fonctionnement du marche interieur" (Article l00A et 7A TCE). L'article 7A TCE montre que cette competence de la Communaute ne touche pas aux questions d'ordre purement interne. - Le deuxieme argument avance en faveur de l'interdiction en question, ä savoir I'elimination
de distortions de concurrence, ne saurait pas convaincre non plus, car panni les differentes branches de l'eoonomie touchees par un teile interdiction se trouvent certaines, notamment des publicitaires travaillant dans le secteur du tabac, qui se verraient de la sorte purement et simplement dans I'impossibilite de continuer leurs activites. Une interdiction totale ne servirait donc pas a hannoniser les conditions de concurrence, mais aboutirait plutöt ä la
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simple disparition de I'activite en cause. Ce demier effet, qui est d'ailleurs le but de la directive, ne peut pas se justifier au regard du fonctionnement du marche interieur. - TI ressort enfin d'une analyse du texte de la position commune que son objectif principal est la protection de la sante et que, de ce fait, la base juridique appropriee ä cet egard serait I'article 129 TCE. Or, celui-ci exclut expressement toute harmonisation de dispositions legislatives ou administratives (voir son paragraphe 4). Ainsi que vous le savez, la commission competente au fond, la commission de I'environnement, de la sante publique et de la protection des consommateurs, a adopte lors de sa reunion de 22 avril demier la position commune, teile quelle. TI appartient maintenant au Parlement europeen de se prononcer sur la position commune susmentionnee. Veuillez agreer, Monsieur le President, I'expression de mes salutations distinguees.
[Willy de Clercq]