Kommunikation im Musikleben: Harmonien und Dissonanzen im 20. Jahrhundert 9783666300707, 9783525300701, 9783647300702


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Kommunikation im Musikleben: Harmonien und Dissonanzen im 20. Jahrhundert
 9783666300707, 9783525300701, 9783647300702

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© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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Kommunikation im Musikleben Harmonien und Dissonanzen im 20. Jahrhundert

Herausgegeben von Sven Oliver Müller, Jürgen Osterhammel und Martin Rempe

Vandenhoeck & Ruprecht © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

Mit 5 Abbildungen und 2 Tabellen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-647-30070-2 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de

Die Drucklegung dieses Bandes wurde aus dem Gottfried Wilhelm Leibniz-Programm der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert.

Umschlagabbildung: Beatles-Fans bei einem Konzert in der Town Hall, Wellington, Juni 1964 © Alexander Turnbull Library, Wellington, New Zealand (Fans at the Beatles concert, Wellington Town Hall. Hill, Morris James, 1929–2002 :Negatives of Wellington, and national events and personalities. Ref: 1/4-071853-F. Alexander Turnbull Library, ­ Wellington, New Zealand. http://natlib.govt.nz/records/23173768)

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U. S. A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: textformart, Göttingen | www.text-form-art.de Druck und Bindung: w Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Sven Oliver Müller / Martin Rempe Vergemeinschaftung, Pluralisierung, Fragmentierung. Kommunikationsprozesse im Musikleben des 20. Jahrhunderts . . . . . . 9 Traditionslinien und Aufbrüche Celia Applegate »Eine große Nachtmusik«. Musik und Militär im Deutschland des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . 27 Martin Thrun Der Sturz ins Jetzt des Augenblicks. Macht und Ohnmacht »ästhetischer Polizei« im Konzert nach 1900 . . . 42 William Weber Beyond the classics. Welche neue Musik hörte das deutsche Publikum im Jahre 1910? . . . . . 68 Stephanie Kleiner Neuer Mensch durch Neue Musik? Die Oper als Raum sozialer und politischer Bindungskunst in der Weimarer Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 Emotion und Gefolgschaft Sarah Zalfen Wann sie singen, Seit’ an Seit’. Musik als emotionale und gemeinschaftsbildende Praxis auf Parteitagen der SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Hansjakob Ziemer Der Mengelbergskandal. Kommunikation, Emotion und Konflikt im Konzertsaal vor dem Ersten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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Inhalt

Jürgen Osterhammel Kühle Meisterschaft. Dirigenten des frühen 20. Jahrhunderts zwischen Selbstdarstellung und Metierbeschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 Sven Oliver Müller Von der unendlichen Vielfalt der Gefühle. Leonard Bernsteins emotionale Praktiken im Musikleben . . . . . . . . . 179 Grenzüberschreitung und Aneignung Toru Takenaka Musik hören mit dem Kopf. Soziokulturelle Mechanismen der Rezeption westlicher Musik im modernen Japan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 Claudius Torp Zwischen Verbreitung und Verwandlung. Protestantische Missionsmusik in Afrika um 1900 . . . . . . . . . . . . . 214 Martin Rempe »A la fin de tout, il reste la rumba«. Musikleben im spätkolonialen Léopoldville und Brazzaville . . . . . . . . 235 Klaus Nathaus Vom polarisierten zum pluralisierten Publikum. Populärmusik und soziale Differenzierung in Westdeutschland, circa 1950–1985 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Detlef Siegfried Kommunikation und Erlebnis. Merkmale und Deutungen europäischer Folk- und Popmusikfestivals: Burg Waldeck und Roskilde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 Hans-Joachim Hinrichsen Ausblick: Musikalische Kommunikation und Formen der Aneignung von Musik als Gegenstände der Historiographie . . . . . . 295 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308 © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

Vorwort

Der vorliegende Band geht aus der Tagung »Kommunikationschancen: Entstehung und Fragmentierung sozialer Beziehungen durch Musik im 20. Jahrhundert« hervor, die vom 24. bis 26. Januar 2013 in Berlin stattfand. Sie wurde von der Leibnizpreis-Forschungsstelle Globale Prozesse der Universität Konstanz und dem Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Berlin, ausgerichtet. Eingeladen hatten die Herausgeber dieses Bandes, Sven Oliver Müller (Berlin), Jürgen Osterhammel und Martin Rempe (beide Konstanz). Zahlreiche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verschiedener Disziplinen diskutierten über Kommunikationsansätze, über Musik und Emotionen, über das Verhältnis zwischen E- und U-Musik und unterschiedliche Zugänge zu ihrer Erforschung, schließlich auch über Möglichkeiten der Zeit- und der Globalgeschichte. Der Band wird seine Leserinnen und Leser hoffentlich davon überzeugen, dass diese interdisziplinäre Kommunikationschance genutzt wurde. Zugleich soll er dazu anregen, den Austausch über eine historisch orientierte Soziologie der musikalischen Verständigung zu vertiefen, nicht nur mit Blick auf das 20. (und 21.) Jahrhundert. Der Dank der Herausgeber gilt allen Referentinnen und Referenten, die sich an der Tagung mit einem Vortrag oder einem Kommentar beteiligt haben. Wir danken zudem den Autorinnen und Autoren für die Bereitschaft, Ihre Konferenzbeiträge für diesen Sammelband weiterzuentwickeln und dabei die Vorschläge der Herausgeber in Erwägung zu ziehen. Zu großem Dank sind die Herausgeber Jasmin Daam und Lisa Korge verpflichtet, die in Konstanz den Band mit unermüdlichem Einsatz und nie nachlassender Akribie redaktionell betreut haben. Stefanie Denz, Gina Emerson und Iris Törmer übersetzten die Aufsätze von Celia Applegate, Toru Takenaka und William Weber ins Deutsche. Iris Törmer hat zudem das Personenregister erstellt. Martina Kayser vom Verlag Vandenhoeck & Ruprecht begleitete mit Begeisterung und Geduld unsere Arbeit. Daniel Sander hat die Herstellung des Buches im Verlag kompetent betreut. Berlin und Konstanz, im November 2014 Sven Oliver Müller, Jürgen Osterhammel, Martin Rempe

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Sven Oliver Müller / Martin Rempe

Vergemeinschaftung, Pluralisierung, Fragmentierung Kommunikationsprozesse im Musikleben des 20. Jahrhunderts

In einem Experiment des Westdeutschen Rundfunks (WDR) aus dem Jahre 1977 wurde Testhörerinnen und -hörern dreimal nacheinander der finale Höhepunkt des letzten Satzes aus der Vierten Sinfonie Es-Dur von Anton Bruckner auf Schallplatte vorgespielt. Die Aufgabe lautete, die Interpretationen von Karl Böhm, Leonard Bernstein und Herbert von Karajan zu identifizieren oder zumindest Unterschiede herauszuhören. Vor allem die selbsternannten Kenner aus dem Bildungsbürgertum folgten dem geltenden Dirigentenkult und begründeten in aller Ausführlichkeit die verschiedenen Interpretationen mit Hilfe ihres erworbenen Musikgeschmackes. Die Angestellten und Arbeiter unter den Testpersonen verfügten dagegen kaum über diese Art musikalisches Expertenwissen. Ihr Anteil unter den knapp 20 Prozent der 563 Versuchsteilnehmer, die angaben, keine Unterschiede zwischen den drei Einspielungen gehört zu haben, war besonders hoch. Und sie waren im Recht; der WDR hatte allen Testhörern dreimal dieselbe Aufnahme vorgespielt.1 Mit guten Gründen lässt sich darüber diskutieren, ob in diesem Fall die Kommunikation misslang, oder aber ob dieses Experiment auf neue Kommunikationsprozesse verweist, weil nun ein größerer Zuhörerkreis in der Lage war, diese Musik zu bewerten. Bedenkt man zudem, dass Theodor W. Adorno schon 15 Jahre früher in seiner Hörertypologie den von ihm so getauften »Bildungs­hörern« keine allzu guten Hörfähigkeiten attestiert und ihnen zudem vorgeworfen hatte, dieses Defizit durch biographische und interpretatorische Kenntnisse zu kompensieren, »über die man stundenlang nichtig sich unterhält«, so überrascht das Ergebnis des Experiments nicht.2 Jenseits der Dekonstruktion dieses »Hörertyps« lassen sich an diesem markanten Beispiel exemplarisch musikalische Kommunikationsformen ausmachen, die für das 20. Jahrhundert charakteristisch wurden: zuerst die Praxis des medialisierten Musikhörens, sei es über Radio oder Schallplatte, die aufs Ganze gesehen dem 1 Vgl. zu diesem Musikexperiment Helmut Rösing u. Peter Petersen, Orientierung Musikwissenschaft. Was sie kann, was sie will, Reinbek 2000, S. 19 f., S. 83 f. 2 Theodor W. Adorno, Typen musikalischen Verhaltens, in: ders., Einleitung in die Musiksoziologie. Zwölf theoretische Vorlesungen, Frankfurt 1962, S. 12–30, hier S. 17 f. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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bis dahin alternativlosen Live-Konzert im Laufe des 20. Jahrhunderts klar den Rang abgelaufen hat; damit verbunden die Entstehung neuer ebenso wie die Stabilisierung alter Geschmacksgemeinschaften, die unter anderem auch von Debatten um neue Platten, rising stars und Interpretationen getragen und zusammengehalten wurden; schließlich und erneut medial bedingt eine RaumZeit-Verdichtung, die die musikalische Welt schrumpfen ließ, die in diesem Falle die New Yorker, Berliner und Wiener Philharmoniker  – vermeintlich  – unmittelbar erlebbar machte und die strukturell besehen die Bildung neuer musikalischer Kommunikationsräume begünstigte.3 Um die Veränderungen des Musiklebens im 20.  Jahrhundert zu erkennen, kommt es in der Tat weniger darauf an, das Verschwinden etablierter, als vielmehr die Entstehung neuer Praktiken und Rezeptionsformen zu beschreiben. So entstand zum einen ein neues Zusammenspiel zwischen den Künstlern, den Produzenten und den Konsumenten mit dem Ergebnis einer Gewichtsverschiebung hin zur größeren medialen Präsenz der Musik. Zum anderen aber verfestigte sich die Tradition. Die gebildeten Abonnenten der Sinfoniekonzerte und die leidenschaftlichen Aficionados der Opernhäuser verteidigten ihre ästhetischen und sozialen Besitzstände. Die wachsenden Möglichkeiten technischer Reproduktion im 20. Jahrhundert erweiterten die ehemals notwendige Gleichzeitigkeit zwischen der Produktion eines Musikstücks und dessen Konsum. Die neuen technischen Medien versorgten nun vor allem den privaten Bereich mit Gesang, Konzert und Tanzmusik. Bis dahin war Musik ein Erlebnis gewesen, das fast ausschließlich öffentlichen Orten vorbehalten war. Die wachsende Vielfalt neuer Tonträger und Musikstile erforderte immer weniger spezielle kulturelle Kenntnisse und erleichterte einem immer zahlreicheren, und auch weniger bemittelten Publikum der Unterhaltungsmusik dadurch den sozialen Zugang. Bill Haley sprach weit mehr Hörer an als Anton Bruckner.4 Die Beiträge dieses Sammelbandes thematisieren solche und andere Kommunikationsprozesse, die sich in den Praktiken des Musizierens und Musikhörens vollzogen oder von ihnen ausgingen. Ihnen gemeinsam ist, dass sie sich für die kommunikative Funktion und Wirkung von Musik interessieren: Wie und unter welchen Bedingungen prägte und veränderte der Umgang mit Musik 3 Vgl. Katharine Ellis, The Structures of Musical Life, in: Jim Samson (Hg.), The Cambridge History of Nineteenth-Century Music, Cambridge 2001, S.  343–370; Gerhard Paul u. Ralph Schock (Hg.), Sound des Jahrhunderts. Geräusche, Töne, Stimmen 1889 bis heute, Bonn 2013; John Joyce, The Globalization of Music, in: Bruce Mazlish u. Ralph Buultjens (Hg.), Conceptualizing Global History, Boulder, CO 1993, S. 205–224. 4 Vgl. Richard Taruskin, The Oxford History of Western Music. Bd. 4: The Early Twentieth Century, Oxford 2005, S. 549–616; Albrecht Riethmüller (Hg.), Geschichte der Musik im 20. Jahrhundert: 1925–45, Laaber 2006, bes. S. 47–68; ferner die einschlägigen Beiträge in Alexa Geisthövel u. Habbo Knoch (Hg.), Orte der Moderne. Erfahrungswelten des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt 2005. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

Vergemeinschaftung, Pluralisierung, Fragmentierung

die Verständigung zwischen Gruppen und Individuen im 20. Jahrhundert? In­ wiefern entstanden durch Musik neue Kommunikationsräume, und inwieweit wurden sie porös gehalten oder hermetisch abgeschlossen? Was gelang durch musikalisch strukturierte Kommunikation, was sich etwa durch die gesprochene Sprache oder durch Bilder nicht oder anders vollzog? Welche Rolle spielten die Entwicklung von Tonträgerindustrie und Rundfunk, der wachsende interkulturelle Musikaustausch und die zunehmende Ausdifferenzierung von Musikstilen im 20. Jahrhundert für die sozialen und politischen Kommunikationschancen von Musikern, Musikvermittlern und Zuhörern in unterschiedlichen Gesellschaften und ihren Teilgruppen? Solche Gruppenbildungsprozesse sind relevant, weil sie viele Elemente des täglichen sozialen Lebens, aber auch langfristige politische und ökonomische Entwicklungen berührten, bestätigten, oder auch in Frage stellten. Um den gesellschaftlichen Stellenwert musikalischer Kommunikationsprozesse aufzuzeigen, ist also ein Perspektivenwechsel nötig. Die Aufführung und Aneignung von Musik ist nicht als ein peripheres Phänomen, sondern als sozial relevante Kulturtechnik zu begreifen. Musikalische Praktiken sind als Akte gesellschaftlicher Ordnung wichtig und ermöglichen die kommunikative Ausbildung und Abgrenzung von Gruppen und Individuen. Es ist ungemein reizvoll, aber aufwendig und komplex, Musik zu dekodieren. Leider wirft das eine nur scheinbar einfache Frage auf, die auf ein methodisches Problem verweist: Was ist eigentlich Kommunikation? Ist schon jede sensorische Wechselwirkung zwischen Menschen Kommunikation? Und welche Formen sind im Musikleben zu untersuchen? An Konzepten und theoretischen Überlegungen mangelt es nicht. Überraschend sind einige Erträge der Sozialwissenschaft. Der Soziologe Klaus Merten stieß im Zuge seiner Recherchen bereits im Jahre 1977 auf 160 Definitionen von Kommunikation in der Forschung.5 In der Tat gibt es sehr wenig, das sich nicht als Kommunikation fassen und verstehen ließe. Diesem Dilemma begegnet der Band mit einer Minimaldefinition beziehungsweise einem Grundgerüst, das für alle Autorinnen und Autoren anschlussfähig ist und ihnen zugleich genügend Raum belässt, ihren Beiträgen je spezifische Kommunikationsverständnisse zugrunde zu legen. Unter Kommunikation wird demnach grundsätzlich jede artikulierte Handlung verstanden, die eine Beziehung zu einem anderen ermöglicht  – und jede Äußerung, die als kommunikativ wahrgenommen oder interpretiert werden kann. Kommunikativ sind Vorgänge der Wissensproduktion und der Wissensvermittlung. Kommunikation ist daher nicht nur ein Informationsaustausch, sondern auch ein Mittel der Produktion sozialer Beziehungen. Sie dient der Koordination von Handlungen, ja ist selbst das Ergebnis der Koordination von Handlun-

5 Klaus Merten, Kommunikation: Eine Begriffs- und Prozessanalyse, Opladen 1977. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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gen. Kommunikation stellt daher ein Paradebeispiel für soziale Ordnung dar. Ohne die Koordination von Handlungen kann sich die Kommunikation weder zwischen Individuen noch innerhalb einer Gruppe ereignen. Soziale Beziehungen ent­stehen durch Handlungen und bilden daher einen Kontext für jede weitere Handlung und damit für die Produktion von Gemeinschaften.6 Kommunikation im Musikleben erfüllt vier idealtypische Funktionen: Sie dient der Information, der Meinungsbildung, der Vergesellschaftung und der Unterhaltung. Deshalb reicht es nicht aus, sich allein auf die Struktur der musika­lischen Komposition, auf das Verständnis der Tonkunst zu kon­ zentrieren. Aus historischer Sicht aussagekräftiger sind der Umgang mit und die Bewertung von musikalischen Aufführungen. Zu selten wird musikalische Kommunikation als Prozess begriffen, zu selten das Augenmerk auf die Entwicklung der Interessen und Vorlieben der Musikfreunde gerichtet. Erlebnisse, Erfahrungen und Bildung sind die Grundlagen aller Kommunikation des Wissens. Künstler, Produzenten, Journalisten und Publikum verwandeln ihre musikalischen Erlebnisse in eine Sprache und in soziale Praktiken. Diese Vermittlungswege müssen ausgelotet, und es sollte nach den musikalischen Deutungen in den Texten, im Konsum oder in den emotionalen Bewertungen gefragt werden. Die Beziehungen der Akteure im Musikleben zueinander lassen sich als eine Kette der Kommunikation verstehen. Diese beleuchtet die sozialen, politischen und ökonomischen Abhängigkeiten zwischen Komponisten, Musikern, Auftraggebern und Publikum. Wichtig ist es dabei, nicht mit einem traditionellen Sender-Empfänger-Modell zu arbeiten, also zu glauben, dass einer der Akteure handelt (etwa der Sänger) und der Hörer lediglich der abhängige Konsument wäre. Vielversprechender ist die Annahme, dass alle Glieder in dieser Kommunikationskette einander bedürfen. Durch soziale Kontexte wächst die Aufmerksamkeit für eine gemeinsame Vertrautheit innerhalb des eigenen musikalischen Raums – und damit für erfolgreiche Handlungen. Dadurch verliert die Trennung zwischen Komposition, Aufführung und Rezeption immer weiter an Bedeutung. Kunstwerke büßten spätestens im 20. Jahrhundert ihre ästhetische Autonomie ein – wenn es dieses Phänomen überhaupt jemals gab. So erkenntnisträchtig es aber ist, sich durch eine geschichtswissenschaftliche Perspektive von der auch zeitlich beschränkten Werk-Immanenz zu verabschieden und die Bedeutung der Musik durch den Kontext zu erklären, muss klar sein, dass diese Beziehungsgeschichte auch umgekehrt gilt und bestimmte musikalische Genres

6 Einen Überblick über die Perspektiven der Forschung geben Rainer Schützeichel, Sozio­ logische Kommunikationstheorien, Konstanz 2004; Roland Burkart u. Walter Hömberg (Hg.), Kommunikationstheorien. Ein Textbuch zur Einführung, Wien 20115; Hubert Knoblauch, Kommunikationskultur. Die kommunikative Konstruktion kultureller Kontexte, Berlin 1995, bes. S. 1–20. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

Vergemeinschaftung, Pluralisierung, Fragmentierung

und Kompositionen nicht nur ästhetische, sondern auch soziale und politische Wirkungen in der Gesellschaft entfalten.7 Aufschlussreich ist es demnach weniger, auf die Vielfalt der Kommunikationstheorien als auf spezifische Kommunikationsformen zu achten, welche im Idealfall konkrete Entwicklungen im Musikbetrieb erklären können. Vor dem Hintergrund der Pluralität der Kommunikationsdefinitionen richten die Autorinnen und Autoren ihren Blick in diesem Band daher auf die verschiedenen Auffassungen, Praktiken und Aufführungen im Musikbetrieb. Die Akteure bedürfen eines Mittels, mit dessen Hilfe sie sich sichtbar machen und Interessen durchsetzen können. Viele Deutungen und Handlungen werden als ein Zeichensystem verstanden, das durch Kommunikation soziale und politische Wirklichkeiten konstruiert. Wichtig ist es dabei, Darstellung und Herstellung parallel zu erfassen. In diesem Sinne bilden Kommunikationsprozesse die Basis, um die Vernetzung zwischen Musik und Gruppen zu untersuchen. Das Ziel dabei ist, die einzelnen Entwicklungen sowohl schärfer zu benennen als auch deren Ver­ gleichbarkeit zu erleichtern. Folgende methodische Zugänge scheinen hilfreich, um musikalische Kommunikationsprozesse weiter auszudifferenzieren: musikalische Aufführungen (1), soziale Praktiken (2), öffentliche Diskurse (3) und die wachsende Medialisierung (4). 1. Musikalische Aufführungen sind die Grundlage eines Kommunikations­ prozesses. In ihnen ist das Zusammenwirken von Produktion, Organisation und Rezeption im Musikbetrieb besonders gut zu beobachten. Aufschlussreich sind zumal solche Aufführungen, die aus sozialen, wirtschaftlichen und politischen Gründen ein großes Publikum benötigen  – und somit die öffentliche Kommunikation beflügeln. Reale Zuhörer, also die Anwesenden in einer Aufführung zur selben Zeit am selben Ort, sind von denjenigen Rezipienten zu unterscheiden, die zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Plätzen Berichte über Konzerte lesen und angeregt darüber diskutieren. Nach dem heutigen Kenntnisstand ist noch unklar, ob durch musikalische Aufführungen soziale und politische Gruppen erstmals entstanden oder ob es umgekehrt bereits bestehende Gruppen waren, die miteinander auch über Musik kommunizierten. Diese Aufführungen schufen vielfältig kombinierbare Reize, die genau deshalb so nachhaltig wirkten. 7 Vgl. Sven Oliver Müller u. Jürgen Osterhammel, Geschichtswissenschaft und Musik, in: dies. (Hg.), Musikalische Kommunikation. Themenheft Geschichte und Gesellschaft 38. 2012, S. 5–20, sowie die einzelnen Beiträge in diesem Themenheft; Dorothy Miel u.a, How Do People Communicate Using Music? in: dies. (Hg.), Musical Communication, Oxford 2005, S.  1–25; Jane W. Davidson, Bodily Communication in Musical Performance, in: Miel (Hg.), Musical Communication, S.  215–238; Habbo Knoch u. Daniel Morat (Hg.), Kommunikation als Beobachtung. Medienwandel und Gesellschaftsbilder 1880–1960, München 2003. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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2. Ebenso aufschlussreich ist der Blick auf die sozialen Praktiken der Künstler, der Veranstalter und des Publikums, welche versuchten, soziale, politische und wirtschaftliche Positionen zu besetzen. Denn soziale Praktiken, so die Annahme, sind zugleich Ausdruck und Motor von Handlungen. Unter Praktiken werden hier diejenigen Verhaltensmuster verstanden, welche durch regelhafte Wiederholungen zu einem Lebensstil werden konnten. Eine Aufführung zu erleben, kann eine soziale Gemeinschaft sowohl zwischen den Musikern als auch zwischen unterschiedlichen Hörern schaffen. Die Praktiken der Musikliebhaber zeichnen sich durch Kunstkenntnis und Kunstempfänglichkeit aus. Relevant für den hier interessierenden Kommunikationsprozess ist, dass die musikalische Produktion und Rezeption erst durch die Synchronisierung zahlreicher verbaler und nonverbaler Verhaltensmuster der Akteure untersucht werden kann. 3. Die Diskurse über Musik, das heißt etwa die Gespräche oder die Bedeutungszuschreibungen, zeigen die Reichweite der Kommunikation. Es waren beispielsweise nicht allein die Punkkonzerte, die eine gemeinsame Ästhetik spezifischer jugendlicher Hörerkreise förderten, oder die Konzertsäle, welche den Zusammenhalt der bildungsbürgerlichen Gesellschaft festigten, sondern der Diskurs über sie. Wichtig für die Gesellschaft sind die öffentlichen Debatten über Kunst, Künstler und ihre Bedeutung. Hilfreich scheint der Blick auf parallel geführte Diskurse durch verschiedene Musikfreunde. Dabei wird oft kein linearer, in eine Richtung verlaufender Prozess zu Tage gefördert, sondern nur Interpretationen und Variationen sozialer Interessen, kultureller Werte und politischer Utopien an bestimmten Orten zu bestimmten Zeiten. 4. Die Rolle der Medien, zumal die rasch zunehmenden Formen technischer Möglichkeiten, ist für die musikalischen Kommunikationsprozesse des 20. Jahrhunderts kaum hoch genug zu veranschlagen. Der Bedeutungsgewinn der Öffentlichkeit ist ein wesentliches Kennzeichen moderner Kommunikation. Die Massenmedialisierung von der Verbreitung ungekannter Stückzahlen von Zeitungen, Schallplatten und Bildern bis hin zum Austausch in Internetforen veränderte auch den gesellschaftlichen Stellenwert des Musikkonsums. Für musikalische Aufführungen hieß das: Sie verlangten öffentliche Beobachtung und Teilnahme – zunächst der anwesenden Besucherinnen und Besucher und dann der breiten Bevölkerung. Diesen Ansätzen liegt die Erkenntnis zugrunde, dass Medien mehr sind als Übertragungskanäle. Vielmehr strukturiert bereits die Art und Weise öffentlicher Vermittlung die sozialen und kulturellen Bezie­ hungen. Die Medien stellen den Musikfreunden ein Überangebot an Wissen zur Verfügung. In den einzelnen Beiträgen zeigen die Autorinnen und Autoren, an welchen Orten und in welchen Kontexten und Zeiten Kommunikation im Musikleben © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

Vergemeinschaftung, Pluralisierung, Fragmentierung

entstand und sich wandelte. Sie präsentieren Fallbeispiele aus unterschiedlichen sozialen, politischen und kulturellen Kontexten, thematisieren verschiedene musikalische Genres und bieten so neue Einsichten über generelle, aber auch genrespezifische Figurationen musikalischer Kommunikation. Vom unmittelbaren Live Act bis zur politischen Inszenierung lösten Kommunikations­ prozesse auf verschiedenen Ebenen Einschluss- und Ausschlussmechanismen im Musikleben aus. Die Beiträge verdeutlichen, wie und warum der Umgang mit Musik zu einträchtiger Harmonie ebenso wie zu heftigen Dissonanzen führen konnte. Drei Themenfelder haben sich in diesen Prozessen als charakteristisch erwiesen, die mit den Begriffspaaren »Traditionslinien und Aufbrüche«, »Emotion und Gefolgschaft« sowie »Grenzüberschreitung und Aneignung« benannt werden können. Sie geben die Struktur des Bandes vor, ohne sich notwendigerweise gegenseitig auszuschließen; einige Beiträge thematisieren daher auch zwei oder sogar alle drei Aspekte. Traditionslinien und Aufbrüche kennzeichneten insbesondere das erste Drittel des musikalischen 20. Jahrhunderts, weil diese Zeit qualitativ betrachtet eine musikalische Ausdifferenzierung und quantitativ besehen eine musikalische Durchdringung erst des öffentlichen, später auch des privaten Raumes mit sich brachte, wie sie im 19. Jahrhundert noch gänzlich undenkbar war. In der Tat erhielten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts immer mehr Menschen Zugang zu traditionellen, vor allem aber zu neuen Foren musikalischer Darbietung und Unterhaltung. Wie bereits erwähnt, hatten die Erfindung und Kommerzialisierung der neuen akustischen Speichermedien, zunächst der Wachswalze, später der Schallplatte, maßgeblichen Anteil an dieser Entwicklung. Das frühe Kino war nicht nur ein visuelles Spektakel, sondern diente auch der Popularisierung eingängiger Musikstücke – vom Gassenhauer bis zu Ausschnitten aus WagnerOpern. Ab den 1920er Jahren bot der Rundfunk eine weitere Gelegenheit zum privaten Musikkonsum. Und es ist wohl kein Zufall, dass der erste Tonfilm, »The Jazz Singer«, ein musikalisches Sujet mit dem Broadway Star Al Jolson in der Hauptrolle darbot, wenngleich das Genre des Musikfilms erst in den 1940er Jahren seine Glanzzeiten erreichte.8 Die Verbreitung der neuen auditiven und audiovisuellen Medien hatte enorme Auswirkungen auf das Musikleben und ging zugleich einher mit politischen Umwälzungen in der Gesellschaft, die das erste Drittel des 20. Jahrhunderts kennzeichneten: Auf Selbstbestimmung, Demokratie und Emanzipation ruhten nach dem Ende des Ersten Weltkriegs große Hoffnungen, Ideale freilich, die keineswegs unumstritten waren. Diese gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen zwischen Tradition und Aufbruch waren in der deutschen 8 Vgl. Herbert Haffner, »His Master’s Voice«. Die Geschichte der Schallplatte, Berlin 2011; Hansjörg Pauli, Filmmusik: Stummfilm, Stuttgart 1981, v. a. S. 104–112; Mervyn Cooke, A History of Film Music, Cambridge 2008, hier S. 49–52. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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Gesellschaft um 1900 besonders ausgeprägt – und wurden auch und gerade im deutschen Musikleben geführt, dem die vier Beiträge dieses Abschnitts gewidmet sind.9 In ihrer Analyse verschiedener musikalischer Kommunikationsprozesse können die Autorinnen und Autoren allerdings aufzeigen, dass es in die Irre führen würde, Tradition und Aufbruch zu dichotomisch beziehungsweise als sich gegenseitig ausschließend zu denken. Vielmehr weisen die Beiträge zur Bedeutung der Militärmusik, zur Programmgestaltung im klassischen Konzert, zu Publikumsreaktionen in Avantgarde-Konzerten und zur Theorie und Praxis ästhetisch angeleiteter Gesellschaftsreform darauf hin, dass vermeintlich traditionelle Kräfte ebenso am Aufbruch beteiligt waren, wie selbsternannte Reformer fest in etablierten Schemata verhaftet blieben. Damit einher gingen häufig Dissonanzen zwischen Gruppen, die sich allerdings nicht nur in diesem – letztlich musikästhetischen  – Gegensatz erschöpften, sondern auch andere, insbesondere soziale Konfliktlinien erkennen ließen. Celia Applegate macht in ihrem Rückblick auf Militärmusikkapellen im 19.  Jahrhundert darauf aufmerksam, dass diese bislang viel zu wenig Beachtung in der Forschung gefunden haben, zumal sie als zunehmend omnipräsente Musiker alle möglichen Genres bedienen konnten und dadurch auch ganz wesentlich dazu beitrugen, neue Formen der Unterhaltungsmusik an der Wende zum 20.  Jahrhundert populär zu machen.10 Anstoß erregte die Militärmusik um 1900 nicht so sehr aus musikästhetischen Gründen, sondern weil sie Zivil­ musikern häufig Auftrittsmöglichkeiten raubte und damit mitverantwortlich für das vielbeklagte Musikerelend war.11 Die anderen drei Beiträge dieses Teils widmen sich der so genannten Neuen Musik aus unterschiedlichen Akteursperspektiven: William Weber demonstriert durch seine auf den Herbst 1910 fokussierte Konzertprogrammanalyse, dass zeitgenössische Kompositionen kaum eine Chance gegen den übermächtigen Kanon der klassischen Musik hatten, dass allerdings in klassischer Tradition gehaltene Stücke ebenso wie jene, die an Unterhaltungsmusik anknüpften, mehr Aussichten auf Erfolg als avantgardistische Kompositionen hatten. Für Komponisten in ihrem Streben nach Erfolg war die Situation daher eine of9 Vgl. Cornelius Torp u. Sven Oliver Müller, Das Bild des Deutschen Kaiserreichs im Wandel, in: dies. (Hg.), Das Deutsche Kaiserreich in der Kontroverse, Göttingen 2009, S. 9–27; Celia Applegate, Culture and the Arts, in: James Retallack (Hg.), Imperial Germany, 1871–1918, Oxford 2008, S. 106–127. 10 Vgl. dazu, neben Applegates Artikel, auch Manfred Heidler, »Mit Preußens Gloria und Hurra in die Katastrophe«: Anmerkungen zur Militärmusik zwischen Reichsgründung und Weimarer Republik, in: Sabine Mecking u. Yvonne Wasserloos (Hg.), Musik  – Macht  – Staat. Kulturelle, soziale und politische Wandlungsprozesse in der Moderne, Göttingen 2012, S. 127–144. 11 Vgl. dazu etwa Stephan Krehl, Musikerelend. Betrachtungen über trostlose und unwürdige Zustände im Musikerberuf, Leipzig 1912. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

Vergemeinschaftung, Pluralisierung, Fragmentierung

fene, was sich letztlich auch in vielen Komponistenkarrieren dieser Zeit wider­ spiegelte; selbst ein Arnold Schönberg hielt sich zeitweise damit über Wasser, Operetten zu orchestrieren.12 Für die üblicherweise mit Schönberg in Verbindung gebrachte Musik der Zweiten Wiener Schule konstatiert Martin Thrun anschließend eine Ohnmacht der so genannten ästhetischen Polizei im frühen 20. Jahrhundert: Der Konzertsaal erinnerte durch die ästhetische Schockerfahrung bisweilen an eine Kampfarena, in der sich das Publikum in Anhänger (unterstützt von den Musikern) und erbitterte Gegner spaltete und in der teils sogar die Fäuste flogen. Zweifellos wurde hier der Aufbruch aufs bitterste von einer Gruppe bekämpft, die ganz überwiegend der Tradition verhaftet blieb. Thrun zeigt allerdings anschaulich, wie sich derartig dissonante Kommunikationsprozesse im Laufe der Zeit abschliffen und einer Art von Non-Kommunikation Platz machten: Während die Avantgarden sich insgesamt zurückzogen in ihre (freilich noch immer als elitär gedachte) Szene, verließ das traditionelle Publikum schlicht den Saal, sobald es Neuer Musik ausgesetzt wurde. Nicht so sehr im Avantgarde-Konzert, sondern in der Oper sollte sich demgegenüber die gesellschaftspolitische Utopie des Musikkritikers und späteren Intendanten Paul Bekker in den 1920er Jahren realisieren. Ihm schwebte, so Stephanie Kleiner, eine »Fusion von Tradition und Moderne, von cineastischer­ Ästhetik und musikalischer Hochkultur« vor, die als neue Bindungs- und Empfindungskunst die fragmentierte Gesellschaft wieder zusammenbringen sollte. Nirgendwo zeigt sich die Verschränkung von Tradition und Aufbruch deutlicher als in Bekkers Überlegungen und denen seines Freundes Leo Kestenberg, der von der klassenlosen Kulturgemeinschaft träumte. Musik diente den beiden als kommunikatives Mittel zum Anstoß gesellschaftlicher Reformen. Dass Bekkers demokratische, inklusive Bindungskunst um 1930 schließlich auf Ablehnung bei den erstarkenden Nationalsozialisten stieß, hatte erneut wenig mit Ästhetik, umso mehr aber mit deren fundamentaler Republikfeindlichkeit und dem jüdischen Hintergrund Bekkers zu tun. Der zweite Abschnitt nimmt das Spannungsfeld zwischen Emotionen und der Entstehung von Gemeinschaften in den Blick. Es ist ein Allgemeinplatz, dass Gefühlen im Musikleben eine zentrale Funktion zukommt. Eine trennscharfe Untersuchung von Emotionen aus historischer Perspektive verweist aber auf neuartige Zusammenhänge. Musikalisch motivierte Emotionen können verbinden oder trennen, weil sie Menschen intensiver kommunizieren lassen. Da Emotionen nicht nur körperliche Reaktionen sind, sondern sie auch strategisch von den Hörern eingesetzt werden können, ordnen sie lose strukturierte soziale Gebilde. Emotionen zeugen einerseits von einem körperlichen Kontrollverlust, andererseits aber auch von willentlich herbeigeführten Re­

12 Vgl. Hans Heinz Stuckenschmidt, Schönberg. Leben, Umwelt, Werk, Zürich 1974, S. 44–56. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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aktionen, die zwischen konkurrierenden Interessen vermitteln.13 Kommunikatives Handeln ist gerade im 20.  Jahrhundert nicht primär verständigungs­ orientiert. Häufig fällt nicht allein die Konkurrenz der Deutungen ins Gewicht, sondern die Tatsache, dass manche Gruppen sich einem Austausch gezielt entziehen. Oft existieren konsensorientierte Kommunikation und Verweigerungsstrategien nebeneinander. Deren Wechselwirkung bildet eine Grundlage für den Zusammenhalt und die Fragmentierung von Gemeinschaften im Musik­ leben. Die Autorin und Autoren dieses Abschnitts zeigen das exemplarisch an der Wirkung der Emotionen und den Disputen über musikalische Interpretationen. Die Wirkungsmacht konkurrierender Emotionen und die sich wandelnde Bewertung dessen, was schön ist und was nicht, verdeutlicht der Beitrag von Sarah Zalfen. Sie macht in ihrem Aufsatz über Musik als emotionale Praxis auf Parteitagen der SPD deutlich, dass das Singen der Genossen sich nicht an ästhetischen Kriterien orientierte, sondern die einschlägig bekannten Lieder die Geltung einer erfolgreichen politischen Gemeinschaft demonstrierten. Obwohl sich Liedrepertoire und Singpraxis im Laufe der Zeit veränderten, eröffneten sich durch emotionale wie rituelle Partizipation Glück verheißende Kommunikationschancen auf den Parteitagen. Indem Emotionen auch strategisch von den Hörern eingesetzt werden, verbinden sie zunächst lose strukturierte soziale Gebilde, wie etwa die Radiohörer oder das Publikum in den Konzertsälen. Gemeinsame Praktiken, Stile und Geschmäcker erzeugen positive Emotionen und bestätigen durch die Akzeptanz anderer die Gültigkeit eigener Überzeugungen.14 Musikalische Deutungen bieten dabei offenbar zu viel, als dass sie emotional eindeutig begriffen werden könnten. Die Showeinlagen des amerikanischen Star-Dirigenten Leonard Bernstein seit den 1950er Jahren und der Streit um den niederländischen Dirigenten Willem Mengelberg in Frankfurt 1912 beispielsweise belegen, dass man verschiedene Kommunikationsformen gleichzeitig beobachten kann: Geltungsbedürfnis und Geschmack, Handlung und Verzicht, Feindschaft und Gemeinschaft. Sven Oliver Müller beschreibt in seinem Beitrag Leonard Bernstein 13 Einen guten Überblick zur Diskussion über das Verhältnis von Musik und Emotion bieten Patrik N. Juslin u. John A. Sloboda (Hg.), Music and Emotion. Theory and Research, New York 2010; Arthur A. Bradley, A Language of Emotion. What Music Does and How It Works, Bloomington, IN 2009; Malcolm Budd, Music and the Emotions: The Philo­ sophical Theories, London 1992. Wichtige Einführungen in die Geschichte der Emotionen sind Jan Plamper, Geschichte der Gefühle. Grundlagen der Emotionsgeschichte, München 2012; Ute Frevert, Emotions in History: Lost and Found, Budapest 2011. 14 In diesem Prozess der »emotion construction« (Tia DeNora) verwendeten soziale Gruppen musikalische Geschmackskategorien dazu, Zugehörigkeit und Fremdheit in einer Gesellschaft zu markieren. Tia DeNora, Aesthetic Agency and Musical Practice: New­ Directions in the Sociology of Music and Emotion, in: Juslin u. Sloboda (Hg.), Music and Emotion, S. 161–180; vgl. auch die Beiträge in Sarah Zalfen und Sven Oliver Müller (Hg.), Besatzungsmacht Musik. Zur Musik- und Emotionsgeschichte im Zeitalter der Weltkriege (1914–1949), Bielefeld 2012. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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als den Idealtypus eines emotionalen Dirigenten. Bernsteins Distanzlosigkeit im emotionalen Umgang mit dem Publikum war gleichzeitig eine Ursache für seinen Erfolg wie ein Grund für die Kritik an der extrovertierten Vermittlung musikalischer Botschaften. Müller lenkt den Blick insbesondere auf das Spannungsfeld zwischen den körperlichen Reizen, die ihn eher unbewusst an­trieben, wie auf seine strategisch eingesetzten Gefühlszeichen zur Belehrung der Zuhörer. Zwar unterstreicht die Forschung inzwischen, dass selten ein kausaler Nexus zwischen einem bestimmten Musikstück und einer spezifischen emotionalen Wirkung besteht. Doch der Skandal um eine Interpretation der Zweiten Sinfonie von Johannes Brahms durch den Dirigenten Willem Mengelberg zeigt, dass es nicht eine neue Komposition, sondern vielmehr der kulturelle Kontext war, der die Gefühle der Musiker, der Journalisten und des Publikums beeinflusste. Hansjakob Ziemer erkennt in der emotionalisierten Sprache aller Beteiligten in Frankfurt 1912 einen Grundsatzstreit über die Geschmäcker und die Verhaltensmuster im Konzertsaal insgesamt. Die Ursache des Konfliktes lag weniger im Disput über Mengelbergs Dirigat, sondern eher in der Orientierungslosigkeit seiner Gegner, die sich vor das Problem gestellt sahen, wie sich der Konzertbetrieb in der Zukunft einvernehmlich gestalten lassen könnte. Emotionale Reaktionen auf Musik sind zeitlich variabel. Bereits die Wirkung von Musik auf den Körper, von der Vielfalt an Deutungen, Hörgewohnheiten und Geschmäckern ganz zu schweigen, unterliegt einer stetigen Veränderung. Gerade die Präferenzen für ästhetische Stile und kulturelle Maßstäbe sind soziale Phänomene, in deren Veränderungen die Zeitgebundenheit der Wahrnehmung von Musik bei Künstlern und Zuhörern zu erkennen ist. Jürgen Osterhammel nimmt in seinem Beitrag daher die Dirigenten des frühen 20. Jahrhunderts, das heißt die Generation der um 1890 geborenen Kapellmeister von Fritz Reiner über Adrian Boult bis zu Charles Munch in den Blick. Deutlich hebt er hervor, dass sich diese Künstler mit den Herausforderungen des 20. Jahrhunderts anders auseinandersetzten, als die Dirigentengeneration nach ihnen. Statt sich auf körperliche Extravaganzen im Konzertsaal oder auf Allüren in den neuen Medien einzulassen, verfolgten sie einen anderen Weg im Musikleben der Moderne: Sie waren vielleicht die letzte Alterskohorte, welche musikalischen Sinn primär in der Analyse der Partitur und der Probenarbeit mit den Musikern im Orchester fand und auf eigene öffentliche Inszenierung meist verzichtete. Das dritte Themenfeld ist musikalischen Grenzüberschreitungen und Aneignungen gewidmet. Bereits eingangs wurde darauf hingewiesen, dass die ZeitRaum-Verdichtung im 20.  Jahrhundert aufgrund der rasanten Entwicklungen im Transport- und Kommunikationswesen ganz wesentlich voranschritt.15 15 Vgl. Jürgen Osterhammel u. Niels P. Petersson, Geschichte der Globalisierung. Dimensionen, Prozesse, Epochen, München 20125 sowie Niels P. Petersson, Globalisierung, in: Jost Dülffer u. Wilfried Loth (Hg.), Dimensionen zur Internationalen Geschichte, München 2012, S. 271–291. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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Für die räumliche Ausbreitung von Musik war einmal mehr die Erfindung der Schallplatte und die daran anschließende Entstehung der Schallplattenindustrie ein ganz wichtiger Faktor. Dementsprechend rasch war dieser neue Industriezweig global ausgerichtet: Schon um 1910 hatte etwa der britisch-amerikanische Konzern Victor-Gramophone ein Netzwerk aus Presswerken, Tochterfirmen und Agenturen gebildet, das sich über alle fünf Kontinente erstreckte, und bereits um 1900 konkurrierten Schallplattenunternehmen unterschiedlicher westlicher Länder fernab ihres Firmenhauptsitzes um die Gunst neuer Konsumenten, wie zum Beispiel in Indien.16 Neben materiellen musikalischen Gütern wie Noten oder Instrumenten und medialen Tonträgern waren es insbesondere reisende Musikerinnen und Musiker, die – entweder freiwillig tourend oder aber zwangsweise migrierend – zur zunehmenden Zirkulation musikalischer Traditionen und deren Vermischung wesentlich beitrugen.17 Allerdings halten diese generellen Beobachtungen über uneingeschränkte beziehungsweise linear zunehmende Mobilität medialer wie humaner Tonträger der Empirie nicht durchweg Stand. Was passierte, wenn Musik Ent­ fernungen größerer Reichweite auf sich nahm und von einer Gesellschaft in eine andere wanderte; welche Rolle gegenseitige Beobachtungsdynamiken in unterschiedlichen, von politischen oder geographischen Grenzen getrennten musikalischen Welten spielten; welche sozialen Auswirkungen solche Transfers und Dynamiken vor Ort hatten: All diese Fragen lassen sich nur im Einzelfall untersuchen.18 Die fünf Beiträge zu klassischer Musik in Japan, zu protestantischer Kirchenmusik in Afrika, zum Musikleben in den Kongo-Kolonien, zum Wandel der Popmusik in Westdeutschland und schließlich zu Musikfestivals in Europa nähern sich diesen Fragen nicht nur auf der Grundlage verschiedener Kommunikationsverständnisse, sondern gewichten sie auch unterschiedlich. Nichtsdestoweniger wird in der Zusammenschau deutlich, dass Musikgeschichten im 20. Jahrhundert – welche Musikrichtung auch immer im Fokus stehen mag – nicht umhin kommen, die Wirkungen sozialer, ökono­mischer und musikalischer Transfers zu berücksichtigen. 16 Vgl. Pekka Gronow, The Record Industry. The Growth of a Mass Medium, in: Popular Music 3. 1983, S. 53–75, v. a. das Schaubild S. 57; allgemein Pekka Gronow u. Ilpo ­Saunio, An International History of the Recording Industry, London 1998; zu Indien grundlegend Gerry Farrell, Indian Music and the West, Oxford 1997. 17 Vgl. zum Bereich der klassischen Musik Jürgen Osterhammel, Globale Horizonte europäischer Kunstmusik, 1860–1930, in: GG 38. 2012, S. 86–132, bes. S. 116–123; ferner programmatisch Jason Toynbee u. Byron Dueck, Migrating Music, in: dies. (Hg.), Migrating Music, London 2011, S. 1–17. 18 Vgl. dazu Martin Rempe, Jenseits der Globalisierung: Musikermobilität und Musikaustausch im 20. Jahrhundert, in: Boris Barth u. a. (Hg.), Globalgeschichten. Bestandsaufnahme und Perspektiven, Frankfurt 2014, S.  207–231; konzeptionell dazu Helmuth Berking, Raumtheoretische Paradoxien im Globalisierungsdiskurs, in: ders. (Hg.), Die Macht des Lokalen in einer Welt ohne Grenzen, Frankfurt 2006, S. 7–22. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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In den Wanderbewegungen klassischer Musik nach Japan und protestantischer Kirchenmusik ins subsaharische Afrika spiegelt sich die ganze Bandbreite grenzüberschreitender musikalischer Kommunikationsprozesse: Toru Takenaka zeigt, dass die japanische Elitengesellschaft sich in ihrem Streben nach Modernisierung und Verwestlichung, unterstützt von europäischen Musikpionieren, die klassische Tradition ohne ästhetische Anpassungen aneignete, der japanischen Gesellschaft aufzwang und damit auch einen Großteil des ideologischen Ballastes importierte, der mit dieser Musikrichtung verbunden war. Claudius Torp betont dagegen in seinem Beitrag, dass die aktiv betriebene musikalische Missionierung im kolonialen Afrika prompt eine Dynamik innerhalb der indigenen Bevölkerungen auslöste, die von Aneignung und (mode­rater) musikalischer Weiterentwicklung geprägt war. Beide Phänomene, unveränderte Übernahme und kreative Anverwandlung, lassen sich auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nachweisen: Klaus Nathaus zeigt, dass die frühe Rockmusikszene in Deutschland durchweg von englischen Bands dominiert war, während Martin Rempe verschiedene musikalische Traditio­ nen hervorhebt, die die Entwicklung der kongolesischen Rumba maßgeblich prägten. Wechselseitige Beobachtungsdynamiken zwischen vermeintlich getrennten musikalischen Welten spielten vor allem in sozialer und ökonomischer Hinsicht eine Rolle und konnten zu Nachahmungseffekten ebenso wie zu bewussten Abgrenzungsmanövern führen. In Detlef Siegfrieds Beitrag zu den Musikfestivals auf der Burg Waldeck und in Roskilde scheinen gleich mehrere solcher Dynamiken auf: Insgesamt galten die amerikanischen Festivals von Newport, später von Woodstock und Altamont als wichtige, in erster Linie medial vermittelte Vorbilder, an denen sich deutsche und dänische Festivalinitiativen mit mehr oder weniger Erfolg orientierten. Zugleich konturiert Siegfried das RoskildeFestival in seiner Gemeinnützigkeit als bewusste Reaktion auf und dezidierten Gegenentwurf zu betriebswirtschaftlich organisierten Festivals. Ganz ähnlich erklärt Nathaus die langanhaltende Dominanz von Schlager und Tanzmusik in Westdeutschland unter anderem mit der geschärften Aufmerksamkeit einflussreicher deutscher Musikverleger für die Machtverlagerungen innerhalb der amerikanischen Musikwirtschaft weg von den Verlagen hin zu den Schallplattenfirmen und Rundfunkkonzernen: Die deutschen Musikverleger stiegen rasch selbst ins Produzentengeschäft ein und vernetzten sich mit den Rundfunkanstalten, weshalb sie ihre Position bis weit in die 1970er Jahre halten konnten. Die hier porträtierten Beispiele grenzüberschreitender musikalischer Kommunikationsprozesse hatten hinsichtlich Substanz, Reichweite und Dauer unterschiedliche Auswirkungen auf die je in Frage stehende soziale Ordnung: Torp betont ungeachtet aller musikästhetischen Hybridisierungsmomente kolonialgesellschaftliche Frontstellungen, die durch (bestimmte)  Musik als Abgrenzungsinstrument stabilisiert werden konnten. Langfristig begünstigten De© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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batten um die Missionsmusik auch die Gründung unabhängiger Kirchen; nicht zuletzt bildete sie einen Faktor für die Herausbildung populärer Musikkulturen, wie dies auch am Kongo-Fluss zu beobachten war. Rempe und Takenaka sind sich weitgehend einig, dass sich Aspekte der Vergemeinschaftung jenseits des eigentlichen musikalischen Ereignisses nur schwer feststellen lassen. Allerdings, und auch das hatten kongolesische Rumba und klassische Musik in Japan gemein, waren diese neuen Musikrichtungen für ganz unterschiedliche soziale Gruppen gleichermaßen attraktiv: Vertreter kosmopolitischer Strömungen begeisterten sich dank ihrer hybriden Entstehungskontexte genauso für kongo­ lesische Rumba, wie diese von glühenden Nationalisten als Gründungsmythos verklärt werden konnte,19 während in Japan auch Gegner der durch das MeijiRegime staatlich verordneten musikalischen Verwestlichung vor allem Kirchenmusik aus dem Bereich der Klassik und Wagner für sich zu instrumenta­ lisieren wussten. Solch eine enge Rückbindung an das musikalische Ereignis gilt von vorn­ herein für Festivals, die als Orte der Außeralltäglichkeit Menschen für nur kurze Zeit zusammenführen. Umso bemerkenswerter scheint es, dass Siegfried in seiner Analyse der Festivals dem eigentlichen Musikkonsum nur eine Rolle unter anderen zuweist. Auch tritt er der Annahme entgegen, dass die Gegen­ kultur, die auf solchen Festivals zelebriert wurde, der internationalen Verständigung zuträglich gewesen sei. Stattdessen offenbart seine Analyse der deutschen Roskilde-Rezeption erstaunliche Kontinuitäten nationalen Schubladendenkens. Nathaus argumentiert schließlich auf der Grundlage seines produzentenorientierten Kommunikationsansatzes, dass die Dominanz der »Schlagermacher« in der westdeutschen Musikwirtschaft die Entwicklung genuin deutscher Rockmusik wie insbesondere jene des »Krautrock« massiv hemmte und sie damit zugleich sozial vorprägte als kritische, subkulturelle, vorwiegend auf Englisch gesungene Musik, dem der vermeintlich harmlose, seichte, deutschsprachige Schlager der Mehrheitsgesellschaft gegenüberstand. Die Ausdifferenzierung populärmusikalischer Genres um 1980, die Nathaus erneut auf transnational vermittelte Veränderungen im westdeutschen Produktionsprozess zurückführt, ließ demgegenüber vormals klare Zusammenhänge zwischen sozialer Gruppenzugehörigkeit und Musikpräferenz immer vager werden und begünstigte so den Individualisierungstrend der anbrechenden Postmoderne. Aus der Zusammenschau der versammelten Beiträge folgt zum einen, dass es keine Meistererzählung musikalischer Kommunikationsprozesse im 20.  Jahrhundert geben kann.20 Das hängt nicht nur mit den oben beschriebenen un19 So Bob White, Congolese Rumba and Other Cosmopolitans, in: Cahiers d’études afri­ caines 2002, S. 663–686. 20 Dies ist bereits der Tenor der entsprechenden Cambridge History zu diesem Jahrhundert, vgl. Nicholas Cook u. Anthony Pople, Introduction. Trajectories of Twentieth-Century Music, in: dies. (Hg.), The Cambridge History of Twentieth-Century Music, Cambridge 2004, S. 1–17. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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terschiedlichen Ebenen zusammen, auf denen Kommunikation im Musik­leben stattfindet, sondern ebenso sehr mit einer unausweichlichen Tendenz zur sozialen wie musikästhetischen Ausdifferenzierung, Fragmentierung und Pluralisierung, die sich über die Zeitachse genauso beobachten lässt wie beim Vermessen des Raumes. Die dadurch bedingte Vielschichtigkeit dieses Bandes ist den einzelnen Autorinnen und Autoren zu verdanken, die unterschiedliche Disziplinen der Geisteswissenschaften – vor allem der Geschichts- und Musik­ wissenschaft – durch ein gemeinsames Erkenntnisinteresse zusammenführen, zugleich aber ihre je eigenen Kommunikationsansätze einbringen. Zum anderen lässt sich insbesondere aus historischer Perspektive festhalten, dass das 20.  Jahrhundert zwar unzählige ästhetische Musikgeschichten hervorgebracht hat, diese in ihren sozial- und kulturgeschichtlichen Dimensionen jedoch mannigfach überlappten. Eben deshalb ist es ein zentrales Anliegen dieses Sammelbandes, unterschiedliche Musikrichtungen von der klassischen Musik bis zum Krautrock und verschiedene musikalische Settings von der Militärparade bis zum Parteitagssingen zu thematisieren und durch die Perspektive der Kommunikation miteinander in Bezug zu setzen. Gerade die Trennung zwischen der sogenannten ernsten und der Unterhaltungsmusik ist selbst ein historisch gewachsenes Ergebnis gesellschaftlicher Auseinandersetzungen um kulturelle Deutungsmacht und Herrschaftsansprüche.21 Wie eng diese Sphären beieinanderlagen und ineinandergriffen, lässt sich unter anderem in den Beiträgen von Applegate und Weber sehr gut nachvollziehen. Dass die Dichotomie zwischen E- und U-Musik in jüngster Zeit wieder an Bedeutung verliert,22 sollte dazu ermuntern, sozial- und kulturgeschichtliche Themen aufzugreifen, die quer zu solch ästhetischen Grenzziehungen stehen.23 Gerade die Geschichtswissenschaft könnte sich auf diesem Feld weiter profilieren. Doch auch die Musikwissenschaft hat, wie Hans-Joachim Hinrichsen in seinem Schlusswort betont, in jüngerer Zeit damit begonnen, die so genannte Kunstmusik in neue ästhetische wie sozial- und kulturgeschichtliche Kontexte einzubetten. Insbesondere mit Blick auf das Musikleben des 20. Jahrhunderts ist diese methodische Erweiterung, das machen viele der vorliegenden Beiträge 21 Vgl. etwa Lawrence E. Levine, Highbrow/Lowbrow: The Emergence of Cultural ­Hierarchy in America, Cambridge, MA 1988. 22 Vgl. die im deutschen Musikleben einflussreichen programmatischen Überlegungen des Kulturwissenschaftlers Martin Tröndle zum Konzert: Martin Tröndle, Worum es gehen soll, in: ders. (Hg.), Das Konzert. Neue Aufführungskonzepte für eine klassische Form, Bielefeld 20112, S. 9–20; zur Pluralisierung von Hörgewohnheiten vgl. Richard A. Peterson u. Roger M. Kern, Changing Highbrow Taste. From Snob to Omnivore, in: American Sociological Review 61. 1996, S. 900–907 und den Beitrag von Klaus Nathaus in diesem Band. 23 Inspirierend dazu Trevor Herbert, Social History and Music History, in: Martin ­Clayton u. a. (Hg.), The Cultural Study of Music. A Critical Introduction, New York 20122, S. 49–58. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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deutlich, geradezu unumgänglich.24 Beispielhaft für diese neuere Entwicklung innerhalb des Faches steht etwa die Rezeptionsästhetik, der eine größere Rolle zukommt. Die Trennung zwischen Komposition, Aufführung und Rezeption verliert immer weiter an Bedeutung. Damit ist die Unterscheidung zwischen Komponisten und Rezipienten im Begriff, ihre Substanz zu verlieren. Mit guten Gründen diskutieren Musikwissenschaftlerinnen und Musikwissenschaftler die Frage, ob die Untersuchung der Rezeption der traditionellen und oft philologisch untermauerten Vorstellung eines vermeintlich nicht veränderbaren Werkes vorzuziehen ist, weil sie die Wirkung der Musik durch eine neu umrissene Ästhetik erklärt.25 Mit anderen Worten: Die geschichts- und die musikwissenschaftliche Forschung trennten lange Zeit die Institutionen, die Orte, die Akteure und die Genres streng voneinander. Der Blick auf Kommunikationsprozesse im Musikleben aber legt eine andere Perspektive nahe – die soziale und kulturelle Interaktion, aus der Harmonien und Dissonanzen, Vergemeinschaftung und Abgrenzung, Pluralisierung und Fragmentierung hervorgingen. Produzenten, Vermittler und Rezipienten unterschiedlicher Musikrichtungen und in verschiedenen musikalischen Settings sind in diesem Band gleichermaßen von Interesse, weil manche sich hinsichtlich der kulturellen Deutungen, der politischen Verhaltensregeln und der sozialen Praxis nur graduell voneinander unterschieden. Die bewusste Thematisierung ganz verschiedener, aber durch die öffentliche Rezeption wichtiger musikalischer Genres führt zu überraschenden Erkenntnissen und ermöglicht deren Vergleichbarkeit, auch zwischen den Disziplinen. Dabei bleibt noch viel zu tun. Die Kraft musikalischer Kommunikation ist, so ließe sich in einem Zwischenfazit resümieren, zwar am Ende nicht so groß, dass sie die Gesellschaft macht – aber sie formt sie mit.

24 So auch der Musikwissenschaftler Frank Hentschel, Unfeine Unterschiede: Musikkulturen und Musikwissenschaft, in: Michael Calella u. Nikolaus Urbanek (Hg.), Historische Musikwissenschaft: Grundlagen und Perspektiven, Stuttgart 2013, S. 255–266, hier S. 260f; vgl. dazu auch die Beiträge in Friedrich Geiger u. Frank Hentschel (Hg.), Zwischen »U« und »E«. Grenzüberschreitungen in der Musik nach 1950, Frankfurt 2011. 25 Vgl. dazu etwa Hans-Joachim Hinrichsen, Musikwissenschaft und musikalisches Kunstwerk. Zum schwierigen Gegenstand der Musikgeschichtsschreibung, in: Laurenz Lütteken (Hg.), Musikwissenschaft. Eine Positionsbestimmung, Kassel 2007, S. 67–87; vgl. auch die rundum interdisziplinär konzipierte Studie der Direktorin des Max-PlanckInstituts für empirische Ästhetik, Melanie Wald-Fuhrmann, »Ein Mittel wider sich selbst.« Melancholie in der Instrumentalmusik um 1800, Kassel 2011. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

Traditionslinien und Aufbrüche

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Celia Applegate

»Eine große Nachtmusik« Musik und Militär im Deutschland des 19. Jahrhunderts

In einem deutschen Internierungslager für feindlich gesinnte Ausländer schrieb P. G. Wodehouse 1941 eine satirische Kurzgeschichte über deutsche Pläne zur Eroberung Englands mit Hilfe fallschirmspringender Blaskapellen: »It’s the one thing England dreads,« so Wodehouses Hitler, »one hundred thousand parachutes, each dropping a man with a trombone.«1 Diese leichtfertige Hommage an deutsche Militärmusiker setzt eine disharmonische Gemeinschaft von Krieg und Musik voraus: Auf der einen Seite der Krieg als Verursacher und auf der anderen Seite die Musik als beruhigender und ermutigender Partner. Beide sind trotz ihrer Gegensätzlichkeit tief miteinander verstrickt. Die wesentliche Gemeinsamkeit von Krieg und Musik ist Ordnung und Kontrolle: Musik ist organisierter Klang, und selbst wenn sie widerspenstige Leidenschaften und Emotionen erweckt, so diszipliniert sie diese doch gleichermaßen. Musik ist auch sozial wirksam: Sie hilft bei der Organisation und Re-Organisation der Gesellschaft, indem sie einerseits ihre Teilstücke zusammenführt und die Solidarität sozialer Gruppen zum Ausdruck bringt und andererseits Konflikte in anderen Domänen austrägt, sie so erhält und manchmal sogar verschärft. Wenn wir dennoch versuchen, die dynamische Rolle der Musik in der Gesellschaft zu verstehen, müssen wir sie als Teil eines Kontinuums zwischen Unordnung und Ordnung, zwischen Krieg und Frieden betrachten. Ihre emotionale Kraft ist nicht zu leugnen, aber ihre Bedeutung ist unbestimmt, ihre Auswirkungen sind unklar. In der modernen Welt verkörpern Militärmusik und die mit ihr verbundenen Rituale im öffentlichen Leben gerade diese Ambiguitäten sehr anschaulich. Dieser Aufsatz betrachtet Aspekte der Wirkung der von Militärkapellen gespielten Musik auf und zwischen Gesellschaften, wobei besonders die Zusammenhänge zwischen eigenen und kollektiven Identitäten beleuchtet werden sollen. Militärkapellen scheinen auf den ersten Blick ein ungewöhnlicher Ort für solch grundlegende Arten sozialer Handlung und Kommunikation zu sein.2 Doch 1 Times Literary Supplement, Nr. 5607, 17.9.2010. 2 Eine ausführliche Historiographie zur Rolle des Militärs in der Gesellschaft existiert bereits. Für Deutschland vgl. Ute Frevert, Die kasernierte Nation. Militärdienst und Zivilgesellschaft in Deutschland, München 2001; Eckhard Trox, Militärischer Konservatismus. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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auf Grund ihrer wachsenden Popularität seit Mitte des 19. Jahrhunderts bieten sie ein unerwartet abwechslungsreiches Spektrum von Praktiken und Kontroversen, die es noch zu erkunden gilt. Zuallererst hatte die Verbreitung von Militärkapellen Konsequenzen für die sozialen und kulturellen Beziehungen in der Gesellschaft: Ihre allgegenwärtigen Auftritte einer leicht zu rezipierenden musikalischen Unterhaltung in Parks, Straßen und anderen öffentlichen Orten wirkten als eine gemeinsame musikalische Sprache über Klassen- und Status­ grenzen hinweg. Noch offensichtlicher ist die Art und Weise eines landestypischen Nationalismus. Christopher Bayly betont mit Recht, dass »nation-states and contending territorial empires took on sharper lineaments and became more antagonistic to each other at the very same time as the similarities, connections, and linkages between them proliferated.«3 Die Kapellen spielten oft nach historischen Schlachten und nach Generälen benannte Militärmärsche und kommunizierten so eine spezifische Version der nationalen Geschichte. Sie waren Teil eines europäischen Kulturtransfers, da ihr Repertoire, ihre Instrumentation und ihre organisatorischen Praktiken weit über nationale Grenzen hinweg reichten. Auftritte von Blechblaskapellen fanden oft in einem explizit internationalen Kontext statt  – gleiches gilt für den Besuch ausländischer Würdenträger oder für Wettbewerbe bei einer Weltausstellung. In solchen Zusammenhängen demonstrierten die Militärkapellen eine harmonische Koexistenz der Nationen. Gleichzeitig förderten die Regierungen die Gründung neuer Militärmusikkapellen, um engere Bindungen zwischen Soldaten und Zivilisten zu schaffen. Doch unter der Oberfläche all dieser Behauptungen verbreiteter Harmonie wurden Militärkapellen auch zur Ursache für Konflikte. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts wurde um den Stellenwert der Militärkapellen allerorten gestritten. Die Konflikte reichten vom Widerstand ziviler Musiker über die Aneignung dieser Musikformation durch Fabrikarbeiter bis hin zur Kritik an Blaskapellen, die Frauen in Uniform auftreten lassen wollten.4 Am Beginn des 20. Jahrhunderts spielten mindestens zwanzig Militärkapellen regelmäßig in Berlin, ähnliches galt für die anderen europäischen Haupt-

Kriegervereine und »Militärpartei« in Preußen zwischen 1815 und 1848/49, Stuttgart 1990; Thomas Rohkrämer, Der Militarismus der »kleinen Leute«. Die Kriegervereine im Deutschen Kaiserreich, 1871–1914, München 1990; Ralf Pröve, Militär, Staat und Gesellschaft im 19. Jahrhundert, München 2006. Für Europa siehe: Christian Jansen (Hg.), Der Bürger als Soldat. Die Militarisierung europäischer Gesellschaften im langen 19. Jahrhundert. Ein internationaler Vergleich, Essen 2004. 3 Christopher A. Bayly, The Birth of the Modern World, 1780–1914. Global Connections and Comparisons, Oxford 2004, S. 2. 4 Für einen beliebten, aber suggestiven Blick auf kommerzielle, exklusiv weibliche Blechblaskapellen vgl. http://temposenzatempo.blogspot.com/2011/10/postcards-of-germanladies-orchestras.html. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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städte.5 Im Laufe des Jahrhunderts wuchs die Zahl der militärischen Musiker und die Militärkapellen verbesserten ihre künstlerische Qualität, indem sie die Palette ihres Repertoires um viele neue Werke und um Transkriptionen von bekannten Kompositionen erweiterten. Die Konzerte der Kapellen faszinierten gerade das Publikum in kleineren Städten, die nicht über eigene Sinfonieorchester und Opernensembles verfügten. In der Kunstmusik des Westens waren Militärmärsche und Trompetensignale in der Instrumental- und Opernmusik allgegenwärtig. Der Musikwissenschaftler Frank Heidlberger betrachtet die Vorstellung einer klaren Unterscheidung zwischen Militärmusik und Kunstmusik als »phänomenologisch und historisch falsch«.6 Doch die Rolle, die der Militärmusik im kollektiven Leben des 19.  Jahrhunderts zufiel, repräsentierte etwas grundsätzlich Neues, nicht zuletzt auf Grund der Expansion der Armeen und des Eindringens militärischer Zeremonien und Rituale in die deutsche Gesellschaft. Die Militärmusiker selbst arbeiteten weiterhin genauso, wie sie es seit Jahrhunderten getan hatten. Kapellen begleiteten militärische Rituale, aber nun auch Beerdigungen, Feier- und Gedenkzeremonien.7 An keiner anderen Person werden diese Veränderungen deutlicher, als beim preußischen Kapellmeister Wilhelm Wieprecht, den Hans von Bülow titulierte als »das ›l’état c’est moi‹ der preußischen Militärmusik«.8 Wieprecht war – sowohl instinktiv als auch aus Überzeugung – ein rastlos ambitionierter Modernisierer. Er war fest dazu entschlossen, sich mehr als nur einen dauerhaften Platz in den bestehenden musikalischen Arrangements der Zeit zu suchen.9 Er wurde 1802 in Aschersleben, einer preußischen Garnisonsstadt, geboren. Sein Vater war in jungen Jahren Trompeter beim Militär und später Musikdirektor der Stadt. Er entwickelte große Ambitionen für die musikalische Karriere seines Sohnes. Im Jahr 1819 konnte der junge Wieprecht bereits viele Musikinstru5 Ludwig Degele, Die Militärmusik. Ihr Werden und Wesen, ihre kulturelle und nationale Bedeutung, Wolfenbüttel 1937, S. 158; Bernhard Höfele, Die Deutsche Militärmusik. Ein Beitrag zu ihrer Geschichte, Köln 1999, S. 89–105; David Whitwell, The Nineteenth Century Wind Band and Wind Ensemble in Western Europe, Northridge, CA 1984. 6 Frank Heidlberger, Betrachtungen zur Rolle der Militärmusik in der abendländischen Kunstmusik, in: Armin Griebel u. Horst Steinmetz (Hg.), Militärmusik und »zivile« Musik. Beziehungen und Einflüsse, Uffenheim 1993, S. 9. Siehe auch: Raymond Monelle, The Musical Topic. Hunt, Military and Pastoral, Bloomington, IN 2006; und Anselm Gerhard, Der Krieg als Vater musikalischer Dinge. Fragen zur Militarisierung der Kunstmusik in den Jahrzehnten um 1800, in: Matthias Rogg u. Jutta Nowosadtko (Hg.), »Mars und die Musen«. Das Wechselspiel von Militär, Krieg und Kunst in der Frühen Neuzeit, Berlin 2008, S. 291–301. 7 Michael Schramm, Funktionsbestimmte Elemente der Militärmusik von der Frühen Neuzeit bis zum 19. Jahrhundert, in: Rogg u. Nowosadtko (Hg.), »Mars und die Musen«, S. 247–60. 8 Hans von Bülow, Zur preußischen Militärmusik, in: Neue Zeitschrift für Musik, 49. 1858, S. 5. 9 Zum Wandel des städtischen Musiklebens vgl. Martin Wolschke, Von der Stadtpfeiferei zu Lehrlingskapelle und Sinfonieorchester, Regensburg 1981. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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mente spielen. Er arbeitete zuerst in Dresden, dann in Leipzig, um sich schließlich in Berlin niederzulassen, wo er mit Unternehmungsgeist, Energie und den neuen, mit Ventilen ausgestatteten Blechblasinstrumenten die Gunst König Friedrich Wilhelms III. gewann. 1838 wurde er Direktor des Musikkorps des Garde-Corps, dem angesehensten Militärmusikensemble Preußens.10 ­Wieprecht nutzte diese Position, um die gesamte preußische und letztlich die gesamte deutsche Militärmusik neu zu organisieren. Seine Organisationsstruktur für Kapellen – vom kleinen Signalkorps bis hin zur vollen Infanterie-Regimentskapelle – feierte man bald als das Wieprecht-System. Wieprechts Reformen repräsentieren einen wichtigen Aspekt all dieser Prozesse: Sie verbesserten die Militärmusik, indem sie politische, soziale und industrielle Kräfte zur Umgestaltung des Musiklebens nutzten. Sie entsprangen keiner militärischen Notwendigkeit und als die Größe und die Allgegenwart der Militärkapellen im späten 19.  Jahrhundert zu einem Problem wurden, rühmten auch ihre Verteidiger nicht mehr ihre Bedeutung auf dem Schlachtfeld. Wieprechts Reformen relativierten die strikte Trennung von Militärmusik und gesellschaftlicher Unterhaltungsmusik. Das von ihm erweiterte Repertoire stellte ein Gegenmittel gegen die immer bedrohlicher werdende Langeweile der Marschmusik dar und ermöglichte anspruchsvollere und abwechslungsreichere öffentliche Aufführungen. Er nahm die Musik des Opern- und Konzertpublikums und machte sie einem breiteren Spektrum von Ensembles zugänglich. Wieprecht nutzte die Grundlagen musikalischen Handwerks, die in Musikschulen und Konservatorien unterrichtet wurden, und bildete Militärmusiker darin aus. Er nahm die Musik, die als am profundesten, am wichtigsten und am deutschesten gefeiert wurde, und machte sie auch für die Menschen in ländlichen Gebieten zugänglich. Ein Zeitgenosse behauptete: »[S]eine Konzerte haben den Charakter eines Volksfestes […] Wieprecht versöhnt alle Parteien; ihm klatschen Reaktionäre und Demokraten gleichmäßig kräftig ihren Beifall zu.«11 Schließlich hatten seine Reformen auch Auswirkungen auf das zivile Musizieren, so dass es ab einem gewissen Punkt unmöglich wird, zu sagen, ob Militärmusik domestiziert und zivilisiert, oder ob Zivilmusik militarisiert wurde. Wieprecht ließ seine Kapellen als essentiell für das Musikleben erscheinen, auch wenn sie es nicht waren. Auch Zivilmusiker übernahmen diese Ansicht und profitierten sogar von den Militärmusikern. So beruhten Richard Wagners Erwartungen hinsichtlich der Aufführung seiner Werke auf der »Kennt10 Die umfangreichste Darstellung seines Lebens findet sich bei August Kalkbrenner, Wilhelm Wieprecht. Director der sämmtlichen Musikchöre des Garde-Corps; Sein Leben und Wirken, nebst einem Auszug seiner Schriften, Berlin 1882, die zum Teil aus Wieprechts Autobiographie besteht, welche nur noch in Form von längeren Zitaten in Kalkbrenner erhalten ist. 11 Zit. n. Georg Kandler, Deutsche Armeemärsche. Ein Beitrag zur Geschichte des Instrumentariums, des Repertoires, der Funktion, des Personals und des Widerhalls der deutschen Militärmusik, Bad Godesberg 1962, S. 35 f. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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nis des Umstandes, daß in allen bedeutenden Städten Deutschlands stark und gut besetzte Musikkorps, namentlich dem Militär angehörig, vorhanden sind, aus denen recht wohl das zum Tannhäuser nötige Theatermusikkorps kombiniert werden kann«.12 Zur gleichen Zeit war jedes Provinzorchester und jede tourende Opernproduktion zweiter Klasse nun in der Lage aufzutreten, weil sie in der Regel jederzeit von ausgebildeten Militärmusikern verstärkt werden konnten. Wieprechts Reformen erleichterten auch Neugründungen von Amateur-Blaskapellen, deren Anzahl nach 1870 enorm gestiegen war, zuerst unter den Feuerwehrleuten, dann auch unter Bergleuten und Fabrikarbeitern. Arbeiter gründeten die meisten Fabrikkapellen selbst. Der Kapellmeister einer Bergmannskapelle war typischerweise ein ehemaliger Militärkapellmusiker, gleiches galt für viele ihrer Mitglieder. Sie übernahmen Wieprechts Blaskapellen-Modell und auch sie trugen alle Uniformen.13 Wieprecht veränderte damit den gesamten Status quo von Militärkapellen im öffentlichen Musikbetrieb.14 Diese Kapellen mit ihrer ursprünglich künstlerisch anspruchslosen preußischen Militärmusik eröffneten zivilen Musikern überraschende neue Karrieremöglichkeiten. Im Jahre 1829 hatte ein englischer Reisender das pathetische Repertoire der europäischen Militärkapellen beklagt, die nur »harmonies of the poorest common-place description«, »arrangements from Opera Airs by Rossini and his imitators« und verschiedene­ Stücke des »usual trashy waltz kind« spielten.15 Dank Wieprecht hatte sich diese Situation geändert. Er komponierte mindestens fünfzig neue Märsche und ­Ouvertüren und transkribierte unzählige Ouvertüren und Sinfonien aus dem zivilen R ­ epertoire für Blaskapellen. All diese beharrlichen Bemühungen führten dazu, dass die Kunstmusik (er wurde vor allem für seine Transkriptionen der Beethoven-Sinfonien bewundert) eine zunehmend prominente Stellung im Militärkapellenrepertoire einnahm.16 Die Ensembles des WieprechtSystems wurden größer, lauter und ähnelten in ihren Ausdrucksmöglichkeiten immer mehr Symphonieorchestern. Die Musiker ermahnte Wieprecht, viel mehr zu üben. Zudem warb er für einen professionellen Unterricht an Kon12 Richard Wagner, Über die Aufführung des ›Tannhäuser‹, in: ders., Gesammelte Schriften und Dichtungen, Bd. 5, Leipzig 1872, S. 186. 13 Vgl. vor allem die Beiträge von Monica Steegmann, Christoph-Hellmuth Mahling und Wolfgang Korb in: Monica Steegmann (Hg.), Musik und Industrie. Beiträge zur Entwicklung der Werkschöre und Werksorchester, Regensburg 1978. 14 Wilhelm Wieprecht, Die Militair-Musik und die militair-musikalische Organisation eines Kriegsheeres. Hinterlassene Denkschrift von Wilhelm Wieprecht, Berlin 1885, S. 5. 15 Rosemary Hughes u. Nerina Medici di Marignano (Hg.), A Mozart Pilgrimage. Being the Travel Diaries of Vincent & Mary Novello in the Year 1829, London 1955, S. 274 f. 16 Er erhielt auch eine Uniform (angeblich vom König selbst entworfen), dann ein dafür erfundenes Amt und schließlich die eher konventionelle Befehlsposition, nämlich Soldat/ Musiker, vgl. dazu Höfele, Militärmusik, S. 129–135; für eine Beschreibung der Uniform, siehe Kalkbrenner, Wieprecht, S. 28. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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servatorien.17 Er verbesserte ihren Lohn, aber zur gleichen Zeit betrieb er auch Lobbyarbeit für das Recht der Kapellenmitglieder, auch außerhalb des Dienstes auf Hochzeiten und Stadtfesten, bei lokalen Gesangsvereinen und für Theaterproduktionen spielen zu dürfen. In den 1840er Jahren bereiste Wieprecht ausgiebig die deutschen Staaten und ganz Kontinentaleuropa, um andere Formen der Militärmusik kennen zu lernen. Während der folgenden Jahrzehnte wurde er um seinen Rat bei der Reform der Militärkapellen im Osmanischen Reich und in Guatemala gebeten.18 Bis zum Ende des Jahrhunderts führten Wieprechts Reformen zur Entstehung von rund 560 Militärkapellen im Deutschen Reich, die gemeinsam etwa 17.000 Musiker beschäftigten und in allen Provinzen und Städten des Landes auftraten.19 Neue Chancen und neue Konflikte kennzeichneten das Musikleben dieser Zeit. Nach 1862 wuchs die preußische Armee deutlich und mit ihr wuchs die Zahl der Musiker im Militärdienst. Diese waren zumeist schlecht ausgerüstet und wurden schlechter bezahlt als reguläre Soldaten. Viele Unteroffiziere fungierten als inoffizielle Agenten und organisierten für ihre Musiker Auftritte bei Hochzeiten oder in Restaurants, wobei sie einen Teil  des Erlöses für sich behielten.20 In Bayern führte die Einrichtung der Landwehr 1807 zur Verbreitung militärischer Blech- und Holzblaskapellen im gesamten Staat. König Maximilian I. hielt die Kapellen für ein wichtiges Mittel, um die Bevölkerung in den neu hinzugewonnenen Kronländern (wie Franken) bei Laune zu halten.21 Immer öfter wurden Militärkapellen in den Musikbetrieb integriert und befriedigten so die wachsende Nachfrage nach Unterhaltungsmusik in Bädern, Restaurants und in Parks. Wieprecht nutzte seine Begabung in einer Zeit, in der die modernen Staaten neue Formen politischer Repräsentation dringend benötigten. Bereits in den 1840er Jahren waren Militärkapellen in Preußen immer häufiger zu beobachten: Hector Berlioz etwa meinte, man müsste »sich schon absichtlich taub stellen, um nicht wenigstens ein paar von ihnen zu hören, denn gleichgültig ob 17 Eine Abteilung für Militärmusik wurde 1874 an der Berliner Hochschule für Musik gegründet, vgl. Johannes Reschke, Studien zur Geschichte der brandenburgisch-preußischen Heeresmusik, Berlin 1936, S. 55. Schließlich schuf Wieprecht auch ganze Militärsinfonieorchester mit Streicherapparat, wodurch er die gelegentliche Ausrichtung von Militärkapellkonzerten für Adel und Offiziere im 17. und 18. Jahrhundert modernisierte und stark erweiterte. 18 Vgl. Peter Panoff, Militärmusik in Geschichte und Gegenwart, Berlin 1938, S. 155; Kalkbrenner, Wieprecht, S. 49–53. 19 Vgl. Josef Eckhardt, Zivil- und Militärmusiker im Wilhelminischen Reich, Regensburg 1978, S.  11–42; Andreas Masel, Wechselwirkungen zwischen Militärmusik und »ziviler Musik«. Ein Überblick am Beispiel Bayerns im 18. und 19. Jahrhundert, in: Griebel u. Steinmetz (Hg.), Militärmusik, S. 23–39, hier S. 23–25. 20 Vgl. Eckert, Zivil- und Militärmusiker, S. 58–60 und S. 75–85. 21 Vgl. Erich Tremmel, Die Bedeutung der Bürgermilitärmusik für die Entwicklung der Blaskapellen in Bayern, in: Griebel u. Steinmetz (Hg.), Militärmusik, S. 55–60. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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zu Pferd oder zu Fuss, ziehen sie ja zu jeder Tageszeit durch die Strassen von Berlin.«22 Was Berlioz besonders am Kapellmeister Wieprecht gefiel, war jedoch nicht dessen außergewöhnliches Organisationstalent, sondern die dramatischen öffentlichen Spektakel, die er erzeugte. Im Jahre 1843 erlebte Berlioz selbst den Auftritt einer Blaskapelle von 320 Musikern, die hinter einem Vorhang verborgen waren und erst hörbar wurden, als sie seine eigene Ouvertüre zu »Les Francs-Juges« anstimmten. Das war ein beeindruckendes Erlebnis für den Komponisten, der das Stück für Sinfonieorchester geschrieben hatte und dessen leisen Beginn nun ausschließlich mit Streichern hörte, die mit einer »wundervollen Präzision« spielten, bevor dann das Blech allein »rasenden Schwung« entzündete, wie Berlioz schrieb.23 Was Berlioz erlebte, verblasste jedoch im Vergleich zu Wieprechts erster Demonstration seiner Kapellen als Teil  einer großen Schlachtordnung  – hierbei handelte es sich um eine Aufführung zu Ehren des Staatsbesuchs des Zaren Nikolaus I. im Jahr 1838, für welche Wieprecht 1200 Holzbläser und 200 Trommler versammelte. Neben preußischen Märschen spielte dieses gigantische Ensemble zuerst die russische Nationalhymne, gefolgt vom russischen »Zapfenstreich«, dem die Hymne »Ich bete an die Macht der Liebe« folgte, ein Gedicht aus dem 18. Jahrhundert von dem Pietisten Gerhard Tersteegen, welches 1822 vom russisch-orthodoxen Komponisten Dmitri Bortniansky vertont worden war.24 Diese gewaltige Aufführung fand mitten am Tag im Hof des Berliner Stadtschlosses vor einer großen Anzahl erlesener Bürger statt. Zeitgenössischen Zeitungsberichten zufolge waren sie »zur lauten Bewunderung hingerissen«.25 Im Jahr 1843 reiste Wieprecht nach Lüneburg, um ein Konzert für das Deutsche Bundes-Armee-Korps zu organisieren und zu dirigieren. Die Ver­ anstaltung fand bei Nacht statt und umfasste rund 1.300 Musiker. Mit dabei waren Fackelträger deren Lichter den Nachthimmel erhellten. Er wiederholte einen Großteil dieser »großen Nachtmusik« beim Besuch der britischen Königin Victoria in Koblenz 1845. Im Jahre 1856 brachte er dann in seinem später titulierten preußischen »Großen Zapfenstreich« alles zusammen: Fackeln, Märsche, Fanfaren, eine Serenade (gewöhnlich eine eigene Transkription ernster Kunstmusik für Holzbläser), Waffenvorführungen, Truppenbesuche, Gebete und Hymnen.26 Dieses Spektakel wurde im Laufe der Zeit zu einem Ritual. Und

22 Hector Berlioz, Memoiren, übers. v. Dagmar Kreher u. hg. v. Frank Heidlberger, Kassel 2007, S. 398. 23 Ebd. 24 Vgl. Kalkbrenner, Wieprecht, S. 26 f.; siehe auch Bernhard Höfele, Großer Zapfenstreich der Bundeswehr von Wilhelm Wieprecht. Particell und Geschichte, Norderstedt 2012, S. 48. 25 Allgemeine Zeitung Augsburg Nr. 24, 2.9.1838, S. 2010. 26 Vgl. Kalkbrenner, Wieprecht, S. 42–48; Höfele, Großer Zapfenstreich, S. 47–52. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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so existiert es, trotz der Kontroversen, die es oft verursachte, immer noch in der politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland.27 Doch Wieprecht sah sich nicht als Erzeuger von Traditionen, sondern als modernen Impresario imposanter Inszenierungen. Seine Schriften kehren immer wieder zu der Frage zurück, wie am besten eine starke Wirkung auf das Publikum auszuüben sei.28 So hielt er beispielsweise fest: »Als ich hier in Berlin zum ersten Male eine vollständig besetzte Infanteriemusik hörte, wurde ich von einem Gefühl ergriffen, von dem ich mir nie habe Rechenschaft geben können. War es die Rythmik [sic], die Melodie, die Harmonie, oder die Verschmelzung dieser verschiedenen Elemente, die mich so gewaltsam erschütterte?«29 In seinen späteren Werken versuchte Wieprecht eben diese Wirkungen zu erzielen. Der »Große Zapfenstreich« war seine wichtigste Schöpfung. Doch diese ästhetischen Formen von Wieprechts »großer Nachtmusik« kamen weniger vom preußischen Militär oder dessen musikalischer Vergangen­ heit, als vielmehr aus Frankreich und der Zeit nach dem politischen Umsturz von 1789.30 Denn auch auf Feiern zu Ehren der Revolution erklangen viele Blech-und Holzblasinstrumente.31 Diese Militärkapellen spielten nicht für den Hof, sondern für ein breites Publikum. Genauso wichtig ist die Tatsache, dass das Wieprechtsche Spektakel die französische Grand opéra im Freien aufführte und so die Zeremonien Ludwigs XIV. und seines Kapellmeisters Jean-Baptiste Lully imitierte. Lully war sowohl für das Militär als auch für die Hofmusik zuständig gewesen und hatte die stilistischen Merkmale des Militärmarschs entwickelt.32 Darüber hinaus waren seine Opern Ausdruck einer politischen Kunst: Sie kontrollierten »the mind, the eye, and the ear equally«, denn Autorität sei »what French music was all about«, so Richard Taruskin.33 150 Jahre später kam Gaspare Spontini als General-Musik-Direktor der preußisch-königlichen Oper nach Berlin. Er komponierte eine Übergangsform der Oper, mit Anklängen an Lully und Gluck und lieferte so einen Vorgeschmack auf die Grand opéra von Meyerbeer und Auber. Schon mit »La Vestale« (1807) 27 Siehe die offizielle Beschreibung der Bundeswehr unter dem entsprechenden Eintrag in der Rubrik »Bundeswehr von A bis Z« auf www.bundeswehr.de. Vgl. auch Hans ­Ehlert (Hg.), Militärisches Zeremoniell in Deutschland, Potsdam 2008; für die Politik solcher Traditionen seit den 1950ern siehe Donald Abenheim, Reforging the Iron Cross. The­ Search for Tradition in the West German Armed Forces, Princeton 1988, bes. S. 11–46. 28 Für Beispiele siehe Wieprecht, Militair-Musik, S.8, S. 23 und S. 31. 29 Zit. n. Kalkbrenner, Wieprecht, S. 18. 30 Zu anti-französischen Stimmungen siehe Ute Schneider, Die Erfindung des Bösen. Der Welsche, in: Gerd Krumeich u. Hartmut Lehmann (Hg.), »Gott mit uns«. Nation, Religion und Gewalt im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Göttingen 2000, S. 35–52. 31 Zu Musik bei französischen Revolutions-Feierlichkeiten vgl. Jann Pasler, Composing the Citizen. Music as Public Utility in Third Republic France, Berkeley 2009, S. 107–34. 32 Vgl. Achim Hofer, Studien zur Geschichte des Militärmarsches, Bd.  1, Tutzing 1988, S. 113. Siehe auch Heidlberger, Betrachtungen, S. 9–22. 33 Richard Taruskin, The Oxford History of Western Music, Bd. 3, New York 2005, S. 86 f. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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landete er einen Erfolg in Europa und arbeitete hier mit Massenaufzügen von Soldaten und Bürgern, begleitet von militärisch anmutender Musik. Diesem folgte die Oper »Fernand Cortez, oder die Eroberung von Mexico«. Schließlich konnte Spontini in Berlin (mit der Hilfe von E. T. A. Hoffmann) eine neue Version des 1819 zur Aufführung gebrachten Pariser Flops »Olimpie« auf die Ber­ liner Bühne bringen. Im Jahr 1824 saß der junge Wieprecht als zweiter Violinist aufmerksam lauschend in Spontinis Orchestergraben. Wieprecht war nicht allein in seiner Liebe zum musikalischen Spektakel. Einmal etabliert, fanden viele solcher Großveranstaltungen in Europa und in Amerika statt. Wieprecht hatte die bald so benannten »Konzertmonster« allerdings nicht erfunden, obwohl er einer der prominentesten Vertreter dieser militärmusikalischen Praxis war. Solche Ereignisse sprengten die Grenzen von Konzertsälen und Opernhäusern. Dies war Musik für moderne Bürger, nicht weil sie volkstümlich, sondern weil sie groß und ehrgeizig zu sein versprach. Vor allem wurde dies die Musik der Nationen, denn man hörte allerorts Militärkapellen in den Straßen, Theatern oder Parks. Die Aufgabe der Militärkapellen war es, die Loyalität zur Nation zu stärken. Der Musikkritiker Hans Heinz Stuckenschmidt, vor allem bekannt für sein Eintreten für Avantgarde-Musik in der Zwischen- und Nachkriegszeit in Deutschland, fragte einmal: »Hand aufs Herz, wer von uns hat nicht als Junge mit Begeisterung die Militärmusik vorbeiziehen sehen, welcher Musikliebende könnte sich der Wirkung dieser elementaren Rhythmen und klaren Melodien verschließen?«34 Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde sie zu einem wichtigen Erfahrungsraum, an den sich die Bürger des Nationalstaates gewöhnten. Im preußischen Fall spiegelte das Wieprecht-System mit seinem Einfluss der Militärkapellen auf das Musizieren das wider, was die militärischen Reformer um Scharnhorst mit ihrer Bindung von Armee und Gesellschaft angestrebt hatten. Wenn die Armee die Ausbildungsstätte der Nation war, so war die Militärkapelle diejenige der Musik. Wahrscheinlich taten die Militärkapellen mehr für die Etablierung einer dauerhaften und gemeinsamen nationalen Erfahrung als der eigentliche Militärdienst. Nach Benedict Anderson ist die Bereitschaft zur Partizipation die Ursache nationaler Solidarität, und das vermittelten die regelmäßigen Auf­ führungen der Kapellen.35 Im Jahre 1817 verfügte König Friedrich Wilhelm III. in einer Geste, die charakteristisch für das post-Napoleonische Europa in dessen Drang nach Historisierung war, die Veröffentlichung einer Sammlung »guter Armeemärsche« zur Nutzung durch Regimentskapellen. Dieses Edikt war der Startschuss zur Gründung der »Königlich Preußischen Armeemarschsammlung« und Kapellmeister sowie Komponisten begannen sofort – mit Wieprecht

34 Hans Heinz Stuckenschmidt, Militärmusik, in: Querschnitt, 13. 1933, S. 243. 35 Benedict Anderson, Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, New York 2006, S. 9 f. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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an ihrer Spitze –, ihre Werke beizusteuern.36 Die aufwendig gestaltete Ausgabe von 1839 enthielt Märsche verschiedenster regionaler und nationaler Herkunft und stand auch Zivilisten zum Kauf zur Verfügung.37 Genau wie die Armee trugen die Spielleute charakteristische Uniformen und Fahnen und spielten besondere Märsche. Ihre Melodien, Rhythmen und Instrumentationen bedienten ein Repertoire, das zunehmend von allen Deutschen akzeptiert wurde. Viele Regierungen hofften, mit Hilfe der Musik die Spannungen zwischen Soldaten und Zivilisten abzubauen, die gerade im Deutschen Reich die politische Kultur belasteten. Befürworter und Produzenten der Militärmusik begannen, Artikel darüber zu schreiben, die in Zeitschriften wie der Gartenlaube erschienen. Und dies wiederum erhöhte insgesamt die Attraktivität von Militärmusikinstrumenten und Uniformen bei Weltmusikausstellungen.38 Diese Entwicklungen blieben nicht auf das Deutsche Reich begrenzt: So brachte Jacob Adam Kappey (1826–1908), ein preußischer Rheinländer, der während der Wieprecht-Reformära das Spielen in Kapellen gelernt hatte, wie viele andere Deutsche seine Fertigkeiten mit nach England, wo er zum Leiter einer der renommiertesten Marinekapellen ernannt wurde. Im Jahr 1894 veröffentlichte er die vielleicht erste Geschichte der Militärkapellen, in der er den Standpunkt vertrat, dass diese Musik eigentlich eine »Musik des Volkes« sei. Leider, so klagte Kappey, laufe manches schief. Und doch, so fuhr er fort, »most of our orchestral music of the highest class originated in that class of music which struck its roots into the hearts of the uncultured people.«39 Kappeys Darstellung von Militärmusik stellte diese ins Zentrum allen menschlichen Musizierens und domestizierte sie somit. Andere Autoren plädierten noch stärker für ihre Bedeutung im zivilen Leben einer Nation. »Die Regimentsmusiken«, schrieb der französische Journalist Oscar Comettant anlässlich des Internationalen Militärkapellenwettbewerbs bei der Pariser Weltausstellung 1867, »sind zu einem Bestandtheile unseres bürgerlichen Lebens, 36 Die musikwissenschaftliche Aufstellung des Militärmarsch-Repertoires findet sich bei Hofer, Studien. 37 Vgl. Die Königlich Preußische Armeemarschsammlung, 1817–1839, 5 Bde, hg. v. Achim Hofer, Wien 2007. 38 Musikzeitschriften hatten seit 1807 gelegentlich Militärmusikstücke publiziert. Periodika, die sich gänzlich der Militärmusik verschrieben hatten, waren selten. Unter den ersten deutschen Veröffentlichungen waren Lyra. Blätter für Militär- und Civil Musiker, gegründet 1869 in Relitz, und der Militär-Musiker-Almanach für das Deutsche Reich. Letzterer war ein inoffizielles Register aller Militärkapellen, dessen Ziel es war »neue Gönner und Freunde« für die Militärmusik zu gewinnen. Er wurde zwischen 1879 und 1914 in unregelmäßigen Abständen publiziert. Zudem gab es die Deutsche Militär-Musiker-Zeitung [DMMZ], gegründet 1879 in Berlin. Vgl. auch die Publikation Die Deutsche Militair-Musik auf der internationalen Ausstellung für Musik und Theaterwesen Wien 1892, in Bildern, Berlin o. D. 39 Jacob A. Kappey, Military Music. A History of Wind Instrumental Bands, London 1894, S. 1. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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einer Nothwendigkeit für Jedermann geworden.« Das Wesen der Argumentation solcher Schriftsteller war emotional: »Schon die Begeisterung, welche man den Kapellen entgegenbrachte, spricht für ihre Nützlichkeit«, so Comettant.40 Diese Art von Musik hatte die Macht, Menschen zu verbinden. Sie konnte für Zivilisten wie für Soldaten gleichermaßen »die Gemüther für einen Zweck vereinigen, die Mühseligkeit und Strapazen erleichtern, den Gedanken an Tod und Grab […] verscheuchen, dem Körper gleichsam neue Kraft geben, mit einem Wort Heldenmuth erregen, erhalten, und unterhalten.«41 Die Form des Militärmarsch selbst war geprägt vom Wechsel zwischen zwei Tempi – einem eindringlichen und flotten (dem Militärmarsch im eigentlichen Sinn) und einem eher lyrischen und ruhigen (dem Trio). Die Disziplin der Musiker war die Disziplin der Kaserne und des Drills.42 Es ist schwer, die Militärmärsche angemessen zu beurteilen. Die Bände der »Preussischen Armeemarschsammlung« liefern wichtige Hinweise. Gleiches gilt für die Langlebigkeit vieler dieser Märsche wie der »Badenweiler«, der »Fehrbelliner«, der »Hohenfriedberger« und der »Königgrätzer«. Die Rezeptions­ geschichte ist durchzogen von autoritären Kontinuitäten und bourgeoiser Passivität, von zynischen Ablenkungstaktiken der Regierung, von den Klängen des Beethovenschen »Yorkschen Marsches« und den Transkriptionen der Fünften Sinfonie.43 In der Geschichte der Militärkapellen scheint sich eine Geschichte der Militarisierung der Gesellschaft zu spiegeln.44 Aber um die wachsende Präsenz von Militärkapellen in Deutschland und in allen anderen westlichen und westlich orientierten Gesellschaften im Laufe des 19. und 20. Jahrhundert zu verstehen, müssen wir uns ihrer Geschichte anders nähern. Die Entwicklung der Militärkapellen spiegelt gleichermaßen eine Geschichte von Imperien und Nationalstaaten, von Internationalem und Nationalem. Diese Geschichte macht deutlich, dass die Militärmusik ein Teil des Staatsapparates im 19. Jahrhundert war. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, 40 Zit. n. Herman Ludwig, Johann Georg Kastner. Ein elsässischer Tondichter, Theoretiker und Musikforscher, sein Leben und Wirken, Leipzig 1886, Bd. 2, S. 249 f. Ludwig fand dabei nur Zustimmung für Comettants Beobachtungen. 41 Wieprecht, Militair-Musik, S.  5; Friedrich Guthmann, Forderung an die militärische Musik, in: Allgemeine Musikalische Zeitung 9. 1807, S. 391. 42 Wieprechts Abhandlung betonte auch die Bedeutung eines »milden« Militärmusik­ leiters: »Die ausübende Tonkunst kann nur unter mildem Regimente gedeihen; nicht militairische Gewalt, sondern gründliche Belehrung vermag diejenige Liebe und Begeisterung für Ensemble-Musik zu erwecken, ohne welche die ausübenden Musiker immer nur den Stempel musikalischer Dressur tragen würden.« Wieprecht, Militair-Musik, S. 23. 43 Matthew Jefferies, Contesting the German Empire 1871–1918, London 2008, S. 27. Eine neuere Beurteilung des deutschen Sonderwegs findet man in Sven Oliver Müller u. Cornelius Torp (Hg.), Das deutsche Kaiserreich in der Kontroverse, Göttingen 2009. 44 Für eine kritische Würdigung der Rolle von Musik in Kriegspropaganda siehe ­Susan WittStahl, »…But His Soul Goes Marching On«. Musik zur Ästhetisierung und ­Inszenierung des Krieges, Karben 1999. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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dass sie gleichfalls eine bedeutende Rolle bei der Erhaltung von Loyalität und Zusammengehörigkeit in Russland, Österreich-Ungarn und im Osmanischen Reich spielte und auch die imperiale Macht in den britischen, französischen und deutschen Kolonien verstärkte.45 In entlegenen Orten waren Militär- und Missionsblaskapellen die vorherrschende Form der Verbreitung westlicher Musik und die musikalischen Unterschiede zwischen ihnen waren so unbedeutend, dass sie in den Worten des Musikethnologen Rob Boonzajer Flaes scheinbar einer »virtually identical musical formula« folgten, denn: »The idiom of the Western brass band is one of the first forms of worldwide standard music.«46 Die erste westliche Musik im Japan der Meiji-Dynastie war 1853 die der Militärkapellen von Commodore Perry, ihm zufolge »die besten Kapellen der Marine«. Innerhalb eines Jahrzehnts hatte jeder westliche Staat seine Militärkapellen nach Japan importiert: eine britische Militärkapelle kam im Jahr 1864 nach Yokohama, eine preußische Kapelle begleitete den preußischen Gesandten Graf Eulenburg im selben Jahr zu dessen Wohnsitz, französische Instrumentalisten halfen beim Bau von Blechblasinstrumentenfabriken, und der in Deutschland ausgebildete englische Kapellmeister John William Fenton kam zur Gründung von Militärkapellen nach Japan.47 Wenn Militärkapellen der Antike, des Mittelalters und der Frühen Neuzeit aristokratische Weltoffenheit ausdrückten, so sind ihre Nachkommen der Neuzeit – und das gilt bis zum heutigen Tag – Exemplare des globalen Transfers kultureller und militärischer Praktiken. Europäische Militärmusik knüpfte an die Mehtarân-Tradition der Osmanen an und übernahm nach den osmanischen Einfällen ins habsburgische Österreich und Ungarn im späten 17. Jahrhundert deren Instrumente und Rhythmen. Nach 1828 kehrte sich die Situation jedoch um: Mit der Vernichtung der Janitscharen-Korps unter Sultan Mahmud II. fiel auch die traditionelle osmanische Militärmusik in Ungnade, und der Sultan holte mit Guiseppe Donizetti einen italienischen Komponisten ins Land, um ein an westlichen Maßstäben orientiertes Musikleben zu organisieren. Obwohl jede der nationalen Traditionen eigene Märsche hatte, überwanden musikalische Innovationen eines Landes schnell die nationalstaatlichen Grenzen. Das System Wieprecht war das flexibelste und somit das mobilste. In England war es nach 45 Vgl. Jeffrey Richards, Imperialism and Music. Britain 1876–1953, Vancouver 2001; John M. McKenzie, Imperialism and Popular Culture, Manchester 1986; Martin Clayton u. Bennett Zon (Hg.), Music and Orientalism in the British Empire, 1780s–1940s. Portrayal of the East, Aldershot 2007. 46 Rob Boonzajer Flaes, Brass Unbound. Secret Children of the Colonial Brass Band, Amsterdam 2000, S. 10. 47 David G. Herbert, Wind Bands and Cultural Identity in Japanese Schools, Dordrecht 2011, S. 20–26. Siehe auch Wolfgang Suppan, Deutsche Militärmusiker in Japan in der frühen Meiji-Ära (seit 1868), in: Axel Beer u. a. (Hg.), Festschrift für Christoph-Hellmut Mahling zum 65. Geburtstag, Tutzing 1997, S.  1379–1401, sowie den Beitrag von Toru­ Takenaka in diesem Band. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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Mitte des Jahrhunderts üblich geworden, deutsche Kapellmeister anzuwerben, so dass zu einem gewissen Zeitpunkt in den 1880er Jahren drei der vier Kapellmeister bei den Bands der Royal Marines Deutsche waren. Transkriptionen von Opern- und symphonischer Musik fanden weite Verbreitung. Sie wurde zu einer internationalen Ware, bei welcher auch deren nationale Färbung Teil der Anziehungskraft war. Militärkapellen selbst sind zweideutige Phänomene, weil sie einerseits die Grenzen des kulturellen Lebens erweiterten und andererseits die Grenzen der Staaten festigten. Diese Ambivalenz fiel bei den internationalen Ausstellungen ins Auge. In seinen und in den Augen seiner Bewunderer schlug Wieprechts größte Stunde, als er die preußische Militärkapelle 1867 beim allerersten Internationalen Militärmusikwettbewerb auf der Pariser Exposition universelle d’art et d’industrie zum Sieg führte. Die Veranstaltung selbst galt – genauso wie die Weltausstellung überhaupt – als ein Schauplatz nationaler Rivalität. Kaiser Napoleon III. bereitete Wieprecht und seinen siegreichen Musikern einen herzlichen Empfang.48 Die riesigen Konzerte hätten ohne Blechblasinstrumente und Blechblaskapellen gar nicht stattfinden können. In der Nachfolge des Show-­ Dirigenten Louis Jullien in London wetteiferten viele musikalische Unternehmer von Glasgow bis Buenos Aires und von Moskau bis Philadelphia miteinander. Wahrscheinlich fällt es uns heute schwer, die Freude der Zeitgenossen ganz zu begreifen. Die überdimensionalen Konzerte waren keine größeren Versionen konventioneller Konzerte – sie waren etwas Neues: Sie waren ein musikalisches Gegenstück zu den Fabriken, den größten Bauwerken des industriellen Zeitalters, und dementsprechend brachten sie in ihren Spektakeln ein hohes Maß technischer Raffinesse, zeitlicher Koordination und menschlichen Geschicks zusammen, das Zuhörer und Beobachter »alternately dazed and enraptured«, wie George P. Upton festhielt.49 Diese Konzerte des industriellen Zeitalters versprachen den Hörern eine Kultur der Reizüberflutung.50 Militärkapellen bieten Historikern die Möglichkeit, einen genaueren Blick auf die veränderte Rolle des Militärs im bürgerlichen Leben in Deutschland zu werfen; hierbei können nicht nur die integrativen Aspekte, sondern auch Bruchstellen beleuchtet werden. Wie Christian Jansen argumentiert, war die 48 Wieprecht spielte ein Opernmedley aus »Le Prophète« von Giacomo Meyerbeer, einem Mann, der den vermeintlich wurzellosen, jüdischen Kosmopolitismus verkörperte, wie ihn Antisemiten und Wagnerianer so sehr verachteten, vgl. Wieprecht, Militair-Musik, S. 28–37 und Ludwig, Kastner, Bd. 2, S. 247–251. 49 George P. Upton, Musical Memories. My Recollections of Celebrities of the Half Century 1850–1900, Chicago 1908, S. 198. 50 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts existierte bereits eine lange Tradition westlicher Musik, die sich von Monteverdis »Combattimento di Tancredi  e Clorinda« von 1638 über Beethovens »Wellingtons Sieg oder die Schlacht bei Vittoria« aus dem Jahr 1813 bis zu Carl Maria von Webers Kantate »Kampf und Sieg« aus dem Jahr 1815 hinzog  – eine Tradition des Versuchs der musikalischen Reproduktion der Klänge des Schlachtfeldes. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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Milita­risierung im 19. Jahrhundert ein breit angelegter, sozialer und kultureller Prozess, in den sich die Mittelschicht und Teile der Arbeiterklasse einpassten.51 Militäreinrichtungen veränderten sich grundlegend im Laufe des 19.  Jahrhunderts. Nach 1870 etablierte sich das Militär auf allen Ebenen der Zivilgesellschaft. Aber diese Entwicklung hatte einen hohen Preis, den in diesem Falle die professionellen zivilen Musiker zu zahlen hatten, denn ihnen wurde somit oftmals die Lebensgrundlage entzogen. Die wachsende Bedeutung des Militärs in Deutschland nach 1870 führte allerdings auch dazu, dass es als Institution zunehmend in Frage gestellt wurde.52 Das Leben eines Berufsmusikers war und blieb schwierig. Gleich ob in zugigen, undichten Musikpavillons oder heißen, verrauchten Kneipen und Tanzlokalen, auf Paraden oder im Kurpark, in Uniform oder Zivil  – alle Musiker waren unterbezahlt, überarbeitet, spielten bis spät und standen früh auf, um zu üben oder zu reisen.53 Wenngleich das Prestige führender Orchester und Opernsänger in der europäischen Gesellschaft immer mehr wuchs, so verschlechterte sich gleichzeitig die soziale Stellung ziviler Musiker deutlich. Und während sich die Militärmusiker begeisterter Menschenmassen und des Lobes in der Presse erfreuten, hielten die Ausgaben für den Unterhalt der Musiker kaum Schritt mit ihrer wachsenden Anzahl.54 Solche Konflikte beschäftigten schließlich auch den Reichstag: Die Interessenverbände ziviler Musiker forderten die staatliche Subventionierung aller Musiker und somit eine Beschränkung des unlauteren Wettbewerbs.55 Der Reichstag beschloss daraufhin moderate Maßnahmen, die aber alle Parteien noch mehr verärgerten.56 Im Jahr 1909 veröffentlichte der bekannte Musiker Hermann Ludwig Eichborn eine Polemik mit dem Titel »Militarismus und Musik«, in welcher er darlegte, dass die Verbreitung von Militärkapellen das deutsche Musikleben entstellt habe. Er schilderte die Geschichte der Militärmusik in wenig schmeichelhaften Tönen, bezeichnete die Militärkapellen als Parasiten, die von den kreativen Genies der Vergangenheit lebten und die Entwicklung von Kreativität in der Zukunft verhinderten. Sie hätten, so klagte er, einen »verderblichen Einfluss« auf das kulturelle Leben.57 Verteidiger der Militärmusik kämpften meist 51 Christian Jansen, Einleitung. Die Militarisierung der bürgerlichen Gesellschaft im 19. Jahrhundert, in: ders. (Hg.), Der Bürger als Soldat, S. 10–13. 52 Vgl. Ute Frevert, A Nation in Barracks. Modern Germany, Military Conscription and­ Civil Society, Oxford 2004, S. 150. 53 Vgl. Eckhardt, Zivil- und Militärmusiker, S. 14 f. und S. 28–38; Wolschke, Stadtpfeiferei, S. 55–67. 54 Vgl. Eckhardt, Zivil- und Militärmusiker, S. 71–100; Militär-Musiker-Almanach, Berlin 1879, S. 436 f. 55 Diese waren der Allgemeine Deutsche Musiker-Verband, gegründet 1872, und der Zentralverband der Zivilmusiker Deutschlands, gegründet 1902. 56 Vgl. Eckhardt, Zivil- und Militärmusiker, S. 100. 57 Hermann Eichborn, Militarismus und Musik, Berlin 1909, S. 9. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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auf dem von Eichborn markierten Terrain. Anstatt deren militärische Notwendigkeit zu verteidigen, argumentierten sie, dass Kapellen Arbeitsplätze und musikalische Ausbildung für musikliebende Deutsche böten, die andernfalls ganz ohne Einkommen und Ausbildung dastünden. Militärkapellen, schrieb Alexander Pfannenstiel, offerierten Menschen in der Provinz die gesamte Literatur der vorklassischen, der klassischen, der romantischen und der modernen Zeit, vor allem die unvergänglichen Meisterwerke der Sinfonien eines Haydn, Mozart, Beethoven, Schubert, Mendelssohn, Schumann, Brahms bis zu den neuzeitlichen Werken eines Bruckner und Mahler. […] Die Popularisierung der Meisterwerke eines Richard Wagner ist zum großen Teile der Konzerttätigkeit der Militärkapellen zu danken.58

Militärmusiker befriedigten so »das Musikbedürfnis des deutschen Volkes«.59 Man könnte diesen langwierigen Streit um die Rolle der Militärkapellen in der Gesellschaft als einen Kampf um die Ideale Deutschlands betrachten. Aber die Realität war, dass alle im Grunde für die gleiche Sache kämpften: für die Musik der Konzertsäle und Opernhäuser und für die Medleys, Potpourris, Popularisierungen und Nachahmungen, die aus ihnen gezaubert wurden, wobei jeder Ton auszudrücken schien, was es bedeutete, deutsch zu sein. Wie Pfannenstiel räsonierte, war dies eine »Kulturfrage«, eine Frage, wie man am besten etwas bewahren und fördern sollte, dessen Wert für alle außer Frage stehe.60 Es liegt auf der Hand, die nationalistische Rezeption der Musik in den einzelnen Staaten als einen Krieg der Kulturen zu deuten. Der Erste Weltkrieg brach nur wenige Monate nach dem Erscheinen von Pfannenstiels Pamphlet aus. Die Deutschen erlebten nun, dass die Militärkapellen die Soldaten zu den Bahn­ höfen begleiteten. Wäre der Krieg nicht im Jahre 1914 ausgebrochen, würden wir heute die Ursprünge dieser komplexen Geschichte der deutschen Militärmusik wohl anders betrachten.61 So wie es aber geschah, hatte Wilhelm Wieprechts Entscheidung, sich von der Oper ab- und dem Paradeplatz zuzuwenden, weitreichende Folgen.

58 Alexander Pfannenstiel, Die Erhaltung der Militärkapellen  – eine Kulturfrage, Berlin 1914, S. 4–14. 59 Ebd. 60 Ebd., S. 13. 61 Vgl. dazu Christopher Clark, The Sleepwalkers. How Europe Went to War in 1914, New York 2013. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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Der Sturz ins Jetzt des Augenblicks Macht und Ohnmacht »ästhetischer Polizei« im Konzert nach 1900

Der Beitrag streift zunächst das Bemühen um die Normierung unwägbaren Publikumsverhaltens im 19. Jahrhundert, um vor diesem Hintergrund die entfesselten Proteststürme im Konzert der Avantgarde, deren Ursachen und Folgen zu diskutieren.1 Neben der ästhetischen Erfahrung (dem Sturz ins Jetzt des Augenblicks) und dem Wandel von Konzertinstitutionen (der Konstitution von Sezessionen hin zur Neue-Musik-Szene)  interessiert die Frage nach Kommunikationschancen, die avancierter Musik mit Rücksicht auf die ästhetische Erfahrung belassen sein könnten.

I. Uniformität des bürgerlichen Konzerts unter dem Druck kultureller Autorität2 Hinsichtlich der Zweckbestimmung des exklusiven bürgerlichen Konzerts, des Publikumsverhaltens und der Programmwahl ist von einer das 19. Jahrhundert durchquerenden zeitlich schwer zu fixierenden, weil zeitversetzt auftretenden Bruchlinie auszugehen, die die vormals bewährte Trias von ›Vergnügen/Unterhaltung – mäßiger Ruhe (im Konzertlokal) – Programmvielfalt‹ preisgab, um einer neuen Dreiheit zu weichen, und zwar bestimmt von ›Bildung/Kultur  – kontemplativer Wahrnehmung/andächtiger Stille (im Konzertsaal)  – Kanon/ Repertoire (ideell orientiert an Symphonien)‹. Im Zuge solcher und weiterer 1 In Anlehnung an Eduard Hanslick wird unter »ästhetischer Polizei« die Gesamtheit aller Ansprüche und Maßregelungen verstanden, die das Konzert- oder Theaterpublikum – um der angeblichen »Reinheit des Kunstgenusses« willen  – zur Raison rufen sollten: Aesthe­tische Polizei (1854), in: ders., Aus dem Concertsaal. Kritiken und Schilderungen aus den letzten 20 Jahren des Wiener Musiklebens, Wien 1870, S. 73–76. 2 Mit den Termini Konzert und Konzertwesen oder der Redeweise vom Konzert der feinen Leute ist stets – wenn nicht anders angegeben – das stehende (regelmäßige oder ordentliche), anfangs auf Pränumeration oder Subskription, später vor allem auf Abonnement beruhende bürgerliche Winter-, Liebhaber-, Symphonie- oder Kammerkonzert gemeint. Auf Einzel- oder Virtuosenkonzerte usw., die zusammen mit populären Garten- und Saalkonzerten einen übermächtigen Sektor des Musiklebens ausmachten, wird nicht weiter Bezug genommen. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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Neuorientierungen,3 die mit der Idee absoluter Musik und der ihr zufließenden quasireligiösen Emphase einhergingen, bot sich der »ästhetischen Polizei« ein reiches Betätigungsfeld, in deren Interesse es unter anderem lag, dem Auditorium ein verbindliches Verhaltensbrevier zukommen zu lassen. Dies betraf sowohl die Erwartung ungeteilter Aufmerksamkeit (Stille)4 als auch Publikumsreaktionen wie Lob und Tadel respektive Beifall und Missfallensäußerungen bis hin zur mehr als lächerlichen Unterdrückung von Konzerthusten.5 Inwieweit sich das Publikum den Anforderungen fügte, steht auf einem anderen Blatt geschrieben. Zwar zählen die seit dem 18. Jahrhundert in stattlicher Anzahl überlieferten Statuten, Gesetze oder Regeln von Konzertgesellschaften zu den erstrangigen Quellen, die über die ökonomische und künstlerische Einrichtung bürgerlicher Konzertunternehmen genauso Auskunft geben wie über deren gesellschaftliche Aufmachung oder Teilnehmer, jedoch bleibt ungewiss, ob sich das Auditorium dem anvisierten Verhaltenskodex tatsächlich vollumfänglich beugte. Vielerorts gingen ›Sollen‹ und ›Sein‹ getrennte Wege,6 wie zudem hinlänglich bekannt ist, dass die subtile Nachregulierung des Publikumsverhaltens ein permanentes Geschäft des langen 19. Jahrhunderts blieb,7 das noch in den Jahren des Ersten Weltkrieges fortwährte,8 ja selbst noch in Zeiten der jun3 Weitere Faktoren wie der Bau und die Architektur von Konzertsälen, die Frontalität der Sitzordnung, die neugeschaffene Position des Dirigenten usw. müssen hier aus Raumgründen übergangen werden. 4 Sven Oliver Müller, Die Politik des Schweigens. Veränderungen im Publikumsverhalten in der Mitte des 19. Jahrhunderts, in: Geschichte und Gesellschaft 38. 2012, S. 48–85. 5 Für Schlagzeilen sorgt von Zeit zu Zeit die Überempfindlichkeit mancher Musiker, die das Gebot der Stille auf das Alleräußerste treiben. In Bezug auf Leopold Stokowski wurde beispielsweise der Vorfall bekannt: »Weil an einem Abend das Räuspern und Husten überhandnimmt, stoppt er das Orchester und lässt die Musiker in Richtung Publikum husten«: Herbert Haffner, Genie oder Scharlatan? Das aufregende Leben des Leopold­ Stokowski, Berlin 2009, S. 118. 6 Aus Unzufriedenheit mit dem Publikumsverhalten ließ die 1808 gegründete Frankfurter Museumsgesellschaft 1817 in ihrer Versammlungsstätte den Aushang anbringen: »Museum-Gesetze § 30. Während der Vorträge oder musicalischen Darstellungen ist die größeste Stille zu beobachten!« zit. nach: Iwan Knorr, Festschrift zur Feier des hundert­ jährigen Bestehens der Frankfurter Museumsgesellschaft 1808 bis 1908, Frankfurt 1908, S. 14. 7 Vgl. u. a. Hansjakob Ziemer, Die Moderne hören. Das Konzert als urbanes Forum 1890– 1940, Frankfurt 2008, S. 97–100. 8 Max Chop, Mehr Aesthetik in Kunst, Konzertsaal und Theater!, in: Signale für die musikalische Welt 76. 1918, S. 439–442, hier S. 440: »Während der Vorträge sind Störungen durch rücksichtsloses Sprechen, Knittern mit den Zetteln oder mit Stullenpapier, Klappern mit einem viertel Dutzend Armbändern oder dem Behang eines halben Juwelenladens übliche Beigaben. Das höfliche Verweisen zur Ruhe bringt höchstens eine spöttische Antwort ein. Denn man hat seine Karte auf den Platz in der Hand und glaubt damit auch das Recht zu besitzen, sich rücksichts- und taktlos zu verhalten. Eine der pöbelhaftesten Angewohnheiten, die innerhalb der Kriegszeit sich zu ›herrlicher‹ Blüte entfalteten, sind die ›Futter-Orgien‹ im Konzertsaal und Theater.« © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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gen Weimarer Republik9. Zur undankbaren Erbschaft des 19. Jahrhunderts gehörten nicht zuletzt Missfallenskundgebungen, die sich im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts unter den ersten Aufklängen Neuer Musik zum Radau von Tumulten oder Skandalen steigerten. Die eingangs bezeichnete Bruchlinie, die den Wandel des Selbstverständnisses von Konzertgesellschafen charakterisiert, lässt sich anhand der Musiklexiko­ graphie mühelos nachvollziehen. In der Tradition höfisch-aristokra­ tischer Auffassungen erklärte Heinrich Christoph Koch 1802, man verstehe unter Akademie oder Konzert »eine vollstimmige Musik, die entweder ein Regent zu seiner oder seines Hofes Unterhaltung von seiner Kapelle aufführen läßt, oder die man für das Publikum veranstaltet«.10 Ähnlich urteilte vor ihm Georg Friedrich Wolf 1787: »Der Zweck des Concerts ist bloß [sic!] die Ohren zu ergötzen«.11 Wortwörtlich kehrte seine Aussage in der zweiten Ausgabe des Lexikons von 1792 wieder.12 Er strich sie jedoch ersatzlos in der dritten Auflage von 1806, so dass an diesem Publikationsort jeglicher Hinweis auf den Konzertzweck fehlt.13 Vermutlich hinterließ die der reinen Instrumentalmusik zugewandte romantisch-kunstreligiöse Emphase, die 1796 beziehungsweise 1799 im Anschluss an die Publikation der Aufsatzsammlungen »Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders« und »Phantasien über die Kunst« (Wilhelm Heinrich Wackenroder/Ludwig Tieck) ungeahnten Zuspruch erfuhr, an eben die9 Hermann Scherchen, der 1922/23 als Museums-Dirigent in Frankfurt am Main engagiert war, erinnerte sich: »Nun waren diese Freitagabende die gesellschaftlichen Ein­ führungsabende geworden. Man mußte Museums-Abonnent sein. Die gute Gesellschaft, das Stammpublikum, brachte da die heiratsfähigen Töchter hin. Die wurden in der Pause vorpromeniert, und dann verließ man nach der Pause langsam das Konzert. Das hatte sich ständig so abgespielt, weil am Abend die Bankette begannen. Um halb zehn Uhr, wenn man dann erst die Garderobe hatte, zehn Uhr, das war zu spät; man wollte wenigstens um neun, halb zehn beginnen. So hatte es sich eingebürgert, daß man vor dem letzten Stück in Scharen rausging oder während des Stückes. Und ich habe zweimal Ansprachen an das Publikum gehalten, zum Beispiel einmal, als ich die ›Hiller-Variationen‹ von Reger spielte. Als da die Damen oben vor der Schlußfuge aufstanden und sich freundlich lächelnd von ihren Freunden verabschiedeten, blickte ich rauf. Als ich damit nichts erreichte, habe ich mich umgedreht und gesagt: ›Es tut mir furchtbar leid, aber ich dirigiere nicht zu Ende, denn wenn man fortgeht, dann gehen auch wir Musiker fort‹. Und ich habe die ›Hiller-Variationen‹ nicht zu Ende dirigiert. Ein unerhörter Skandal natürlich für die feinen Frankfurter! Auch Walter Gieseking hat sich einmal, wie man sagt, ›unmöglich‹ benommen. Er kam, saß schon am Klavier, da schwatzte noch eine Dame. Gieseking stand auf und haute mit aller Wucht aufs Klavier, so daß die Frankfurter zusammenschraken.«: Hermann Scherchen, Aus meinem Leben. Rußland in jenen Jahren. Erinnerungen, hg. v. Eberhardt Klemm, Berlin 1984, S. 43. 10 Heinrich Christoph Koch, Art.  Concert, in: Musikalisches Lexikon, Frankfurt 1802, Sp. 349–355, hier Sp. 349. 11 Georg Friedrich Wolf, Art. Concert, in: Kurzgefaßtes Musikalisches Lexikon, Halle 1787, S. 36. 12 Ders., Art. Konzert, in: Kurzgefaßtes Musikalisches Lexikon, Halle 17922, S. 107 f. 13 Ders., Art. Konzert, in: Kurzgefaßtes Musikalisches Lexikon, Halle 18063, S. 169 f. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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sem Wendepunkt ein offenkundiges Vakuum. Wenn nämlich die kontemplative Wahrnehmung von (Instrumental-)Musik, die nicht nur Wackenroder als »Andacht« hinstellte, das Gebot der Stunde sein sollte, dann musste es unzeitgemäß erscheinen, auf einer Position zu beharren, deren Überwindung sich seit einem Jahrzehnt ankündigte;14 zeitgleich provozierte Immanuel Kants »Kritik der Urteilskraft« (1790), die der Tonkunst im Kanon schöner Künste eine untergeordnete Rolle zuwies, eine Vielzahl von Gegenentwürfen, die den Rang von Musik, namentlich reiner Instrumentalmusik, umso höher bewerteten.15 Jedenfalls fiel es seither, wie angesichts der dritten Auflage von Wolfs Lexikon (1806) zu bemerken war, nicht leicht, eine der Wirklichkeit gerechte konsensfähige Neuformulierung des Konzertzwecks publik zu machen. Ein Ausweg aus dem Dilemma bot sich dahingehend, dass Lexikographen von der Deskription sozialer Praxis Abstand nahmen, ein Quantum Realitätsblindheit in Kauf nahmen und sich im Gegenzug auf ihre pädagogische Ader verließen, um lediglich zu postulieren, wie ihrer Ansicht nach – also auf Geheiß der »ästhetischen Polizei« – das Konzert, dessen Idee, Zweck und Einrichtung (Programm und so weiter) beschaffen sein sollte. Gustav Schilling wandte sich 1835 mit Ratschlägen direkt an die Konzertgeber: Ein Concertgeber muß nicht blos die Absicht haben, einzelne Virtuosenleistungen zu produciren; sein Hauptzweck muß immer seyn, neben einer angenehmen und schönen Unterhaltung der Zuhörer, auch den Kunstgeschmack und Kunstsinn derselben zu heben und zu fördern. […] Von bloßer Instrumentalmusik sind es besonders die Sinfonien, welche den Kunstsinn und den Kunstgeschmack ungemein fördern und heben. […] Der Concertdirigent muß sich sein Publicum erziehen, es sich heran­bilden, durch ein Abwechseln unter ächt Classischem und gefällig Modernem allmählig auf eine höhere Stufe der Kunstbildung erheben. Geht das auch nur sehr langsam, der Beharrliche kommt endlich doch an das Ziel, wo ihn der schönste Lohn erwartet für das mühevolle Bestreben. Nicht das große, nur das ganz kleine Publikum der Auserwählten hat hier allenfalls eine Stimme.16

Schilling musste offen zugeben, dass die »Auserwählten« gar zu rar gesät seien, um den Ton angeben zu können, und die Majorität des in Frage kommenden Publikums einstweilen auf dem Standpunkt beharre, die Symphonie (gemeint ist die des 19. Jahrhunderts) sei die »langweiligste Musikgattung«,17 was nichts 14 Carl Dahlhaus, Die Idee der absoluten Musik, Kassel 1978. 15 Adolf Nowak, Musikästhetische Kant-Repliken aus Weimar und Jena um 1800, in: Helen Geyer u. Thomas Radeke (Hg.), Aufbrüche – Fluchtwege. Musik in Weimar um 1800, Köln 2003, S. 25–37. 16 Gustav Schilling, Art. Concert, in: Encyclopädie der gesammten musikalischen Wissenschaften oder Universal-Lexicon der Tonkunst, hg. v. Gottfried Wilhelm Fink u. Gustav Schilling, Bd. 2, Stuttgart 1835, S. 282–289, hier S. 283 f. 17 Ebd., S. 284: »Freilich findet die Aufführung von Sinfonien u. dgl. an den meisten Orten noch keine allgemeine Theilnahme im Publicum, namentlich lehnt sich der große Theil der sogenannt schönen Welt gegen dieselbe, als gegen die langweiligste Musikgattung auf.« © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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anderes bedeutete, als dass das Konzert feiner Leute mit dem Sorgenkind ›absoluter Musik‹ belastet war. Ebenso verriet der Artikel »Concert« des 1872 erschienenen »Musikalischen Conversations-Lexicons« mehr als deutlich die besagte publikumspädago­gische Tendenz: Sollen die Concerte, wie man mit Recht allgemein annimmt, wichtige Factoren zur Bildung und Veredelung des musikalischen Verständnisses, der sittlichen und intellectuellen Hebung und Veredelung des Publicums sein, so müssen an die Concertgeber in Bezug auf die Zusammenstellung ihrer Programme und deren Steigerung bedeutende Ansprüche gestellt werden. Das Programm an und für sich muss schon eine Art Kunstwerk sein, welches Mannichfaltigkeit und Einheit zugleich darzubieten hat, Einseitigkeit und Parteilichkeit ausschliesst und in interessanter und spannender Aufeinanderfolge in dem Schlusswerke auch zugleich seinen Gipfelpunkt findet.18

In diesen Zeilen sieht man nahezu alles über den Haufen geworfen, was bis zur Schwelle des 19. Jahrhunderts den Inbegriff des Konzerts ausmachte. Vom Anspruch auf »angenehme und schöne Unterhaltung« (sinnliches Vergnügen), den Schilling immerhin noch für erwähnenswert hielt, ist hier mit keiner Silbe mehr die Rede; stattdessen verschob sich der Fokus eindeutig auf Wertigkeiten, die das Konzert nach den Maßstäben ästhetischer Bildung und Kultur (Erziehung), Sittlichkeit (Moral) oder Intellekt (Geist) beurteilten.19 Außerdem wuchsen die Ansprüche an das Konzertprogramm, von dem zusehends erwartet wurde, dass es sich als Opus perfectum mit ausgetüftelter Dramaturgie samt Schlusseffekt darbot. Nicht nur Schillings und Mendels Texte kündigten ein zusätzliches Kriterium des neuerrungenen Konzertformats an: Als unverzichtbares Korrelat von ästhetischer (später auch nationaler) Bildung und Kultur einerseits und Stille im Konzertsaal andererseits entpuppte sich das ›würdige Programm‹.20 Mit den ersten Vorboten einer solchen Denkweise wird man bereits kurz nach 1800 konfrontiert, als der protestantische Theologe Bernhard Christoph Ludwig Natorp zu Fragen der Programmbildung unter dem Aspekt »ästhetischer 18 Art. Concert, in: Musikalisches Conversations-Lexicon. Eine Enzyklöpädie der gesammten musikalischen Wissenschaften, hg. v. Hermann Mendel, Berlin 1872, S. 536–538, hier S. 538. 19 Zur Karriere der Begriffe Bildung und Kultur im Sprachgebrauch seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert vgl. Georg Bollenbeck, Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters, Frankfurt 1994, S. 31 f. 20 Mit dieser Aussage soll keineswegs behauptet sein, dass die Aufstellung von Konzert­ programmen bis dahin der Gedankenlosigkeit überlassen war. Dies war weder in höfischen noch in frühbürgerlichen Konzertstätten der Fall, was allein schon die auf Abwechslung bedachten ›Akteinteilungen‹ zu erkennen geben. Vielmehr ist mit der Aussage ein neuartiges Anspruchsniveau gemeint, das um 1800 den Liebhaberkonzerten und ihren Besuchern noch vollkommen fern lag. Vgl. Anonym, Bruchstücke aus Briefen über die allgemeinen Vergnügungen in Ansbach, in: Briefe über Ansbach, und deren Schicksal, o. O. 1803, S. 1–35, hier S. 11 f. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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Bildung« öffentlich Stellung nahm, die »unächte Musik« aus dem Konzert verbannt wissen wollte und vom Programm erwartete, dass es – um eines »Totaleindrucks« willen  – hinsichtlich der Wahl, Anordnung und Verbindung aufzuführender Stücke ein »verbundenes ästhetisches Ganzes« vorstelle.21 In den Statuten der nach 1800 gegründeten Konzertgesellschaften wurde meist von vornherein festgelegt, dass das Interesse an der Musik als Kunst maßgeblich sei. So versicherte die Wiener »Gesellschaft der Musikfreunde« im Jahre 1814, sie werde »die vorhandenen classischen Werke zur Aufführung bringen, theils, um dadurch den musikalischen Geschmack überhaupt zu erheben und zu veredeln, theils um durch die Anhörung derselben aufkeimende Talente zu begeistern, und zu dem Bestreben zu erwecken, sich auch zu classischen Tonsetzern zu bilden […]«.22 Fortdauernde Ansprüche kultureller Autorität sind zudem daran zu erkennen, dass die Konzertliteratur des 18. Jahrhunderts, die Hans Georg N ­ ägeli 1826 als »Divertissements-Geleyer«23 disqualifizierte, an Kredit verlor, wie dann schließlich auch die vormalige Heterogenität von Konzertprogrammen mit ihrer bunten Mischung von Vokal- und Instrumentalmusik, Schwerem und Leichtem nach und nach ein Opfer der Zeit wurde24. Als Endziel solcher »Aufräumungsarbeit«25 (Conrad Ansorge)  kristallisierte sich die Idee »stylreiner Programme«,26 um derentwillen die strengsten Hüter von Konzertkultur zusätzlich ein »Zugabenverbot« erwogen (damit Virtuosen nicht etwa durch die freie Wahl beliebter Paradestücke die ›Programmreinheit‹ störten).27 Im Prinzip liefen derlei Maßnahmen auf die Schöpfung des später verlästerten Typus des 21 Bernhard Christoph Ludwig Natorp, Unsre Concerte, in: Berlinische Musikalische Zeitung 1.  1805, S.  207–213, hier S.  211–213; Nachdrucke des Beitrags erschienen in der Neuen Bibliothek für Pädagogik, Schulwesen und die gesammte pädagogische Literatur Deutschlands (December-Heft 1810, S. 289–303) und in der Allgemeinen Musikzeitung zur Beförderung der theoretischen und praktischen Tonkunst, für Musiker und für Freunde der Musik überhaupt (1. 1827, Sp. 9–13 und 17–21). Vgl. auch Art. Einige Nachrichten über die ­Cultur der Musik in Göttingen, in: Allgemeine Musikalische Zeitung 22. 1820, Sp. ­838–843, hier Sp. 838 f. 22 Statuten der Gesellschaft der Musikfreunde des österreichischen Kaiserstaates, Wien 1814, S. 4. 23 Hans Georg Nägeli, Vorlesungen über Musik mit Berücksichtigung der Dilettanten, Stuttgart 1826, S. 188. 24 Vgl. William Weber, The Great Transformation of Musical Taste. Concert Programming from Haydn to Brahms, Cambridge 2008. 25 Siegmund von Hausegger, Über Konzertprogramme. Ein Rundschreiben, 1903, in: ders., Betrachtungen zur Kunst. Gesammelte Aufsätze, Leipzig 1921, S.  169–184, hier S.  178 (Zuschrift von Conrad Ansorge auf eine Umfrage Hauseggers zu Fragen der Programmgestaltung). 26 Ebd., S. 183. 27 Vgl. René Karlen, Untersuchungen zur Programmpolitik der Tonhalle-Gesellschaft Zürich im ersten Jahrhundert der Neuen Tonhalle (1895–1995), Diss. Zürich 1998, S. 23–31 (hier das Kapitel »Die Gewichtung des Solokonzerts und das Zugabenverbot«). © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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»schweren Arbeitskonzerts« hinaus, das »möglichst alles fernhält, was auch nur im Entferntesten nach Unterhaltung und Zerstreuung aussehen könnte«.28 Ganz in diesem Sinne hatte Siegmund von Hausegger 1903 die Devise ausgegeben: Die Aufgabe aber, der Musik ihre Würde und gebührende Stellung im Kulturleben zu bewahren, wird nicht zum kleinsten Teile durch den Geist der Konzertprogramme erfüllt. Es ist klar, daß vor allem der seichten Unterhaltungsmusik der Krieg erklärt werden muß. […] Also keine Konzession! Selbst die kleinste dieser Art wird alles Bemühen, den Hörer durch die Kunst über sich selbst empor zu heben, vereiteln. Mithin wird als oberster Grundsatz für Gestaltung künstlerischer Programme zu gelten haben: Verbannung aller Unterhaltungs- und Virtuosenmusik.29

Hauseggers Standpunkt, der seinerzeit nahezu unwidersprochen dastand, war Ausdruck einer kunstbürgerlichen Denkweise, die an die Dichotomisierung von Musik,30 die Unterscheidung von ernster Musik und Unterhaltungsmusik (terminologiegeschichtlich greifbar seit den 1830er Jahren) und die dementsprechende institutionelle Teilung von Konzertkultur gewohnt war.31

II. Lob und Tadel – Applaus und Zischen Die »ästhetische Polizei«, die zunächst mäßige Ruhe im Konzertlokal, später lautlose Stille im Saal und zusätzlich ein »würdiges Programm« gebot, sah sich vor zusätzliche Aufgaben gestellt, um mit spontanen Reaktionen des Publikums zurechtzukommen. Zu ihnen gehörte der Applaus, eine nicht unbedingt eindeutige Form von Akklamation.32 28 August Spanuth, Vom »unmöglichen Kunstwerk«, in: Signale für die musikalische Welt 72. 1914, S. 339–342, hier S. 339. 29 Hausegger, Über Konzertprogramme, S. 171 f. 30 Bernd Sponheuer, Musik als Kunst und Nicht-Kunst. Untersuchungen zur Dichotomie von ›hoher‹ und ›niederer‹ Musik im musikästhetischen Denken zwischen Kant und Hanslick, Kassel 1987. 31 »Die Teilung des Musiklebens in einen hohen und einen niedrigen Sektor, in autonome und funktionale, letztlich in Ernste Musik und Unterhaltungsmusik, entspringt nichts anderem als der Erhebung der absoluten Musik zur Kunstreligion, bedeutet also die im Kern willkürliche Abgrenzung des Sakralen vom Profanen. Die Grenzziehung zwischen sakral und profan ist in traditionellen Religionen der Priesterkaste vorbehalten«: Helmut Loos, Spurensuche. Kulturdarwinistische Tendenzen in der deutschen Musikgeschichtsschreibung, Mskr. S. 8 (Vortrag auf der Hallenser Tagung »Musikwissenschaft an der Universität 1900–1930. Zur Institutionalisierung und Legitimierung einer jungen akademischen Disziplin« vom 23. November 2013). Sehr herzlich danke ich Herrn Prof. Dr. Helmut Loos (Leipzig) für die Überlassung des Vortragsmanuskripts. 32 Vgl. Hanns-Werner Heister, Geldloses Geschenk und archaisches Zeremoniell. Der Konzert-Beifall als Honorar- und Aktivitätsform, in: International Review of the Aesthetics and Sociology of Music 15. 1984, S. 91–128; Heinrich W. Schwab, The Phenomenon of © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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In der 1755 anonym erschienenen satirischen Schrift »Die Reise nach dem Concerte. Durch einen Vetter des Eidsgenossen« lässt der Autor seinen in die Schweiz gereisten Protagonisten ein Konzert besuchen, in dem dieser in den Pausen mit einem einheimischen Konzertbesucher plaudert. Der erste Programmteil endet mit dem Vortrag eines Violinvirtuosen, der nicht nur dem fremden Gast missfiel. »Endlich hörte er [der Geiger] auf, und man klatschte ihm viel mehr als man dem Sänger und der Sängerin geklatscht hatte.« Anschließend kommt das Gespräch hierauf. Aber (fuhr ich fort) was bedeutete dann diß allgemeine und starke Klatschen? Diß ist (versetzte er) der Zuhörern Wohlzufriedenheits-Bezeugen. Es ist ein Fehler, daß mans jederman thut; ein mancher meint es seye der Gebrauch auf diese Weise das Lied zu enden. Dißmal wars entweder eine grobe Schmeicheley, oder ein Gespött, oder ein Unverstand, daß man diesem [sic!] Violinisten nicht darmit [mit Klatschen] verschont hat.33

Anscheinend herrschte vor Ort die (paradox anmutende) Sitte, sowohl Ge­fallen als auch Missfallen mit Beifall zu quittieren. Das moderate Klatschen signa­ lisierte Gefallen, das übertriebene Missfallen; auch die Unterlassung von Applaus wäre wohl statthaft gewesen. Anders als im Theater galten im Konzert Äußerungsformen von Tadel, die sich der Regel widersetzten, als deplatziert. Die »ästhetische Polizei« betrachtete es ihrerseits als ihre Aufgabe, auf dem ungeschriebenen Gesetz zu bestehen. Da die Sitte des Beifallklatschens wie ein »Ritual« eingeübt war (nicht zu vergessen der in späterer Zeit hinzutretende Usus des Begrüßungsapplauses), verdient Theodor W. Adorno Zustimmung, wenn er schrieb: Wäre der Applaus freie Entscheidung, das Zischen behauptete ihm gegenüber sich gleichberechtigt. Aber selbst wenn unserer Wahl ein Stück oder eine Wiedergabe mißfällt, antworten wir, ohne es zu wollen, aufs Zischen mit einer Empörung, in welche die mythische Treue zum Ritual sich flüchtet.34

Soweit mir deutschsprachiges Musikschrifttum bekannt ist, sind aus der Zeit vor 1800 keinerlei Nachrichten greifbar, die von offenkundigen Missfallensäußerungen in Konzertlokalen berichten. Frühe Hinweise liefern hierauf zwei Berichte über Konzertauftritte von Sängerinnen, die das Publikum oder Teile enttäuschten. Im ersten Fall liegt eine aus Stettin kommende Nachricht in der

Concert Applause. Interactions between Institution, Ritual, and Musical Genre, in: Eyof Østrem u. a., Genre and Ritual. The Cultural Heritage of Medieval Rituals, Copenhagen 2005, S. 211–249. 33 Art. Die Reise nach dem Concerte. Durch einen Vetter des Eidsgenossen, o. O. 1755, S. 20 f. 34 Theodor W. Adorno, Naturgeschichte des Theaters, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 16, hg. v. Rolf Tiedemann, Darmstadt 1998, S. 309–320, hier S. 309. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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»Allgemeinen Musikalischen Zeitung« (1802) vor, deren Korrespondent zustimmend erwähnte, »ein förmliches, im Konzertsaal sonst unerhörtes Auszischen und Pfeifen« sei der Sängerin Lohn gewesen.35 Zwei Jahre später wurde in Riga ein ähnlicher, als peinlich bewerteter Vorfall bekannt, dessen Beurteilung Schwierigkeiten bereitete und polizeiliche Ermittlungen nach sich zog. Anhand von Akten der Rigaer »Musikalischen Gesellschaft« war festzustellen: Auch über die Bezeugungen des Beifalls und des Mißfallens […] findet sich eine Aufzeichnung, indem wegen des unverdienten Auszischens der italienischen Sängerin Scoti im Jahre 1804 der damalige Herr General-Gouverneur von Buxhöwden und die Polizei sich in’s Mittel legten und die Schuldigen zur Verantwortung zogen, und wird dabei diese ›Theatersitte des Auszischens‹ als in der musikalischen Gesellschaft ungehörig und unpassend, und im Allgemeinem als unsittlich, stark gerügt.36

Vermutlich boten zunächst reproduktive Minderleistungen den Anlass zu Missfallensäußerungen;37 erst später – wohl kaum vor dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts – sprachen Zischen oder Pfeifen das Urteil über ein abgelehntes Opus.38 Es lag im Ermessen von Konzertgesellschaften, die Toleranzschwelle nach eigenen Vorstellungen festzulegen. Eine Vielzahl von (Liebhaber-)Konzert-Gesellschaften nahm von vornherein Abstand von Lob und Tadel, um die Leistungen von Dilettanten vor öffentlichem Urteil zu schützen.39 Manche Privat­ gesellschaften bewerteten Beifallsbezeugungen als Störung,40 andere wiederum duldeten sie und kamen damit den Wünschen der Künstler sehr entgegen.41 Die 1812/13 vom Königlichen Musikdirektor Carl Moeser eingerichteten, bis 1842 fortbestehenden Berliner Quartett- bzw. Sinfoniesoireen verließen sich von Anbeginn auf den Usus, dass weder Lob noch Tadel statthaft sein sollten. Als 1837 nach der Aufführung von Ludwig Spohrs vierter Symphonie »Die Weihe 35 Art. Aus Stettin, den 2ten Januar 1802, in: Allgemeine Musikalische Zeitung 4. 1801/02, Sp. 328–330, hier Sp. 329. 36 Rudolf Behling, Hundert Jahre der musikalischen Gesellschaft zu Riga. Zur Feier des hundertjährigen Bestehens derselben, Riga 1860, S. 9. 37 In der Allgemeinen Musikalischen Zeitung (1798–1848) finden sich m.W. sich hierfür nur sehr wenige Beispiele; vgl. u. a. Art. Kiow, in: Allgemeine Musikalische Zeitung 19. 1817, Sp. 577–582, hier Sp. 580. 38 Vgl. Franz Brendel, Thesen über Concertreform, in: Neue Zeitschrift für Musik 45. 1856, S. 97–99, 109–111, 117–119, 129–131; ders., Applaus und Zischen im Concert, in: Neue Zeitschrift für Musik 50. 1859, S. 61–64. 39 Walter Salmen, Das Konzert. Eine Kulturgeschichte, München 1988, S. 109 f. 40 Statuten des Musik-Vereins zu Braunschweig, Braunschweig 1844, S. 7: »Störungen durch Eintritt während eines musikalischen Vortrages oder durch Beifallsbezeigungen sind in allen diesen Versammlungen unstatthaft«. 41 Vgl. Heister, Geldloses Geschenk und archaisches Zeremoniell, S. 98. Heister zitiert hier u. a. eine aus dem Jahre 1840 stammende Äußerung Clara Schumanns: »Der Künstler bedarf nun einmal durchaus der äußeren Beifallsbezeugungen, er weiß ja sonst nicht, woran er ist«. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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der Töne«, einem »charakteristischen Tongemälde nach einem Gedichte von Carl Pfeiffer«, Teile des Auditoriums ihr Missfallen durch Zischen äußerten, sah sich Moeser veranlasst, in einer öffentlichen Erklärung an die Teilnahmebedingungen zu erinnern.42 Der Vorfall wäre keiner Erwähnung wert, wenn hier nicht klar erkennbar wäre, dass sich die Opposition des Konzertpublikums  – womöglich erstmals  – allein gegen ein Werk und nicht dessen Dar­ bietung richtete.43 Auf lange Sicht ließen sich im öffentlichen Konzert weder Applaus noch Tadel unterdrücken. Wenn die »ästhetische Polizei« beharrlich auf die angeblich verächtlichen Theatersitten blickte und Missfallensäußerungen wie Zischen oder Pfeifen aus dem Konzertsaal zu verbannen suchte, dann ging es ihr in letzter Instanz darum, den schaffenden wie nachschaffenden Künstlern zur Seite zu stehen und klarzustellen, dass diese und nicht das Publikum der Herr im Hause seien. Dass es hierbei um ein Kräftespiel kultureller Autorität ging, erhellt sich nicht nur daraus, dass Franz Brendel 1866 das Zischen mit dem Hinweis auf »das durchaus Unzulässige, Barbarische der Sitte«44 ausgrenzte. Zudem wog er Applaus und Tadel mit ein und demselben Resultat: Selbst der Applaus ist eine etwas rohe Kundgebung. Wie die Dinge aber einmal stehen, ist er als ein nothwendiges Uebel zu betrachten. Man meint nun, daß Zischen sei der Gegensatz, und so gut das Eine erlaubt sei, müsse auch das Andere gestattet sein. Allerdings ist Zischen der Gegensatz; aber nicht immer ist dieser am Orte. Es ist eine liebenswürdige Sitte, ausgezeichneten Bühnenkünstlern und Künstlerinnen Blumen und Kränze zuzuwerfen; nicht Genügende mit faulem Obst zu tractiren, dürfte der sociale Anstand verbieten. Freunde umarmen sich beim Abschied ober beim Wiedersehen. Sollen sich darum Feinde bei einer Begegnung durchprügeln? Dasselbe gilt vom Zischen. Es ist unter allen Umständen eine Ungezogenheit und müßte aus der gebildeten Gesellschaft gänzlich verbannt werden.45

Es versteht sich von selbst, dass es nicht in der Macht der musikalischen Fachpresse lag, auf das Verhalten des Konzertpublikums einzuwirken. Zuversichtlich sprangen Anstandsbücher in die Lücke, die nicht müde wurden, die »ästhe­ tische Polizei« zu unterstützen, so auch die 1896 erschienene Schrift »Der Verkehr in der Guten Gesellschaft« von Alban von Hahn:

42 Art. Merkwürdiges Zischen und merkwürdige Anzeige deshalb, in: Allgemeine Musi­ kalische Zeitung 39. 1837, Sp. 58–59 [Zuschrift von Carl Moeser]. 43 Im Bericht eines Berliner Musikreferenten fand die Entrüstung mit den Worten Er­ wähnung, dass das Tongemälde, »dessen Einförmigkeit und Ausdehnung nicht ganz zu verkennen sei, nicht nur ganz kalt aufgenommen wurde, sondern am Schlusse sogar einige Unberufene veranlasste, ihr Missfallen durch Zischen zu bezeigen«: Art. Berlin, in: Allgemeine Musikalische Zeitung 39. 1837, Sp. 76–79, hier Sp. 77. 44 Franz Brendel, Die Organisation des Musikwesens durch den Staat, Leipzig 1866, S. 57. 45 Ebd. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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Ebenso ist es unschicklich, seinen Beifall oder sein Mißfallen an dem Dargebotenen in andrer, als diskreter Weise zu äußern. Hat einem die Darstellung, das Stück, die Musikausführung gut gefallen, so kann niemand etwas daran finden, wenn man diesem Gefühl durch Klatschen Ausdruck gibt, doch muß sich dies stets in den Grenzen des Anstandes halten. Durch allzustarkes Applaudieren womöglich eine Wiederholung oder eine »Zugabe« erzwingen zu wollen, ist unpassend. Streng verboten aber ist es dem gebildeten Menschen, sein Mißfallen in irgend welcher lauten Weise zu äußern. Wem etwas nicht gefällt, dem bleibt es ja unbenommen, sich zu entfernen; durch Zischen oder gar Pfeifen und ähnliche Töne sein Mißfallen auszudrücken, ist un­anständig und zeugt von ungebildeten Manieren. […] Freilich glauben heutzutage gerade junge Leute, ihre Gesinnungstüchtigkeit stets beweisen und zur Schau tragen zu müssen […]; sie sollen sich aber doch einmal prüfen, […] ob es nicht viel öfter die Lust am »Krakehl« ist, die sie veranlaßt, sich unpassend zu benehmen, als ihre innere Überzeugung – wenn sie wirklich eine haben.46

Die Praxis des Konzertlebens sah anders aus. Ohne auf Einzelbeispiele näher einzugehen, genügt es an dieser Stelle, die vertrauenswürdige Stimme des Wiener Musikkritikers Max Graf heranzuziehen, der sich in einem Rückblick auf das Wiener Musikleben des Fin de Siècle erinnerte: Man klatschte begeistert Beifall bei den Aufführungen klassischer Werke, aber zischte bei der ersten Aufführung der Vierten Sinfonie von Brahms, den Sinfonien Bruckners, dem ›Zarathustra‹ von Richard Strauß, bei den Mahlersinfonien und bei Reger, man zischte eben bei aller Musik, die neu und eigenartig war, die ihre eigene, nicht die hergebrachte Form hatte. Jetzt klatscht man freilich bei Brahms, Bruckner, Strauß, Mahler und Reger; aber von Arnold Schönberg hat man bis heute hier [in den Philharmonischen Konzerten] keine Note gehört.47

Es lässt sich nur vermuten, dass die auf Programmzetteln abgedruckten oder in Anstandsbüchern kodifizierten Verhaltensregeln je auf ihre Weise einen Beitrag dazu leisteten, dem Konzert feiner Leute den letzten Schliff zu geben, sei es im Hinblick auf das stillschweigende Zuhören, die Äußerung von Beifall (an den dafür vorgesehenen Stellen48), das Kommen und Gehen, die Garderobe usw. Dass auf dem Weg zum ›allerletzten Schliff‹ noch manche Hindernisse zu beseitigen waren, lag auf der Hand, wenn Missfallensäußerungen, von Anstandsbüchern »streng verboten«, die Praxis des Konzerts begleiteten.

46 Alban von Hahn, Der Verkehr in der Guten Gesellschaft, Leipzig 1896, S. 184 f. 47 Max Graf, Die Wiener Oper, Wien 1955, S. 173 f.; Siegmund von Hausegger teilte solche Erfahrungen als Dirigent der Frankfurter Museumskonzerte: Siegmund von Hausegger, Kunst und Gesellschaft. Zum Abschied von Frankfurt a. M., 1906, in: ders., Betrachtungen zur Kunst, S. 37–41, hier S. 40. 48 Karl Klingler, Von der Beifallsenthaltung zwischen den einzelnen Sätzen, in: Deutsches Musikjahrbuch, Bd. 2 u. 3, hg. v. Rolf Cunz, Essen 1925, S. 149–154; vgl. hierzu Walter Salmen, der die rasche Wirksamkeit des nach 1910 greifbaren Gebots zur Beifallsenthaltung zwischen einzelnen Sätzen in Frage stellte: Das Konzert, S. 64. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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III. Diskrepanz zwischen Sein und Sollen: Tumult und Skandal im Konzertsaal Die Diskrepanz zwischen Sein und Sollen gewann im Kontext von Avantgarde­ bewegungen des 20.  Jahrhunderts neuartige Dimensionen. Angesichts unge­ ahnter Tumulte oder Skandale ließ sich die zeitweilige Ohnmacht der »ästhetischen Polizei« wahrlich nicht übersehen. Was auch immer in vielsprachigen Benimmbüchern über anständiges Konzertbenehmen zu lesen stand, war in der Geburtsstunde Neuer Musik – und darüber hinaus – weltweit null und nichtig. Ausschlaggebend war hierfür nicht nur die vermeintliche Borniertheit eines auf konventionellen Hörerwartungen beharrenden Publikums, sondern vielmehr die leibhafte Erfahrung einer exorbitanten Neu- oder Andersartigkeit von Musik, die einem ›Sturz ins Jetzt des Augenblicks‹49 glich und ästhetische Identifikation, den Mitvollzug eines Definitions-Spiels von Musik, erschwerte, wenn nicht gar unmöglich machte.50 Die Redeweise vom ›Sturz ins Jetzt des Augenblicks‹ bezieht sich auf die einst schockierende ästhetische Erfahrung Neuer Musik, die kurz nach 1900 im mitteleuropäischen Raum zunächst in der Begegnung mit der Musik der Zweiten Wiener Schule für Schlagzeilen sorgte, vor allem in der Konfrontation mit dem Œuvre von Arnold Schönberg, Anton von Webern und anderen. Als Korrelat schockierender ästhetischer Erfahrung lassen sich die Tumulte in Konzertsälen begreifen, die die Außenansicht des ›Sturzes ins Jetzt des Augenblicks‹ widerspiegeln. Gemeint ist die der Beobachtung zugängliche Tatsache, dass die Berührung mit dem musikalisch Neuen keineswegs auf neutralen Boden fiel, sondern mit Vorkommnissen einherging, die in der Tages- oder Fachpresse, später in der Fachliteratur, als Aufruhr, Streit, Skandal, Kampf oder Saalschlacht geschildert, beschrieben und auch dokumentiert wurden. Ausgehend von einer zu vermutenden Interdependenz, nämlich von der Annahme, dass das Entsetzen weiter Teile des Publikums Antwort auf den ›Sturz ins Jetzt des Augenblicks‹ gab, liegt im Folgenden eine kaleidoskopische Betrachtung nahe, die mit wechselnder Perspektive zum einen auf die Eigentümlichkeit ästhetischer Erfahrung, zum anderen auf die Szenarien von Aufruhr und deren Folgen Rücksicht nimmt. Nahansichten von Aufruhr, Tumult oder Skandal lassen sich an dieser Stelle nicht gänzlich ausblenden, um das Ausmaß von Erschütterung kenntlich zu­ 49 Martin Thrun, Eigensinn und soziales Verhängnis. Erfahrung und Kultur »anderer Musik« im 20. Jahrhundert, Leipzig 2009, S. 327–329. 50 In seiner Untersuchung zu den Ursachen der Schönberg-Skandale verwies Martin Eybl auf einen »ästhetischen Paradigmenwechsel«, den er mit Rücksicht auf Schönbergs (aller­ dings sehr wandelbare) ästhetische Maximen als »Befreiung des Augenblicks« hinstellte. Vgl. Martin Eybl (Hg.), Die Befreiung des Augenblicks. Schönbergs Skandalkonzerte 1907 und 1908. Eine Dokumentation, Wien 2004, S. 49–64, S. 82. – Im Unterschied zu Eybls Ansatz liegt der Redeweise vom ›Sturz ins Jetzt des Augenblicks‹, wie sie hier gemeint ist, einzig die Analyse wirkungsästhetischer Phänomene zugrunde. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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machen. Die anschließend mitgeteilten Belege beziehen sich insbesondere auf Wiener oder Berliner Aufführungen von Werken Schönbergs. Max Graf, der oben bereits zitierte Wiener Kritiker, deutete in einer Reminiszenz vage an, womit zu rechnen sei: »Zischen, Pfeifen, Höhnen haben Schönbergs Musik seit dem Jahre 1898 begleitet. Leidenschaftlicher ist in Wien, wo man große Musik begeistert auszischt, keine Musik ausgezischt worden, als die Arnold Schönbergs.«51 Unter anwachsendem Protest des Wiener Publikums hatten die Ur­aufführungen seines Streichsextetts »Verklärte Nacht« (1902), der symphonischen Dichtung »Pelleas und Melisande« (1905) oder des Ersten Streichquartetts (1907) graue Schatten vorausgeworfen, die sich in schwärzeste färbten, als die Bläservereinigung der Wiener Hofoper zusammen mit dem Rosé-Quartett am 8. Februar 1907 die Kammersymphonie E-Dur op. 9 in ihr Programm nahm. Schon in der Mitte des einsätzigen Werkes begannen Leute lärmend den Saal zu verlassen; später aber fing ein Teil des Publikums an, die Sessel auf- und niederzuklappen, die Saaltüren zuzuschlagen und auf Schlüsseln unaufhörlich zu pfeifen. […] Während der letzten Minuten der Aufführung herrschte ein solcher Aufruhr, daß der Lärm die Musik übertönte.52

Ein Jahr später, anlässlich der Uraufführung des Zweiten Streichquartetts op. 10, überbot die spontane Entrüstung zusammen mit der fast schon ritualisierten »Lust am ›Krakehl‹« (s. o.) alles bisher Dagewesene. Mit Beginn des vierten Satzes erschallten Zurufe »Aufhören! Schluß! Nicht weiterspielen!«, die von der Gegenseite mit »Ruhe! Weiterspielen!« beantwortet wurden.53 Das von Schönberg geleitete sogenannte Wiener »Watschen-Konzert« vom 31. März 1913 fügte dem Szenarium von Skandalen neue Pointen hinzu: Nach dem Op. 9 von Schönberg […] mischten sich leider in das wütende Zischen und Klatschen auch die schrillen Töne von Hausschlüsseln und Pfeifchen und auf der zweiten Galerie kam es zur ersten Prügelei des Abends. Von allen Seiten wurde nun in wüsten Schreiereien Stellung genommen […]. Zwei Orchesterlieder nach Ansichts­kartentexten von Peter Altenberg von Alban Berg raubten aber auch den bisher Besonnenen die Fassung. […] Dadurch aber, daß Schönberg inmitten des Liedes abklopfte und in das Publikum die Worte schrie, daß er jeden Ruhestörer mit Anwendung der öffentlichen Gewalt abführen lassen werde, kam es neuerlich zu auf51 Graf, Die Wiener Oper, S. 350 f.: »Ich habe dieses Zischen und Höhnen, das seit jener Zeit jede Schönberg-Aufführung begleitet hat, zum erstenmal gehört, als Professor Gärtner, von Zemlinsky begleitet, zwei Lieder Schönbergs nach Texten von Karl von Levetzov im Bösendorfer-Saal gesungen hat. ›Und von da an‹ – sagte Schönberg – ›hat der Skandal nimmer aufgehört‹«. 52 Egon und Emmy Wellesz, Egon Wellesz. Leben und Werk, hg. v. Franz Endler, Wien 1981, S. 57; vgl. auch Graf, Die Wiener Oper, S. 351. 53 Art. Rezension der Uraufführung von Schönbergs Zweitem Streichquartett op. 10, in: Neues Wiener Tagblatt, 22.12.1908, abgedruckt in: Hermann J. Busch u. Werner Klüppel­ holz, Musik  – gedeutet und gewertet. Texte zur musikalischen Rezeptionsgeschichte, München 1983, S. 251. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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regenden und wüsten Schimpfereien, Abohrfeigungen und Forderungen. Herr von Webern schrie auch von seiner Loge aus, daß man die ganze Bagage hinausschmeißen sollte und aus dem Publikum kam pünktlich die Antwort, daß man die Anhänger der mißliebigen Richtung der Musik nach Steinhof abschaffen müßte. Das Toben und Johlen im Saale hörte nun nicht mehr auf. Es war gar kein seltener Anblick, daß irgend ein Herr aus dem Publikum in atemloser Hast und mit affenartiger Behendigkeit über etliche Parkettreihen kletterte, um das Objekt seines Zornes zu ohrfeigen.54

Das Sündenregister, das der »ästhetischen Polizei« vorlag, lässt sich nun nahezu vollständig überblicken: Vielfach begannen Störungen mit unwill­kürlichem Gelächter, das sich wie ein Lauffeuer verbreitete. Hinzu kamen willentliche Unmuts­äußerungen wie Zischen, Husten, Scharren, Türenschlagen und so weiter, die mit umso stärkerem Beifall beantwortet wurden. Bei fortdauerndem Widerstreit, der schroffe Wortwechsel, Ansprachen ans Publikum oder Handgreiflichkeiten nicht ausschloss, drohte die Unterbrechung des Spiels, wenn nicht gar der vorzeitige Abbruch der Veranstaltung. In extremsten Fällen lauerten polizeiliche Einschreitungen oder gar gerichtliche Nachspiele. Wie sehr die Szenarien einem ›Kampfspiel‹ glichen, beweist der empörte, an die Adresse des Komponisten gerichtete Zuruf eines Besuchers der Berliner Uraufführung von Schönbergs »Pierrot Lunaire« (1912): »Erschießen sollte man ihn! Erschießen!«55 Im Anschluss an das Wiener »Watschen-Konzert« (1913) soll Schönberg gegenüber Hermann Scherchen geäußert haben: »Man hätte einen Revolver bei sich haben müssen!«56 Geschickt bündelte Adorno Aspekte von Produktion und Rezeption mit der Bemerkung: »Die neuen Gebilde provozieren […] aggressive Affekte als Antwort auf die Aggression, die sie selbst ausüben.«57 Was sich in den sogenannten heroischen Zeiten Neuer Musik  – während der Vorkriegsjahre – in Wiener Konzertsälen zutrug, begegnete zeitgleich oder zeitversetzt auch andernorts, sei es im Konzertalltag oder bei Festen zeitgenös­ sischer Musik. Symptomatisch mag hierfür das weniger bekannte Beispiel eines modernen Berliner Klavierabends sein, den Eduard Erdmann am 28. März 1919 im Meistersaal gab. Adolf Weißmann rezensierte den Eklat unter der reißerischen Überschrift »Konzertschlacht«, womit der »Kampf zwischen Gelächter und Beifall« oder der »Kampf zwischen Klatschenden, Brüllenden und Zischen-

54 Art. Tumult im Großen Musikvereinssaale. Aus einer Wiener Tageszeitung, April 1913, abgedruckt in: Arnold Schönberg zum fünfzigsten Geburtstage. 13.  September 1924, Sonderheft der Musikblätter des Anbruch 6. 1924, S. 322. 55 Salka Viertel, Das unbelehrbare Herz. Erinnerungen an ein Leben mit Künstlern des 20. Jahrhunderts, Berlin 20122, S. 92. 56 Zit. nach: Willi Reich, Arnold Schönberg oder Der konservative Revolutionär, München 1974², S. 83. 57 Theodor W. Adorno, Schwierigkeiten in der Auffassung neuer Musik [1966], in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 17, hg. v. Rolf Tiedemann, Darstadt 1998, S. 273–291, hier S. 286. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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den« gemeint war.58 Ein Brief des Konzertbesuchers Hans Jürgen von der Wense verrät genauer, was sich im Saal zutrug: Gestern abend war hier ein Konzert nur mit radikaler Musik, Schönberg, Scherchen, Berg, Tiessen, Erdmann. Ich war mit [Leo] Spies und [Edgar] Byk dort. Es kam zu absolut tollen Szenen. Einige Stücke mussten unterbrochen werden, so wurde gezischt. Ich benahm mich in höchster Leidenschaft… Schrie wie am Spieß des heiligen Geistes. Mit Donnerton: »Die Pharisäer triumphieren. Aber zum letzten Mal!« Eine Dame mir ins Gesicht brüllte: »Gehen Sie doch zum Arzt, Sie Idiot!« Ich: »Pfeifen Sie nur auf uns – wir pfeifen auf Sie!« […] Byk, noch wilder, rauchte eine Cigarette. Zum Schluß Auflösung. Aussprachen der Konzertierenden. Ich im Künstlerzimmer rede … sofort Einladungen.59

Wenses Schreiben lässt typische Merkmale öffentlicher Tumulte unschwer wiedererkennen, angereichert um den provokanten Verstoß gegen das Rauch­verbot im Saal. Die Chronique scandaleuse braucht hier weder weiter verfolgt noch ergänzt zu werden. Um jedoch die zitierten Beispiele nicht als absonderliche lokal­ typische Vorfälle auf sich beruhen zu lassen und die der Neuen Musik zufließende Allgegenwärtigkeit von Protest, Opposition, Tumult oder Skandal zumindest anzudeuten, liegt der Rekurs auf Erinnerungen von Zeitzeugen nahe. Ernst Hermann Meyer gab als Komponist und Musikwissenschaftler 1975 in einer Rückschau auf die 1920er Jahre zu Protokoll: »Dort, wo er [Schönberg] aufgeführt wurde, konnte man seine Musik in all dem Dazwischenrufen, Scharren, Husten und Klatschen oft nicht richtig hören.«60 Nicht anders lautete eine Reminiszenz des Dirigenten Hans Rosbaud, der sich als Anwalt der Avantgarde einen Namen machte: »Doch als ich bald auch Werke von Schönberg und Strawinsky aufführte, gewöhnte ich mich an das Pfeifen, Schreien, Toben.«61 In den ausgehenden 1920er Jahren verlor sich das Tumultuarische in Ber­liner Konzertsälen und anderswo. Mit einem späten Wetterleuchten des Skandals wird man indes noch einmal am 2./3. Dezember 1928 konfrontiert, als Wilhelm Furtwängler in einem Berliner Philharmonischen Konzert Schönbergs »Variationen für Orchester« op. 31 uraufführte. In der Öffentlichen Hauptprobe wie im Philharmonischen Konzert selbst kam es zu einem »Hausschlüssel- und Tril58 Adolf Weißmann, Konzertschlacht. Musikalische Expression-, Futur- und andere Isten, in: B. Z. am Mittag, 31.3.1919 (Heinz-Tiessen-Archiv, Akademie der Künste, Berlin). 59 Jürgen von der Wense, Geschichte einer Jugend. Tagebücher und Briefe. Ausgewählt, erläutert und mit einem Nachwort von Dieter Heim, München 1999, S. 181 (Brief vom 29. März 1919 an Wilhelm und Elisabeth Mayer). 60 Ernst Hermann Meyer, Kontraste, Konflikte. Erinnerungen, Gespräche, Kommentare, hg. v. Dietrich Brennecke u. Mathias Hansen, Berlin 1979, S. 47. 61 Hans Rosbaud, Musik und Wissenschaften, in: Josef Müller-Marein u. Hannes Reinhardt, Das musikalische Selbstportrait von Komponisten, Dirigenten, Instrumentalisten, Sängerinnen und Sängern unserer Zeit, Hamburg 1963, S. 193–204, hier S. 195. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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lerpfeifenkonzert.«62 Die teils präventiv mitgebrachten »Geräuschtöner« verhießen eine in Berlin noch unerprobte, jedoch von Wien her längst bekannte Variante des Tumults, bei der die ›Kampfmittel‹ nicht länger mehr der spontanen Abwehr dienten, sondern im Rahmen einer kalkulierten Gegendemonstration zum Einsatz gelangten (bezeichnenderweise nicht oder nicht mehr während, sondern erst nach der Darbietung). Der Kritik schien die neue Form des Protests weit bedenklicher als die impulsive Empörung, weil »mehr der kalte Vorsatz zu opponieren als echte Notwehr bedrängter Gemüter«63 ausschlaggebend war. Gewiss sind hiermit extremste Formen von Prävention und Opposition berührt. Hierauf Bezug nehmend hatte der Wiener Bezirksrichter, der 1913 nach den Raufszenen des »Watschen-Konzerts« die Gerichtsverhandlung führte, in Übereinstimmung mit Anstandsbüchern den Rat erteilt: »Die betreffenden Personen – denen es nicht paßte – hätten ja früher weggehen können.«64 Als Furtwängler am 23./24. Februar 1930 Igor Strawinskys »Le Sacre du Printemps« ins Programm nahm, trat genau das ein, was dem Wiener Richter als Konfliktlösung vorschwebte. »Es zeigt sich«, schrieb die Presse, »daß die Berliner Philharmonie sich zur Hälfte leert, wenn Furtwängler 1930 ›Sacre du Printemps‹ dirigiert.«65 Das Verhalten des Publikums gibt zu erkennen, wie Zischen, Pfeifen oder Tumulte überwunden werden konnten. Irrig wäre die Annahme, dass mit der Ruhe im Saal die Akzeptanz des Neuen einherging. »Das Merkwürdige«, so kommentierte Max Butting den Wandel, »das uns damals schon auffiel, war, daß gleichzeitig mit der Duldung der neuen Musik auch ganz allmählich die innere Ablehnung wuchs.«66 Vieles spricht dafür, dass sich das Gros des Publikums entweder den Konzertsitten anpasste oder dem Saal den Rücken kehrte. »Das Abonnentenpublikum«, so lautete 1930 eine kritische Stellungnahme, »ist nicht mehr zu erziehen. Es hat feste ästhetische Anschauungen, die es nicht revidieren will. Man kennt das Verhalten des Publikums, wenn Furtwängler Strawinsky oder Hindemith spielt. Es gibt keinen Protest. Nein. Man verläßt brummend den Saal.«67 Zwei Jahre später schlug Paul Bekker in einem Offenen Brief an Furtwängler allen Ernstes vor, Neuheiten in den Programmen gänzlich beiseite zu lassen, damit den beteiligten Kräften das Schauspiel grotesker Inauthentizität erspart bliebe.68 62 Art. Viertes Philharmonisches Konzert. Schönberg-Uraufführung, in: Berliner Tageblatt 573, 4.12.1928 (Theatersammlung Wilhelm Richter, Akademie der Künste, Berlin). 63 Max Marschalk, Kampf um Arnold Schönberg. Das vierte Philharmonische Konzert, in: Vossische Zeitung 573, 4.12.1928 (Theatersammlung Wilhelm Richter, Akademie der Künste, Berlin). 64 L. Andro, Der weise Richter. Zum letzten Wiener Schönbergskandal, in: Allgemeine Musik­zeitung 40. 1913, S. 675–676, hier S. 675. 65 Hans Mersmann u. a., Die Situation in Deutschland, in: Melos 9. 1930, S. 348–349, hier S. 349. 66 Max Butting, Musikgeschichte, die ich miterlebte, Berlin 1955, S. 150. 67 Manfred Bukofzer, Erziehung zu neuer Musik, in: Melos 9. 1930, S. 465–469, hier S. 465. 68 Paul Bekker, Briefe an zeitgenössische Musiker, Berlin-Schöneberg 1932, S. 24. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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Im Hinblick auf die Folgezeit glaubte nicht nur Hanns-Werner Heister, den Trend feststellen zu können, dass Konzertaufführungen (welcher Art auch immer) von Missfallensäußerungen mehr und mehr verschont blieben. Der historischen Tendenz nach nimmt ›aktive, laute Ablehnung‹ ab. Diese allgemeine Tendenz zu einem wohltemperierten Beifall als Grundmuster und die speziellere, daß seit den heroischen Tagen der Neuen Musik eigentliche Konzertskandale sehr zurückgegangen[,] wo nicht fast verschwunden sind, lassen auf eine wachsende Vergleichgültigung selbst derjenigen Musik schließen, die von sich aus aktiv auf Hervorrufung von starken Wirkungen, gar Schocks zielt.69

Alfred Schlee, der langjährige Repräsentant der Wiener Universal-Edition, bestätigte inmitten der 1990er Jahre den Trend mit der Bemerkung, dass nach seinem Empfinden das Applaus-Ritual bei Konzerten avancierter Musik mitunter einen »schrecklichen Eindruck« hinterlasse: Ich habe einen ganz schrecklichen Eindruck von den Erfolgen [Neuer Musik]. Die Erfolge sind Mode geworden und es ist gekommen, daß sogar die Konzerte sehr gut besucht sind und daß die Leute klatschen, wo ich überzeugt bin, daß es ihnen überhaupt nicht gefällt. Vor allen Dingen ist mir das in Salzburg bei den [Luigi] Nono-Konzerten aufgefallen. Ich habe sie gesehen, wie sie gesessen sind, als das gespielt wurde, und habe mich gewundert, daß sie überhaupt sitzen geblieben sind, und dann haben sie geklatscht und getobt. Nein, es ist Mode, man muß dabeisein, man muß klatschen, das ist jetzt also gut.70

IV. Der Sturz ins ›Jetzt‹ des Augenblicks Die Tumulte, die bald nach 1900 Aufführungen Neuer Musik begleiteten, waren ein offenkundiges Indiz für den Protest eines enttäuschten wie konsternierten bürgerlichen, mehrheitlich der Oberschicht angehörenden Abonnement-, Vereins- oder Festpublikums, das kraft seiner unwillkürlichen oder willkürlichen Abwehrreaktionen energisch seinen Standpunkt in die Debatte warf, den die Gegenseite ihrerseits entrüstet dementierte. Zugleich lieferten sie ein Indiz für ein den Artefakten innewohnendes aggressives Potential, das Auflehnung 69 Heister, Geldloses Geschenk und archaisches Zeremoniell, S. 113. – Im Unterschied zum strikten Ton von Anstandsbüchern war Siegmund von Hausegger vorsichtig genug, das Zischen nicht grundsätzlich zu verteufeln: »Freilich als Zeichen eines, wenn auch ablehnenden Interesses, ist Zischen lethargischer Gleichgiltigkeit immer vorzuziehen und wird, als einem lebhaft teilnehmenden Temperament entspringend, sogar im Falle groben Mißverstehens allenfalls zu entschuldigen sein«: Beifall und Mißfallen (1909), in: Betrachtungen zur Kunst, S. 60–66, hier S. 65. 70 Alfred Schlee, Gespräch X. Alfred Schlee (24. März 1994 und 19. Januar 1995), in: Darmstadt-Gespräche. Die Internationalen Ferienkurse für Neue Musik in Wien, hg. v. Markus Grassl u. Reinhard Kapp, Wien 1996, S. 181–202, hier S. 195. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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gegen künstlerische Konvention verriet, kulminierend in Negationsleistungen wie der befremdlichen Freisetzung von Dissonanz. Es zeugt von Aufrichtigkeit, wenn Anton von Webern 1912 in einer Eloge auf seinen Lehrer Schönberg von dessen »großen Revolutionen« sprach und erklärte: »Schönberg zerstört schonungslos die mordenden Lügen einer überlieferten Aesthetik und räumt vollständig mit dieser auf.«71 Solch schöpferische Akte »revolutionären Auf­ räumens« tangierten nicht nur das Gefüge von Tonsetzung, sondern stellten zudem die bürgerliche Musikkultur vor die Herausforderung, mit Innovationen, die geschmeidige Anpassung vermissen ließen, auf Dauer zurechtzukommen. Bevor die ästhetische Erfahrung, der ›Sturz ins Jetzt des Augenblicks‹, näher interessiert, bietet es sich an, auf ein Statement Bezug zu nehmen, das in Pierre Bourdieus Schrift »Die feinen Unterschiede« anzutreffen ist. Es lautet: Die Bourgeoisie erwartet von der Kunst (ganz zu schweigen von dem, was sie Literatur oder Philosophie nennt) eine Bestätigung ihrer Selbstgewißheit und vermag – ebenso selbstgefällig wie ignorant – die Kühnheiten der Avantgarde nicht einmal in so neutralen Bereichen wie der Musik wirklich anzuerkennen […].72

Bourdieu urteilt zunächst über den Erwartungshorizont der Bourgeoisie, die von der Kunst das Daseinsgefühl von »Selbstgewißheit« verlange. Zugleich konstatiert er ein infolge von Selbstgefälligkeit und Ignoranz gestörtes Verhältnis zur Avantgarde. Es vermag jedoch nicht deutlich zu werden, weshalb er die Musik schlechthin »neutralen Bereichen« zugeordnet wissen möchte; womöglich hat ihn die Begriffslosigkeit nicht-wortgebundener Musik dazu veranlasst. Indes war und ist die Begriffslosigkeit von Musik, selbst die der ›absoluten‹, alles andere als ein zuverlässiger Garant »neutralen Bodens«. Sobald man auf wirkungsästhetische Aspekte Rücksicht nimmt, stellt sich die Frage nach dem Erfahrungs- und Emotionsgehalt von Neuer Musik. Nimmt man das Expressionsverstehen ernst, ist nicht zu übersehen, dass die Begegnung mit avancierter Musik von Anbeginn entrüstete Klagen über deren Befremdlichkeit und Unverständlichkeit hervorrief und die rein sinnlich wirkende Materialität als quasi-körperliche Verletzung, Angriff, Attentat, Schock oder Qual empfunden werden konnte, weshalb sich das Gros der Zuhörer in seinen Sinnenvorstellungen eine schreckensvolle Welt des Grauens ausmalte.73 Es verwundert daher nicht, dass ein Wiener Kritiker nach der skandalösen

71 Anton von Webern, Ueber Arnold Schönberg, in: Rheinische Musik- und Theaterzeitung 13. 1912, S. 99–103, S. 118–122, hier S. 103, 121. 72 Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt 19893, S. 459. 73 Wilhelm von Wymetal, Nachträgliches zum Wiener Musik- und Theaterfest der Stadt Wien. Einige Ausschnitte, in: Deutsches Musikjahrbuch, Bd. 2 u. 3, hg. v. Rolf Cunz, Essen 1925, S. 85–109, hier S. 108: »Und Schönberg wie seine Jünger sind weit davon entfernt, ihre atonale Schöpfung bloß als eine Welt des Grauens gelten zu lassen.« © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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Urauf­f ührung von Schönbergs Zweitem Streichquartett (1908) vorschlug, Darbietungen solcher Art das Motto »Lerne leiden, ohne zu klagen«74 zuzuweisen. Die Rede vom ›Sturz ins Jetzt des Augenblicks‹ benennt das aufdringlichste Charakteristikum, das als wirkungsästhetisches Phänomen die frühesten Schöpfungen Neuer Musik bis hin zur multi-seriellen Musik begleitete. In Quellentexten findet man das Jetzt thematisiert als Atomisierung oder Dekonstruktion musikalischer Sprache, als »eigene Sprache in abgerissenen Lauten«,75 »abgerissene Schreibung«,76 »musikalisches Volapük«,77 als den Wechsel »akustischer Momentbilder«78 oder Sprünge »von isolierten ›gegenwärtigen‹ Momenten zu anderen isolierten ›gegenwärtigen‹ Momenten«;79 in solchen Kontext gehört auch der Erlebniseindruck eines »Übermaßes der Abwechslung«, der als sein Gegenteil, als »Monotonie« erfahren werden konnte.80 Die hier interessierenden Aspekte von Komposition, Interpretation und Rezeption hat Hans Heinrich Eggebrecht in seiner Schrift »Musik verstehen« (1995) ausführlich diskutiert. Im Schlusskapitel seines Buches fasste er seinen Standpunkt zusammen: Der – wie wir es nannten – totalen Komposition, die total ist in dem Sinne, daß sie sich von tradierten Materialdefinitionen und präkompositorischen Normen löst und bei jedem Werk das Material bis in dessen tiefste Schichten neu und eigen organisiert, entspricht das befreite Hören, das befreit ist (und sich befreien muß) von den tonal objektivierten Sinndefinitionen und -erwartungen, um empfangsbereit zu sein für das neuartige Bedeuten dieser neuartigen Musik in jedem Augenblick. Die Befreiung der Musik von den Einbindungen in normative Sinnstiftungen beim Komponieren, Interpretieren und Rezipieren, indiziert eine Befreiung des Subjekts von präfixierten Normensystemen auch in den Bereichen der Welt- und Lebensauffassung bis hin in das gesellschaftliche Verhalten. Oder auch umgekehrt ist es die neue Welt- und Lebensbefindlichkeit des Subjekts, die, um sich verwirklichen und ausdrücken zu können, die Normenbindungen verläßt.81

74 Richard Batka, Zum Schönberg-Skandal im Bösendorfer-Saale, in: Fremden-Blatt, 24.12.1908 (Morgenblatt), zit. n. Eybl (Hg.), Die Befreiung des Augenblicks, S. 194. 75 Theodor Tagger, Wiener Moderne. Eine Skizze, in: Allgemeine Musikzeitung 38. 1911, S. 243–245, hier S. 245. 76 Johannes Wolf, Geschichte der Musik in allgemeinverständlicher Form. Dritter Teil, Leipzig 1929, S. 84. 77 Alfred Einstein, Kunst und Technik [1935], in: ders., Nationale und universale Musik. Neue Essays, Zürich 1958, S. 270. 78 Art. Aus den Konzerten, in: Züricher Post, 2.11.1926, zit. n. Norbert Graf, Die Zweite Wiener Schule in der Schweiz. Meinungen – Positionen – Debatten, Kassel 2010, S. 120. 79 Igor Strawinsky mit Robert Craft, Erinnerungen und Gespräche, Frankfurt 1972, S. 91. 80 Bernard Gavoty, Bemerkungen über einige Pariser Konzerte. Zum Problem der Zwölftonmusik, in: Melos 14. 1946/47, S. 245–247, hier S. 247: »Vor allem aber umgeht die Zwölftonmusik nicht die gefährliche Klippe einer quälenden Monotonie. Soll man sagen Monotonie oder Übermaß der Abwechslung? Der Effekt ist der gleiche: unmäßige Langeweile.« 81 Hans Heinrich Eggebrecht, Musik verstehen, München 1995, S. 210. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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Hatte Webern die »großen Revolutionen« seines Lehrers gerühmt, so ist in Egge­brechts Abhandlung von umstürzlerischem Tun und Treiben nirgends mehr die Rede, dafür umso engagierter von einem »Paradigmenwechsel« von Musik und Musikverstehen.82 Ähnlich wie Eggebrecht hatte Arnold Schering bereits um 1920 auf seine Weise auf einen ›Paradigmenwechsel‹ aufmerksam gemacht, wenn er der gewohnten Ausdrucksmusik die Empfindungsfarbe einer »neuen« oder »jüngsten Ausdrucksmusik«, von ihm auch »›Klangausdruck‹« genannt, gegenüberstellte.83 Die Bruchlinie  – Ausdrucksmusik versus Klangausdruck  – war dem Musikdenken Adornos nicht minder vertraut, rückte er doch die konventionelle »Ausdrucksmusik« in Opposition zu einer »anderen Musik«. Schönberg habe, schrieb er 1932, »die Ausdrucksmusik des privaten bürgerlichen Individuums […] zur Aufhebung gebracht und eine andere Musik an ihre Stelle gesetzt, der zwar unmittelbare gesellschaftliche Funktionen nicht zukommen, ja die die letzte Kommunikation mit der Hörerschaft durchschnitten hat […]«.84

V. »Wirf weg, damit du gewinnst« Sucht man beim jetzigen Stand der Diskussion Antwort auf die Frage nach den Kommunikationschancen avancierter Musik, bietet sich die von Eggebrecht angedeutete Perspektive an, dass ein »befreites Hören« der Verständigung entgegenkommen könnte, ein Hören, »das befreit ist (und sich befreien muß) von den tonal objektivierten Sinndefinitionen und -erwartungen« (s. o.). Eben diese Antwort lässt sich tendenziell bis zu den Anfängen Neuer Musik zurückver82 Ebd., S. 66, 95 f., 210. – Dem von Eggebrecht konstatierten »Paradigmenwechsel« stehen konträre Ansichten entgegen, die hier nur angedeutet werden können. Vgl. Michael Walter, Hitler in der Oper. Deutsches Musikleben 1919–1945, Stuttgart 1995, S.  294: »Die ›Emanzipation der Dissonanz‹ war kein so einschneidendes Ereignis wie heute gern geglaubt wird. Vielmehr wurde nur theoretisch sanktioniert (und dann praktisch ausgeweitet), was vorher in der Sache, wenn auch meist weniger radikal, schon vorhanden war. Den geringen Differenzen der Materialität stand jedoch ein Publikum gegenüber, das diese geringen Differenzen als Paradigmenwechsel mißverstand.«; vgl. hierzu auch Anm. 50 des vorliegenden Beitrags. 83 Arnold Schering, Die expressionistische Bewegung in der Musik [1919], in: ders., Vom Wesen der Musik. Ausgewählte Aufsätze, hg. und eingeleitet von Karl Michael Komma, Stuttgart 1974, S. 319–345, hier S. 321, 324, 338 f. 84 Theodor W. Adorno, Zur gesellschaftlichen Lage der Musik [1932], in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 18, hg. v. Rolf Tiedemann, Darmstadt 1998, S. 729–777, hier S. 736 (Herv. v. Verf.). »Ohne irgend zu verharmlosen«, schrieb Adorno an anderer Stelle, »muß man sich vergegenwärtigen, welcher qualitative Sprung durch die neue Musik geschah, nicht nur um ihrer qualitativen Andersheit willen, sondern vor allem kraft dessen, was sie an Tonalität verlor. Nur wer das nicht zuschminkt, versteht, in welchem Sinn die moderne Musik radikal ist, und warum die Menschen so heftig gegen sie sich sträuben.« Ders., Schwierigkeiten in der Auffassung neuer Musik, S. 282. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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folgen, etwa anhand einer kritischen Stimme, die 1910 in Bezug auf Weberns Schaffen versicherte, man habe es mit einer Musik zu tun, »die einen Stimmungsbrocken (welcher Art immer) hinwirft und es dem Hörer überläßt, die Ergänzung und Erfüllung zu finden«.85 In die gleiche Richtung wies zehn Jahre später Eduard Erdmanns umsichtige Auseinandersetzung mit Schönbergs jüngstem Werk, die auf die Erwartungen der Hörer Rücksicht nahm. Als Pianist wusste er nur zu genau, was in den (als Paradigma Neuer Musik gerühmten) »Drei Klavierstücken« op. 11 auf die Hörer zukam: »Das dritte Klavierstück aus op. 11 ist z. B. Ausdruck einer Exstase [sic!], die mit der vollen Rücksichtslosigkeit und Unzurechnungsfähigkeit des subjektiv erhöhten Zustands auf den Zuhörer loshämmert, ihn unvorbereitet trifft und – vor den Kopf stößt«.86 Erdmann ließ die Hörer nicht im Stich und gab ihnen implizit einen Rat, wie sie am besten mit der Musik zurechtkämen. »Und der schöpferische Zuhörer wird wichtigster Faktor, wird dem Komponisten und dem schöpferischen Interpreten schaffend gleichgestellt. […] Von außen als Feinschmecker zu Schönberg kommen ist sinnlos […].«87 Es ist bemerkenswert, dass Erdmann davon absah, auf die Nachbesserung ästhetischer Bildung zu drängen. Er appellierte einzig und allein an die selbst-schöpferische Mittätigkeit, wie es vor und nach ihm andere mit anderen Worten taten. So gesehen könnte sich  – Produktion und Rezeption einander näherbringend – die Parole »Wirf weg, damit du gewinnst«88, die Adorno als Intention fortgeschrittener Künstlerästhetik hinstellte, zugleich als Anweisung adäquaten Hörens empfehlen.

VI. Neues Spiel und neue Szene Wenn man mit Johan Huizinga auf das Desaster blickt, das Georg Simmel von einer »Tragödie der Kultur« sprechen ließ,89 ist nicht zu unterschätzen, dass das konventionelle ›Spiel‹ oder ›Kulturspiel‹ von Musik in Mitleidenschaft ge­

85 Richard Specht, in: Die Musik, Mai-Heft 1910, zit. n. Walter Pass, Weberns Presse-Echo in den Jahren 1907 bis 1945, in: Ernst Hilmar (Hg.), Anton Webern 1883–1983. Eine Festschrift zum hundertsten Geburtstag, Wien 1983, S. 99–150, hier S. 104. 86 Eduard Erdmann, Von Schönberg und seinen Liedern, in: Melos 1. 1920, S. 207–208, hier S. 208 (Herv. v. Verf.). 87 Ebd., S. 207. 88 Theodor W. Adorno, Philosophie der neuen Musik [1949], in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 12, hg. v. Rolf Tiedemann, Darmstadt 1998, S. 193. 89 Georg Simmel, Wandel der Kulturformen [1916], in: ders., Brücke und Tür. Essays des Philosophen zur Geschichte, Religion, Kunst und Gesellschaft. Im Verein mit Margarete Susman hg. v. Michael Landmann, Stuttgart 1957, S. 98–104, hier S. 99: »Allein es scheint nun einmal das Wesen des inneren Lebens zu sein, daß es seinen Ausdruck immer nur in Formen findet, die eine Gesetzlichkeit, einen Sinn, eine Festigkeit in sich selbst haben, in einer gewissen Abgelöstheit und Selbständigkeit gegenüber der seelischen Dynamik, © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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zogen war,90 mit anderen Worten: dass ein auf freiwillig akzeptierten, wenn auch nicht unumstößlich gültigen (das heißt prinzipiell veränderbaren) Regeln beruhendes ›Spiel‹ (Definitions-Spiel von Musik) seine vormalige Geltung einbüßte.91 Die damit einhergehenden Irritationen bis hin zum lautstarken Tumult gefährdeten die Homogenität der ›Spielgemeinschaft‹, die sich auf ihrem zeitlich wie räumlich abgesonderten ›Spielplatz‹ (im Konzert beziehungsweise Konzertsaal) mit dem Einbruch der gewöhnlichen Welt – der des Unmuts, Protests, Streits und so weiter samt Polizeigewalt  – abfinden musste. All diesen Vorkommnissen entsprach, nebenbei bemerkt, die begriffliche Repräsentation: nämlich die un­aufhaltsame, nach 1910 einsetzende Karriere des Terminus Neue Musik. Geht man mit Huizinga der Frage weiter nach, wodurch das ›Spiel‹ verdorben war, fällt den Akteuren, die Konventionen brachen, die Rolle von Spiel­ verderbern zu: Der Spieler, der sich den Regeln widersetzt oder sich ihnen entzieht, ist Spielverderber. Der Spielverderber ist ganz etwas anderes als der Falschspieler. Dieser stellt sich so, als spiele er das Spiel, und erkennt dem Scheine nach den Zauberkreis des Spiels immer noch an. Ihm vergibt die Spielgemeinschaft seine Sünden leichter als dem Spielverderber, denn dieser zertrümmert ihre Welt selbst. Dadurch, daß er sich dem Spiel entzieht, enthüllt er die Relativität und Sprödigkeit der Spielwelt, in der er sich mit den anderen eine Zeitlang eingeschlossen hatte. Er nimmt dem Spiel die Illusion, die inlusio, buchstäblich: die Einspielung – ein bedeutungsschweres Wort! Darum muß er vernichtet werden, denn er bedroht die Spielgemeinschaft in ihrem Bestand. […] Auch in der Welt des hohen Ernstes haben es die Falschspieler, die Heuchler und Betrüger immer leichter gehabt als die Spielverderber: die Apostaten, die Ketzer und Neuerer und die in ihrem Gewissen Gefangenen. Es kann aber sein, daß diese Spieldie sie schuf. Das schöpferische Leben erzeugt dauernd etwas, was nicht selbst wieder Leben ist, etwas, woran es sich irgendwie totläuft, etwas, was ihm einen eigenen Rechtsanspruch entgegensetzt. Es kann sich nicht aussprechen, es sei denn in Formen, die etwas für sich, unabhängig von ihm, sind und bedeuten. Dieser Widerspruch ist die eigentliche und durchgehende Tragödie der Kultur.« 90 Die nachfolgenden Gedanken orientieren sich an Johan Huizingas Definition von Spiel: Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel, Reinbek 1987, S. 15–22, 173–180. 91 Theodor W. Adorno zählte u. a. das »Nicht-Mitspielen« zu den Kriterien Neuer Musik: »Ernst wird als Angriff, Schock empfunden und deshalb als sein Gegenteil, als Spaß registriert. Nur ist die ältere [Musik] in Europa durch Prestige gedeckt und erlaubt durch ihre idiomatischen Züge, daß man innerlich mitplappert, während in der neuen der Ernst, das Nicht-Mitspielen nackt sich hervorwagt.« Ders., Schwierigkeiten in der Auffassung neuer Musik, S.  289. Vgl. auch ders., Philosophie der neuen Musik, S.  46 f.: »Schönbergs Stücke sind die ersten, in welchen in der Tat nichts anders sein kann: sie sind Protokoll und Konstruktion in einem. Nichts ist in ihnen von den Konventionen übriggeblieben, welche die Freiheit des Spiels garantierten. Schönberg steht so polemisch zum Spiel wie zum Schein. […] Mit der Negation von Schein und Spiel tendiert Musik zur Erkenntnis. Diese gründet aber im Ausdrucksgehalt der Musik selber. Was die radikale Musik erkennt, ist das unverklärte Leid des Menschen.« © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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verderber ihrerseits nun sogleich wieder eine neue Gemeinschaft mit einer neuen Spielregel bilden. Gerade der Geächtete, der Revolutionär, der Mann des geheimen Klubs, der Ketzer ist außerordentlich stark im Gruppenbilden und hat dabei nahezu immer in hohem Grade spielhaften Charakter.92

Huizinga lag es vollkommen fern, den Wandel von Konzertinstitutionen des 20.  Jahrhunderts zu thematisieren, jedoch kennzeichnen seine allgemein ge­ haltenen Aussagen sehr treffend den Prozess von Fragmentierung, der auf die bürgerliche Musikkultur  – ihre sogenannte Hauptkultur oder Hochkultur­ szene  – unausweichlich zukam. Orientiert man sich zusätzlich am Sprachgebrauch, wie er Schönberg nahelag, lässt sich die Dynamik musikkulturellen Wandels in der Weise ausdrücken, dass die ›Spielverderber‹ im »eigentlichen musikalischen Leben« (von Oper und Konzert) mit seinem »regelmäßigen Publikum« auf Widerstände stießen, wodurch sie sich veranlasst sahen, ein »außerordentliches Publikum« in neuen ›Spielgemeinschaften‹, sprich in Sezessionen, einst auch inoffizielles Musikleben genannt, zu suchen.93 Der von Schönberg gegründete Wiener »Verein für musikalische Privat­ aufführungen« (1918–21), kurz Schönberg-Verein genannt, der sich die mustergültige Aufführung zeitgenössischer Musik zur Aufgabe machte, begriff sich als Prototyp von Sezession. »Das ist der erste Schritt«, schrieb Schönberg kurz nach der Vereinsgründung an Ferruccio Busoni, »zu weitgreifenden Reformen des Konzertlebens. Der erste Schritt – was daraus werden soll, kann noch niemand ahnen. Mein Wunsch wäre es, überall solche Vereine entstehen zu sehen. Das könnte segensreich wirken«.94 Der Verein mied alles, was im »eigentlichen musikalischen Leben« lästig fiel: den Kontakt zur Öffentlichkeit, die un­beschränkte Zugänglichkeit, die Berichterstattung der Presse und schließlich auch Lob oder Tadel im Konzertsaal.95 Es ist hier nicht der Ort, die Reichweite oder Tragfähigkeit von ­Huizingas Explikation von Spiel im Kontext traditioneller Musiktheorie oder in Aus­ 92 Huizinga, Homo Ludens, S. 20 f. 93 Im Gründungsaufruf der »Vereinigung schaffender Tonkünstler in Wien«, als dessen Hauptverfasser Schönberg gilt, hieß es 1904, es sei ihr Anliegen »daß die der Musik am nächsten Stehenden, die Schaffenden, nicht auf die Dauer vom eigentlichen musika­ lischen Leben ausgeschlossen bleiben«: zit. nach Reich, Arnold Schönberg, S.  27. Fünf Jahre später äußerte Schönberg gegenüber Ferruccio Busoni, er sei »viel lieber mit dem regelmäßigen Publikum in Verbindung, als mit dem außerordentlichen«; vgl. Jutta­ Theurich (Hg.), Briefwechsel zwischen Arnold Schönberg und Ferruccio Busoni 1903– 1919 (1927), in: Beiträge zur Musikwissenschaft 19. 1977, S. 163–211, hier S. 180; vgl. ferner: Harald Kaufmann, Anbruch des Jahrhunderts. Zur Inoffizialität der Wiener Schule, in: Fingerübungen. Musikgesellschaft und Wertungsforschung, hg. vom Institut für Wertungsforschung an der Hochschule für Musik und darstellende Kunst in Graz, Wien 1970, S. 50–65. 94 Theurich, Briefwechsel, S. 197 (Herv. v. Verf.). 95 Hans Heinz Stuckenschmidt, Neue Musik, Berlin 1951, S. 139 f. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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einandersetzung mit der Vielfalt von Musikdenken im 20. Jahrhundert zu reflektieren. Entscheidend ist an dieser Stelle vielmehr das sozialgeschichtliche Faktum, dass ein Paradigmenwechsel von Musik, wie Eggebrecht ihn hinstellte, die Institutionen der Konzertkultur nicht unberührt ließ und neben dem ›alten Spielplatz‹ ein ›neuer Spielplatz‹ heranwuchs. Wie schon angedeutet, gaben neue Spielgemeinschaften Antwort auf die Modernisierungsblockade des »eigentlichen musikalischen Lebens«. Näher besehen war die Idee der Sezession freilich kein Novum, sondern gehörte zu den Hinterlassenschaften des ausgehenden 19.  Jahrhunderts, das dem ›Programmkonservatismus‹ sporadisch mit Vereins- oder Konzertinitiativen entgegentrat.96 Neu war indes nach 1900 die Intensivierung und Universalisierung der Idee, national wie global, wofür nicht nur die 1921 gegründete »Internationale Gesellschaft für neue Musik« mit ihren Festen, Subsektionen und örtlichen Konzertunternehmen ein hinreichend deutliches Beispiel lieferte.97 In der Metropole Wien boten zwischen 1900 und 1945 mindestens 15 sezessionistische Initiativen ein Pendant zur Gegenwartsferne des sogenannten offiziellen Musiklebens.98 Im Deutschen Reich gründeten sich in den Jahren der Weimarer Republik in mindestens 27 Großund Mittelstädten rund fünfzig Vereine, Gesellschaften, Arbeitsgemeinschaften oder freie Konzertinitiativen für Neue Musik.99 Mühelos lässt sich nachvoll­ ziehen, dass Karl Jaspers in seiner Schrift »Die geistige Situation der Zeit« (1931) die Signatur des Musiklebens der ausgehenden Weimarer Republik wie folgt skizzierte: Musik ergreift heute die größte Zahl und zugleich die Besten. Aber sie ist im Unterschied von der Baukunst auch am rückhaltlosesten in der Reproduktion des Vergangenen. Diese ist der Kern ihrer Wirkung. Sie ist nicht getragen von der modernen Musik, die vielmehr eine für das Ganze mehr interessante als ergreifende, mehr versuchende als erfüllende Besonderheit bedeutet.100

Ihrem Selbstverständnis nach begriff sich die Sezession anfangs als impulsgebende Macht, die dem »eigentlichen musikalischen Leben« demonstrieren wollte, was zu tun sei. Sie glaubte an ihre Vorreiterfunktion und war gewiss, sich nach geraumer Zeit überflüssig zu machen. Indes trat genau das Gegenteil ein, dass Sezessionen sich international zu einem konstanten Faktor des Musiklebens verstetigten und das in Gang brachten, was später angesichts der fort­

96 Martin Thrun, Neue Musik im deutschen Musikleben bis 1933, Bd.  1, Bonn 1995, S. 29–37. 97 Anton Haefeli, Die Internationale Gesellschaft für Neue Musik (IGNM). Ihre Geschichte von 1922 bis zur Gegenwart, Zürich 1982. 98 Thrun, Eigensinn und soziales Verhängnis, vgl. hier das Kapitel »Urbanität und Isolation in Wien nach 1900«, S. 15 f. 99 Ders., Neue Musik im deutschen Musikleben bis 1933, Bd. 2, Bonn 1995, S. 656. 100 Karl Jaspers, Die geistige Situation der Zeit [1931], Berlin 1971, S. 123 f. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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dauernden Erosion des »eigentlichen musikalischen Lebens« als »Teilung der Kultur«101 diagnostiziert wurde. Die dem Gründungsaufruf der Wiener »Vereinigung schaffender Tonkünstler« (1904) entliehene Redeweise vom »eigentlichen musikalischen Leben« beweist, wie stark noch immer der Glaube an die bildungsbürgerliche kulturelle Vorherrschaft war, wenngleich diejenigen, die mit quasireligiösem Kunsteifer von Sezession zu Sezession zogen, am besten hätten wissen können, dass die Maßgeblichkeit einer alleinseligmachenden bürgerlichen Hauptkultur, die die Moderne zurückstieß, längst ihr Ende fand.102 Wenn demgegenüber die heutzutage weitverbreitete Ansicht zutreffen sollte (vieles spricht für sie), dass mittlerweile die Vielfalt und Koexistenz von Musik-Szenen zum Inbegriff enthierarchisierter Musikkultur geworden sei, wird man dennoch nicht außer Acht lassen können, dass die Neue-Musik-Szene von eigentümlicher Herkunft ist. Denn ein Merkmal unterscheidet sie ganz wesentlich von anderen Szenen: eigentlich würde sie viel lieber in einer anderen Szene, in der sogenannten Hochkulturszene zu Hause sein. So gesehen kommt der Neue-Musik-Szene der Status eines Supplements oder Appendix zu, was sich von anderen Teilkulturen – mögen sie Volksmusik, Jazz, Rock, Punk oder sonst wie heißen – wohl kaum behaupten lässt.

VII. Resümee Die ausgehend von der Macht und Ohnmacht »ästhetischer Polizei« diskutierten Aspekte musikkulturellen Wandels lassen sich in Bezug auf das Konzertleben der Weimarer Republik dahingehend zusammenfassen, dass die »andere Musik« vorübergehend im Fokus von Tumulten stand und sie – selbst wenn das 101 Helga de la Motte-Haber, Entwicklung und Bedeutung der Avantgarde nach 1945, in: Rudolf Stephan u. Wsewolod Saderatzkij (Hg.), Musikkultur in der Bundesrepublik Deutschland. Symposion Leningrad 1990, Kassel 1994, S. 64–70, hier S. 69 f.: »Zu Beginn dieses Jahrhunderts hatte eine Dissoziation der musikalischen Kultur in Teil­bereiche eingesetzt, indem sich zunächst die Neue Musik vom allgemeinen Musikbetrieb absonderte. In den 1950er Jahren läßt sich eine erneute Teilung, und zwar innerhalb der Neuen Musik beobachten, indem eine Avantgarde die sogenannte gemäßigte Moderne ausgliederte. Dieser Prozeß hat sich mit der Historisierung, die durch die Avantgarde erzwungen wurde, fortgesetzt. Die Teilung der Kultur ist nicht zu bedauern, weil sie Bewegung und Veränderung anzeigt.« 102 Vgl. hierzu die geschichts- und kulturwissenschaftliche Diskussion: Wolfgang J. Mommsen, Bürgerliche Kultur und künstlerische Avantgarde. Kultur und Politik im Kaiserreich 1870 bis 1918, Frankfurt 1994, S. 17, 106; Thomas Nipperdey, Wie das Bürgertum die Moderne fand, Stuttgart 1998, S.  72–76; Georg Bollenbeck, Die fünfziger Jahre und die Künste. Kontinuität und Diskontinuität, in: Georg Bollenbeck u. Gerhard Kaiser (Hg.), Die janusköpfigen 50er Jahre. Kulturelle Moderne und bildungsbürgerliche Semantik, Bd. 3, Wiesbaden 2000, S. 190–213, hier S. 200–202. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

Der Sturz ins Jetzt des Augenblicks

Applaus-Ritual letztlich siegreich blieb – der institutionellen Exklusion in die Arme lief, weshalb hochspezialisierte »Arbeitskonzerte« unfreiwillig mit einem anderen sozialen Ort vorliebnahmen, das heißt mit der Neuverwurzelung in Sezessionen, später in der Neue-Musik-Szene mit den ihr zugehörigen Kommunikationsgemeinschaften. Indirekt ist auf die Frage nach Kommunikationschancen insoweit Antwort gegeben, als die schöpferische Mittätigkeit der Zuhörer herausgefordert ist, jenseits von Bevormundung durch kulturelle Autorität aus dem Jetzt des Augenblicks das Beste für sich zu machen. Selbst wenn mit dem befreiten Hören die Erwartung eines Verstehens von musikalischem Sinn (als Mit- und Nachvollzugs eines Definitions-Spiels) zurückgedrängt ist, bleibt die Frage offen, inwieweit Verständigung erreichbar wäre. Die weiterer Diskussion schwer zugängliche Basis von Verständigung könnte im Daseins- oder Lebensgefühl disponiert sein, das Neigungen, Vorlieben, Geschmacksurteile und so auch musikalische Präferenzen vorstrukturiert. Aus der Sicht Furtwänglers – Dirigent und Komponist in einem – rührten die Manifestationen Neuer Musik, wie er 1932 beiläufig äußerte, »ob bewußt oder unbewußt, an das eigentümlich chaotisch-elementare Lebensgefühl, das vom modernen Menschen Besitz ergriffen hat«.103 Ihm dürfte ebenso wie Bourdieu bewusst gewesen sein, dass die Bourgeoisie von der Begegnung mit Musik als Kunst eine Bestätigung ihrer Selbstgewissheit erwartete – mit anderen Worten ausgedrückt: ein Wohlgefallen am schönen Spiel von Empfindungen.

103 Wilhelm Furtwängler, Die Klassiker in der Musikkrise. Rede beim Jubiläum der Ber­ liner Philharmonie 1932, in: ders., Ton und Wort. Aufsätze und Vorträge 1918 bis 1954, Wiesbaden 19542, S. 60–67, hier S. 64. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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Beyond the classics Welche neue Musik hörte das deutsche Publikum im Jahre 1910?

Eine der wesentlichen Veränderungen im Europa des späten 19. Jahrhunderts war die Fragmentierung von Gesellschaft und Kultur. Im Zuge des raschen Anstiegs der Bevölkerung und des sich beschleunigenden Wirtschaftswachstums im Zeitalter der Industrialisierung kam es zu einer Ausdifferenzierung der Gesellschaft, der Nationen, der sozialen und politischen Klassen, der Altersgruppen und der kulturellen Werte. Dieser grundlegende Wandel hatte zur Folge, dass die Kommunikation innerhalb der Gesellschaft zunahm, dadurch aber für manche Gruppen schwieriger wurde. Zu erkennen sind oft gewalttätige Formen politischer und kultureller Aktivitäten in der Öffentlichkeit. Diese Entwicklung nach 1900 war von europaweiten Streiks und nationalistischen Bewegungen geprägt und fällt in die Periode unmittelbar vor dem Ausbruch eines sogenannten »zweiten Dreißigjährigen Krieges« ab 1914.1 Obwohl die Musikkultur nicht direkt von diesen gewaltsamen Auseinandersetzungen beeinflusst wurde, kam es seit der Mitte des 19. Jahrhunderts – auch unter dem Eindruck dieser Umwälzungen – zu einer Ausdifferenzierung von sozialen Praktiken und kulturellen Geschmäckern. Die idealistische neue Welt der klassischen Musik entfernte sich von der zunehmend kommerzialisierten Welt der Oper und der Konzerte, mit der sie eigentlich seit jeher verbunden war. Veranstaltungsorte, die Unterhaltungsmusik anboten, etablierten sich in Form der britischen music halls, der französischen cafés concerts und der deutschen und österreichischen Variétés. Eine der extremsten Veränderungen fand innerhalb der Welt der klassischen Musik statt: die Gewichtsverlagerung im Repertoire von neuen Werken hin zu den etablierten Klassikern. Obwohl diese Veränderung bereits in den 1840er Jahren begann, wurde sie durch eine kritische Phase ihrer Entwicklung im Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg besonders sichtbar. Um 1900 kam im Publikum eine zunehmende Feindseligkeit gegenüber neuer Musik auf: Das klassische Repertoire im Konzertsaal und in der Oper war in der öffentlichen Wahrnehmung und in den Erwartungshaltungen so fest verankert, dass zeitgenössische Musik den traditionellen Kommunikationsprozess zwischen Ausführenden und­ 1 Sigmund Neumann, The Future in Perspective, New York 1946; Anthony Shaw u. Ian Westwell, The World in Conflict. 1914–1945, New York 2000. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

Beyond the classics

Publikum bedrohte. Eine neu entstehende Avantgarde von Komponisten und Kritikern etablierte Veranstaltungen jenseits der traditionellen Musikvereine, die im vergangenen Jahrhundert die Entwicklung der Musikkultur wesentlich mitgestaltet hatten. Dieser Aufsatz wird diese Entwicklungen nachzeichnen. Der Blick richtet sich dabei auf wichtige Kompositionen zeitgenössischer Komponisten, die bei Konzerten der deutschen Musikvereine im Herbst 1910 aufgeführt wurden. Dazu wird eine Sammlung verschiedener Konzertprogramme von Veranstaltungen aus dem Zeitraum zwischen 1890 und 1940 genutzt, die von dem Leipziger Musikverlag Breitkopf & Härtel angelegt wurde.2 Die Programme aus den Jahren 1900 bis 1914 haben sich in der British Library erhalten und sind über die Datenbanken der Gale Group online verfügbar. Der Datensatz, den ich für diesen Aufsatz daraus erstellt habe, umfasst 398 Programme zu Konzerten, die zwischen dem 14. September und dem 15. November 1910 in 95 Städten in Deutschland und in der deutschsprachigen Schweiz aufgeführt wurden. Die Daten werfen einige grundsätzliche Fragen auf: In welchem Verhältnis standen Klassiker des Repertoires und neue Werke bei solchen Veranstaltungen zueinander? Welche Komponisten und musikalischen Genres waren am häufigsten vertreten? Wie war die Einstellung des Publikums zu neuer Musik insgesamt in dieser Zeit? Die Musiker nutzten drei Kommunikationsstrategien  – letztlich Überzeugungsversuche –, um das Publikum zum Hören neuer Werke zu ermutigen. Erstens kam es zu einer moralischen Wertschätzung der Aufführung neuer Werke im späten 19.  Jahrhundert, die im Gegensatz zur früher selbstverständlichen Annahme stand, dass neukomponierte Stücke die größte Aufmerksamkeit erhielten. Deshalb wurden Stücke von lebenden Komponisten oft mit mehreren Klassikern kombiniert, was eigentlich den lebenden Komponisten ehren sollte, ihn de facto jedoch zurücksetzte. Zweitens blieben gewisse Gattungen populär, wenn sie in einen traditionellen Rahmen versetzt wurden – Lieder, virtuose Stücke und Auszüge aus dem Musiktheater. Eine bemerkenswerte Anzahl von Konzerten bot hauptsächlich solche neuen Werke an, da Komponisten durch diese die Kommunikation zum Publikum aufrechterhalten konnten. Drittens gingen die Komponisten dazu über, Konzerte, die fast nur neue Werke enthielten, selbst zu veranstalten. Diese Konzerte unterschieden sich in ihrem Programm und ihrem Publikum stark von den zwei anderen Konzerttypen. Dass die Hörer bei diesen Konzerten in der Regel Förderer, Kollegen und Studenten der Komponisten waren, veranschaulicht das Kommunikationsproblem zwischen den Komponisten und einem breiten Publikum. 2 Vgl. »Konzert-Programm-Austausch« in: British Theatre, Music, and Literature. High and Popular Culture, unter: http://ncco.galegroup.com; vgl. auch: Konzertprogramme der Gegenwart, Frankfurt 1910–1920; und: Musikbuch aus Österreich. Ein Jahrbuch der Musikpflege in Österreich u. d. bedeutendsten Musikstädten d. Auslandes, Wien 1904–1913. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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Die Krise neuer Musik zeichnete sich deutlich früher ab, als heute zumeist angenommen wird. Wie ich in einer kürzlich erschienenen Studie dargelegt habe, wurden manche Komponisten aufgrund der Präferenz für klassische Repertoires in Orchester- und Virtuosenkonzerten schon ab 1840 mit einem Rückgang ihrer Aufführungszahlen konfrontiert.3 Nachdem das Interesse an neuer Musik im Konzertbereich bis 1870 verschwunden war, entwickelte sich unabhängig davon ein ähnlicher Trend in der Opernwelt, in der die Werke von Wolfgang Amadeus Mozart, Gioachino Rossini, Daniel Auber, Gaetano Donizetti und Giacomo Meyerbeer derart beliebt waren, dass sie die wenigen neuen Produktionen, die in Opernhäusern inszeniert wurden, gänzlich in den Schatten stellten.4 Komponisten begannen, zum Schutz ihrer Interessen Gesellschaften zu gründen, wie zum Beispiel die Society for British Musicians (1834), den Allgemeinen Deutschen Musikverein (1861, ADMV), und die Société de la Musique Française (1871). Konzertformen kamen auf, die neuen Werken gewidmet waren und von einzelnen Komponisten oder deren Gesellschaften veranstaltet wurden. Diese Entwicklung war Bestandteil der sich nach 1890 abzeichnenden musikalischen Moderne, was den deutschen und österreichischen NovitätenKonzerten oder Kompositions-Abenden neuen Auftrieb gab. Martin Thrun und Esteban Buch haben die Entwicklung dieser Bewegung im Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg besonders ausführlich diskutiert.5 Diese Darstellung der Ereignisse ist jedoch bis zu einem gewissen Grad eine Vereinfachung. Da die traditionelle Hegemonie zeitgenössischer Musik die Musikkultur für so lange Zeit bestimmt hatte, hätte sich der während des 19. Jahrhunderts zunehmende Fokus auf den klassischen Kanon zu einem bestimmten Zeitpunkt durchaus auch wieder umkehren können. Es scheint, dass bedeutende Orchester durch das Publikum unter Druck gesetzt worden waren, den Trend hin zu den Klassikern umzukehren, da im Jahr 1880 der Anteil solcher Werke in mehreren Konzertreihen viel niedriger war. Richard Wagner, Johannes Brahms, Charles Gounod, Bedřich Smetana und Peter Iljitsch Tschaikowsky wurden sehr beliebt. Virtuose Komponisten – Camille Saint-Saëns, August Wilhelmy und Ignacy Jan Paderewski – lockten weiterhin besonders große Zuschauermengen an. In der Tat rückten Komponisten in dem Moment stärker ins Rampenlicht der Öffentlichkeit, in dem sich Virtuosen weniger dem Komponieren widmeten. 3 William Weber, Great Transformation of Musical Taste. Concert Programming from Haydn to Brahms, Cambridge 2008. 4 Nach einem unveröffentlichen Vortrag von Christophe Charle, La constitution d’un panthéon de la musique et de l’opéra au XIXe siècle, Colloque: Reconnaissance et consécration artistiques, Poitiers, 7.–9.11.2012. 5 Martin Thrun, Neue Musik im deutschen Musikleben bis 1933, Bonn 1995; ders., Eigensinn und soziales Verhängnis. Erfahrung und Kultur »anderer Musik« im 20. Jahrhundert, Leipzig 2009. Siehe auch: Esteban Buch, Le cas Schönberg. Naissance de l’avantgarde musicale, Paris 2006. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

Beyond the classics

Um 1900, zu einem Zeitpunkt also, an dem eine ganze Komponistengeneration seit dem Aufstieg des klassischen Repertoires schon wieder am Ableben war, hatten zeitgenössische Werke noch einmal an Prestige gegenüber der Klassik verloren. Die zahlenmäßig am häufigsten aufgeführten Werke der Jahre 1850 bis 1890 dominierten noch immer die Orchesterprogramme und neue Kammermusikstücke erschienen im Vergleich zum Kernrepertoire, welches sich im frühen 19. Jahrhundert etabliert hatte, zunehmend fremd. Technische Gewohnheiten begrenzten die Aufnahme neuer Werke: Virtuosen, die auswendig spielten, neigten dazu, nur Klassiker anzubieten und Sängerinnen und Sänger begannen ihre Programme zu historisieren und in chronologischer Reihenfolge zu ordnen. In der Tat brachte die zunehmende Popularität von modernen Tanztruppen sowie Ensembles für alte Musik die Intelligenzija dazu, der neuen Musik den Rücken zu kehren. Selbst die Komponisten, deren Werke im Repertoire verblieben, erreichten darum nicht den unangefochtenen Status eines Mozart oder Beethoven, auch da Wagner als zu undiszipliniert, Gounod und Tschaikowsky als zu sentimental und Brahms als zu obskur galten. Nachdem das Repertoire der klassischen Musik eine gewisse hegemoniale Autorität in Fragen des musikalischen Geschmacks erlangt hatte, nahm die moralische Verpflichtung für Musikkritiker, die Aufführung von Stücken lebender Komponisten zu bewerben, immer mehr zu. Kritiker, die mit neuer Musik sympathisierten, ließen dieses neue Prinzip in eine Art Moralpredigt ein­f ließen und erklärten, dass man trotz der Beliebtheit der Klassiker verpflichtet sei, neuer Musik eine Chance zu geben. Sie erinnerten an die althergebrachte Wertschätzung zeitgenössischer Musik, und Komponisten drängten Veranstalter dazu, neue Stücke in die Konzertprogramme aufzunehmen. Man muss dabei bedenken, dass ein solcher Verweis auf eine moralische Verpflichtung noch im 18. Jahrhundert undenkbar gewesen wäre, da in dieser Zeit der Vorrang zeitgenössischer Musik als selbstverständlich angenommen wurde. Die Vorstellung, dass Konzertveranstalter moralisch zur Darbietung aktueller Werke verpflichtet seien, muss nicht notwendigerweise auf einen Modernismus verweisen. Dennoch stimulierte die wachsende historische Lücke zwischen den Klassikern und den zeitgenössischen Werken eine Vielzahl von Vorstellungen über moderne Musik; ein Problem, für welches Walter Frisch und Antonius Bittmann eine Reihe von Begriffsalternativen vorgeschlagen haben.6 Um 1900 kam in der Presse kategorische Kritik an der modernen Musik auf, die jedwede Verpflichtung zur Aufführung neuer Musik ablehnte. Neue Musik im Allgemeinen wurde jetzt ipso facto verworfen. Kritiker konnten mit dem Argument ihrer Fremdheit neue Musik in jeglicher Form kritisieren – ob stilis­ tisch konservativ oder progressiv. Das Standardrepertoire der Klassiker war dem Publikum so vertraut geworden, dass fast alles Unbekannte verdächtig be6 Walter Frisch, German Modernism. Music and the Arts, Berkeley, CA 2005, bes. S. 8–14; Antonius Bittmann, Max Reger and Historicist Modernisms, Baden-Baden 2004. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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äugt wurde. Eine Leipziger Zeitschrift für Amateurchor-Gesellschaften äußerte sich zum Beispiel 1913: »Sie wollen also noch mehr moderne Musik? Hatten wir nicht schon genug? Ist es nicht offensichtlich, dass sobald ein Dirigent mit einem neuen Werk anfängt, der Saal sofort leer wird und dass man in dieser Weise das Publikum am Besten abschreckt?«7 Berichte über englische Chor­ festivals lasen sich ähnlich. Die Besucherzahlen der jährlichen Veranstaltungen sanken stetig und oft wurde den neuen Oratorien die Schuld daran zu­ gewiesen. Ein Kritiker schrieb: »Serious modern composers and their works never appeal to our people; and their music is always so difficult and costs much more money.«8 Die wachsende Skepsis gegenüber neuer Musik wurde nicht von einer radikalen Avantgarde verursacht. Zugegebenermaßen lassen sich frühe Neigungen zum Modernismus – als »ambivalenter« Form, wie Frisch sie definierte – seit den 1890er Jahren beobachten, vor allem in der Musik von Richard Strauss.9 Aber weder er noch Arnold Schönberg oder Igor Stravinsky hatten sich vor circa 1909/10 von den traditionellen Praktiken abgewandt und ihre Musik war vor den Causes célèbres über »Le Sacre du Printemps« und Schönbergs »Skandalkonzert« im Jahr 1913 noch nicht sehr bekannt.10 Dennoch wurden bereits vor 1913 Programme, die ausschließlich neue Werke umfassten, immer kontrovers rezipiert. Nach einem Konzert des Neuen Münchener Streichquartetts in Leipzig wurde von einem Kritiker der sozialdemokratischen Leipziger Volkszeitung bedauert, dass »die vier Herren uns ein komplett modernes Programm anboten«. Ein Werk entsetzte ihn besonders, denn der Komponist Jan Ingehoven »verschwendet das musikalische Talent, das er hat, in dem er zu weit in die moderne Richtung geht.«11 Deutsche Komponisten befanden sich in einer besonders schwierigen Situation, da ihr Land so eng mit der klassischen Musiktradition verbunden war. Wie Karen Painter hervorgehoben hat, erschien um 1900 eine ganze Reihe von­ Büchern führender Musikkritiker, die aus Angst vor dem Modernismus schrieben und »the predicament of a society enthralled with what tradition had come to mean« aufzeigten.12 Ein britischer Kritiker betrachtete die Krise der deutschen Komponisten als prototypisch für die Situation in ganz Europa: 7 Richard Oehmichen, Mehr moderne Musik fürs moderne tägliche Leben, in: Deutsche Sängerbundeszeitung, 7.6.1913, S. 374. 8 Art. Weird Opinions. First & Second Cathedral Organist, in: Musical Opinion and Musical Trade Review, September 1910, S. 842. 9 Frisch, German Modernism, S. 7–35. 10 Thrun, Neue Musik, S. 93–220, sowie: ders., Eigensinn, S. 15–205; Buch, Le cas Schönberg, S. 235–258. Schönberg war bis zu seiner Tournee 1911 selten außerhalb Österreichs unterwegs. 11 Leipziger Volkszeitung, 3.2.1913, S. 14. 12 Karen Painter, Symphonic Aspirations. German Music and Politics. 1900–1945, Cambridge, MA 2005, S. 12. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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Germany is living on its past: a great and glorious past, it is true, but one that from the very nature of things cannot prolong itself far into the future […] Nor are the other great European schools of music in much better case. A kind of dry rot in matters musical seems to be spreading all over the continent; a lethargy succeeding the over­ exertion and the strenuous energy of the past.13

Zur gleichen Zeit schrieb eine bemerkenswerte Anzahl von Kritikern gegen diesen Trend an und wirkte als Unterstützer der neuen Musik. Die Frage »Was wird mit den jungen Komponisten geschehen?« wurde zu einem Refrain in der neuen Musikwelt. In einem Leitartikel des Musikalischen Wochenblattes schrieb der Autor 1910: Schubert, Schumann, Brahms, Wolf, R. Strauss  – alles andere ist lästig. Es ist so schwierig, etwas Neues und Gutes vor das Publikum zu bringen. Und was wird also mit jungen Komponisten passieren? Sänger sagen, dass sie alles was sie dafür tun könnten, schon durch die Aufführung von Stücken von Wolf und Strauss getan haben.14

I. Konzertformen mit zeitgenössischer Musik Martin Thrun hat in seiner Untersuchung »Neue Musik im deutschen Musikleben« den Aufstieg der Konzerte für Neue Musik grundlegend analysiert. Er zeigt darin, dass die Anzahl der Konzerte mit neuen Werken, die hauptsächlich von Kammermusikgruppen gegeben wurden, in den ersten zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts allmählich anstieg und die von Arnold Schönberg und seinen Kollegen ausgelöste Musikbewegung stark beeinflusste.15 Wie entstand diese Konzertform im Laufe des 19.  Jahrhunderts? Ein etablierter Komponist dieser Zeit hätte wohl auch ein Konzert mit ausschließlich eigenen Werken veranstaltet – Mozart, Beethoven, Hummel, Berlioz und Louise Farrenc haben das tatsächlich gelegentlich versucht.16 Um 1900 hätte ein deutscher Komponist wohl einen Kompositions-Abend ausgerichtet oder, da nur wenige die Mittel dafür hatten, mehrere Komponisten hätten zusammen ein Novitäten-Konzert organisiert. Es ist schwierig festzustellen, wer solche Veranstaltungen besucht hat. Wie groß war die Anzahl der Besucher, die nicht zur Gruppe der Musik­ studenten, Komponisten und Förderer gehörte? Die Besucherzahl hing natürlich auch von der Größe und Verlässlichkeit des Fördererkreises ab, den der Komponist aufbauen konnte. Eine andere Art von Konzert ging aus den Organisationen hervor, die sich besonders für die Interessen der Komponisten ein13 C. Elvey Cope, The Future of Music, and the Final Aim of Art, in: Musical Opinion and Musical Trade Review, Juni 1910, S. 621. 14 Musikalisches Wochenblatt, 29.9.1910, S. 1. 15 Thrun, Die Neue Musik, S. 13–37. 16 Weber, Great Transformation of Musical Taste, S. 56–57, 125, 149, 167. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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setzten. Nach seiner Gründung in Weimar 1861 veranstaltete der Allgemeine Deutsche Musikverein jährlich ein Festival, das eine wichtige Orientierung für die Komponisten bot.17 Die Treffen wurden weithin besprochen und waren eine angesehene Institution. Als das Festival 1912 im weit entfernten Danzig stattfand, hielt eine Leipziger Musikzeitschrift fest, dass die fünf Konzerte »nach Meinung des Publikums nicht enttäuscht hatten.«18 Der einzige Kritikpunkt des Rezensenten Carl Fuchs bestand darin, dass keine Sinfonie eines lebenden deutschen Komponisten aufgeführt und die Musik von Anton Rubinstein anscheinend vergessen worden war. Es ist jedoch fraglich, ob die Festivals von jenen Hörern besucht wurden, die auch die traditionellen Musikvereine unterstützten. Im Großen und Ganzen brachten Komponistenkonzerte dieser Art eine Trennung der Musikkultur mit sich. Sie schieden Aufführungen neuer Musik vom Repertoire der traditionellen Musikvereine. Die Veranstaltung eines Novitäten-Konzerts oder eines Kompositions-Abends war ungewöhnlich für solch traditionelle Musikvereine, wenngleich, wie zu zeigen sein wird, ein Programm dennoch auch aus überwiegend neuen Werken bestehen konnte. Ich habe den Herbst 1910 für die Auswertung der Datenbank gewählt, weil dieser Zeitpunkt den Vorabend einer neuen Ära der modernen Musik markierte. Martin Thrun hat gezeigt, dass in diesem Jahrzehnt die Musikpolitik in eine neue Periode eintrat, ausgelöst durch die »Führer-Entführung«, die Entthronung Richard Strauss’. Dies führte zu einer Neubewertung der Komponistengeneration um Strauss, die nun nicht mehr als »die Moderne« betrachtet wurde, sondern als »die ältere Moderne«, die »frühere« oder »ehemalige« Moderne.19 Der Aufstieg von Arnold Schönberg und seinen Kollegen zu großer Berühmtheit in Europa veränderte die gesamte Situation des Komponistenberufes; wie Thrun zeigt, trat die Idee der »Neuen Musik« in Abgrenzung zum vorherigen Verständnis zum ersten Mal als eigenständiger Bereich auf. Der Konzertprogramm-Austausch wurde vom Verlag Breitkopf & Härtel im Jahr 1890 ins Leben gerufen, um den Abonnenten Programme zugänglich zu machen, die von Musikgesellschaften und Ensembles aus mindestens 250 Orten in Europa, Russland und dem amerikanischen Kontinent eingesendet wurden. Der Austausch existierte in Form einer Zeitschrift; Abonnenten reichten ihre Programme ein und bekamen 36 Ausgaben pro Jahr, die jeweils fünfzig bis hundert in alphabetischer Reihenfolge nach Ort sortierte Programme beinhalteten. Es sind nur noch wenige Programmsätze der Serie vorhanden, diese stellen jedoch eine der reichsten Informationsquellen zum Musikleben innerhalb 17 Die Vorsitzenden und die Jahresprogramme des Allgemeinen Deutschen Musikvereins wurden veröffentlicht von James Deaville, unter: http://www3.carleton.ca/admv/index. html. 18 Musikalisches Wochenblatt. Organ für Musiker und Musikfreunde, 13.6.1912, S. 337. 19 Thrun, Neue Musik, bes. S. 18 f. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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eines Zeitraums von fünfzig Jahren dar. Das Projekt ging wahrscheinlich aus den entschlossenen Bemühungen der kaiserlichen Regierung hervor, deutsche Musik auf einer internationalen Ebene zu fördern.20 Rupert Ridgewell muss für seine Leistung bei der Zusammenstellung der Programme aus dem Zeitraum von 1900 bis 1914 gedankt werden.21 Wer wählte das Repertoire für solche Konzerte aus? Wer war damals verantwortlich für die Zukunft der neuen Musik? Ein entscheidender Punkt war, dass enge Verbindungen zwischen den Konzertveranstaltern und dem Publikum bestanden, welches die Karten schlussendlich kaufte. Obwohl die Mehrheit der bedeutenden europäischen Orchester von ihren wichtigsten Mitgliedern geleitet wurde, wurden etwa die Gewandhauskonzerte in Leipzig von einer Gruppe wohlhabender Amateure organisiert, wie dies auch in einigen anderen Konzertgesellschaften der Fall war. Es ist davon auszugehen, dass der Direktor eines Musikvereins prominente Mitglieder seines Publikums bezüglich der Auswahl von Komponisten und deren Werken konsultierte und so als Hauptvermittler zwischen dem Publikum und den Komponisten agierte. Außerdem spielten Konzertagenten eine zunehmend wichtige Rolle im allgemeinen Auswahlprozess.22 Die Agenten dürften die Bedeutung der reisenden Virtuosen gesteigert haben, denn diese führten das klassische Standardrepertoire überall auf und hatten kaum zeitgenössische Musik – nicht einmal eigene – im Programm. Wieviel und welche neue Musik hörte das Konzertpublikum im Jahre 1910? Um diese Fragen beantworten zu können, muss die Art und Weise analysiert werden, wie in den Konzertprogrammen Werke verschiedener Epochen, Stile und Genres kombiniert wurden. Musiker und Konzertagenten hatten ein feines Gespür dafür, wie sie mit dem Publikum durch die Programmgestaltung zu kommunizieren hatten und passten traditionelle Gewohnheiten einer dynamischen Musikwelt an. Ihre Aufgabe bestand in der Vermittlung zwischen potentiell widersprüchlichen Interessen und Vorlieben, wobei der Einfluss von Komponisten, Musikern, Kritikern und aktiven Publikumsmitgliedern berücksichtigt werden musste. Wie zu sehen sein wird, hatten viele Konzerte keine Werke von lebenden Komponisten im Programm und noch seltener Werke, die nur wenige Jahre alt waren. Die moralische Verpflichtung, zumindest gelegentlich neue Musik zu spielen, führte dazu, dass es einige Konzerte gab, bei denen ein oder zwei aktuelle Werke aufgeführt wurden. Es zeigt sich jedoch auch, dass 20 Jessica C. E. Gienow-Hecht, Sound Diplomacy. Music and Emotions in Transatlantic Relations. 1850–1920, Chicago 2005, S. 3, 15–16, 20–21, 27–38. 21 Rupert Ridgewell, Konzertprogramm-Austausch. Breitkopf und Härtel and the Politics of Cultural Exchange. 1893–1941 (im Erscheinen). 22 William Weber, From the Self-Managing Musician to the Independent Concert Agent, in: ders. (Hg.), The Musician as Entrepreneur, 1700–1914. Managers, Charlatans and Idealists, Bloomington 2004, S. 105–129; ders., The Concert Agent and the Social Transformation of Concert Life, in: Hans Erich Bödeker u. a. (Hg.), Organisateurs et formes d’organisation du concert en Europe, 1700–1920, Berlin 2008, S. 83–97. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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eine große Anzahl von Programmen neue und alte Werke gleichermaßen enthielten und eine bemerkenswerte Anzahl fast nur neue Werke in das Programm aufnahm. Tabelle 1: Anzahl von Konzerten nach Anteil der gestorbenen und lebenden Komponisten Programm/Komponisten

Anzahl der Konzerte

Anteil

Alle gestorben

184

46 %

1 oder 2 lebend

100

25 %

Gemischt

71

18 %

Überwiegend lebend

35

8 %

Promenadenkonzerte

8

2 %

398

100 %

Gesamt

Tabelle 1 zeigt die Verteilung der Konzerte in Abhängigkeit vom Anteil der Werke verstorbener und noch lebender Komponisten am Konzertprogramm. Die 398 Konzerte wurden in 95 Städten in Deutschland und in der deutschsprachigen Schweiz zwischen dem 15. September und dem 15. November 1910 aufgeführt und die Konzertprogramme zum Konzertprogrammaustausch von Breitkopf & Härtel geschickt. Rund achtzig Prozent wurden von Musikvereinen eingeschickt, der Rest stammt von Konzerthäusern oder Veranstaltern, die in enger Verbindung mit den Vereinen standen. Ein markanter Anteil von 46 Prozent umfasste ausschließlich Werke verstorbener Komponisten, die besonders häufig bei Orchesterkonzerten gespielt wurden. Drei weitere Kategorien wurden durch die Programmgestaltung festgelegt. Die übliche Platzierung moderner Stücke in der Mitte oder am Ende einer Gruppe impliziert eine Unterordnung unter das kanonische Repertoire. 1) Hundert Programme präsentierten unter insgesamt fünf bis zehn Stücken ein bis zwei von lebenden Komponisten. Diese Werke wurden üblicherweise gegen Ende des Konzerts gespielt, bildeten aber selten das Schlussstück. 2) In 71 Programmen waren die Werke noch lebender und bereits verstorbener Komponisten mehr oder weniger gleich stark vertreten, wobei die neuen Werke für gewöhnlich in der Mitte des Programms platziert waren. Ich zähle hierzu auch Programme von Streichquartetten, wenn eines von drei Werken von einem lebenden Komponisten stammte, da in diesem Zusammenhang bereits ein einziges zeitgenössisches Stück große Bedeutung hatte. 3) 35 Programme umfassten fast ausschließlich die Werke lebender Komponisten und wurden nur durch ein bis zwei Werke bereits verstorbener Tonsetzer ergänzt. Wie noch zu sehen sein wird, boten diese Konzerte tendenziell andere Genres dar als die Konzerte mit überwiegend klassischem Repertoire. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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4) Konzerte, die den Konventionen der Promenadenkonzerte folgten, waren bezüglich ihrer Werkauswahl eher individuell und besonders international. Es muss deutlich mehr solcher Konzerte gegeben haben als die acht Beispiele aus diesem Quellenkorpus, da sie im Veranstaltungsprogramm der meisten Städten einen hohen Rang einnahmen. Die Musikgesellschaften, die ihre Programme zum Austausch einschickten, mieden solche Programme vermutlich, da sie den hochfliegenden Ansprüchen der Vereinigungen nicht entsprachen. Tabelle 2: Anzahl der Konzerte, in denen Musik führender Komponisten gespielt wurde (kursiv: geboren 1830–1843) Komponist

Anzahl der Konzerte

Strauss

59

Saint-Saëns

40

† Wolf

34

Tschaikowsky

30

Reger

27

Goldmark

21

Grieg

17

Bruckner

15

† Dvořák

13

Smetana

13

Draeseke

13

Debussy

12

Rachmaninoff

6

Schillings

6

Mahler

3

Pfitzner

2

Tabelle 2 zeigt die Häufigkeit, mit der führende Komponisten in den 398 Programmen genannt wurden. In der zwischen 1830 und 1843 geborenen Generation kamen Tschaikowsky und Saint-Saëns deutlich häufiger zur Aufführung als Goldmark, Grieg, Bruckner, Dvořák, Smetana oder Draeseke, allerdings könnte dies eine Besonderheit für diese Zeit sein (Tschaikowskys Kammermusik wurde auffallend oft aufgeführt). Dass vierzig Konzerte Stücke von Camille Saint-Saëns enthielten, ist besonders bemerkenswert und zeigt, dass er ein © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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früher Neoklassizist war; alle seine Werke waren mindestens dreißig Jahre alt, es handelte sich hauptsächlich um Konzerte aus den späten 1850er Jahren wie die »Introduction et Rondo capriccioso« (1863) und Dahlilas Arie aus »Samson et Dahlila« (1877).23 Auffällig ist, dass die mitteleuropäischen Komponisten dieser Generation in Bezug auf die Anzahl von Konzerten nahe beieinander lagen. Richard Strauss und Max Reger waren außerdem die einzigen lebenden Komponisten, denen ein eigenes Konzert gewidmet wurde, was ansonsten nur für Beethoven, Schumann, Wagner, Brahms und den kurz zuvor verstorbenen Hugo Wolf zutraf. Darüber hinaus ist bemerkenswert, dass Stücke von Claude Debussy in zwölf Programmen aufgeführt wurden, während Max von Schillings, Gustav Mahler und Hans Pfitzner sechsmal, dreimal, beziehungsweise zweimal gespielt wurden.

II. Vergleich zwischen Konzertprogrammen im Hinblick auf zeitgenössische Musik Es stand zu erwarten, dass sich in mehr als 46 Prozent der Programme ausschließlich klassische Werke finden würden, da die Kanonbildung zu dieser Zeit einen Höhepunkt in ihrer Geschichte erreichte. Die Trias aus Haydn, Mozart und Beethoven kam öfter vor als alle anderen Kombinationen und war in der Regel mit Sinfonien und Streichquartetten vertreten. »The symphony became a refuge from modernism«, konstatiert Karen Painter, da ein »traditional symphonic paradigm«, wie am Beispiel von Beethovens »Eroica« am deutlichsten zu sehen ist, zentral im Denken über Kanons in ähnlichen Genres wie dem Streichquartett wurde.24 So wurden bei einem Philharmonischen Konzert in Bremen eine Sinfonie von Haydn in D-Dur sowie die Siebte Sinfonie von Beethoven und dazwischen ein Klavierkonzert von Mozart in G-Dur (KV 453) dargeboten. Viele klassische Konzerte waren auf Komponisten aus dem deutschsprachigen Raum und auf eine kurze Zeitperiode beschränkt. Ein Programm der Museums-Konzerte in Frankfurt am Main folgte der üblichen Chronologie und bot das Konzert für Streichorchester in g-Moll von Händel, »Vom Widder strahlet jetzt« aus Haydns »Die Jahreszeiten«, die »Eroica«-Sinfonie und Lieder von Schubert. Die hochklassigen Orchester neigten am häufigsten dazu, sich auf klassische Programme mit deutschen Komponisten zu beschränken. Die Saison 1909/10 des Leipziger Gewandhausorchesters veranschaulicht diesen Trend: Unter den zwanzig Konzerten hatten neun kein einziges Werk eines lebenden Komponisten im Programm; zehn nur eines und ein Konzert beinhaltete zwei zeitgenössische Stücke. Im Vergleich dazu umfassten die Konzerte von zweit23 Nach einem unveröffentlichten Vortrag von Steven Huebner, Classic, Romantic, Aesthetic. Annual Meeting: American Musicological Society, New Orleans, 1.–4.11.2012. 24 Painter, Symphonic Aspirations, S. 25. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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rangigen Orchestern in den meisten Großstädten mehr zeitgenössische Werke – zum Beispiel die Winderstein-Konzerte in Leipzig. Jedoch enthielt zumindest die Hälfte der Programme in dieser Sammlung mindestens ein Stück, das von außerhalb Deutschlands oder Österreichs kam. Diese Programme beinhalteten nicht nur Werke von Saint-Saëns, Debussy und Tschaikowsky, sondern auch von Komponisten wie zum Beispiel A ­ ndré ­Grétry, Théodore Dubois, Frederick Delius, Granville Bantock, Antonio B ­azzini,­ Nikolai Rimski-Korsakow und Alexander Gretschaninow.25 Ein Sinfoniekonzert in Dortmund – die Stadt hatte ein lebendiges Musikleben, und ihre Bevölkerung hatte sich im 19.  Jahrhundert um das 15-fache vergrößert  – umfasste Werke von einem Franzosen, Arthur Coquard, und zwei Schweden, A ­ ndreas Hallén und Ottala Morales. Ironischerweise war Deutschland durch eine Sinfonie des Aristokraten Bolko Graf von Hochberg repräsentiert. Die beiden Konzerthälften endeten jeweils mit einem bekannten Werk eines verstorbenen ausländischen Komponisten.26 Beispiel 1: Sechstes Symphonie-Konzert, Philharmonisches Orchester, Dortmund Konzert-Ouvertüre Vôrsammar

Ottala Morales

Symphonie in F-Dur, Op. 45

Bolko Graf von Hochberg

Rokoko-Thema Variationen für Violoncello

† Peter I. Tschaikowsky

Suite In Norwegen

Arthur Coquard

Rhapsodie No. 1

Andreas Hallén

2. Suite aus Carmen

† Georges Bizet

Ein einziges Stück eines lebenden Komponisten im Programm kommunizierte dem Publikum zwei und noch dazu widersprüchliche Botschaften: Auch wenn die Marginalität des modernen Stückes die Hegemonie der klassischen Werke noch unterstrich, erinnerte seine Präsenz die Zuhörer an das grundsätzliche Gebot, auch aktuelle Kompositionen aufzuführen. Stücke für bestimmte Besetzungen brachten alt und neu in einem Konzert zusammen: So spielten zwei Pianisten in einem Konzert in Frankfurt am Main Sergei Rachmaninows Suite 25 Ein Konzert der Sheffield Musical Union präsentierte eine Vielzahl von Stücken britischer Komponisten. Besuche von britischen Ensembles waren in Norddeutschland ab den 1850er Jahren üblich. 26 Für ein fast ausschließlich deutsches Repertoire, in dem deutsche Komponisten Wiener Arbeitern als Vorbilder präsentiert wurden, vgl. Johann Wilhelm Seidl, Dokumentation in den Wiener Arbeiter-Symphonie-Konzerten, in: ders., Musik und Austromarxismus. Zur Musikrezeption der österreichischen Arbeiterbewegung im späten Kaiserreich und in der Ersten Republik, Wien 1989. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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Nr. 2 (1901) zusammen mit Stücken für zwei Klaviere von Haydn, Mozart, Beethoven und Schumann. Ein Musikverein tat trotzdem gut daran, vorsichtig zu sein, wenn er Musik eines modernen Komponisten aufführen wollte. So entschied sich das Musik-Institut in Koblenz für Debussys »Prélude, cortilège et air de danse« von 1884, das Jahr in dem er den Prix de Rome gewann, und stellte das Stück an die Seite von Mozarts Klavierkonzert in B-Dur (KV 595), Schumanns 12 Burlesken, Brahms’ »Schicksalslied«, und Tschaikowskys Symphonie Nr. 5. Doch der Glaube an die Autorität des Kanons veränderte mit der Zeit die Musik der Gegenwart und wies auch herausragenden zeitgenössischen Komponisten einen – wie ich es nennen möchte – vorläufig kanonischen Status zu. Dieser Status brachte den Musikern ungeachtet ihrer aktiven Rolle im Musikleben eine besondere Art von Respekt ein, der sie von ihren Zeitgenossen abgrenzte. Ab 1910 scheinen Strauss und Reger diesen Status erreicht zu haben. In der Musikkritik wurden ihre beiden Namen häufig mit dem Höhepunkt zeitgenössischer Komposition assoziiert und ihre Werke mit Stücken der bedeutendsten klassischen Komponisten in enge Verbindung gebracht. So wurden einzelne Programme sogar ganz der Musik eines dieser Komponisten gewidmet  – dreimal Strauss und zweimal Reger. Ebenso wurde eine symphonische Dichtung von Strauss oder ein Quartett von Reger oft im selben Programm mit einem der bedeutendsten klassischen Komponisten aufgeführt. Der Münchner Konzertverein spielte beispielsweise ein Konzert mit Bruckners Erster Symphonie, einer Serenade von Mozart und Strauss’ »Tod und Verklärung«. Auch die Frankfurter Museums-Konzerte präsentierten Regers Quartett in EsDur (Op. 109, 1909) zwischen Mozarts Quartett in B-Dur (KV 458) und Beethovens G-Dur Quartett (Op. 18, Nr. 2). Strauss genoss zudem hohes Ansehen durch seine Leitung des ADMV (1901–1909) und seine Führungsrolle bei der Gründung einer Gesellschaft zum Schutz von Aufführungsrechten im Jahr 1903.27 Es ist bemerkenswert, dass Reger bereits im Alter von 37 Jahren ein solches Renommee genoss, obwohl seine Musik weniger auf das breite Publikum ausgerichtet war als diejenige des fünfzigjährigen Strauss. Reger wurde mit seinen 27 Aufführungen im untersuchten Datensatz 1910 doppelt so häufig gespielt wie alle anderen zeitgenössischen deutschen Komponisten – Strauss ausgenommen. Zwei Kammermusik-Programme mit dem Titel »Brahms – Reger Abend« waren nur auf die Musik der beiden Komponisten begrenzt. Wie Martin Thrun betont, vermied Reger innere Querelen von der Sorte, wie sie sowohl um Strauss als auch um Mahler entstanden.28 Darüber hinaus speiste sich Regers kano27 Barbara A. Petersen, Die Händler und die Kunst. Richard Strauss as Composers’ Advocate, in: Bryan Gilliam (Hg.), Richard Strauss. New Perspectives on the Composer and His Work, Durham, NC 1992, S. 115–132. 28 Martin Thrun zitiert Daten, die in den 1930er Jahren gesammelt wurden und die an­ haltend hohe Zahl der Aufführungen von Regers Arbeiten zeigen, vgl. Thrun, Neue Musik, S. 15–16. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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nische Anerkennung aus seiner engen Bezugnahme auf die Polyphonie Johann Sebastian Bachs und auf die chromatische Harmonik Johannes Brahms’. Reger ging deutlich über seine Wurzeln in der Kirchenmusik hinaus und machte die Spätromantik attraktiv für ein breites Publikum. Eine überlieferte Anekdote besagt, dass Reger im Leipziger Museum gesehen wurde, wie er zwei Skulpturen, Max Klingers Beethoven und Carl Seffners Bach, bewunderte und dabei angeblich gemurmelt haben soll: »So könnte jemand mein Gesicht formen, um uns alle drei zusammenzubringen.«29 Reger starb im Jahr 1916 und auch Strauss rückte in den Hintergrund, nachdem er zu einem »ehemals Modernen« degradiert worden war – in gewisser Weise ähnlich dem Schicksal Rossinis nach 1829.30 Man könnte noch zwei weitere Komponisten nennen, die Regers Ansehen erreichten, nämlich Louis Spohr (1784–1859) und Franz Schmidt (1874–1939); allerdings waren sie nicht in der Lage, ihren Status im Konzertrepertoire langfristig zu sichern, von Veranstaltungen ihrer Schüler oder Förderer einmal abgesehen. Verglichen mit seinen Erfolgen in den zwanziger Jahren erhielt Gustav Mahler zu seinen Lebzeiten in deutschen Konzerten nicht die gleiche Aufmerksamkeit wie Strauss oder Reger.31 Ein Programm in Teplitz-Schönau setzte Mahlers Vierte Symphonie zwischen Mozarts Symphonie in g-Moll (KV 550) und Liszts symphonische Dichtung »Die Hunnenschlacht«. Aber seine Werke sind in nur drei Konzerten der Sammlung verzeichnet: Er war an der Metropolitan Opera in New York beschäftigt und zudem waren die meisten seiner Werke zu lang und zu eigenwillig, um bei einem breiteren Publikum auf ähnlichen Anklang zu stoßen wie etwa Strauss’ symphonische Dichtungen und Lieder. Einige der angesehensten Komponisten aus Brahms’ Generation erreichten gleichfalls, wenn auch in geringerem Maße als Strauss oder Reger, einen vorläufigen kanonischen Status in Konzertprogrammen. Felix Draeseke war ein weitaus aktiverer Komponist als Max Bruch oder Carl Goldmark; als einer der führenden Wagnerianer des späten neunzehnten Jahrhunderts schrieb Draeseke im Jahre 1906 ein hitziges Pamphlet, »Die Konfusion in der Musik«, das junge Komponisten für die Abkehr von deutschen Musiktraditionen verhöhnte.32 Ein Konzert im Blüthner-Saal, das vom Berliner Konzertverein veranstaltet 29 Musikalisch-historisches-lustiges Anekdoten-Büchlein aus der Zeit von Bach und Händel bis Dr. Richard Strauss und Caruso, 3 Bde., Diessen 1913, S. 1–19. 30 Benjamin Walton, Rossini in Restoration Paris. The Sound of Modern Life, Cambridge 2007. 31 Thrun, Neue Musik, S. 15. 32 Felix Draeseke, Die Konfusion in der Musik. Ein Mahnruf, in: Neue Musik-Zeitung 28. 1906, S. 1–7; Susanne Shigihara (Hg.), »Die Konfusion in der Musik«. Felix Draesekes Kampfschrift von 1906 und ihre Folgen, Bonn 1990; Martin Thrun, Blätterrauschen und Totenstille. Felix Draesekes Mahnruf »Die Konfusion in der Musik« (1906) im Urteil von Mit- und Nachwelt, in: Helmut Loos (Hg.), Felix Draeseke. Komponist seiner Zeit. Tagungsbericht Coburg 2011 mit Beiträgen von der Draeseke-Tagung Leipzig 2003, Leipzig 2012, S. 322–339. Camille Saint-Saëns äußerte sich zur gleichen Zeit in ähnlicher Weise. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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wurde, enthielt Stücke aus Draesekes Jugendzeit: die Ouvertüre zu Draesekes Oper »Herrat« (1879), Bruckners Symphonie Nr.  5 (1876), Bruchs Violinkonzert (1867) und als ältestes Stück die Ungarischen Rhapsodien von Liszt (1847). Kurz vor Draesekes Tod 1913 bemerkte Walter Niemann, dass er der letzte große Komponist mit Nähe zum klassischen Stil sei.33 Die Tatsache, dass Stücke von Draeseke ganze 13 Mal in den 1910er-Programmen auftraten, zeigt die Macht konservativer Traditionen im deutschen Musikleben. Die Aufführung einer gleichen Anzahl von alten wie neuen Stücken in einem Konzert löste Spannungen aus, weil widersprüchliche Geschmäcker aufeinander trafen. In den meisten Fällen wurden die klassischen und modernen Werke in zwei getrennten Teilen aufgeführt. Beispielhaft zeigt ein Sinfoniekonzert in Königsberg, dass Orchesterkonzerte oft mit den neueren Stücken begannen: Der 22-jährige Fritz Mordechai Kaufmann eröffnete das Konzert mit einer Eigenkomposition, einem Violinkonzert, worauf Regers zwei Jahre alter »Sinfonischer Prolog zu einer Tragödie« gespielt wurde; darauf folgend betrat man vertrauteres musikalisches Terrain mit Mozarts Symphonie in G-Moll (KV 550) und Saint-Saëns Violinkonzert Nr. 1 (1859). Ein Liederabend begann hingegen meist mit einer Reihe kanonischer Komponisten und wandte sich erst in der zweiten Hälfte moderneren Werken zu. Berücksichtigt man nun die lange Tradition des Zuspätkommens bei Konzerten, ließe sich argumentieren, dass diese Reihenfolge einem großen öffentlichen Interesse an zeitgenössischen Liedern geschuldet war. Die Musik zeitgenössischer Komponisten war häufiger in Konzerten mit weniger abstrakten Genres wie Liedern, virtuosen Werken und Opernausschnitten anzutreffen. Virtuosität sowohl mit der Stimme als auch auf dem Instrument hatte schon lange die Konzertprogramme bestimmt. Virtuoses Spiel war tief vom Operngenre beeinflusst, und die Oper-Fantaisie überlebte trotz oftmaliger intensiver Kritik. Stücke von Henri Vieuxtemps und Heinrich Wilhelm Ernst wurden immer noch aufgeführt; im Jahr 1910 warb sogar der Leipziger Verleger Friedrich Hofmeister für eine große Sammlung von Opern-Potpourris in einer Konzert-Broschüre.34 Der Wandel in der Opernwelt lag hauptsächlich im zunehmenden Rückgriff der Theater auf altbekannte Repertoires: 1912 machten Opern noch lebender Komponisten nur 28 Prozent der Aufführungen in allen großen Städten aus.35 Dennoch tauchten Auszüge aus modernen Opern nach wie vor in Konzertprogrammen auf, was darauf verweist, dass Opernausschnitte noch immer stark vom Publikum nachgefragt wurden. 33 Walter Niemann, Die Musik seit Richard Wagner, Berlin 1913, S. 61. 34 Werbung von Friedrich Hofmeister, Leipziger Verlag, in: Konzertprogramme der Gegenwart, Bd. 1, Frankfurt 1910, hintere Umschlagseite. 35 Thrun, Neue Musik, S.  27; Friedrich Herzfeld, Die Historisierung der Oper in statistischer Darstellung, Melos 11.  1932, S.  318–325; Eberhardt Schott, Zur Soziologie der Bühne. Die Oper im Jahrzehnte 1901/02–1910/11, Diss. Universität Heidelberg 1921. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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Das mit Abstand vorteilhafteste Genre für Komponisten war das Lied, da ein Liederabend gewöhnlich mehrere moderne Stücke umfasste. So gab die Sängerin Emmy Reiners einen Liederabend im Berliner Blüthner-Saal mit einer Reihe von Stücken von Schubert, Brahms, Heinrich van Eyken, Strauss und Wolf. Van Eyken, der Sohn eines niederländischen Organisten, lehrte an der Berliner Hochschule für Musik und war mit seinen Liedern in zahlreichen Konzertprogrammen vertreten. Ein etwas gewagter Liederabend wurde von Tilly ­Koenen in Leipzig präsentiert: Nach je zwei Stücken von Schubert und Brahms ging sie direkt zu vier Liedern von Wolf über, nach denen der Pianist Paul Aron Debussys »Children’s Corner« (1908) spielte. Besonders interessant ist, dass sie sodann vier »Kinderlieder« der 52-jährigen Niederländerin Catharina van Rennes auf das Programm setzte, bevor sie mit vier Liedern von Richard Strauss schloss. Die Dichotomie zwischen bereits verstorbenen und lebenden Komponisten wurde mit ungewöhnlicher Deutlichkeit in einem Konzert in Frankfurt am Main inszeniert, als Tilly Cahnbley-Hinken jeweils sieben Lieder sang. Nachdem sie die erste Konzerthälfte kanonischen Komponisten gewidmet hatte, wandte sie sich in der zweiten Hälfte Stücken von Max Meyer-Olbersleben, Georges Bizet, Johann Säcke, Reger, Strauss, ihrem Mann August Cahnbley, van Eyken und Pfitzner zu. Beispiel 2: Lieder-Abend von Tilly Cahnbley-Hinken, Klavierbegleitung: Ernst Cahnbley, Frankfurt am Main Ganymed; Gretchen am Spinnrad Das Veilchen; Warnung

† Franz Schubert † Wolfgang Amadeus Mozart

Verborgenheit Die tote Nachtigall Der Nussbaum Ständchen

† Hugo Wolf † Franz Liszt † Robert Schumann † Johannes Brahms

Blümlein im grünen Wald; Zu süßen Träumen; Frühling ohne Ende

Max Meyer-Olbersleben

Pastorale Rococo Mein Schätzelein Wie sollten wir geheim sie halten

† Georges Bizet Wilhelm Sachs Max Reger Richard Strauss

Draußen im Garten Kurze Antwort Gretel

Ernst Cahnbley Heinrich van Eyken Hans Pfitzner

Die 28 Aufführungen von Stücken Hugo Wolfs in den 1910er-Programmen illustrieren, wie sehr er sich im Repertoire etabliert hatte. Nach seinem Tod im © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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Alter von 42 Jahren im Jahr 1903 wurden seine Lieder Bestandteil des kanoni­ schen Repertoires dieses Genres, sodass die Würzburger Sängerin seine Stücke gar in die erste Konzerthälfte aufnahm. Häufig wurden seine Lieder kurz vor oder nach Strauss gesungen und bildeten mit diesem einen wesentlichen Bestandteil des Repertoires aus der Zeit nach Brahms. In Leipzig widmete ein Sänger Wolfs Liedern sogar einen ganzen Auftritt und die symphonische Dichtung »Penthesilia« (1885) des Komponisten wurde vielfach bei Orchesterkonzerten aufgeführt. Trotz der Vorherrschaft des klassischen Repertoires bestanden 35 der 398 Programme fast ausschließlich aus Stücken noch lebender Komponisten. Die am meisten ins Auge fallenden Veranstaltungen dieser Kategorie waren zwei als Novitäten-Abend bezeichnete Konzerte, die im Februar und März 1911 in Frankfurt am Main stattfanden und Kammermusik von Cyril Scott, Richard Mandl, Alfred Lorenz und Arnold Schönberg (das Streichsextett »Verklärte Nacht«, Op. 4) boten. In einem ähnlichen Rahmen spielte in Leipzig die Pianistin Vera Scriabin ein Programm mit Stücken ihres Mannes Alexander Scriabin, von dem sie getrennt lebte. Eine ganz andere Art von Konzerten zeitgenössischer Kompositionen bediente einen Musikgeschmack, der als modern galt, aber nicht die Avantgarde repräsentierte. Das Repertoire solcher Programme zielte eher auf den Geschmack eines breiteren Publikums als etwa die Repertoires bei den Komponistenfestivals des Allgemeinen Deutschen Musikvereins. Solche Konzerte fanden nicht nur in Leipzig und Hamburg, sondern auch in mittelgroßen Städten wie Essen, Wiesbaden und Barmen nahe Wuppertal statt. Wie das Beispiel des Konzerts in Dortmund zeigte, war das Konzertrepertoire häufig international und bestand aus Liedern, Virtuosen-Literatur, Opernauszügen und symphonischen Dichtungen. So konnten Musiker eine Reihe relativ neuer Stücke vor dem treuen, aber kleinen Publikum darbieten, das sich durch solche Veranstaltungen angesprochen fühlte. Diese Abende unterschieden sich deutlich von Konzerten, die von Avantgarde-Komponisten in erster Linie für sich selbst und ihre Gönner veranstaltet wurden. Namhafte Interpreten wirkten bei diesen Konzerten als Vermittler zwischen dem Publikum und neuer Musik und führten damit eine alte Tradition fort. In einem Konzert in Barmen dirigierte der Kapellmeister Robert Heder seine Tondichtung »Hero und Leander« (1908) und Paul Dukas’ »Zauberlehrling« (1897). Ebenso wurde ein Lied des Dirigenten Felix Weingartner in einem Konzert des Hoftheaterorchesters Mannheim aufgeführt, das außerdem die Ouvertüre zu Hans Pfitzners Oper »Christ-Elflein« (1906), zusammen mit einer Tondichtung namens »Elfenreich« (1892) des Münchner Komponisten Friedrich Klose und Strauss’ »Don Juan« umfasste. Das Programm zeigt, wie erfolgreich das­ Lisztsche Tondichtungsgenre die deutschen Orchesterkonzerte neu belebte. Ein Beispiel für die Bedeutung des Musiktheaters in solchen Konzerten ist ein Programm in Baden-Baden, das mit der Ouvertüre zu »Pyramus et Thisbe« © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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(1905) von Édouard Trémisot, einem erfolgreichen französischen Komponisten, der vor allem für das Musiktheater schrieb, eröffnete. Das Konzertprogramm sah auch Jean Sibelius’ Filmmusik mit dem Titel »König Christian II« (1898) vor. Die damit eng verbundene Tradition des Virtuosen-Stückes wurde von Vieuxtemps’ Violinkonzert in d-Moll von 1843 bedient. Das Programm umfasste ebenfalls die immer noch häufig gespielte »Romance« (1881) für Violine und Orchester des siebzigjährigen Johan Svendsen und Saint-Saëns »Introduction et Rondo capriccioso« (1863). Lieder und Instrumentalstücke, die der Unterhaltungsmusik zugeordnet werden können, wurden oft gemeinsam mit dem konventionellen Konzertrepertoire zur Aufführung gebracht. Opernausschnitte, Tänze und einzelne Sätze aus klassischen Sinfonien konnten in Parks und Cafés durchaus neben solch populärem Repertoire stehen. Es wurde bereits gezeigt, dass Kurhäuser in Kurorten regelmäßig solche Musik darboten. Auch wenn die Musikvereine solchen Praktiken nur selten folgten, fanden sich doch gelegentlich einfache Lieder in Konzerten wieder, die sonst neuen Stücken und Klassikern gewidmet waren. Ein Konzert etwa im Kurhaus in Wiesbaden umfasste »Meine Mutter hat’s gewöllt« von Wilhelm Kienzl, der mit seinen sentimentalen Liedern und Operetten ein breites Publikum gefunden hatte. Das Programm begann und endete mit Werken der Spätromantik, Draesekes bekanntestem Werk, der »Symphonia Tragica« (1886) und der »Revelge« aus Mahlers »Des Knaben Wunderhorn« (1899). Wie ich in einem anderen Aufsatz gezeigt habe, war ein solch eklek­ tisches Mischen von Genres bereits gelegentlich während des späten neunzehnten Jahrhunderts aufgetreten.36 Die Sammlung von Konzertprogrammheften in der Universitäts- und Staatsbibliothek in Frankfurt am Main verweist auf eine ganze Reihe solcher Konzerte und bietet damit eine Fülle an Material für weitere Studien. Programme, die an traditionelle Promenadenkonzerte erinnerten, vermischten alte und neue Stücke und griffen auch auf Theatermusik zurück. In Rostock eröffnete ein Volksthümliches Konzert des Stadt- und Theaterorchesters mit Schumanns Ouvertüre zu »Genoveva« und endete mit einem Medley über Themen aus »La Bohème«.37 Die neuesten Stücke waren ein Ballett von Moritz Moszkowski aus dem Jahr 1892 und die Tondichtung »Méditation« (1909) von Philippe-Charles Parès, einem französischen Spezialisten für Militärmusik und komische Oper. Die Ouvertüre zu Aubers »Le lac des fées« (1839) bestätigt dessen kontinuierliche Präsenz in deutschen Theatern. Beliebte fran­ 36 William Weber, The Problem of Eclectic Listening in French and German Concerts, 1860–1910, in: Christian Thorau u. Hansjakob Ziemer (Hg.), The Art of Listening and Its Histories (im Erscheinen). 37 Der Begriff »volkstümliches Konzert« wurde in vielen Programmheften verwendet, u. a. in einem Programm des Stadtorchesters Elberfeld, das Stücke von Haydn, Mozart und Beethoven sowie die »Tragische Symphonie« von Felix Draeseke spielte. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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zösische Opern wie diese wurden während der 1920er Jahre in ganz Europa produziert.38 Konzerte, die aus dem traditionellen Promenadenkonzert erwuchsen, vermischten ebenfalls alte und neue Musik, vor allem virtuose Stücke oder Stücke aus dem Musiktheater. In Rostock eröffnete das fünfte Volkstümliche Konzert mit der Freischütz-Ouvertüre, einem Largo von Händel und einer von Bizets Suiten zu »Carmen«; auf diese folgten Auszüge aus den »Meistersingern« und Liszts erster Ungarischer Rhapsodie, bevor im letzten Teil  die Ouvertüre zu­ Aubers »La Sirène« (1844) und der berühmte »Pesther-Waltzer« von Joseph Lanner gespielt wurden. Die zweite Hälfte jedoch wurde hauptsächlich von zeitgenössischen Komponisten dominiert: eine Mazurka des Polen Emil Mlynarski, »Melancolie« des Tschechen Eduard Náprawnik, der Dirigent am Hoftheater in St. Petersburg war, und eine Fantasie über Themen aus der Oper »Tiefland«, scheinbar gleichfalls von deren Urheber, dem schottischen Kosmopoliten Eugène d’Albert, verfasst. Programme dieser Art waren gleichermaßen von Bedeutung wie Sinfonie-Konzerte; heute bewahren sie viele Orchester vor einem ökonomischen Zusammenbruch. Eine umfangreiche Sammlung von europäischen und amerikanischen Promenaden-Konzertprogrammen des neunzehnten und frühen 20. Jahrhunderts kann im Archiv der Stadt-und Universitätsbibliothek Frankfurt am Main eingesehen werden.39

III. Fazit: Komponisten und Aufführungsmöglichkeiten im Jahr 1910 Diese Analyse von 398 Programmen aus deutschen Städten vom Herbst 1910 veranschaulicht die zunehmende Fragmentierung des Komponistenberufs in immer stärker abgegrenzte Tätigkeitsbereiche und Stilrichtungen. Komponisten sahen sich mit vier Karrierealternativen konfrontiert. Erstens konnte ein Musiker in traditioneller Art und Weise für Musikvereine und somit für ein allgemeines Publikum schreiben, in denen zeitgenössische Stücke in herkömmlichem Stil nach den Richtlinien des klassischen Repertoires aufgeführt wurden. Eine zweite Möglichkeit eröffneten vom Komponisten selbst veranstaltete Konzerte, ein neuer Weg, der in der Gründung der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik im Jahr 1922 gipfelte. Drittens stand die Möglichkeit offen, wahlweise für neue Institutionen wie das Musiktheater, Filme, Promenadenkonzerte und die Welt der Unterhaltungsmusik zu komponieren. Dieser Weg wurde je38 Christophe Charle, Circulations théâtrales entre Paris, Vienne, Munich et Stuttgart, 1815–60. Essai de mesure et d’interprétation d’un échange inégal, in: Norbert Bachleitner (Hg.), »Die Bienen fremder Literaturen«. Der literarische Transfer zwischen Groß­ britannien, Frankreich und dem deutschsprachigen Raum im Zeitalter der Weltliteratur, 1770–1850, Wiesbaden 2012. 39 Siehe auch Manskopfsches Musikhistorisches Museum, unter: http://www.ub.uni-frank furt.de/musik/bestandsgeschichte.html. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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doch schnell unvereinbar mit den beiden zuvor genannten Karrierealternativen. Die vierte Alternative war keine Frage der Wahl: Dem Werk eines Komponisten konnte ein vorläufiger kanonischer Status und damit eine enge Verbindung zum klassischen Repertoire zugeschrieben werden. Die Situation gestaltete sich am ungünstigsten für neue Orchesterwerke, da zeitgenössische Komponisten bei solchen Veranstaltungen als Repräsentanten neuer Musik kritisiert wurden. Die moralische Verpflichtung, zeitgenössische Musik darzubieten, gelang am besten in Konzerten mit Vokalmusik; hier erhielten einige Komponisten große Anerkennung beim Publikum. Von Komponisten selbst veranstaltete Konzerte bildeten die wichtigste Plattform, um ihre Musik zu Gehör bringen, auch wenn sich das Publikum bei solchen Veranstaltungen hauptsächlich aus professionellen Kollegen zusammenzusetzen schien. Dennoch sah die Lage der Komponisten insgesamt nicht ganz düster aus. Dass in 35 Konzerten zum Großteil moderne Stücke gegeben wurden, lässt vermuten, dass es noch immer ein Publikum für zeitgenössische Musik gab. Dieser Artikel möchte Musikwissenschaftler dazu anregen, den Beitrag der vielen Musikvereine zur Entwicklung neuer Musik stärker zu berücksichtigen, da solche Vereine das Lebenselixier der deutschen Musikkultur darstellten. Eine Studie über die Programmgestaltung amerikanischer Orchester, die institutionell den Musikvereinen nicht unähnlich waren, zeigt eine zunehmende Offenheit gegenüber modernen Werken im Verlauf des 20. Jahrhunderts. Der Grund hierfür lag teils schlicht darin, dass die Zahl von Orchestern in den USA beständig anstieg.40 Tatsächlich spielte der Allgemeine Deutsche Musikverein um 1900 eine wichtige Rolle als Vertreter der Interessen von Militärkapellen, Stadttheatern und Musikvereinen, da seine Führungsriege die Bedeutung dieser Einrichtungen für die Förderung der Belange von Komponisten erkannte.41 Genauere Analysen könnten Aufschluss darüber geben, inwieweit die Repertoires der Konzerte von Komponisten-Vereinigungen mit denen von MusikvereinKonzerten übereinstimmten. Dadurch ließe sich erkennen, in welchem Ausmaß der Rang der Musik durch diese Institutionen beeinflusst wurde. Zugespitzt formuliert: Gelang es überhaupt irgendwo einem zeitgenössischen Komponisten im Jahre 1910, die Zahl der Darbietungen von Richard Strauss’ Werken zu erreichen?

40 Vgl. Timothy Dowd u. a., Organizing the Musical Canon. The Repertoires of Major U. S. Symphony Orchestras, 1842–1969, in: Poetics 30. 2002, S. 35–61. 41 Vgl. Deutsche Musikdirektoren-Zeitung. Amtliches Organ des Deutschen Musikdirektoren-Verbandes (Leipzig), für die Diskussion im Jahre 1912. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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I. Das Musiktheater und die »Kultur der Krise« in der Weimarer Republik1 Lassen Sie uns diesen Irrgarten vermeiden und dafür ruhig und fest das Maß er­ greifen, das die Natur für alle Entscheidungen in unsere Hand gegeben und vor unser Auge gestellt hat: den Menschen. Ich wage sogar zu sagen, für noch andere Entscheidungen, als nur solche künstlerischer Art, aber jene sollen uns hier nicht beschäftigen. Ihre Erwähnung geschah nur, weil ich überzeugt bin von der notwendigen Vereinigung von Kunst und Leben. Diese Vereinigung ist Voraussetzung der Überwindung des Chaos, in dem wir gegenwärtig umhertaumeln. […] Wie gelangen wir zum Menschen? […] Bis zum heutigen Tage ist es noch immer nicht gelungen, ihn in der Retorte herzustellen. Aber wir haben doch Wege zu ihm, die sich auftun, sobald wir überhaupt zu suchen beginnen und sehen wollen. Dieses Wollen wäre also das erste. Die Natur hat uns auch für den Menschen in der Musik nicht nur vage Begriffe, sondern ein absolut reales oder naturales Muster mitgegeben: die Stimme.2

Der renommierte Musikkritiker, Publizist und Intendant Paul Bekker (1882– 1937) entfaltete in diesem 1932 publizierten, an sein »Spiegelbild« gerichteten Brief ein zentrales Motiv, das in zahlreichen seiner Veröffentlichungen wiederkehrte: die Suche nach einem ästhetisch hervorgebrachten »ganzen Menschen«,3 einem »neuen Menschen«,4 der die soziokulturelle Transformation Deutschlands in den Zwischenkriegsjahren vorantreiben und insbesondere zur grundlegenden Neugestaltung der politischen Kultur beitragen sollte.5 ­Bekkers

1 Siehe die wichtigen konzeptionellen Anregungen von Moritz Föllmer u. a., Einleitung. Die Kultur der Krise in der Weimarer Republik, in: Moritz Föllmer u. Rüdiger Graf (Hg.), Die »Krise« der Weimarer Republik. Zur Kritik eines Deutungsmusters, Frankfurt 2005, S. 9–41. 2 Paul Bekker, An das Spiegelbild, in: ders., Briefe an zeitgenössische Musiker, Berlin 1932, S. 179–191, hier S. 186 f. 3 Paul Bekker, Kunst und Revolution. Ein Vortrag, Frankfurt 1919, S. 29. 4 Paul Bekker, Wandlungen der Oper, Zürich 1934, S. 176. 5 Vgl. zu Person und Wirken Paul Bekkers umfassend: Andreas Eichhorn, Paul Bekker. Facetten eines kritischen Geistes, Hildesheim 2002. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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Äußerungen sind dabei im Kontext eines »human turn« zu verorten.6 In den 1920er und 1930er Jahren unternahmen Maler, Schriftsteller, Architekten und Musiker den Versuch, den Bereich der Kunst zu rehumanisieren und erklärten den Menschen emphatisch zum Fundament ästhetischer Reflexion und Praxis: »In short, man was back, his return in the motifs and techniques of art underwritten by an ideology of humanism visible everywhere in interwar culture.«7 Ansätze einer Rehumanisierung des Ästhetischen reagierten dabei auf vielfältige Krisensymptome, hatten doch beispielsweise die Erkenntnisse der Psychotherapie dazu beigetragen, die Vorstellung eines sich selbst transparenten und autonom agierenden Menschen grundsätzlich in Frage zu stellen, hatten Urbanisierung und technologischer Fortschritt die Empfindung, in einem zusehends entzauberten Zeitalter der Masse zu leben, befeuert: [T]he crisis of culture is but a symptom of the far more fundamental one, namely, the crisis of man himself. After ten-thousand years of history, man for the first time has become a puzzle to himself; he no longer knows what he is, but at the same time he knows that he doesn’t know it.8

In der philosophischen Anthropologie Arnold Gehlens, so die Deutung Devin Fores, kulminierten diese Diskursstränge, die den weltoffenen, unbestimmten und unfertig-ortlosen Charakter des »Mängelwesens« Mensch beschrieben.9 Zugleich wurden die Paradigmen solcher anthropologischen Reflexionen und Bestimmungen immer wieder mit reaktionären politischen Strömungen und letzten Endes mit den totalitaristischen Bewegungen der Zwischenkriegszeit in Verbindung gebracht.10 Hinter der negativen Anthropologie von Denkern wie Gehlen vermuteten Kritiker – etwa Walter Benjamin – »an ethos of resignation and political quiescence«, das für den Aufstieg der totalitaristischen Bewegungen mitverantwortlich gemacht wurde.11 Immer wieder stellte sich auch Paul Bekker einer festlegenden Bestimmung des Menschen als dem »technische[n] Maschinenmensch« oder dem »vorweltliche[n] Rassegeschöpf« entgegen; demgegenüber favorisierte er eine dynamische Offenheit und betonte, dass sich die »neue Erscheinung« des Menschen »erst in Umrissen« zu zeigen beginne.12 Die Fähigkeit, den »neuen Menschen« zu entwerfen, überantwortete er der »schöpferische[n] Kraft des Musikers«, der mit seiner Komposition und in der Aufführung dann gemeinsam mit Orchester, Chor, Solisten und auch dem Publi6 Devin Fore, Introduction, in: ders., Realism after Modernism. The Rehumanization of Art and Literature, Cambridge, MA 2012, S. 1–19, hier S. 6. 7 Ebd., S. 2. 8 Ludwig Steinecke, Wissenschaft und Weltanschauung, in: Die literarische Welt 7, Nr. 2, 15.5.1931, S. 1; zit. n. Fore, Realism after Modernism, S. 6 f. 9 Fore, Realism after Modernism, S. 7 f. 10 Ebd., S. 6. 11 Ebd., S. 8 f. 12 Bekker, Wandlungen der Oper, S. 176. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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kum einen kollektiven »Schöpfungsvorgang« initiiere. Hier nahm die Oper für ­Bekker ihren »Ursprung«, hieraus bezog sie für ihn ihre besondere Relevanz und Legitimität: Ihre »Erfüllung« finde sie – so Bekker – »im Klange der singenden Menschenstimme, die da ist der Mensch selbst, übertragen in die Sphäre des Klingenden, aus ihr wieder sichtbar werdend in neuer, klangschaffender Gestalt«.13 Bereits in seinen frühen Arbeiten, etwa »Das deutsche Musikleben« (1916) oder »Kunst und Revolution« (1919) skizzierte er eine »soziologische Ästhetik«, in der er die Kraft der Musik, soziale Beziehungen zu modellieren und zu transformieren, betonte.14 Als überzeugter Anwalt der ästhetischen Moderne setzte sich Bekker während seiner Tätigkeit als Musikrezensent der einflussreichen liberalen Frankfurter Zeitung von 1911 bis 1922 aktiv für Komponisten wie Arnold Schönberg, Franz Schreker oder Ernst Krenek ein; 1919 prägte er den Terminus ›Neue Musik‹ und forderte die »geistige Erneuerung der Musik« wie des öffentlichen Musiklebens, um bei Musikschaffenden und beim Publikum das »unmittelbare Miterleben der Gegenwart« zu fördern.15 Sein Einsatz für eine neue Ästhetik war verbunden mit dem Impuls, eine zeitgemäße ›Volkskunst‹ zu schaffen, die nicht mehr ausschließlich eine adeligbildungsbürgerliche Elite adressieren, sondern sich am Aufbau einer demokratischen Gesellschaft beteiligen sollte. Damit lässt sich Bekkers Verständnis einer ästhetisch hervorgebrachten politischen Kultur öffnen für konzeptionelle Anregungen einer in den letzten Jahren breit rezipierten Neuen Politikgeschichte, die insbesondere darauf aufmerksam gemacht hat, wie voraussetzungsreich der Aufbau und die Stabilisierung klassischer politischer Institutionen sind. Das rahmende Gefüge selbst wie das tagespolitische Geschehen in Parlamenten und Ministerien ist nicht zuletzt im Rekurs auf symbolische Repräsentationen und durch sie modellierte Wahrnehmungsweisen zu beschreiben. Das Politische im Sinne eines in seiner Reproduktion stets prekären, wenn nicht sogar unwahrscheinlichen Aktions- und Wahrnehmungsraums muss kommunikativ hervorgebracht werden, seine innere Struktur wie auch die Grenzen nach außen müssen ausgehandelt werden.16 Durch diese Ausweitung des Politischen lassen sich auch vermeintlich politikferne Bereiche – wie etwa die Hochkultur – als Foren politischer Kommunikation begreifen, in denen symbolische Praktiken, Rituale und Bildwelten mit »soziale[n] Bezugspunkte[n]« verknüpft werden, so dass Machtbeziehungen und Grade der Zugehörigkeit anschaulich in Szene gesetzt 13 Ebd., S. 177. 14 Paul Bekker, Das deutsche Musikleben, Berlin 1916, S. 11. 15 Paul Bekker, Neue Musik, in: ders., Neue Musik. Dritter Band der Gesammelten Schriften, S. 85–118, Berlin 1919, S. 87. 16 Siehe hierzu programmatisch: Thomas Mergel, Parlamentarische Kultur in der Weimarer Republik. Politische Kommunikation, symbolische Politik und Öffentlichkeit im Reichstag, Düsseldorf 2002; Ute Frevert u. Wolfgang Braungart (Hg.), Sprachen des Politischen. Medien und Medialität in der Geschichte, Göttingen 2004. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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werden können.17 Die Neue Politikgeschichte wendet sich folglich weniger klar definierten »Sachgebieten« zu; ihr Hauptinteresse bilden vielmehr »Modalitäten und Mechanismen von Grenzziehungen«, die scheinbar politikferne Praktiken nicht zu bloßen Vorräumen degradieren, sondern in ihrer konstitutiven Rolle für den politischen Raum ernst nehmen.18 Die Zwischenkriegszeit stellt sich für die Neue Politikgeschichte nicht zuletzt deshalb als ein so ergiebiger Untersuchungszeitraum dar, weil hier institutionelle und symbolische Formen gefunden werden mussten, die in die Ruinen der alten Ordnung einziehen und so den Aufbau einer ganz andersgearteten politischen Kultur ermöglichen sollten.19 Auch der Bereich des Ästhetischen im Allgemeinen und des Musiktheaters im Besonderen waren deshalb in diesen Transformationsprozess einbezogen. Mit seinen nahezu radikalen Vorschlägen reagierte Bekker auf die Erfahrung einer umfassenden musikästhetischen und -soziologischen Krise, die im ausgehenden 19. Jahrhundert begann und in den Jahren nach 1900 in den Kämpfen um die ästhetische Moderne einen ersten Höhepunkt erreichte, in der allgemeinen Krisenerfahrung in den Jahren nach 1918 allerdings noch einmal verschärft ins öffentliche Bewusstsein trat. Die institutionelle Verfasstheit des traditionellen Musikbetriebes mit seinen Hof- und Stadttheatern kritisierte Bekker – Richard Wagners Reformschriften aus der Mitte des 19. Jahrhunderts dabei nicht unähnlich  – ebenso wie das seiner Meinung nach überbordende Star-System und die Raumgestaltung der meisten Theater- und Konzertbauten. In diesen Elementen nämlich lasse sich die »Verquickung von lebensmüder Tradition, Unterhaltungs- und Vergnügungsbetrieb, Luxusbedürfnis und Gewinnsucht« erkennen, die für die »Hörerschaft, die sie jetzt bevölkert«, ebenso charakteristisch sei wie für die »Machthaber, die ihnen gebieten«.20 Nachdem er in den 1920er Jahren die Intendanz der preußischen Staats­ theater in Kassel (1925–1927) und Wiesbaden (1927–1932) übernommen hatte, ging Bekker daran, seine musikpädagogischen und -ästhetischen Reformpläne in die praktische Theaterarbeit zu überführen, um seine Vision einer »wahre[n] Volkskunst« zu realisieren.21 Im Mittelpunkt seiner Neuerungsbestrebungen stand dabei die Opernarbeit. Die auf der Opernbühne sich äußernde menschliche Stimme bildete seiner Ansicht nach den unmittelbarsten Ausdruck des ganzen Menschen und wurde für Bekker zum Ausgangspunkt seiner ästhetisch ansetzenden Überlegungen zu einer Gesellschaftsreform. Dass Bekker das 17 Ute Frevert, Neue Politikgeschichte. Konzepte und Herausforderungen, in: dies. u. HeinzGerhard Haupt (Hg.), Neue Politikgeschichte. Perspektiven einer historischen Politikforschung, Frankfurt 2005, S. 7–26, hier S. 24. 18 Ebd., S. 24. 19 Siehe dazu Ute Daniel u. a. (Hg.), Politische Kultur und Medienwirklichkeiten in den 1920er Jahren, München 2010. 20 Bekker, Das deutsche Musikleben, S. 124. 21 Bekker, Kunst und Revolution, S. 20. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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Musiktheater dergestalt mit einer sozialmodellierenden Funktion be­ legen konnte, lässt sich aus seinem Verständnis der musikalischen Form herleiten, die Aspekte einer Wirkungs- und einer Rezeptionsästhetik miteinander verknüpfte und damit zugleich traditionelle ästhetische Werkbegriffe relativierte (siehe hierzu ausführlich Abschnitt II). Ausdrücklich ging Bekkers Formbegriff also über innerästhetische Ansprüche hinaus; vielmehr sollte die Kunst an dem laufenden Prozess einer Neugestaltung des politischen und gesellschaftlichen Lebens partizipieren und ihre eigenen Akzente setzen. Aus der Erfahrung des Krieges heraus resümierte Bekker 1916: Wir stehen heute an einem Wendepunkte unseres sozialen, unseres öffentlichen, unseres staatlichen Lebens. Der Begriff der Gemeinsamkeit, bisher rhetorische Phrase, ist durch die Not der Zeit uns allen in bitterster Form ins Bewußtsein gehämmert worden. […] Wir haben die Wahl, unterzugehen in Auflösung, oder fortzuschreiten in Zusammenfassung. Was wir sahen und sehen, ist das Bild einer zerfallenden Gesellschaft, zerfallend, weil ein Gesellschaftsbewußtsein nicht mehr vorhanden war.22

Diese Zeitdiagnose einer umfassenden Krisenerfahrung setzte sich in der Nachkriegszeit fort.23 Sie lässt sich gut in den Kontext einer eingangs angedeuteten, für die Weimarer Republik charakteristischen Krisendiagnose rücken: Über den Bereich der Wirtschaft hinaus übertrugen Zeitgenossen die »Krisenrhetorik auf ihre Analysen nahezu aller Lebensbereiche, von Staat und Recht über die Geistes- und Naturwissenschaften bis hin zu Kultur und Religion«.24 Im Unterschied zu zahlreichen historiographischen Darstellungen der Weimarer Republik aber engten zeitgenössische Beobachter den Begriff der Krise keineswegs auf seine pessimistischen Facetten ein und sahen sich nicht einseitig einer elementaren »Bedrohung des Alten« ausgesetzt.25 Die »Verbindung von ›Krise‹ mit Kontingenz, Gestaltbarkeit und Entscheidung« war diskursiv und auch praktisch durchaus geläufig.26 Leidenschaftlich wurde experimentiert, um neue und kollektiv legitimierbare Orte und Praktiken der politischen Kommunikation zu finden. Nicht zuletzt stand die Hervorbringung eines demokratischen Staatsvolkes im Zentrum, wie etwa diejenigen Arbeiten nahelegen, die sich – um Dirk van Laaks treffende Formulierung aufzugreifen – mit dem »konstruktiven Per-

22 Bekker, Das deutsche Musikleben, S. 136 f. 23 Vgl. dazu ausführlich den Briefwechsel zwischen Paul Bekker und Leo Kestenberg in: Leo Kestenberg, Gesammelte Schriften, Band 3.2, Briefwechsel (Zweiter Teil), hg. v. Dietmar Schenk, Freiburg 2012. Die »krisenhafte Unsicherheit« gesellschaftspolitischer und ästhetischer Phänomene der Gegenwart beschäftigte Bekker noch in seinen späteren Arbeiten, ehe er vor den Nationalsozialisten ins amerikanische Exil floh, wo er 1937 verstarb. Siehe dazu auch: Paul Bekker, Wandlungen der Oper, S. 176. 24 Föllmer u. a., Die Kultur der Krise, S. 10 f. 25 Ebd., S. 14. 26 Ebd., S. 24. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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sonal der Republik« beschäftigen, etwa mit den zu »Vernunftrepublikanern« bekehrten Intellektuellen.27 Somit erstaunt es nicht, dass die jüngere Forschung zusehends auch eine zeitgenössisch als positiv wahrgenommene Gestaltungsoffenheit hervorhebt, die mit dem Ende des Krieges und des wilhelminischen Obrigkeitsstaates verbunden war, und damit die historiographische Deutung einer allgegenwärtigen Krisenerfahrung einer überzeugenden Revision zu unterziehen beginnt.28 Die Zwischenkriegszeit wird demgemäß nicht mehr ausschließlich im Hinblick auf ihr Scheitern und Ende erzählt; vielmehr werden zusehends ihre Optionen und Potenziale hervorgehoben.29 Es liegt auf der Hand, dass der Erste Weltkrieg als enormes Schockerlebnis wahrgenommen wurde, das nur mühsam verarbeitet werden konnte. Den Frustrationen, die sich in weiten Teilen des bürgerlichen Lagers mit der Neuregelung der politischen Welt verbanden, lassen sich gleichwohl die Zukunftshoffnungen jener Publizisten und Intellektuellen entgegenstellen, die im Niedergang des wilhelminischen Obrigkeitsstaates zugleich die Gelegenheit zu innovativ-konstruktivem Neubeginn erblickten und den in der Krise auch zu konstatierenden Zugewinn an Möglichkeiten für sich erkannten. Im Folgenden sollen diese konzeptionellen Impulse aufgenommen werden; besonderes Augenmerk soll dabei auf den Aspekt der Hervorbringung neuer politischer Formen durch spezifische kulturelle Praktiken gerichtet werden. Im Mittelpunkt werden die Fragen stehen, inwieweit musikpolitische Anliegen, wie sie repräsentative Vertreter der Weimarer Kultur formulierten, als neuartiges und partizipatives Kommunikationsangebot interpretiert werden können, aus welchen Überlegungen heraus sie entwickelt wurden und in welchen Kontexten sie sich bewährten beziehungsweise in welchen sie an ihre Grenzen stießen. Im Besonderen sollen der Musikpädagoge und Kulturpolitiker Leo Kestenberg sowie der Musikschriftsteller und -publizist Paul Bekker zu Wort kommen. Musik wird in diesem Kontext als ästhetische, soziale und auch politische Praxis verstanden, in deren Vollzug eindringliche Erfahrungen von Gemeinsamkeit gemacht werden konnten, mit deren Hilfe kommunikative Barrieren zwischen verschiedenen sozialen Kreisen und Klassen abgesenkt und ein neuartiges, die konkrete Situation der Aufführung transzendierendes Gemeinschaftsempfinden hervorgebracht werden sollte. Nachfolgend wird dabei besonders auf die Oper rekurriert und gefragt werden, inwieweit Musik diese kommunikative Bindung unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen zu initiieren und zu intensivieren im Stande war, inwiefern die Oper mithin einen Raum umschrieb, 27 Vgl. dazu Dirk van Laak, Symbolische Politik in Praxis und Kultur, in: Daniel u. a., Politische Kultur, S. 25–46; Andreas Wirsching u. Jürgen Eder (Hg.), Vernunftrepublikanismus in der Weimarer Republik. Politik, Literatur, Wissenschaft, Stuttgart 2008. 28 Siehe vor allem: Föllmer u. a., Die Kultur der Krise. 29 Vgl. exemplarisch Rüdiger Graf, Die Zukunft der Weimarer Republik. Krisen und Zukunftsaneignungen in Deutschland 1918–1933, München 2008; John Alexander Williams, Foreword, in: ders. (Hg.), Weimar Culture Revisited, New York 2011, S. 12. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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aus dem eine neue politische Ordnung Stabilität beziehen konnte, und sei diese auch noch so prekär und offen für Revisionen. Hierbei wird von der These ausgegangen, dass die inhaltlich-programmatische ›Ausdrucksseite‹ einzelner Werke, die etwa in unmittelbarer Weise als politisch interpretiert werden konnten, nicht von ausschlaggebender Bedeutung war, wenn es darum ging, ein kollektiv wirksames Gemeinschaftsempfinden zu evozieren. Entscheidend war vielmehr, dass die kulturelle Praxis des Opernerlebnisses eine atmosphärische Umgebung kreierte, die kommunikativ wirksam werden konnte und dadurch eine soziale und politische Bindekraft zu entfalten vermochte. In diesem Sinne soll von einem Kommunikationsbegriff ausgegangen werden, der sich an Gernot Böhmes Begriff der kommunikativen Atmosphären orientiert. Böhmes Atmosphärenbegriff zeichnet sich insbesondere dadurch aus, dass er den relationalen Charakter des Atmosphärischen – sei es die Atmosphäre eines Raums, die Atmosphäre im intersubjektiven Austausch oder im Feld der Politik – hervorhebt, Atmosphären mithin weder als »Zustände des Subjektes« noch als »Eigenschaften des Objektes« definiert, sondern demgegenüber die zwischen beiden zirkulierende »affektive Erfahrung« des Relationalen – und damit seine kommunikative Dimension – betont.30 Indem Atmosphären zudem nicht permanent fixiert sind, sondern beständig verändert, gestört und unterbrochen werden können, lassen sie sich als fragil-fluktuierende Stimmungsräume beschreiben, die auf die stete Hervorbringung und Stabilisierung durch wahrnehmende und kommunizierende Subjekte angewiesen sind.31 Der musikalischen, bildnerischen oder sprachlichen »Erzeugung von Atmosphären« räumt Böhme eine herausragende Rolle ein, da musikalische oder szenische Arrangements in besonderer Weise auf die »affektive Betroffenheit« der Betrachter/Hörer oder Konsumenten abzielen.32 Nach der bereits angekündigten Passage zu Bekkers Formbegriff (Teil  II) folgt eine knappe kontextualisierende Überleitung, die die für die Argumentation grundlegende Hoffnung einflussreicher Zeitgenossen auf einen erfolgreichen Neubeginn nochmals veranschaulichen will, und zwar am Beispiel Walther Rathenaus, einer repräsentativen Sozialfigur der Weimarer Zeit (Teil  III). Sodann wird der Frage nachgegangen, welche Rolle der Musik im Prozess einer Neuformierung der Gesellschaft und des neuen Menschen zugeschrieben werden sollte. Am Beispiel der Musikreform Leo Kestenbergs (Teil  IV), vor allem aber anhand einiger ausgewählter Beispiele aus der konkreten Theatertätigkeit Paul Bekkers soll aufgezeigt werden, dass der Oper kommunikative Potenziale 30 Vgl. hierzu Gernot Böhme, Wahrnehmung von Atmosphären, in: Martin Basfeld u. Thomas Kracht (Hg.), Subjekt und Wahrnehmung. Beiträge zu einer Anthropologie der Sinneserfahrung, Basel 2002, S. 19–37, hier S. 33. 31 Vgl. hierzu Gernot Böhme, Kommunikative Atmosphären. Jochen Bockemühl zum 70. Geburtstag, in: ebd., S. 103–115. 32 Böhme, Wahrnehmung von Atmosphären, S. 32. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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zugetraut und überantwortet wurden, so dass sie eine konstitutive Aufgabe im übergreifenden Transformationsprozess von Politik und Gesellschaft übernehmen sollte (Teil V). Zentral ist hierbei die Annahme, dass die angestoßene musikalische Reform nicht aus dem bloßen Faktum der politischen Revolution geboren wurde, sondern dass dieses musikalische Neuerungsbestreben und der politische Umbruch zeitgleiche, einander ergänzende und verstärkende Phänomene waren, die aufeinander verwiesen blieben.

II. Reformbestrebungen im Zeichen eines neuen Humanismus: Paul Bekker und die Neue Musik Paul Bekkers 1916 entworfenes Konzept der musikalischen Form kann das Atmosphären-Konzept Böhmes um konzeptionell bedenkenswerte und musikästhetisch relevante Facetten bereichern: Auch Bekker rückt die aktive »Wahrnehmungstätigkeit« eines anwesend-aufmerksamen Publikums, das Wahrnehmung weder im Sinne eines »genießende[n] Anschauen[s]« noch im Sinne eines »widerstandslose[n] Erleiden[s]« konsumiert, sondern bereit ist, »Beziehungen auf[zu]nehmen« und »tätig [zu] werden«, in den Mittelpunkt seiner Überlegungen. Musikalische Atmosphären entstehen für Bekker mithin erst in dem Moment, in dem die beiden das Kunstwerk hervorbringenden »Schaffenskräfte«, der die klangliche »Materie« ordnende Musiker und die sie wahrnehmende »Umwelt«, in »aktive Beziehungen« zueinander treten.33 In Bekkers frühen Schriften, besonders in seinem musiksoziologischen Hauptwerk »Das deutsche Musikleben« (1916) sowie im Aufsatz »Neue Musik« (1919) und dem Vortrag »Kunst und Revolution« (1919), entwickelte er die Vorstellung einer »organische[n] Neugestaltung« der Gesellschaft, die auf einer einschneidenden Reform des Kultur- und Musiklebens aufruhen sollte und zugleich von anthropologischen Vorannahmen eines neuen Menschen durchdrungen war.34 Basierend auf einem so originellen wie eigenwilligen musikalischen Formkonzept entwarf er hierbei die Vorstellung einer durch wechselseitige Kommunikation miteinander verbundenen Gesellschaft, die sich am Vorbild einer neuen Kunst ausrichtete und diese zur Grundlage gelingender Vergesellschaftung erhob. Kennzeichnend ist hierbei, dass es Bekker keineswegs darum ging, einen systematisch angelegten und umfassenden Entwurf einer neuen Gesellschaftsordnung zu implementieren. Sein musiksoziologisches Formkonzept richtete sich zwar an die demokratisch verfasste (Massen-) Gesellschaft der Nachkriegsjahre; es war allerdings zugleich ein Verfahren, das der fortwährenden Aktualisierung und Bestätigung bedurfte. Insofern kann es 33 Bekker, Das deutsche Musikleben, S. 19. Vgl. zur Diskussion von Bekkers Formbegriff außerdem Eichhorn, Paul Bekker, S. 175 ff. 34 Bekker, Kunst und Revolution, S. 13. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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eher als ein »›Ad-hoc‹-Verfahren demokratisch legitimierter kleiner Schritte« beschrieben werden.35 Die Wertschätzung der kommunikativen Potenziale von Musik stand für Bekker in engem Zusammenhang mit der Vorstellung eines durch Musik hervorzubringenden neuen Menschen beziehungsweise der Wiederentdeckung und -erweckung des ›Menschen an sich‹: »Rufen wir den Menschen wach in jedem. Wir werden sehen, daß dieser Mensch sich zeigen und bewähren wird, größer und reicher, als wir zu hoffen wagten.«36 Die Denkfigur des neuen Menschen stand gerade in der Zwischenkriegszeit im Zentrum zahlreicher Reformkonzepte und Utopien. Mit der Hoffnung auf einen neuen Menschen verbanden sich gruppenspezifisch sehr verschiedenartige Entwürfe einer neuen Gesellschaft, war doch die »Idee des Neuen Menschen«37 aufs engste verknüpft mit der Vorstellung der Gestaltbarkeit und Neuschaffung der Welt sowie einer guten Gesellschaft. Dass die Versprechung eines neuen Menschen, der »durch die gesellschaftlichen Kräfte herstellbar« und »planbar« gemacht werden sollte,38 zugleich eine »Obsession des zwanzigsten Jahrhunderts« bezeichnete, zeigt die Fülle der Kontexte und Ausdeutungen, in denen von ihm die Rede war:39 Von Ernst Jüngers Arbeiter-Idealbild eines heroisch-kalten Kämpfers über den dynamisch-perfekten Maschinen-Menschen des italienischen Futurismus bis hin zu den sozialistischen Träumen kollektiver Harmonie reicht die Bandbreite der mit dem Begriff verbundenen Vorstellungen und Hoffnungen. Konzeptionen eines neuen Menschen schwangen ebenso in den Debatten und Auseinandersetzungen um die sogenannte Neue Musik mit, und auch hier waren sie verbunden mit  – zumeist implizit bleibenden  – Debatten um neuartige Formen der Vergesellschaftung.40 Die Neue Musik hatte sich zwar – etwa mit ihren Protagonisten Arnold Schönberg, Anton Webern und Alban Berg – 35 So eine treffende Formulierung Christoph Asendorfs, mit der er Karl Poppers »Die offene Gesellschaft und ihre Feinde« (München 1980) charakterisiert; diese lässt sich aufgrund ihrer Betonung situativer Praktiken auch auf Paul Bekkers musiksoziologisches Formkonzept übertragen, vgl. Christoph Asendorf, Die Künste, der Neue Mensch und die Räume der technischen Welt, in: Der Neue Mensch. Obsessionen des 20. Jahrhunderts. Ausstellungskatalog, hg. von Nicola Lepp u. Annette Beckmann, Dresden 1999, S. 57–68, hier S. 63. 36 Bekker, Kunst und Revolution, S. 26. 37 Alexandra Gerstner u. a., Auf der Suche nach dem Neuen Menschen. Eine Einleitung, in: dies. u. a. (Hg.), Der Neue Mensch – Utopien, Leitbilder und Reformkonzepte zwischen den Weltkriegen, Frankfurt 2006, S. VII–XIV, hier S. VIII . 38 Gottfried Küenzlen, Der neue Mensch. Eine Untersuchung zur säkularen Religionsgeschichte der Moderne, Frankfurt 1997, S. 20. 39 Vgl. den Ausstellungskatalog Der Neue Mensch. 40 Was Christoph Asendorf in Bezug auf Architektur und Design, auf Körperbilder und Malerei darlegt, kann durchaus auch auf die musikalischen Form- und Stilexperimente der Zwischenkriegsjahre übertragen werden, vgl. ausführlich Christoph Asendorf, Die Künste, S. 62. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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bereits lange vor dem Ersten Weltkrieg etabliert, hatte sich aber auch in den Jahren nach 1918 noch nicht zu einer integralen Gesamtbewegung formieren können und fristete auf den Spielplänen und Konzertprogrammen zahlreicher Opern- und Konzerthäuser nach wie vor ein Nischendasein. Dennoch wurde sie aufgrund ihrer Suche nach neuartigen Klängen und Formen mit Vorstellungen von Fortschritt und grundlegender Erneuerung in Verbindung gebracht. Zu den Fürsprechern und Vorkämpfern der Neuen Musik zählte auch Paul Bekker, dessen Reformvorstellungen des öffentlichen Musiklebens bei den verantwortlichen Kulturpolitikern der Nachkriegsjahre – namentlich bei Leo Kestenberg, der in den 1920er Jahren als Musikreferent im Preußischen Kultusministerium tätig war und bis 1937 rege mit Bekker korrespondierte, wobei er sich emphatisch als »Vollstrecker« von Bekkers Ideen bezeichnete41  – ein enormes Echo fanden. Bekkers Anrufungen des Menschen an sich ziehen sich durch weite Teile seiner schriftstellerischen Arbeiten, wobei sie in den Abhandlungen, die sich mit dem Gesamtkunstwerk Oper auseinandersetzen, besonders prominent vertreten sind: Für Bekker war die singend sich äußernde Menschenstimme ein zentrales Kennzeichen dieses neuen Menschen, eines Menschen, der sich durch eine »zartere, feiner gegliederte Psyche«42 auszeichnen und die »Tyrannei kleinlichen Kastengeistes«43 abstreifen sollte. Bekker plädierte damit für die Abkehr vom adelig-bürgerlichen Musikbetrieb des 18. und 19. Jahrhunderts, dem er Missstände wie ein übersteigertes Starsystem vorwarf und dem er anlastete, die Kunst zum »vornehme[n] Unterhaltungsspiel« degradiert zu haben.44 Demgegenüber wollte er mit dem Menschen an sich den »einzigen Mittel- und Drehpunkt« des Theaters wieder neu entdecken und ins Zentrum der schöpferischen Theaterarbeit der Gegenwart gerückt sehen.45 Hierbei ging es ihm darum, die unmittelbare Wirkmacht der Kunst wieder stärker hervorzuheben und zugleich die für den bürgerlichen Musikbetrieb bis dahin unan­gefochten geltende Autorität des gebildeten Geschmacksurteils zurückzunehmen, das sich – so Bekker – in den Zwang zu einer einseitig intellektuellen Bewertung »jeder Kunstdarbietung« verkehrt habe.46 Aus diesem Grund engagierte er sich besonders für eine Reformierung des Musiktheaters, das er in seinem ursprünglichen »SpielCharakter« wiederbeleben wollte: Im Gegensatz zum Schauspiel nämlich – so Bekkers Überzeugung  – nehme die Oper nicht in erster Linie »den Intellekt und die geistige Vorstellungskraft in Anspruch«; vielmehr wirke sie unmittelbar und überwältigend durch ihre »optische[n] und akustische[n] Eindrücke« –

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Vgl. Kestenberg, Gesammelte Schriften. Band 3.2, S. 28. Bekker, Neue Musik, S. 94. Bekker, Kunst und Revolution, S. 25. Ebd., S. 18. Paul Bekker, Oper und Operntheater in der Gegenwart, in: Die Musik 22. 1930, S. 333– 346, hier S. 343. 46 Bekker, Kunst und Revolution, S. 29. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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namentlich den Zauber der menschlichen Stimme – auf die »sensualistischen Aufnahme­organe« des anwesenden Publikums.47 Die ganzheitlich-affektiven Dimensionen der Oper machten für Bekker somit ihren besonderen Stellenwert aus, durch die sie die Kraft einer »Elementarerscheinung« annehme und als »Erlebnis« eine intensive »Wirkung« auf den »ganze[n] Mensch[en]« auszuüben vermöge.48 Als Reinform einer atmosphärischen Erlebniskunst stand die Oper daher in engem Zusammenhang mit seiner Vision eines neuen Menschen: Es werden jetzt Menschen in unsere Theater und Konzerte, in unsere Ausstellungen, Museen und öffentlichen Bauten kommen, Menschen, die weder Geschmack noch Urteil haben […] Menschen, die dafür aber wirkliche Menschen sind und aus diesem reinen, unverbrauchten Menschentum heraus ganz andere Gesichtspunkte, ganz andere Kriterien aufstellen werden, als wir sie gewohnt sind. Es werden Menschen sein, die an Stelle des wählerischen Feinschmeckertums den Mut der freien Gefühlshingabe und an Stelle des Verstandesurteils die ethische Willensbereitschaft setzen.49

Musikpolitische Reformbestrebungen band Bekker somit an eine anthropologisch motivierte Denkfigur des neuen Menschen zurück, auf den er seine Hoffnung setzte und der für ihn den »innere[n] Sinn der Revolution« ausmachte.50 Dadurch erklärt sich auch, dass er den Schwerpunkt seiner Arbeit als Intendant der preußischen Staatsbühnen in Kassel und Wiesbaden auf das Gebiet der Oper verlagerte. Dabei wird gleichwohl auch diskutiert werden müssen, inwiefern diese gleichsam idealtypische Vision einer mittels musikalischer Praktiken hervorzubringenden neuen Gesellschaft von Publikum und Presse aufund angenommen wurde. Kommunikative Atmosphären  – darauf ist bereits hingewiesen worden  – können sich gegebenenfalls als hochgradig störanfällig und fragil erweisen, wie auch im Fall der Theaterarbeit Bekkers aufgezeigt werden soll. Zuvor wird allerdings kursorisch auf das breitere Diskursumfeld eingegangen, in dem sich Bekker mit seiner Forderung nach einem neuen Menschen beziehungsweise nach einer neuen, ästhetisch hervorgebrachten Gesellschaft verorten lässt.

47 Bekker, Oper und Operntheater in der Gegenwart, S. 337. 48 Bekker, Kunst und Revolution, S. 30. 49 Ebd. 50 Ebd., S. 12. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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III. Walther Rathenaus Vision einer Neuordnung der Gesellschaft durch (Kultur-)Politik In seinem 1917 erschienenen Essay »Von kommenden Dingen« skizzierte der spätere Reichsaußenminister Walther Rathenau eine umfassende politische, ökonomische und ethische Neuordnung der Gesellschaft. Neben der Transformation des wirtschaftlichen Systems – einer der zentralen Aspekte der Analyse, auf den hier allerdings nicht eingegangen werden soll – stand für Rathenau die Neuformierung der politischen Kultur im Zentrum: »Von kommenden Dingen« sollte dazu beitragen, »Breschen« zu schlagen, »durch die der erste Hauch des neuen Reichs hereindringen« sollte.51 Rathenau entwarf in einer stellenweise blumig-mystischen Sprache das Ideal eines künftigen Volksstaates, der den sittlich-tätigen Gemeinschaftswillen aller verkörpern sollte: »Eine tiefe Verantwortung soll den Menschen an alle Handlungen seines Staates binden, die gleiche Verantwortlichkeit soll ihm bewußt machen, dass jede Handlung, die er begeht, eine Handlung des Staates ist.«52 Diesen Volksstaat definierte Rathenau im Sinne einer sich selbst erneuernden und regulierenden »solidarischen Demokratie«, wie er in seiner 1919 erschienen Abhandlung »Die neue Gesellschaft« ausführte.53 Diese neue Gesellschaft sollte weder nach »Klassen und Kasten gespalten«, noch nach »Herkunft und Besitz gestuft«, sondern im Sinne der »Herrschaft des Volkes über sich selbst« nach »Geist, Willen, Leistung und Verantwortung« geordnet sein.54 In Rathenaus Schriften – besonders in der bereits zitierten Abhandlung »Die neue Gesellschaft«  – findet sich neben klassischen kulturkritischen Topoi  – etwa der Kritik an der Gegenwart als einem mechanistischen Zeitalter – auch die Überzeugung, an der Schwelle einer neuen Zeit zu stehen und diesem »Geist der Zukunft« den Weg ebnen zu müssen.55 Hier wurde das Ideal der Bildung und der Selbsterziehung beschworen, das zum zentralen organisierenden Prinzip des neuen Volksstaates werden solle. Bildung charakterisierte Rathenau  – emphatisch an die Tradition des Idealismus anknüpfend – als »Lebensmacht«, die Deutschland aus der Krise der Gegenwart herausführen und den »Eintritt in ein neues Zeitalter« ermöglichen könne.56 Offener Austausch und gegenseitige Anteilnahme bezeichneten dabei für ihn die notwendige innere Haltung, mit der diese neue Gesellschaft hervorgebracht werden konnte: Schulung, Erziehung, Erfahrung und Lebensart sollten grundsätzlich jedem zugänglich sein, und diesem Ziel müsse – so Rathenau – die Reorganisation von Forschung und Verwaltung entgegenstreben. Implizit verwies Rathenau mit diesen Äußerun51 52 53 54 55 56

Walther Rathenau, Von kommenden Dingen, Berlin 1917, S. 222. Ebd., S. 257. Walther Rathenau, Die neue Gesellschaft, Berlin 1919, S. 94. Ebd., S. 94 f. Ebd., S. 69. Ebd., S. 72. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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gen bereits auf einen als notwendig erachteten Stilwechsel der politischen Kommunikation, die stets alle Mitglieder der erhofften solidarischen Demokratie adressieren sollte. Rathenau charakterisierte die Gesellschaft hierbei als »Mannschaft«, die von gleichen Interessen und Leidenschaften zusammengehalten wird und einander auf Augenhöhe begegnet: Das Land der Bildung erscheint dem Handarbeiter nicht mehr als eine unbetretbare Insel, sondern als ein Bezirk, den er täglich betritt und in dem das Heimatsrecht ihm freisteht. Die Voraussetzung der Schule besitzt künftig ein jeder, das Maß seiner Fortbildung kann weder durch Mangel an Geld, noch an Zeit, noch vor allem an unverbrauchter Kraft ihm beschränkt werden. Er verkehrt dauernd mit Gebildeten, und ist im Verkehr gleichzeitig ein Gebender und Empfangender; die Denkweise, die Methodik und Enzyklopädik der geistigen Arbeit, heute ein Jugenderbteil der wenigen, wird ihm zu eigen; die zweifache Sprache des Landes, die der Begriffe und die der Dinge, wird für ihn eine.57

Rathenau, der umtriebige Wirtschaftsmagnat und Kulturmäzen, der Erfolgsschriftsteller und Außenminister, ist häufig als »Symbolfigur seiner Epoche« charakterisiert worden, freilich auch als begabter Dilettant und Außenseiter, der nie wirklich dazugehörte, der aber die »Stimmung des Auf- und Umbruchs«, die die Jahrzehnte um 1900 kennzeichnete, wie kaum ein zweiter repräsentierte und mitprägte.58 Im Kontext einer ästhetischen und kulturellen Rehumanisierung in den 1920er Jahren spielt Rathenau eine Schlüsselrolle, da er, der politisch und wirtschaftlich einflussreiche »system builder«,59 in seinen Schriften immer wieder auf den »Widerspruch zwischen einer ungehemmten großtechnischen Vergesellschaftung und dem Interesse an einer Bewahrung humaner Lebensform, Kultur und Umwelt« hingewiesen hat.60 Den inneren Widersprüchen einer technisierten, kapitalistischen Prinzipien folgenden Moderne versuchte Rathenau mit einer utopistisch eingefärbten »Seelenevolution« zu begegnen61, um »Kunst und Technik«, »Wirtschaft und Wissenschaft« miteinander in Einklang bringen zu können, wodurch er heute als »Phänotyp der Moderne« schlechthin erscheint.62 57 Ebd., S. 88. 58 Siehe exemplarisch Lothar Gall, Walther Rathenau. Portrait einer Epoche, München 2009, S. 249. Vgl. außerdem Shulamit Volkov, Walther Rathenau. Weimar’s Fallen Statesman, New Haven 2012. 59 Vgl. hierzu ausführlich Thomas P. Hughes, Walter Rathenau. »System builder«, in: Tilmann Buddensieg u. a., Ein Mann vieler Eigenschaften. Walther Rathenau und die Kultur der Moderne, Berlin 1990, S. 9–31. 60 Hans Dieter Hellige, Walther Rathenau. Ein Kritiker der Moderne als Organisator des Kapitalismus, in: Buddensieg u. a., Ein Mann vieler Eigenschaften, S. 32–54, hier S. 52. 61 Zit. n. ebd., S. 52. 62 Wolf Lepenies, Das Geheimnis des Ganzen, in: Buddensieg u. a., Ein Mann vieler Eigenschaften, S. 140–142, hier S. 141. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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IV. Neuordnung der Gesellschaft durch Politik und Musik: Leo Kestenberg und seine musikpädagogische Reform der 1920er Jahre Rathenau liefert mit seinen Plänen zur Reorganisation der politischen Kultur und vor allem mit seiner Hervorhebung von Erziehung und Selbstbildung eine repräsentative Vorlage, die anschaulich zeigt, dass auch ein Akteur wie Leo Kestenberg und seine seit 1918 vorangetriebene preußische Schulmusikreform eingelassen waren in einen nicht nur negativ krisengestimmten Kontext der Zwischenkriegszeit. Wie Rathenau war auch Kestenberg, der als Pianist, Kulturpolitiker – konkret zum Beispiel als Musikreferent des Preußischen Kultusministeriums  – und Musikpädagoge gleichfalls als hybride Sozialfigur beschrieben werden kann, davon überzeugt, dass der Verfall des wilhelminischen Kaiserreiches diejenigen begünstige, die die Neuorganisation der politischen Kultur auf der Grundlage eines humanistisch inspirierten, egalitären Bildungsideals durchsetzen wollten. Kestenbergs Reform lässt sich in diesem Sinn als eine im Medium der Kunst vermittelte konkrete soziale Utopie charakterisieren, als Vision einer Erneuerung der Gesellschaft aus dem Geist der Kunst. Ziel seiner sozialdemokratischen Bildungspolitik war dabei die klassenlose Kulturgemeinschaft. Die Demokratisierung der Kultur sollte vorrangig dadurch verwirklicht werden, dass breite Bevölkerungskreise an Bildung herangeführt und gezielt individuell gefördert werden sollten. Sein Reformwerk, das die institutionellen Voraussetzungen für die Musikausbildung vom Kindergarten bis zur Hochschule schaffen wollte und zudem der Erwachsenenbildung im Volkshochschulbereich, der Lehrerausbildung, den Musikmedien wie auch der musikalischen Heilpädagogik grundsätzliche Impulse gab, war in besonderer Weise dem Prinzip einer emanzipatorischen Selbstbildung verpflichtet. 1921 veröffentlichte er sein Buch »Musikerziehung und Musikpflege«, ein Manifest, in dem er sein kulturpolitisches Programm im Detail skizzierte.63 Kestenberg – wie auch Rathenau – wirkte somit als Vertreter politischer Institutionen und war entsprechend ein mit offiziellen Macht­ befugnissen ausgestatteter Initiator umfassender Veränderungsprozesse. Herausragende Projekte, mit denen er der Kulturpolitik der Weimarer Republik seinen Stempel aufdrückte, wie etwa das Experiment der seit 1927 unter der Leitung Otto Klemperers stehenden Kroll-Oper, gingen auf Kestenberg zurück. Des Weiteren holte Kestenberg seinen einstigen Lehrer, den Komponisten ­Ferruccio Busoni, sowie Arnold Schönberg an die Berliner Akademie der

63 Leo Kestenberg, Musikerziehung und Musikpflege, Leipzig 1921. Vgl. zur nachfolgend dargestellten Musikreform Kestenbergs ausführlich: Günther Batel, Musikerziehung und Musikpflege. Leo Kestenberg. Pianist – Klavierpädagoge – Kulturorganisator – Reformer des Musikerziehungswesens, Wolfenbüttel/Zürich 1989, S. 49 ff. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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Künste und verpflichtete namhafte Komponisten und Dirigenten wie Franz Schreker und Wilhelm Furtwängler nach Berlin. Er kann somit als eine Persönlichkeit beschrieben werden, die das schillernde Musik- und Kulturleben der Metropole in den 1920er Jahren maßgeblich prägte.64 Seine Reformmaßnahmen gewinnen vor dem Hintergrund einer allgemeinen Krisenstimmung, die mit den umwälzenden sozialen und politischen Verän­ derungen der frühen Zwischenkriegsjahre einherging, zusätzlich an Gewicht. Mit der Entwertung vergangener Erfahrung stiegen zugleich die Erwartungen an die kommende Zukunft wie auch die Anforderungen, die zur Bewältigung dieser Stimmung notwendig wurden. Viele Intellektuelle der Zwischenkriegsjahre  – so hat es Peter Fritzsche treffend formuliert  – sahen sich als unerschrockene Erforscher, als »intrepid explorers«, die zur Neukartierung der politischen Kultur und zur Formierung einer neuen Gesellschaft beitragen sollten.65 Die Künste spielten im Prozess der Möblierung neuer Möglichkeitsräume eine herausragende Rolle, denn ästhetischen Erfahrungen wurde die Kraft zugeschrieben, neuartige emotionale Erlebnisdimensionen zu erschließen und dadurch zugleich als Ansporn zu wirken, an der Gestaltung einer neuen politischen Kultur mitzuwirken. Zentral sind in diesem Zusammenhang Leo Kestenbergs Einschätzungen zur Funktion der neuen republikanischen Staatstheater: Diese sollten dem Weimarer Staat, der noch nicht über einen »ausgeprägten Inhalt« verfüge, »ein Gesicht […] formen«, wie er in einem Brief an Paul Bekker hervorhob.66 Der »unorganischen, kritischen, uneinheitlichen« Gesellschaft der Gegenwart sollte eine neuartige Theaterkultur ein verändertes Gemeinschaftsempfinden nahebringen.67 Kestenberg hob hierbei besonders die zentrale Stellung der Oper hervor, erziehe diese die Gesellschaft doch »zum musikalischen Hören in einem weiteren Sinne, als es jeder anderen musikalischen Form erreichbar« sei.68 Dadurch werde sie zugleich zu einem sozialen »Forum«, da – so seine Hoffnung – auch jene »Kreise«, die »im allgemeinen für musik­ pädagogische Bemühungen kein Interesse« aufbrächten, durch das »Operntheater spielend zur Musik erzogen« würden.69

64 Vgl. zu Kestenbergs Musikreform Barbara von der Lühe, Die Musik war unsere Rettung. Die deutschsprachigen Gründungsmitglieder des Palestine Orchestra, Tübingen 1998, hier S. 209 f. 65 Peter Fritzsche, Historical Time and Future Experience in Postwar Germany, in: Wolfgang Hardtwig (Hg.), Ordnungen in der Krise. Zur politischen Kulturgeschichte Deutschlands 1900–1933, München 2007, S. 141–164, hier S. 141. 66 Kestenberg, Gesammelte Schriften. Band 3.2, Brief an Bekker vom 16.8.1925, S. 72. 67 Ebd., Brief 173. Leo Kestenberg an Paul Bekker, 9.8.1921, S. 60. 68 Leo Kestenberg, Geleitwort, in: Paul Bekker, Das Operntheater, Leipzig 1931, S.  VIIf., hier S. VII . 69 Ebd. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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V. Neuordnung der Gesellschaft durch Musik und musikalische Praxis am Beispiel Paul Bekkers Eine ähnliche musikpolitische und -soziologische Argumentationsweise findet sich auch in zahlreichen frühen Publikationen Paul Bekkers wieder, der Kestenbergs Sehnsucht nach einer »Künstlerrepublik« teilte.70 Eine grundsätzliche institutionelle Neuorganisation des öffentlichen Musiklebens  – von der Abschaffung der Theaterzensur über die Bildung von Bühnenräten und anderen Selbstverwaltungsorganen bis hin zur Neuregelung der Leitungsstrukturen der Bühnen – sollte dabei flankiert werden von innerästhetischen Neuerungen, die ihrerseits die Spielpläne der Opernhäuser und Konzertsäle modernisieren sollten. Für Bekker war dies ein wesentliches Element, um den »öffentlichen Kunstgeschmack« des Publikums langfristig umgestalten zu können.71 Künstlerrepublik und »Kunstgemeinde« lassen sich dabei als Modell beziehungsweise als Idealbild sozialer Vergesellschaftung interpretieren: Gemeinsam mit der Abkehr von der »plutokratische[n] Betriebs- und Verwaltungsart« der Bühnen sollte sich das Verschwinden der »plutokratische[n] Zusammensetzung des Publikums« vollziehen. An die »Stelle des durch Bildung, Besitz und gesellschaftliche Position abgegrenzten Kastenwesens der Hörerschaft« sollte die in »menschlich einheitlichem Fühlen vereinigte Kunstgemeinde« treten.72 Einflussreiche Arbeiten, die um die Frage einer Neuordnung des politischen und kulturellen Lebens kreisten, entstanden wie im Falle Rathenaus bereits im Krieg, namentlich die 1916 publizierte musiksoziologische Untersuchung »Das deutsche Musikleben«. Hier entwarf Bekker seine Vision einer neuen Gesellschaftsordnung, die sich im kommunikativen Akt des gemeinsamen ästhetischen Erlebnisses konstituieren sollte. Bekker verabschiedete hier die Vorstellung einer absoluten Form; einer das Werk hervorhebenden Ästhetik stellte er den Begriff einer kommunikativ hervorzubringenden Form entgegen. Erst im Augenblick der Aufführung vor einem anwesenden, sich dem Darzubietenden öffnenden Publikum sowie mithilfe einer reflexiv ordnenden Kritik entstehe  – so Bekker  – ästhetische Form im eigentlichen Sinn. Im Künstler sah Bekker hierbei in erster Linie den schöpferischen Gestalter musikalischer »Klangbilde[r]«.73 Musik war für Bekker somit grundsätzlich nur als Kommunikation denkbar, sie bezeichnete einen kreativ-kommunikativen Akt, der die Hörerschaft – bislang eine »zufällige Vielheit von Einzelwesen« – in ein »Kollektivwesen« transformieren konnte.74 Im Spiegel des von Gernot Böhme entwickelten Atmo­ 70 71 72 73 74

Bekker, Kunst und Revolution, S. 13. Ebd., S. 8. Ebd., S. 21 f. Bekker, Das deutsche Musikleben, S. 2. Ebd., S. 23. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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sphären-Konzeptes gewinnt Bekkers Formbegriff noch einmal zusätzlich an Kontur: Böhme, für den der Begriff der Atmosphäre den Ausgangspunkt einer neuen Ästhetik markiert, definiert Atmosphären als »etwas, das von den Dingen, von Menschen oder deren Konstellationen ausgeht und geschaffen wird.«75 Atmosphäre bezeichnet für Böhme dabei die gemeinsame Wirklichkeit des Wahrnehmenden und des Wahrgenommenen. Sie ist die Wirklichkeit des Wahrgenommenen als Sphäre seiner Anwesenheit und die Wirklichkeit des Wahrnehmenden, insofern er, die Atmosphäre spürend, in bestimmter Weise leiblich anwesend ist.76

In frappierender Übereinstimmung war auch für Bekker das »Leben der Form« an die gemeinsame Wirklichkeit des dargebotenen Kunstwerks und des wahrnehmenden Publikums gebunden. Die musikalische Form erzeugte im »Augenblick ihrer Erscheinung, ihres Gestaltwerdens« ihrerseits eine ganz eigene Wirkmacht, die gebunden war an das »Bewußtsein derer, die schöpferisch an ihrem Entstehen mitgewirkt haben« und die dieses »Zusammenwirken vielgestaltiger schöpferische Kräfte als Erlebnis besonderer Art, als Daseinsgestaltung von unverlierbarem Wert« empfinden konnten.77 Indem Bekker die musikalische Form darüber hinaus als eine »tätige, sozial sich auswirkende und bauende Lebensmacht« definierte,78 wies er ihr zugleich eine politische Funktion zu und erklärte sie zu einer »Macht der Volksorganisation, zum Ausdruck des ästhetischen Gesamtwillens« und »zur schöpferischen Kraft innerhalb unserer sozialen Erscheinungsform«.79 Auf Seiten der Hörenden setzte dies freilich eine spezifische Rezeptions- und Aneignungskompetenz für das Gehörte beziehungsweise Aufgeführte voraus, so dass Bekkers Formbegriff zugleich eine Rezeptionsästhetik implizierte, die unmittelbar an Leo Kestenbergs kulturpädagogisches Programm der Volksund Selbstbildung anknüpfen konnte. Dieses ästhetisch hervorgebrachte Kollektivwesen beschrieb Bekker als Idealtyp gelingender Vergesellschaftung: »Das wahrnehmende Kollektivwesen erhält persönliche Züge, es wird zu einer durch besondere Gemeinschaft verbundenen Gesamtheit: es wird zur Gesellschaft.«80 Das musikpädagogische Reformwerk einer klassenlos-demokratischen Volkskunst führte Bekker – der sich später allerdings desillusioniert von parteipolitischer Arbeit im engeren Sinn abwenden sollte  – insofern fort, als er seinen Formbegriff mit einer bestimmten Gesellschaftsvision verband: »Unser Gesellschaftsbegriff weitet sich von der Vorstellung eines nur auserwählte Kreise 75 76 77 78 79 80

Vgl. Gernot Böhme, Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt 2013, S. 33. Ebd., S. 34. Bekker, Das deutsche Musikleben, S. 311. Ebd., S. 128. Ebd., S. 335 f. Ebd., S. 23. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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umfassenden, in sich geschlossenen Gemeinwesens zu einer alle Schichten vereinigenden, aus dem Bewusstwerden der gemeinsamen Arbeit erwachsenden Gesamtheit.«81 Bekker schwebte hierbei ein Staat vor, der im Sinne einer nationalen, demokratisch verfassten »Kulturgemeinschaft« organisiert sein sollte. Der im Grunde unmündige Untertan des wilhelminischen Obrigkeitsstaates sollte nun erst zum regen Gestalter politischer Angelegenheiten erzogen, oder  – wie B ­ ekker 1916 formulierte  – »mobil« gemacht werden.82 Staatliche Kulturpolitik sollte jene kreativ-schöpferischen Freiräume schaffen, in der sich die demokratische Gesellschaft als solche formieren und erleben können sollte. Die in schöpfe­ rischer Praxis von ausführenden Künstlern und Musikern, Zuhörenden und Kritikern hervorgebrachte Kunst definierte Bekker als »Zeitkunst« und »Gegenwartskunst« im eigentlichen Sinn.83 Nicht nur das ästhetische Erleben wirkte in die Gesellschaft hinein, sondern umgekehrt sollte auch die Gesellschaft auf die Musikauffassung und -darbietung zurückwirken: Wie die Gesellschaft, wie der Musiker wächst, so wächst mit ihnen und durch sie die Musik selbst über das Vergnügungs-, Unterhaltungs- und Erbauungsmittel einzelner Kreise, über das Erwerbsmittel der Musiker hinaus zur ideellen Verkörperung unseres Gemeinsamkeitswillens, zur lebenden Gestalt unseres ästhetischen Daseins. Sie kann dies, weil sie Zeitkunst im reinsten Sinne ist. Nur indem sie diese Bestimmung, Zeitkunst zu sein, wahrhaft begreift und erfüllt, nur indem wir sie als solche erkennen und zur Entfaltung bringen, gewinnt ihr Dasein Berechtigung und Sinn. Die alte starre Form der Musik ist Vergangenheit geworden. Sie ist mit den Formen der alten Gesellschaftsordnung verfallen und hat ihre lebendige Wirkungsfähigkeit verloren. Unsere Musik muß Gegenwartskunst werden. Gegenwartskunst im Sinne schöpferischer Gestaltung neuer Lebensideen, Ideen, die, aus der Notwendigkeit geboren, zur Grundlage einer neuen Daseinsanschauung werden.84

Bekker beharrte gleichwohl darauf, dass diese kunstpolitischen Reformen keine schlichte Ableitung der soziopolitischen Umwälzungen bezeichneten. Politischer und ästhetischer Umbruch waren für ihn vielmehr synchrone Prozesse, die dem »gleichen Urgedanken« individueller Emanzipation und Befreiung entsprangen.85 In den ersten Revolutionsmonaten ab November 1918 war Bekker in Frankfurt am Main maßgeblich an Aktivitäten beteiligt, die das Musik­leben demokratisieren wollten: So initiierte und organisierte er neben anderem so genannte »Volkskonzerte«, die breitere Bevölkerungsgruppen für Theater und Konzert begeistern sollten.86 In seinem Vortrag »Kunst und Revolution« von 1919 berichtete er von seinen Erfahrungen in Berliner Arbeiter-Konzerten, »in 81 82 83 84 85 86

Ebd., S. 335. Ebd., S. 36 f. Ebd., S. 335. Ebd., S. 336. Ebd., S. 14. Vgl. hierzu ausführlicher: Kestenberg, Gesammelte Schriften. Band 3.2, S. 50. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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denen die gehaltvollsten Werke unserer symphonischen und Kammermusikliteratur aufgeführt wurden«: Bereits im Vorfeld habe er sich besonders – so resümierte er rückblickend mit dem Gestus idealisierender Stilisierung – auf diese Ereignisse gefreut, denn ich wußte, daß ich selbst nie zu einer derart gesammelten Empfängnis solcher Werke kommen könne, wie in diesem Kreise. Die innere Ruhe, die Andacht, das Feier­ tägliche, das Verlangen und der Wille zur Kunst, der diese Menschen beherrschte, nahm jeden Hörer gefangen und erzeugte rückwirkend in ihm selbst erst die rechte Stimmung für Kunstempfängnis.87

Als außergewöhnlich hob Bekker hier die besondere Atmosphäre dieser Konzertereignisse hervor – von Ruhe, Andacht und feiertäglicher Stimmung ist die Rede –, die sich merklich von jener bürgerlichen Konzertroutine unterschieden, »in denen das Geschwätz, der Putz, die innere Unlust und Unrast, die Gleichgültigkeit verwöhnter Hörer« eine solche »Andacht zur Kunst« gar nicht aufkommen ließen.88 Bemerkenswert ist, dass Bekker besonderes Augenmerk auf die jeweiligen kommunikativen Qualitäten beider Ereignisse richtet: Während im ersten Beispiel die Freude gemeinsamen Kunsterlebens unter den an­wesenden Zuhörern zirkulierte und buchstäblich »jeden Hörer gefangen« nahm, konnte sich eine solche Atmosphäre gemeinsamen Erlebens im zweiten Beispiel nicht entfalten, da »innere Unlust und Unrast« eine andachtsvolle Stimmung nicht aufkommen lassen wollten. Die Wirkung der Kunst war für Bekker somit nicht an Wissen, Bildung und Urteilsfähigkeit gebunden, sondern an die individuelle »Empfänglichkeit für das, was wir Kultur überhaupt nennen«,89 sie war zugleich  – seinem Formkonzept entsprechend  – gebunden an die ungestörte Entfaltung kommunikativer Reziprozität: Kunst war grundsätzlich dialogisch verfasst im Sinne eines »Geben[s] und Nehmen[s]«, sie ließ sich nicht durch »einseitiges Produzieren des Schaffenden« hervorbringen.90 Wirkung entfalten konnte sie nur, sofern Künstler, Ausführende und Publikum sich innerlich öffneten und in Beziehung zueinander traten. Kunstdarbietungen sollten sich mithin durch eine besondere affektive Qualität auszeichnen, eine »Aristokratie des Herzens«, wie Bekker recht überschwänglich formulierte.91 Dieses neuartige Zusammenfinden ›gefühlter Gemeinschaften‹ stand in engem Zusammenhang mit Bekkers anthropologischer Argumentationsweise, die den »reinen, unverbrauchten« Menschen ausrief, der bereit war, an die »Stelle des wählerischen Feinschmeckertums den Mut der freien Gefühlshingabe« und an die »Stelle des Verstandesurteils die ethische Willensbereitschaft« zu setzen.92 87 88 89 90 91 92

Bekker, Kunst und Revolution, S. 16. Ebd., S. 16. Ebd., S. 16 f. Ebd., S. 17. Ebd., S. 17. Ebd., S. 17. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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1. Oper als integrative Bindungskunst: Franz Schrekers Oper »Der singende Teufel« und ihre Rezeption in Berlin und Wiesbaden 1928/29 Ab 1925 erhielt Bekker die Chance, sein Formkonzept in praktischer Arbeit zu testen. Leo Kestenberg berief ihn 1925 als Intendant an das preußische Staatstheater in Kassel, später dann an die Wiesbadener Bühne, die er bis 1932 leitete, als das preußische Staatstheater durch eine Notverordnung in ein Nassauisches Landestheater umgewandelt wurde. In seiner Zeit als Intendant preußischer Staatsbühnen stellte Bekker die Gesellschaft hervorbringende Kraft der Musik ins Zentrum seiner Theaterarbeit. Die von ihm geleiteten Staatstheater wollte er in »Volkstheater« umwandeln und auf eine »organische Erneuerung des Überlieferten« hinwirken.93 Gerade in einer Zeit, als sich die Kunstform Oper zunehmend in einer Situation der Krise befand  – die vielfältigen Debatten um die »Krise« der Oper in der Weimarer Republik waren spätestens um 1930 unüberhörbar94 –, war dies eine immense Herausforderung, die Bekker nicht zuletzt dadurch zu lösen suchte, dass er Elemente des Melodramatischen in seine Inszenierungen einbezog, die die Kluft zwischen Tradition und Moderne überbrücken und dadurch die erhoffte Volkskunst stärken sollten.95 Kunst begriff und inszenierte Bekker also nicht – wie etwa die Dadaisten – als Schockerlebnis, sondern im Sinne einer Tradition und Gegenwart umfassenden Bindungs- und Empfindungskunst. Den Komponisten Franz Schreker schätzte Bekker seit dessen früher Oper »Der ferne Klang« (1912) ganz besonders: In Schrekers Kompositionen glaubte Bekker jene Zentralität der menschlichen Stimme zu erkennen, die er selbst als notwendige Voraussetzung ansah, um die Kunstform Oper zu erneuern.96 Schreker, der mit dem Vorgänger von »Der singende Teufel«, seiner Oper »Irrelohe« (1924), bereits von vielen Musikkritikern angegriffen worden war, wurde in der zweiten Hälfte der Weimarer Republik zusehends für seine melodramatischen Sujets und seinen kompositorischen, an die Spätromantik an­ gelehnten Stil attackiert. Bekker allerdings sah gerade hier die Chance, die 93 Paul Bekker, Das Theater, in: Richard Grützmacher (Hg.), Wiesbaden. Seine Schönheit und seine Kultur, Wiesbaden 1929, S. 73–81, hier S. 77 f. 94 Bekker, Das Operntheater, S. 117 f. 95 Siehe in diesem Zusammenhang ausführlich Nannette Nielsen, Opera for the People. Hugo Herrmann’s Vasantasena (1930), in: Sarah Hibberd (Hg.), Melodramatic Voices. Understanding Music Drama, Farnham 2011, S. 159–181, hier S. 159 f. 96 In seinen 1932 publizierten »Briefen an zeitgenössische Musiker« findet sich im Brief an Franz Schreker dazu folgende Passage: »Aber es ist noch etwas vorhanden, das keiner Ihrer vielen Schüler von Ihnen gelernt hat, vielleicht weil es nur dem dafür erweckten Sinn erlernbar ist: Ihr Wissen um die menschliche Stimme, Ihre Kunst, diese Stimme charaktermäßig im Sinne ihres ureigenen Vermögens zu behandeln und Ihre ebenso große Kunst, innerhalb eines Werkes die Stimmen als besondere Träger der dramatischen Aktion gegeneinander zu stellen.« Bekker, Briefe an zeitgenössische Musiker, S. 69 f. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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Oper aus dem Kokon einer bildungsbürgerlichen Elitenkultur herauszulösen und gegen­über den ästhetischen Neuerungen des Kinos zu öffnen. Gerade nämlich das Aufgreifen melodramatischer Elemente – so seine Annahme – könne der Oper neuartige Rezipientenkreise erschließen und einen mass appeal entfalten, den avantgardistische Stilrichtungen wie die Neue Sachlichkeit oder die experimentelle Vierteltonmusik oftmals zu vermeiden suchten.97 Indem sie die Bildwelten des Kinos mit der auditiven Wirkmacht der Bühne vereinte, schien die Oper das ideale Medium, um eine kollektiv akzeptierte Zeit- und Gegenwartskunst zu schaffen und den Bereich des Ästhetischen zu humanisieren. Gemäß seiner Vorstellung einer integrativen Bindungskunst wollte Bekker die Oper für weite Bevölkerungsgruppen öffnen, ein Versuch, der angesichts der Ausdifferenzierung und zunehmenden politischen wie soziokulturellen Zerklüftung der Weimarer Gesellschaft allerdings nur bedingt erfolgreich sein konnte. »Der singende Teufel« lässt sich als ein Werk beschreiben, das durch seine Motivik und Handlung den Reformplänen Bekkers entgegenkommen musste, weil es nämlich die Macht der Musik selbst thematisierte – mit dem »singenden Teufel« war die im Werk eine zentrale Funktion einnehmende Orgel gemeint98 – und dabei eine außerordentliche Fülle neuartiger Orchesterklänge zum Einsatz brachte: Im I. Akt wurde die noch nicht fertig gestellte Orgel durch eine hinter der Bühne angespielte Schnarrorgel dargestellt; im III. Akt nahm die Orgel die Funktion eines »überwältigende[n] Kriegsinstrument[es] ein; im IV. Akt dann erklang das recht einfache, reparaturbedürftige Reiseinstrument eines maurischen Pilgers; schließlich endete das Werk in der Apotheose der nunmehr fer-

97 Zu Bekkers Einstellung gegenüber dem Melodrama vgl. ausführlich Nielsen, Opera for the People. 98 Die Handlung der Oper ist im frühen Mittelalter angesiedelt und behandelt den Konflikt zwischen fanatisiert-kriegerisch auftretenden Christen und von ihnen zu bekehrenden Nicht-Christen. Eingebettet in die tragische Liebesgeschichte zwischen dem Orgelbauer Amandus und dem Mädchen Lilian variierte Schreker im Verlauf der Handlung verschiedene Konstellationen, in denen der »fanatische Missbrauch der Kunst als Kriegsmittel« geschildert wird: »Der Wendepunkt der Handlung – das Verstummen der heidnischen Krieger vor den majestätischen Klängen der Orgel  – entstammte wahrscheinlich einer über hundert Jahre alten Erzählung von Heinrich von Kleist mit dem Titel »Die Heilige Cäcilie oder die Gewalt der Musik« (1810), in der die bilderstürmerischen Verwüstungen in einer niederländischen Klosterkirche des 16. Jahrhunderts durch eine musikalische Aufführung mit Orgel vereitelt werden. In Schrekers Oper jedoch nutzen die fanatisierten Christen die ›Gewalt der Musik‹ und die Orgel als ›teuflische Maschine‹ aus, um ihre Feinde nicht nur in Schach zu halten, sondern auch um sie abzuschlachten – ein reißerischer Meyerbeerscher Zug, der auch dem damaligen Theater des deutschen Expressionismus ideengeschichtlich nahe steht.« Bradford Robinson, Art. Franz Schreker. Der singende Teufel, in: Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters, hg. von Carl Dahlhaus, Bd. 5, München 1994, S. 646 f. Online unter: http://www.musikmph.de/musical_scores/ vorworte/2006.html. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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tiggestellten Großorgel, »die in Flammen aufgeht und dabei Klänge von überirdischer Schönheit in die Himmel streut.«99 Die »szenisch groß aufgemachte und musikalisch hervorragend durchge­ formte«100 Premiere der Oper in Berlin wurde denn auch zu einem »Kulturereignis ersten Ranges«.101 Obgleich insbesondere die Handlung des Werkes abfällig beurteilt wurde,102 lobten auch die Kritiker der Oper die komposito­ rischen Leistungen Schrekers und waren sich einig, dass die Handlung im Wesentlichen als »Anlaß zur Musik« anzusehen sei.103 Insbesondere das Ende des III. Aktes, in dem die Mönche von der erbitterten, zornigen Menge überwältigt und getötet wurden und das in seiner szenischen Monumentalität an die Prunkopern Giacomo Meyerbeers erinnerte, übte auf das anwesende Premierenpublikum eine starke Wirkung aus: »Schreker wurde nach der Kirchenszene lebhaft gerufen und gefeiert«, und auch die Leistung Erich Kleibers lobte die Presse als »vorbildlich sachlich« und »kraftvoll zusammenfassend«.104 Diese Andeutungen genügen, um die außerordentlich affektive Wirkung der Oper auf das anwesende Premierenpublikum zu beschreiben. Schreker selbst schrieb über eine der weiteren Berliner Aufführungen an Bekker: Gestern z. B. hörte man hier plötzlich, durch irgendwelche atmosphärischen Umstände vielleicht begünstigt, die Orgel so stark wie nie. Die Wirkung auf das Publikum war eine stärkere als je. […] Kleiber wurde vor dem 4. Akt mit Applaus empfangen und am Schluß hatten wir 11 Vorhänge, so daß ich vor den Vorhang mußte.105

Erneut hatte die Oper mit ihrer musikalisch-dramatischen Wucht offenbar eine außergewöhnliche Wirkmacht entfalten können: Schreker wies offen auf die atmosphärische Dichte des geteilten Kunsterlebnisses hin, so dass hier jenes wechselseitige »Geben und Nehmen« eingelöst werden konnte, das Bekker als essentiell für die Praxis von Opernaufführungen ansah.106 Schließlich wurde »Der singende Teufel« sogar während der ersten so genannten Berliner Festspiele im Mai und Juni 1929 aufgeführt.107 Der Erfolg der Berliner Vorführungen von »Der singende Teufel« demonstriert, dass die – ihrem Anspruch nach 99 100 101 102

Vgl. ebd. Frankfurter Zeitung, 26.2.1929, Abendblatt. Robinson, Art. Franz Schreker, S. 646 f. In seiner Besprechung in der Frankfurter Zeitung kritisierte der Musikreferent des Blattes, Karl Holl, »dieselbe Verwaschenheit, das gleiche unsichere Schwanken zwischen Wirklichkeit und Symbol, dieselben Schwächen billigen Sentiments und fragwürdigen Kulissenzaubers, wie Schrekers frühere Werke.« Frankfurter Zeitung, 11.12.1928, Abendblatt. 103 So etwa Karl Holl in seiner Besprechung der Oper: Ebd. 104 Ebd. 105 Schreker an Bekker, 6.3.1929, in: Paul Bekker u. Franz Schreker, Briefwechsel, hg. v. Christopher Hailey, Aachen 1994, S. 260. 106 Bekker, Kunst und Revolution, S. 17. 107 Vgl. Hailey, Briefwechsel, S. 253. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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sozial egalisierende  – Fusion von Tradition und Moderne, von cineastischer Ästhetik und musikalischer Hochkultur auch in einer Zeit der allgemeinen Opernkrise durchaus gelingen konnte. Nachdem Bekker die Intendantur des Wiesbadener Theaters übernommen hatte, wandte er sich bereits im Sommer 1928 an Schreker, um gemeinsam mit dem Komponisten eine Aufführung einer seiner Opern in die Wege zu leiten, wobei er sich schließlich für »Der singende Teufel« entschied.108 Von Anfang an schaltete sich Bekker, der die Berliner Generalprobe besucht hatte, vehement in die Bearbeitung des Werkes ein, um sie an die Anforderungen und Möglichkeiten der Wiesbadener Bühne anzupassen. Unter anderem wies er Schreker zu deutlichen Streichungen und Kürzungen einzelner Szenen an.109 Während der Vorbereitungs- und Probenzeit standen Intendant und Komponist in regem Kontakt. So bat Bekker Schreker darum, für das Programmheft einen kurzen Beitrag zu seiner Oper zu verfassen. In diesem äußerte sich Schreker auch zu Fragen der Werkrezeption, wobei er einen idealen Hörer/Zuschauer imaginierte, der in wesentlichen Teilen dem eingangs skizzierten Typus des wirklichen Menschen im Sinne Bekkers entsprach. Schreker gab in seinen einleitenden Bemerkungen ausdrücklich an, die Oper nicht für den fachkundigen Kritiker oder das distinguierte und geschmackssichere bürgerliche Opernpublikum geschrieben zu haben, sondern ganz im Gegenteil »für den absoluten Laien oder aber für den gebildeten Musiker«.110 Dementsprechend hoffte er auf eine »lebendige Aufführung« vor einem »unbefangenen Hörer«.111 Gleichwohl ließen sich der Erfolg und die Wirkung der Berliner Aufführungen in Wiesbaden nicht wiederholen: Gegenüber der Uraufführung, die durch ein »Höchstmaß« an künstlerischer Virtuosität und ein »Übermaß von Bildkraft« überzeugt hatte, wurde die »dramatische Wucht« der Hauptszenen in der Wiesbadener Inszenierung durch einen »Mangel an Oekonomie des Ganzen beinahe paralysiert.«112 Auch das Publikum zeigte sich »nicht gerade gefesselt«, sondern brachte der Inszenierung lediglich interessierte Neugier entgegen.113 In einem Brief an den Komponisten räumte Bekker denn auch bedauernd ein, dass die Oper keine »sehr in die Breite gehende Wirkung« habe entfalten können.114 Die unterschiedliche Rezeption der Oper verweist auf die Schwierigkeit, die er­ hofften Wirkungen einer Aufführung bei Publikum und Presse kalkulieren und Atmosphären damit berechnen und herstellen zu können.

108 Ebd., S. 238 f. 109 Ebd., S. 242. 110 Franz Schreker, Der singende Teufel, abgedruckt in: Hailey, Briefwechsel, S. 251. 111 Ebd. 112 So Karl Holl in seiner Besprechung der Aufführung: Frankfurter Zeitung, 26.2.1929, Abendblatt. 113 Karl Holl, in: Frankfurter Zeitung, 26.2.1929, Abendblatt 114 So Bekker in einem Brief an Schreker vom 2.3.1929, in: Hailey, Briefwechsel, S. 259. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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2. Beispiel einer neuartigen Kunstpraxis: Hugo Herrmanns Oper »Vasantasena« als Auftragsoper für das Wiesbadener Staatstheater Trotz dieses Misserfolgs hielt der Wiesbadener Intendant an seiner Überzeugung fest, eine Kunstpraxis ins Leben zu rufen, die den »ganzen Menschen« adressieren und dadurch eine neue Kunstgemeinde hervorbringen sollte.115 Abschließend wird daher ein Beispiel herausgegriffen, das für Bekkers Vorstellung einer Synthese von Musikästhetik und Politik im Sinne einer neuartigen Volkskunst charakteristisch war. Es handelt sich hierbei um ein Projekt ­Bekkers, mit dem er die Oper als Gebrauchskunst profilieren und die Wiesbadener Bühne künstlerisch von Berlin emanzipieren wollte. Bekker hatte wie Leo Kestenberg die Hoffnung, dass der Staat als repräsentative Verkörperung der demokratischen Gesellschaft die Rolle eines kunstfördernden Mäzens übernehmen und damit das Erbe von Kirche, Hof und Adel antreten würde. Bereits 1927 hatte Bekker im Wiesbadener Tagblatt in einem Artikel die »Rückkehr zum Auftragssystem der Theater« gefordert und dafür plädiert, dass der Staat dem Intendanten entsprechende Sondermittel zur Verfügung stellen solle.116 ­Bekker wollte damit eine eigenständige urbane Theaterkultur fördern, der sich das städtische Publikum in besonderer Weise verbunden fühlen sollte. Zugleich, so seine Hoffnung, sollte diese Arbeitsweise den Komponisten vom Druck »falscher Erfolgsspekulation« befreien und ihm die notwendige kreative Muße einräumen. Kestenberg akzeptierte Bekkers Vorschlag und noch im Oktober 1927 wurden dem Wiesbadener Staatstheater 10.000 Mark zugewiesen, die Bekker als Stipendium an einen »jungen, begabten, unbekannten und mittellosen Musiker« vergeben konnte.117 Bekkers Wahl fiel schließlich auf den jungen Komponisten Hugo Herrmann, der Lion Feuchtwangers Drama »Vasantasena« für die Wiesbadener Bühne vertonte.118 Das Werk, das auf einem altindischen Stoff basiert und das tragische Schicksal der Tempeltänzerin Vasantasena erzählt, wurde in der Spielzeit 1930/31 aufgeführt. Seine Inszenierung fällt in die Spätzeit von Bekkers Intendantentätigkeit, so dass einerseits Wandlungen innerhalb Bekkers ästhetischem Formkonzept aufgezeigt werden können; andererseits lässt sich darlegen, wie Bekkers musikästhetisches Kommunikationsangebot an den Komponisten und an das Wiesbadener Publikum konkret aufgenom115 Bekker, Kunst und Revolution, S. 31. 116 Paul Bekker, Rückkehr zum Auftragssystem der Theater, in: Wiesbadener Tagblatt, September 1927. 117 Vgl. ein entsprechendes Schreiben des preußischen Ministeriums für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung an Paul Bekker vom 27.  Oktober 1927, in: Akte ›Preisausschreiben Hugo Herrmann‹ in: Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden (HHSt AW), Abt. 428. Nr. 1410, Blatt 2. 118 Gleichzeitig darf nicht unerwähnt bleiben, dass sich Herrmann von 1934 bis 1937 als Leiter der Donaueschinger Musikfeste für die Kulturpolitik der Nationalsozialisten stark machte. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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men wurde. Im Sinne seiner Auffassung der musikalischen Form schaltete sich Bekker nämlich erneut aktiv und rege in den Kompositionsprozess der Oper ein und korrigierte – das zeigt etwa der Briefwechsel zwischen Intendant und Komponist – mehrfach die Pläne Herrmanns (etwa die Wahl des geeigneten Sujets betreffend).119 Bekker begriff die Komposition somit als partizipativen Prozess und deutete das Werk als Ergebnis von Aushandlungen, an denen Komponist, Kritiker-Intendant und das  – während der frühen Stadien des Produktions­ prozesses in seinen Reaktionen gleichsam zu antizipierende – Publikum aktiv beteiligt sein mussten. Vielleicht um einen Misserfolg wie im Fall von »Der singende Teufel« zu vermeiden und um die Publikumswirksamkeit des Werkes zu gewährleisten, wies Bekker Herrmann an, seine Oper auf zwei Stunden Spielzeit zu begrenzen.120 Ursprünglich favorisierte Herrmann ein Sujet, das mit revueartigen Sequen­ zen, mit Schauplätzen wie einer Zeche oder einem »Cabarett« zeitgemäße Schauplätze auf die Bühne bringen und damit besondere Modernität ausstrahlen sollte.121 Diesen Plänen begegnete Bekker skeptisch,122 und so entschied sich Herrmann schließlich dafür, Lion Feuchtwangers Dramenbearbeitung »Vasan­ tasena« (1915) zu vertonen.123 Dieser Wahl stimmte Bekker zu, ließ sich Feuchtwangers Drama doch mühelos im Kontext einer angestrebten Rehumanisierung der Künste verorten: In der Zeit des Ersten Weltkrieges entstanden, ließ sich das Stück unschwer als Plädoyer für Menschlichkeit und Vernunft deuten, und es war diese Facette des Stoffes, die auch Bekker reizte.124 »Vasantasena« wurde am Ende von der Kritik weitgehend wohlwollend aufgenommen: Die Frankfurter Zeitung etwa war überzeugt, dass die Oper »höchste Achtung und weitere Aufmerksamkeit« einfordere und würdigte »Vasantasena« als »Symptom eines Wandlungsprozesses«, der nach neuen szenischen und 119 Ausführlicher dazu Stephanie Kleiner, Staatsaktion im Wunderland. Oper und Festspiel als Medien politischer Repräsentation (1890–1930), München 2013, S. 463 f. 120 Vgl. einen Brief Bekkers an Hugo Herrmann vom 3.9.1928, in: HHSt AW, Abt. 428, Nr. 1410. 121 Vgl. den Brief Hugo Herrmanns an Paul Bekker vom 8.11.1928, in: Akte ›Preisausschreiben Hugo Herrmann‹, HHSt AW, Abt. 428. Nr. 1410, Blatt 9 f. 122 Vgl. das Antwortschreiben Paul Bekkers an Hugo Herrmann vom 5.12.1928, in: Akte ›Preisausschreiben Hugo Herrmann‹, HHSt AW, Abt. 428. Nr. 1410, Blatt 11 f. 123 Feuchtwangers Werk basierte auf dem Drama »Das irdene Wägelchen«; es schildert die tragisch endende Liebesgeschichte zwischen dem »zwar edlen, aber armen Kaufmann Tscharudatta« und »der schönen Kurtisane Vasantasena.« Das Drama, das 1916 am Großherzoglichen Hof und Nationaltheater in Mannheim uraufgeführt worden war, erwies sich als großer Erfolg. Innerhalb weniger Jahre wurde es »in mehr als hundert Vorstellungen gezeigt, so am Stadttheater Halle, an den Münchner Kammerspielen sowie in Berlin am Theater am Bülowplatz.« http://www.felix-bloch-erben.de/index.php5/ pid/1513/stueck/Vasantasena/Action/showPlay/fbe/. 124 Vgl. etwa Klaus Modick, Lion Feuchtwanger im Kontext der zwanziger Jahre, Königstein 1981, S. 110. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

Neuer Mensch durch Neue Musik?

musikalischen Ausdrucksmitteln suche und somit einen »neuen Willen zur Wirklichkeit« erkennen lasse.125 Dieses Beispiel zeigt mithin eindrücklich, wie­ Bekkers Ideal einer aktiven Gegenwarts- und Zeitkunst als Praxis aussah, nämlich als Kollektivkunst, die im Zusammenwirken von Komponist, Aufführenden und Gesellschaft (also Publikum und Kritik) entstehen sollte und damit nicht autonom, sondern nur im Modus der Wahrnehmung durch ein aufmerksames Publikum denkbar war.126 In einem Brief an das Berliner Kultusministerium konzedierte Bekker zwar, dass das Werk beim Publikum keinen überragenden Erfolg erzielt habe, verteidigte das Projekt aber mit großer Verve, da es erstens eine gelungene Zusammenarbeit zwischen Komponist und Staatstheater gegeben habe und das Projekt zweitens einen ernstzunehmenden Versuch darstelle, eine neuartige Opernform im Sinne einer auf Inklusion angelegten Bindungskunst zu schaffen. In regen Verhandlungen wurde somit über die zeitadäquate Bestimmung der Zeitoper verhandelt und gerungen. Insgesamt, so meinte der Intendant, könne das Werk als geglücktes Beispiel eines neuen Operntyps gelten, der sich gezielt auf ältere, klassische Muster bezog, zugleich aber Qualitäten des zeitgenössischen Films aufgriff: Herrmann hatte so etwa bewusst melodramatische Aspekte eingebunden und damit Qualitäten des frühen Kinos aufgenommen. Dies war vor allem in der Gestaltung der Charaktere zu erkennen, die als vergleichsweise schablonenhafte Inkarnationen des Guten beziehungsweise Bösen angelegt waren. Zudem arbeitete das Sujet mit häufigen und raschen Wechseln des Schauplatzes und der Figuren sowie mit tragischen Verwechslungen und Momenten des comic relief – auch diese Organisationsprinzipien waren dem Melodrama und dem frühen Kino gemeinsam.127 Wie Bekker schätzte auch Herrmann das Melodrama als Bindeglied, das Hochkultur und Massenkultur zusammenbinden und damit dem anwesenden Publikum eine gemeinsame ästhetische Erfahrung ermöglichen sollte. Das Wiesbadener Opernexperiment stellte mit seinem Versuch, eine eigenständige Theaterkultur zu etablieren, die Produktivität der Wiesbadener Bühne publikums- und pressewirksam unter Beweis. Auch im Versuch, Facetten des frühen Films und des Melodramas mit der klassischen musikästhetischen Hochkultur der Oper zu 125 Siehe hierzu die Besprechung von Karl Holl, Märchen-Oper, heute? in: Frankfurter Zeitung, 11.11.1930. 126 Vgl. hierzu auch Martin Seel, Die Kunst der Entzweiung. Zum Begriff der ästhetischen Rationalität, Frankfurt 1985, S. 291, wo es zu Adorno heißt: »In Anbetracht der Autonomie des ästhetischen Zeichens sowohl gegenüber den Stationen seiner Herstellung als den Situationen seiner Wahrnehmung, halte ich es für aussichtslos, Adornos Begriff des ästhetischen Gegenstands kommunikationstheoretisch zu korrigieren«. Seel fährt dann mit dem bekannten Adorno-Zitat aus der Ästhetischen Theorie fort: »Kein Kunstwerk ist in Kategorien der Kommunikation zu beschreiben und zu erklären«, um dann seinerseits das »Kommunikative der Kunst« in den »Formen ihrer Kritik« zu verorten. Indem Bekker das Kunstwerk gleichsam als Verbund aus unterschiedlichen Formen kommunikativer Praxis anlegt, wird diese nicht auf die Kritik verengt. 127 Vgl. dazu Nielsen, Opera for the People, S. 168. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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verschmelzen, betrat »Vasantasena« Neuland. Insbesondere zeigt die Wiesbadener Auftragsoper, wie engagiert Bekker an seiner Idealvorstellung einer neuartigen Volkskunst arbeitete: »Bekker recognized the social potential of mass culture, and his engagement with this opera demonstrates his ethical, modernist, leftist aspirations of shaping a better world through music’s power to unify [Hervorhebung im Original] the masses.«128 Zugleich aber zeigt die Aufführungsgeschichte von »Vasantasena«, wie voraussetzungsreich Bekkers Formkonzeption in actu war, wie aufwändig es war, eine das Publikum affizierende Musik- und Bildatmosphäre hervorzubringen, wie elementar ihr Funktionieren auf einer gelingenden Kommunikation zwischen schaffendem Künstler, Intendanz, Publikum und Kritik beruhte  – und wie störungsanfällig sie dadurch eben auch war. Die Möglichkeit, dass sich eines der eng aneinander gebundenen Elemente verselbständigte und das prekäre Gesamtarrangement auf diese Weise gefährdete oder sogar aufbrach, ließ sich nicht ausschalten, zumal diese Option zum Dissens Bekkers demokratisch-egalitäre Anliegen maßgeblich mit verkörperte. Und genau dies – freilich in großer Radikalität, nämlich als massenweiser Abbruch des von Bekker ausgehenden Kommunikationsangebotes – trat im Verlauf seiner Intendanz ein. Im August 1931 etwa erschien in der nationalsozialistischen Zeitschrift Das Wochenende ein Hetzartikel gegen Bekkers Intendantentätigkeit, der Bekkers Theaterarbeit denunzierte und davon berichtete, dass 2.000 Abonnements gekündigt worden seien.129 Das Publikum, so hieß es, verzichte künftig gerne auf die vermeintlichen »Genüsse« und fordere: »Fort mit Bekker und seinem System«. Hier ist bereits die Wortwahl aussagekräftig, denn der Begriff des Systems wurde bekanntlich von Republikgegnern als Chiffre für die generelle Ablehnung Weimars, also als politischer Kampfbegriff gebraucht. Nicht nur das für Bekkers Kunstverständnis so elementare Publikum, sondern auch Teile der Presse und der städtischen Öffentlichkeit versagten dem Intendanten nachfolgend die produktive Zusammenarbeit, wie eine Anfrage der Deutschnationalen Volkspartei im Preußischen Landtag vom 18. Dezember 1931 bezeugen kann: »Der Intendant Baruch Hirsch, genannt Paul Bekker«, hieß es hier, ist seinerzeit von Cassel nach Wiesbaden versetzt worden, weil die von ihm in Cassel betriebene Theaterpolitik eine Fortsetzung seiner dortigen Tätigkeit zur Unmöglichkeit machte. Jetzt liegen in Wiesbaden aus den Kreisen der Abonnenten und der Öffentlichkeit so ernste Beschwerden vor, dass auch dort sein Verbleiben unmöglich geworden ist.130

In der offen republikfeindlichen und antisemitischen Presse waren ähnliche Hetztiraden gegen Bekker zu vernehmen, auch hier wurde immer wieder die 128 Nielsen, Opera for the People, S. 181. 129 Vgl. ausführlich Eichhorn, Paul Bekker, S. 100. 130 Eichhorn, Paul Bekker, S. 101. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

Neuer Mensch durch Neue Musik?

Abschaffung des vermeintlichen »Systems Bekker« gefordert. Bekkers Kommunikationsangebot einer auf Inklusion angelegten Bindungskunst wurde somit von Seiten der politischen Rechten mit aller Macht abgewiesen und bekämpft. Der Wunsch nach einer geteilten sozialen Welt innerhalb einer gemeinsam modellierten sozialen Zeit ließ sich konzeptionell auch gänzlich anders – nämlich unter den Vorzeichen eines Exklusionsideals, das dem pluralistischen Volksstaat die Idee einer homogenen, durch gleichgerichtete Interessen und Emotionen verbundenen Volksgemeinschaft entgegenstellte – formulieren. Somit kann die kulturpolitische Radikalisierung, die Bekker in Wiesbaden erfuhr, als ein Unterbinden beziehungsweise Abbrechen von Kommunikationsofferten, als programmatische Reduktion von Kommunikationschancen gedeutet werden. Der wirkliche und ganze Mensch, den sich Bekker erhofft hatte, wurde nun durch eine andersartige Vision eines neuen Menschen abgelöst, die mit Bekkers Konzept einer Kunst, die genuin humane Werte transportieren sollte, nichts mehr gemein hatte.

VI. Fazit Im Kontext eines intellektuellen und künstlerischen Bemühens um eine Re­ humanisierung des Ästhetischen in den 1920er und 1930er Jahren, für die hier stellvertretend Walther Rathenau und Leo Kestenberg samt ihrer mannigfaltigen Aktivitäten vorgestellt worden sind, kam auch dem Musiktheater eine richtungweisende Rolle zu. Am Beispiel der musikästhetischen und -soziologischen Überlegungen Paul Bekkers lässt sich anschaulich darlegen, wie sehr gesellschaftliche und ästhetische Neuerungen auch darauf zielten, einen neuen Menschen hervorzubringen. Bekkers praktische Opernarbeit als Intendant war dem Versuch gewidmet, ein einschneidend reformiertes, nämlich republikanisches Kulturtheater ins Leben zu rufen, das weite Publikumskreise an das Theater heran­führen und in eine gemeinsame soziale Sphäre einbeziehen sollte. Als kommunikative Bindungskunst sollte ein solches Musiktheater ästhetische Umgebungen und Atmosphären evozieren, die ein gemeinsames Empfinden und einen egalitären Austausch zu begünstigen versprachen. Sensibel reagierte Bekkers Formkonzept damit zugleich auf die Opernkrise der Nachkriegsjahre, deren Optionen und Potenziale es aufzugreifen versuchte, indem es die grundsätzliche Offenheit und kollektive Modellierbarkeit ästhetischer Erfahrung betonte und die Oper als einen Raum nicht nur ästhetischer, sondern auch sozialer und politischer Bindungskunst entwarf. Als Bindungskunst sollte die Oper zudem modernistische und traditionelle Elemente miteinander verschmelzen, um der zusehends auseinanderstrebenden Weimarer Gesellschaft auf diese Weise die Erfahrung kollektiver Zusammengehörigkeit zu ermöglichen. Dass dabei auf jeweils spezifische regionale Konstellationen geachtet werden musste, zeigte sich anschaulich in Paul­ © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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Bekkers Versuch einer eigenständigen Opernproduktion für das preußische Staats­t heater in Wiesbaden, mit der auf die Bedürfnisse und Möglichkeiten der städtischen Bühne und ihres Publikums Rücksicht genommen werden sollte. So sehr Bekkers Formkonzept darauf angelegt war, neuartige soziale Beziehungen und Bindungen hervorzubringen, so störanfällig erwies es sich freilich in dem Moment, in dem Teile des Publikums und der Presse die Inklusionsofferten Bekkers zurückwiesen und stattdessen Formate einer radikalen und nichtegalitären Exklusion favorisierten.

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Emotion und Gefolgschaft

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Wann sie singen, Seit’ an Seit’ Musik als emotionale und gemeinschaftsbildende Praxis auf Parteitagen der SPD

»Das WIR entscheidet« lautete der folgenreiche Wahlkampfslogan der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) im Bundestagswahljahr 2013. Unter dem Motto wurden am 14.  April des Jahres Programm und Kandidat auf einem außerordentlichen Parteitag in Augsburg ins demokratische Rennen um die Regierungsmacht im Land geschickt. Zuvor hakte es an vielen Stellen: die Partei kam aus dem Umfragetief nicht heraus, der Kandidat passte nicht zum Programm, eckte in der Öffentlichkeit mit ungeschickten Äußerungen an und kassierte vor allem Negativschlagzeilen. Der Parteitag sollte ein Signal senden, das überzeugend zu vermitteln vermochte, dass die Gemeinschaft der Partei zusammenhielt, siegessicher und stark war. Nach Apellen, Reden und der Verabschiedung des Wahlprogrammes wurde diese Botschaft am Ende des Parteitags singend mit dem Lied »Wann wir schreiten Seit’ an Seit’« zum Ausdruck gebracht.1 Passend titelte die Tageszeitung taz mit einem Bild der Singenden und dem Zitat eines klassischen Arbeiterliedes von Hanns Eisler, »Vorwärts, und nicht vergessen«, das gewissermaßen eine funktionale Interpretation des abgebildeten Singens bildete.2 Das Lied war allerdings keinesfalls extra ausgewählt worden, sondern gehört seit Jahrzehnten zum sozialdemokratischen Liedrepertoire und bildet seit Jahren auch den Standardabschluss von Parteitagen. Dass es sich trotzdem auch an die neue Wahlkampflosung bestens andockte, war aber kein Zufall. Die Suche nach kommunikativen Elementen, welche tradierte Kernwerte der Sozialdemokratie wie Solidarität, Gerechtigkeit, Chancengleichheit sinnfällig machen können, gehört vielmehr zu den konstanten symbolischen Strategien der Partei.3

1 Protokoll des außerordentlichen Bundesparteitages der SPD vom 14.4.2013, unter: http:// www.spd.de/linkableblob/104356/data/2013_bpt_augsburg_protokoll.pdf. 2 Das Foto stammte allerdings vom Parteitag, der wenige Monate zuvor im Dezember in Hannover stattfand. In Augsburg wurde zwar das gleiche Lied in gleicher Pose gesungen, der Akt schien aber in Hannover fotogener gelungen. 3 Daniela Münkel, »Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität«. Die Programmgeschichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Berlin 2007; Thomas Meyer, Soziale Demokratie. Eine Einführung, Wiesbaden 2009; Ulrich Sarcinelli, Symbolische Politik. Zur Be© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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Abb. 1: Frank-Walter Steinmeier, Peer Steinbrück und Sigmar Gabriel singen gemeinsam auf dem Parteitag (die tages­zeitung, 15. April 2013, S. 1).

Von dem Moment des Gesangs blieb jedoch das bestimmende Bild des Parteitags: Vor signalrotem Hintergrund stehen die Spitzenpolitiker der Partei und halten einander an den auf Rumpf- bis Schulterhöhe gehobenen Händen. Durch das Singen sind die Gesichter lebendig und ausdruckstark, die Mimik überwiegend fröhlich. In dem eigentlich ephemeren Moment des Singens vermittelte sich die Botschaft des gemeinschaftlichen Aufbruchs, welche die Partei an ihre Mitglieder und die Öffentlichkeit aussenden wollte, am besten. So richtete sich die öffentliche Aufmerksamkeit auf eine vermeintlich nebensächliche Einlage, ein altbackenes Ritual der SPD, das aber bei näherer Betrachtung vieles über Musik als ein kommunikatives Element der Politik verrät. Dieser Beitrag unternimmt eine solche nähere Betrachtung, indem er nach der Funktion von Musik und, am Beispiel des erwähnten Liedes, insbesondere von gemeinsamem Singen für Parteitage fragt. Der »Schulterschluss mit der Musik« ist ein klassisches Element der politischen Kommunikation, dessen sich Mächtige wie Ohnmächtige immer wieder bedient haben, um soziale Ordnung abzubilden, zu zelebrieren oder in Frage zu stellen.4 Sind Musik und Singen dabei jedoch traditionalistische Selbstläufer oder reflektiertes Instrument einer »emotionalen Steuerung«? Zeigt sich hier ein Gebrauch und eine Funktion von Musik als jener »associative enhancer of communication on the group level«, den Steven Brown postuliert?5 Was leistet das gemeinsame Singen, das über andere parteitagstypische Kommunikationsformen hinausgeht? deutung symbolischen Handelns in der Wahlkampfkommunikation der Bundesrepublik Deutschland, Opladen 1987. 4 Vgl. Sabine Mecking u. Yvonne Wasserloss, Musik – Macht – Staat. Exposition einer politischen Musikgeschichte, in: dies. (Hg.), Musik – Macht – Staat. Kulturelle, soziale und politische Wandlungsprozesse in der Moderne, Göttingen 2012, S. 11–38. 5 Steven Brown, Introduction. »How Does Music Work?« Toward a Pragmatics of Musical Communication, in: ders. u. Ulrik Volgsten, Music and Manipulation. On the Social Uses and Social Control of Music, New York 2006, S. 1–27, hier S. 1. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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Dem derzeit häufig, vor allem aus neurowissenschaftlicher Sicht postulierten Befund,6 dass das (insbesondere gemeinsame) Singen glücklich, schlau und gesund, stark und sozial mache, begegnet der Beitrag mit Vorsicht. Ganz im Sinne des Singtheoretikers Ernst Klusen, der festhielt, »dem Singen in der Gruppe eine Funktion zuweisen heißt darstellen, was es für das innere System bewirkt«,7 wird nicht von einer genuinen Macht des Singens ausgegangen. Es soll vielmehr erörtert werden, wie genau dieses Singen auf Parteitagen der SPD abläuft, was von wem in welcher Weise gesungen wird, in welchen praktischen, symbolischen und historischen Zusammenhängen es steht und welche Bedeutung ihm durch diese Zusammenhänge zugewiesen wird. Mit dem Parteitagssingen steht eine Form von Musik im Fokus, die vor allem aus musikwissenschaftlicher Perspektive vielfach gar nicht als solche betrachtet oder abgehandelt wird. Musik bildet hier nicht als komplexe Klangstruktur, die mit ästhetischen oder sinnlichen Intentionen produziert und rezipiert wird, sondern als ein kommunikatives Medium den Gegenstand der Betrachtung.8 Die Untersuchung analysiert kein isoliertes Werk oder eine Aufführung, sondern arbeitet die politische, soziale und emotionale Aktivität von »Musik« am Beispiel des eingangs genannten Liedes »Wann wir schreiten Seit’ an Seit’« als Abschlusslied auf SPD -(Bundes-)Parteitagen heraus. Damit steht der Zeitraum seit 1982 im Fokus; die Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte des Liedes gebietet allerdings einen weiteren historischen Rückgriff. Im Folgenden sollen zunächst die sozialen und institutionellen Rahmen­ bedingungen aufgezeigt werden, unter denen das Lied gesungen wird, d. h. das »innere System« der singenden Gruppe, um die es hier geht. Anschließend wird der Kontext des Liedes betrachtet, seine musikalische Struktur und sein Text, aber auch seine Entstehung und das, was man als seine »sozialdemokratische Rezeptionsgeschichte« bezeichnen kann. Schließlich lassen sich die Elemente zusammenfügen, um das Singen des Liedes auf Parteitagen en detail zu betrachten und es auf seine Funktion und sein gemeinschaftsstiftendes Potenzial hin zu befragen: als kommunikatives Mittel und als emotionale Praxis.

6 Vgl. z. B. Spiegel Online, Bei Chorsängern schlagen die Herzen synchron, unter: http:// www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/bei-chorsaengern-schlagen-die-herzen-synchron-a-910129.html; R. P. Online, Studie. Singen macht schlau, unter: http://www.rp-online.de/leben/gesundheit/news/singen-macht-schlau-aid-1.2322127; Karl Adamek, Singen als Lebenshilfe. Zu Empirie und Theorie von Alltagsbewältigung. Plädoyer für eine »erneuerte Kultur des Singens«, Münster 20084. 7 Ernst Klusen, Singen. Materialien zu einer Theorie, Regensburg 1989. 8 Ian Cross, The Evolutionary Basis of Meaning in Music. Some Neurological and Neuro­ scientific Implications, in: Frank Clifford Rose (Hg.), The Neurology of Music, London 2010. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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I. Parteitage Parteitage bilden auf jeder politischen Handlungsebene das oberste, durch das Parteiengesetz vorgeschriebene Entscheidungsgremium. Für die Gesamtpartei sind dies die Bundesparteitage, von denen hier die Rede sein soll. Die rechtlich, politiktheoretisch und parteiengeschichtlich zugewiesene Funktion von Parteitagen liegt im innerparteilichen Gestaltungsprozess der politischen Willensbildung.9 Diese bildet einen Prozess, der gemeinhin beschrieben wird als die Art und Weise, in der »bestimmte Gegebenheiten (Zustände, Fakten) und bestimmte Absichten (Interessen, Ideen) zu politischen Überzeugungen, zu politischen Zielen und ggf. politischen Handlungen führen.«10 Das Augenmerk der Parteienforschung richtet sich mithin vor allem auf diese Durchsetzung inhaltlicher Sach- und Machtfragen.11 Deren »anhaltendes nekrologisches Interesse«12, welches eher nach Erklärungen für den Zerfall und die Fehler von Parteien strebt, als danach zu fragen, was sie zusammenhält, achtet jedoch seltener auf Identifikationsprozesse einer Partei in den Binnen- wie den Außenbeziehungen. Es ist zwar relativ unstrittig, dass Parteien als Massenorganisationen die politische Ordnung und deren Grundsätze und Institutionen auch durch einen »emotional verankerten Massenrückhalt« sichern,13 kulturelle Faktoren wie Werte, Weltanschauung oder Gefühle stehen gleichwohl selten im Fokus der Parteienforschung. Dabei sind gerade dies wesentliche Elemente, die auf das Selbstverständnis, die Ziele, das Programm, aber auch den politischen Stil einer Partei, der diese emotionale Orientierung erlaubt, in der innerparteilichen Willensbildung einwirken. Einen wesentlichen Ort und Raum dafür bilden Parteitage. Mindestens alle zwei Jahre einen Parteitag abzuhalten, ist zwar allen Parteien gesetzlich vorgeschrieben (§ 9 PartG), doch haben die Parteitage unterschiedlicher Parteien schon historisch bedingt spezifische Bedeutungen. Eine alte Tradition haben sie vor allem bei jenen Parteien mit außerparlamentarischen Wurzeln.14 Sie gründen in den politischen Versammlungen, Vereins­ sitzungen, Kongressen und Festen von Parteivereinen und Massenorganisationen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Moderne Parteitage sind auch rechtliche und institutionalisierte Verfahren, zahlreiche Funktionen und For9 Florian Blank, Innerparteiliche Demokratie, in: Uwe Andersen u. Wichard Woyke (Hg.), Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland, Wiesbaden 2009, S. 285–288. 10 Klaus Schubert u. Martina Klein, Willensbildung, in: Das Politiklexikon, Bonn 20115. 11 Vgl. nur als aktuellen Überblick: Karl-Rudolf Korte u. Jan Treibel (Hg.), Wie entscheiden Parteien? Prozesse innerparteilicher Willensbildung in Deutschland, Baden-Baden 2012. 12 Ulrich Sarcinelli, Politische Kommunikation in Deutschland. Zur Politikvermittlung im demokratischen System, Wiesbaden 2009, S. 185. 13 Jürgen Winkler, Parteien und Parteiensysteme, in: Hans-Joachim Lauth (Hg.), Vergleichende Regierungslehre. Eine Einführung, Wiesbaden 2010³, S. 215–136, hier S. 221. 14 Also die sozialdemokratischen, sozialistischen und kommunistischen Parteien, die v. a. auf den ADAV und die SDAP zurückgehen. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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menelemente übernehmen sie aber von ihren Vorläufern. Vier zentrale Funktionen von Parteitagen lassen sich bestimmen:15 Parteitage bilden zunächst formal das zentrale Kreations- und Revisionsorgan der Führungsspitze, die sich den Delegierten zur (Wieder-)Wahl stellen muss, das heißt, sie sind Entscheidungsgremium für die personelle Auslese innerhalb der Partei. Daneben wird, zum Zweiten, das Programm der Partei auf Parteitagen diskutiert und verabschiedet. Sie sind dabei ein sinnfälliges Kontaktforum zwischen Parteiführung und Parteimitgliedern und bilden den einzigen geregelten Raum für die face-to-face-Binnenkommunikation. Darüber hinaus gehört es, drittens, zur Funktion eines Parteitags, ein integratives Symbol der Parteieinheit zu bilden; Parteitage dienen mithin der Selbstdarstellung und Selbstwahrnehmung der Partei. Viertens schließlich sind Parteitage zu bestimmten Zeiten auch Wahlkampfplattformen und dienen dann auch der Außenkommunikation mit potenziellen Wählerinnen und Wählern. Dabei kommt es insbesondere in der »Mediendemokratie« zu dem »strukturellen Funktionsdilemma«, unter multimedialer Beobachtung intern auch streitbare Diskussion zuzulassen, nach außen aber Geschlossenheit zu demonstrieren.16 Vor allem die Integrations- und Kommunikationsfunktionen von Parteitagen scheinen mit dem Verweis auf die Willensbildung als Personalwahl und Abstimmung von Sachfragen nicht hinreichend abgebildet. Sie kennzeichnen Parteitage als Ort, an dem sich die Stimmung, der Stil, die Identität oder Kultur einer Partei herausbildet und festigt. Parteitage sind aus dieser Sicht auch – von ihrer Tradition geprägt – Feiern und Feste. Wie Feste eine Unterbrechung des Alltags bilden, sind Parteitage auch Moratorien des politischen Alltags.17 Und so klingen sie tatsächlich auch, wenn man sich mit offenen Ohren der Parteiengeschichte nähert: Die musikalische Gestaltung von Parteitagen entstammt in Form und Inhalt zu einem beachtlichen Teil dem politischen Vereinsleben am Beginn der deutschen Parteiengeschichte.18 15 Eine Art Typologie, die auf diesen vier Funktionen aufbaut, hat Hans Schuster bereits 1957 skizziert; etabliert hat sich dieser Ansatz jedoch nie: vgl. Hans Schuster, Die Heerschau der Parteien. Theorie und Praxis der Parteitage, in: Politische Studien 88/89. 1957, S. 62 f. Diese Analyse der Funktion ist aus o.g. Gründen in der jüngeren Forschung nicht mehr gängig; für den hier verfolgten Zweck scheint die Überlegung Schusters aber gut brauchbar. 16 Vgl. Marion G. Müller, Parteitage in der Mediendemokratie, in: Ulrich von Alemann (Hg.), Parteien in der Mediendemokratie, Wiesbaden 2002, S. 147–172, hier S. 148 f. 17 Vgl. Winfried Gebhardt u. Arnold Zingerle, Pilgerfahrt ins Ich. Die Bayreuther RichardWagner-Festspiele und ihr Publikum. Eine kultursoziologische Studie, Konstanz 1998; Michael Maurer (Hg.), Festkulturen im Vergleich. Inszenierungen des Religiösen und Politischen, Köln 2010. 18 Ohne im Einzelnen auf diese politisch-musikalische Genealogie eingehen zu können, charakterisierten Parteitage die gleichen musikalischen Grundelemente wie noch im 19.  Jahrhundert Parteiversammlungen, Stiftungsfeste oder Ereignisse wie die März­ feiern: vgl. dazu Bettina Hitzer, Schlüssel zweier Welten. Politisches Lied und Gedicht von Arbeitern und Bürgern 1848–1875, Bonn 2001. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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II. Musik auf Parteitagen Diese zum Teil historisch verbrieften musikalischen Elemente von Parteitagen lassen sich an unterschiedlichen Positionen finden und entsprechend vier Kategorien zuordnen: Musik auf Parteitagen wird hörbar als feierliche Eröffnungsmusik, als Programmmusik zur Strukturierung und Auflockerung der Tagesordnung, als Unterhaltungsmusik bei »geselligen Abenden« oder schließlich als offizieller Teil des Parteitags in Form eines gemeinsamen Liedes oder einer Hymne. Zur Verdeutlichung der unterschiedlichen Bedeutung und Funktionen dieser vier Musikelemente lohnt sich ein näherer Blick auf deren Entwicklung und Ausformung: Zum Ersten bildet Musik häufig einen Teil einer offiziellen, feierlichen Er­ öffnung im Vorfeld des eigentlichen Parteitags oder erklingt unmittelbar als dessen Auftakt. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts bestand die Eröffnung in der Regel aus Darbietungen großer (Arbeiter-)Chöre, die »Volkslieder«19 oder bei den Arbeiterparteien die sogenannten politischen Tendenzlieder sangen. Die NSDAP spielte eine ganze Oper, Richard Wagners »Meistersinger«, als Auftakt zu ihren auch musikalisch minuziös durchgeplanten Nürnberger Parteitagen. Die Gründungsphase der bundesrepublikanischen Parteien kennzeichnete nicht unbedingte musikalische Zurückhaltung – ganz anders, als es für die generelle politische Symbolik in dieser Zeit gilt. Vor allem in den ersten beiden Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg dominierten parteiübergreifend kurze Konzertbeiträge von regionalen Symphonieorchestern. Dargeboten wurden mehrheitlich Mozart- und Beethovenouvertüren oder Sinfonieauszüge sowie Konzerte von Bach und Händel, bisweilen auch größere Chorwerke.20 Der Musik war dabei tatsächlich eine unmittelbare Wirkung auf das politische Ereignis zugedacht, wenn Adenauer beispielsweise verkündete: »Sie [die Stadt Hamburg, S. Z.] hat uns heute ihre Staatsoper und ihr Orchester zur Verfügung gestellt, um dem Beginn unseres Parteitages den beflügelten Klang zu geben, den der ganze Parteitag haben soll.«21 Schon im Laufe der 1960er-Jahre verklang das klassische Konzertrepertoire und taucht seitdem nur noch selten, etwa bei bedeutenden Jubiläen, auf. Eine noch lebendige musikalische Tradition bildet, zweitens, die Programmmusik auf Parteitagen, im Sinne von musikalischen Darbietungen als separierten Aufführungen. Dies sind in der Regel gebuchte Auftritte von einzelnen Musikerinnen und Musikern oder Bands in den Pausen oder im Beiprogramm des 19 Vgl. zur kritischen Diskussion des Volksliedbegriffs: Ernst Klusen, Das Gruppenlied als Gegenstand, in: Jahrbuch für Volksliedforschung 12. 1967, S. 21–41; sowie ders., Volkslied. Fund und Erfindung, Köln 1969. 20 Vgl. etwa CDU (Hg.), Deutschland. Sozialer Rechtsstaat im geeinten Europa. 4. Bundesparteitag der CDU, Bonn 1953, S. 7; CDU (Hg.), 7. Bundesparteitag der CDU, Hamburg 1957, S. 6; SPD (Hg.), Parteitag der SPD, Bonn 1968, S. 14; SPD (Hg.), Parteitag der SPD, Bonn 1966, S. 15. 21 CDU (Hg.), 7. Bundesparteitag der CDU, Hamburg 1957, S. 6. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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Parteitags, aber auch parteinahe Gruppierungen, Chöre oder Musiziergruppen. Musikalische Darbietungen mischen sich in dieser Kategorie häufig mit kabarettistischen Einlagen; sie haben eher beiläufigen, unterhaltenden Charakter. An der Auswahl der Musik oder Musiker lässt sich trotzdem vielfach eine politische Prägung erkennen. Der Veranstaltung kann durch Musik ein bestimmtes Kolorit verliehen werden, sei es »folkloristisch« (z. B. die Blasmusikkappelle »Die Münchner Musikanten« bei der CSU) oder »multikulti« (z. B. die südafrikanische Soul-, Gospel- und Jazzsängerin Audry Motaung bei der SPD).22 Alternativ zu den Darbietungen im räumlichen Rahmen des Parteitags finden sich bisweilen Veranstaltungsbesuche in einem regulären Kulturbetrieb der jeweiligen Stadt. Am häufigsten erklingt, drittens, Musik als Teil der sogenannten geselligen Abende, das heißt als informeller Teil  des Parteitages. Die parteiübergreifend zu fast jedem Parteitag gehörenden Abende sind nicht Teil des offiziellen Ablaufs und werden daher auch nicht im Protokoll dokumentiert. Nur manchmal finden sich in den Aufzeichnungen auch Bilder von diesen Abenden oder Einladungen, Orts- und Programmhinweise in den Parteitagsdokumenten. Den Pflichten zur Rechenschaft und zur Argumentation steht an diesen Abenden das Zwanglose und (vermeintlich) Private gegenüber. Nicht selten werden Spitzenpolitiker hier selbst zu Beteiligten am musikalischen Geschehen. So präsentierte sich Willy Brandt mal im Dirigierwettbewerb mit Helmut Schmidt oder Johannes Rau als Conférencier des Abends.23 Helmut Kohl war bekannt dafür, dass er sich im Laufe dieser Parteitagsabende zu »seinem Lieblingsmusiker« Franz Lambert an die Hammondorgel setzte und sich mit ihm hin und herwiegte  – allerdings nicht spielte.24 Die FDP wiederum sang und tanzte in der jüngeren Vergangenheit gern zu Liedern »aus der Konserve«, die bestimmte programmatische Stimmungsparolen verkündeten, etwa »I am strong enough« oder »Es geht mir gut!«; ähnlich die Grünen, zu deren Klangkulissen viele Jahre Titel wie »Wann, wenn nicht jetzt? Wo, wenn nicht hier? Wie, wenn ohne Liebe?« und »Lass uns ’n Wunder sein« der Band Ton, Steine, Scherben gehörten.25 Viertens schließlich können musikalische Elemente unmittelbarer und offizieller Teil des Parteitagsgeschehens sein. In der Regel ist dies das gemeinsame Singen einer Partei- und/oder Nationalhymne am Ende der Veranstaltung. In 22 Archiv für Christlich-Soziale Politik, Hanns-Seidel-Stiftung, PT 19881119/1 Vermerk der Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit vom 8. November 1988; SPD (Hg.), Bundesdelegiertenkonferenz zur Europawahl, Bonn 1988, S. 26. 23 SPD (Hg.), Parteitag der SPD, Bonn 1970, S. 736; SPD (Hg.), Parteitag der SPD, Bonn 1982, S. 631. 24 Ulrich Deupmann, Wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versinkt, in: Berliner Zeitung, 23.10.1996. 25 Vgl. die Parteitags-Berichterstattung von Wulf Schmiese, Der Altjunge, in: FAZ -Sonntagszeitung, 8.5.2005, S. 14; sowie Matthias Gebauer, Erste Träume vom Kabinettstisch, unter: http://www.spiegel.de/politik/deutschland/liberale-im-hoehenrausch-erste-traeumevom-kabinettstisch-a-195659.html. Die langjährige Vorsitzende der Grünen, Claudia Roth, war vor ihrer politischen Laufbahn Managerin der Band Ton, Steine, Scherben. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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diesem Fall verlassen die Teilnehmenden eines Parteitags die Rolle des Publikums und werden selbst zu Darbietenden. Das zu Beginn erwähnte Lied vom Parteitag 2013 gehört zu dieser Kategorie.26 Das gemeinsame Singen soll daher ausführlicher betrachtet werden: Verschiedene Disziplinen, von der Musikwissenschaft über die Soziologie bis zur Psychologie, konzedieren dem gemeinsamen Singen eine wichtige Rolle bei der Entstehung und dem Zusammenhalt von Gemeinschaften. Diese Erkenntnis ist nicht neu: Der (insbesondere männliche) Chorgesang spielte als Bildungsideal im Deutschland des 19. Jahrhunderts eine zentrale Rolle, galt als die »durch Kunst veredelte Volksstimme« oder »musikalische Form der menschlichen Gemeinschaft«.27 Lieder gehörten zur Gruppenkultur der bürgerlichen und der Arbeiterbewegung sowie der Bündischen Jugend. Der proklamierte »Liederfrühling« des Nationalsozialismus konnte auf dieser Verankerung des Singens im Alltag vieler Menschen aufbauen. Als Form bewussten sozialen Arrangements bildet der Chorgesang ein Ritual, das eine ideelle Selbstdarstellung von Gemeinschaften zeigt und vollzieht. Es wird gekennzeichnet durch geordnetes Verhalten, homogene Intonation, zehntelsekundengenaue Abstimmung, koordinierte Atmung, gegenseitiges stimm­ liches Tragen, geschlossene Unterordnung gegenüber einer Leitung oder ständige Orientierung an den anderen mit fließender Übergabe der Führungsrollen. Viele Studien haben untersucht, wie bereits die rein physische und psychische Konstellation des gemeinsamen Singens eine so starke Form kollektiver Aktivität und Affektivität bewirkt, dass sich das individuelle Verhalten daran geradezu zwangsläufig orientiert.28 Der Neurologe Gerald Hüther beispielsweise sieht es als erwiesen an, dass schon die regulierten Rahmenbedingun­gen des gemeinsamen Singens Gefühls- und Vergemeinschaftungsprozesse bewirken: Es kommt beim Singen zu einer Aktivierung emotionaler Zentren und einer gleichzeitigen positiven Bewertung der dadurch ausgelösten Gefühle. (…) Gemeinsames Singen mit anderen aktiviert die Fähigkeit zur »Einstimmung« auf die Anderen und schafft so eine emotional positiv besetzte Grundlage für den Erwerb sozialer Kompetenzen.29

26 Es ließen sich, fünftens, Geburtstagsständchen oder Glückwunschlieder zu erfolgreichen Wahlen hinzufügen. Vor allem bei den SED -Parteitagen in der DDR kam diesen ein auffälliger Stellenwert bei der Akklamation gegenüber dem Führungspersonal der Partei zu. 27 So Hans Georg Nägelis Gesangsbildungslehre für den Männerchor zit. nach Friedhelm Brusniak u. Dietmar Klenke, »Heil deutschem Wort und Sang!«. Nationalidentität und Gesangskultur in der deutschen Geschichte. Tagungsbericht Feuchtwangen 1994, Augsburg 1995, S. 355. 28 Vgl. Viktor Müller u. a., Cardiac and Respiratory Patterns Synchronize between Persons during Choir Singing, in: PLoS ONE 6. 2011. 29 Gerald Hüther, Singen ist »Kraftfutter« für Kindergehirne. Die Bedeutung des Singens für die Hirnentwicklung, unter: http://www.gerald-huether.de/populaer/veroeffentlichungenvon-gerald-huether/texte/singen-gerald-huether/index.php. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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Doch warnen nicht nur musiksoziologische Ansätze davor, von einem Automatismus auszugehen: Singen vermöge bestehende Gemeinschaften zu festigen, aber nicht ursächlich eine Gemeinschaft herzustellen, wo sie nicht bereits vorhanden sei, befand etwa Ernst Klusen.30 Die wesentliche Ausgangsbasis müsse die Differenzierung der Gründe sein, warum Gruppen überhaupt singen, und damit die Feststellung, dass Funktionen des Singens als Handlung sowie einzelner Lieder als Gegenstände nicht losgelöst von den Bedingungen des Singens betrachtet werden können. Daher sollte nicht zu einer generellen Wirkung des Singens verallgemeinert werden; seine Funktion wird erst gerichtet durch das, was gesungen und wie es gesungen wird. Ob eine Nationalhymne oder ein Volkslied, ein Ständchen oder ein Kampflied angestimmt wird, hängt von Text und musikalischer Struktur, Rezeptionsgeschichte und Darbietungsformen ab, die sich zu den spezifischen Gattungen entwickelt haben. Erst aus deren Zusammenspiel entstehen Sinnstiftung und Wirkungszusammenhänge. Das soll im Folgenden am Beispiel des Liedes »Wann wir schreiten Seit’ an Seit’« als Abschlusslied auf SPD -Parteitagen gezeigt werden.

III. Wann wir Schreiten Seit’ an Seit’ Dem Lied liegt eine 5-strophige Dichtung aus dem Jahr 1914 zugrunde.31 Ihr Verfasser ist Herrmann Claudius, Urenkel des berühmten Dichters Matthias Claudius und ein engagierter Anhänger zunächst der internationalen, später der nationalen Arbeiterbewegung.32 Das Lied nimmt die Situation einer Wanderung in der Natur auf und verknüpft sie mit Elementen der gesellschaftlichen Entwicklung. Der Text spricht von gemeinsamen Tätigkeiten: Vom gemeinsamen Wandern, Arbeiten und Singen, vom Kontrast zwischen Arbeitswelt und Natur, von sich ändernden Geschlechterrollen. Das wiederholte »wir« und »uns« verweist auf eine Gruppe oder Gemeinschaft und die Formulierung der »alten Lieder« auf eine gemeinsame, durchaus nostalgisch getönte Tradition, die aber in »die neue Zeit« einer gemeinsamen Zukunft mündet. Die Originalkomposition zum Text stammt von dem vormaligen Richter und Arbeitersekretär Michael Englert aus dem Jahr 1915. Sie steht in G-Dur, was in der Geschichte der Tonartencharakteristik vielfach für helle, fröhliche 30 Vgl. Klusen, Gruppenlied. 31 Zum ersten Mal erschien der Text des Liedes in der Juni-Ausgabe der Arbeitenden Jugend, der Jugendbeilage der sozialdemokratischen Zeitung Hamburger Echo, 1914. 32 Sein in dieser späteren Zeit gereimtes Geburtstagsständchen für Adolf Hitler »Herr Gott, steh dem Führer bei, daß sein Werk das Deine sei, daß Dein Werk das seine sei, Herr Gott steh dem Führer bei!« hielt Sozialisten und Sozialdemokraten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht davon ab, an den Liedtexten des Dichters festzuhalten. Die in diesem Abschnitt aufgezeigten Merkmale und Rezeptionsmuster sind auch Teil  einer Er­ klärung dieser Kontinuität. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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Abb. 2: Notensatz durch Autorin gemäß Hamburger Jugendlieder, 1. Heft – Wanderlieder, Hamburg 1932, Archiv Deutsches Lied, Signatur W34.

und ländliche Stimmungen steht – typisch für ein Wanderlied. Das Lied ist für einen dreistimmigen Chor gesetzt: Sopran, Alt und eine »jugendliche Männerstimme«. Im marschhaften 4/4-Takt zu Beginn des Liedes klingt auch das Seitean-Seite-schreiten deutlich an. Das Lied bietet keine besonderen musikalischen Überraschungen. Allein die versetzten Stimmen fallen als Verzierung auf: Bei »wenn die Wälder wiederklingen« erscheinen die 2. und 3. Stimme ein wenig als das Echo, von dem gesungen wird; auf »klingen« finden sich alle wieder. Der Effekt wiederholt sich in der nächsten Zeile: »fühlen wir, es muss gelingen« und so weiter. Getrenntes findet in der Harmonie und schließlich in der Zukunft der »neuen Zeit« zusammen. In späteren Versionen, in denen das Lied auch auf Parteitagen gesungen wurde, ging mit der Mehrstimmigkeit auch dieser leichte Kanon-Charakter verloren. Vereinfachte Versionen, wie sie typisch für solche »Massenlieder« schnell entstanden und bis heute etwa im Liederbuch des Vorwärts gedruckt werden, haben zudem den durchgängigen 4/4-Takt beim »mit uns zieht die neue Zeit« stets zweimal durch einen 2/4-Takt unterbrochen, der den rhythmischen MarschCharakter, den das Lied eigentlich nur am Anfang hat, verstärkt. Das Lied wurde durch die Hamburger Arbeiterjugend bekannt. Sie sang es, nachdem die dortige SPD ihren rebellischen Jugendbund auf Grund seiner Kriegsgegnerschaft im März 1916 aufgelöst hatte. Seinen Durchbruch erlebte © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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das Lied beim ersten Reichsjugendtag der Arbeiterjugend 1920 in Weimar, wo es auch seinen langjährigen Beinamen als »Das Lied von Weimar« erhielt. In der Dokumentation des Jugendtages hieß es: »Wir haben viele Lieder gesungen in den klingenden Tagen Weimars: Kampfeslieder, Volkslieder, Wanderlieder. Schalk, Witz und Besinnliches lebte in den Liedern. Aber das Lied »Wann wir schreiten Seit’ an Seit’« erhob sich doch immer wieder über unsre Reihen, sieghaft, kraftvoll.«33 Mit dieser Verbreitung verlor das Lied seinen (im Text selbst ja nicht offensichtlichen) sozialdemokratischen Bezug. Es gehörte bald ebenso zum Repertoire der bürgerlichen, bündischen und konfessionellen Jugend wie zu dem der Arbeiterjugend. Entsprechend wandelte es sich, erhielt neue Strophen, neue Arrangements und sogar eine neue Melodie. In der alten wie der neuen Variante erschien das Lied in Gesangbüchern der Hitlerjugend, des BDM und der SA  – »alle weltanschaulichen Richtungen konnten ihre Überzeugungen, Zukunftshoffnungen oder ihr ideologisches Gebräu in das leere Gefäß der ›Neuen Zeit‹ gießen,«34 hieß es in einem historischen Rückblick des Vorwärts aus dem Jahr 2007. Diese ideologische Flexibilität behielt das Lied auch nach dem Krieg. Parallel etablierte es sich als Gesang auf Parteitagen sowohl der SED und auf Manifestationen der FDJ, als auch auf Veranstaltungen der SPD. Das gemeinsame Singen des Liedes wurde bei der Sozialdemokratie auf vielen Parteizusammenkünften gepflegt; auf Bundesparteitagsebene zuerst an vereinzelten informellen Abenden, später bei zahlreichen Parteitagen zum offiziellen Abschluss.35 Diese Präsenz des Liedes und die heute selbst unter Parteimitgliedern mehrheitlich geteilte Überzeugung, dass »Wann wir schreiten« nicht nur ein genuin sozialdemokratisches Lied sei, sondern auch immer schon gesungen worden sei, verdeckt den Umstand, dass das Lied in seiner Rolle als Abschlusslied viele Vor-

33 Aus der Dokumentation des Reichsjugendtages, zit. n. Wolfgang Hubrich u. a., Historische Lieder aus acht Jahrhunderten, hg. v. den Landeszentralen für politische Bildung Hamburg und Schleswig Holstein, Hamburg 1989, S. 134. 34 Heinrich Eppe, Ein Lied ging in die Welt. »Wann wir schreiten Seit’ an Seit’«, in: Vorwärts, 28.2.2007. 35 Vielfach wird behauptet, das Lied sei seit den 1960er-Jahren auf Parteitagen der SPD gesungen worden (so etwa in der Internet-Enzyklopädie Wikipedia). Die Quellen zeigen jedoch, dass dies nicht ganz stimmt. Tatsächlich wurden beim Parteitag 1960 zum Schluss Variationen des Komponisten Wolfgang Buch über das Lied »Wann wir schreiten« für Bläser und Schlagzeug gegeben (»Festliche Intrata mit Variationen über das Lied »Wann wir schreiten« für symphonische Bläser (24 Bl u 6 Schlz)«), eine Auftragskomposition des SPD -Landesverbandes Berlin für den SPD -Parteitag in Hannover. Obwohl am Schluss vereinzelt mitgesungen wird, hat dieses Stück allerdings wenig dem gesungenen Lied bzw. dem politischen Gestus des Singens zu tun, wie der Tonmitschnitt hörbar macht, zugänglich im Archiv der Sozialen Demokratie, Friedrich Ebert Stiftung, Signatur 6/ TONH000154. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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gänger hatte.36 Es ist in seinem heute bekannten Gebrauch eine Erscheinung der vergangenen Jahrzehnte; erst seit 1982 wird »Wann wir schreiten Seit’ an Seit’« (mit Unterbrechungen) regelmäßig auf Bundesparteitagen der SPD gesungen. Den Status als offizielle Parteihymne der SPD, der dem Lied in der Presse häufig zugeschrieben wird, hatte es jedoch nie inne.37 Das Lied ist daher nicht in einer bestimmten Funktion tradiert worden, sondern bildete vielmehr einen historisierenden Rückbezug auf eine auch parteigeschichtlich ferne Vergangenheit. Es ist ein nostalgisches Element, wie Peter Horst Neumann argumentiert, ein verklärtes Erinnern an gemeinschaftlich Erlebtes, das aber selbst bereits von einem nostalgischen neu-romantischen Geist beflügelt war.38 Das Lied bildet mithin das, was als akustischer Erinnerungsort bezeichnet werden kann. Allerdings wird es als solcher nicht medial, sondern performativ archiviert, wie die beiden folgenden Abschnitte deutlich machen, die Erklärungen für den Einsatz und die Wirkung des Liedes auf Parteitagen formulieren.

IV. Das Lied als kommunikatives Mittel der Gemeinschaft Im April 1982 traf in München eine sichtlich geschwächte SPD zum Bundes­ parteitag zusammen. Die innerparteilichen Streitigkeiten über den Kurs der sozialliberalen Regierung, Mitgliederschwund und schlechte Umfragewerte prägten die Situation der Partei; der Verlust der Regierungsmehrheit schien spürbar. Der Parteitag hatte eine klare Botschaft zu überbringen, die der Parteivorsitzende Willy Brandt so formulierte: »Unser Parteitag fällt in eine schwere Zeit […]. [Er] wird daran gemessen, ob er Kräfte freisetzt, die für den Aufbruch nach vorn gefordert sind.«39 Dass dieser Aufbruch den Ruf nach Geschlossenheit beinhaltete, mag nicht überraschen, doch es blieb nicht beim Aufruf. Brandt schloss den Parteitag mit den Worten: »Ich glaube, daß dieser Parteitag das Gemeinschaftsgefühl der Sozialdemokraten gestärkt hat. Von diesem Gemeinschaftsgefühl mag es dann auch zeugen, wenn wir nun an unsere Tradi36 Lange Jahre war Brüder zur Sonne zur Freiheit das übliche Abschlusslied, später die Nationalhymne; vor dem 2. Weltkrieg war das Standardlied zum Abschluss der Parteitage der sog. Sozialistenmarsch, vielfach auch die Internationale; in den jungen Jahren der Partei waren es die Arbeitermarseillaise und das Bundeslied. 37 Der Titel gebührt dem nur wenige Jahre gesungenen Lied Das Weiche Wasser bricht den Stein von Dieter Dehm: vgl. Tilmann Bendikowski, Öffentliches Singen als politisches Ereignis. Die Herausforderung einer historischen Quelle für die Geschichtswissenschaft, in: ders. u. a. (Hg.), Die Macht der Töne. Musik als Mittel politischer Identitätsfindung im 20. Jahrhundert, Münster 2003, S. 23–37, hier S. 31; vgl. auch den Bericht zum Lied in: Der Spiegel 19. 1988, 9.5.1988, S. 109 f. 38 Peter Horst Neumann, Das Singen als symbolische Handlung, in: Merkur 34. 1980, H. 383, S. 326–336, hier S. 328. 39 SPD (Hg.), Parteitag der SPD, Hannover 1982, S. 901. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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tion anknüpfen und diesen unseren Parteitag mit einem gemeinsamen Lied der Arbeiterbewegung abschließen.«40 Es folgte das erste Mal das gemeinsame Absingen des Liedes »Wann wir schreiten Seit’ an Seit’« als offizieller Abschluss eines Parteitags. Seitdem bildete das Lied das Finale der meisten Bundesparteitage der SPD. In einer späteren Würdigung des Liedes vermutete die Parteizeitung Vorwärts: »Als Schlusslied für Parteitage eignet es sich wohl deshalb besonders gut, weil es kein politisches Kampflied ist, aber die Solidarität und Geschlossenheit der Partei über die hitzigen Parteitagsdebatten hinweg bewegend ausdrückt.«41 Diese Zuschreibung findet sich in zahlreichen Presseberichten von Parteitagen bestätigt. Zur Versammlung in Köln im Jahr 1983 hieß es etwa in der Zeit: Zum Schluß finden die Sozialdemokraten noch immer den versöhnlichen Ton. Er soll vorhergehende Reibereien vergessen lassen und die Reihen wieder schließen. (…) Alle sangen das mitreißend sentimentale Lied, das Mut macht zur Gemeinsamkeit. Selbst die Akteure auf der Vorstandsbühne, die während des Parteitages so hart miteinander umgegangen waren, fielen ein in den Gesang, der den Genossen wieder einmal das beruhigende Gefühl der Geschlossenheit mit auf den Heimweg geben sollte.42

Was genau macht dieses Lied zu einem Ausdruck von Gemeinschaftlichkeit? Wodurch und worin bemisst sich sein »Wallungswert« (H. P. Neumann), die kollektive emotionale Regung, die durch das Lied hervorgerufen werden soll? Wenn ein Parteitag  – d. h. die versammelten Delegierten, das Präsidium und eventuell auch die Gäste  – singt, bildet er eine Gruppe, deren Primärzweck zweifelsfrei nicht im Singen liegt. Weder ist das Singen konstitutiv für die Gruppe, noch ist die Zusammenkunft wirklich auf das Lied oder den Gesang ausgerichtet. Vielmehr fügt sich das Lied in einen bestimmten Ort und Zusammenhang ein, und erst dadurch wird seine Funktion bestimmt. Klusen differenziert (idealtypisch) zur Klärung solchen Singens zwischen dem Lied als einem »dienenden« oder »triumphierenden Gegenstand«. Hinter der etwas altmodischen Formulierung verbirgt sich die Feststellung, »dass das Lied als dienender Gegenstand in jenen Gruppen vor allem erscheint, die nicht um des Singens willen zusammenkommen. Es dient dem Gruppenleben, in dem es kollektive Handlung ermöglicht, die für das Gruppenleben wichtig sind oder dem kollektiven Handeln Sinn verleihen«.43 Der Wert des Liedes hängt in diesem Zusammenhang nicht von seiner ästhetischen Qualität ab, sondern von seinem Zweck für die Gruppe. Demgegenüber steht das Lied als »triumphierender Gegenstand«, das als Kunstwerk nicht Mittel zum Zweck, sondern als Gegenstand 40 Ebd. 41 Eppe, Lied. 42 Dieter Buhl, Den Seelenfrieden nicht gefunden, in: Die Zeit 1983, 25.11.1983, S. 48. Online verfügbar unter: http://www.zeit.de/1983/48/den-seelenfrieden-nicht-gefunden. 43 Klusen, Singen, S. 163. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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der Anschauung und Bewunderung Selbst-Zweck ist. Das Singen von »Wann wir schreiten« auf Parteitagen dient dieser Klassifizierung folgend einem rein außermusikalischen Zweck, nämlich  – explizit in den Worten Brandts  – als Zeugnis des Gemeinschaftsgefühls. Das Lied »Wann wir schreiten«, eignet sich als ein klassisches »Wir-Lied« oder ein Bekenntnislied, das explizit eine Gruppennorm formuliert, durch die singende Aktivierung Teilhabe zu ermöglichen. Willy Brandts Berufung auf die »Tradition eines gemeinsamen Liedes der Arbeiterbewegung« übersetzt das »Wir« in den spezifischen Kontext der singenden Gruppe. Der Bezug mag selbstverständlich erscheinen, doch der rezeptionsgeschichtliche Abriss des Liedes hat deutlich gemacht, dass man in einem anderen Zusammenhang ebenso hätte gut sagen können: »in Tradition der Jugendbewegung«, »in Erinnerung an unsere Kameraden der SS und der Wehrmacht«, oder aber auch »in Erinnerung an deren Opfer«. Auch ein Verweis auf eine konfessionelle Verbundenheit, die Traditionen der Friedensbewegung oder aber auf die gemeinsame musikalische Tradition in Ost- und Westdeutschland wären denkbar. Alle Bezüge wären in einem bestimmten Gruppenkontext sachlich richtig gewesen. Das veranschaulicht die tatsächlich geringe funktionale Autonomie des Liedes und macht den Begriff des dienenden Gegenstandes plausibel, der zu einem Zweck oder einem anderen gebraucht werden kann. Dieser Zweck ist aber keinesfalls willkürlich – er entsteht im spezifischen Zusammenspiel zwischen Text und Kontext. Als kommunikatives Element wird das Singen mithin durch eine Vielschichtigkeit gekennzeichnet, die der vorherrschenden politischen Sprache gerade fremd ist. Rede und Gegenrede bilden die Grundelemente der »republikanischen« Rede, die auch auf Parteitagen die dominante Form bildet. Sie zielt auf das Klären und Verdeutlichen von Sachverhalten, Positionen und Überzeugungen und auf das Vermeiden von Mehrdeutigkeiten und Missverständnissen. Anders als bei der sprachlichen Abstimmung der Gemeinschaft unterliegt das Singen nicht dem ständigen Abgleich und Ringen um einzelne Begriffe und deren Bedeutung. Der kommunikative Gebrauch von Musik leistet genau das Gegenteil: unterschiedliche Bedeutungsebenen werden in ein und derselben Klangstruktur abgebildet und damit einander (vermeintlich) angeglichen. Der Eindruck des gemeinsamen Fühlens, der durch diese Angleichung entsteht, lässt sich mit Ian Cross’ Befund einer »floating intentionality« plausibel machen, demzufolge das Singen allows each participant to hold to their own interpretations of the meaning of the collective musical act without ever having to make those interpretations explicit for each other. At the same time, music’s immediacy of meaning […] legitimates the sense that what each participant feels and understands is also felt and understood by others.44 44 Ian Cross, Music and Biocultural Evolution. Revision for The Cultural Study of Music. A Critical Introduction, in: Martin Clayton u. a. (Hg.), The Cultural Study of Music. A Critical Introduction, New York 20122, S. 17–27. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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Die Funktion, ein Gefühl der Geschlossenheit und Gemeinschaft zu erzeugen, ist dem Lied nicht inhärent. Das Lied dient der Funktion und erfüllt sie mithin erst, wenn es – in der Binnenkommunikation des Parteitags, aber bestätigend auch in öffentlichen Kommentaren  – mit dieser Funktion als Deutung kommunikativ versehen wird. Auf der performativen Ebene wird damit aus einer mehr oder weniger künstlerischen Form ein Akt der Partizipation. Das gemeinsame Singen von »Wann wir schreiten« auf dem Parteitag ist eine Selbstverständigung, keine Darbietung im eigentlichen Sinne, die auf einen bestimmten ästhetischen Ausdruck zielte; kein Publikum bewunderte das gesungene Lied. Um rhythmische und intonatorische Akkuratesse ging es sicher kaum; der künstlerische Charakter war allenfalls sekundär. Der Ethnomusikologe Thomas Turino hat die Differenzierung zwischen »presentational music« und »participatory music« geprägt, um solchen musikalischen Momenten und ihrer »Aufführung« analytisch gerecht zu werden: Participatory performance is a special type of artistic practice in which there are no artist-audience distinctions, only participants and potential participants performing different roles […]. Presentational performance, in contrast, refers to situations where one group of people, the artists, prepare and provide music for another group, the ­audience, who do not participate in making the music or dancing.45

Entscheidend werden somit die Möglichkeiten der aktiven Teilhabe an der Musik und durch die Musik, die ein Stück eröffnet.

V. Parteitagssingen als (emotionale) Praxis Zentral für die Art und Weise, in der ein Lied eine spezifische Funktion erhalten kann, sind die kollektiven Handlungen, die damit verknüpft werden und die Sinnstiftung, die durch diese Verknüpfung entsteht. In der Form der Aufführung (die eigentlich gar keine ist) schließen sich nicht nur alle Teilnehmenden zumindest im Singen dem vereinheitlichenden »Wir« an, sie demonstrieren auch, wie unmittelbar der körperliche Akt des Singens neben Tönen und Text ebenfalls zu dem Lied gehört. Das Gefühl, das dadurch aktiviert wird, existiert nicht unabhängig von Wissensbeständen und Deutungskonzepten. Umgekehrt sind diese Episteme nicht ohne die körperliche Aktivität wirkungsmächtig. Das Parteitagssingen bildet vielmehr eine Praxis, einen »Nexus von wissensabhängigen Verhaltensroutinen«, in den Worten von Andreas Reckwitz, eine »›Materialisierung‹ des Sozialen und Kulturellen in Körpern«.46 45 Thomas Turino, Music as Social Life. The Politics of Participation, Chicago 2008, S. 26. 46 Andreas Reckwitz, Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive, in: Zeitschrift für Soziologie 32. 2003, S. 283–301. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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Zum gemeinsamen Singen gehört meist eine Reihe gewohnter Aktivitäten der Körper der Teilnehmenden, die alle ausführen, ohne dass es einer Anleitung bedarf. Dazu zählen neben den generell zum Singen gehörenden Techniken des Körpers (dem Atmen, der Stimmerzeugung und der Kontrolle der Tonhöhe47) etwa das gemeinsame Aufstehen, die spezifische Körperspannung, -haltung und -bewegung des kraftvollen, motivierten Singens oder bestimmte Gesten, die die Singenden dem Gesungenen zuordnen (zum Beispiel eine erhobene Faust, eine Hand auf der Brust, das An-den-Händen-fassen oder Einhaken mit anderen, und so weiter). Das Singen ist mithin eine ritualisierte Handlung, eben jene Praxis, im Sinne einer »›skillful performance‹ von Körpern […], eine Kollektivität von Verhaltensweisen, die durch ein spezifisches ›praktisches Können‹ zusammengehalten werden«.48 Dabei bildet es allerdings alles andere als eine selbstverständliche Handlung, sondern unterliegt heute vielmehr einer Reglementierung des zurückhaltenden Verhaltens und ist vielfach schambesetzt.49 Außerhalb künstlerischer Zusammenhänge bedarf es einer speziellen räumlichen und zeremoniellen Legitimation. Sie ist in den Praktiken erkennbar beziehungsweise geht aus ihnen hervor. Damit ist das Singen hochkonventionalisiert, zugleich aber als Akt des einzelnen Körpers spontan.50 Die spezifische Praxis des Singens des Beispielliedes schildern SPD -Parteitagsprotokolle und Berichte, die nicht nur Hinweise darauf geben, dass und wann »Wann wir schreiten« gesungen wurde, sondern vielfach nebenbei auch den konkreten Akt des Singens beschreiben; Fotos (in jüngsten Jahren auch­ Videos) geben darüber hinaus Ausschnitte des Verhaltens der Singenden wieder. Der Ablauf ist dabei seit 1982 stets ähnlich – mit Variationen. »Wann wir schreiten Seit’ an Seit’« singt die Versammlung zum Abschluss des Parteitags; gesungen wird immer im Stehen  – man marschiert also nicht, steht aber immerhin »Seit’ an Seit’«. Bilder zeigen in der Regel die Sänger des Präsidiums, in leicht variierten Posen: Bis in die 1990er-Jahre hinein gehören zur Körperhaltung seitlich anliegende oder hinter dem Rücken verschränkte Hände, eine gerade, feierliche Haltung und ein meist leicht erhobener Kopf. Erst in den letzten Jahren ist die Solidarität versinnbildlichende Geste des Sich-an-den-HändenHaltens hinzugekommen. Stets beschreiben die Protokolle den lauten Beifall, den sich die singende Gruppe zum Abschluss ihres Liedes zollt. Eine Leitung gibt es nicht. Selbst wenn, wie in den jüngeren Jahren üblich geworden, ein Chor zur Unterstützung vorne mitsingt, entsteht der gemeinsame Klang und Takt vor 47 Vgl. Wolfram Seidner u. Thomas Seedorf, Singen, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik, hg. v. Ludwig Finscher, Sachteil, Bd.  8, Kassel 19982, Sp. 1411–1470. 48 Reckwitz, Grundelemente, S. 289. 49 Vgl. Klusen, Singen, S. 153; Neumann, Singen. 50 Vgl. Monique Scheer, Are Emotions a Kind of Practice (and Is That What Makes Them Have a History)? A Bourdieuian Approach to Understanding Emotion, in: History and Theory 51. 2012, S. 193–220, hier S. 204. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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allem durch die Orientierung aneinander. Der kollektive Gesang schmälert die Improvisationsmöglichkeiten des Einzelnen und überbrückt zugleich mögliche individuelle Lücken bei Text und Melodie.51 Unter praxeologischer Perspektive sind es die (wissenden) Körper, die beim Singen kommunizieren.52 Entscheidend dabei ist, dass die in diesem Fall politische wie emotionale Wirkungsmacht nicht von dem Ausgeführten auf den ausführenden Körper ausgeht, also ein an sich als politisch gedachtes Lied der Ausdruck politischen Willens oder Gemeinschaftsgefühls ist, sondern umgekehrt beide erst durch die Ausführung hervorgebracht werden. Das gemeinsame Singen des »Wir«-Liedes »Wann wir schreiten« kreiert ein performatives »Zusammen« im Sinne Jean-Luc Nancys, geschaffen durch Simultanität in Zeit und Ort: »Um wir zu sagen, muss man das Hier und Jetzt dieses wir präsentieren.«53 Das Singen ist die zeitgleiche Herstellung und Darstellung einer Gemeinschaft und ihres Empfindens als solcher. Es ist sowohl performativer als auch kommunikativer Natur, da sich die Gemeinschaft durch die performative Hervorbringung des sie verbindenden Gefühls immer wieder (re-)konstituiert. Das Singen von »Wann wir schreiten« zum Abschluss von SPD -Parteitagen lässt sich daher als eine in erster Linie emotionale Praxis bezeichnen:54 Es bildet eine verkörperte Form des Gefühlsausdruckes, durch die Gefühle von Verbundenheit und Gemeinschaft wiederum mobilisiert, moduliert und reguliert werden. Verbunden mit dem Liedtext, der parteiintern tradierten Bedeutung und der Weise, wie es auch verbal in der Ansprache und öffentlichen Bewertung kontextualisiert wird, benennt und kommuniziert es Gefühle der Gemeinschaft und Zusammengehörigkeit.55 Es ist die aktive Anpassung des individuellen und kollektiven Körpers an die strukturellen Vorgaben der Musik (Tempo, Dynamik) und die kontextabhängige Bedeutungszuschreibung des Liedes. Beispielhaft dafür sagte Hans Jochen Vogel auf dem SPD -Parteitag von 1990 in Berlin in seiner Ansprache vor dem Schlussgesang: »Laßt uns zum Schluß – auch das gehört zu unserer Identität – das alte Lied singen, das wir uns auch von den Kommunisten nicht haben stehlen lassen und dessen Inhalt heute so wahr ist wie am ersten Tag.«56 Das Singen, von dem im Liedtext die Rede ist, und das aktive Singen selbst legten sich übereinander. Die Teilnehmenden bewegten sich (wenn51 Klusen, Singen, S. 151. 52 Vgl. die fruchtbare Anwendung des Konzeptes des Wissenden Körpers auf Musik von Juliane Brauer: Die Häftlingsorchester in den nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslagern. Musikalische Gewalt und Emotionsmanagement mit Musik, in: Sarah Zalfen u. Sven Oliver Müller (Hg.), Besatzungsmacht Musik. Zur Musik- und Emo­ tionsgeschichte im Zeitalter der Weltkriege (1914–1949), Bielefeld 2012, S. 187–206. 53 Jean-Luc Nancy, Singulär plural sein, Zürich 2012, S. 65. 54 Scheer, Emotions. 55 Scheer beschreibt diese vier Dimensionen emotionaler Praktiken als mobilizing, naming, communicating, und regulating, vgl. ebd., S. 209–217. 56 SPD (Hg.), Protokoll der Parteitage der SPD (Ost), der SPD (West), Bonn 1990, S. 174. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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gleich stehend) Seite an Seite, das alte Lied/die alten Lieder singend, der erhofften Zukunft entgegen. Das Beispiel zeigt nicht nur den körperlichen Vollzug von Gemeinschaft innerhalb der anwesenden Gruppe des Parteitags, sondern auch die Herstellung einer überzeitlichen Zugehörigkeit. Das aktive Mitsingen wurde durch diese Überwölbung ein Mitgestalten der Gegenwart und Vergangenheit, indem es eigene Erfahrungen und Handlungen in eine sinnhafte Tradition stellt.57 Routinisierte körperliche Handlungen werden dabei eingebettet in einen politisch-historischen Sinnkontext, was im Zusammenspiel das Singen zu einer emotionalen Praxis der Vergemeinschaftung werden lässt. Das Singen dieses Liedes bildet mithin einen eigens hergestellten Raum für eine emotionale Dimension der Politik, die in einem sonst postulierten rationalen und deliberativen Politikverständnis, wie es auch die Form von Parteitagen charakterisiert, keinen Platz finden soll.58 Praktiken üben zwar durch Ritual und Routine eine gewisse Macht aus, die nicht notwendigerweise intentional ist, doch setzen sie keine Automatismen in Gang. Fotos, aber mehr noch Videomitschnitte aus jüngeren Jahren verdeutlichen, wie das Singen statt einer emotionalen Praxis zu einer leeren Form werden kann und die Hoffnung auf den tradierten affektiven Effekt der Musik nicht erfüllt wird. Das gemeinsame Singen ist auch auf SPD -Parteitagen keine alltägliche, inkorporierte Haltung mehr, sondern eine Ausnahmeerscheinung. Die Unterstützung durch eingespielte Musik oder einen Live-Chor sowie verteilte »Spickzettel« mit dem Liedtext verdeutlichen mitunter das Bemühen, eine Praxis wiederzubeleben, die als solche eben den meisten nicht mehr vertraut ist.59

VI. Resümee Dieser Beitrag hat ein Randphänomen politischer Willens- und Gemeinschaftsbildungsprozesse beleuchtet. Im Fokus stand dabei Musik, die nicht in das klassische Ordnungssystem von Aufführungen, Künstlern und Publikum passt und sich auch so gut wie gar nicht an ästhetischen Kriterien orientiert. Das Singen des Liedes »Wann wir Schreiten Seit’ an Seit’« zum offiziellen Abschluss von Parteitagen der SPD ist vielmehr als eine Form »partizipativer Musik« zu verstehen, die ihre kommunikative und performative Funktion aus einer spezifischen Tradition der singenden Gruppe und deren Art der Darbietung entwickelt. Als soziale Praxis zeigt, erzeugt und vollzieht das Lied Gemeinschaft und Geschlossenheit und verankert es zugleich in einer durch den Gesang postulierten über57 Vgl. Bendikowski, Singen, S. 25. 58 Vgl. Felix Heidenreich, Politische Theorie und Emotionen, in: ders. u. Gary S.  Schaal (Hg.), Politische Theorie und Emotionen, Baden-Baden 2012, S. 9–28. 59 Vgl. etwa den Mitschnitt des Schlussgesangs auf dem Bundesparteitag in Berlin vom 4. bis 6. Dezember 2011, unter: http://www.youtube.com/watch?v=Ye6Hejj3i2I. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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zeitlichen Gemeinschaft, die aus bestimmten Vorstellungen und Praktiken der eigenen Tradition abgeleitet wird. Die kommunikative Dimension der Musik besteht in diesem Zusammenhang nicht darin, Informationen einfach oder wechselseitig zu übertragen, sondern darin, etwas mitzuteilen und mithin auch wortwörtlich etwas zu teilen – Handlungen, Wissen, Bedeutungen und Gefühle. Als Kommunikationschance fungiert es weniger als »ein Stück Rhetorik in Tönen«, wie Carl Dahlhaus einst die politisch engagierte Musik beschrieb,60 sondern – so die hier verfolgte These – deswegen, weil es ein Deutungsangebot von »Gemeinschaft« unterbreitet und eine Form dieser Gemeinschaft körperlich behauptet. Die angestellten Überlegungen zur Rolle des Singens auf SPD -Parteitagen wehren sich gegen die vereinfachende Sicht, dass Musik oder das Singen an sich etwas »machten«. Vielmehr wurde die Suche nach der Funktion des Singens als Ansatz verstanden, Musik und ihren historischen, kulturellen, emotionalen und performativen Kontext als untrennbar verbunden miteinander zu betrachten. Eine emotionale Disposition wie ein starkes Gemeinschaftsgefühl kann auch durch Musik nicht aus dem Nichts erzeugt werden, sondern kann immer nur eine Modulation von bestehenden und kommunizierten Emotionen sein. In Hinblick auf das Singen in der SPD muss daher abschließend darauf hingewiesen werden, dass sich auch innerhalb der historischen Entwicklung der Partei und ihrer Versammlungen Liedrepertoire und Singpraxis änderten. Nicht nur Bild und Selbstbild der Partei waren abhängig von ihrem historischen Kontext, sondern auch die Weise, in der die Gemeinschaft sich im internen Diskurs der politischen Willensbildung herausbildete und als solche erlebt und empfunden werden konnte. Gefühle sind »geschichtsträchtig«, wie Ute Frevert es formuliert hat;61 die Art wie sie ausgedrückt, aber auch empfunden und erzeugt werden, ist veränderlich und abhängig von äußeren Bedingungen. Jenseits historischer Formationen wie der »Arbeiterklasse«, dem »Klassenkampf« oder der Industrialisierung lässt sich auch an keine spezifische Gefühlswelt der SPD durch »Arbeitermarseillaise«, »Bundeslied« oder »Sozialistenmarsch« mehr appellieren. Sie erzeugten offenbar irgendwann keine emotionalen Resonanzen mehr oder das Gemeinschaftsempfinden wurde von anderen Gefühlen überlagert, die mit dem Singen einhergingen. Beispielhaft dafür steht die »Internationale«, die neben dem »Sozialistenmarsch« das häufigste Parteitagslied der SPD vor 1933 war, auch noch nach Kriegsende erklang, aber nach der Vereinigung der SPD und KPD im Osten Deutschlands von der SPD im Westen zumindest in offizieller Funktion nie wieder gesunden wurde.

60 Carl Dahlhaus, Thesen über engagierte Musik, in: Neue Zeitschrift für Musik 133. 1972, S. 3–8, hier S. 3. 61 Vgl. Ute Frevert, Was haben Gefühle in der Geschichte zu suchen? in: dies. (Hg.), Geschichte der Gefühle, Göttingen 2009, S. 183–207. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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Das Liedrepertoire hat sich aber nicht nur verändert. Es gab auch Phasen, in denen auf SPD -Parteitagen gar nicht gesungen wurde. Es mögen Zeiten gewesen sein, in denen das Gemeinschaftsgefühl zu diffus war beziehungsweise die Bemühungen, es unter einem Gefühl zu bündeln und den Anwesenden eine entsprechende Ausrichtung in die Vergangenheit und Zukunft zu geben, ebenfalls zu divers waren. Ein genauerer Blick auf die Zeitabschnitte, in denen die singenden Parteitage plötzlich verstummten, legt aber noch eine andere Erklärung nahe. Denn die beiden auffälligen Lücken ohne das gemeinsame Abschlusssingen auf SPD -Bundesparteitagen tun sich zwischen den Jahren 1968 und 1981 und dann wieder von 1998 bis 2003 auf. Es waren also die Zeiten, in denen sich die SPD im Bund in (leitender) Regierungsverantwortung befand und den Regierungschef stellte – Zeiten, in denen andere symbolische Strategien als die Beschwörung der Gemeinschaft dominierten.

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Hansjakob Ziemer

Der Mengelbergskandal Kommunikation, Emotion und Konflikt im Konzertsaal vor dem Ersten Weltkrieg

1912 kam es im Konzertleben von Frankfurt am Main zu einem Skandal: Der Musikkritiker Paul Bekker schrieb in der Frankfurter Zeitung eine vernichtende Kritik des Saisoneröffnungskonzerts, in dem Willem Mengelberg die zweite Sinfonie von Johannes Brahms dirigiert hatte. Bekker meinte, dass die Saison keinen »sonderlich verheißungsvollen Beginn« genommen hätte und griff das Dirigat von Mengelberg scharf an. Es sei absehbar gewesen, dass Mengelberg »dieser intimsten der Brahmsschen Sinfonien nicht viel Reiz abgewinnen würde«. Letztlich sprach er Mengelberg die Fähigkeit zu innerer Anteilnahme an der Musik ab.1 Als nach Erscheinen der Kritik eine Verständigung zwischen Bekker und Mengelberg scheiterte, kam es im folgenden Konzert zu einer öffentlichen Unterstützungsveranstaltung für Mengelberg, woran sich ein umfassender, wenn auch nicht vollständiger Boykott zahlreicher Journalisten der Frankfurter Konzerte anschloss. Der Konflikt wurde als sogenannter »Mengel­ bergskandal« bekannt und dauerte bis 1920 an, als Mengelberg schließlich Frankfurt verließ. Auf den ersten Blick war der sogenannte Mengelbergskandal ein Skandal wie viele andere in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg, in denen die Spannung zwischen Presse- und Meinungsfreiheit sowie zwischen Macht und Macht­ missbrauch der Medien zum Ausdruck kam. Die Skandale in der musikalischen Welt wie die Schönbergkonzerte in Wien 1907/08, die Uraufführung von Igor Strawinskys »Le Sacre du Printemps« in Paris 1913 oder die Auseinanderset­ zungen um die Programmmusik von Richard Strauss zu Beginn des Jahrhunderts hatten gemeinsame Merkmale: die weitreichende Bekanntmachung solcher Vor­fälle in der Öffentlichkeit, die Übertretung von Konventionen und Normen während des Konzerts sowie die Sanktionierung von öffentlichen Handlungen, womit Maßnahmen gemeint sind, die das Konzert konkret be­ einflussten.2 Obwohl diese Merkmale des Skandals auch auf den Mengelbergskandal in Frankfurt zutrafen, unterschieden sich die Frankfurter Ereignisse 1 Paul Bekker, Frankfurter Museums-Konzert, in: Frankfurter Zeitung, 5.10.1912. 2 Martin Eybl, Die Befreiung des Augenblicks. Schönbergs Skandalkonzerte 1907 und 1908. Eine Dokumentation, Wien 2004, S. 13–27. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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um 1912 von anderen Skandalen, weil sie nicht durch eine Provokation der musikalischen Avantgarde ausgelöst wurden, also nicht durch eine neue musikalische Sprache, die eine Veränderung von Hörkonventionen erforderte. Der Konflikt entzündete sich in Frankfurt nicht an einer bestimmten Musik; vielmehr war der Ausgangspunkt für den Skandal die Dirigierweise Mengelbergs, die zu einer Projektionsfläche wurde, um die Verhältnisse im Konzertsaal insgesamt in Frage zu stellen. Anhand von Themen wie der korrekten Interpretationsweise, der »richtigen« und »falschen« Hörweisen im Konzertsaal oder der Frage danach, wer den Charakter von emotionalen Erfahrungen bestimmen durfte, wurde verhandelt, in welchen Beziehungen die Dirigenten, Musiker, Konzertorganisatoren und Journalisten zueinander standen. Die Beziehungsgeschichte dieses Netzwerks ist Gegenstand des vorliegenden Aufsatzes, welcher der Frage nachgeht, worin die Konflikte bestanden und warum es zu den Störungen um 1912 kam. Die Geschichte von Skandalen in der musikalischen Welt ist häufig aus der Sicht der Akteure selbst geschrieben worden. Auch im Mengelbergskandal haben die Biographen von Mengelberg und Bekker die Interpretation ihrer Protagonisten weitgehend übernommen.3 Die Gründe für Skandale wurden oft in der Persistenz eines konservativen Musikgeschmacks oder in einer Parallelität von musikalischen und politischen oder sozialen Entwicklungen gesucht, etwa wenn die Skandalkonzerte mit Musik Schönbergs oder Strawinskys als Metapher für historische Phänomene wie Revolution, Bürgerkrieg oder Demokratisierung in Anspruch genommen wurden. Eine solche Simultanität von musikalischen und nicht-musikalischen Phänomenen bedeutet allerdings noch keine kausale Beziehung. Vielmehr geht es darum, anhand eines einzelnen Ereignisses die Historizität der Kommunikationsformen im Konzertsaal zu analysieren und auf ihre spezifischen lokalen Bedingungen einzugehen.4 Dafür ist es hilfreich, die Anregung des Historikers Frank Bösch aufzunehmen, Skandale in der Geschichte als eine »Verdichtung von Kommunikation« aufzufassen, die gleichzeitig ihrer eigenen Logik als einem herausgehobenen Ereignis folgen und als eine »Sonde« fungieren können, um allgemeine historische Prozesse zu untersuchen.5

3 Vgl. Andreas Eichhorn, Paul Bekker. Facetten eines kritischen Geistes, Hildesheim 2002, S. 340–354; und Frits Zwart, Willem Mengelberg, 1871–1951. Een Biografie, Amsterdam 1999, S. 263–270. 4 Vgl. die wegweisenden Arbeiten zur Skandalgeschichte von Martin Eybl, Befreiung des Augenblicks, sowie: Christian Kaden, Skandal und Ritual in der Musik. 10 Sätze, in: Joachim Brügge u. a. (Hg.), Musikgeschichte als Verstehensgeschichte, Tutzing 2004, S. 583–596. 5 Frank Bösch, Kampf um Normen: Skandale in historischer Perspektive, in: Kristin Bulkow u. Christer Petersen (Hg.), Skandale. Strukturen und Strategien öffentlicher Aufmerksamkeitserzeugung, Wiesbaden 2011, S. 29–48, hier S. 34. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

Der Mengelbergskandal

Kommunikationsformen im Konzertsaal manifestierten sich in spezifischen Verhaltensweisen und in einer emotionalisierten Sprache aller Beteiligten. Die Zeitgenossen nutzten solche Formen, um sich über die Ereignisse zu verständigen und zu einer Bewertung ihrer Beziehungen im Konzertsaal zu gelangen. Während häufig davon ausgegangen wird, dass die Musik eine universale Sprache sei, die von allen verstanden werden und zu einer harmonischen Gemeinschaft führen könne, haben Musiksoziologen und Musikethnologen darauf hingewiesen, dass sich soziale Gruppen ihre eigenen Verhaltensweisen schaffen, um mit Hilfe von musikalischen Aufführungssituationen zu kommunizieren. So meinte bereits Leonard Meyer, »without a set of gestures common to the social group, and without common habit responses to those gestures, no communication whatsoever would be possible.«6 Dies bedeutet, dass Gemeinschaftserlebnisse wie im Konzertsaal nicht zwangsläufig homogen verlaufen; vielmehr können in diesem Rahmen scheinbar stabile Konventionen und Verhaltensweisen in Frage gestellt werden und in Konflikte mit anderen Verhaltensweisen münden. Die Analyse eines herausgehobenen Ereignisses wie des Mengelbergskandals kann somit die Kommunikationsformen zwischen den Beteiligten einer musikalischen Aufführung sichtbar machen, die sonst im Alltag verborgen bleiben. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass gerade der Skandal zeittypische Themen aus dem Konzertsaal in die Öffentlichkeit brachte und die Verständigungsformen darüber problematisierte. Der Konzertsaal wurde zu einer Arena, in der kein Konsens an Verhaltensformen mehr bestand, und die Skandale gaben Anlass, sich über grundlegende Konflikte zu verständigen. Um den Mengelbergskandal in der Frankfurter Emotions- und Kulturgeschichte des Fin de Siècle zu verorten, werde ich in einem ersten Schritt die Ereignisse um 1912 nachzeichnen. Im zweiten Teil wird es darum gehen, die emotionalisierte Sprache des Skandals zu rekonstruieren, bevor ich schließlich im dritten Teil  die strukturellen Ursachen des Skandals analysiere und abschließend einen Ausblick auf die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg gebe.7

I. Der Mengelbergskandal um 1912 Im Zentrum des Frankfurter Skandals befanden sich zwei Vertreter der musikalischen Moderne, Willem Mengelberg und Paul Bekker. Auf der einen Seite stand Mengelberg, der seit 1907 gleichzeitig die Sinfoniekonzerte der MuseumsGesellschaft in Frankfurt sowie das Concertgebouworkest in Amsterdam leitete. Er gehörte zu den wichtigsten zeitgenössischen Dirigenten und wurde in einem 6 Leonard Meyer, Emotion and Meaning in Music, Chicago 1956, S. 42. 7 Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf Kapitel II meines Buches: Hansjakob Ziemer, Die Moderne hören. Das Konzert als urbanes Forum, 1890–1940, Frankfurt 2008, insbes. S. 125–146. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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Atemzug mit Felix Weingartner und Arthur Nikisch genannt, zumal er, eng befreundet mit Richard Strauss und Gustav Mahler, als Protagonist der Moderne galt. Auf der anderen Seite stand in diesem Konflikt Paul Bekker, der seine Karriere als musikalischer Autodidakt in Berlin begonnen hatte und nach der Veröffentlichung seiner äußerst erfolgreichen Beethoven-Biographie (1911) Feuilleton-Redakteur bei der Frankfurter Zeitung wurde. Dort avancierte er zu einem der führenden Musikkritiker seiner Zeit, zu einem der bekanntesten Popularisierer Mahlers sowie der musikalischen Avantgarde und zu einem einflussreichen Musikethnographen und Musiksoziologen. Auf unterschiedliche Weise – hier der Journalist, dort der Musiker  – trugen Bekker und Mengelberg zum Aufstieg Frankfurts als einem Zentrum der musikalischen Moderne in den 1920er Jahren bei. Ihr Konflikt begann im Dezember 1911, nachdem Paul Bekker Mengelbergs Dirigat grundsätzlich in Frage gestellt hatte. Der Vorstand der Museums-Gesellschaft wandte sich an den Herausgeber der Frankfurter Zeitung, Heinrich Simon, und protestierte gegen die »Geringschätzung« Mengelbergs, woraufhin die Feuilletonredaktion Bekker den Rücken stärkte und sich auf die Unabhängigkeit der Kritik berief.8 Als der Vorstandsvorsitzende Friedrich Sieger erkannte, dass mit solchen Mitteln die Situation nicht zu ändern war und die Kritik an Mengelbergs Leitung im Winter 1911/12 weiter zunahm, bat er Mengelberg um seine Meinung. Dieser wünschte Siegers nachhaltige Unterstützung, weil seine »Reputation« unter dieser »üblen Situation in Frankfurt« leide und er wie »ein Anfänger« behandelt werde.9 Er gab Sieger eine ganze Liste von notwendigen Maßnahmen, um die Öffentlichkeit zu mobilisieren. Er wolle Frankfurt verlassen, »falls nicht das Frankfurter Publikum und in erster Linie die Vorstände der Museums-Gesellschaft und des Cäcilien-vereines meine Partei ergreifen gegen diesen Tintenbuben […] bis ein anderer Ton angeschlagen wird«.10 Mengelberg forderte eine öffentliche Sympathiebekundung, die Organisation von Leserbriefaktionen gegen die Frankfurter Zeitung sowie die Unterstützung von anderen Musikern und Künstlern, ferner Generalversammlungen der Vereine und Versammlungen der Abonnenten, die in Aufrufen »gegen diese Kritiker und deren beleidigende Art mich zu bekritteln« münden sollten. Schließlich sollte man auf den Programmzetteln »kurze, redliche Erwiderungen« abdrucken und auf diese Weise »die öffentliche Meinung tüchtig bearbeiten«. Nütze dies alles nichts, solle die Museums-Gesellschaft ein Hausverbot in 8 Brief des Vorstands der Museums-Gesellschaft an die Geschäftsführung der Frankfurter Societäts-Druckerei, 8.11.1911; veröffentlicht als Anlage zur Konzertankündigung der Saison 1912/13, Programmsammlung, Kapsel 55 (Universitätsbibliothek Frankfurt am Main = UB Ffm). 9 Antwortentwurf von Mengelberg an Sieger, Dezember 1911 (Mengelberg-Archief, Den Haag = MADH). 10 Brief von Sieger an Mengelberg, 21.12.1911 und Antwortentwurf von Mengelberg an Sieger (MADH). © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

Der Mengelbergskandal

Betracht ziehen, um Bekkers Verhalten zu beeinflussen.11 Mengelberg war sich seiner Macht in der Öffentlichkeit durchaus bewusst und versuchte, sie für sich zu nutzen. Indem Sieger diesen Vorschlägen folgte und einen öffentlichen Protest organisierte, wich er von früheren Verhaltensmustern der Museums-Gesellschaft ab. Denn die Konflikte mit der Frankfurter Presse waren keineswegs neu. Auch Mengelbergs Vorgänger, Siegmund von Hausegger, hatte Frankfurt verlassen, als er sich nicht genügend von der Museums-Gesellschaft in seinen Plänen für eine Programmreform unterstützt gefühlt hatte. Weitere Vorfälle aus der Zeit vor Mengelbergs Amtsübernahme wie etwa die Kritik an einem »Strauss-Syndikat« in Frankfurt hatten Sieger zur Erkenntnis kommen lassen, dass sich die Museums-Gesellschaft öffentlich engagieren musste, um ihre Sinfoniekonzerte zu verteidigen. Mitglieder der Museums-Gesellschaft begannen nun, Leserbriefe zu schreiben und gegen Bekkers Kritiken zu protestieren, und Künstler wie Richard Strauss äußerten ihre Unterstützung für Mengelberg: er hoffe, dass es »Mengelberg […] noch lange im schönen Frankfurt aushalten möge«.12 Solche Maßnahmen setzten eine Dynamik in Gang, die sich nicht mehr aufhalten ließ, denn Bekker bestand auf seiner kritischen Meinung. Der Streit eskalierte, als Bekker am 5. Oktober 1912 die eingangs zitierte Kritik über das Saisoneröffnungskonzert des Museumsorchesters veröffentlichte. Bekker griff das Dirigat von Mengelberg scharf an. Es habe überrascht, »wie matt selbst eine schon an sich äußerst eindringliche Stelle wie die Violoncello-Melodie am Beginn des Adagio erklang«. Mengelberg fehle der Zugang zur Musik, und so habe der »Geist der innerlich uninteressierten Nüchternheit und Langeweile […] über der Aufführung« gelegen, und nur in der Veräußerlichung der in »unbrahmsischer Bravour gesteigerten Stretta des Finales« habe der Abend »einen effektvollen Ausklang« gefunden.13 Als nach der Veröffentlichung der Kritik ein Treffen zwischen dem Vorstand der Museums-Gesellschaft und Paul Bekker scheiterte, zu dem das Vorstandsmitglied Carl Finck eingeladen hatte, entschloss sich der Vorstand zu einer öffentlichen Sympathiebekundung für Mengelberg. Eine Abordnung der Mitglieder, darunter Finck und der frühere Frankfurter Bürgermeister Georg Varrentrapp, erschien vor Beginn des Konzerts auf dem Podium des Saalbaus, wandte sich an das Publikum und verteidigte ihren Dirigenten gegen seine Kritiker. Finck würdigte Mengelbergs Einsatz für das musikalische Leben Frankfurts und lobte dessen künstlerische Fähigkeiten, die ihm Bekker zuvor ab­ gesprochen hatte. Er überreichte ihm schließlich als Zeichen der Verehrung 11 Ebd. 12 Brief vom 8.11.1912, zitiert in: An die Redaktion der Allgemeinen Musikzeitung Berlin, 16.4.1913, offener Brief an die Abonnenten, enthalten in: Programmheftsammlung der Museums-Gesellschaft, Kapsel 9 (UB Ffm). 13 Paul Bekker, Frankfurter Museums-Konzert, in: Frankfurter Zeitung und Handelsblatt, 5.10.1912. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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einen Lorbeerkranz, worauf das Publikum demonstrativ zu klatschen begann. Bekker, der im Saal war, wusste durch einen anonymen Brief bereits von dem Vorhaben des Vorstands, mittels einer »Beifallsdemonstration durch recht starkes Händeklatschen für Herrn Mengelberg« zur »künstlichen ›Popularität Machung‹« beizutragen.14 Der Vorstand hatte schließlich den Programmheften eine »Kampferklärung« beigefügt, wie die Frankfurter Nachrichten den offenen Brief des Vorstands an die Mitglieder nannten, der auch die Korrespondenz mit der Frankfurter Zeitung enthielt. Der Vorstand verteidigte Mengelberg, argwöhnte, dass die Frankfurter Zeitung dem öffentlichen Ansehen der Museums-Gesellschaft und Mengelbergs schaden wolle, den sie aus Frankfurt zu vertreiben hoffe, und vermutete ein »System« hinter der langjährigen kritischen Haltung der Zeitung.15 Daraus folgte eine Polarisierung der musikalischen Welt Frankfurts, weil die Veröffentlichung des Konflikts Journalisten, Konzertbesucher und Musiker zur Stellungnahme zwang. Es gab zwar Stimmen, welche die gesamte Inszenierung kritisierten und von einer »Clownkomödie« und einem »Jahrmarktrummel« sprachen.16 Aber die Folge war eine Spaltung der musikalischen Welt Frankfurts, und eine Lösung kam bis zu Mengelbergs Abschied 1920 nicht zustande. Die Frankfurter Zeitung verzichtete von nun an auf die Besprechung von Konzerten der Museums-Gesellschaft, weil sie die öffentliche Bloßstellung ihres Redakteurs als Verletzung der Pressefreiheit deutete. Der Frankfurter Journalistenverband und einige Frankfurter Zeitungen sowie überregionale Musik­ zeitschriften unterstützten diesen Boykott, der zu der paradoxen Situation führte, dass mit der Frankfurter Zeitung eine der führenden Feuilleton-Redaktionen im deutschsprachigen Raum sich weigerte, die musikalischen Innovationen von Mengelberg als einem der wichtigsten Dirigenten seiner Zeit medial zu begleiten. Es scheint aber, dass Mengelbergs Bild in der Öffentlichkeit oder Bekkers Karriere nicht unter diesem Skandal litten, und auch das P ­ ublikum besuchte nach wie vor die Konzerte. Ein solches Ergebnis des Mengelbergskandals legt nahe, dass Skandale als solche nicht notwendigerweise langfristige Folgen haben mussten; ihr Sinn bestand für die Zeitgenossen vielmehr in der verdichteten Kommunikation über zeittypische Themen in dem historischen Moment, in dem sie erschienen, und in der Aufmerksamkeit von Musikern, Dirigenten, Journalisten und Konzertbesuchern weit über die Frankfurter Stadtgrenzen hinaus.

14 »Unbekannterweise« an Paul Bekker, Brief vom 18.10.1912 (Paul Bekker Collection Yale University = PBCY). 15 Frankfurter Museums-Gesellschaft gegen Frankfurter Zeitung, in: Frankfurter Nachrichten, 19.10.1912; Die Clownkomödie im letzten Museumskonzert, in: Die Fackel, 25.10.1912. 16 Der offene Brief befindet sich in: Programmsammlung, Programmhefte der MuseumsGesellschaft, 1912/13, Kapsel 9 (UB Ffm). © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

Der Mengelbergskandal

II. Soziale Beziehungen im Konzertsaal: Emotionalität und Konflikt Im Verlauf der Ereignisse um 1912 stand allerdings mehr auf dem Spiel als die Ziele eines Musikkritikers, das Karrierestreben eines Dirigenten oder die Strategie eines Konzertvereins. Vielmehr ging es in den Auseinandersetzungen um die sozialen Beziehungen während der Aufführungen im Konzertsaal. Wenn das eigentlich Soziale der Musik in der Entstehung von Kommunikationsbeziehungen lag, dann waren die emotionalen Zuschreibungen zu den musikalischen Erfahrungen ein Ausdruck der Beziehungsfähigkeit zwischen den Akteuren im Konzertsaal. Solche Beschreibungen waren, wie Christopher Small schreibt, ein Zeichen dafür, dass die musikalische Aufführung funktioniert hatte, indem sie eine Beziehung zwischen den Klängen und den Hörern sowie den Hörern untereinander anzeigte. Demnach waren sie eine Möglichkeit, sich über den Zustand dieser Beziehungen auszutauschen.17 Dies galt nicht nur für die Fälle erfolg­ reicher Kommunikation, sondern auch für die Störungen im Konzertsaal, wie sie in den Frankfurter Sinfoniekonzerten um 1912 zu Tage traten. Im Laufe der Auseinandersetzungen stellte sich immer mehr heraus, dass Bekkers zentrale Kritik darin bestand, Mengelberg die Fähigkeit zur Emotionalität grundsätzlich abzusprechen. Während Mengelbergs technische Interpretation bei Werken von Strauss oder Tschaikowsky angemessen schien, eigneten sich aus Sicht Bekkers die Sinfonien von Beethoven und Brahms nicht für eine solche virtuose Interpretation. Bekker kritisierte, dass Mengelberg das Wesen einer Brahmssinfonie nicht richtig erfassen könne. Die Interpretation einer Tondichtung von Strauss könne zwar zweifellos dadurch gewinnen, dass der Dirigent die komplizierte Orchesterstruktur beherrsche und die Virtuosität des Werkes erfasse, aber eine Sinfonie benötige eine Empfindsamkeit und innere Anteilnahme, die Bekker bei Mengelberg vermisste. In einem weiteren Schritt schloss Bekker von Mengelbergs Brahms-Interpretation auf dessen persönliche psychische Verfassung: [N]ach meinen Wahrnehmungen [scheint] es Herrn Mengelberg nicht gegeben zu sein, eine echte, tiefe und warme Empfindung zum Ausdruck zu bringen. Das, was er auf die Hörer überträgt, ist meist nur die Vorstellung eines Effektes, sei es einer auffallenden Instrumentalwirkung, eines plötzlichen dynamischen Wechsels, einer prägnanten rhythmischen Form – selten aber das Verständnis für die Ursache und Notwendigkeit dieses Effektes. So sind die Resultate der Aufführungen, die Herr Mengelberg leitet, Seifenblasen vergleichbar, schillernd und farbig interessant, aber ohne Empfindungsgewicht und darum ohne jenen wahrhaft erhebenden, jenen läuternden Eindruck, den echte Kunst auslösen muss.18

17 Christopher Small, Musicking. The Meanings of Performing and Listening, Hannover, NH 1998, S. 136. Vgl. auch: Christian Kaden, Musiksoziologie, Berlin 1984, S. 75. 18 Paul Bekker, In eigener Sache, in: Frankfurter Zeitung und Handelsblatt, 22.10.1912. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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Während Bekker sich von einem Dirigat einen Zugang zu den inneren Geheimnissen der Musik erwartete, bestehe das »wesentliche psychische Charakteristikum« Mengelbergs in dessen »der äußersten Steigerungen fähigen Energie«. Doch fehle Mengelberg neben der Fähigkeit der Empfindung auch die »Weite des geistigen Horizonts«, um die Kompositionen kulturgeschichtlich einzuordnen und Stilunterschiede zu erkennen. Bekker warf Mengelberg eine Tendenz zur Mechanisierung und Veräußerlichung sowie mangelndes rhythmisches Verständnis vor, weil sich die Tempoänderungen und dynamischen Kontraste in seiner Interpretation nicht logisch aus der Partitur ergäben. Laut Bekker stand Mengelberg demnach nur für Handwerk und fehlendes Gefühl, aber nicht für Kunst. Statt musikalischer Differenzierungen höre er nur »Metronomisches« in der Interpretation: »Es legt sich wie ein eiserner Panzer um den künstlerischen Organismus, unelastisch, mit massiver Schwere drückend, die Phrase zer­hackend, die Freiheit des Vortrags lähmend.«19 Ernst May, der spätere Frankfurter Stadtplanungsdezernent, stimmte Bekker zu: Zwar könne Mengelberg die Noten perfekt umsetzen, aber man könne nicht sagen, dass er »die Fähigkeit besitzt, die Seele der von ihm wiedergegebenen Kunstwerke zu erfassen«.20 Für Bekker bestand das Skandalon darin, dass Mengelberg – aus seiner Sicht  – nicht über die emotionalen Fähigkeiten verfügte, die gerade in einem Konzertsaal als einem Ort für die emotionale Verständigung in der Gesellschaft eine Bedingung waren. Dem Vorwurf der fehlenden Emotionalität wohnte allerdings ein Paradox inne: Gerade die technische Brillanz der Interpretationen von Mengelberg und seine Kunst der Selbstdarstellung lösten bei den Hörern in den Konzerten enormen Zuspruch aus. Journalisten berichteten aus Mengelbergs Konzerten von »südlichen Begeisterungsstürmen«.21 Das »Handwerkliche« sorgte bei vielen Hörern gerade für die emotionalen Wirkungen, die Bekker in Abrede stellte. Insbesondere auch die Subjektivität der Mengelbergschen Selbstdarstellung zog viele Hörer an. Diese und seine Ausdruckskraft erinnerten an das Auftreten Mahlers in Wien, dessen Präzision und dramatischer Dirigierstil das Publikum begeisterten.22 Das Schauspielerische in Mengelbergs Interpretation, das Bekker zur Modernekritik anregte, enthielt gerade das, was das Publikum von einer Aufführung an Expressivität und Leidenschaft erwartete. Der Kritiker Hans Burckhardt verglich das Auftreten Mengelbergs mit dem von Josef Kainz, dem Schauspieler am Wiener Burgtheater, der durch seine psychologische Spielweise bekannt geworden war. Wie Kainz, so Burckhardt, vermochte auch Mengelberg sich auf das Wesentliche der Musik zu konzentrieren, den »leidenschaftlichen 19 Ebd. 20 Brief von Ernst May an die Redaktion, 19.10.1912 (PBCY). 21 Freitags-Konzert der Museums-Gesellschaft, in: Frankfurter Herold, 26.1.1912. 22 Vgl. Charles Maier, Mahler’s Theater. The Performative and the Political in Central Europe, 1890–1910, in: Karen Painter (Hg.), Mahler and His World, Princeton 2002, S. 55–87. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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Pulsschlag des Ganzen« zusammenzufassen und eine »geradezu erschütternde Ausdrucksfähigkeit« zu erlangen.23 Mengelberg verstand es, den Hörern die Musik anschaulich zu machen und das Hören moderner Werke zu erleichtern, weil er sich darum bemühte, die äußeren musikalischen Strukturen hervorzuheben; daher konnten seine Konzerte durchaus eine »Offenbarung« sein und die Hörer »aufs Tiefste« berühren.24 Ein Hörer des Bußtagskonzerts 1911, über das Bekker kritisch berichtet hatte, schrieb an Bekker, dass sich ihm gerade dieses Konzert tief eingeprägt habe wegen der Klanggebung, der Nuancierungen und des Trostes, den diese Aufführung gab. »Den Einsatz der Soprane bei dem Gloria fand ich geradezu visionär und die zarten Klangfarben so suggestiv, dass einem die himmlischen Heerscharen förmlich vor Augen standen.«25 Die Suggestionen und Bilder, die Mengelbergs Interpretationen evozierten, sicherten ihm den Zuspruch großer Teile der Frankfurter Hörerschaft. Das Beispiel Mengelberg verweist auch auf die soziale Dimension musikalischer Interpretation. Schon 1908 hatte ein Journalist darüber berichtet, welche Wirkungen die verschiedenen Dirigierweisen im Konzertsaal nach sich ziehen konnten und wie differenziert sich das Publikum verhielt: »Willem Mengelbergs Erfolge wachsen stetig. […] Es herrscht tatsächlich nach den Freitagskonzerten im Saalbau ein Jubel und eine echte Begeisterung, dass man seine Freude haben kann.«26 Der Dirigent Fritz Steinbach, der für seine Brahms-Interpretationen bekannt war, »entzückt mit seiner Auffassung wenige, Mengelberg erfreut viele«. Man fühlte sich angesprochen von Mengelbergs »plastischer Durchführung« und seiner »starken Individualität wie als Beherrscher der Orchestermassen«.27 Im Gegensatz zu Bekker sah ein anderer Kritiker in Mengelbergs Interpretation eine Möglichkeit, das Publikum für die Musik zu interessieren und so der ästhetischen Verflachung entgegenzuwirken, denn das Publikum komme zurück ins Konzert, weil es wisse, dass es die Musik unter Mengelbergs Leitung genießen könne. Den Grund für diesen Erfolg verortete er in dem Künstlertum Mengelbergs, das auf »persönliche Wahrhaftigkeit und Ursprünglichkeit des Empfindens« zurückgehe.28 Der Konflikt um das emotionale Erleben im Konzertsaal warf für die Zeitgenossen auch die Frage auf, in welcher Beziehung der einzelne Hörer und das Konzertpublikum als Gesamtheit standen und inwiefern sich die emotionalen Erfahrungen eines Einzelnen auf die Gesamtgruppe übertragen ließen. Gerade angesichts der allgemeinen Popularität von Mengelberg verteidigte die Museums-Gesellschaft die Freiheit von Empfindungen der Hörer gegen Paul ­Bekker. In einem offenen Brief wandte sich der Vorstand dagegen, dass ein Einzelner 23 Vgl. Burckhardt, Frankfurter Musikstreit. 24 A. von Kronoff an Paul Bekker, 5.12.1912 (PBCY). 25 Ebd. 26 Frankfurt a. M., in: Frankfurter Musik- und Theaterzeitung 3. 1908, H. 5, S. 7–9, hier S. 8. 27 Frankfurt a. M., in: Frankfurter Musik- und Theaterzeitung 2. 1907, H. 40–41, S. 1 f. 28 Frankfurt a. M., in: Frankfurter Musik- und Theaterzeitung 3. 1908, H. 5, S. 7–9. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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seine Empfindung zum Leitfaden für alle mache. Die Hörer seien frei darin, wie sie Musik hörten, und sie benötigten niemanden wie Bekker, der eine »Empfindung auf Kommando!« fordere.29 Der Vorstand stellte Bekkers Invektiven als das Urteil eines Einzelnen dar, an dessen emotionaler Kompetenz selbst gezweifelt werden müsse: »Was muss das für ein seltsamer Empfinder sein, der stets anders empfindet als das Publikum, welchem in seiner Gesamtheit […] das richtige Gefühl für künstlerische Leistungen gewiss nicht abgesprochen werden kann. Die Gefühlswelt muss eben eine ganz andere sein.«30 Die Frankfurter Zeitung verteidigte wiederum die Freiheit des emotionalen Hörens eines Einzelnen und sah in der Kritik der Museums-Gesellschaft einen Versuch, den Konzertbesuchern vorzuschreiben, wie sie zu hören hatten. Somit zeigten sich die Spannungen im Konzertsaal auf unterschiedlichen Ebenen: auf der Ebene der emotionalen Zuschreibungen im Konzertsaal, auf der Ebene der Projektionen auf den Dirigenten und auf der Ebene der Beziehungsvorstellungen von Individuum und Gemeinschaft im Publikum.

III. Der Wandel der musikalischen Welt: Organisation und Konflikt Ein Grund für diese Spannungen im Konzertsaal lag in einem allmählichen Wandel der musikalischen Welt. Für den amerikanischen Kunstsoziologen­ Howard Becker kann ein Kunstwerk – wie zum Beispiel im Konzert – erst durch soziale Kooperation und durch konventionalisierte Prozesse von einem Netzwerk verschiedener Akteure realisiert werden. Übertragen auf die Situation in der musikalischen Welt Frankfurts heißt dies, dass der Verlauf der Auseinandersetzungen Auskunft über den Wandel solcher Kommunikationsprozesse geben kann.31 Der Wandel der musikalischen Welt wurde personifiziert durch Bekker und Mengelberg, die für eine Bedeutungsverschiebung in der musikalischen Welt des Fin de Siècle standen. Kritiker und Dirigenten gewannen gegenüber den Musikliebhabern, den Amateuren und Dilettanten zu Beginn des 20.  Jahrhunderts an Bedeutung. Im Mittelpunkt standen nun nicht mehr die Hörer, die bisher selbst die Instanz für die Beurteilung der Musik in der Öffentlichkeit gewesen waren. Stattdessen lösten Kritiker und Dirigenten sie als Experten für das Musikalische ab. Damit änderte sich die etablierte Balance zwischen den Akteuren im Konzertsaal, und der Skandal machte zwei wichtige Trends im Fin de Siècle sichtbar: die Neudefinition der Rollen der Akteure und die Infragestellung der Organisation des Sinfoniekonzerts. 29 An die geehrten Besucher unserer Konzerte, 16.4.1913, Programme der MuseumsGesellschaft, Programmsammlung UB Ffm. 30 An die geehrten Besucher unserer Konzerte, 12.10.1912, Programme der MuseumsGesellschaft, Programmsammlung UB Ffm. 31 Howard Becker, Art Worlds, Berkeley 1982, S. X. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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Bekker verdankte seinen Aufstieg zum Kritiker der Frankfurter Zeitung nicht zuletzt der Expansion des Pressemarktes, welche die Rollenzuschreibungen von Journalisten änderte. Die Musikkritik als interpretierende Vermittlungsinstanz war zwar fest etabliert seit Beginn des 19. Jahrhunderts; aber als sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Markt für Musikpublikationen dramatisch ausdehnte, nahm die soziale Bedeutung des Kritikers zu. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts hatte sich die Entwicklung vom Hören hin zum Lesen über das Hören, vom Musizieren hin zum Wissen über das Musizieren immer weiter verstärkt, was sich niederschlug in der massenhaften Produktion von Konzertführern, Programmnotizen, Komponistenbiographien und so weiter.32 Die Musikkritik erläuterte das Gespielte und forderte, wie ein Kritiker 1907 bemerkte, das »Publikum zur Selbstzucht« auf.33 Sie lehre den Lesern das Hören, stärke das Urteilsvermögen und erlaube das »Nacherleben des Kunstgenusses«. Die neue Stellung der Musikkritik zeigte sich auch darin, dass die Presse half, Karrieren zu begründen, Werke zu verkaufen und Ressourcen zu mobilisieren. In der Selbstreflexion darüber wurde offenbar, welche neue Bedeutung die Zeitungen einnahmen, und zwar nicht nur aus sozialer Perspektive, sondern auch aus kultureller: »Unsere Charakterbildung und das ganze Sein und Werden unseres Volkes wird durch das, was wir täglich lesen, in wirksamster Weise beeinflusst.«34 Journalisten sahen sich nun nicht mehr als Deuter und Erklärer, sondern auch als Erzieher und Organisationskritiker. Mit Bekker, der auf Grund seiner außerordentlich erfolgreichen Beethoven-Biographie zur Frankfurter Zeitung gekommen war, kam ein Reformer, dem es nicht um Werke an sich ging, sondern um die Bedingungen des Hörens und Urteilens, wozu auch die Kritik der Organisation gehörte. Parallel zu den Veränderungen im Pressemarkt vollzog sich eine weitere Verschiebung, denn auch die Dirigenten erlangten eine neue Position in der musikalischen Welt – sie wurden, wie Gustav Brecher, selbst Dirigent in Frankfurt und Köln, 1917 sagte, zu den »Medizinmännern der Moderne.«35 Dirigenten wie Mengelberg gelangten in das Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit und verstanden es, diese Bühnen zu nutzen, wofür die Kritik am »Schauspieler-Dirigententum« ein Beleg ist.36 Der Machtzuwachs der Dirigenten zeigte sich unter anderem in ihrem größeren Mitspracherecht in der Konzertorganisation, und die Einstellung eines qualifizierten Dirigenten konnte über den Erfolg von Konzerten entscheiden, indem er Publikum anzog und sich aktiv in die 32 Vgl. z. B.: Leon Botstein, Listening through Reading. Musical Literacy and the Concert Audience, in: 19th Century Music 16. 1992, S. 129–145. 33 Adolf Prümers, Wer Ohren hat zu hören…, in: Frankfurter Musik- und Theaterzeitung 2. 1907, H. 11, S. 2. 34 Frankfurter Warte, 19.12.1912. 35 Gustav Brecher, »Auge und Ohre«, in: Deutsche Bühne. Jahrbuch der Frankfurter Städtischen Bühnen 1. 1917/18, H. 1, S. 365–371, hier S. 370. 36 Ein nervöser Dirigent, in: Die Fackel, 27.1.1912. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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Organisation des Konzertlebens einbrachte. Diese Funktionszuschreibungen fanden sich in Metaphern wieder, die aus Sphären stammten, die am stärksten mit Machtausübung verbunden schienen: Politik und Militär. Dirigenten galten als »Realpolitiker«37 und »Tyrannen«38 oder – wie im Fall von Mengelberg – als »Orchesterfeldherrn«.39 Eine solche Machtzunahme hatte direkte Folgen für die Hörer der Sinfoniekonzerte. Mengelberg selbst wies darauf hin, dass der Dirigent zwischen den Intentionen des Komponisten und den Bedürfnissen des Publikums zu vermitteln habe. Der Dirigent war dem Werk gegenüber verantwortlich, weil er den Geist der Musik zu erfassen vermochte, und er war dem Publikum gegenüber verantwortlich, weil er »das Publikum erziehen, auf ein höheres Niveau heben und damit die Erlebnismöglichkeiten steigern« sollte.40 Der Dirigent war »Priester und Erzieher«. Ganz von seinem ästhetischen Konzept ausgehend, führte der Dirigent den Hörer durch das Werk und versuchte, in ihm das Bedürfnis entstehen zu lassen, »weiter zu folgen, weiter mit zu erleben.« Der Münchner Kunstwart fasste diese Funktion des Dirigenten in einem Beitrag über die Reform des Konzerts zusammen: [der Hörer] muss [dem Dirigenten] folgen, bis ihm die Umschau auf einem Höhepunkt zeigt, wohin der Weg durchs Dunkel ging. Die Bereitwilligkeit zunächst einmal widerspruchslos sich hinzugeben, ist ja die Vorbedingung zu jedem Kunstgenuss, der die Seele über ihren gewohnten Besitz hinaus bereichern und erweitern soll, ist die Vorbedingung zur Aufnahme von allem, was für den Einzelnen neuartig ist.41

Diese neuen Funktionszuschreibungen für den Dirigenten – Vermittlung und Entscheidungsbefugnis – standen im Mengelbergskandal zur Debatte. Sie zeigt, dass vor dem Hintergrund einer Auseinandersetzung über Emotionalität ein­ organisatorischer Konflikt verhandelt wurde. Die Balance des romantischen Konzerts war aus dem Gleichgewicht geraten, und das Publikum wollte sich nicht der Vorstellung einer Einheit fügen. Die »Verhimmelungsszene«, die der Vorstand für den »großen Mängelberg« inszeniert hatte, traf nicht auf ungeteilte Zustimmung im Publikum, weil es ein »unter Gebildeten nicht üblicher Jahrmarktrummel« gewesen sei.42 Die Fackel berichtete, dass sich das Publikum in die Gebildeten und die »Herdenmenschen« spaltete. Das »Familienidyll«, das den Frankfurtern in den 1860er Jahren ein Leitbild für die Konzerte ge­wesen 37 K. Werner, Max Kaempfert, in: Frankfurt Musik- und Theaterzeitung 2 (1907), H. 26–27, S. 1 f., hier S. 1. 38 Ebd. 39 Brief von Max von Schillings an Friedrich Sieger, 12.9.1907 (Briefsammlung UB Frankfurt am Main). 40 Willem Mengelberg, Rede gehalten in der Columbia Universität in New York, 9. Januar 1928; Archiv des Cäcilien-Vereins Frankfurt am Main (UB Ffm). 41 Zur Reform des Konzertprogramms, in: Kunstwart 6. 1903, S. 420 f. 42 Die Clownkomödie im letzten Konzert, in: Die Fackel, 26.10.1912. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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war, wurde nun durch Begriffe wie »Entfremdung« oder »disharmonische Affäre« ersetzt.43 Die Vorstellung einer harmonischen Gemeinschaft scheiterte daran, dass, wie die Kritiker bemerkten, die einzelnen Frankfurter Musikvereine nicht das Musikleben in Gänze zu repräsentieren vermochten. Die Vorstellung einer emotionalen Gemeinschaft durch eine gemeinsame Hörerfahrung konnte nicht aufrechterhalten werden, weder von der einen noch von der anderen Seite, und hierin bestand das eigentliche Skandalon. Die Auseinandersetzung um neue Definitionen von Rollen und Funktionen im Konzertsaal war ein Beispiel für die Strukturprobleme des Frankfurter Musiklebens in der Moderne. Der Aufstieg von zwei Konzertreformern wie Bekker und Mengelberg veranschaulichte die Tragweite der Probleme. Dabei standen vor allem zwei Themen zur Debatte: die mangelnde Professionalisierung und die zunehmende Kommerzialisierung. Paul Bekker nutzte seine neue Position, um sich als scharfer Kritiker zu etablieren, der einen »tiefwurzelnden organisatorischen Defekt« in der Frankfurter musikalischen Welt ausgemacht hatte.44 Der Vorwurf mangelnder professioneller Strukturen traf vor allem auf die Leitung der Museums-Gesellschaft zu, deren Vorsitzender Friedrich Sieger ein Beispiel dafür war, dass – im Unterschied etwa zum Leipziger Gewandhaus – um 1900 eine der größten und wichtigsten Konzertgesellschaften des Kaiserreichs von einem Musikliebhaber geführt werden konnte. Sieger war Jurist und Notar und organisierte den Verein seit 1904 mehr durch seine sozialen Beziehungen als durch ein explizites musikalisches Konzept. Er personifizierte die bürgerliche Musikkultur des 19. Jahrhunderts, aber sein autoritärer Führungsstil und seine Neigung zu antisemitischen Äußerungen verhinderten die aus Sicht von Bekker notwendigen Reformen hin zu einer Öffnung und zu einer Professionalisierung des Vereins. Schließlich bedrohte laut Bekker die zunehmende Kommerzialisierung die Stellung der Musik. Sieger überlasse alles dem zunehmenden Einfluss des Marktes und tue nichts, um das Konzert zu retten. Die »Veräußerlichung des Geschmacks« sei ebenso eine Folge wie der Niedergang der musikalischen Kultur. Tatsächlich nutzte Mengelberg die kommerziellen Möglichkeiten mit Hilfe seines Doppelengagements in Amsterdam und Frankfurt sowie den neuen Reise­möglichkeiten aus, und er avancierte zu einem »world conductor«, der sowohl in Europa als auch in den USA Karriere machen konnte.45 Diese Themen waren eingebunden in einen Diskurs über die Beziehung des Konzertlebens mit dem urbanen Selbstverständnis Frankfurts, der auf die Signifikanz der Musik für die Stadt verweist. Für Auswärtige, so argumentierten fast alle Kontrahenten, stellte das Musikleben das dar, was die Stadt Frankfurt ausmachte, und ihre Vereine hatten das »moralische Kapital«, wie Bekker 43 Ebd. 44 Paul Bekker: Der Konflikt im Frankfurter Musikleben. Ein Epilog zur Konzertsaison, in: Frankfurter Zeitung und Handelsblatt, 26.4.1913. 45 Vgl. Zwart, Mengelberg, S. 242. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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meinte, die Stadt zu repräsentieren. Während andere Städte wie Leipzig sich als Konzertstädte zu definieren versuchten, vollzöge sich in Frankfurt ungestört »der Abstieg […] von der wurzelfesten Musikstadt zum physiognomielosen Musikjahrmarkt«.46 Diese Kritik zeigte aber auch einen weit verbreiteten Anspruch, Frankfurt als Stadt über das Musikalische zu definieren, der im Verlauf des Skandals radikal in Frage gestellt worden war und erst in den 1920er Jahren wieder aufgegriffen wurde.

IV. Ausblick: Die Utopie einer Vergesellschaftung durch Musik Im Frankfurter Konzertleben diente der Mengelbergskandal dazu, die kulturellen, sozialen und organisatorischen Konflikte zu inszenieren. Die Hörer beteiligten sich aktiv an den musikalischen Aufführungen: sei es durch die eigenen Projektionen auf das Geschehen im Konzertsaal, sei es durch Protest und Zustimmung oder sei es durch die Beschreibung der eigenen Hörerfahrungen. Die Musik wurde nicht nur als ein Bildungsgut oder ästhetischer Stimulus genutzt; vielmehr wandten sich die Zeitgenossen der Musik zu, um ihre soziale Welt zu ordnen, das heißt – um mit Tia DeNora zu sprechen – sie nutzten die interpretative Flexibilität von Musik als eine Ressource für die Gestaltung von Handlungen und Beziehungen.47 Im Fall des Mengelbergskandals bedeutete dies, dass die Zeitgenossen in der öffentlichen Auseinandersetzung zwischen Bekker und Mengelberg einen willkommenen Anlass sahen, sich über Themen wie Professionalisierung, Kommerzialisierung oder den Wandel der öffentlichen Ausdruckskultur äußern zu können. Die Häufung solcher Skandale und vieler kleinerer »Fälle«, nicht nur in Frankfurt, sondern in vielen Konzertstädten im Fin de Siècle, sind ein Indiz für das gesteigerte Bedürfnis des Publikums nach einem Austausch. Die beteiligten Akteure suchten nach einer Sprache, mit der sie ihre Gegenwart und den Wandel der musikalischen Welt reflektieren konnten, und es war die Sprache der Emotionen und der Kulturkritik, die ihnen die Mittel für dieses Gespräch bereitstellte. Diese kommunikative Funktion der Musik – als Ressource für die Reflexion über die Gesellschaft  – erfuhr in den Jahren um den Ersten Weltkrieg einen Höhepunkt. Paul Bekker entwarf 1916 mit seiner musikethnographischen und musiksoziologischen Studie »Das Deutsche Musikleben« eine Utopie, die eine idealisierte Kommunikation im Konzertsaal als Grundlage für einen modernen Staat beschrieb und damit der extremen Hoffnung Ausdruck verlieh, durch musikalische Kommunikation die Gesellschaft zu reformieren und den Konzertsaal zu einer Institution für Gesellschaftsbildung zu machen.48 Diese Utopie er46 Bekker, Konflikt im Frankfurter Musikleben. 47 Tia DeNora, Music in Everday Life, Cambridge 2000, S. 62–63. 48 Paul Bekker, Das deutsche Musikleben, Berlin 1916. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

Der Mengelbergskandal

schien aber zu einer Zeit, deren Konflikte, Auseinandersetzungen und – nicht zuletzt – Skandale in einem Widerspruch zu der Realisierbarkeit solcher sozialen Ideen standen. Zugleich markieren sie die Signifikanz, welche die Zeitgenossen, auf welcher Seite auch immer, dem Konzertsaal als einem Ort für Kommunikation in den »Krisenjahren der klassischen Moderne« (Detlev P ­ eukert) zuerkannten.

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Kühle Meisterschaft Dirigenten des frühen 20. Jahrhunderts zwischen Selbstdarstellung und Metierbeschreibung

Ich persönlich freilich muss, wenn Sie mich fragen, Ihnen offen sagen, dass mich das Dirigententum weniger interessiert als die Musik, der es dient. Von den Dirigenten gehört heute ein Teil in den Zirkus, der andere Teil ins Museum, und nur relativ wenige machen wirklich lebendige Musik. Wilhelm Furtwängler an Kurt Blaukopf, 3. Juli 19541 Es ist doch zu bedauern, dass Dirigenten heute eigentlich sehr wenig schreiben, schreiben etwa über Komponisten. Furtwängler hat sehr viel über Brahms geschrieben oder über Beethoven. Heute schreiben Dirigenten kaum noch. Woran liegt das? Das kann nicht nur ein Zeitproblem sein. Ja, die Dirigenten, muß ich sagen, sind nicht intelligenter geworden. Lorin Maazel im Gespräch mit Joachim Matzner 2

I. Der Dirigent als Zentrum der kommunikativen Dinge Sobald der Dirigent im Konzertsaal das Podium betritt, richten sich alle Augen auf ihn.3 Er ist von da an bis zum Ende des sozialen Ereignisses »Konzert« der wichtigste, für manche Beteiligte sogar der alleinige Fokus aller Kommunikation. Diesen Fokus bildet er, obwohl er schweigt. Hans von Bülow (1830–1894),

1 Wilhelm Furtwängler, Briefe, hg. v. Frank Thiess, Wiesbaden 1964, S. 266. Vgl. schon eine Notiz aus dem Jahre 1927: »Dirigentenelend! Es sollte eine Kunst sein, und ist eine Schaustellung, eine Komödie.« Wilhelm Furtwängler, Aufzeichnungen 1924–1954, hg. v. Elisabeth Furtwängler u. Günter Birkner, Wiesbaden 1980, S. 34. 2 Joachim Matzner, Furtwängler. Analyse, Dokument, Protokoll, hg. v. Stefan Jaeger, Zürich 1986, S. 130. 3 Die Ausdrucksweise im Maskulinum rechtfertigt sich historisch. Im hier behandelten Zeitraum war die Orchesterleitung ein reiner Männerberuf; trotz einer steigenden Zahl von Dirigentinnen ist sie das bis heute geblieben. Sofern biographische Angaben in diesem Artikel aus den großen musikwissenschaftlichen Enzyklopädien stammen, werden sie nicht separat nachgewiesen. Dies gilt insbesondere für Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik, 29 Bde., hg. v. Ludwig Finscher, Kassel 1994–20082 (Personenteil, 17 Bde.); The New Grove Dictionary of Music and Musicians, 29 Bde., hg. v. Stanley Sadie, London 20012. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

Kühle Meisterschaft

der »erste Stardirigent im modernen Sinne«,4 traktierte im späten 19. Jahrhundert sein Publikum mit belehrenden Vorträgen, zu denen er sich spontan veranlasst sah, auch aus tagespolitischem Anlass.5 Später wanderte dies in die besondere pädagogische Form des Gesprächskonzerts ab, eine respektierte, aber doch weniger prestigereiche Veranstaltungsart als das formalisierte Konzert. Nur zu besonderen Anlässen wendet sich heute noch ein Dirigent oder eine Dirigentin vom Orchester ab und dem Zuschauerraum zu. Zuviel Belehrung wird nicht immer dankbar empfangen. Georg Solti bat 1960 Theodor W. Adorno, immerhin eine stadtbekannte Persönlichkeit, vor der Premiere von Alban Bergs »Lulu« in Frankfurt am Main ein paar Worte zum Publikum zu sprechen. Der Professor holte aber zu einem ausführlichen wissenschaftlichen Vortrag aus und provozierte damit Unmut im Saal.6 Der schweigende Dirigent kommuniziert gestisch. Mit seinem Einsatz beginnt die Musik, ohne sein Schlusszeichen kann sie nicht enden. Dazwischen verwandelt der Dirigent die Partitur in Klang, veranlasst er die Musiker, arbeitsteilig Töne zu produzieren. Sie sind Spezialisten, er ist der einzige Generalist. Er allein, so scheint es, fügt die Monologe der Instrumente im performativen Vollzug zum geordneten Ganzen eines ästhetischen Zusammenhangs. Die Kommunikation der Mitglieder des Orchesters untereinander wäre von Missklang und Chaos bedroht, sorgte der alles hörende und sehende Chef nicht für eine Ordnung, die sich dem Überblick des einzelnen Instrumentalisten entzieht. So wird der Dirigent zum Herrn des Orchesters, zur sichtbarsten Verkörperung der Musik, auch wenn er als Schweigender zumindest in dieser Beziehung auf der Seite des Publikums steht, im Unterschied zu diesem aber Initiative und Motorik zeigen darf und muss. Freilich gilt dies nur für den Konzertsaal. Im Opernhaus, wo das Dirigieren besondere Anforderungen stellt, die jene im Konzertsaal noch übertreffen,7 wird der Dirigent zum kaum sichtbaren Diener des Bühnengeschehens. 4 Wolfgang Hattinger, Der Dirigent. Mythos, Macht, Merkwürdigkeiten, Kassel 2013, S. 42. Vgl. auch Hans-Joachim Hinrichsen, Der moderne Dirigent? Hans von Bülows Beitrag zur neuzeitlichen Interpretationskultur, in: Basler Jahrbuch für historische Musikpraxis 24. 2000, S. 151–168. 5 Weingartner berichtet darüber in seinen Erinnerungen: 1888 veranstaltete Bülow in Hamburg in Anwesenheit von Johannes Brahms ein Beethoven-Brahms-Konzert, das er mit einer Rede unterbrach, in der er Parallelen zwischen Brahms und Bismarck zog und Mendelssohn mit dem soeben verewigten Kaiser Wilhelm I. verglich. Vgl. Felix Weingartner, Lebenserinnerungen, 2 Bde., Zürich 1928–1929, Bd. 1, S. 312 f. 1892 pries Bülow in einer »Konzertrede« den entlassenen Reichskanzler als den »Beethoven der deutschen Politik« und widmete ihm die Eroica. So Alan Walker, Hans von Bülow. A Life and Times, Oxford 2010, S. 423. 6 Georg Solti u. Harvey Sachs, Solti über Solti, München 1997, S. 105. 7 Vgl. etwa Sir Charles Mackerras, Opera Conducting, in: José Antonio Bowen (Hg.), The Cambridge Companion to Conducting, Cambridge 2003, S.  65–78, oder die knappen Bemerkungen bei Bruno Walter, Von der Musik und vom Musizieren, Frankfurt 1957, S. 170–176. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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Ist der Dirigent, wie Elias Canetti mit tiefer Einsicht gezeigt hat, eine kommandierende, ja schlagende Führerfigur, mit der sich ein für Autorität empfängliches Publikum8 gerne identifiziert und auf die es seine Wünsche projiziert, so ist er dennoch nur scheinbar autonom.9 Während Sänger jederzeit die Musik machen können, die sie machen wollen, fehlt sogar dem machtvollsten Dirigenten die Chance eigener Produktivität. Selbst Instrumentalsolisten sind mit ihrem Klavier, ihrer Violine oder ihrer Trompete autark; der Dirigent hingegen ist nichts ohne den Apparat, den er anleitet und den Fachleute für ihn­ organisieren. Ohne ein Orchester ist ein Taktstock ein nutzloses Stück Holz. All dies haben Elias Canetti und Theodor W. Adorno, für den der Dirigent ein Schamane ist und »der musikalische Vermittler schlechthin«,10 gültig analysiert. Neuere Überlegungen haben weniger phänomenologisch und massenpsychologisch als in der Sprache der Emotionsforschung die Geheimnisse des dirigentischen Wirkens zu ergründen versucht.11 Dem wäre hinzuzufügen, dass sich keine andere musikalische Leistung so sehr dem Urteil nicht allein von Laien, sondern auch von leidlich geschulten Kritikern entzieht wie die des Dirigenten. Adorno, der als Musiker wusste, wovon er sprach, sieht im öffentlichen Auftreten des Dirigenten etwas unvermeidlich Täuschendes: »Während der Gestus des Medizinmannes den Zuhörern imponiert, die glauben, es bedürfe einer solchen Attitüde, um künstlerisch das Beste aus den Spielern herauszuholen […], ist die Qualität der Aufführungen, der dem Orchester zugewandte Aspekt des Dirigierens, weithin unabhängig von dem, was er dem Publikum vorgaukelt.«12 Zweifellos ist der genaue Beitrag des Dirigenten zur Aufführung einem Publikum, das nicht in der Partitur mitliest, weniger deutlich erkennbar als etwa die Tonproduktion einer Sängerin oder eines Instrumentalsolisten. »Die meisten Hörer«, bemerkt der Dirigent Fritz Busch, »vermögen richtige von falschen, häßliche von schönen Tönen zu unterscheiden, wäh-

8 Pierre Boulez warnt allerdings davor, eine sozialpsychologische Kollektivgröße »Publikum« zu konstruieren: Das Publikum eines Konzerts habe keine Kohärenz jenseits der gemeinsamen Anwesenheit an einem Ort: »Je ne dirais même pas des publics. Il y a des gens.« Vor allem gebe es keine Konvergenz des ästhetischen Urteils. Siehe Pierre Boulez, Conversations de Pierre Boulez sur la direction d’orchestre avec Jean Vermeil, Paris 1989, S. 142. 9 Elias Canetti, Masse und Macht, Hamburg 1960, S. 453–456. Vgl. jetzt die grundlegenden Überlegungen von Wolfgang Hattinger über Macht und Charisma von Dirigenten: Der Dirigent, S. 127–168. 10 Theodor W. Adorno, Einleitung in die Musiksoziologie. Zwölf theoretische Vorlesungen, Reinbek 1968, S. 120. 11 Siehe Sven Oliver Müllers Kapitel in diesem Band. Vgl. auch empirische psychologische Studien wie z. B. Sabine Boerner u. Christian Freiherr von Streit, Promoting Orchestral Performance. The Interplay between Musicians’ Mood and  a Conductor’s Leadership Style, in: Psychology of Music 13. 2007, S. 135–146. 12 Adorno, Einleitung in die Musiksoziologie, S. 116. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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rend sie selten in der Lage sind, den Sinn oder die Wahrheit eines Schlages zu beurteilen.«13 Ausgesprochene Fehler eines Dirigenten bei der Realisierung einer Partitur, die es selbstverständlich in großer Zahl gibt, sind selten hörbar, und wenn eine Aufführung unbefriedigend verläuft, könnte es immer auch am Orchester liegen.14 Es ist daher unvermeidlich, dass unspektakulär agierende Orchester­ leiter – man denke an Pierre Boulez oder Michael Gielen – höchstes Ansehen bei Musikern genießen können, aber bei Teilen des Publikums den Eindruck kalter Analytik und emotionaler Indifferenz erwecken, also die Erwartungen an die Figur des Dirigenten bestenfalls unvollständig erfüllen. Dies gilt offenbar sogar für einen Musiker ersten Ranges wie Richard Strauss: Der Beschwörer hitzigster Emotionen, vor allem in seinen frühen Werken, muss als Dirigent unaufgeregte Professionalität ausgestrahlt haben.15 Karl Böhm, ebenfalls kein showman und nach eigener Einschätzung ein Strauss-Schüler, war »glücklich, dass es auf der Welt einen Platz gibt, an dem man den Dirigenten nur nach dem Hören und nicht nach dem Sehen beurteilen muß: das Bayreuther Festspielhaus!«16 Von Pierre Monteux, einem der unter Musikern sowohl wegen seines Werkverständnisses als auch ob seiner Schlagtechnik am meisten bewunderten Dirigenten des 20. Jahrhunderts, hat jemand, der oft unter ihm spielte, gesagt, er sei vom Publikum stets unterschätzt worden: »There was nothing to see, he looked boring.«17 Die Kommunikation im Konzertsaal ist daher von Missverständnissen durchdrungen. Dies gilt insbesondere für die Kommunikationsstränge, die in der Zentralfigur des Dirigenten zusammenlaufen. Im Idealfall sind alle Be­ teiligten mit ihm zufrieden. Indes kann es vorkommen, dass eine Gestik, die dem Publikum als besonders inspiriert und inspirierend erscheint, von Orchestermusikern als ungenau und verwirrend wahrgenommen wird. Umgekehrt kann eine präzise Schlagtechnik, für die die Spieler womöglich dankbar sind, von den Zuschauern als zirzensisch anspruchslose Pedanterie empfunden werden. Die Dinge komplizieren sich weiterhin dadurch, dass häufig dennoch die Kommunikation zwischen Dirigent und Orchester aus Gründen funktioniert, die andere sind als die vom Publikum vermuteten. Vielfach ist von Wilhelm 13 Fritz Busch, Der Dirigent, a. d. Nachlass hg. v. Grete Busch u. Thomas Mayer, Frankfurt 1990, S. 7. 14 Gunther Schuller, ein Komponist und professioneller Hornist, der vorbildliche Interpretationsanalysen vorgelegt hat, weist aber auf einen Widerspruch der herrschenden Erwartungshaltungen hin, »which allows conductors virtually any kind of liberty of interpretation, while orchestral musicians are expected to perform with absolute precision and accuracy«: The Compleat Conductor, New York 1997, S. 54. 15 Doráti, der ihn in Budapest bei Proben kennenlernte, beschreibt ihn lakonisch als »un­ varying, amiable but cool«. Antal Doráti, Notes of Seven Decades, Detroit, MI 19812, S. 78. 16 Karl Böhm, Ich erinnere mich ganz genau. Autobiographie, hg. v. Hans Weigel, Wien 19742, S. 213. Herv. i. O. 17 Gunther Schuller, A Life in Pursuit of Music and Beauty, Rochester 2011, S. 410. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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Furtwängler berichtet worden, gerade seine diffuse Schlagtechnik, vom Publikum häufig als Ausdruck tranceartiger Überwältigung durch die Spiritualität der Kunst bewundert, sei kalkulierte Absicht gewesen und habe ein im Detail desorientiert gelassenes Orchester zu Höchstleistungen von Aufmerksamkeit und Zusammenspiel angespornt.18 Der Dirigent ist der Kommunikationsknotenpunkt im Konzertsaal, er kommuniziert aber auch in vielen anderen Sphären, ist auch dort, um an Adornos Formulierung zu erinnern, der musikalische Vermittler schlechthin. Er muss sich nicht nur Orchestermusikern und Besuchern von Liveaufführungen verständlich machen. Ebenso wendet er sich an ein Medienpublikum, per Konserve sogar an ein solches in der Nachwelt, das ihn selbst, aber so gut wie nie seine Orchestermusiker namentlich kennt. Der Dirigent kommuniziert mit den Organisatoren seines Apparats, vom persönlichen Agenten bis zum technischen Bühnenpersonal. Ist er Chefdirigent eines Orchesters, musical director oder gar Leiter eines Opernhauses oder Festivals, nimmt diese vielfältig konfliktträchtige Art der Kommunikation einen großen Teil seiner Arbeitszeit in Anspruch. Je stärker seine Institution marktwirtschaftlich eingebunden und abhängig ist, desto wichtiger wird es für ihn, sich um Sponsoren und Mäzene zu bemühen; vor allem in den USA sind nicht selten Dirigentenkarrieren daran gescheitert, dass ausgezeichnete Musiker bei der Pflege mächtiger Gönner des Orchesters versagten und es sich womöglich auch noch mit dem örtlichen Großkritiker verscherzten – Dimitri Mitropoulos in New York 1956 wäre dafür ein Beispiel.19

II. Schreibende Musiker Der Dirigent ist in der formalen Situation der Aufführung notgedrungen ein Schweiger. Doch auch im nicht-öffentlichen Raum der Probenarbeit sollte er sich, so liest man immer wieder in Ratschlägen erfahrener Praktiker für Novizen, verbal zurückhalten. Dass einzelne Dirigenten für die Treffsicherheit ihrer Sprache Bewunderung finden, setzt den häufig zu lesenden Ratschlag nicht 18 Vgl. etwa Herbert Haffner, Furtwängler, Berlin 2003, S.  91 f. Diese Praxis scheint auf­ Richard Wagner und Arthur Nikisch zurückzugehen, so jedenfalls Christopher Seaman, Inside Conducting, Rochester 2013, S. 81. Boult hat sie 1963 so erklärt: »If an orchestra doesn’t quite know where it is, it plays with a certain intensity that contributes enormously to the vitality of the performance. The players as they play are really not sure whether they will put a wrong foot at any moment in any bar, and so they play with a certain excited vitality that contributes something remarkable to the power of the performance as a whole.« Adrian Boult, Boult on Music. Words from a Lifetime’s Communication, London 1983, S. 106. 19 William R. Trotter, Priest of Music. The Life of Dimitri Mitropoulos, Portland, OR 1995, S. 410–413. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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außer Kraft, ein dirigentischer Profi könne sich zeitsparend durch die nicht­ verbale Kommunikation seiner Zeichengebung verständlich machen. Redselige Dirigenten sind bei Orchestern offenbar unbeliebt.20 Hermann Scherchen, einer der großen Dirigierlehrer des 20. Jahrhunderts, traute sich zu, seinen Schülern die Fähigkeit beizubringen, einem fremden Orchester (nahezu) wortlos jede Nuance von »Dynamik, Schnelligkeit, Ausdrucksart und Ausdruckskraft« zu vermitteln.21 Trotz ihrer metierbedingten Wortkargheit sind Dirigenten immer wieder auf andere Weise als Kommunikatoren aufgetreten, dann nämlich, wenn sie sich als Persönlichkeiten von öffentlicher Bedeutung betrachtet haben. Seit den Erfindern der modernen Dirigentenrolle, allen voran Hector Berlioz und Richard Wagner, sind Orchesterleiter immer wieder als Schriftsteller hervorgetreten. Sehr wenige von ihnen haben Lehrbücher des Dirigierens verfasst, unter denen im 20. Jahrhundert das von Hermann Scherchen aus der prominentesten Feder stammen dürfte.22 Von einer etwas größeren Zahl sind Briefwechsel veröffentlicht worden.23 Nicht wenige haben Memoiren geschrieben. Dirigenten wenden sich also auch als Schriftsteller an die Öffentlichkeit. Sie sprechen über ihren Beruf und in solchen Fällen auch über sich selbst, wenn sie ein allgemeines Interesse an der eigenen Karriere anzunehmen geneigt sind. Einige wollen sich auch schlichtweg über Musik äußern, die ihnen besonders wichtig ist.24 Allein um solche Äußerungen zur Musik und vor allem zum Musikerberuf geht es in diesem Aufsatz, der das öffentliche self-fashioning von Dirigenten nicht in seiner vollen Breite darstellen kann.25 Bei den Dirigenten kann man unterschiedliche Typen und literarische Formen unterscheiden. Ausführliche Memoiren nach den üblichen Regeln des Genres veröffentlichten zum Beispiel Felix Weingartner (1928/29), Sir Tho20 »Schwatzhafte, redselige Kapellmeister sind ihm [dem Orchestermusiker] ein Greuel und verlieren sehr schnell an Autorität, selbst wenn sie ihre Sache verstehen […].« Busch, Der Dirigent, S. 89. Auch Charles Munch, Je suis chef d’orchestre, Paris 1954, S. 71: »Les­ musiciens ont horreur qu’on leur fasse la leçon.« 21 Hermann Scherchen, Lehrbuch des Dirigierens, Mainz 1929, S. 245; ähnlich auch Busch, Der Dirigent, S. 117. 22 Scherchen, Lehrbuch des Dirigierens. Vgl. dazu Elliott W. Galkin, A History of Orchestral Conducting in Theory and Practice, New York 1988, S. 347–355. Scherchen, obwohl keiner der ganz großen Pultstars, war kein Außenseiter, sondern »a world-famous conductor« (S.  347). Er vertrat  – in Übereinstimmung mit berühmten Kollegen wie Fritz Reiner oder Pierre Monteux – die Auffassung, dass Dirigieren nicht nur vor dem Orchester, sondern zum Teil auch im Klassenzimmer gelernt werden könne. Der Dirigent müsse allerdings ein besserer, weil universalerer Musiker sein als die Orchestermitglieder. 23 Etwa Alban Berg u. Erich Kleiber, Briefe der Freundschaft, hg. v. Martina Steiger, Wien 2013. 24 Etwa Riccardo Muti, Mein Verdi, hg. v. Armando Torno, Kassel 2013, ein bemerkenswert uneitles Buch. 25 Dazu gibt es eine besondere Art der Celebrity-Kritik, so etwa Norman Lebrecht, The Maestro Myth. Great Conductors in Pursuit of Power, New York 1991. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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mas Beecham (1944), Bruno Walter (1947), Karl Böhm (1968), Sir Adrian Boult (1974), Erich Leinsdorf (1976), Antal Doráti (1979) oder Michael Gielen (2005). Dirigentenmemoiren kombinieren in der Regel die Erfordernisse der Gattung »Lebensbericht« mit anekdotischen Erzählungen aus der Welt der kulturellen Prominenz; nur selten gehen sie im Einzelnen auf musikalische Werke und die konkrete Praxis des Dirigierens ein. Dazu eignen sich eher Mischformen, an denen oft Musikwissenschaftler beziehungsweise Journalisten mitwirken oder die in Gesprächsform gefasst sind;26 verbreitet sind auch »autorisierte« Biographien, die auf ausführlichen Interviews beruhen.27 Wiederum andere Dirigenten verstanden sich nebenbei als Musikwissenschaftler und Musikschriftsteller: abermals Weingartner, der penibel gearbeitete Bücher über die Aufführung klassischer Symphonien schrieb, Ernest Ansermet, der als Musiktheoretiker gegen die Atonalität zu Felde zog, der Mozart- und Schubertbiograph Bernhard Paumgartner, in der Gegenwart John Eliot Gardiner mit seiner Monographie über Johann Sebastian Bach, weiterhin Hans Swarowsky, Norman Del Mar, Robert Craft, Peter Gülke und abermals Pierre Boulez. Aus der Menge der von Dirigenten verfassten oder angeregten Literatur sticht ein besonderer Formtypus hervor, der hier »Metierschrift« genannt werden soll: weder Autobiographie noch Gesprächsband oder wissenschaftliche Abhandlung, sondern die – meist relativ knapp gefasste – Schilderung und Diskussion dessen, was ein Dirigent in seiner Berufspraxis tut. Solche Metierschriften hat es immer gegeben; viele davon dienen allein der Ausbildung und er­reichen kein breiteres Lesepublikum. Dass »Stars« unter den Dirigenten sich an den Schreibtisch setzen und über ihren Beruf abseits seiner Glamour-Aspekte nachdenken, ist heute allerdings selten geworden. Es war üblicher in einer bestimmten Generation, die nun in den Mittelpunkt rücken soll: der Generation der »Achtzehnneunziger«. Wir konzentrieren uns auf einen kleinen chrono­ logischen Ausschnitt aus der Geschichte der Selbstreflexion von Praktikern des Dirigierens. Aus der langen Geschichte eines als »modern« identifizierbaren Kapellmeistertums, die man vielleicht mit dem in Paris wirkenden Orchestergründer und Propagator der Beethoven-Symphonien François-Anton Habeneck (1781–1849) und Felix Mendelssohn Bartholdy (1809–1847) in seiner Zeit als Leipziger Gewandhauskapellmeister (1835–1843) beginnen lassen kann,28

26 Boulez, Conversations de Pierre Boulez; Peter Heyworth, Gespräche mit Klemperer, Frankfurt 1973; René Jacobs, »Ich will Musik neu erzählen«. René Jacobs im Gespräch mit Silke Leopold, Kassel 2013; Klaus Schultz (Hg.), Offen sein zu – hören. Der Dirigent Christoph von Dohnányi. Gespräche – Bilder – Texte, Hamburg 2010. 27 Z. B. Wolfgang Seifert, Günter Wand. So und nicht anders. Gedanken und Erinnerungen, Hamburg 1998. 28 Als Einführung vgl. Peter Gülke, Art. Dirigieren, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik, hg. v. Ludwig Finscher, Sachteil, Bd.  2, Kassel 19952, Sp. 1257–1273; Bowen (Hg.), Cambridge Companion to Conducting. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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soll eine bestimmte Generation von etwa Gleichaltrigen herausgehoben werden. Diese Generation suchte schriftstellerisch einen kommunikativen Kontakt mit dem Publikum, der sich nicht auf die Selbstdarstellung des eigenen Prominentenego reduzierte.

III. Generationen Es ist selbstverständlich fast unmöglich, aus der überlappenden Kontinuität von Lebensläufen und Zeiten der musikalischen Wirksamkeit Verdichtungen und Konvergenzen von Erfahrungen herauszulösen, die wir »Generationen« nennen.29 Aber es mag dennoch eine nützliche Übung sein, die dazu veranlasst, nicht nur über unterschiedliche Stile und Präferenzen musikalischer Auf­führung nachzudenken, sondern auch über die Veränderung zeithistorischer und kommunikativer Rahmenbedingungen der sozialen Rolle des Diri­ genten.30 Die Generation, um die es im folgenden Abschnitt gehen soll, ist diejenige der in den Jahren um 1890 Geborenen. Dazu gehören in chronologischer Reihenfolge Fritz Reiner (1888–1963), Hans Knappertsbusch (1888–1965), Adrian Boult (1889–1983), Fritz Busch (1890–1951), Erich Kleiber (1890–1956), Hermann Scherchen (1891–1966) und Charles Munch (1891–1968). Diese Generation stand auf den Schultern von Riesen und empfand dies auch so. Die »Riesen« waren die Generation der Achtzehnsechziger. Unter ihnen war der früh verstorbene Gustav Mahler (1860–1911) für die meisten aus seiner Tätigkeit als Hofoperndirektor in Wien nur noch eine Legende; immerhin hatte der Wiener Gymnasiast Erich Kleiber zahlreiche seiner Opern- und Konzertaufführungen besucht.31 Jüngere Mitarbeiter und Bewunderer, neben Willem Mengelberg (1871–1951) und Otto Klemperer (1885–1973) vor allem Bruno Walter (1876–1962), hielten sein Andenken aufrecht, ohne imitatorisch einen epigonalen Mahler-Stil zu pflegen. Arthur Nikisch, der, fünf Jahre älter als Mahler, in den Jahren 1895 bis 1922 gleichzeitig dem Gewandhausorchester und den Berliner Philharmonikern vorstand, daneben quer durch Europa tourte und zuvor von 1889 bis 1893 musical director des Boston Symphony Orchestra gewesen 29 Vgl. Ulrike Jureit, Generationenforschung, Göttingen 2006; Björn Bohnenkamp (Hg.), Generation als Erzählung. Neue Perspektiven auf ein kulturelles Deutungsmuster, Göttingen 2009; Andreas Kraft u. Mark Weißhaupt (Hg.), Generationen. Erfahrung – Erzählung – Identität, Konstanz 2009; Ohad Parnes u. a., Das Konzept der Generation. Eine Wissenschafts- und Kulturgeschichte, Frankfurt 2008. 30 Eine ähnliche Absicht der Analyse ästhetischer Gleichzeitigkeit verfolgt: Matthias Schmidt, Die »Selbstschöpfung« der Moderne. Felix Weingartner und Gustav Mahler als Dirigenten, in: Simon Obert u. Matthias Schmidt (Hg.), Im Mass der Moderne. Felix Weingartner. Dirigent, Komponist, Autor, Reisender, Basel 2009, S. 351–386. 31 John Russell, Erich Kleiber. Eine Biographie, dt. v. Andreas Razumovsky, München o. J. [1958], S. 25–27. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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war, inspirierte fast alle angehenden Kapellmeister des frühen 20.  Jahrhunderts.32 Die meisten der Achtzehnneunziger hatten ihn persönlich gekannt: Der zwölfjährige Adrian Boult erlebte ihn 1902 in London und dann von 1912 bis 1914 in Leipzig aus der Nähe eines Schülers und Assistenten.33 Der junge Kapellmeister Erich Kleiber begegnete Nikisch während des Ersten Weltkriegs, als der große Mann zu einigen Gastauftritten ins musikalisch ambitionierte Darmstadt kam.34 Hermann Scherchen spielte zwei Jahre lang unter Nikisch als Geiger und Bratschist der Berliner Philharmoniker – und gelangte später zu einer gemischten Einschätzung.35 Außer Gustav Mahler erfreuten sich die übrigen Achtzehnsechziger guter Gesundheit und blieben weit ins 20.  Jahrhundert hinein als Dirigenten a­ ktiv. Felix Weingartner (1863–1942), auch komponierend, lehrend und schriftstellernd ein Universalmusiker mit Lisztschem Rollenverständnis, war bis in seine letzten Jahre tätig und konnte seine nachdrücklich unromantischen Inter­ pretationen der Beethoven-Symphonien noch durch eindrucksvolle, auch technisch gelungene Aufnahmen aus den dreißiger Jahren der Nachwelt überliefern. Der österreichische Dirigent Joseph Krips zum Beispiel hielt ihn für einen der ganz großen Meister der Zunft.36 Ein Jahr jünger als Weingartner war Richard Strauss (1864–1949), der seine berufliche Karriere als Kapellmeister begonnen hatte und zeit seines Lebens nicht nur eigene Werke dirigierte.37 Hans von Bülow, der wiederum als Dirigent und Pianist mit engen Verbindungen sowohl zu Richard Wagner wie zu Johannes Brahms die großen Traditionen des 19. Jahrhunderts verkörperte, hatte ihn 1885 zur Meininger Hofkapelle geholt. Strauss war bis 1924 im Hauptberuf Operndirigent. Seine letzten Dirigate stammten aus den vierziger Jahren. Er und der aus Ungarn gebürtige Nikisch galten auch international als die bedeutendsten deutschen Dirigenten vor dem Aufstieg Wilhelm Furtwänglers. Einen ebenso legendären Ruf genoss Arturo Toscanini, anders als Strauss (oder später der kompositorisch ambitionierte Furtwängler) ein Nur-Dirigent, 32 Über Nikisch gibt es noch keine Monographie, aber eine Rekonstruktion seines Dirigier­ stils bei Galkin, History of Orchestral Conducting, S.  639–647; vgl. zu der Tradition, die Nikisch maßgeblich prägte: Raymond Holden, The Virtuoso Conductors. The Central European Tradition from Wagner to Karajan, New Haven, CT 2005 (zu Nikisch: S. 37–59). 33 Michael Kennedy, Adrian Boult, London 1987, S.  14, 53–59; Boult, Boult on Music, S. 94–105. 34 Russell, Erich Kleiber, S. 51 f. 35 Hermann Scherchen, Aus meinem Leben. Rußland in jenen Jahren. Erinnerungen, hg. v. Eberhardt Klemm, Berlin (DDR) 1984, S. 23–25. Die hier gemeinte Erinnerung stammt offenbar aus dem Jahr 1957. 36 Josef Krips u. Harietta Krips, Ohne Liebe kann man keine Musik machen… Erinnerungen, Wien 1994, S. 46–49, 116 f. 37 Über Strauss als Dirigent viel Material in Raymond Holden, Richard Strauss. A Musical Life, New Haven, CT 2011. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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der 1908 erstmals und ab 1929 vorwiegend in den Vereinigten Staaten tätig war und im Grunde schon mit seiner »Entdeckung« 1886 in Rio de Janeiro eine transatlantische Karriere begonnen hatte, als der junge Cellist nach dem Verschwinden des Kapellmeisters kurzfristig die Leitung der »Aida« übernahm. Toscanini, bis ins höchste Alter aktiv und in seinen letzten Jahren über die Verfilmung und Fernsehübertragung seiner Studiokonzerte medial so einflussreich wie nie zuvor, überschattete die Generation der ein Vierteljahrhundert Jüngeren und hatte als Gegner von Faschismus und Nationalsozialismus mit einigen von ihnen sogar das politische Schicksal des Exils gemeinsam. Auch wer Toscaninis Dirigierweise nicht in jeder Hinsicht schätzte, war von seiner ernsthaften Professionalität, seiner unvergleichlichen Partiturkenntnis und dem spröden Charisma seiner Auftritte gebannt. Immer wieder heben die Kollegen seine unvergleichliche Fähigkeit zu intensivster Konzentration hervor;38 Fritz Busch nennt ihn »den größten Dirigenten unserer Zeit«.39 Toscanini hatte keine unmittelbaren Nachfolger in dem Sinne, wie Bruno Walter sich als Erbe Gustav Mahlers empfand – bei einer gewissen Distanz zu Mahlers »eruptiv gewaltsamer Persönlichkeit«.40 Doch er prägte noch eine Generation von »Enkeln«, etwa Georg Solti (1912–1997) und Erich Leinsdorf (1912–1993), die ihm in den dreißiger Jahren assistiert hatten.41 Einige der Älteren, vor allem die Ungarn Fritz Reiner und George Szell (1897–1970), stellten sich bewusst in eine Toscanini-Tradition der sachlichen Werktreue, instrumentalen Präzision und herrischen Disziplin über ihre Orchester.42 Schließlich gehört von den Lebensdaten her in die Generation der 1860er auch Sir Henry Wood (1869–1944), der niemals zum Weltstar, aber doch zum verehrten Gründervater der englischen Orchestertradition wurde. Als Popu­ larisator von klassischer Musik und Gründer der Londoner Promenadenkonzerte genoss und genießt er im Vereinigten Königreich hohes Ansehen. Er war keineswegs ein insularer Advokat vor allem britischer Musik, sondern ein wichtiger Vermittler auch der kontinentalen Moderne; schon 1912 führte er in London Arnold Schönbergs Fünf Orchesterstücke (1909) auf.43 Jüngere britische Dirigenten wie Adrian Boult oder John Barbirolli (1899–1970) bezeugen seinen 38 Am eindrücklichsten Adrian Boult, Thoughts on Conducting, London 1963, S. 52–55. 39 Busch, Der Dirigent, S. 20. 40 Walter, Von der Musik, S. 141 f. Vgl. auch Erik S. Ryding u. Rebecca Pechefsky, Bruno Walter. A World Elsewhere, New Haven, CT 2001, S. 17–19. 41 Erich Leinsdorf, Cadenza. A Musical Career, Boston 1976, S. 48–50; Solti u. Sachs, Solti über Solti, S. 39 f. 42 Gunther Schuller, der als Hornist unter vielen bedeutenden Dirigenten spielte, sieht allerdings Unterschiede in der Art der Brutalität zwischen Toscanini und Reiner: hier kalter Zynismus, der das Opfer brechen will, dort schnell vergessene Wutausbrüche: Schuller, A Life in Pursuit of Music and Beauty, S. 377 f. 43 Wood muss riskiert haben, dass das Publikum »mehrheitlich verwirrt und feindselig« reagierte. So Sven Oliver Müller, Das Publikum macht die Musik. Musikleben in Berlin, London und Wien im 19. Jahrhundert, Göttingen 2014, S. 142. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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Einfluss. Der um zehn Jahre jüngere Thomas Beecham war mit seiner unberechenbaren Genialität und einem leichten Zug ins Amateurhafte – Paul Bekker wurde 1936 deutlicher: »ein wohlmeinender Dilettant, der das, was ihm an musikalischer Gestaltungsfähigkeit fehlt, durch eine oft an groteske Komik grenzende Lebhaftigkeit der Gesten ersetzt«44  – eher ein Gegentyp zum besonnenen Sir Henry. Die 1860er stellten allein schon biographisch eine Brücke zu den Heroen dar, deren Werke im frühen 20. Jahrhundert auf beiden Seiten des Atlantiks die Konzert- und Opernprogramme dominierten. Toscanini hatte Giuseppe Verdi nahegestanden, Richard Strauss in seiner Meininger Zeit Johannes Brahms gut gekannt, Felix Weingartner hatte als junger Mann in Bayreuth Richard Wagner getroffen (allerdings nie als Dirigenten gehört und gesehen), war Klavier­ schüler des alten Liszt gewesen und von Brahms für eine Aufführung von dessen II. Symphonie mit einer Zigarre und einer Audienz im »Roten Igel« belohnt worden.45 Aus der Sicht der 1890er gab es eine Zwischengeneration, die um die Jahrhundertwende ihre Karriere begonnen hatte. Dazu gehörten neben dem 1876 geborenen Bruno Walter, der auf internationaler Bühne neben Furtwängler zum angesehensten »einheimischen« Repräsentanten der deutsch-österreichischen Tradition wurde, Spezialisten für eher nationale Segmente des Repertoires: Pierre Monteux (1875–1964) und Ernest Ansermet (1883–1969) für Französisches und den Strawinsky der frühen Ballette, Tullio Serafin (1878–1968) für die italienische Oper, Vaclav Talich (1883–1961) für alles Böhmische. Eine schwer zu bestimmende Sonderrolle spielte Wilhelm Furtwängler (1886–1954), der seine Kapellmeisterkarriere 1910 in Straßburg begonnen und 1915 in Mannheim fortgesetzt hatte, bald als der legitime Nachfolger von Richard Strauss und Arthur Nikisch betrachtet wurde und nach Nikischs Tod 1922 dessen Amt als Gewandhauskapellmeister übernahm: eine Spitzenposition im europäischem Musik­ leben. Offenbar ist Furtwängler von seinen Dirigentenkollegen schon früh als herausragendes Talent identifiziert und als Autorität respektiert worden, als primus inter pares.46 Sein Einfluss war seit dem Weltkrieg wirksam, positiv stilbildend oder auch als Anstoß zur Abgrenzung. Charles Munch (zunächst Münch), fünf Jahre jünger, spielte von 1926 bis 1932 unter Furtwängler als Konzertmeister des Gewandhausorchesters in Leipzig und lernte dabei das gesamte klassischromantische Konzertrepertoire kennen, ohne in seiner späteren Dirigenten­ laufbahn Furtwänglers charakteristischen Dirigierstil zu übernehmen.47 44 Andreas Eichhorn (Hg.), »Geist unter dem Pferdeschwanz«. Paul Bekkers Feuilletons aus dem »Pariser Tageblatt« 1934–1936, Saarbrücken 2001, S. 154, anlässlich eines Auftritts von Beecham in New York, kontrastiert mit dem von Bekker verehrten Toscanini. 45 Weingartner, Lebenserinnerungen, Bd. 2, S. 62 f. 46 Im engen Rahmen dieses Aufsatzes kann die komplexe causa Furtwängler nicht angemessen behandelt werden. Knappste Andeutungen müssen genügen. 47 D. Kern Holoman, Charles Munch, Oxford 2012, S. 20 f. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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IV. Die Achtzehnneunziger Von einer jüngeren Generation lassen sich die Achtzehnneunziger einiger­ maßen deutlich abgrenzen. Bis zur Jahrhundertwende wurden noch Victor de Sabata, Karl Böhm, Hans Rosbaud, Dimitri Mitropoulos, George Szell, Jascha Horenstein, John Barbirolli und Eugene Ormandy geboren: allesamt Persönlichkeiten von je eigener Kompetenz und Profilierung im Spektrum zwischen Rosbauds nüchterner Werkerschließung48 und Mitropoulos’ exaltierten Beschwörungen. Sie begannen ihre Karrieren nach dem Ersten Weltkrieg in einer neuen gesellschaftlichen und politischen Situation und in einer musikästhetischen Atmosphäre nach Mahler und Debussy, in der Richard Strauss – die prägende musikalische Gegenwartserfahrung der 1890er  – konservativ oder gar restaurativ anmutete und eine neue Avantgarde im Zeichen von Zwölftonmusik und Neoklassizismus zur Aufführung drängte. Erstmals bot der Rundfunk Beschäftigungsmöglichkeiten, etwa für Rosbaud. Die etwas Jüngeren hatten zuweilen bei den 1890ern gelernt. So waren Mitropoulos und Szell in den frühen zwanziger Jahren Assistenten von Erich Kleiber an der Berliner Staatsoper.49 Diese Generation war literarisch weniger mitteilsam als die 1890er; außer der 1968 erschienenen Autobiographie Karl Böhms, die mit knappen Bemerkungen über die handwerklichen Aspekte vor allem der Leitung von Opernaufführungen endet,50 scheint es keine längeren Memoiren und auch jenseits von Auf­ sätzen und Presseinterviews keine Metierschriften zu geben. Die 1890er waren die erste Generation, die das Dirigieren nicht neu erfinden musste, die eine Auswahl an Grundmustern vorfand. Über diese Muster ist bis heute viel geschrieben worden. Meist wird eine Polarität zwischen subjektivistischen (den Notentext auslegend überhöhenden) und objektivistischen (den Notentext realisierenden) Interpretationsweisen angenommen. Der ungarische Dirigent Antal Doráti hat später, radikal vereinfachend, zwei Typen von Dirigenten unterschieden: Profis in der Nachfolge Hans Richters (1843–1916)51 und Magier nach dem Vorbild von Arthur Nikisch (1855–1922), nur Toscanini sei beides zugleich gewesen.52 Andere Kommentatoren sahen Toscanini und Furt48 Eine schöne Würdigung Rosbauds bei Hans-Klaus Jungheinrich, Die großen Dirigenten. Die wichtigsten Interpreten des 20. Jahrhunderts, Düsseldorf 1986, S. 132–134. 49 Russell, Erich Kleiber, S. 84. 50 Böhm, Ich erinnere mich ganz genau, S. 197–214. 51 Über diesen einflussreichen, immer wieder als musterhaften Orchesterprofi gerühmten Dirigenten, der mehr war als einer der engsten Mitarbeiter Richard Wagners vgl. Christopher Fifield, True Artist and True Friend. A Biography of Hans Richter, Oxford 1993. 52 Doráti, Notes of Seven Decades, S. 308. Dahinter steht eine etwas anders gelagerte Dichotomie von »appolinischen« (Mendelssohn Bartholdy) und »dionysischen« (Wagner) Dirigierstilen, wie sie Leonard Bernstein 1955 formulierte. Zit. bei Clemens Wöllner, Zur Wahrnehmung des Ausdrucks beim Dirigieren. Eine experimentelle musikpsycho­ logische Untersuchung, Berlin 2007, S. 28, auch S. 41 f. Über Richter und Nikisch als Antipoden auch Seaman, Inside Conducting, S. 248–251. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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wängler als Antipoden und in jüngeren Dirigenten wie Szell, Karajan oder Solti das ästhetische Ideal eines »Toscwänglerism« verwirklicht.53 Eine andere Taxonomie stellt temperamentvolle Pulttyrannen (Mahler, Toscanini)54 gegen sanftmütige Humanisten (Nikisch, Walter, Monteux). Jedenfalls waren solche elementaren Rollenmodelle, wie immer man sie typisiert, bereits vorhanden, als die 1890er ins Berufsleben eintraten. Das war bei ihnen allen noch eine Berufswelt der musikalischen Anwesenheitsgesellschaft, während die Generation des 1908 geborenen Herbert von Karajan als erste in ein Zeitalter der Schallaufzeichnung hineinwuchs, das für die Orchestermusik, anders als für Gesang und Klavier, im Grunde erst nach 1930 begann.55 Für diese kurz vor dem Ersten Weltkrieg Geborenen  – berühmt ist der Jahrgang 1912 (Georg Solti, Sergiu Celibidache, Erich Leinsdorf, Igor Markevitch, Kurt Sanderling, auch der erst spät zu Ruhm gelangte Günter Wand) –56 traf der Höhepunkt ihrer Leistungsfähigkeit ab Mitte der fünfziger Jahre – 1954 war auch das Jahr, als Furtwängler starb und Toscanini sich zurückzog – mit dem goldenen Zeitalter perfektionierter Studioproduktionen in Stereo und HiFi-Qualität zusammen. Unter den 1890ern konnten nur Fritz Reiner an der Spitze des Chicago Symphony Orchestra sowie in etwas geringerem Umfang auch Charles Munch, der mit dem Boston Symphony Orchestra eines der anderen amerikanischen Weltklasseorchester leitete, dank ihrer Zusammenarbeit mit RCA Records und dem tontechnischen Pionier John Pfeiffer diese Möglichkeiten nutzen.57 Reiners Arbeit ist deshalb viel umfassender und technisch besser überliefert als die seiner Generationsgenossen. Fritz Busch und Erich Kleiber starben an der Schwelle zum HiFi-Zeitalter und hatten infolge ihres unsteten Emigrantenschicksals (Kleiber vorwiegend in Lateinamerika, Busch in Großbritannien, Uruguay, Argentinien, Dänemark und den USA) nicht immer den Zugang zu den besten Klangkörpern und Studios.58 Hermann 53 Norman Lebrecht, The Life and Death of Classical Music, New York 2007, S. 20. 54 Vielleicht tut man Toscanini Unrecht. Adrian Boult, der ihn gut kannte, vermutet, seine gefürchteten Wutanfälle hätten sehr selten der Einschüchterung von Orchestermusikern gedient, meist seien sie durch »dissatisfaction with himself« ausgelöst worden: Boult, Boult on Music, S. 91. 55 Vgl. dazu trotz einer Fülle neuerer Literatur immer noch den Klassiker Roland Gelatt, The Fabulous Phonograph, 1877–1977, London 19772, bes. Kap. 12 (»The Orchestra Came Last«). 56 Volker Hagedorn, Jahrhundert-Jahrgang 1912, in: Die Zeit 30, 28.7.2012. 57 Lebrecht, Life and Death of Classical Music, S. 46. Diese Aufnahmen wurden als Hochpreis-LPs unter dem Label »Living Stereo« vermarktet und sind 2012–2014 neu herausgebracht worden. 58 Neben MGG und New Grove (siehe oben Anm. 3) ist eine wichtige biographische Quelle das seit 2005 von Claudia Maurer Zenck und Peter Petersen unter Mitarbeit von Sophie Fetthauer online herausgegebene Lexikon verfolgter Musiker und Musikerinnen der NS Zeit: http://www.lexm.uni-hamburg.de/ mit einem besonders guten Artikel über Fritz Busch, über den auch eine gigantische Biographie seines Bruders Adolf, des berühmten © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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Scherchen war ein an Neuer Musik besonders interessierter Universalmusiker von umfassender Betriebsamkeit, der nach seiner Übersiedlung in die Schweiz 1933 auch im Exil (und anfangs sogar im »Reich«) vielfältige Beschäftigungsmöglichkeiten fand, aber niemals über einen längeren Zeitraum mit einem der europäischen oder amerikanischen Spitzenorchester zusammenarbeitete.59 Adrian Boult, der langlebigste Angehörige der Generation und als Brite von den politischen Turbulenzen der ersten Jahrhunderthälfte wirksamer abgeschirmt als seine Kollegen, war zwar weit mehr als ein insularer Sachwalter von­ Edward Elgar und Ralph Vaughan Williams, machte aber relativ wenige Aufnahmen aus dem kontinentaleuropäischen Kernrepertoire; von der Oper, in der die neue Generation der Karajans und Soltis besonders brillierte, hatte er sich am Ende ganz zurückgezogen (während Munch sie von Anfang an gemieden hatte). Hans Knappertsbusch schließlich verkörperte mit seiner Beschränkung auf die Musik des 19. Jahrhunderts das extreme Gegenteil des unternehmungslustigen Hermann Scherchen, der Bach ebenso aufführte wie Werke der neuesten Avantgarde. Knappertsbusch, dirigentisch von Hans Richters und Richard Strauss’ unaufgeregtem Stil geprägt, gastierte als einziger unter den 1890ern niemals in den USA und verfasste keine Metierschriften. International genoss er nicht denselben Ruf wie seine Generationskollegen. Selbst der stets wohlwollende Adrian Boult notierte 1928 nach dem Besuch eines Münchner Konzerts unter Knappertsbuschs Leitung: »The orchestra is very slack owing to sheer bad conducting«.60 Die Generation der um 1890 Geborenen war von politischen Umwälzungen stärker betroffen als ältere Dirigenten, deren Karrieren sich unter den Friedensbedingungen der Belle Époque entfaltet hatten, und als die jüngeren »1912er«, die meist erst nach 1945 in leitende Stellungen aufrückten. Fritz Busch, damals Städtischer Musikdirektor in Aachen, meldete sich als Kriegsfreiwilliger, kam im Oktober 1914 an die Westfront, wurde verwundet und blieb bis zum Kriegsende im Militärdienst.61 Der Geiger Charles Munch wurde als ­Elsässer zur deutschen Artillerie eingezogen, geriet 1916 in den Gaskrieg an der Somme und wurde später vor Verdun verwundet.62 Die Jahre der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg erlebte er als Orchesterleiter und Konservato­riumsprofessor

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Geigers, zahlreiche Informationen enthält: Tully Potter, Adolf Busch. The Life of an Honest Musician, 2 Bde., London 2010. Über Fritz Buschs Opernarbeit in Glyndebourne vgl. Helmut Reinold, Mozarts Haus. Eine Geschichte aus Glyndebourne, Köln 2001. Vgl. Hansjörg Pauli, Hermann Scherchen. Nazigegner und Exponent der Moderne, in: Hanns-Werner Heister u. a. (Hg.), Musik im Exil. Folgen des Nazismus für die internationale Musikkultur, Frankfurt 1993, S. 52–71. Viel biographisches Material in Hansjörg Pauli u. Dagmar Wünsche (Hg.), Hermann Scherchen 1891–1966. Ein Lesebuch, Berlin 1986. Zit. bei Kennedy, Adrian Boult, S. 123. Fritz Busch, Aus dem Leben eines Musikers [1949], Frankfurt 2001, S. 98–116. Holoman, Charles Munch, S. 15. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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in Paris, ohne sich unpatriotisch zu kompromittieren.63 Hermann Scherchen war im Ersten Weltkrieg als Zivilgefangener im Ural interniert und wurde Augenzeuge des revolutionären Russland.64 Danach reiste er unstet durch die Welt – bis nach Brasilien, Palästina und China – und sah sich spätestens nach Kriegsbeginn weitgehend auf die Schweiz eingeschränkt. Erich Kleiber, der hochangesehene Generalmusikdirektor an der Berliner Staatsoper, verließ Deutschland im Frühjahr 1935, wirkte danach vor allem in Buenos Aires und Havanna und unternahm Tourneen durch mehrere Länder Lateinamerikas.65 Nach seiner Rückkehr nach Berlin 1951 geriet er zwischen die Fronten des Kalten Krieges. Kleiber fand nach 1935 niemals wieder eine solide berufliche Basis, die seinem Rang entsprochen hätte. Ähnliches gilt für Fritz Busch, dessen Jahre als Dresdner GMD (1922–1933) den Höhepunkt seiner Laufbahn bildeten. Als ausgesprochener Nazi-Gegner wurde er schon im März 1933 aus dem Opernhaus vertrieben66 und ging in ein teils amerikanisches, teils skandinavisches Exil. Wenige Monate nach seiner Rückkehr nach Deutschland starb er im September 1951 in London. Der als junger Kapellmeister vor der Ära Busch in Dresden tätige Budapester Fritz Reiner war kein politischer Emigrant, sondern schon 1922 – wie ein Jahr zuvor sein Landsmann Eugene Ormandy (ursprünglich Jenő Ormándy-Blau) – einem Angebot in die USA gefolgt, wo er als Chefdirigent mehrerer Orchester und Dirigierlehrer eine steile Karriere machte, wie sie Fritz Busch und Erich Kleiber versagt blieb. Reiner wurde zum Hohepriester einer beispiellosen instrumentalen Präzision, die Scherchen bereits 1932 nach einem ReinerKonzert in Venedig als oberflächliches Anordnen »fixierter Klänge« ablehnte.67 Diese Generation, die in einer Epoche zahlreicher Orchestergründungen und Umbrüche – Fritz Busch bemerkt zum Beispiel, dass in den zwanziger Jahren die Verbreitung des Grammophons das Ende zahlreicher Lokalorchester herbeiführte68  – tätig war, zeigte ein besonderes Bedürfnis, dem Publikum unmystifizierte Einblicke in die alltägliche Praxis der Vorbereitung, des Probens und der Aufführung von Musik zu geben: ein gleichsam handwerkliches Ethos 63 Ebd., S. 58–72, bes. S. 59; vgl. auch D. Kern Holoman, The Société des Concerts du Conservatoire, 1828–1967, Berkeley, CA 2004, S. 450–459. 64 Vgl. Scherchen, Aus meinem Leben, S. 69–125. 65 Vgl. auch Fritz Pohle, Musiker-Emigration in Lateinamerika. Ein vorläufiger Überblick, in: Heister u. a., Musik im Exil, S. 338–353, bes. S. 340 f. 66 Geschildert in Busch, Aus dem Leben eines Musikers, S.  187–208. Vgl. auch Matthias Herrmann, »Bevormundungen in künstlerischen Angelegenheiten kann ich mir selbstverständlich von keiner Seite gefallen lassen«: Die Sächsische Staatsoper unter Fritz Busch, 1922–1933, in: Michael Heinemann u. Hans John (Hg.), Die Dresdner Oper im 20. Jahrhundert, Laaber 2005, S. 63–94, bes. S. 79 f. 67 Brief an Auguste Jansen-Scherchen, 8.  September 1932. Hermann Scherchen, … alles hörbar machen. Briefe eines Dirigenten, 1920–1939, hg. v. Eberhardt Klemm, Berlin (DDR) 1976, S. 152. In der Sache ähnlich, aber ohne Namensnennung, Bruno Walters Kritik an »Präzisionsfanatikern«: Walter, Von der Musik, S. 149 f. 68 Busch, Der Dirigent, S. 14. Dieselbe Wirkung hatte das Radio: ebd., S. 83 f. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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der Transparenz, das im Gegensatz zu dem Schamanenkult einer späteren Epoche stand, als Herbert von Karajan und Leonard Bernstein das Musikleben in der Alten und der Neuen Welt charismatisch überstrahlten. Dieser nüchternen Kommunikationshaltung entsprach, soweit wir das aus Berichten und relativ wenigen Filmdokumenten wissen, ein Dirigierstil, der ohne Showeffekte, sichtbare Emotionalisierung und auch mit wenig von jenem gestischen Model­lieren von Musik auskam, das Erich Kleibers Sohn Carlos später unübertroffen beherrschen sollte. Nur Charles Munch konnte zuweilen einen Zug ins Eksta­tische nicht unterdrücken, besonders in einem seiner Paradestücke: Berlioz’ »Symphonie Fantastique«. Auch Wilhelm Furtwängler, für manche seiner Anhänger der Inbegriff musikalischer Irrationalität und ergriffener Zauberei, verschmähte es nicht, über die, wie er es nannte, »technischen« Aspekte seines Metiers Rechenschaft zu geben, etwa in seinem Aufsatz »Vom Handwerkszeug des Dirigenten« aus dem Jahre 1937.69 Furtwänglers oft beschriebene Aura, die weniger auf das Publikum als auf Musiker gewirkt haben soll, verdankte sich nur nachrangig inszenierter Theatralik. Nach seinem Selbstverständnis war er nicht Herr, sondern Diener der Musik – und Ähnliches ließe sich über seinen vermeintlichen Gegenspieler Toscanini sagen. Der Dirigent als Souverän auch über die Musik selbst trat typologisch erst mit dem lange Jahre in Philadelphia tätigen Leopold Stokowski (1882–1977) in Erscheinung, einem Klangzauberer, der vor keinem »verbessernden« Eingriff in die Originaltexte zurückschreckte und den Igor Markevitch in seinen philosophisch gestimmten Memoiren »admirablement mauvais« genannt hat.70 Mit Ausnahme von Hermann Scherchen war für die Generation der 1890er die zeitgenössische Musik lebender Komponisten nicht unbedingt ein Schwerpunkt ihrer Tätigkeit, sieht man ab von Richard Strauss, den vor allem Reiner, Busch und Kleiber auch persönlich gut kannten und dessen symphonische Dichtungen und Opern sie immer wieder auf ihre Programme setzten. Aber gewisse Beziehungen zu Komponisten der Gegenwart, wie sie unter den großen Stars der Karajan-Generation seltener wurden (mit Ausnahme der Beziehung Leonard Bernsteins zu sich selbst), waren eine Selbstverständlichkeit. Besonders eng war das Verhältnis Erich Kleibers zu Alban Berg, dessen »Wozzeck« er 1925 in Berlin uraufführte,71 Charles Munchs zu Arthur Honegger, Adrian Boults zu Edward Elgar und Ralph Vaughan Williams.72 Fritz Reiner trat als 69 Wilhelm Furtwängler, Vermächtnis. Nachgelassene Schriften, Wiesbaden 1956, S. 97–106. 70 Igor Markevitch, Etre et avoir été, Paris 1980, S. 214. Die Ambivalenz von Stokowski als Showbiz-Dirigent und musikalischer Experimentator wird deutlich bei Joseph Horowitz, Classical Music in America, New York 2005, S. 288–296. 71 Russell, Erich Kleiber, passim. 72 Vgl. die Korrespondenz in: Adrian Boult, Music and Friends. Seven Decades of Letters to Adrian Boult, annotated by Jerrold Northrop Moore, London 1979. Von allen nicht­ englischen Dirigenten war es Bruno Walter, mit dem Boult die engste Freundschaft unterhielt, vgl. seine Würdigung: Boult, Thoughts on Conducting, S. 62–64. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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Klavierstudent in Budapest in Verbindung zu Béla Bartók, dessen bedeutender Interpret er blieb.73

V. Berufsgeheimnisse74 Gemeinsam war den 1890ern ein Bedürfnis nach Erläuterung ihres eigenen Tuns. Boult, Munch, Busch und Scherchen schrieben über sich selbst und über ihre Arbeit in einer Weise, die generationstypisch zu sein scheint. Heute ist es selten geworden, dass ein Dirigent dem Publikum erläutert, was er tut. Die Berufspragmatik seines Gewerbes verschwindet hinter der medialen Fassade. Andererseits hat die auratische Aufladung der Dirigentenrolle nach dem Verblassen des maestro myth abgenommen.75 Carlos Kleiber und Sergiu Celibidache dürften die einstweilen letzten »Magier« gewesen sein, zwei untypische Maestri mit ambivalentem Verhältnis zum kulturindustriellen Musikbetrieb.76 Pulttyrannen finden weniger öffentliche Bewunderung als noch vor einigen Jahrzehnten.77 Weder der herrische noch der zirzensische Modus überzeugen in früherer Weise; das Publikum bevorzugt freundlich-sanfte Musikvermittler, die auf übertriebene Feierlichkeit verzichten und sich nicht in Unnahbarkeit hüllen. Mehr als in der Epoche der großen Stars gilt (wieder), was der musik­liebende Großherzog Ernst Ludwig von Hessen-Darmstadt am Vorabend des Ersten Weltkriegs gesagt­ haben soll: »Die Dirigentenverehrung ist ein großer Unsinn. […] Die Musik ist es allein, die wir verehren müssen.«78 Der postschamanistische Typ von Orchesterleiter79 spürt indes, so scheint es, weniger als die Dirigenten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts den Drang, das Publikum an den eigenen trade secrets teilhaben zu lassen. Das war zu Beginn des modernen Orchesterwesens mitsamt der »funktionalen Emanzipation« des Dirigenten anders.80 Im 19.  Jahrhundert war die Dirigentenrolle so

73 Philip Hart, Fritz Reiner. A Biography, Evanston, IL 1994, S. 4 f.; Kenneth Morgan, Fritz Reiner. Maestro and Martinet, Urbana, IL 2010, S. 26, 120 f. 74 »So glaube ich […] unser Berufsgeheimnis zu verraten, soweit mir das gelingen kann.« Walter, Von der Musik, S. 97. 75 Lebrecht, Maestro Myth; vgl. auch D. Kern Holoman, The Orchestra. A Very Short Introduction, Oxford 2012, S. 60–75. 76 Vgl. etwa Jens Malte Fischer, Carlos Kleiber  – der skrupulöse Exzentriker, Göttingen 20072. 77 Ein kritisches Portrait dieses Typus ist (trotz aller Bewunderung des Autors für seinen Gegenstand): Michael Charry, George Szell. A Life of Music, Urbana, IL 2011. 78 Zit. Russell, Erich Kleiber, S. 49. 79 Portraitiert etwa bei Alex Ross, The Anti-Maestro. Esa-Pekka Salonen at the Los Angeles Philharmonic, in: ders., Listen to This, New York 2010, S. 102–123. 80 Hans-Joachim Hinrichsen, Wagner als Dirigent, in: Laurenz Lütteken (Hg.), WagnerHandbuch, Kassel 2012, S. 38–41, hier S. 38. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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neu, dass ihre führenden Praktiker sie den anderen Akteuren des Musiklebens – und sich selbst – erklären und sie mit ihnen einüben mussten. Die Schriften von Hector Berlioz und Richard Wagner über das Dirigieren dienten diesem Zweck. Was wie eine Suche nach Metierregeln und zum Teil  auch schon wie Selbstheroisierung aussah, mag freilich, wie Wilhelm Furtwängler 1929 elegisch notierte, bereits den Keim des Niedergangs in sich getragen haben. »Noch zur Zeit Wagners«, so vermutete der damals schon erste Dirigent Deutschlands, seien die Musiker imstande gewesen, »das Wesentliche anderer Stile mit nachtwandlerischer Sicherheit zu treffen und zu umfassen«. »Die Erfindung des Dirigenten, d. h. das erste bewußte Betonen des Reproduktiven, bedeutete das Nachlassen dieser Kraft. Man kann historisch gesprochen vom Auftreten des Dirigenten den Niedergang der Reproduktionskunst datieren.«81 Der Dirigent, so könnte man mit Furtwängler sagen, ist eine sentimentalische Figur der Abenddämmerung, die auftritt, als sich der naive Einklang von Musik, Musikern und Hörern auflöst und selbst die Werke der großen Tradition, für die in Furtwänglers Sicht an erster Stelle Beethoven stand, ihre Verständlichkeit verlieren und nur noch scheinhaft selbst-verständlich sind. Der Dirigent entsteht als kompensatorische Figur des Kulturverlusts und Retter des Verschwindenden, eine Denkfigur, die sich ähnlich in Adornos Ästhetik findet.82 So philosophisch anspruchsvoll waren die übrigen Verfasser dirigentischer Metierbeschreibungen nicht. Es ist auch bezeichnend, dass Furtwängler seine Gedanken über das Dirigieren nicht veröffentlicht hat. Seine knappe Skizze »Probleme des Dirigierens« von 1929 und der bereits erwähnte längere Aufsatz »Vom Handwerkszeug des Dirigenten« von 1937 erschienen erst 1956 in einem Nachlassband.83 Verwandte Äußerungen finden sich in den 1949 veröffentlichten »Gesprächen über Musik«, die Furtwängler »vor dem Krieg«84 mit dem Musikredakteur Walter Abendroth geführt hatte.85 Die Metierschriften der 1890er sind weniger als Selbstverständigung und Selbstdarstellung, denn als leserbezogene Kommunikation vom Standpunkt fachlicher Autorität gemeint. Sie wenden sich teils an Neulinge im Dirigentenberuf, teils an ein Publikum, dem sich der ansonsten stumme Dirigent nunmehr verbal mitteilt, und verfolgen in jedem Fall, wie Bruno Walter sich ausdrückt, ein »Nützlichkeitsziel«.86 81 Furtwängler, Aufzeichnungen, S. 54 f. 82 Vgl. auch Adornos frühe Würdigung Furtwänglers aus dem Jahre 1926, die die Intention des Dirigenten unter den Begriff der »Rettung der Werke« stellt: Theodor W. Adorno, Drei Dirigenten, in:, Gesammelte Schriften, Bd.  19, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt 1984, S. 453–459, hier S. 453–455. 83 Wilhelm Furtwängler, Probleme des Dirigierens [1929], in: ders., Vermächtnis, S. 83–87; ders., Das Handwerkszeug des Dirigenten [1937], in: ebd., S. 97–106. 84 Wilhelm Furtwängler, Gespräche über Musik [1949], Wiesbaden 19587, S. 5. 85 Abendroth erscheint nicht auf dem Titelblatt oder im Impressum des Buches, sondern wird nur im »Vorwort des Atlantisverlags« mit einem längeren Zitat erwähnt. 86 Walter, Von der Musik, S. 95. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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Alle diese Schriften beziehen sich in irgendeiner Weise auf Richard Wagners Abhandlung »Über das Dirigieren« von 1869/70.87 Man geht indes relativ wenig auf Details dieses Textes ein. Alle Dirigenten der Generation von 1890 wurden in Wagnerscher Musik sozialisiert und führten immer wieder Wagners Werke auf; sie legten aber Wert auf die Freiheit, eine gewisse Distanz zu Wagners Empfehlungen zu wahren. Wagners Weise des Dirigierens erschien als eine unter mehreren Möglichkeiten, und selbst seine unmittelbaren Schüler, die der Meister planvoll ausgebildet hatte, wie Hans Richter, Felix Mottl, Karl Muck oder Anton Seidl, wurden nicht als sklavische Imitatoren ihres Vorbildes empfunden. Die dirigentischen Metierschriften, die hier vorgestellt werden sollen, erschienen in einem Zeitraum von ungefähr sechzig Jahren. Sie sind, grob gesagt, charakteristisch für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts. Seither hat es zahlreiche Lehrbücher des Dirigierens gegeben, die aber so gut wie nie von prominenten Konzertdirigenten stammen. Die Metierschriften scheinen ein Kennzeichen einer besonderen Epoche in der historischen Ausdifferenzierung der Dirigentenrolle zu sein. Die früheste dieser Schriften war Felix Weingartners »Über das Dirigieren« (1896), geschrieben mit der für Weingartner charakteristischen trockenen Präzision, die auch seine Bücher über die Aufführung der Symphonien von Beethoven und Brahms auszeichnet. Eine Autorität wie Gunther Schuller wertet Weingartners Schrift als »among the most insightful, intelligently balanced, and self-effacing in the entire history of conducting«88, das Gegenteil von dirigentischer Selbstinszenierung. Weingartner, beim Erscheinen des Buches 33 Jahre alt und noch am Beginn seiner Karriere, erwies sich schon hier als energischer Polemiker, vor allem gegen Hans von Bülow, hinter dem er wiederum den schädlichen Einfluss Richard Wagners witterte. Wie er in seinen 1928/29 erschienenen »Lebenserinnerungen« schreibt, fühlte er sich zu seiner Intervention durch einen Verfall der Dirigierkunst motiviert. Er nahm Anstoß an einer »schlechten Nachahmung Bülowscher Freiheiten«, die er bei Siegfried Wagner und manch anderen Zeitgenossen feststellte. »Ich fühlte aber auch mit erneuter Klarheit, dass weder Fuchteln und Stampfen, noch Schwitzen, Schnauben und Kopfwackeln die fehlende Innerlichkeit ersetzen können.«89 Weingartners Schrift, 1905 und 1913 gründlich überarbeitet, erlebte bis 1920 fünf Auflagen und wurde von dem führenden britischen Musikkritiker (und späteren WagnerBiographen) Ernest Newman 1906 auf Englisch publiziert.90 Auch noch in der entschärften vierten Auflage von 1913 verfolgte Weingartner das polemische Ziel, eine »übergeistreich sein wollende und dadurch eben87 Richard Wagner, Über das Dirigieren [1869/70], in: ders., Dichtungen und Schriften. Jubiläumsausgabe in zehn Bänden, hg. v. Dieter Borchmeyer, Frankfurt 1983, Bd.  8, S. 129–213. 88 Schuller, Compleat Conductor, S. 89. 89 Weingartner, Lebenserinnerungen, Bd. 2, S. 56 f. 90 Zur Textgeschichte vgl. Thomas Seedorf, Reflexionen eines Kapellmeisters. »Über das Dirigieren«, in: Obert u. Schmidt, Im Mass der Moderne, S. 147–161. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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falls geistlose Formlosigkeit« zu bekämpfen, die er als ein mit Hans von ­Bülow beginnendes Missverständnis von Richard Wagners Aufforderung zu mehr »Beseelung des musikalischen Vortrags« begriff.91 Eine solche kritische Vehemenz war nach dem Ersten Weltkrieg verflogen, auch deshalb, weil der von Weingartner angeprangerte Exhibitionismus auf dem Podium in der nüchternen Nachkriegszeit zu verschwinden begann. Diesen Kampf bestritten die 1890er nicht mehr. Sie äußerten sich publizistisch oder in öffentlichen Vorträgen, die noch auf ihre Aufarbeitung warten,92 über ihre Profession, bündelten ihre Einsichten dann aber (mit den Ausnahmen Kleiber und Knappertsbusch) in Buchform. Hermann Scherchen veröffentlichte 1929 sein »Lehrbuch des Dirigierens«.93 Fritz Busch begann um 1920 herum mit Aufzeichnungen über den Dirigentenberuf, die er 1940 während einer Schiffsreise ausarbeitete. Sie wurden erst 1961 aus dem Nachlass veröffentlicht und müssen gemeinsam mit seiner Autobiographie gelesen werden.94 Sir Henry Wood hinterließ bei seinem Tod 1944 ein Buchmanuskript, das im folgenden Jahr unter dem Titel »About Conducting« veröffentlicht wurde. Bruno Walter schickte seiner 1947 in Stockholm veröffentlichten Autobiographie95 ein Jahr später den kleinen Band »Von der Musik und vom Musizieren« nach, der ein langes Kapitel mit der Überschrift »Der Dirigent« enthält.96 1954 erschien von Charles Munch die literarisch ansprechendste all dieser Schriften, das Büchlein »Je suis chef d’orchestre«, das er auf Einladung eines Verlegers innerhalb der Serie »Mon Métier« geschrieben hatte.97 Sir Adrian Boult äußerte sich mehrfach im Rundfunk über die Praxis des Dirigierens;98 1963 sammelte er seine Überlegungen unter dem Titel »Thoughts on Conducting«.99 Die verschiedenen Texte wenden sich an unterschiedliche Adressaten­ gruppen. Wood und Busch wollen dem angehenden Dirigenten erklären, auf welche Art von Berufspraxis er sich einlässt. Scherchen gibt auf 300 Seiten direkte Ratschläge für angehende Profis, durchsetzt mit Reflexionen grundsätzlichen Charakters. Boult hingegen, der als einziger der Autoren das Dirigieren seiner Zeitgenossen von Richard Strauss bis Bruno Walter kommentiert und dies in sehr generöser, von jeder Kapellmeisterrivalität freien Weise tut, wendet sich über das Medium Radio ausdrücklich an Hörer und Zuschauer aller Art, 91 92 93 94 95 96 97 98 99

Felix Weingartner, Über das Dirigieren, Leipzig 19134, S. 37 (das 2. Zitat von W.). Besonders im Falle Erich Kleibers könnte dies wichtige Resultate zeitigen. Es wurde mehrfach nachgedruckt, zuletzt 2011 bei Schott in Mainz. Busch, Der Dirigent; ders., Aus dem Leben eines Musikers. Bruno Walter, Thema und Variationen. Erinnerungen und Gedanken [1947], Frankfurt 1960. Zur Entstehungsgeschichte vgl. Ryding u. Pechefsky, Bruno Walter, S. 366. Walter, Von der Musik, S. 94–176. Munch, Je suis chef d’orchestre. Vgl. auch die kommentierte Auswahl von Briefen von und an Munch: Geneviève Honegger, Charles Munch. Un chef d’orchestre dans le siècle, Straßburg 1992. Boult, Boult on Music, S. 123–150. Vgl. auch die Autobiographie: Adrian Boult, My Own Trumpet, London 1974. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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und Munch gelingt es elegant, Berufsmusiker, Amateure und nur weitläufig Interessierte auf ihre jeweiligen Kosten kommen zu lassen. Obwohl die einzelnen Schriften unabhängig voneinander entstanden und durch sehr wenig Intertextualität miteinander verbunden sind, zeigen sie doch eine erstaunliche Ähnlichkeit. Zunächst einmal sind die Autoren sich einig in den Voraussetzungen, die ein Dirigent mitbringen muss: ein ausgezeichnetes, möglichst absolutes Gehör; sehr gute pianistische Fähigkeiten, insbesondere im Partiturspiel, die es ihm ermöglichen, selbst als Korrepetitor (oft die empfohlene Eingangsstufe einer Karriere) tätig zu sein; das Vermögen zum flüssigen Lesen einer Partitur und zum Verstehen struktureller Zusammenhänge von Harmonie, Polyphonie und Klangfarbe; zumindest Grundkenntnisse der Spielweise der meisten Instrumente, wenn nicht sogar eine Beherrschung zahlreicher Instrumente (für die etwa Fritz Busch und vor ihm Hans Richter berühmt waren); die Fähigkeit und Bereitschaft, das Stimmenmaterial einzurichten; Durch­ setzungsfähigkeit gegenüber mitunter widerspenstigen Orchestermusikern, also die Fähigkeit, Disziplin zu wahren, auch wenn vom Dirigentenpodium aus nicht unbedingt Furcht und Schrecken verbreitet werden muss. Die Ratgeber sind sich nicht ganz einig darüber, wie das ideale Verhältnis von Begabung und Fleiß auszusehen hat. Sie stimmen aber darin überein, dass die Führung eines Orchesters im Prinzip weitgehend, aber nicht ausschließlich eine Sache des Talents, also in ihren technischen Aspekten lehr- und lernbar ist. Erfahrung spielt dabei eine große Rolle, und es ist ein wiederkehrendes Motiv, dass man dankbar auf eigene Anfänge als junger Kapellmeister zurückblickt, die es mit sich brachten, in der Provinz Musik der unterschiedlichsten Art einzustudieren. So erinnerte sich Fritz Busch gerne an seine Tätigkeit als Kurkapellmeister in Bad Pyrmont, wo er Konzerte aus allen Bereichen des Repertoires zu dirigieren hatte.100 Einige der Autoren, Sir Henry Wood an erster Stelle, gehen tief ins praktische Detail und besprechen Dinge wie Länge, Form und Material des Taktstocks,101 die Atemtechnik, die auch ein nicht singender Dirigent benötige,102 sowie die Bequemlichkeit der dem Dirigenten zuträglichsten Kleidung: Wood rät zu schweißabsorbierender wollener Unterwäsche.103 Sollte Georg Solti später vor den Verletzungen warnen, die leichtfertiges Hantieren mit dem Taktstock verursachen kann,104 so rät Wood zur Vorsorge gegen verborgenere

100 Ebd., S. 75–88; ders., Der Dirigent, S. 10 f. 101 Henry Wood, About Conducting, London 1945, S. 65–72, der sogar die genauen Maße seines bevorzugten Korkgriffs mitteilt. Sir Adrian Boult empfiehlt die von dem pensionierten Wasserbauingenieur Colonel Porteous angefertigten Taktstöcke: Thoughts on Conducting, S. 4. 102 Ebd., S. 40 f.; so auch später Leonard Bernstein, zit. bei Galkin, History of Orchestral Conducting, S. 352. 103 Wood, About Conducting, S. 50. 104 Solti u. Sachs, Solti über Solti, S. 211 f. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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Gefahren: »[…] never allow yourself to run the risk of chill by standing about in draughty corridors talking to people after a concert.«105 Das allgemeine Selbstbild, das sich aus den Texten kristallisiert, ist weniger das einer kommandierenden Omnikompetenz als das einer Fülle von Ver­ antwortung: für den Zustand des Orchesters im Allgemeinen, die Qualität einzelner Aufführungen, die effiziente Organisation des Orchester- bzw. Theaterbetriebs (»Zeit ist Geld«, sagt Fritz Busch),106 vor allem für die Umsetzung der Intentionen des Komponisten – eine Verantwortung, die in einer permanenten Leitungsposition zunimmt und den regulären Chef vom durchreisenden Gastdirigenten unterscheidet. Insgesamt stehen den Freiheiten des Gestaltens die Zwänge der Pflicht gegenüber; Henry Wood spricht von »the infinite variety of a conductor’s duties«,107 eine Formulierung, der die meisten anderen Autoren wohl zugestimmt hätten. Fritz Busch, immerhin ein berühmter Opernchef, geht so weit, durch das »Geständnis begangener Irrtümer und Fehler« dem Nachwuchs die Furcht vor solchen Bürden nehmen zu wollen.108 Keiner der 1890er entwickelte eine solch anspruchsvolle ästhetische Anthropologie (oder anthropologische Ästhetik), wie sie der 81-jährige Bruno Walter 1957 vorlegte, doch ist manche Übereinstimmung offensichtlich. Walter und die jüngeren Verfasser von Metierschriften sagen wenig über die Kommunikation des Dirigenten mit dem Publikum: Denn diese Kommunikation soll im Idealfall allein über das Hören der Musik erfolgen; der Dirigent kommuniziert direkt mit den Musikern, jedoch nur indirekt mit den Konzert- oder Theaterbesuchern. Allein Charles Munch gibt zu, dass der Dirigent sich auch um die Menschen hinter seinem Rücken und deren emotionale Bedürfnisse sorgen müsse: »l’hydre aux milles têtes qui se nomme le public«.109 Dafür umkreist nicht nur Bruno Walter umso ausführlicher die Frage, was zwischen Dirigent und Orchester geschieht. Sie wird in allen Metier­schriften diskutiert. Der ganz unschamanische Weingartner sieht die »Direktionsleistung« in »der suggestiven Macht, die der Dirigent über die Ausführenden auszuüben imstande ist«.110 Charles Munch, der vielleicht größte Charismatiker unter den 1890ern, spricht metaphorisch von »une véritable télépathie«, von »Funken«, »Fluidum« und einem »elektrischen Strom«.111 Bruno Walter elaboriert sein altes Credo, der Dirigent müsse auf die »Seele« der Musizierenden »durch subtilere Methoden Einfluß nehmen, als durch den Befehl des Vorgesetzten, der die Seele des Gehorchenden lähmt«.112 In »wohlwollender Ge105 106 107 108 109 110 111 112

Wood, About Conducting, S. 51. Busch, Der Dirigent, S. 112, auch S. 113. Wood, About Conducting, S. 53. Busch, Der Dirigent, S. 8. Munch, Je suis chef d’orchestre, S. 14, auch S. 9. Weingartner, Über das Dirigieren, S. 57. Munch, Je suis chef d’orchestre, S. 8, 82. Walter, Thema und Variationen, S. 160. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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sinnung«, einem Geist der »Selbstlosigkeit« und durch erzieherische statt kommandierende Einwirkung müsse sich das Wollen des Dirigenten in ein »Mitwollen« der singenden und spielenden Musiker umsetzen.113 Ganz ähnlich hatte Hermann Scherchen 1929 vom Orchestermusiker als »mitformendem Künstler, Kunstkollegen« gesprochen.114 Allerdings müssten nach Walters Auffassung Technik, eine nicht zum Selbstzweck degenerierende Präzision sowie »Ordnung« (davon spricht Walter lieber als von »Disziplin«) der Gefahr eines gut gemeinten »Dilettantismus« entgegensteuern.115 Der Anthroposoph Bruno Walter spricht nicht in allem für die um anderthalb Jahrzehnte jüngeren 1890er, teilt aber mit ihnen eine Skepsis sowohl gegenüber einer auf maestri angewandten Genieästhetik als auch gegen die Steigerung von Emotionen im Publikum durch ein exaltiertes Gebaren auf dem Podium. Walters Bewunderer Adrian Boult wendet sich mit britischem Sarkasmus gegen »the picturesque habit of walking about and miming the music like a ballet dancer«, ein Verhalten, das nur »the less sophisticated members of our audience« anspreche. Scherchen formuliert strenger: »Auch unterlasse man nach Möglichkeit jede nicht notwendige Beugung des Leibes.«116 Und Boult formuliert eine für die 1890er charakteristische anti-expressive Ethik (und Anthropologie) der Selbstkontrolle und der Mäßigung: »[…] it is only when he has complete control of himself that a conductor can hope to control other people«.117 Bruno Walters Diktum, nur »bei genügender handwerklicher Veranlagung und deren gründlicher Ausbildung« könne es der Künstler zu Meisterschaft bringen,118 hätten alle 1890er unterschrieben. Auch Fritz Buschs Mahnung, der Dirigent solle »Diener der Kunst« sein und »die eigene, so unwichtige Person« nicht in den Vordergrund stellen, und Munchs Feststellung, es sei die Rolle des Dirigenten, »de s’y faire remarquer le moins possible«, dürften unkontrovers gewesen sein.119 Walters Ideen über freundliche Mitarbeiterführung wurden, wenn auch weniger grundsätzlich formuliert, ebenfalls nahezu allgemein gebilligt, allerdings nicht bei dem als unerbittlicher Zuchtmeister bekannten Fritz Reiner, während der manchmal durchaus autoritäre Erich Kleiber es in Südamerika vielfach mit unerfahrenen und unzureichend geschulten Orchestern zu tun hatte, bei denen nur Nachsicht und Geduld zum Erfolg zu führen 113 Walter, Von der Musik, S. 132, 141, 145, 148. 114 Scherchen, Lehrbuch des Dirigierens, S. 21. 115 Walter, Von der Musik, S. 110 f., 139, 149 116 Scherchen, Lehrbuch des Dirigierens, S.  244. Charles Munch hingegen sah »un côté sportif dans la direction d’un orchestre« und empfahl regelmäßige Körperertüchtigung, mahnte aber auch, der Dirigent sei »ni un clown, ni un gymnaste«: Je suis chef d’orchestre, S. 41, 81. 117 Boult, Thoughts on Conducting, S. 2. Auch Munch, Je suis chef d’orchestre, S. 101 f., der dem vielbeschäftigten Dirigenten zu einer disziplinierten Lebensführung rät. 118 Walter, Von der Musik, S. 102. 119 Busch, Der Dirigent, S. 63; Munch, Je suis chef d’orchestre, S. 79. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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ver­mochten. Bei Fritz Busch, dem NS -Gegner und  – nach vielen Berichten  – integrativen Orchesterleiter, überrascht, wie unbefangen er sogar noch in der Emigration die Rolle des Dirigenten als »Führerschaft« bestimmte und das Orchester als eine Einrichtung, bei der »eine Masse einem Führer unterstellt ist«:120 Ausdrucksweisen im Einklang mit der »Massenpsychologie« des frühen 20. Jahrhunderts oder ein Vorgriff auf Elias Canettis differenziertere Analyse von 1960. Busch leitet aus einem solchen Sprachgebrauch aber keineswegs einen Freibrief für Tyrannei ab: »Das Orchester soll innere Achtung vor seinem Führer haben und soll seinen Wünschen mit Liebe nachkommen, niemals aber ängstlich oder nervös gemacht werden.«121

VI. Fazit Bei der Kommunikation im »klassischen« Konzertsaal ist der Dirigent nach Auffassung beinahe aller Beteiligten die zentrale Figur. Er ist auch in der Öffentlichkeit neben einer winzigen Zahl von Gesangsstars der am meisten beachtete – und am höchsten bezahlte – Repräsentant der »ernsten« Kunstmusik. Dass dies so ist, versteht sich nicht von selbst und rechtfertigt es, sich über den Ort des Dirigenten in der westlichen Kultur Gedanken zu machen. Die Musikwissenschaft kann sich dem Thema interpretationsgeschichtlich nähern, die Musik- und allgemeine Kultursoziologie nach self-fashioning und der Zuschreibung von Bedeutungen an bestimmte Rollenträger im musikalischen »Feld« fragen. In längerfristiger Perspektive trifft man dabei auf eine kleine Zahl von Standardnarrativen: Professionalisierung des Orchesterwesens seit den chaotischen Uraufführungen beethovenscher Symphonien; Aufstieg und Fall des imperialen Pultvirtuosen mit dem Höhe- und Wendepunkt – je nach Geschmack – schon bei Mahler und Toscanini oder erst bei Karajan und Celibidache; Degeneration interpretatorischer Authentizität unter dem Zugriff der Kulturindustrie; Pluralisierung der Rollenverständnisse und Musizierstile im Zusammenhang mit historischer Aufführungspraxis und den Spezialanforderungen der Avantgarde. Dieser Beitrag hat nicht versucht, unter solchen Narrativen eine Wahl zu treffen. Er hat an wenigen Beispielen auf eine Zwischengeneration der um 1890 herum geborenen und kurz vor dem Ersten Weltkrieg ins Berufsleben eingetretenen Dirigenten aufmerksam gemacht, die zwischen der Generation der typusbildenden Heroen von Arthur Nikisch bis Wilhelm Furtwängler auf der einen und den glamourösen Medienstars der Zeit nach 1945, den Karajans, Soltis und Bernsteins, angesiedelt ist. Diese stärker als jede andere von den Schrecklichkeiten des 20. Jahrhunderts gezeichnete Generation fällt unter 120 Busch, Der Dirigent, S. 86. 121 Ebd., S. 119. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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ande­rem auf durch einen Gestus besonders stark ausgeprägter »Sachlichkeit« im persönlichen Habitus und in den – dies konnte freilich kein Thema unseres Kapitels sein – musikalischen Darstellungsweisen. Auch zeigt sie ein ungewöhnliches Bedürfnis, das eigene berufliche Tun zu entmystifizieren und dem Publikum in literarischer Kommunikation die »Geheimnisse« des Dirigierens so rational wie möglich zu erläutern. Die »Metierschriften«, die diesem Zweck dienten, dokumentieren eine Veralltäglichung der Orchesterpraxis und verdienen mit dem allmählichen Verblassen eines übersteigerten maestro myth neues Interesse.

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Von der unendlichen Vielfalt der Gefühle Leonard Bernsteins emotionale Praktiken im Musikleben Nur wer Musik nicht blos fühlt, sondern denkt, fühlt richtig. Theodor W. Adorno1

I. Ein Überangebot an Talent und ein Mangel an Disziplin Noch in der Mitte des 20.  Jahrhunderts war einer der führenden Dirigenten seiner Zeit, Hans Knappertsbusch (1888–1965), dafür bekannt, dass er stilistische Abweichungen vom musikalischen Kanon hasste. Nach seiner Auffassung hatte die gleiche Kunst immer wieder gleichrangig wiederholt zu werden. Sparsam waren seine Bewegung und seine Gestik beim Dirigat. Mehr noch, selbst die Probe der kanonisierten Sinfonien schien ihm oft überflüssig, und einem zur Einstudierung einer Beethoven-Sinfonie versammelten Orchester erklärte er bündig: »Sie kennen das Werk, ich kenne das Werk. Auf Wiedersehen heute Abend!«2 Auch wenn Knappertsbuschs Haltung in keiner Weise für das akribische Studium der Partitur und die minutiöse Probenarbeit der Kapellmeister seiner Generation repräsentativ war, unterschied sich der Amerikaner Leonard Bernstein in beinahe jeder Hinsicht von den Dirigenten der alten Schule.3 Er reiste um die Welt, leitete zahlreiche namhafte Orchester und kultivierte einen in jeder Hinsicht anderen Dirigierstil. Beachtlich war seine Fähigkeit, Musik durch extravagante Auftritte zu vermitteln. Bei seinen Konzerten erlebten ihn die Hörer als einen Musiker mit weit ausholender Schlagtechnik, der gelegentlich zum Rhythmus tanzte und bei dramatischen Stellen in die Luft sprang. Diese körperlich gezeigte Lust kritisierten viele Beobachter. Denn Bernstein schien die Kunstmusik zu vernachlässigen, »wirkte oft wie ein gehetztes Tier«.4 1 Theodor W. Adorno, Zu einer Theorie der musikalischen Reproduktion, Frankfurt 2005, S. 127. 2 Zit. n. Stephan Pflicht, »Fast ein Meisterwerk«. Die Welt der Musik in Anekdoten, München 1995², S. 148. 3 Jürgen Osterhammel untersucht in seinem Beitrag in diesem Band die Generation der um 1890 geborenen Dirigenten. 4 Vgl. Wolfgang Schreiber, Große Dirigenten, Broadway-Glanz und Charisma, München 2005, S. 195–206, hier S. 205; Leon Botstein, On Conducting, in: Musical Quarterly 81. 1997, S. 1–12. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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Anders urteilte der Kritiker Joachim Kaiser. Er betonte, dass gerade die Leidenschaft seines Freundes Leonard Bernstein diesen auszeichne und erst seine Gefühle ihn zu einem großen Künstler machen würden. Zu seinem siebzigsten Geburtstag, am 25. August 1988, schrieb er für ihn eine »Laudatio-Sonate«, in der es hieß: Bernstein ist der Reinheit fähig, der schlackenlos originären Direktheit des Empfindens. Bernstein fühlt stärker, und er hat ein heißeres Herz als wir anderen, ärmeren Erdenbürger. Er ist der Ekstase fähig, aber auch der Zurückhaltung, die manchmal zur Größe gehört. Nie verrät er Beethovens human beseelten Ton an effektvolle ­Sacre-du-Printemps-Grellheit, nie verrät er Wagners Sehnsucht an aufgedonnerte Orchester-Ästhetik, nie verrät er Mozarts schwebende Trauer an elegante Sentimentalität. […] Bei Bernstein erfährt die Welt, was Reinheit, was eine reine Flamme vermag. Darum liebt sie ihn.5

Was für ein Mensch und Musiker Leonard Bernstein war, ist schwer zu beschreiben. Denn lang ist die Liste seiner Interessen, Fähigkeiten und Lebensstile. Er war ein 1918 in Lawrence/Massachusetts geborener US -Amerikaner ukrainischer Herkunft. Bereits 1943 sprang er für den erkrankten Bruno ­Walter ein und dirigierte ein umjubeltes Konzert in der New Yorker Carnegie Hall. Darauf reihten sich die Erfolge, denn Bernstein wusste klug seine vielen Talente einzusetzen. Zwischen 1958 und 1969 war er der erste US -Amerikaner, der als Chefdirigent die prestigeträchtigen New Yorker Philharmoniker leitete. Große Erfolge erzielte er auch mit den Wiener Philharmonikern, dem Israel Phil­ harmonic Orchestra und dem Sinfonieorchester des Bayerischen Rundfunks. Gerade seine Interpretationen der Sinfonien von Beethoven, Mahler, Haydn, Schumann und Brahms erregten berechtigtes Aufsehen.6 Bei seinem Dirigat achtete er darauf, lange Spannungsbögen zu halten, die Hörer mit scharfen Kontrasten und plötzlichen Einsätzen zu bewegen und sie dadurch immer wieder in emotionale Abgründe zu stürzen. Dieser Pultstar war aber nicht nur Dirigent, sondern auch Pianist, Lehrer, Schriftsteller – und Komponist. Oft ärgerte es ihn, dass er in erster Linie für seine unterhaltsamen Bühnenwerke wie die »West Side Story« anerkannt wurde, weniger für seine Sinfonien, seine Konzerte und die Kammermusik.7 Immer wieder griff er in 5 Joachim Kaiser, Besessener Erzähler und Erzieher. Eine Laudatio-Sonate, in: ders. (Hg.), Leonard Bernsteins Ruhm. Gedanken und Informationen über das Lebenswerk eines großen Künstlers, Hamburg 1988, S. 36–52, hier S. 36 f. 6 Einen hilfreichen Überblick über seine widersprüchliche Persönlichkeit geben die Biographien von Humphrey Burton, Leonard Bernstein. Die Biographie, München 1994; Joan Peyser, Leonard Bernstein. Die Biographie eines Musikgenies, Hamburg 1991; Paul­ Myers, Leonard Bernstein, London 1998. 7 Vgl. Andreas Jaensch, Leonard Bernsteins Musiktheater. Auf dem Weg zu einer amerikanischen Oper, Kassel 2003. Vgl. die Beiträge in David Nicholls (Hg.), The Cambridge History of American Music, Cambridge 1998. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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politische Debatten ein, wirkte als Wahlkämpfer für die Demokraten, half Menschenrechtlern und unterstützte die Friedensbewegung. Selbstredend war dieses Ausnahmetalent auch verheiratet und Vater dreier Kinder, ohne allerdings je auf seine Bisexualität zu verzichten.8 Seine Auftritte als begabter Entertainer machten ihn zum modernen Künstler par excellence. Bernsteins demonstrativ genossene Sinnlichkeit faszinierte nicht nur viele Musikfreunde. Sein Lebensstil machte ihn attraktiv, weil er Bedürfnisse nach Freiheit befriedigte und dennoch erfolgreich blieb. Am 4. August 1986 zitierte ihn die Zeitschrift USA Today mit den Worten: Als ich Mitte Zwanzig war, stellte man bei mir ein Emphysem fest – dabei rauche ich seit Jahrzehnten. Damals hieß es, ich wäre mit fünfundzwanzig ein toter Mann, wenn ich nicht aufhörte. Dann sagte man, ich werde mit fünfundvierzig tot sein; dann mit fünfundfünfzig. Ich habe sie alle Lügen gestraft. Ich rauche, ich trinke, ich bleibe die ganze Nacht auf und vögele herum. Ich kämpfe an allen Fronten und das gleichzeitig.9

Leonard Bernstein verlor diesen Mehrfrontenkrieg. Nicht nur der Stress und der Alkohol, sondern vor allem sein Tabakkonsum brachten ihn um. Am 14. Oktober 1990 versagten Lunge und Herz. Viele seiner Fans fürchteten schon seit langem, dass Bernsteins Zigarettensucht ihn das Leben kosten würde. Seine Freunde schätzten, dass er bis zu 180 Zigaretten pro Tag rauchen konnte. In den Aschenbechern auf seinem Schreibtisch brannten oft zwei Zigaretten gleich­ zeitig. Als er einmal einen Trauergottesdienst zu Ehren eines verstorbenen Freundes verließ, stand vor dem Portal der Kirche eine Gruppe seiner Bewunderer, die ein Plakat hochhielten: »We love you. Stop smoking!«10

II. Ein emotionaler Lebensstil wird zum Motor der Karriere Leonard Bernstein verkörperte den Idealtypus eines emotionalen Dirigenten. Das Ziel dieses Beitrages ist es, nach dem Stellenwert der Emotionen im Arbeitsprozess von Leonard Bernstein zu fragen, das heißt, die Art und Weise zu untersuchen, wie er bei Orchesterproben, Fernsehauftritten und Vorträgen seine Gefühle einer breiten Öffentlichkeit zeigte und dadurch nutzte. Es kommt darauf an, den Stellenwert seiner Emotionen bei der Vermittlung seiner musikalischen Botschaften zu analysieren. Verdeutlicht wird das durch den Blick auf seine kommunikativen Praktiken sowie durch einige Fallbeispiele wie etwa seinen Kult um Gustav Mahler. Wichtig ist dabei, auf das Spannungsfeld zu achten 8 Die Studie von Barry Seldes, Leonard Bernstein. The Political Life of an American Musician, Berkeley, CA 2009, zeigt die politischen Verflechtungen Bernsteins. 9 Zit. n. Peyser, Bernstein, S. 16. 10 John Rockwell, Bernstein Triumphant, in: Steven Ledbetter (Hg.), Sennets and Tuckets. A Bernstein Celebration, Boston 1988, S. 5–19, hier S. 17. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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zwischen denjenigen Gefühlen, die er nicht zu kontrollieren vermochte, auf die körperlichen Reize, die ihn eher unbewusst antrieben einerseits, und auf seine sozusagen didaktischen Kniffe, seine strategisch eingesetzten Gefühlszeichen andererseits. Beide Emotionsformen dienten dem Zweck, die Wirkung einer von ihm geschätzten Komposition zu verstärken. Was waren überhaupt Emotionen aus seiner Perspektive und wie setzte er sie ein? Wo entdeckte Bernstein selbst seine Emotionen – eher in den Kompositionen oder in den Rezeptionen? Bernstein kam es darauf an, mit Hilfe von Emotionen Musik sichtbar, das heißt für jedermann verständlich zu machen. Seine öffentlich gezeigten Gefühle als oberflächliche Täuschungen zu bezeichnen, als Ablenkungen von der Bedeutung der musikalischen Kunstwerke, verkennt Bernsteins Absicht und die Ursache seines Erfolges. Manches spricht dafür, dass Bernstein in der Struktur der von ihm interpretierten Kompositionen Qualitäten entdeckte, die er auf allen ihm zur Verfügung stehenden Wegen erklären wollte. Der Blick auf seine Konzertproben beispielsweise ist deshalb so interessant, weil sie zeigen, dass Bernstein seine Botschaften allein durch die Erklärung der Partitur nicht hinreichend deutlich machen zu können glaubte. Er betrachtete es offenbar als seine Aufgabe  – so die hier vertretene Hypothese  –, die ästhetische Qualität eines Stückes durch Emotionen verständlich zu machen, das heißt, die kompositorischen Reize einer Beethovensinfonie durch emotionale Reize zu vermitteln, also mit Hilfe seiner Worte, seines Humors, der Gestik und Mimik die abstrakte Kunst für jedermann auf sinnliche Weise attraktiv zu machen. Aus dem reichen Repertoire seiner eigenen Gefühle schuf sich Bernstein einen emotionalen Code. Diesen nutzte er, um die Sprache der Musik in die Sprache der Allgemeinheit zu übersetzen. Zu zeigen ist, wie Bernstein zu einem Meister emotionaler Kommunikation avancierte. In einem Interview mit dem italienischen Journalisten Enrico Castiglione aus dem Jahr 1989 brachte Leonard Bernstein seine Lust daran, Beziehungen zu stiften, treffend auf den Punkt: Falls es eine Formulierung gibt, in der sich wie in einer magischen Kugel mein Dasein zusammenfassen lässt, so sind es die Worte ›sich mitteilen‹. Ich habe das Leben immer geliebt, dieses mein Leben für die Musik, und ich habe immer nur versucht, den anderen die Freude und den Schmerz ›mitzuteilen‹, die es bedeutet, solch ein Leben zu führen.11

Vielleicht ist der ideale Dirigent ein Vermittler, der Intellekt und Leidenschaften symbiotisch vereint und dadurch seine Wirkung steigert. Über diese Kommunikationsform verfügen Persönlichkeiten, die sich nicht nur durch ihr Wissen, 11 Enrico Castiglione, Leonard Bernstein. Ein Leben für die Musik, Berlin 1993, S. 9. Diesen Aspekt macht auch die Veröffentlichung des Berliner Konzerthauses deutlich: »Ich liebe dieses Haus. Ich liebe diese Leute hier. Und ich liebe dieses Publikum und ich komme wieder!«, Festschrift Leonard Bernstein, Berlin 2013. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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sondern auch durch ihr Temperament und ihr Selbstbewusstsein auszeichnen. Zu Bernsteins Stärken zählten nicht nur seine verschiedenen intellektuellen und habituellen, medialen und pädagogischen Begabungen, sondern sein Talent, diese so klug zu verknüpfen, dass ihm die Verbreitung seiner Ideen rasch gelang. Seine Auftritte und Vorträge glichen beinahe emotionalen Predigten, die den Hörern Glücksbotschaften versprachen: Wahrscheinlich hoffte er, dass durch sein Dirigat im Konzertsaal der Funken vom Konzertpublikum auf begeisterte Schallplattenhörer und Fernsehzuschauer übersprang und sich schließlich im Idealfall eine gefühlte Gemeinschaft aller Musikfreunde formte.12 Bernsteins Emotionen im Musikbetrieb waren vorgeprägt von dem, was er über die Jahre erlebt und erlernt, was er über das Werk gehört und gelesen hatte. Das wirft die Frage auf, ob seine Interpretationen sich im Verlaufe seiner Karriere immer weiter von den Werken selbst entfernten und am Ende oft eher Bernsteins eigene Emotionen als Beethovens Komposition erkennen ließen. Denn auch die Grenzen seiner Vermittlungsmöglichkeiten müssen hier deutlich gemacht werden. Viele Musiker und Hörer waren schockiert, gar verletzt, und fühlten sich von Bernsteins emotionalem Musikverständnis beleidigt. Offenbar gab es manche ästhetische Botschaften, die durch gezeigte Gefühle nicht vermittelbar waren. Bernsteins Karriere war Bestandteil des sich beschleunigenden Musikbetriebs im 20.  Jahrhundert. Der Stellenwert des Dirigenten erreichte den­ jenigen großer Sänger und Virtuosen. Die Dirigenten studierten nicht nur die Partitur und interpretierten die Kompositionen, sie ordneten die Orchestermusiker und das Publikum. Sie gaben Musikern und Publikum Anweisungen, konzentrierten ihre Arbeit auf die Aufführung einer Partitur – und suchten die Musik und das Publikum zu kontrollieren. Das Publikum fokussierte sich auf die Dirigenten, deren virtuose Schlagtechnik und dominanter Habitus Ordnung im Sinfonieorchester evozierten.13 Weil es nicht nur schwierig, sondern fast unmöglich ist, künstlerisch vollendet zu dirigieren, wurden die Leistungen der Dirigenten heftig diskutiert und gnadenlos personalisiert. Der Grazer Musiker Wolfgang Hattinger weist in seiner Studie überzeugend nach, dass die Unkenntnis der Öffentlichkeit, wie die Qualitäten eines erfolgreichen Dirigenten zu bewerten sind, deren Ruhm steigert. »Es gibt wohl nur wenige Berufe, in denen mit so unterschiedlichen Fähig-

12 Vgl. den Interviewband von Frederick Harris, Conducting with Feeling, Galesville, MD 2001. 13 Vgl. Richard Leppert, The Social Discipline of Listening, in: Hans Erich Bödeker (Hg.), Le concert et son public. Mutations de la vie musicale en Europe de 1780 à 1914 (France, Allemagne, Angleterre), Paris 2002, S. 459–485; ferner die Überblicksdarstellung zum 20. Jahrhundert von Norman Lebrecht, The Maestro Myth. Great Conductors in Pursuit of Power, London 1997; sowie Richard Leppert (Hg.), Music and Society. The Politics of Composition, Performance and Reception, Cambridge 1987. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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keiten reüssiert werden kann wie beim Dirigieren, gleichzeitig aber auch so viele verschiedene Fähigkeiten gegeben sein müssen, damit der Beruf ›gelingt‹.«14 Eine Kommunikation scheint dann zu gelingen, wenn sich Musiker, Veranstalter und Publikum gleichermaßen motiviert fühlen. Dem Dirigenten fällt zunächst die Aufgabe zu, das gegenseitige Kennenlernen aller Musiker im Orchester zu erleichtern, durch sein Auftreten dazu beizutragen, dass sich eine gemeinsame, oft unausgesprochene Sensibilität in der Gruppe entwickeln kann. Gute Probenarbeit setzt die Entstehung einer gemeinschaftlichen Kommunikation (lat. communio) voraus. Das bedeutet allerdings nicht, dass diese Interaktion im Regelfall Erfolg hat. Nur ist ein gelungener Aushandlungsprozess die Grundlage für den künstlerischen Erfolg eines Konzertes.15 Bernstein war selbstredend nicht der einzige Dirigent, der Emotionen in seinen Konzerten einsetzte. Eine wachsende Anzahl von Dirigenten arbeitete seit der Mitte des 20. Jahrhunderts mit dem Rückgriff auf Emotionen, um etwa bei einer Probe den Künstlern durch Bilder, Gesten und Geschichten ihre Interpretation zu verdeutlichen. Es kam darauf an, zwischen der Komposition, den Musikern und der Rezeption im Publikum zu vermitteln. Dem Dirigenten fiel demnach eine privilegierte und in gewisser Hinsicht einzigartige Machtposition zu. Denn er war und ist im klassischen Konzertbetrieb der einzige Mensch, der Klänge in Bedeutung übersetzen kann, der die divergierenden Interessen und Wünsche vieler durch seine Leitung zu bündeln vermag. Der Komponist kann seine Emotionen nach seinen Maßgaben im eigenen Notat ausdrücken. Veranstalter hoffen auf Verkaufserfolge. Die Musiker nutzen ihr Instrument, übertragen gegebenenfalls ihre Emotionen körperlich in ihr Spiel. Das Publikum nimmt diese Reize auf und stellt diese in Beziehungen zu seinen Gefühlen. Alle Akteure sind jedoch in ihren Empfindungen weitgehend voneinander getrennt. Dirigenten aber haben im Unterschied zu allen anderen die Macht, zwischen diesen vier Gruppen deutend vermitteln zu können. Erfolgreiche Persönlichkeiten erteilen Lernaufträge, die befolgt werden, setzen Erkenntnismöglichkeiten, ja, steuern im Idealfalle sogar die Wahrnehmungen der Produzenten und Konsumenten.16 14 Wolfgang Hattinger, Der Dirigent. Mythos, Macht, Merkwürdigkeiten, Kassel 2013, S. 9. Vgl. zum Rang und zum Beruf des Dirigenten auch Denis Stevens, Why Conductors? Their Role and the Idea of Fidelity, in: Joan Peyser (Hg.), The Orchestra. Origins and Transformations, New York 1986, S. 227–249; Elliott W. Galkin, A History of Orchestral Conducting in Theory and Practice, New York 1988. 15 Vgl. Dorothy Miell u. a. (Hg.), How Do People Communicate Using Music?, in: dies. (Hg.), Musical Communication, Oxford 2005, S. 1–25; Jane W. Davidson, Bodily Communication in Musical Performance, in: ebd., S. 215–238; Habbo Knoch u. Daniel Morat (Hg.), Kommunikation als Beobachtung. Medienwandel und Gesellschaftsbilder 1880–1960, München 2003. 16 Am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Berlin entsteht im Kontext meiner Forschungsgruppe »Gefühlte Gemeinschaften? Emotionen im Musikleben Europas« eine © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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Scheut man die Zuspitzung nicht, dann liegt eine der Ursachen für die Deutungsmacht der Dirigenten darin, dass sie durch eigene »feeling rules«17 (Hochschild), durch charakteristische Gefühlszeichen, die Kommunikationsformen im Musikbetrieb steuern und erweitern. Im Zeitalter einer sich rapide ausweitenden Medialisierung des Musiklebens, dem Aufstieg von neuen Tonträgern, vor allem aber dem Siegeszug des Fernsehens und der Werbung nutzten die Dirigenten regelmäßig nonverbale Zeichen und Gesten bei den Konzerten, achteten auf ihre gepflegte Erscheinung und Kleidung. Langfristig wirkte vor allem ihre Präsenz in der Öffentlichkeit. Diese neue Visualisierung ihrer Kunst führte dazu, dass Dirigenten nicht nur auf die Bewegung ihres Körpers achteten, sondern bei den Proben auch auf den Blick, die Sprachmelodie und die Gesprächspausen. Einer der wirksamsten Faktoren für die Kommunikationssteuerung zwischen Dirigent, Orchester und Publikum war schließlich der Humor. So konnten begabte Dirigenten Gefühle durch ihre Aufritte verstärken, ja auslösen. Wolfgang Hattinger nennt diesen Mechanismus passenderweise »emotionale Ansteckung«.18

III. Gefühle im Musikbetrieb: Einige Erkenntnismöglichkeiten Leidenschaftlich gezeigte Emotionen sind musikimmanent. Besonders die öffentlichen Aufführungen und Rezeptionsmuster können als spezifische emotionale Umgangsformen mit musikalischen Reizen betrachtet werden. Daher lohnen einige Bemerkungen darüber, wie die Geschichtswissenschaft die Struktur und die Wirkung von Emotionen im Musikleben untersuchen kann. Einen wichtigen Bezugspunkt stellen die Erträge der Neurowissenschaften in den vergangenen Jahren dar, deren Experimente die körperlichen Reaktionen von Versuchspersonen analysieren. Bekannt scheint soweit, dass bestimmte Stücke von einer Hörergruppe als sehr emotional beschrieben werden können, sie wirken als Auslöser mehr oder minder starker vegetativer Reaktionen (etwa Veränderungen der Herz- und Atemfrequenz).19 Zugleich aber belegen diese Studien, dass eben kein kausaler Nexus zwischen einem bestimmten Musikstück und auf Interviews basierende Studie darüber, wie Dirigenten heutzutage selbst ihre emotionalen Praktiken, ihre Deutungsmöglichkeiten und Kontrollverluste im laufenden Musikbetrieb bewerten. 17 Arlie R. Hochschild, Emotion Work, Feeling Rules, and Social Structure, in: American Journal of Sociology 85. 1979, S. 551–575. 18 Vgl. Hattinger, Dirigent, S. 109–114, S. 227–237, hier S. 233. 19 Einen guten Überblick zur Diskussion über das Verhältnis von Musik und Emotion bieten Patrik N. Juslin u. John A. Sloboda (Hg.), Music and Emotion. Theory and Research, Oxford 2001; Arthur Bradley, A Language of Emotion. What Music Does and How It Works, Bloomington, IN; Malcolm Budd, Music and the Emotions. The Philosophical Theories, London 1992; Leonard B. Meyer, Emotion and Meaning in Music, Chicago 1956. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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einer spezifischen emotionalen Wirkung besteht. Nicht nur von Kultur zu Kultur, sondern häufig schon zwischen Individuen besteht eine große Differenz, welche Regung eine bestimmte Musik hervorruft. Mehr noch: Es existiert nicht nur keine intersubjektive emotionale Reaktion auf Musik, sie ist auch zeitlich variabel. Bereits die Wirkung von Musik auf den Körper unterliegt einer stetigen Veränderung, von der Vielfalt an Deutungen, Hörgewohnheiten und Geschmäckern ganz zu schweigen. Hierin liegt eine neue Erkenntnismöglichkeit, über die gerade die Geschichtswissenschaft verfügt.20 Emotionen sind nicht nur vegetative Reize, sondern auch soziale Ordnungsmuster. Historikerinnen und Historiker können zeigen, wie Emotionen auf den sozialen Kontext wirken und von diesem wiederum verändert werden. Wichtig ist zu fragen, welche Rolle Emotionen als perfor­ mative soziale Praktik für Vergemeinschaftungsprozesse und die Kohäsion sozialer Gruppen spielen. Wertvolle Erkenntnisse haben die Studien von William Reddy und Barbara Rosenwein geliefert, die mit dem Konzept einer emotionalen Gemeinschaft arbeiten. Die Gemeinschaften existieren nicht unabhängig von der Gesellschaft, sondern sind ein Merkmal jeder sozialen Gruppe. Aufgabe ist es, Gefühlszeichen zu entdecken und zu untersuchen, welche Emotionen diese Gruppen positiv bewerten, welche sie abwerten oder ignorieren. Neue Erkenntnisse liefern eine Analyse der emotionalen Beziehungen zwischen Personen und der Blick auf emotionale Zeichen und Praktiken als wichtige Kommunikationsformen, weil diese Handlungen in der Gesellschaft Folgen haben können.21 Emotionen haben also einen kaum zu überschätzenden Einfluss auf histo­ rische Prozesse. Den Blick auf eine Geschichte der Emotionen im Musikleben zu lenken, eröffnet deshalb eine wertvolle Forschungsperspektive. Emotionen sind soziale Phänomene, weil sie die Dispositionen innerhalb einer Gesellschaft strukturieren können. Sie formen soziale Praktiken und beeinflussen die Wahrnehmungen und Handlungsmotivationen von Individuen und Gruppen gleichermaßen. Nach dem heutigen Kenntnisstand ist es aber noch unklar, ob durch die Emotionen in musikalischen Aufführungen neue Verbände in der 20 Hilfreiche Einführungen in die Geschichte der Emotionen sind Jan Plamper, Geschichte der Gefühle. Grundlagen der Emotionsgeschichte, München 2012; Ute Frevert, Emotions in History. Lost and Found, Budapest 2011; dies. u. a. (Hg.), Gefühlswissen. Eine lexikalische Spurensuche in der Moderne, Frankfurt 2011; Luc Ciompi u. Elke Endert, Gefühle machen Geschichte. Die Wirkung kollektiver Emotionen – von Hitler bis Obama, Göttingen 2011. 21 Vgl. William Reddy, The Navigation of Feeling. A Framework for the History of Emotions, Cambridge 2001; Barbara H. Rosenwein, Problems and Methods in the History of Emotions, in: Passions in Context. Journal of the History and Philosophy of the Emotions 1.  2010, S.  1–32; Jan Plamper, The History of Emotions. An Interview with William Reddy, Barbara Rosenwein, and Peter Stearns, in: History and Theory 49. 2010, S. 237–265. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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Gesellschaft entstanden – oder ob umgekehrt bereits bestehende Gesellschaften sich so musikalisch verständigten.22 Aber wie lassen sich Bernsteins Emotionen und deren Rezeption im Musikleben konkret erfassen und zumal deren Wirkungen bewerten? Diese Frage ist schwer zu beantworten, denn die Quellen geben zwar viel Auffälliges, aber oft nur schwer Verwertbares her. Was die Forschung insgesamt benötigt, ist eine Analyse der Sprache der Künstler und der Hörer, der Veranstalter und der Presse und der damit verknüpften emotionalen Bewertungen aus verschiedenen Quellen. Es ist hilfreich, auf die kleinen Veränderungen bei den Praktiken des Dirigenten, auf die Verhaltensmuster der Orchestermusiker und vor allem auf die Urteile des Publikums zu achten. Eine detaillierte Analyse kann dieser Artikel nicht leisten. Deshalb ist dies hier nur der Versuch, einige Erkenntnismöglichkeiten vorzustellen. Allerdings scheint die Analyse von Bernsteins emotionalen Praktiken und der öffentlichen Reaktionen auf seine Aufritte ein er­ hellendes Beispiel für die eben beschriebenen Zusammenhänge zu sein. Einen wichtigen Ansatzpunkt, um einige der aufgeworfenen Fragen wenigstens im Ansatz zu beantworten, stellen Leonard Bernsteins eigene Überlegungen zur Bedeutung von Emotionen im Musikleben dar. Im Jahre 1973 zeigte er, dass sein Talent sich keinesfalls auf dem Podium erschöpfte, als er an der renommierten Harvard University sechs Vorlesungen vor einer versammelten Expertenrunde aus Wissenschaftlern und Studenten hielt. Seine theore­tischen Analysen sind in jeder Hinsicht gewinnbringend und es überrascht, in dem Ausnahmemusiker einen versierten Soziologen zu erkennen. Das Fern­sehen zeichnete seine Gedankengänge auf, ein Buch mit dem Titel »The Unanswered Question« folgte. Seine Ausgangsbeobachtung lautete: Musik hat eine ihr eigene, aus ihrem Innern kommende Bedeutung, die man nicht mit bestimmten Gefühlen oder Stimmungen verwechseln darf, und schon gar nicht mit bildlichen Eindrücken oder einer beschreibenden Handlung. Diese aus dem Innern kommende Bedeutung wird durch einen unaufhörlichen Fluss von Metaphern erzeugt; all diese Metaphern sind Erscheinungsformen poetischer Umwandlungen. Das ist meine These.23

Bernstein unterschied drei Formen von Metaphern, mit denen er arbeiten wollte: die musikalische Struktur, den musikalischen Sinn, der auf eine außer-

22 Auf dieses Kontinuitätsargument verweisen auch Peter N. Stearns u. Carol Z. Stearns, Emotionology. Clarifying the History of Emotions and Emotional Standards, in: The American Historical Review 90. 1985, S. 813–836; Jürgen Gerhards, Soziologie der Emotionen. Fragestellungen, Systematik, Perspektiven, München 1988. 23 Leonard Bernstein, Musik – die offene Frage, Wien 1985³, S. 138. Der Titel der ameri­ kanischen Originalausgabe lautete: The Unanswered Question. Six Talks at Harvard, Cambridge, MA 1973. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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musikalische Bedeutung bezogen wird, und schließlich eine Metapher, die er als Äquivalent zu Sprache bewertete. Keinen Zweifel ließ Bernstein an der intensiven Verbindung, ja an der Wechselwirkung zwischen Musik und Emotionen. Diese vermeintlich triviale Tat­ sache, die jedermann bekannt zu sein scheint, wirft dann ein Problem auf, wenn man sie für wissenschaftliche Erkenntnisse nutzen möchte, nicht nur für subjektive Empfindungen: Aber wenn die Musik etwas ›ausdrückt‹, ist das etwas, das ich empfinde – und das gleiche gilt für Sie und jeden anderen Hörer. Wir empfinden Leidenschaft, wir empfinden Ruhm, wir empfinden das Geheimnisvolle, wir empfinden etwas. [… ] Und hier entsteht Verwirrung, denn wir können über unsere Empfindungen keine wissenschaftlichen Mitteilungen machen, wir können nur subjektiv über sie berichten. […] ›Empfindungen‹, was immer sie sein mögen, lassen sich nicht in Reagenzgläser abfüllen, und uns bleibt nichts übrig, als so pseudo-wissenschaftliche Fragen zu stellen wie: Wo steckt nun das Gefühl? Sind es jetzt die der Musik innewohnenden Bedeutungen, die uns so tief bewegen, oder gibt es, durch die Noten, eine Gefühlsübertragung vom Komponisten zum Ausführenden, vom Ausführenden zum Zuhörer? Wenn wir die Eingangsnoten dieser Beethovenschen Klaviersonate hören: empfinden wir, was Beethoven vermutlich empfand, als er sie niederschrieb?24

Um dieses Dilemma zu lösen, griff Bernstein auf das intellektuelle Instrumentarium seiner Metaphern zurück, auf deren Macht, Unbekanntes benennen zu können. Für die Antwort auf die Frage nach der emotionalen Bedeutung von Musik hieß dies, nach Beethovens Urteil über seine eigene Sonate, dass Komponist und Rezipient gleichermaßen im Recht sind: Wir werden es nie erfahren, wir können ihn nicht anrufen; aber wahrscheinlich stimmt beides. Und wenn das so ist, haben wir soeben eine weitere wichtige Zweideutigkeit entdeckt: eine wunderschöne neue Zweideutigkeit in Bezug auf Bedeutung. Was immer nun wahr sein mag: das wichtigste bleibt doch, dass Musik die Ausdrucksfähigkeit besitzt und der Mensch die angeborene, auf sie zu reagieren. […] Meinungsverschiedenheiten gibt es über die Unterscheidung, was die Musik ausdrückt und wie sie es ausdrückt. Das ›Was‹ ist sehr schwer zu fassen, wie wir gesehen haben; aber über das ›Wie‹ wissen wir Bescheid: es ist die Metapher. In allen Hinsichten, in welchen Musik als Sprache betrachtet werden kann […] ist sie eine rein metaphorische Sprache. […] Quintilian sagt […] die Metapher löse die ungeheuer schwierige Aufgabe, alles zu benennen. […] In diesem Sinne kann […] vor allem die Musik, dank ihrer besonderen und weitreichenden metaphorischen Kraft – das Unnennbare nennen und das Unerfahrbare mitteilen.25

24 Ebd., S. 139, S. 141. 25 Ebd., S. 143 f. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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IV. Charisma, Werbung und Vermarktung Leonard Bernstein entschied sich dafür, rundum öffentlich zu leben. Er erschuf seine Marke und arbeitete zeitlebens am eigenen Mythos. Bernstein wandte sich noch in seinen intimsten autobiographischen Notizen und Interviews der Gesellschaft zu. Als Autor, Künstler und Lehrer berichtete er so intensiv über sich und seine Welt, dass weite Teile der Forschung bis heute seinen Perspektiven folgen, Bilder und Sprachmuster übernehmen. Gleichzeitig achtete er darauf, dass nicht nur seine Schallplatten, Bücher und Fernsehserien eine breite Öffentlichkeit erreichten. Wichtig war es ihm vor allem, dass ein breiter Hörerkreis sich über seine eigenen Kompositionen freute. Geschickt wusste er sich die Rechte an jeder Einspielung zu sichern und baute sich eine eigene Firma auf (Amberson Enterprises). Zudem ließ er akribisch alle möglichen Zeitungsberichte und tausende Fanbriefe aufbewahren.26 Bernstein musizierte, als ob es um Leben oder Tod gehe. Er unterschied den innovativen Künstler vom konservativen Versager. Nie vergaß er, dass seine Interpretationen auch Ausdruck des eigenen Lebensstils und der eigenen Herkunft waren. Bernsteins auffällige Verhaltensmuster werfen die Frage auf, ob in seinem Dirigentenstil typisch US -amerikanische Emotionen zu entdecken sind. In seinen Fernsehsendungen und Vorträgen wies er stets auf die Bedeutung eines musikalischen American Way of Life hin. In seinen Kompositionen griff er verstärkt auf Genres und Stile des US -amerikanischen Musiklebens seiner Zeit zurück (Jazz, Latin, Musical), rühmte besonders die kulturelle Vielfalt von New York. In seinen musikalischen Präferenzen sind aber kaum typisch amerikanische Emotionen zu entdecken – wenn es solche überhaupt gibt. Statt allein auf vermeintlich spezifische Gefühle Bernsteins zu achten, sollte der Blick vor allem auf den kulturellen Kontext und die Musikindustrie der Zeit gerichtet werden. Bernsteins Geschmäcker und Verkaufsstrategien gliederten sich in die Entwicklung der Popkultur seit den 1940er Jahren in den USA ein. Die Filmmusicals beispielsweise traten ihren Siegeszug parallel zur Weiterentwicklung der Gattung des Musicals am Broadway an. Bernstein nutzte in dieser Hinsicht die kommerziellen und kulturellen Erfolge der Bühnenwerke von George Gershwin oder Cole Porter. Vor allem fand ein reger Ideenaustausch zwischen dem B ­ roadway und Hollywood statt, dem Zentrum der Filmproduktion: Viele der BroadwayErfolge wurden verfilmt. Das Medium Film eröffnete auch der klassischen Musik neue Dimensionen, die nun ein breites Publikum mit attraktiv gestalteten Interpretationen erreichen konnte. Es ist sicher kein Zufall, dass Bernsteins extravagante Auftritte, die Kommerzialisierung seiner Kunst und seine Verehrung durch Fans oft an die Filmindustrie und deren Stars denken lassen. 26 Eine vielbändige Edition aller Briefe von Bernstein entsteht zurzeit. Eine Auswahl bietet Nigel Simeone (Hg.), The Leonard Bernstein Letters, New Haven 2013. Vgl. Humphrey Burton, Leonard Bernstein. Video Man, in: Ledbetter (Hg.), Sennets, S. 137–141. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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Bernsteins Wirkung spiegelte das Ineinandergreifen von klassischer und populärer Musik, von Kunst und Konsum, und stellt somit ein Charakteristikum des American Way of Life im 20. Jahrhundert dar.27 Der Kategorie des Narratives, die Bernstein und seine Mitarbeiter gezielt in der Öffentlichkeit verstärkten, kommt eine besondere Bedeutung bei der Verbreitung von Gefühlen zu, denn sie stiftet Atmosphäre und emotionale Assoziation, auch ohne inhaltliche Definition. Das Narrativ bleibt als Projektions­f läche lange Zeit aktiv, schafft Verbindungen, erneuert Erinnerungen. Dirigenten können so die Bedeutung einer Komposition den Musikern leichter vermitteln, weil klug gewählte Narrative Distanzen abbauen, Emotionen aktivieren. Es war das Publikum, das bei der Suche nach großer Musik den Kult um große Dirigenten erfand. Weniger die musikalischen Experten, als vielmehr die breite Öffentlichkeit, die Journalisten und die Veranstalter verwandelten Orchesterleiter wie Bernstein immer öfter in Genies. Die Zuschreibungen durch das Publikum sagten wenig über die tatsächlichen Künstler und vieles über ihre Verehrer aus der middle-class aus. Die Heroisierung des Genies gelang auch deshalb, weil die Zuhörer sich um die eigene Identifikation und das eigene Erlebnis mühten. Das Geniebild hatte den Vorzug, nichts konkret zu versprechen, aber wünschbare Ideale zu eröffnen. Und das Ausnahmetalent Leonard Bernstein überwölbte viele Kategorien: Er schien überlegen, transzendent, unabhängig, stark und in besonderem Maße männlich.28 Leonard Bernstein war ein Charismatiker – und er wusste es. Das Charisma lenkt nicht nur die Kommunikation des Dirigenten, es entsteht auch durch Kommunikation. Max Webers Begriff der charismatischen Herrschaft lässt sich idealtypisch auf die Arbeitsweisen und die Wirkung der öffentlichen Präsenz von Bernstein übertragen. Er sammelt durch seinen Führungswillen Anhänger um sich, die auf Glücksmomente hoffen. Nach Weber zeichnet einen Charismatiker aus, dass seine Anhänger ihn als göttlichen Gesandten verehren und in ihm einen einzigartigen Anführer erkennen. Dieses gleichermaßen metaphysische wie gesellschaftspolitische Konzept Webers ist mit guten Gründen auf die Gesellschaft des 20. Jahrhunderts hin ausgerichtet, entspricht aber in Ansätzen dem Idealtypus des Dirigenten. In vielen Presseberichten, Fernsehreportagen und Fanartikeln sind Elemente des charismatischen Potentials Leonard Bernsteins zu erkennen. Das Publikum versagte sich oft willentlich jede menschliche Beurteilung und erfreute sich stattdessen an einer sakralen, unerreichbaren Hel27 Vgl. Larry Starr u. Christopher Alan Waterman, American Popular Music. From Minstrelsy to MTV, Oxford 2002; Klaus Harpprecht, Leonard Bernstein. Kein Mozart für Amerika? in:, ders., Amerikaner. Freunde, Fremde, ferne Nachbarn, München 1984, S. 257–269; André Jansson, The Mediatization of Consumption, in: Journal of Consumer Culture 2. 2002, S. 5–31; Jonathan Bignell, Postmodern Media Culture, Edinburgh 2000. 28 Vgl. Harris, Conducting, S. 40–47; sowie insges. Jim Samson, The Great Composer, in: ders. (Hg.), The Cambridge History of Nineteenth-Century Music, Cambridge 2002, S. 259–269. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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denfigur. Denn wer den in einen Charismatiker verwandelten Dirigenten persönlich als Menschen kennenlernen wollte, drohte seinen Rang zu verkennen.29 Dem Musikkonsum kommt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine staunenswerte Breitenwirkung zu. Er reicht von der Mozartkugel hin zum­ public viewing. Denn praktisch jedermann ist in der Lage, eine Aufführung auf den Leinwänden vor der Metropolitan Opera in New York, vor der Lindenoper in Berlin, oder vor Covent Garden in London zu genießen. Bernstein begriff es als seine Aufgabe, die eigene musikalische Begeisterung zu vermitteln, sei es im Freundes- und Kollegenkreis, sei es durch seine Bücher und Vorträge, sei es im Konzert und im Fernsehen. Es war überraschend, dass es Bernstein bei seinen Fernsehsendungen gelang, jugendlich zu wirken, auch als er schon über vierzig Jahre alt war. Durch das Fernsehen erreichte er ein breites Publikum, weil er die verschiedensten Bedürfnisse des medialen Zeitalters befriedigte. Er sah attraktiv aus, kleidete sich perfekt und geschmackvoll, zeigte seine akademischen Kenntnisse, vermochte E- und U-Musik, ja sogar die Musik der Moderne anschaulich zu präsentieren und – was noch besser war – klug zu erklären und das Publikum durch charmante Witze zu unterhalten. Bernstein wurde zum attraktiven Vertrauens- und Verkaufsprodukt.30 Er kannte seine medialen Kommunikationsmöglichkeiten ganz genau: Bringing music close to people: as you know that has always been my lifelong desire and goal. […] And I think there is nothing that comes near to television for this purpose. This is the best communicative means, and, after all, communication is what television is about.31

Eine für die breitere Bevölkerung oft anschlussfähige Bildungsstrategie war die Ausstrahlung von Konzerten für die Jugend. Leonard Bernstein brachte zwischen 1958 und 1973 regelmäßig die Young People’s Concerts mit den New Yorker Philharmonikern auf den amerikanischen Fernsehschirm und versuchte, ein jugendliches Publikum durch seine Themensendungen zu gewinnen.32 Unterstützt von einem Sinfonieorchester und Solisten demonstrierte er die Schönheiten der Musik von Bach bis Stravinsky, beschrieb die Wirkung von Jazz und 29 Vgl. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, Tübingen 19725, S. 654–687; sowie Hattinger, Dirigent, S. 156–186. 30 Vgl. Harold Schonberg, Die großen Dirigenten, Bern 1967, S.  321–28. Aufschlussreich sind auch die Betrachtungen seines Freundes Klaus Harpprecht, Bernstein, S. 257–269. 31 Zit. n. Burton, Bernstein. Video Man, S. 141. Vgl. John L. Holmes, Conductors on Record, London 1982. 32 Ein großer Teil dieser didaktisch vorzüglich aufgebauten und auch heute noch sinnlich bestechenden Fernsehserie ist auf neun DVDs erhältlich. Leonard Bernstein’s Young People’s Concerts with the New York Philharmonic. Special Collector’s Edition, CBS/ Kultur 1993, D 1503. Vgl. zu Bernsteins eigenem literarischen Engagement für heranwachsende Interessenten auch seine Bücher, zumal: Freude an der Musik, München 1963. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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die Struktur der Oper. Sein pädagogischer Stil, seine selbst verfassten Kommentare machten ihn zu einem fast konkurrenzlosen Vermittler klassischer Musik in den US -amerikanischen Wohnzimmern. Staunenswert war seine Fähigkeit, dem breiten Publikum musikalisches Wissen zu vermitteln, ohne professoral oder stilistisch konservativ zu wirken. Die Merkmale einer Sonatenhauptsatzform konnte er mit der Struktur eines Songs der Beatles erklären und mit Begriffen aus Basketballreportagen verzieren. Geschickt nutzte er Elemente der Jugendsprache, spielte mit dem gängigen Slang. Sein Ziel war es, Intellekt und Gefühl gleichermaßen zu nutzen.33 Die meisten Dirigenten zeigen ihre Fantasien und ihre Begierden relativ kontrolliert in der Öffentlichkeit. Diese Tatsache bildet eine Ursache für den ver­breiteten Zorn auf Bernsteins Temperament in der Gesellschaft. Denn er relativierte die bürgerliche Distanz zwischen musikalischer Hochkultur und sinnlicher Körperkultur. Genau dieses Verhältnis beziehungsweise Missverhältnis mobilisierte seine Anhänger ebenso wie seine Kritiker. Bernsteins extrovertierte Auftritte machten aus ihm eine zentrale Figur des amerikanischen Musiklebens. Charismatische Erfolge und groteske Selbstparodien sind gleichermaßen zu beobachten. Seine übersteigerte Gestik und Rede, seine besonderen Verhaltensmuster, Witze und Erklärungen verfestigten oder schwächten sein Ansehen, je nachdem, wie klug es ihm gelang, seine Übertreibungen geschickt einzusetzen. Jedenfalls erschienen seine Schlagtechnik und seine legendären Sprünge bei Konzerten seinen Kritikern als Balletteinlagen, als ausgetüftelte Choreographien. Ähnliches galt auch für sein Verhalten außerhalb des Konzertsaals. Er drückte und umarmte, verteilte Küsse und Streicheleinheiten an seine Um­stehenden bei fast jeder Gelegenheit, sei es bei der Begegnung mit Kollegen, sei es beim Empfang durch den deutschen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker in Bonn 1989.34 Zugespitzt formuliert: Seine Beziehung zur Musik war für ihn oft ein libidi­ nöses Erlebnis. Menschen, so seine Überzeugung, würden durch das Wissen über Musik und im Verlangen nach Musik seelisch und körperlich glücklich werden. Diese emotionale Vereinigung kam einem Liebesakt sehr nahe. Das machte er dem Journalisten Enrico Castiglione deutlich: Man muß rückhaltlos die Freude der Musik mitteilen, das Leid, den Schmerz, die Tragik oder die Unbeschwertheit, die in ihren Noten verborgen liegen, und man muss dieses ohne Hintergedanken tun, man darf sich nicht am Leid andere Menschen weiden. … Alle wie wir da sind, ich auf dem Podium, die Orchestermusiker, die Sänger, 33 Vgl. Robert S. Clark, Congruent Odysseys. Bernstein and the Art of Television, in: Ledbetter (Hg.), Sennets, S. 125–136. 34 John Rockwell, Bernstein Triumphant, S.  5–19. Bernsteins extravaganten Geschmack zeigte auch die Einrichtung seines großen New Yorker Apartments. Nach seinem Tod haben seine Kinder vieles davon versteigert. Vgl. den Katalog für die Auktion im Dezember 1997: Property from the Estate of Leonard Bernstein. Auction, Sotheby’s, New York 1997. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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haben jedes Mal Sex, wenn wir Musik machen. Meine Musiker sind meine Geliebten. Das ist eine ganze Menge, stimmt’s? Tausend Geliebte in einem einzigen Augenblick? Rein menschlich gesehen ist das eine außergewöhnliche Erfahrung, an der auch das Publikum teilhat.35

Als Bernstein 1973 auf Einladung Papst Pauls VI. in Rom dirigierte und von diesem zuvor in privater Audienz empfangen werden sollte, warnte ein Freund ihn vorher mit einem Eil-Telegramm, auf welche Weise er den Gastgeber zu küssen habe: »Denk dran: Auf den Ring, nicht auf den Mund.«36

V. Der Entdecker Gustav Mahlers? Dieses Bild zeigt Leonard Bernstein in einer charakteristischen emotionalen Pose. Er scheint vor Energie bei diesem Konzert mit einem großen Sinfonieorchester beinahe zu platzen. Der ganze Körper ist angespannt, die Arme weit nach oben gestreckt. Man erkennt seine Schlagtechnik, seinen erlernten körperlichen Zeichenkanon. Die geschlossenen Augen und die Lippenbewegungen lassen darauf schließen, dass er sich bei aller körperlichen Erregung auf die Bedeutung der interpretierten Komposition konzentriert. Die Kunst dieses Dirigenten war seine Fähigkeit, durch gezeigte Gefühle neue intellektuelle Entdeckungen zu ermöglichen. Jeder soll es sehen, mitstaunen, dadurch noch nie Gekanntes fühlen. Denn das von ihm hier 1970 in Tanglewood geleitete Boston Symphony Orchestra spielte Gustav Mahlers »Auferstehungssinfonie«  – eines von Bernsteins Schlüsselwerken. Dem Œuvre Gustav Mahlers fällt eine besondere Rolle in Leonard B ­ ernsteins Leben zu. Nach seinem hundertsten Geburtstag im Jahre 1960 engagierte sich Bernstein für die Rehabilitierung dieses vermeintlich nie zu Ruhm gelangten Komponisten. In Mahler erkannte er eine von Konservatismus, Antisemitismus und Nationalsozialismus ins Vergessen gedrängte Ausnahmebegabung. Bernstein war in der Tat der Erste, der 1967 eine Gesamteinspielung seiner Sinfonien mit den New Yorker Philharmonikern vorlegte. In einem Gespräch mit dem Journalisten Jonathan Cott, ein Jahr vor seinem Tod 1989, wies Bernstein stolz darauf hin, dass viele junge Leute in den 1960er Jahren Buttons am Revers trugen, auf denen »Mahler Grooves« stand: »Das war sehr gut. Ich kann mich erinnern. Und ich wette, Sie wussten nicht, dass ich diesen Slogan er­funden habe.«37

35 Castiglione, Bernstein, S. 60 f. 36 Zit. n. Jonathan Cott, Leonard Bernstein. Kein Tag ohne Musik, München 2012, S. 17. 37 Cott, Bernstein, S. 60. Vgl. D. K. Holoman, Talking About Music. The Maestro and the Masses or Reflections of a Child of the Sixties, in: Ledbetter (Hg.), Sennets, S. 142–147. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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Abb. 1: Leonard Bernstein, Tanglewood, 9. Juli 1970 (© UPI/landov).

Bernstein sprach Zeit seines Lebens voller Stolz davon, dass er vor allen anderen Künstlern Mahler wiederentdeckt habe. In dieser Hinsicht hatte er gleichzeitig Recht und Unrecht. Denn die Mahler-Renaissance in den USA setzte nicht mit Bernstein, sondern zuvor mit dem griechischen Dirigenten Dimitri Mitropoulos ein. Bereits seit 1951 gelang es Mitropoulos in Zusammenarbeit mit den New Yorker Philharmonikern und den Columbia Records, Gustav Mahlers oft unbekannt gebliebene Werke regelmäßig aufzuführen und einzuspielen. Dennoch ist die weltweite Mahler-Renaissance, die Wertschätzung Gustav Mahlers in den 1960er und 1970er Jahren ohne Bernsteins mediale Breitenwirkung kaum vorstellbar. Bernstein wusste nicht nur seine Emotionen didaktisch klug einzusetzen, sondern wurde von ihnen selbst getrieben, und verkannte dabei manche Tatsachen ganz, weil er als Initiator, nicht als Mitläufer gelten wollte. Denn bis zur nationalsozialistischen Verbotspolitik 1938 gab es in Wien regelmäßige Aufführungen der Sinfonien und des »Lieds von der Erde« durch die Philharmoniker, unter anderem unter der Leitung von Bruno Walter. Nach dem Zweiten Weltkrieg verzichtete man auch in Wien nicht auf Gustav Mahler. Um nur einige wenige Beispiel zu nennen: Im Jahre 1951 dirigierte Wilhelm Furtwängler die »Lieder eines fahrenden Gesellen«, 1952 leitete Rafael Kubelik die Fünfte Sinfonie, sang die Kontraaltistin Kathleen Ferrier die Kindertotenlieder, 1955 dirigierte Walter die Vierte Sinfonie.38 Es gab wichtige kulturelle und politische Ursachen für Bernsteins Engagement. In Gustav Mahler erkannte er einen Vermittler zwischen der musikalischen Romantik und der Moderne an der Wende zum 20.  Jahrhundert.39­ Mahlers neue Musik befremdete die Mehrheit der Zuhörer zwischen 1900 und 38 Vgl. die ausführlichere Analyse von Lebrecht, Maestro, S. 196–205; insges. William R. Trotter, Priest of Music. The Life of Dimitri Mitropoulos. Portland, OR , 1995. 39 Leonard Bernstein, Erkenntnisse. Beobachtungen aus 50 Jahren, Hamburg 1983, S. 179: »Es handelt sich also um eine Auseinandersetzung zwischen Mahlers brennender Lebensliebe und einem Gefühl des Abscheus vor eben diesem Leben, zwischen einer leidenschaftlichen Sehnsucht nach einem Himmel und der Todesangst.« © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

Von der unendlichen Vielfalt der Gefühle

1960 durch ihre Kontraste, welche den Verlust des erreichten musikalischen Standards fürchten ließen. Regelmäßig bemängelte die Kritik, dass Mahler die musikalischen Regeln und mithin letztlich den gesellschaftlichen Rang der »großen« Aufführungen gefährde. Gustav Mahler suchte neue Ausdrucksformen in seinen Sinfonien. Es entstanden zweisätzige (die Achte)  und sechssätzige Sinfonien (die Dritte), Werke mit einem riesigen Orchesterapparat und mit riesigen Chören, mit musikalischen Unterbrechungen, Fragmentierungen und Wiederholungen. Formal betrachtet verschränkte Mahler die Gattung der Sinfonie und des Liedes, ästhetisch betrachtet rechtfertigte er alles Übermaß, nutzte Diskontinuität und Eklektizismus. Mahler konzipierte seine Sinfonien in der Kategorie des Universalen und versuchte, in einem Experiment die Welt zu erschaffen, indem er sie musikalisch beobachtete.40 Genau deshalb fühlte sich Bernstein berufen, für diesen Wanderer zwischen den Welten der musikalischen Tradition und der sinfonischen Innovation zu kämpfen. Nach seiner Auffassung hatten erst die gesellschaftlichen Verwerfun­ gen, totalen Kriege und Massenmorde der letzten Jahrzehnte es ermöglicht, Mahler zu begreifen. Bereits Theodor W. Adorno erkannte in Mahlers ästhetischen Provokationen seine Aktualität für das 20. Jahrhundert.41 Folgt man der Metapher von Leonard Bernstein, dann erscheint Mahler als ein Koloss, der mit gespreizten Beinen über der zeitlichen Grenze des 19. Jahrhunderts steht. Der eine Fuß ruht im kulturell relativ sicheren 19., der andere im relativ unsicheren 20. Jahrhundert: Das Ergebnis all dieser Übertreibungen ist natürlich jene neurotische Intensität, die so viele Jahre als unerträglich abgelehnt wurde und in der wir uns – heute – widergespiegelt finden. Und zugleich entdecken wir, gleichsam als Nebenprodukte: eine Ironie, die unbegreiflich bitter ist; Sentimentalitäts-Ausbrüche, unter denen noch heute so mancher Hörer sich windet. […] Kein empfindsamer Mensch kann Mahlers IX. Symphonie in sich aufnehmen, ohne von ihr erschöpft und geläutert zu werden. Und dies ist das triumphale Resultat dieses Fegefeuers. […] Dies rechtfertigt alles Übermaß: dass wir ganz zuletzt einem geheimnisvollen Strahlen begegnen, einem Schimmer, das uns ahnen lässt, wie Frieden beschaffen sein könnte.42

Beim Studium der Partitur kombinierte Bernstein sein stupendes musikalisches Wissen mit seinen eigenen Gefühlen. Alles beginnt für ihn mit der Komposition, die erst die Kommunikation erlaube und dadurch Erkenntnisse liefere. Dabei geht es Bernstein nicht primär um Bildung, aber um Neugier, um Ana40 Vgl. K. M. Knittel, »Ein hypermoderner Dirigent«. Mahler and Anti-Semitism in Fin-desiècle Vienna, in: 19th-Century Music 18. 1995, S. 257–276; Renate Ulm (Hg.), Gustav Mahlers Symphonien. Entstehung, Deutung, Wirkung, München 2002². 41 Vgl. Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften, Bd. 5, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt 2003; ders., Die musikalischen Monographien, Frankfurt 1986³, S. 149–319. 42 Bernstein, Erkenntnisse, S. 177–186, hier S. 182 f. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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lyse, um Bereitschaft zur Partizipation. Das galt zumal für eine Orchesterprobe. Bernstein verlangte von den Musikern, die eigene Distanz aufzugeben, um gut musizieren zu können. Das sinfonische Konzert beruhte auf den Prämissen eines Lernprozesses, demzufolge das Werk einerseits der Konzentration und andererseits der Hingabe der Musiker bedürfe. Bernstein sagte darüber: Man kann keinen der Takte von Mahlers Musik dirigieren, ohne etwas von sich selbst zu geben: Jede Wendung, jeder Ausbruch, jede Temposteigerung ist so intensiv, dass die Musik mit der größten Anteilnahme ausgeführt werden muss. […] Wenn es aber stimmen sollte, dass Mahlers Erfolg meinen Interpretationen zu verdanken ist, dann bin ich zufrieden. […] Ich halte mich nicht für den besten [Mahler-Interpreten], doch ich muss sagen, dass ich mich seiner Musik sehr verwandt fühle; manchmal glaube ich fast, diese Symphonien selbst geschrieben zu haben.43

Bei einer Probe der Fünften Sinfonie Gustav Mahlers mit den Wiener Philharmonikern unter Bernstein im Jahre 1975 erlebten die Musiker einen eigenwilligen emotionalen Lernprozess. Denn eine kollektive Belohnung war gepaart mit gleichzeitiger Kontrolle und Strafe. Bernstein lehrte, die Kontrolle der Affekte aufzugeben, denn nur das ermögliche gute Musik. Glücklicherweise wurde diese Probe in Auszügen für das Fernsehen aufgezeichnet. So kann man Bernsteins Unbehagen heute noch erkennen. Denn mitten im ersten Satz klopfte er ab und hielt den Musikern vor, ohne Feuer gespielt zu haben. Leidenschaft sei gefragt, um Mahler gekonnt zu interpretieren, nicht die Sehnsucht nach dem Feierabend. »Ich weiß wohl, dass dies nur Probe ist. Aber was probieren wir? Die Noten können Sie spielen, das weiß ich. Es ist Mahler, das fehlt. Diese klagende … Jedes Tremolo soll Maximum sein. Kleiner Höhepunkt wie [Ziffer] 18 hier.« Dann imitierte er mit seinen Armen ein bewegungsarmes Geigenspiel. »Man kann nicht so spielen. Mahler, das geht nicht. Das ist kein Mahler. Warum probiert man? Ist es nur die Idee zu haben?« Er setzt wieder zum Dirigat an: »­ [Ziffer] 17. Bitte. I don’t care about your acht Stunden. Wir arbeiten oder wir arbeiten nicht. Wir werden kein Mahler haben.«44 Bernstein verlangte von seinen Musikern, ihm mit der gleichen Emphase zu folgen, die er bei seinem Dirigat an den Tag legte. Darin lag aber ein Gefahrenpotential. In den Gesichtern mancher Musiker war blanke Angst zu erkennen. Denn Bernstein verknüpfte zwei Bedeutungsebenen miteinander: die Erfül-

43 Castiglione, Bernstein, S. 72. Noch deutlicher heißt es im Gespräch mit Cott, Bernstein, S. 82: »Andere Dirigenten haben einfach nicht den Mut, zu spielen, was Mahler geschrieben hat, das ist alles. Ich bin Komponist, und ich verstehe, was er meinte. Das ist der Unterschied.« 44 Diese Dokumentation der Regisseure Humphrey Burton und Horant H. Holfeld wurde 1975 von ORF und ZDF produziert und gesendet. Das Zitat übernimmt auch Bernsteins grammatische Fehler. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

Von der unendlichen Vielfalt der Gefühle

lung und die Gefährdung akzeptierter sozialer und kultureller Regeln. Der in sich selbst begründete Widerspruch war letztlich unlösbar. Musikalische Aufführungen versprachen zu verführen und durften genau das aber nach den geltenden bildungsbürgerlichen Verhaltensregeln dieser Zeit nicht zulassen. Viele Musiker fürchteten sich vor Bernsteins Emotionen. Der Dirigent Michael Gielen urteilte rückblickend scharf über Bernsteins Mahler-Interpretation, denn er habe Mahler nicht nur popularisiert, sondern auch zu sehr emotionalisiert: Er hat ihn verkitscht. […] Bernstein bauscht alles total auf, er ist sehr unsachlich. Er überträgt seine privaten Emotionen in die Interpretation der Musik. Ich fürchte, ihm ist seine eigene Emotionalität wichtiger als die Partitur. Ich glaube, es ist ein gigantisches Missverständnis, dass die große Mahler-Renaissance mit Bernstein anfängt, denn Bernstein hat sentimentalisiert und übertrieben.45

Doch trotz eines berechtigten Kritikpunktes verkannte Gielen das Gefühlsleben von Bernstein. Denn Bernstein unterschied bei der Probenarbeit und bei der Aufführung scharf zwischen guten und schlechten Emotionen. Leidenschaft könne nur durch Kenntnis gelingen. Oberflächliche Gefühle seien schlecht, die guten zeichneten sich dagegen dadurch aus, dass sie sich durch erarbeitetes Wissen begründen ließen. Ich bin überzeugt, dass […] eine rein emotionale Interpretation, ohne intime Kenntnis der einzelnen Details, die Mahler hineinkomponiert hat […] eine hoffnungslose Angelegenheit ist. Aber ich habe solche Interpretationen schon gehört. Sie zeugen immer von einem Mangel an Wissen, und die Aufführungen werden zur reinen Zurschaustellung oberflächlicher Emotionen – man zeigt sich dann zum Beispiel sehr bewegt, wenn die Musik bewegend ist.46

VI. Versuche, durch Distanzlosigkeit Glück zu vermitteln Leonard Bernstein war ein einzigartiger Vermittler zwischen Verstand und Gefühl, Kontrolle und Kontrollverlust. Bernsteins Talent als Künstler lag darin, mit seiner Umgebung die eigenen erlebten Gefühle zu teilen, jedermann seine Visionen, Hoffnungen und Ängste zu zeigen, viele zu motivieren, sich ohne Hemmungen auf diese persönliche Auseinandersetzung einzulassen, ohne durch oberflächliche Showeinlagen die Bedeutung der Musik zu verkennen. Nicht zu Unrecht hoffte Bernstein, dabei die künstlerischen Fähigkeiten von emotional so unterschiedlichen Dirigenten wie Felix Mendelssohn Bartholdy und Richard Wagner gleichermaßen zu nutzen: 45 Michael Gielen, Bernstein hat Mahler verkitscht, in: Wolfgang Schaufler (Hg.), Gustav Mahler. Dirigenten im Gespräch, Wien 2013, S. 100–107, hier S. 103. 46 Cott, Bernstein, S. 83. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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Mendelssohn begründete die ›elegante‹, Wagner die ›leidenschaftliche‹ Schule des Dirigierens. […] Für sich allein aber bleibt jeder [Stil; SOM] unbefriedigend und ein Missbrauch, dem man bisweilen begegnet, wenn Wiedergaben zwar klar, aber leblos und trocken wie Sand sind, oder andererseits die Leidenschaft der Einfühlung in offene Verfälschung ausartet. Der ideale Dirigent vereinigt also beide Stile – eine Synthese, die schwer, ja eigentlich unerreichbar scheint.47

Bernsteins vielleicht auffälligstes Charakteristikum war seine Distanzlosigkeit. Hierin liegt eine Quelle seiner Faszination auf Musiker und Publikum. Er zeigte die Möglichkeit, durch die Aufgabe der körperlichen Disziplin die Welt zu bereichern. Er grüßte jeden, umarmte jeden, nahm an jedem Gesprächsthema teil und imitierte jede Verhaltenspraxis, die ihm gefiel. Er wurde nicht müde, die Welt durch sein Wissen zu belehren und glaubte an die Durchschlagskraft seiner Ideen und seiner Emotionen. Vielleicht hoffte er, die Welt würde ihn abgöttisch lieben, weil er allen zeigte, dass er in der Lage sei, sie zu lieben. Leonard Bernstein setzte seine Talente ein, um die emotionale Gestaltungskraft der Musik in der Gesellschaft zu stärken. Ihm gelang es, das Imperfekte zu stimulieren, Neugier zu nähren, Unruhe wach zu halten, Energie zu liefern und so die Anziehungskraft des Spektakels zu steigern. Seine Inszenierungen der eigenen Person dienten sicher seiner fraglos stark ausgeprägten Eitelkeit. Doch letztlich warb er für die unbegreiflichen Schönheiten der Musik im menschlichen Leben. Vielleicht motivierte ihn sein Glaube daran, dass gemeinsam erlebte Emotionen im Musikbetrieb die unterschiedlichsten Menschen zu einer Gemeinschaft des Fühlens verbinden könnten. Bernstein als einen Dirigenten der Emotionen darzustellen ist keine reine Erfolgsgeschichte. Sicher aber scheint, dass er als erfolgreicher Vermittler zwischen den Menschen und ihren Leidenschaften wirkte. Der Dirigent muss sein Orchester nicht nur zum Spielen bringen. Er muss den Musikern auch noch den Wunsch und das Bedürfnis zu spielen einflößen. Durch Schmeichelei, Forderung oder Zorn muss er sie begeistern und mitreißen. Wie er das macht, ist ganz gleichgültig, wenn er nur das Orchester dazu bringt, die Musik so zu lieben wie er selbst. Das erreicht er aber nicht dadurch, dass er ihnen wie ein Diktator seinen Willen aufzwingt. Eher muss er seine Gefühle so ausstrahlen, dass sie auch noch den letzten Mann an der zweiten Geige erreichen. Wenn das eintritt  – wenn 100 Menschen genau und zur gleichen Zeit, seine Gefühle teilen, wenn sie wie ein Mann jedem Steigen und Fallen, jeder Wendung und jeder inneren Bewegung folgen – dann entsteht eine Gemeinschaft des Fühlens, die nicht ihresgleichen hat. Unter allen menschlichen Be­ziehungen, die ich kenne, ist es diese, die der Liebe am nächsten kommt.48

47 Bernstein, Freude an der Musik, S. 114. 48 Ebd., S. 141. Vgl. Gustav Kuhn, Aus Liebe zur Musik. Über Dirigieren, Berlin 1993. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

Grenzüberschreitung und Aneignung

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Toru Takenaka

Musik hören mit dem Kopf Soziokulturelle Mechanismen der Rezeption westlicher Musik im modernen Japan*

I. Westliche Musik in Japan: Paradebeispiel eines Musiktransfers Musik überschreitet Grenzen. Popsongs aus den Vereinigten Staaten stürmen oft rasch die Charts anderer Länder, berühmte Bands werden auf Tourneen rund um den Globus von begeisterten Zuschauern empfangen. Die Verwendung fremder musikalischer Idiome ist nichts Außergewöhnliches. In der westlichen Kunstmusik finden sich häufig nicht-europäische Tonalitäten, Rhythmen, Instrumente und Gesangsstile. Solche Entlehnungen existieren jedoch nicht nur in der heutigen globalisierten Welt mit ihren hoch entwickelten Reproduktions­ technologien. Vielmehr war Musik seit jeher in Bewegung: Im Gepäck von Migranten, Händlern und Soldaten ging Musik oft auf Reisen, teils über Kontinente und Meere hinweg. Dieser grenzüberschreitende Musiktransfer ist ein universelles Phänomen, auch wenn es in den letzten Jahrhunderten aufgrund verbesserter Kommunikations- und Transportwege häufiger und deutlicher in Erscheinung trat. Sobald Musik ihre gewohnte Umgebung verlässt, wird sie einem Akkulturationsprozess unterworfen, der in den Bedingungen eines grundlegend neuen sozialen Kontextes wurzelt. Dieser Akkulturationsprozess bringt eine Vielzahl von Änderungen mit sich: Sowohl Melodie, Tonalität und Rhythmus als auch die Performanz eines Werkes können sich auf verschiedenste Weise ändern, neue Formen sozialer Interaktion das Musizieren begleiten. Zusätzlich kann ein anderes Wertesystem der musikalischen Aufführung neue Bedeutungen und Funktionen zuschreiben. Musikalische Transferprozesse sind unter anderem von Musikethnologen gründlich erforscht worden. Sie haben jedoch auch zunehmend das Interesse der transnationalen Geschichte geweckt, da hier Prozesse der Alteration, Anpassung und Fusion musikalischer Formen im Zuge grenzüberschreitender Bewegungen und Kontakte aufgezeigt werden können.1 * Japanische Namen stehen, wie in der japanischen Sprache üblich, in diesem Artikel mit Ausnahme der Bibliographie in der Reihenfolge Nachname – erster Vorname. 1 Margaret J. Kartomi, The Process and Results of Musical Culture Contact, in: Ethnomusicology 25.  1981, S.  227–249; Bruno Nettl, The Western Impact on World Music. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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Einer der bemerkenswertesten Fälle ist sicherlich die Rezeption westlicher Kunstmusik in Japan seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Wohl nirgendwo sonst lässt sich ein so tiefgreifender Musiktransfer in so kurzer Zeit beobachten.2 Um dessen Tragweite in Gänze zu erfassen, muss man bedenken, dass die japanische Bevölkerung bis zur Öffnung des Landes im Jahre 1853 in keinerlei Berührung mit westlicher Kunstmusik gekommen war. Das kulturelle Leben J­apans war seit Jahrzehnten durch die Isolationspolitik des Shogunats geprägt und gänzlich von der Außenwelt abgeschottet. Die einzige Ausnahme bildete eine Kolonie niederländischer Kaufleute, die unter strenger Überwachung durch die japanischen Behörden auf einer kleinen Insel ansässig waren. Hierbei kam es auch zu wissenschaftlichen Austauschbeziehungen; musikalische Begegnungen sind dagegen nicht überliefert. Hinzu kam, dass traditionelle japanische Musik kaum Gemeinsamkeiten mit westlicher Musik aufwies: Sowohl Akkorde (und damit auch Harmonien) als auch metrische Rhythmen waren ihr fremd. Ebenso unterschied sich die Performanz insofern, als dass Musik hauptsächlich der Untermalung von Theateraufführungen oder der Unterhaltung im Teehaus diente, es hingegen keine reinen musikalischen Aufführungen in Form von Konzerten gab. Zudem war Vokalmusik weit mehr verbreitet als Instrumentalmusik und bestand zum Großteil aus narrativer Rezitation und weniger aus Melodien. Vor diesem Hintergrund lässt sich leicht nachvollziehen, dass die euro­päischen Change, Adaptation and Survival, New York 1985; Jürgen Osterhammel, Globale Horizonte europäischer Kunstmusik 1860–1930, in: Geschichte und Gesellschaft 38. 2012, S. 86–132; Richard D. Wetzel, The Globalization of Music in History, London 2012. Der folgenden Monographie fehlt die sozialhistorische Perspektive und sie konzentriert sich zu sehr auf die Beeinflussung westlicher Kunstmusik durch den Orient: Peter Gradenwitz, Musik zwischen Orient und Okzident. Eine Kulturgeschichte der Wechselbeziehungen, Wilhelmshaven 1977. Zu Musiktransfers innerhalb Europas oder von Europa in die Vereinigten Staaten s.: Michael Saffle, »Do you Ever Dream of Vienna?« America’s Glorification of Musical Central Europe. 1865–1965, in: Susan Ingram u. a. (Hg.), Identität  – Kultur  – Raum. Kulturelle Praktiken und die Ausbildung von Imagined Communities in Nordamerika und Zentraleuropa, Wien 2001, S. 59–76; Sven Oliver Müller, »A Musical Clash of Civilization?« Musical Transfers and Rivalries around 1900, in: Dominik Geppert u. Robert Gerwarth (Hg.), Wilhelmine Germany and Edwardian Britain. Essays on Cultural Affinity, Oxford 2008, S. 305–329; Jessica C. E. Gienow-Hecht, Sound Diplomacy. Music and Emotions in Transatlantic Relations. 1850–1920, Chicago 2009. 2 Über die Geschichte westlicher Musik im modernen Japan s.: William P. Malm, The Modern Music of Meiji Japan, in: Donald H. Shively (Hg.), Tradition and Modernization in Japanese Culture, Princeton, NJ 1971, S. 257–300; Irene Suchy, Deutschsprachige Musiker in Japan vor 1945. Eine Fallstudie eines Kulturtransfers anhand der Rezeption abendländischer Kunstmusik in Japan, Phil. Diss., Wien 1992; Ury Eppstein, The Beginnings of Western Music in Meiji Era Japan, New York 1994; Sondra W. Howe, Luther W ­ hiting Mason. International Music Educator, Warren 1997; Mattias Hirschfeld, Beethoven in Japan. Zur Einführung und Verbreitung westlicher Musik in der japanischen Gesellschaft, Hamburg 2005. Über die indigenen Komponenten in der zeitgenössischen Musikszene s.: Hugh de Ferranti, »Japanese Music« Can Be Popular, in: Popular Music 21. 2002, S. 195–208. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

Musik hören mit dem Kopf

Klänge b:ei ihrer Ankunft im kulturell isolierten Land reichliches Staunen in der Bevölkerung auslösten. Die japanische Rezeption der ungewohnten, fremden Klänge wurde unter anderem im Tagebuch eines hochrangigen Samurai aufgezeichnet, der 1860 als Mitglied der ersten Delegation des Shoguns in die USA gesandt wurde und bei dieser Gelegenheit in Kontakt mit dem westlichen Musikleben kam. Als er auf die Einladung eines amerikanischen Regierungsbeamten hin bei diesem dinierte, sang dessen Tochter mit Klavierbegleitung zur Unterhaltung der Gäste aus dem fernen Osten. Der Samurai schrieb darüber in seinem Tagebuch: »Ihre Stimme glich einem Hund, der zu Mitternacht jault … Ich hatte Schwierigkeiten, mein Lachen zu unterdrücken.«3 Die neuartigen europäischen Klänge stießen auch bei der allgemeinen Bevölkerung auf wenig positive Resonanz. So endete die Aufführung einer britischen Operettengruppe in Tokio 1879 in einem Debakel: Das Publikum buhte die Sänger aus, vor allem Soprane wurden Ziel der Buhrufe, da ihr Gesang Assoziationen mit »einem erwürgten Huhn, das seinen Todesschrei ausstößt« hervorrief.4 In Anbetracht dieser Umstände ist es bemerkenswert, wie schnell westliche Musik zu einem kulturellen Bestanteil der Meiji-Gesellschaft avancierte. Schon im Jahr 1879, nur ein Jahrzehnt nach der Meiji-Restauration, wurde die Ausbildung in westlicher Musik mit der Gründung eines Musikforschungs­instituts institutionalisiert, welches dem Bildungsministerium unterstellt wurde. Im Jahr 1887 wurde das Institut umstrukturiert: Die Musikakademie Tokio wurde zu einer ganzheitlichen Ausbildungsstätte für westliche Kunstmusik. Die Akademie gliederte sich in eine Abteilung für Gesang und eine für die Instrumentalausbildung, wobei letztere wiederum in Klavier, Orgel und andere Instrumentengruppen unterteilt war. Das Curriculum der Akademie legte einen besonderen Wert auf die Klavierausbildung und schrieb teilweise Klavierunterricht von bis zu 15 Stunden pro Woche vor. Auch Theorieunterricht wie etwa Harmonielehre war Pflicht.5 Der Unterricht umfasste beispielsweise Werke von Mozart und Beethoven; traditionelle japanische Stücke standen dagegen kaum auf dem Lehrplan. Die Dozenten wurden von bekannten europäischen Institutionen berufen. Unter ihnen waren erstklassige Musiker wie Rudolf Dittrich, der später Orgelprofessor am Wiener Konservatorium werden sollte.6 Das Unterrichten von Anfängern, die vor ihrem Eintritt in die Akademie noch nie ein Klavier zu Gesicht bekommen hatten, war eine arbeitsaufwändige und oft frustrierende Arbeit für Musiker dieses Ranges. Trotz gelegentlicher Konflikte 3 Takeshi Osatake, Bakumatsu kengai shisetsu monogatari. Iteki no kuni he [Geschichte der ausländischen Delegationen am Ende des Shogunats. Menschen auf dem Weg in die Länder der Barbaren, 1929], Tokio 1989, S. 28 f. 4 Keizō Horiuchi, Ongaku gojūnen shi [Fünfzig Jahre Musikgeschichte, 1942], Tokio 1991, S. 118. 5 Tōkyō Geijutsu Daigaku (Hg.), Tōkyō Geijutsu Daigaku hyakunen shi [Einhundert Jahre Universität der Künste Tokio], Tokio 1987, Bd. 1, S. 463–465. 6 Hiroko Hirasawa, Rudolf Dittrich. Leben und Werk, Diss., Wien 1996. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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widmeten sich die Dozenten ihrer Aufgabe mit großem Engagement und legten so wichtige Grundlagen für die Verankerung der musikalischen Ausbildung im Land. Außerdem spielten sie eine entscheidende Rolle dabei, japanische Jungkünstler in die Musikwelt Europas einzuführen. So wurden die begabtesten Studenten der Akademie zu weiterführenden Studien nach Europa, insbesondere nach Leipzig und Berlin, geschickt.7 Mit dem Aufbau eines westlich ausgerichteten Musikausbildungswesens stieg die Popularität dieser Musik in Japan an, und zwar besonders nach der Jahrhundertwende.8 Angehörige höherer Schichten gründeten Musikalische Gesellschaften, um regelmäßige Konzerte zu organisieren, und studentische Musikvereine, die sich dem gemeinsamen Musizieren widmeten, schossen wie Pilze aus dem Boden.9 Vor allem intellektuelle Kreise hegten eine Vorliebe für westliche Musik und das Wissen darüber. Ein zeitgenössischer Roman beschreibt, wie die Geige unter japanischen Schülerinnen zum beliebten Modeobjekt wurde.10 Dieser Trend erfasste auch die Populärkultur. Beliebte Lieder mit westlichen Melodien und Harmonien begannen traditionelle Elemente zu ersetzen, wie insbesondere der nach dem Ersten Weltkrieg einsetzende Operetten-Boom an den Theatern in Asakusa, Tokios damaligem Vergnügungsviertel, illustriert. Neue städtische Unterhaltungsformen zogen die Massen an, und die Sängerinnen und Sänger dieser Theater wurden zu Stars der auf­ strebenden Musikindustrie. Allerdings sollte der Beitrag dieses Trends zu einer höheren Wertschätzung von Kunstmusik nicht überbewertet werden, zumal die Werke stark vereinfacht oder gar »deformiert« aufgeführt wurden. Nichtsdestoweniger machte der Boom sogar niedere Gesellschaftsschichten mit Stücken wie »Carmen« und »Orpheus in der Unterwelt« vertraut.11 Insgesamt machte die Verbreitung westlicher Kunstmusik also stetig Fortschritte, obgleich sie zuweilen Rückschläge einstecken musste, wenn etwa Anhänger traditioneller Musik eigene Vereine gründeten. Daneben ließ die aufkommende nationalistische­ Euphorie während des chinesisch-japanischen Krieges (1894–95) Militärmusik so populär werden, dass letztere die Kunstmusik fast gänzlich zum Verstummen brachte. 7 Toru Takenaka, Meiji ki no yōgaku ryūgakusei to gaikokujin kyōshi [Überseeische Studenten der westlichen Musik und ausländische Musiklehrer in der Meiji-Zeit], in: Osaka University (Hg.), Bulletin of the Graduate School of Letters 47. 2007, S. 1–25. 8 Shū Amaya, Yōgaku no kinkyō [Aktuelle Themen westlicher Musik], in: Ongaku 11. 1907, S. 13. 9 Hyōfū Akiba, Gakusei ongakukai shokan [Einige Gedanken über studentische Musikvereinigungen], in: Ongakukai 2. 1909, S. 45 f. 10 Sōseki Natsume, Sanshirō [1909], Tokio 1952, S. 235. 11 Opern und Operetten wurden niemals komplett aufgeführt, sondern auf einprägsame Arien reduziert. Auch Rezitative wurden durch melodielose Erzählungen ersetzt. Das Orchester war klein und bestand meist aus maximal zehn Spielern. Vgl. Jūichi Miyazawa, Asakusa Opera [Asakusa-Oper], in: Nihon Kaigi (Hg.), Kindai Nihon to Ongaku, Tokio 1976, S. 80 f. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

Musik hören mit dem Kopf

Die Verbreitung der westlichen Kunstmusik wurde auch von der aufkommenden technischen Herstellung von Tonträgern beschleunigt. In Japan entstand der Schallplattenmarkt zu Beginn des 20. Jahrhunderts und wurde zuerst noch von lokaler, traditioneller Musik dominiert. Im Laufe der Zeit stieg der Anteil der westlichen Musik jedoch so rapide, dass in den zwanziger Jahren westliche Schallplatten den japanischen Markt beherrschten. Diese Entwicklung hielt an und machte Japan in den Zwischenkriegsjahren zum weltweit größten Markt für Kunstmusik.12 Japan entwickelte sich innerhalb eines halben Jahrhunderts von einem musikalischen Niemandsland zu einem der Kernmärkte westlicher Musik. Wie war ein so bemerkenswerter Musiktransfer möglich? Zur Beantwortung dieser Frage werden im Folgenden Kommunikationsprozesse untersucht, die mit dem transkulturellen Musiktransfer einhergingen.

II. Musiktransfer »von oben« Zuerst ist das staatlich geförderte Modernisierungsprogramm hervorzuheben, das eine bedeutende Rolle gespielt hat. Angesichts der existentiellen Bedrohung durch die westlichen Mächte führte die Meiji-Regierung energisch Reformen zur Realisierung von »Wohlstand und Macht« ein, die unter anderem auch eine staatliche Förderung westlicher Kultur mit sich brachten. Die Verknüpfung von westlicher Musik und Modernisierung zeigt sich in drei Bereichen, mittels derer westliche Musik in den frühen Jahren des Meiji-Staates eingeführt wurde: Militärkapellen, Hofmusiker und Grundschulen. Für die junge Nation war die Neustrukturierung des Militärwesens eine der dringlichsten Aufgaben. In diesem Rahmen wurde die erste Militärkapelle 1869 im Fürstentum Satsuma unter der Leitung eines britischen Offiziers gegründet, der später von der Reichsregierung abgelöst wurde. Mit dieser Kapelle nahm in Japan die gezielte Ausbildung in westlicher Musik ihren Anfang. Hauptaufgabe der Musiker war es, Paraden und Festlichkeiten von Marine und Armee musikalisch zu begleiten. Daneben spielten sie oft Blechblasmusik in Parks und auf anderen öffentlichen Plätzen. Dass Hofmusiker sich westliche Musik zu eigen machten, mag auf den ersten Blick überraschen, da der Kaiserhof traditionell eine Hochburg alter Rituale und Gebräuche war. Es wurde jedoch schon früh ein europäisches Protokoll am kaiserlichen Hof eingeführt, in erster Linie, um den Kaiser bei diplomatischen Treffen mit Repräsentanten aus der westlichen Welt als ebenbürtigen Souverän erscheinen zu lassen. Die Hofmusiker, die neben ihrer Beschäftigung mit der althergebrachten zeremoniellen Musik auch westliche Instrumente erlernten, 12 Yoshihiro Kurata, Nihon rekōdo bunkashi [Die Kulturgeschichte von Tonträgern in Japan], Tokio 1979, S.  132, 228–230; Toshio Oka, Rekōdo no sekaishi [Eine globale Geschichte von Tonträgern], Tokio 1986, S. 104. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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traten bei solchen Staatsfeierlichkeiten und -empfängen auf. Außerhalb des kaiserlichen Hofes trugen sie als Lehrer und konzertierende Künstler einen großen Teil zur Popularisierung westlicher Musik bei.13 Zudem erkannte die Meiji-Regierung frühzeitig das erzieherische Potential von Musik für den japanischen Nationsbildungsprozess. Als man daher mit dem Bildungsgesetz von 1872 die Umrisse eines Schulsystems nach westlichem Vorbild festlegte, wurde die Schulpflicht und zugleich Musik als Pflichtfach eingeführt. Gewiss galten diese Reformen zunächst allein auf dem Papier: Es mangelte an fähigen Lehrkräften und ausreichender Ausstattung der Klassenräume. Selbst als der Musikunterricht an Schulen endlich Verbreitung fand, bestand er einzig im gemeinsamen Singen. Dessen ungeachtet darf die Rolle der öffentlichen Bildungseinrichtungen in Bezug auf die Verbreitung westlicher Musik in allen gesellschaftlichen Bereichen nicht unterschätzt werden.14 Jeder der drei oben aufgeführten Bereiche stand in engem Zusammenhang mit der Regierungspolitik, die versuchte, modernen Institutionen des Westens nachzueifern. Über diese institutionellen Kanäle hielt die westliche Musik auch Einzug in das gesellschaftliche Leben Japans. Marius Jansen, der in seiner Forschung die Bedeutung der Regierungsinitiativen für die Rezeption westlicher Musik herausstellt, ist daher nur zuzustimmen.15 Es sollte aber hinzugefügt werden, dass in jedem der oben genannten Einflussbereiche mit dem Musiktransfer auch eine strategische Absicht verbunden war. Das heißt, Musik wurde nicht um ihrer selbst willen eingeführt; vielmehr war sie Mittel zum Zweck, sei es für die Umstrukturierung des Militärs, für eine neue höfische Etikette oder bessere Bildung. Vor allem im Anfangsstadium, als die fremde Musik Spannungen und Unwillen hervorrief, rückte man deren praktische Funktion in den Vordergrund und ließ ihre ästhetischen Qualitäten unerwähnt. Dies erleichterte es dem Publikum, sich der westlichen Musik zu öffnen. Dieser Mechanismus der Instrumentalisierung von Musik zur Neutralisierung negativer Emotionen äußerte sich auch darin, dass sich erst mit der Eröffnung der Musikakademie allmählich eine Auffassung verbreitete, der gemäß Musik an sich ein ästhetischer Wert zukomme. Ohne ein solches Bewusstsein für den ästhetischen Autonomie-Anspruch westlicher Kunstmusik wäre eine solche hochspezifische Ausbildung nicht möglich gewesen. Es wäre allerdings voreilig, daraus zu schließen, dass die Eigenheiten westlicher Musik im Japan 13 Rihei Nakamura, Yōgaku dōnyūsha no kiseki. Nihon kindai yōgaku shi josetsu [Profile von Pionieren westlicher Musik. Prolegomena zur Geschichte westlicher Kunstmusik], Tokio 1993, S. 67–115. Die Verwestlichung des Lebens am Hof wurde von einem deutschen Aristokraten aufgezeichnet, der nach Tokio eingeladen worden war, um westliche Elemente am japanischen Hof einzuführen. Vgl. Ottmar von Mohl, Am japanischen Hofe, Berlin 1904. 14 Masami Yamazumi, Shōka kyōiku seiritsu katei no kenkyū [Studie über die Anfänge schulischer Musikausbildung], Tokio 1967. 15 Marius B. Jansen, The Making of Modern Japan, Cambridge, MA 2000, S. 475 f. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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der Meiji-Zeit umgehend verinnerlicht wurden. Denn ein Musikgeschmack, der sich aus jahrhundertealten kulturellen Traditionen speiste, konnte sich kaum innerhalb von ein oder zwei Dekaden grundlegend verändern. Hier ergab sich die Instrumentalisierung aus dem Wunsch nach einem bestimmten »standard of civilization«.16 Für die Meiji-Japaner mit ihrem ausgeprägten Nationa­lismus war es das einmütige Ziel, in den Kreis der westlichen Länder aufgenommen zu werden; um dies zu erreichen, wurde es als notwendig erachtet, sich an deren Werte- und Normensystem anzupassen. Dies war im Bereich des internationalen Rechts am wichtigsten, aber auch mit Blick auf Gewohnheiten und Verhaltensweisen der Bevölkerung setzten Bemühungen ein, dem angenommenen »standard of civilization« gerecht zu werden. Interesse an und Verständnis für anspruchsvolle Kunst wurde dabei als ein begleitendes Element angesehen. All dies hatte zur Folge, dass Japaner sich mit Kunstmusik beschäftigen mussten, egal ob sie ihnen gefiel oder nicht. Diese Konsequenz formulierte auch Isawa Shūji, der Gründer der Musikakademie, mit der Aussage, dass es das Hauptziel der Musik sei »der Aufklärung zu voller Blüte zu verhelfen […] und die Zivilisation Früchte tragen zu lassen.«17 Gemäß dieser Logik war es die Pflicht eines jeden Bürgers, sich der Zivilisation und somit auch der Kunstmusik zu verschreiben. Die Erfüllung dieser Pflichten ließ keinen Raum für eigene Vorlieben und verlangte ein ausgeprägtes Verantwortungsbewusstsein. So warnte eine Musikzeitschrift junge Leser, die Interesse am Erlernen westlicher Musik hatten, dass »man kein Vergnügen erwarten solle… Plage Dich beim Üben und schone Dich nie.«18 Vor diesem Hintergrund ist es interessant, dass viele Angehörige der ersten Generation japanisch-westlicher Musiker in ihrer Freizeit traditionelle Musik spielten.19 Nach der anstrengenden und hingebungsvollen Erfüllung ihrer offiziellen Pflichten suchten sie in ihrem Privatleben Erholung in japanischer Musik.

16 Gerrit W. Gong, The Standard of »Civilization« in International Society, Oxford 1984, S. 14 f. 17 Isawa Shūji, Nihon Ongakukai no yurai [Die Ursprünge der japanischen Musikbundes], in: Isawa Shūji senshū, Nagano 1958, S. 330. Über Isawa s.: Toru Takenaka, Isawa Shūji’s »National Music«. National Sentiment and Cultural Westernisation in Meiji Japan, in: Itinerario 34. 2010, S. 97–118. 18 Art. Ongakui shogakusha no kokoroe [Ratschläge für Musikanfänger], in: Ongaku 10. 1906, S. 52–54. 19 So liebte beispielsweise Kōda Nobu, die erste Studentin, die zum Studium nach Europa geschickt wurde, und später Professorin an der Musikakademie wurde, die koto (japanische Zitter). Vgl. Norisugi Sei, Aru kai no koto [Über eine Zusammenkunft], in: Dōseikai Hō 184. 1932, S. 18–21. Motoori Nagayo, bekannt für seine Kompositionen für Liedbücher für Schulen, war nahezu ein professioneller Spieler des shamisen (japanisches Banjo). Vgl. Haruhiko Kindaichi, Jūgoya otsuki san. Motoori Nagayo—hito to sakuhin [›Vollmond‹. Motoori Nagayo – sein Leben und Werk], Tokio 1983. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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III. Westliche Musik als ideologisches Mittel der Revolte »von unten« Wenngleich sie einen grundlegenden Beitrag zur Rezeption westlicher Musik leisteten, können die staatlichen Initiativen zugunsten westlicher Musik den rapiden Musiktransfer dennoch nicht hinreichend erklären. Der Eifer, den die Regierung an den Tag legte, wäre wirkungslos geblieben, hätte die Bevölkerung keinen Resonanzboden geboten. An diesem Punkt ist es nun sinnvoll, sich in Erinnerung zu rufen, dass Musik als immaterielle Kunst ideologisch polyvalent einsetzbar ist. Das heißt, dass sie je nach sozio-kultureller Konstellation verschiedene ideologische Funktionen erfüllen kann. So war die westliche Musik einerseits Teil der offiziellen Modernisierungspolitik Japans, sie konnte andererseits aber auch den Gegnern dieser Politik als Waffe dienen. Als ein Beispiel soll hier die christliche Kirche dienen. Vor allem in der Anfangsphase war die Kirche ein weiterer wichtiger Träger der Verbreitung westlicher Musik in Meiji-Japan. Kirchenlieder waren häufig die ersten westlichen Melodien und Orgeln die ersten westlichen Instrumente, die gläubige Japaner zu hören bekamen. Zudem wurden viele der frühen westlich inspirierten Volkslieder auf der Grundlage von Psalm-Melodien verfasst und mit japanischen Texten versehen.20 So war es kein Zufall, dass zur ersten Generation japanischwestlicher Musiker viele Christen zählten. Manche waren in christlichen Familien erzogen worden, andere hatten die in den Ausländersiedlungen ansässigen Missionsschulen besucht. Auch allgemein fungierte die christliche Kirche in der nicht-europäischen Welt als Vermittler westlicher Musikkulturen. Im Fall Japans muss man sich jedoch die spezifische Position des Christentums im Kontext der damaligen gesellschaftlichen Verhältnisse des Landes vor Augen führen. Als der Bann über das Christentum im Jahr 1873 aufgehoben wurde und Missionare verschiedener Konfessionen mit der Verbreitung ihrer Religion begannen, war ihre Arbeit insbesondere unter den ehemaligen Samurai des Shogunats erfolgreich. Diese Samurai waren dem Shogunat im politischen Kampf um die Meiji-Restauration treu geblieben und hatten im nachfolgenden Bürgerkrieg vergeblich für ihre Herrscher gekämpft. Unter dem Meiji-Regime, in dem siegreiche Gegner des Tokugawa-Shogunats Schlüsselrollen innehatten, fühlten sich die ehemaligen Samurai entfremdet. Außerdem fanden sie sich mit schweren sozialen und ökonomischen Einschränkungen konfrontiert. Ihre traditionellen Privilegien waren ihnen mit dem Ende des Feudalsystems und der Einführung einer egalitären Staatsbürgerschaft entzogen worden. Die Staatsanleihen, die ihre herkömmlichen Pfründen ersetzt hatten, wurden durch die ökonomische Krise wertlos. Einige der verzweifelten Samurai gingen zum Angriff über und verantworteten Aufstände wie die Seinan-Rebellion im Jahr 1877. 20 Hiroshi Yasuda, Shōka to jūjika: Meiji ongaku kotohajime [Schul-Gesänge und das Kreuz: Die Anfänge der Musik in der Meiji-Zeit], Tokyo: Ongaku no Tomo 1993. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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Es gab jedoch andere, die »geschlagen und an den Rand der Gesellschaft gedrängt […] sich auf eine zukünftige spirituelle Revolution Japans freuten«, wie der Historiker Yamaji Aizan beobachtete, der selbst Christ aus einer Familie eines ehemaligen Shogunat-Vasallen war.21 Für diese alten Samurai schien das neu eingeführte Christentum einen angemessenen Weg darzustellen, ihren Ärger zu überwinden und die siegreiche kaiserliche Regierung in ihren eigenen Zielen zu übertreffen. Denn, wie oben beschrieben, war der Wohlstand des Meiji-Staates – unabhängig von politischen Allianzen und sozialem Stand – das höchste Ziel der gesamten Nation. Dieser nationale Hintergrund ermöglichte es den Christen, ihre Frustration zu kompensieren. Sie waren der Meinung, dass ihr Land nur zu tatsächlicher Modernität gelangen könne, indem die spirituellen und moralischen Wurzeln der westlichen Zivilisation von Grund auf übernommen würden, und nicht, indem man oberflächlich europäische Institutionen importiere und Gepflogenheiten nachahme. Diese Aufgabe könne allein von den Christen mit ihrem radikal andersartigen Glaubenssystem ausgeführt werden, wohingegen die Modernisierungsprogramme der Regierung im seichten materiellen Wohlstand endeten. Die Verbindung zwischen Christentum und westlicher Musik war daher auch ideologisch begründet. Religiöse Musik in der Kirche klang in den Ohren der marginalisierten ehemaligen Samurai wie eine Verurteilung der Meiji-­Regierung verbunden mit der Forderung nach einer gerechteren gesellschaftlichen Ordnung. Fremde Musik mag für sie daher einen weniger feindseligen Klang gehabt haben, als dies ohne diese ideologische Aufladung der Fall ge­wesen wäre. Um die Jahrhundertwende diente die westliche Musik erneut als Werkzeug emanzipatorischer Bestrebungen. Dieses Mal war Richard Wagner involviert.22 Im Jahr 1902 entfachte Anesaki Chōfū, ein Religionswissenschaftler, einen Wagner-Boom unter japanischen Intellektuellen, als er in einer einflussreichen Zeitschrift über die Ideale des Musikdramas schrieb.23 Wagner wurde über Nacht zur Kultfigur junger Schriftsteller, Akademiker und Studenten. Aufsätze priesen seine Musikdramen als höchste Synthese aller Künste, Vereine und Verbände für Wagnerianer entstanden und einige unternahmen sogar den Versuch, den Tannhäuser eigenständig aufzuführen. Das Seltsame an diesem Boom war, dass abgesehen von einer Handvoll Personen, die schon einmal Europa bereist hatten, darunter Anesaki, keiner der Wagner-Fans jemals dessen musi21 Aizan Yamaji, Gendai Nihon kyōkai shi [Eine zeitgenössische Geschichte der christlichen Kirchen, 1906], in: Yabu u. a. (Hg.), Kirisuto sha hyōron shū, Tokio 2002, S. 409. Zu Yamaji s.: Stefan Tanaka, Alternative National Histories in Japan. Yamaji Aizan and Academic Historiography, in: Eckhardt Fuchs u. Benedikt Stuchtey (Hg.), Across Cultural Borders. Historiography in Global Perspective, Lanham 2002, S. 119–138. 22 Toru Takenaka, Wagner-Boom in Meiji-Japan, in: Archiv für Musikwissenschaft 62. 2005, S. 13–31. 23 Chōfū Anesaki, Takayama Chogyū ni kotauru no sho [Eine Antwort an Takayama Chogyu, 1902], in: Meiji bungaku zenshū, Tokio 1970. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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kalische Dramen live erlebt hatte. Zur Aufführung solch großformatiger Opern wie derjenigen von Wagner fehlten im Japan des Fin de Siècle noch jegliche Voraussetzungen: So gab es weder ein großes Orchester noch einen vollbesetzten Chor.24 Und selbst wenn diese vorhanden gewesen wären, so wäre ihre Leistungsstärke weit unter dem für eine Wagneroper erforderlichen Niveau gewesen. Darüber hinaus war kaum ein Musiksaal mit Stühlen ausgestattet, da die meisten Säle mit tatami ausgelegt waren, auf denen das Publikum direkt Platz nahm; von einem voll ausgestatteten Opernhaus mit Bühneneinrichtung war man weit entfernt. Wie lässt sich daher der japanische Enthusiasmus für Wagner erklären? Die einzig mögliche Antwort ist, dass die jungen Intellektuellen weniger von der­ Ästhetik als von den konzeptionellen Ideen des Komponisten angezogen wurden, die über die Printmedien eine weite Verbreitung fanden. In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass in Deutschland zu dieser Zeit sehr viel über Wagners innovative Musik und seinen sozialphilosophischen Standpunkt geschrieben wurde und auch Schriften des Komponisten selbst im Umlauf waren. Dies wiederum führt zu einer anderen Frage: Warum hatte der Wagnerismus eine solche Anziehungskraft auf Japaner in der Meiji-Zeit? An der Wende zum 20. Jahrhundert sind gesellschaftliche Parallelen zwischen dem Japan der Meiji-Restauration und dem Wilhelminischen Deutschland zu beobachten: In beiden Ländern war innerhalb der jüngeren Mittelschichten die Unzufriedenheit über den gesellschaftlichen Stillstand weit verbreitet, dem man sich auf intellektueller Ebene entgegenzustellen versuchte. Dies manifestierte sich unter anderem im Wagnerismus.25Auch in der japanischen Bevölkerung verbreitete sich etwa dreißig Jahre nach dem Beginn der Meiji-Restauration eine gewisse Orientierungslosigkeit. Die euphorische Identifikation mit dem neuen japanischen Staat, welcher der vorherigen Generation als Inspirationsquelle gedient hatte, berührte die jungen Japaner nicht mehr und eine Alternative war nicht in Sicht. Darüber hinaus waren die die Restauration begleitenden Un­ruhen in der Gesellschaft abgeklungen und das soziale Gefüge schien abermals zementiert. Die Aussichten für ehrgeizige Jugendliche, sozial aufzusteigen und erfolgreiche Karrieren einzuschlagen, schwanden. Der Dichter Ishikawa Takuboku beschrieb in einem Aufsatz, stellvertretend für seine Generation, das düstere Gefühl von Immobilität: »Nach dem Verlust unserer Ideale, unserer Orientierung und jedes sichtbaren Auswegs wissen wir nun nichts mehr mit 24 In einem Orchesterkonzert, veranstaltet von der Musikakademie Tokio, blieben beispiels­ weise die Fagotte unbesetzt, nachdem die anderen anfänglich fehlenden Partien gerade noch von in Japan ansässigen westlichen Amateuren besetzt werden konnten: vgl. Deutsche Japan-Post, 4.12.1909. 25 Klaus Vondung, Zur Lage der Gebildeten in der wilhelminischen Zeit, in: ders. (Hg.), Das wilhelminische Bildungsbürgertum. Zur Sozialgeschichte seiner Ideen, Göttingen 1976, S. 29f; William James McGrath, Wagnerianism in Austria. The Regeneration of Culture through the Spirit of Music, Phil. Diss., Ann Arbor 1965, S. 50. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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unserer angestauten Energie anzufangen […] Die Luft, die uns junge Generation umgibt, steht vollkommen still.«26 In Wagner fanden die jungen Intellektuellen ihre Ressentiments hervorragend im Kulturpessimismus des Künstlers ausgedrückt. Es schien, als hätte Wagner mit seinem vehementen Angriff auf den Snobismus der wilhelmini­ schen Monarchie auch die Meiji-Gesellschaft beschrieben. Die rebellische japanische Jugend fühlte sich ermutigt und berechtigt, ihrer Unzufriedenheit mit der ausweglosen Situation Ausdruck zu verleihen. Für die Jugendlichen war die Verehrung Wagners somit eine Art des Protests gegen den Status quo. Da der deutsche Künstler wie kein Zweiter das Credo von der Erlösung durch Musik vetrat, hatten auch die japanischen Intellektuellen keine andere Wahl, als sich mit seinen Werken auseinanderzusetzen, selbst wenn sie seine Musik­ dramen nie gesehen oder gehört hatten.

V. Schluss Eine der Herausforderungen des Musiktransfers – und vermutlich auch anderer Transfers – im modernen Japan stellte die Überwindung der Aversion gegen Fremdheit, in diesem Fall fremder Musik, dar. Um den negativen Emotionen, die aus den neuen und nahezu physisch unangenehmen Klängen entstanden, entgegenzuwirken, wandte man eine Reihe von Argumentationsstrategien an. Erstens schrieb man der westlichen Musik instrumentelle Funktionen zu, um ihre ästhetischen Dimensionen in den Hintergrund treten zu lassen. So sollte Musik zunächst für ihre praktische Anwendung in weltlichen Einrichtungen wie dem Militär, dem höfischen Leben und in der Bildung akzeptiert werden. Dieser Mechanismus demonstriert das spätere Konzept des »standards of civilization«: Kunstmusik wurde nicht um ihrer selbst wegen geschätzt, sondern weil sie als Kennzeichen einer modernen Zivilisation betrachtet wurde. Zweitens funktionierte die westliche Musik als ideologischer Katalysator im Umgang mit sozialer Unzufriedenheit. Sie kompensierte die Ängste der unter dem neuen Regime marginalisierten ehemaligen Samurai, indem sie deren neu entworfenes Selbstverständnis als wahrhafte Modernisierer stabilisierte. Ebenso bildete sie die Frustration der rebellischen Jugend um die Jahrhundertwende ab und rechtfertigte deren Protest in der Sprache der Kunst. Im öffentlichen Diskurs konnten sich somit verschiedene Gruppierungen auf westliche Musik stützen: So war sie zum einen ein modernes Artefakt, dessen Einführung als Teil  des gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses jedem Zweifel enthoben war. Zum anderem war Musik als nicht-sprachliches Medium ideologisch polyvalent und konnte je nach Argumentation jeglicher Zielsetzung dienen. 26 Takuboku Ishikawa, Jidai heisoku no genjō [Die stagnierende aktuelle Lage, 1910], in: Meiji bungaku zenshū 52. 1970, S. 262. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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Schließlich sollten im Hinblick auf den größeren Kontext der Kommunikationsmöglichkeiten durch Musik noch zwei Punkte aus der Meiji-Zeit Erwähnung finden. Erstens ist Musik im Allgemeinen im Vergleich zu Sprache ein geeigneteres symbolisches und emotionales Kommunikationsmittel. Diese Eigenschaft kommt gerade in Debatten über eine Sozialgeschichte der Musik zum Tragen, da Musik die ideologische Funktion der Bildung und Festigung kollektiver Identitäten übernehmen kann, wie Celia Applegate und Pamela Potter zu Recht hervorgehoben haben.27 Ein Beispiel für die stärkere Wirk­mächtigkeit der Musik im Vergleich zur Sprache ist die Nationalhymne, deren pathetische Melodie einen ungeheuren Effekt bei der Mobilisierung patrio­tischer Gefühle hat. Auf den ersten Blick scheint die Tatsache, dass Musik unvermittelt Gefühle auslösen kann, ihr größter Trumpf in transkulturellen Musiktransfers zu sein: Da die menschlichen Gefühle grundsätzlich in jeder Kultur gleich seien, so wird argumentiert, gelinge die grenzüberschreitende Verbreitung von Musik derart häufig. Tatsächlich sind die Funktionsweisen des Musiktransfers allerdings komplexer. Wenn die Regeln, nach denen einzelne Töne zu einem bedeutsamen Gesamtwerk, also einem Musikstück, verwoben werden, von den Rezipienten in der aufnehmenden Gesellschaft nicht geteilt werden, weckt die Musik oft Gefühle von Gleichgültigkeit oder gar Aversion. In solchen Fällen spielt dann die Sprache eine entscheidende Rolle. Sie kontrolliert und kanalisiert Emotionen in begrifflicher Hinsicht, sodass letztendlich der psychologische Widerstand eingeschränkt und überwunden werden kann. Daher lässt sich schlussfolgern, dass der Erfolg des Musiktransfers entscheidend davon abhängt, inwieweit das Regelsystem, das der importierten Musik zugrunde liegt, von den Rezipienten internalisiert wird und so der psychologische Widerstand vermindert werden kann. Die Verbreitung westlicher Musik, die man besonders in der Populärmusikszene findet, lässt darauf schließen, dass sie während der Zwischenkriegsjahre aufhörte, exogen zu sein. Erst jetzt beeinflussten westliche Klänge die Strukturen musikalischer Kommunikation und schufen immer mehr Kommunika­ tionsmöglichkeiten. Bis zu diesem Zeitpunkt wurde westliche Musik dem japanischen Publikum vornehmlich aufgezwungen. Dies bedeutet auch, dass sich die japanische Gesellschaft die importierte ausländische Musik über ein gutes halbes Jahrhundert hinweg vor allem intellektuell aneignete. Davon abgesehen blieb der Modus des Musiktransfers in der Meiji-Ära während der Zwischenkriegsjahre in vielerlei Hinsicht intakt. So gab es beispielsweise eine einzigartige Einstellung gegenüber dem Musikhören, die vor allem mit der Verbreitung von neuen Medien einherging. Unter den Anhängern der Kunstmusik, deren überwiegende Mehrheit sich seit jeher aus Intellektuellen und Studenten zusammensetzte, überlebte eine ausgesprochen begreifende Her27 Celia Applegate u. Pamela M. Potter, Germans as the »People of Music«. Genealogy of an Identity, in: dies. (Hg.), Music and German National Identity, Chicago 2002, S. 1–35. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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angehensweise an Musik, wie sie auch die Wagnerianer des Fin de Siècle pflegten. Um einen reinen und direkten Zugang zu den ästhetischen Qualitäten der Musik zu erhalten, bevorzugten sie das individuelle Hören ohne Ablenkung durch weiteres Publikum. Folgerichtig war das Ergebnis, dass japanische Hörer eher einer Stereoaufnahme im heimischen Wohnzimmer lauschten, als den Weg in den Konzertsaal auf sich zu nehmen.28 Dies führte auch zu ganz besonderen sozialen Interaktionsmustern unter den Musikfreunden: Sie fühlten sich durch ihre geteilten musikästhetischen Prinzipien als Mitglieder einer Gruppe. Was sie miteinander verband, waren vielleicht sogar kameradschaftliche, emotional starke Bande, wie sie oft bei Minderheiten mit großem inneren Zusammenhalt anzutreffen sind. Trotzdem trugen ihre Handlungen kaum zur Herausbildung einer Gemeinschaft bei, jedenfalls nicht in dem Sinne, dass sich eine Hörergemeinschaft an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit konstituierte. Durch diesen individuellen Zugang zum Hören könnte man im besten Fall geistige Verbindungen zwischen einzelnen japanischen Kunstmusikliebhabern vermuten. Musik ist in besonderem Maße – und wohl auch stärker als andere Künste – eine sozial interaktive Kunstform. Sie erhöht und erweitert Möglichkeiten zur Kommunikation und diversifiziert deren Muster. Vor allem die Reichweite von Kommunikation in und durch Musik lässt sich keineswegs auf den künstlerischen Bereich begrenzen. So kann Musik sogar Botschaften mit greifbaren sozialen und kulturellen Belangen übermitteln. Diese außermusikalische Dimension mag in von ästhetischen Kodierungen dominierten kulturellen Bereichen nicht so klar sichtbar sein. Diese Dimension tritt eher in den Vordergrund, wenn verschiedene Musikkulturen miteinander in Berührung kommen. Dass Musik vielfältige Weisen der Kommunikation ermöglicht, kann auch im transkulturellen Transfer und im Austausch musikalischer Elemente eine wichtige Rolle spielen, wie das Beispiel des modernen Japan deutlich macht.

28 Mikio Wakabayashi, Kyori to hanpuku [Entfernung und Repetition], in: Watanabe Hiroshi u. a. (Hg.), Kurashikku ongaku no seijigaku, Tokio 2005, S. 218–222. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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Zwischen Verbreitung und Verwandlung Protestantische Missionsmusik in Afrika um 1900

Einen sehr großen Raum im Lehrplan der ersten Zeit nimmt das Singen ein. […] Es handelt sich bei diesen Singstunden nur um das Einüben von Kirchenliedern, Liedern aus der Missionsharfe und auch von deutschen Volksliedweisen. Die bodenständige Eingeborenenmusik wird nicht herangezogen. Einesteils erscheint diese Musik den Missionaren als ein Bollwerk des Heidentums, so daß von vornherein eine Abneigung dagegen besteht, andernteils üben die deutschen Lieder eine solche Wirkung aus und finden so starken Anklang, daß die Missionare die bodenständige Musik, auch die Kinderlieder, nicht mehr beachten.1

So berichtet der Direktor der Hermannsburger Mission, Winfried Wickert, rückblickend auf die zweite Hälfte des 19.  Jahrhunderts über die Musikerziehung in der Missionsarbeit bei den südafrikanischen Tswana. Angesichts der Tatsache, dass die Szenen des angeleiteten Singens und Spielens in der Ikonographie der Mission sowie in den Erfahrungsberichten der Missionare ein wiederkehrendes Motiv darstellen, ergibt sich die Frage, warum das Einstudieren von Liedern und Chorälen  – mitunter in vierstimmigem Satz ein mühsames Unterfangen – allen Widrigkeiten zum Trotz für notwendig befunden wurde. Das ist jedenfalls der Eindruck, den bereits der große Fundus von Missionsphotographien hinterlässt, den die University of Southern California in ihrem International Mission Photography Archive2 digital verfügbar gemacht hat. Ebenso bestätigt eine einschlägige Gesamtdarstellung der Mission in den deutschen Kolonialgebieten – Carl Pauls »Die Mission in unseren Kolonien« – die Ubiquität der Missionsmusik: Auf mindestens 66 der 570 Seiten finden sich Beschreibungen von musikalischen Praktiken unter dem Einfluss der Mission. Und schließlich verzeichnen auch die Lehrpläne der Missionsschulen regelmäßig mehrere Stunden Gesangsunterricht pro Woche.3 1 Winfried Wickert (Hg.), Und die Vögel des Himmels wohnen unter seinen Zweigen. Hundert Jahre Bauernmission in Südafrika, Hermannsburg 1949, S. 275. 2 University of Southern California, International Mission Photography Archive, unter: http://digitallibrary.usc.edu/cdm/landingpage/collection/p15799coll123. 3 Vgl. Carl Paul, Die Mission in unseren Kolonien (Neue Folge der Dietelschen Missionsstunden), 1./2. Heft Leipzig 1889/1900, 3./4. Heft Dresden 1905/1908; Christel Adick u. Wolfgang Mehnert (Hg.), Deutsche Missions- und Kolonialpädagogik in Dokumenten. Eine kommentierte Quellensammlung aus den Afrikabeständen deutschsprachiger Archive 1884–1914, Frankfurt 2001, S. 150 f., 161, 186, 206, 219. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

Zwischen Verbreitung und Verwandlung

Vor dem Hintergrund der Bedeutung, die die Musik offenkundig in der missionarischen Praxis besaß, stellt sich die Frage, warum sie in der Missions- und Kolonialgeschichte bislang allenfalls ein randständiges Thema gewesen ist. Welche historische Bedeutung kommt der Missionsmusik zu? Die folgenden Beobachtungen sollen verdeutlichen, dass sie am besten in einem globalgeschichtlichen Spannungsfeld von kultureller Homogenisierung und Heterogenisierung zu verorten ist. So ist es fraglich, ob seit Mitte des 19. Jahrhunderts unter dem Einfluss von Mission, Kolonialherrschaft und wirtschaftlicher Globalisierung verschiedene Weltregionen einander kulturell ähnlicher oder in sich vielschichtiger wurden. Welche kulturellen Angebote vermochten jenseits ihres geographischen Ursprungs zu reüssieren und sorgten dafür, dass im Nebeneinander kultureller Formen eine »Ent-Ortung«4 der Kultur stattfand, sich also der Nexus von Ort und Kultur bereits vor 1914 zu lockern begann, der sich in der informationstechnologisch vernetzten Welt von heute vollends aufgelöst zu haben scheint? Fragen dieser Art deuten darauf hin, dass die Untersuchung musikalischer Transferprozesse mehr geschichtswissenschaftliches Erkenntnispotenzial birgt, als wir bislang wahrgenommen haben.5 Dass die dem Anspruch nach universalistische Missionierung von einem eurozentrischen »Zivilisierungsprojekt« begleitet war, ist bereits mehrfach registriert worden. Die Musikerziehung macht aber besonders anschaulich, dass der Export einer spezifischen Kulturtechnik, die aus einem Ensemble von Musik und musikalischen Praxisformen bestand, einerseits transkulturelle Kommunikationswege eröffnete, andererseits jedoch Hierarchisierungen Vorschub leistete. Zudem begünstigte sie langfristig Vergemeinschaftungsprozesse, die von der Mission nicht mehr kontrolliert werden konnten. Im Mittelpunkt dieses Beitrags steht nun die protestantische Missionsmusik im späten 19. und frühen 20.  Jahrhundert, deren sukzessive Aneignung und Verwandlung anhand von Beispielen aus dem subsaharischen Afrika erläutert wird. Die Geschichte der Missionsmusik ist – zumindest jenseits der Jesuitenmission in der Frühen Neuzeit – bislang nur bruchstückhaft erforscht worden.6 Dennoch lassen sich 4 Vgl. Byung-Chul Han, Hyperkulturalität. Kultur und Globalisierung, Berlin 2005, S. 18. 5 Eine große Ausnahme unter den Allgemeinhistorikern macht jetzt Jürgen Osterhammel, Globale Horizonte europäischer Kunstmusik, 1860–1930, in: Geschichte und Gesellschaft 38. 2012, S. 86–132. 6 Zur jesuitischen Missionsmusik vgl. Geoffrey Baker, Imposing Harmony. Music and­ Society in Colonial Cuzco, Durham, NC 2008; John W. O’Malley u. a. (Hg.), The Jesuits. Cultures, Sciences and the Arts, 1540–1773, Toronto 2000; auch bereits Johann S­ pecker, Die Missionsmethode in Spanisch-Amerika im 16.  Jahrhundert, Schöneck-Beckenried 1953, S. 206–214. Zur Musikerziehung in der Mission allgemein vgl. Verena Grüter u. Benedict Schubert (Hg.), Klangwandel. Über Musik in der Mission, Frankfurt 2010; das Themenheft »Musik und Mission« der Zeitschrift Interkulturelle Theologie 35. 2009, H.1/2; Charles E. McGuire, Music and Victorian Philanthropy. The Tonic Sol-fa Movement, Cambridge 2009; Veit Arlt, Der Tanz der Christen. Zu den Anfängen der populären Musik © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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einige Grundmuster der Praxis protestantischer Missionsmusik herausarbeiten, die im Folgenden unter den Stichworten Verbreitung und Verwandlung vorgestellt werden sollen.

I. Verbreitung Gesangbücher und Liedersammlungen in die jeweilige Lokalsprache zu übersetzen und schließlich in gedruckter Form zu veröffentlichen, war ein zeitraubendes Unternehmen, dem sich die Missionare dennoch, wo auch immer sie hingelangten, früher oder später verschrieben. So zählte ein »Dictionary of Hymnology« im Jahr 1892 allein im Kontext der britischen Missionen die Übersetzung von Gesangbüchern in 150 Sprachen und Dialekte.7 Das Bedürfnis nach musikalisch-religiöser Kommunikation mit den Einheimischen beförderte somit jene sprachwissenschaftliche Pionierarbeit, auf die die neuere Missionsgeschichte hingewiesen hat und in deren Folge für viele Sprachen die ersten Wörterbücher, Grammatiken und Orthographien entstanden.8 Auch für die Übersetzung von Liedern gilt dabei, dass die Missionare diese nie eigenständig, sondern nur in enger Kooperation mit lokalen Vermittlern – Lehrern, Katecheten oder anderen Konvertiten, die eine europäische Sprache gelernt hatten – durchführen konnten.9 Der Text wurde also übersetzt, an der Melodie aus dem Traditionsbestand der protestantischen Kirchenmusik hielt man aber fest und ersetzte sie, bis auf wenige Ausnahmen, nicht durch ein vertrauteres musikalisches Idiom. Einerseits brachten die Übersetzungen semantische Verschiebungen mit sich, da sich die christliche Begrifflichkeit nicht eins zu eins in jede beliebige Spraan der Goldküste, ca. 1860–1930, in: Jahrbuch für Europäische Überseegeschichte 4. 2004, S. 139–178; Jeffrey Cox, Imperial Fault Lines. Christianity and Colonial Power in India, 1818–1940, Stanford, CA 2002, S. 116–152; Wolfgang Kornder, Die Entwicklung der Kirchenmusik in den ehemals deutschen Missionsgebieten Tanzanias, Erlangen 1990; Carol M. Babiracki, Indigenizers, in: Bruno Nettl, The Western Impact on World Music. Change, Adaptation, and Survival, New York 1985, S.  96–100; David B. Coplan, In Township Tonight! South Africa’s Black City Music and Theatre, Chicago 20072; Arthur M. Jones, African Hymnody in Christian Worship. A Contribution to the History of Its Development, Gwelo 1976; Terence O. Ranger, Dance and Society in Eastern Africa 1890–1970. The Beni Ngoma, Berkeley 1975, S. 9–44; Henry Weman, African Music and the Church in Africa, Uppsala 1960, S. 115–221. 7 Susan S. Tamke, Make a Joyful Noise Unto the Lord. Hymns as a Reflection of Victorian Social Attitudes, Athens, OH 1978, S. 123. 8 Vgl. nur Jean u. John Comaroff, Of Revelation and Revolution, Bd. 1: Christianity, Colonialism, and Consciousness in South Africa, Chicago 1991, S. 213–243; Andreas Nehring, Orientalismus und Mission. Die Repräsentation der tamilischen Gesellschaft und Religion durch Leipziger Missionare 1840–1940, Wiesbaden 2003, S. 215–240. 9 Vgl. Kornder, Entwicklung, S. 131. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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che übertragen ließ,10 andererseits wirkte die Gesangbucharbeit auch als Motor kultureller Homogenisierung: Die Missionsgesellschaften aus dem deutschsprachigen sowie dem anglophonen Raum besaßen jedenfalls einen relativ gut definierten Kanon religiöser Gebrauchsmusik, den die Missionare, von denen viele nur eine beschränkte musikalische Ausbildung genossen hatten, nun in alle Welt trugen. In Deutschland diente neben den landeskirchlichen Gesangbüchern eine Handvoll von »Bestsellern« als Reservoir für Übersetzungen: Seit 1778 existierte das einflussreiche »Gesangbuch der evangelischen Brüdergemeine« aus Herrnhut. Die kleine und die große »Missionsharfe« erschienen im Bertelsmann-­ Verlag – erstere in einer Gesamtauflage von zwei Millionen seit 1836. Eine umfangreiche Sammlung von Kirchenliedern, darunter vor allem reformatorische Choräle, gab der Doyen der bayerischen Kirchenmusik, Johannes Zahn, seit 1854 heraus. Seit den 1880er Jahren gab es dann die »Jubilate«-Posaunenbücher von Johannes Kuhlo, dem ostwestfälischen Vorreiter der Posaunenmission im In- und Ausland sowie schließlich die sogenannten »Reichslieder«, in denen seit 1892 die Lieder der englischen und amerikanischen Erweckungsbewegung in deutscher Übersetzung vorlagen.11 In England selbst existierte – um nur eines der auflagenstärksten Beispiele zu nennen – seit 1861 das Gesangbuch »Hymns Ancient and Modern«, von dem die Anglikanische Kirche bis 1912 mehr als 60 Millionen Exemplare vertrieb. Übertroffen wurde dieser Erfolg nur noch von der seit 1873 rund 80 Millionen mal verkauften Liedersammlung »Sacred Songs and Solos«, mit der der amerikanische Laienevangelist Dwight L. Moody und sein musikalischer Begleiter, der Methodist Ira D. Sankey, auf ihren legendären Massenveranstaltungen die weiße Gospelmusik zunächst in England und den USA, dann weltweit popularisierten.12

10 Vgl. Gerhard Rosenkranz, Das Lied der Kirche in der Welt. Eine missionshymnologische Studie, Berlin 1951, S. 38 f. 11 Vgl. Kornder, Entwicklung, S. 42 f.; Nola Reed Knouse, Art. Moravians, Music of the, in: The New Grove Dictionary of Music and Musicians, 29 Bde., hg. v. Stanley Sadie, London 20012 [= Grove 2001], Bd. 17, S. 96–100; Sabine Gruber, Ein »schönes Beispiel von Gebetserhörung in der neuen Zeit«. Die »Gottesmauer« bei Brentano, Rückert, Fouqué und als geistliches Lied, in: Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie 2005, S.  184–199, hier S. 191 f.; Max Herold, Art. Johannes Zahn, in: Allgemeine Deutsche Biographie 44. 1898, S.  666–668; Wolfgang Schnabel, Die evangelische Posaunenchorarbeit. Herkunft und Auftrag, Göttingen 1993, S. 44 f. 12 Nicholas Temperley, Art.  Hymn, Protestant, in: Grove 2001, Bd.  12, S.  28–35, hier S.  33; J. R. Watson, The English Hymn. A Critical and Historical Study, Oxford 1997, S.  340–345, 387–421; Mel R. Wilhoit, Art.  Sankey, Ira David, in: Grove 2001, Bd.  22, S. 246. Vgl. auch James F. Findlay, Dwight L. Moody. American Evangelist, 1837–1899, Chicago 1969; sowie Harry Eskew u. a., Art.  Gospel Music, in: Grove 2001, Bd.  10, S. ­172–185; zur Bedeutung Sankeys: Edgar J. Goodspeed, A Full History of the Wonderful Career of Moody and Sankey in Great Britain and America, New York 1876, S. 52–56. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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Sicher wird man nicht behaupten können, dass das Kirchenliedrepertoire, das den Missionaren zur Verfügung stand, einheitlich gewesen wäre, ganz gleich welcher Missionsgesellschaft sie angehörten oder wo sie musikalisch sozialisiert worden waren. Dafür waren die Unterschiede zu deutlich zwischen den getragenen Chorälen aus der Reformationszeit einerseits, die auch im 19. Jahrhundert die deutschen Gesangbücher dominierten und in denen zum Teil wie bei Luther noch die gregorianische Melodik steckte, und den populären, textlich und harmonisch simplen, aber rhythmisch flotten Spirituals der amerikanischen Erweckungsbewegung andererseits. Es kam daher auch vor, dass sich die Vertreter der deutschen und englischen, lutherischen und reformierten Liedtraditionen in der Musikpraxis der Missionen eifersüchtig abzugrenzen versuchten.13 Darüber hinaus unterschied sich die Intensität, mit der die Missionare die Musik als Werkzeug der Bekehrung einsetzten, sowohl nach ihrer familiären und sozialen Herkunft als auch nach der in der jeweiligen Missionsgesellschaft gepflegten Musikpraxis. Wer etwa wie viele deutsche Missionare aus klein­ bürgerlich-ländlichen Verhältnissen stammte,14 hatte in der Regel eine bescheidenere musikalische Kompetenz vorzuweisen als die bildungsbürgerlich geprägten Pastorensöhne und -töchter. Unter den musikalisch besonders aktiven Missionsgesellschaften wiederum stachen die Herrnhuter und die Wesleyaner hervor. Bei ersteren reichte die mit liturgischer Funktion und religiöser Emphase verbundene Praxis der Singstunde bis auf Nikolaus von Zinzendorf zurück, und auch die Instrumentalmusik als Mittel der Charakterbildung wurde gefördert. Auch die Methodisten, deren Gründerväter John und Charles Wesley von der Musik der Herrnhuter beeinflusst waren, legten großen Wert auf inbrünstiges gemeinschaftliches Singen. Besonders an der amerikanischen Frontier, in den religiösen Massen­ versammlungen unter freiem Himmel, zeigte sich, wie attraktiv die methodistische Vorliebe für eingängige Melodien, einen emotionalen Gesangsstil und Texte, die auf die subjektive religiöse Erfahrung zielten, wirkte.15 Bei allen Unterschieden zeigt sich dennoch aus der Vogelperspektive, dass zwischen den Spielarten protestantischer Kirchenmusik zumindest in den verschiedenen deutschen und angloamerikanischen Missionen einige zentrale Ähnlichkeiten bestanden. Erstens lag in der Betonung des Gemeindegesangs ebenso wie in der Wertschätzung der Landessprache ein gemeinsames partizipatives Element, das seit jeher zum Kernbestand protestantischer Religions­ ausübung gehörte. Zweitens stellten zahllose Kirchenlieder das individuelle religiöse Erlebnis in den Mittelpunkt, indem sie die Ich- gegenüber der Wir-Form 13 Vgl. Kornder, Entwicklung, S. 76–81, 135. 14 Vgl. Thorsten Altena, »Ein Häuflein Christen mitten in der Heidenwelt des dunklen Erdteils«. Zum Selbst- und Fremdverständnis protestantischer Missionare im kolonialen Afrika 1884–1918, Münster 2003, S. 206–251. 15 Vgl. Knouse, Moravians, S. 96–100; Nicholas Temperley, Art. Methodist Church Music, in: Grove 2001, Bd. 16, S. 521–529; Watson, Hymn, S. 205–214. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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bevorzugten und bestimmte Kategorien religiöser Erfahrung wie persönliches Bekenntnis, Buße, Erbauung, Leid und Trost als stilbildendes und den Kanon strukturierendes Liedvokabular etablierten. Drittens intonierten die Choräle und Lieder eine im Vergleich zur Kunstmusik nicht übermäßig komplexe, dafür aber emotionsgeladene Harmonik und Melodik, die sie – ähnlich wie Volkslieder, auf denen manche von ihnen auch beruhten – leicht zugänglich machten.16 Derlei Übereinstimmungen unterstützen die These von einer homogenisierenden Wirkung der protestantischen Missionsmusik und sind nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass, wie bereits angedeutet, gerade im deutschen, englischen und amerikanischen Kirchenliedrepertoire seit dem 18. Jahrhundert ein enger wechselseitiger Austausch stattgefunden hatte. Ob nun die frühe Ausstrahlung der Herrnhuter Liedkultur, die wirkmächtige Übertragung deutscher Choräle ins Englische unter anderem durch Catherine Winkworth Mitte des 19.  Jahrhunderts oder die spätere Adaption der methodistischen Gassenhauer Sankeys in den »Reichsliedern«, an deutsch-englischen Übersetzungen herrschte kein Mangel.17 Zudem verdeutlicht die kirchenmusikalische Pionierarbeit der Herrnhuter und der Methodisten vor allem, dass der missionarische Impetus eine starke Affinität zum Kommunikationsmittel Musik besaß. Zu den frühen Akteuren einer kulturellen Globalisierung sind mithin gerade auf musikalischem Gebiet auch die Missionare zu rechnen. Der durch sie bewerkstelligte Export westlichen Liedmaterials hatte die lokalen Musiklandschaften oft bereits verändert – wenn auch räumlich zunächst nur punktuell wegen der beschränkten Reichweite der Missionen –, bevor kommerzielle oder staatliche Instanzen in Schallplattenindustrie und Rundfunk weitere Um­ wälzungen des Geschmacks und der öffentlichen Musikpraxis anstießen. Ein hervorragendes Beispiel für die globale Dimension der Missionsmusik ist der evangelisch-lutherische Lieddichter Paul Gerhardt, dessen Texte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts in zahlreichen landessprachlichen Gesangbüchern über den Globus verstreut fanden. Anlässlich des 300-jährigen Paul-GerhardtJubliäums im Jahr 1907 lassen sich anhand zahlreicher Erinnerungsschriften mit hagiographischer Intention die Züge einer »protestantischen Heiligenund Heldenverehrung« ausmachen.18 In diesem Zusammenhang erschien auch die Volksschrift »Singet dem Herrn, alle Welt! Eine Paul-Gerhardt-Reise durch die Zungen und Zonen der Erde«. Ihr Autor, der Berliner Missionar Hermann 16 Vgl. Robert L. Marshall u. Robin A. Leaver, Art. Chorale, in: Grove 2001, Bd. 5, S. 736– 746; Warren Anderson u. a., Art. Hymn, in: Grove 2001, Bd. 12, S. 17–35; Harry Eskew u. a., Gospel Music, S. 172–185; Temperley, Methodist Church Music, S. 521–529; Knouse, Moravians, S. 96–100. 17 Vgl. Watson, Hymn, S. 339, 408–421; Theodore Brown Hewitt, Paul Gerhardt as a Hymn Writer and his Influence on English Hymnody, New Haven 1918, S. 30–33. 18 Michael Fischer, »Er ist gestorben und lebet noch«. Die Paul-Gerhardt-Schriften des Jahres 1907 als Beispiele evangelischer Hagiographie, Freiburg 2008, S. 13, unter: www.freidok. uni-freiburg.de/volltexte/5558. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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Petrich, nutzte dafür das Netzwerk der Missionsgesellschaften, um eine Bestandsaufnahme der in den Missionsgebieten übersetzten und gesungenen GerhardtLieder vorzulegen.19 Das Ergebnis konnte sich sehen lassen. Die Korrespondenten in Afrika und Asien, vor allem für die Missionsgesellschaften aus Berlin, Barmen, Herrnhut und Basel unterwegs, berichteten, dass die bekanntesten Stücke Gerhardts wie etwa »O Haupt voll Blut und Wunden«, »Befiehl du deine Wege« oder »Nun ruhen alle Wälder« mittlerweile auch den Einheimischen durch die Schule sowie die vielerorts verfügbaren Gesangbücher bekannt seien und in den meisten Fällen von ihnen mit Begeisterung gesungen würden. Wo die Missionare wie bei den Ovambo in Südwestafrika oder in Neu-Guinea erst seit weniger als zwanzig Jahren wirkten, kenne man bislang nur einzelne Lieder. Andernorts, wo sie seit langem in der Schule auswendig gelernt wurden und in lokalsprachlichen Gesangbüchern vorlagen, umfasste das Repertoire oft zehn bis zwanzig der Reformationschoräle. An der Goldküste bei den Asante, die seit achtzig Jahren unter dem Einfluss der Baseler Mission stünden, verfüge man über ein 456 Nummern starkes Gesangbuch inklusive 23 Gerhardt-Liedern, von denen zehn äußerst populär seien. Mit 27 in die tamilische Sprache übertragenen Stücken hielten die Leipziger Missionare den Rekord im südindischen Tranquebar, das im Jahr 1907 auf eine zweihundertjährige Missionsgeschichte zurückblickte. Über einen aus ihrer Sicht gelungenen Musiktransfer berichteten gerade die Missionare aus Afrika: bei den Asante und Ga an der Goldküste, den Ewe aus Togo, den Duala aus Kamerun, den südafrikanischen Khoikhoi, den Tswana sowie den Xhosa und Zulu aus dem Transvaal beziehungsweise Natal. Ähnlich positiv wie aus Tranquebar fielen die Meldungen aus anderen Regionen Südindiens – Karnataka, Malabar, Andhra Pradesh – aus.20 Petrichs Darstellung der postumen »Welteroberung« Paul Gerhardts ist in ihrer additiven Erzählweise zwar ermüdend, verwendet aber zugleich zwei rhetorische Mittel, die zeigen, dass die Missionare ein ungeklärtes, komplexes Verhältnis zwischen dem durchaus intendierten Programm einer kulturellen Vereinheitlichung einerseits und dem Bewusstsein von der Hartnäckigkeit kultureller Unterschiede andererseits unterhielten. Erstens untermalt der Autor die Aneinanderreihung der Stationen mit Kostproben von zahlreichen­ Gerhardt-Texten, die er in der jeweiligen Landessprache präsentiert. Da diese Sprachen, ob nun Twi, Ga, Kannada oder Telugu, für den durchschnittlichen Leser der Missionspublizistik aber vollkommen unverständlich waren, wirkten die übersetzten Strophen nicht nur wie Trophäen von in Besitz genommenen »exotischen« Kulturen, sondern erinnerten zugleich daran, dass die eine christ19 Vgl. zudem Rosenkranz, Lied, als eine ähnliche, wenn auch etwas anspruchsvollere Dokumentation zur globalen Reichweite protestantischer Missionsmusik, die aus den 1930er Jahren stammt. 20 Vgl. Hermann Petrich, Singet dem Herrn, alle Welt! Eine Paul-Gerhardt-Reise durch die Zungen und Zonen der Erde (=Neue Missionsschriften, Nr. 86), Berlin 1907, für die Zahlen: S. 6, 19. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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liche Botschaft und ihre kongeniale musikalische Verpackung in vielgestaltiger äußerer Form daherkommen konnte. Zweitens wählte Petrich eine biblische Herleitung und eine Schlusspointe für seine Geschichte, die eine bestimmte Lesart nahelegen sollten. Nach der babylonischen Sprachverwirrung sei, wie mit dem Pfingstwunder in der Apostelgeschichte vorhergesagt, eine Zeit angebrochen, »da wiederum einerlei Sprache auf Erden werden sollte, nämlich die eine Sprache des heiligen Geistes«. Dank der universellen Verbreitung des Evange­ liums sowie der geistlichen Musik seien schon »etliche Millionen durch die Missionare gewonnen, die nun dieselbe Sprache verstehen und reden und demselben Erlöser ihre Danklieder anstimmen, und wenn es auch ganz anders klingen und seltsam und kauderwelsch zu hören sein mag, so ist es dennoch dasselbe«.21 In dieser Vision äußerte sich die Vorstellung einer religiös-musikalischen Universalsprache, in deren Besitz sich die christlichen Missionare wähnten und die imstande war, die Differenz der »Zungen und Zonen der Erde« – wie es im Untertitel hieß – zu transzendieren, ohne sie aufzuheben. Am Schluss der Geschichte wird deutlich, dass Petrich eine Art Entwicklungshilfe vor Augen hatte, denn die Missionare bräuchten die Lieder Gerhardts nur so lang in die Welt tragen, »bis jedem Heidenvolk sein eigner Paul Gerhardt geboren ist.«22 Langfristig war die Indigenisierung der christlichen Kultur also erwünscht, sie hatte aber in einem bestimmten Geist und nach einem von den Missionaren festgelegten Muster zu verlaufen. Ein Leipziger Missionar, der in Ostafrika selbst in die Gesangbucharbeit involviert war, brachte das noch im Jahr 1931 auf die Formel »Afrikas Kinder am Liederquell unserer Väter.«23 Neben den Liedübersetzungen, die die Basis der Musikerziehung bildeten, spielte die Frage, mit welchen Instrumenten die Musik gespielt oder der Gesang begleitet wurde, eine wichtige Rolle. Je mehr die historische Forschung – wie beispielsweise die wegweisende Studie von John L. und Jean Comaroff zu Südafrika – die Missionare nicht nur als religiöse Akteure, sondern als Wegbereiter eines breiteren Zivilisierungsprojekts ansieht, desto interessanter erscheinen die von ihnen mitgebrachte Kultur der Dinge und die damit verbundenen Praktiken.24 Für die Frage nach den Musikinstrumenten gilt das nicht minder. 21 Petrich, Singet dem Herrn, S. 4. 22 Ebd., S. 31. Zum Verhältnis von universalistischer Heilslehre und dem Bewusstsein kultureller Differenz in der Mission vgl. Hartmann Tyrell, Weltgesellschaft, Weltmission und religiöse Organisationen. Einleitung, in: Artur Bogner u. a. (Hg.), Weltmission und religiöse Organisationen. Protestantische Missionsgesellschaften im 19.  und 20.  Jahrhundert, Würzburg 2004, S. 23–36. 23 Georg Fritze, Die Geschichte eines Gesangbuches, in: Evangelisch-Lutherisches Missionsblatt 1931, S.  306 (zit. n. Kornder, Entwicklung, S.  132). Zu diesem evolutionistischen Wahrnehmungshorizont vgl. allgemeiner Florian Carl, Was bedeutet uns Afrika? Zur Darstellung afrikanischer Musik im deutschsprachigen Diskurs des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, Münster 2004, S. 93–111. 24 Vgl. Comaroff u. Comaroff, Revelation, Bd. 2: The Dialectics of Modernity on a South African Frontier, Chicago 1997, v. a. Kapitel 5 u. 6. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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Abb. 1: Harmonium­ werbung, in: Missionsberichte der Berliner Missionsgesellschaft für das Jahr 1902, Nr. 8.

Die verstreuten Beobachtungen, die die Missionare in ihren Berichten und autobiographischen Zeugnissen hierzu angestellt haben, vermitteln ein ein­ deutiges Bild.25 In Afrika wie in Asien war der Gemeindegesang a capella die weitaus häufigste Musikpraxis. Darüber hinaus gründeten die Missionare vor allem Chöre, bestehend aus Sängern oder Blechbläsern. Solistische Instrumentalmusik unterrichteten sie seltener, etwa in Ausnahmeinstitutionen wie der weiterführenden Schule von Lovedale in Südafrika oder wenn ein Missionar oder seine Frau besonders musikbegeistert waren. Als Begleitinstrumente tauchten aber gelegentlich die Violine und sehr oft das Harmonium auf, während sich die Gitarre erst im Laufe des 20. Jahrhunderts richtig durchsetzte. Das Harmonium, das in den USA, woher viele dieser Instrumente stammten, als reed organ firmierte, war eine seit Mitte des 19. Jahrhunderts gerade unter Missionaren in Afrika und Indien verbreitete Version der Orgel. Günstig, transportabel, aber wegen des geringen Tonumfangs und der Klangerzeugung mittels Blasebalg zugleich musikalisch beschränkt, genoss es, wie das Weltkirchenlexikon noch 1960 bemerkte, »geradezu den Nimbus des christlichen Normalinstruments«.26 In den Missionszeitschriften der Jahrhundertwende finden sich regelmäßig Werbeanzeigen wie die hier abgebildete, die darauf hindeuten, dass eine stabile Nachfrage nach dem robusten und reisetauglichen Instrument herrschte. Auch die Berichte der Missionare heben das Harmonium immer 25 Das Folgende beruht u. a. auf der Lektüre der Missionsberichte der Berliner Missionsgesellschaft aus den Jahren 1889–1929; vgl. zudem Allgemeine Missions-Zeitschrift 27. 1900; Die evangelischen Missionen. Illustriertes Familienblatt 6. 1900. 26 Walter Blankenburg, Art. Kirchenmusik, in: Weltkirchenlexikon, Stuttgart 1960, Sp. 713– 717, hier Sp. 715. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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wieder als wertvolles Hilfsinstrument hervor. Oft finanzierten Spenden und Sammlungen vor Ort oder durch die heimatlichen Netzwerke der Missionsvereine die Harmonien wie auch die Hörner, Tuben und Posaunen.27 Das Klavier hingegen – das mit Abstand wichtigste westliche Soloinstrument – fehlte fast überall. Das Tropenklavier, das der Theologe, Arzt und Bachforscher Albert Schweitzer von der Pariser Bachgesellschaft gestiftet bekam – eine Bauweise, die seit den 1890er Jahren eine gewisse Verbreitung erlangt hatte –, war demnach eine Ausnahme. Es liegt nahe, dafür die schwierigen klimatischen Bedingungen und Transportprobleme verantwortlich zu machen. Doch das galt in erster Linie für schlecht erschlossene Stationen im Hinterland, während es durchaus Regionen gab, die entweder klimatisch begünstigt oder wie viele Küstenstädte gut zu beliefern waren, wo das Klavier aber ebenfalls nicht zur üblichen Ausstattung der Missionen gehörte.28 In der Vorliebe für das Harmonium und den Posaunenchor manifestierte sich vielmehr die Herkunft der Missionare aus dem Kontext der Erweckungsbewegung. Das Harmonium avancierte auch in Europa und den USA in der zweiten Hälfte des 19.  Jahrhunderts zum populären Begleitinstrument, das sich auch kleine Gemeinden und pietistische Zirkel leisten konnten. Ebenso entwickelte sich die Begeisterung für die Blechblasmusik nicht nur zu einer Domäne der Inneren Mission in Deutschland mit den Hochburgen in Minden-Ravensberg und Bethel, sondern wurde auch in Großbritannien von den viktorianischen Sittlichkeitsvereinen der Temperenzbewegung und der Heilsarmee propagiert. Auch auf musikalischem Terrain bestanden somit enge wechselseitige Bezüge zwischen den Praktiken der Inneren und Äußeren Mission.29 Welche Konsequenzen folgten aber aus der missionarischen Entscheidung für Gemeindegesang, Harmonium und Blechbläser als dominierenden Ausdrucksmitteln einer überwiegend chorischen, religiösen Gebrauchsmusik? Die angestrebte musikalische Umsozialisierung der Einheimischen durch Blasmusik und Chorgesang eröffnete ihnen nur einen beschränkten Zugang zum westlichen Musikideal. Die zentralen Subjektpositionen des Komponisten, Virtuosen und Dirigenten blieben ihnen auf diese Weise – zumindest vorerst – versperrt. Den Ton gaben, ob als Chorleiter, Lehrer oder Hüter des Repertoires, 27 Vgl. Ulrike Sill, Wie das Harmonium in die Hängematte kam – ein Beispiel für den Wandel im Berichtswesen der Basler Mission im 19. Jahrhundert, in: Bogner u. a. (Hg.), Weltmission, S. 377–395. 28 Das, obwohl beispielsweise Südafrika sich vor dem Ersten Weltkrieg zu einem lukra­ tiven Absatzmarkt für Klaviere entwickelte. Im Jahr 1911 lieferten allein deutsche Hersteller rund 2.500 Instrumente dorthin: vgl. Zeitschrift für Instrumentenbau 33. 1912/13, S. 492 f. 29 Vgl. vor allem McGuire, Music; Gordon Cox, The Musical Salvationist. The World of Richard Slater (1854–1939), Father of Salvation Army Music, Woodbridge 2011; Rob Boonzajer Flaes, Brass Unbound. Secret Children of the Colonial Brass Band, Amsterdam 2000. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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wortwörtlich die Missionare an, wie auch verschiedene Darstellungen im International Mission Photography Archive dokumentieren. Zwar unterrichtete man gelegentlich einheimische Hilfslehrer im Harmoniumspiel oder setzte sie als Chorleiter ein, die Regel war das aber nicht. Sicher war die Beschränkung auf liturgisches Liedgut, Gesang und Posaunenchor in den meisten Fällen das Produkt einer unreflektierten Übertragung der den Missionaren aus ihren Heimatgemeinden vertrauten Musik, und ein weiter reichender Musikunterricht erschien wohl kaum vorstellbar, wo Elementarbildung und Erziehung zur Arbeit den pädagogischen Zielhorizont markierten. Zugleich lässt die missionarische Kulturpolitik die Grenzen der Zivilisierungs­mission erkennen: In Europa hatte seit Ende des 18. Jahrhunderts die soziale Konstruktion von Virtuosen und Komponisten erst jenen »Triumph der Musik«, ihren Aufstieg zu einer kulturellen Leitpraxis, bewerkstelligt, wie ihn zuletzt Tim Blanning beschrieben hat.30 An diesen Subjektpositionen hingen Selbstbild und Überlegenheitsanspruch des »zivilisierten« Bürgers, selbst wenn er nur als Zuhörer an den Demonstrationen von Genie und Charisma partizipierte. Für die afrikanischen und asiatischen Missionsschüler bedeutete das umgekehrt: Ohne Klavier oder Violine und ohne professionelle musikalische Ausbildung in westlicher Kunstmusik kein lokales Virtuosentum, das in den Augen der westlichen Beobachter Gnade gefunden hätte, und kein entsprechendes Sozialprestige. Das musikalische Können, das die Einheimischen in den ihnen vertrauten Gesängen und Tänzen sowie auf ihren traditionellen Instrumenten demonstrierten, hatte zugleich im christlichen Einflussbereich wenig Platz und wurde von den Missionaren nicht nur als Lärm diffamiert, sondern auch aktiv unterdrückt. Zwar finden sich in der Missionsliteratur auch einige Stimmen von aufgeschlosseneren Geistern, die in der Lage waren, den Reiz und die Qualität der fremden Klänge zu würdigen, den durchschnittlichen Missionsalltag bestimmte aber die Ablehnung von Tanz und Trommeln. Dabei griff man, wie es die folgende Episode aus dem südlichen Transvaal im Jahr 1889 vor Augen führt, mit harter Hand durch: Unter dem jüngeren Volk tauchen immer wieder Gelüste nach Ausschreitungen auf. Eine Anzahl junger Mädchen versammelten sich regelmäßig zum Tanze. Ein ernster Christ aus der Gemeinde verwarnte sie. Da zogen sie haufenweise vor dessen Thür und tanzten ihm zum Hohn erst recht. Br. Bauling mußte einschreiten; die in Gemeinschaft mit den Aeltesten festgesetzte Strafe lautete auf entweder 25 Ruthenhiebe oder 5 Pfd. Sterl. (100 Mark), die meisten wählten die erstere Strafe, nur drei bezahlten.31

30 Vgl. Tim Blanning, Triumph der Musik. Von Bach bis Bono, München 2010, S. 58–78. 31 Nachrichten von unserer Station Leidenburg, in: Berliner Missionsberichte 1889, Nr. 15/16, S. 374. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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Abb. 2: Bläserchor des christlichen Jünglingsvereins Fumban (Bamum/ Kamerun), 1907/1911, in: Archiv Basler Mission, Bestand Basler Mission, Ref. Nr. E-30.29.017.

Weniger die Musik selbst als vielmehr ihre soziale Einbettung und nicht kontrollierbare Sinngebung war den Missionaren ein Dorn im Auge, denn vor allem der Tanz, der in den subsaharischen Musikkulturen von der Vokal- und Instrumentalmusik kaum zu trennen war, widersprach den christlichen Erwartungen an Sittlichkeit und rechten Glauben: Tanzen konnte mit Alkoholkonsum verbunden sein, erotisierende Wirkung entfalten, lud zu ausgefallener Bekleidung ein oder war Bestandteil abweichender ritueller und spiritueller Praktiken.32

II. Verwandlung Angesichts der Verbannung der lokalen Musiksprache aus dem Umkreis der Mission einerseits und der mangelnden Ausbildungsmöglichkeiten zum Berufsmusiker nach westlichem Vorbild andererseits führte der Weg, den die musikalisch interessierten ehemaligen Missionsschüler einschlugen, zur Gründung von Laienchören für Blechblas- und Vokalmusik. Unter den zeitgenössischen Beobachtern löste das unterschiedliche Reaktionen aus und setzte Inkulturationsprozesse in Gang, die sich der Kontrolle der kirchlichen Autoritäten entzogen. Solange die Ensembles geistliche Musik zu den von den Missionaren definierten Anlässen aufführten, symbolisierten sie den Erfolg der Zivilisierungsmission. So wiederholte sich etwa in den Rechenschaftsberichten an die Berliner Zentrale der stolze Verweis auf die musikalische Begabung der Afrikaner sowie auf das erstaunlich große Repertoire im Chor- und Gemeindegesang: Welche der deutschen Heimatgemeinden sei schon in der Lage, aus dem 32 Vgl. Arlt, Tanz, S. 154–160. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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Stand derart viele Choräle mehrstimmig vorzutragen, wie man es in einigen Missionskirchen erleben dürfe?33 Wenn hingegen die Musikgruppen im säkularen Kontext Karriere machen oder einfach populäre Unterhaltungsmusik bieten wollten  – wie etwa die singing bands in Westafrika –, ernteten sie nicht nur die Kritik der christlichen Moralwächter, sondern des westlichen Publikums insgesamt.34 Das bekannte Beispiel eines Chors von der südafrikanischen Kapkolonie verdeutlicht das.35 Im Jahr 1891 gründeten Missionsschulabsolventen, einige von ihnen aus Lovedale, die »African Jubilee Singers«. Nach dem Vorbild der erfolgreichen afroamerikanischen »Virginia Jubilee Singers«, die sich gerade auf Tournee in Südafrika befanden und für große Begeisterung sorgten, unternahmen sie mit der organisatorischen Unterstützung zweier weißer Siedler eine Konzertreise zunächst in Südafrika, dann nach England und zwei Jahre später in den USA und Kanada. Bei den Aufführungen war der Chor, nach dem Willen des Managements, teils westlich, teils »afrikanisch« mit Leopardenfellen und Decken gekleidet. Im Repertoire überwogen die englischen Lieder und Gospels gegenüber wenigen »native songs«, darunter Kompositionen von John Knox Bokwe, dessen Musik aber selbst von der Mission geprägt war. Obwohl vom Gouverneur der Kapkolonie protegiert und von der Queen empfangen, entwickelte sich die Tour trotz gut besuchter Konzerte zu einem Desaster. Den Misserfolg bewirkten nicht nur ein Streit innerhalb der Gruppe und der Umstand, dass das Management versagte und die Chormitglieder schließlich mittellos in einem Londoner Hotel zurückließ. Vor allem saß der Chor in der öffentlichen Wahrnehmung zwischen allen Stühlen. Die Musikkritik bemängelte die fehlende Exotik. Den Klang der Wildnis, den das Publikum zu hören gehofft hatte, suchte es im westlich orientierten Programm vergeblich. Die Missionspresse wiederum störte sich an dem Rückfall in einen »barbarischen« Bekleidungsstil. Die Sängerinnen und Sänger erschienen also einerseits in ihrem Hang zur Verwestlichung als überzivilisiert, nicht authentisch und durch ihre Rasse ein für alle Mal kulturell festgelegt; sofern sie dem orientalistischen Publikumsgeschmack entgegenkamen, 33 Ein Besuch auf Hoachanas in Deutsch-Südwestafrika, in: Die evangelischen Missionen. Illustriertes Familienblatt 6. 1900, S. 25–40; Wie man in Afrika Weihnachten und Neujahr feiert, in: ebd., S. 273–277; Nachrichten von unserer Station Heidelberg, in: Berliner Missionsberichte 1889, Nr. 9/10, S. 214 f.; Nachrichten von unserer Station Christianenburg, in: Berliner Missionsberichte 1889, Nr. 23/24, S. 581–583; C. Prozesky, Harmlose Freuden, in: Berliner Missionsberichte 1913, S.  279 f.; Visitation und Jubiläumsfeier in Lobethal (Südtransvaal), in: Berliner Missionsberichte 1929, Nr. 1, S. 3–7. 34 Vgl. Arlt, Tanz, S.  145; Kokou Azamede, Transkulturationen? Ewe-Christen zwischen Deutschland und Westafrika 1884–1939, Stuttgart 2010, S. 244 f. 35 Vgl. zum Folgenden Veit Erlmann, ›Africa Civilized, Africa Uncivilized‹. Local Culture, World System and South African Music, in: Journal of Southern African Studies 20. 1994, S. 167–175; ders., Music, Modernity, and the Global Imagination. South Africa and the West, New York 1999, S. 32–110; Robert H. W. Shepherd, Lovedale, South Africa. The Story of a Century 1841–1941, Lovedale 1941, S. 241 f. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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wirkten sie andererseits als nicht zivilisiert genug. Dem Ethnomusikologen Veit Erlmann zufolge verfestigte dieses Dilemma diskursiv die Grenze zwischen den kulturellen Sphären des Westlichen und des Afrikanischen, des Christlichen und Heidnischen, des Zivilisierten und Unzivilisierten.36 Und dennoch: Langfristig schuf die Musikpraxis der Missionen inklusive der aus ihr hervorgehenden Chöre die Voraussetzung dafür, dass kulturelle Mischformen entstanden und besonders in Afrika, aber beispielsweise auch in Indien und Neu Guinea Einheimische ihre eigenen Vorstellungen von christlicher Musik verwirklichten.37 Sie blieben nicht mehr bei den Übersetzungen der westlichen Texte stehen, sondern begannen die Musik selbst in und jenseits der Mission zu verändern. Lange verdrängte, weil als heidnisch assoziierte Rhythmen und Melodien bildeten nun die Grundlage für eigenständige Neukompositionen. Der call-and-response-Gesang, Bestandteil zahlreicher Musikkulturen Afrikas, verbreitete sich ebenso wie die Begleitung durch Trommeln, Glocken und Händeklatschen. Sogar das von den Missionaren und selbst einigen Neuchristen verurteilte Tanzen, das noch bis weit ins 20. Jahrhundert umstritten blieb, wurde in manchen Kirchen in dosierter Form zugelassen. Für die Blechbläser und Sänger aus den Missionschören taten sich darüber hinaus Berufschancen in der Kolonialverwaltung und vor allem – etwa in Gestalt von Tanzkapellen – der städtischen Unterhaltungskultur auf, wo seit der Jahrhundertwende populäre Musikstile regionaler Provenienz – wie in Westafrika Highlife und in Südafrika verschiedene Formen von Tanz- und Jazzmusik  – Karriere machten.38 Das Ausmaß und die Ursachen dieser Tendenz hin zu indigenen kulturellen Ausdrucksformen unterschieden sich von Ort zu Ort nach der Stärke verschiedener Faktoren. Förderlich wirkte erstens das Heranwachsen einer zunehmend selbstbewussten Mittelschicht und kolonialen Elite, denn diese war zum einen aufgeschlossen für kulturnationalistisches Gedankengut, zum anderen besaß sie die finanziellen Mittel, um als Sponsor der lokalen Musikszene aufzutreten und die eigenen Sprösslinge in den besten Bildungsinstitutionen von Kolonie und Metropole auf ihre Rolle als kulturelle Vermittler vorzubereiten. Die Prüfungen des Trinity College of Music, die in den verschiedensten Ecken des britischen Empire abgehalten wurden, stellten so einen Attraktionspunkt für aufstrebende Kreise im Kolonialstaat dar. Zweitens beförderte in Afrika die schon 36 Vgl. Erlmann, Africa, S. 175. 37 Vgl. James R. Krabill, Begegnungen. Was mit Musik passiert, wenn Völker sich begegnen, in: Grüter u. Schubert (Hg.), Klangwandel, S. 89–108; Rolf Hocke, Das indische Kirchenlied und seine Entstehung, in: ebd., S. 159–183, hier S. 159–169; Benjamin Carstens, Die Entstehung indigener christlicher Musik in Papua-Neuguinea von Zahn und Keyßer bis heute, in: ebd., S. 185–202. 38 Vgl. Nate Plageman, Highlife Saturday Night. Popular Music and Social Change in Urban Ghana, Bloomington, IN 2013; Boonzajer Flaes, Brass, S. 13–17, 32–47; Coplan, Township, Kapitel 2 und 3. Siehe auch den Beitrag von Martin Rempe in diesem Band. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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Ende des 19. Jahrhunderts einsetzende Abspaltung unabhängiger Kirchen – der African Initiated Churches  – die Hinwendung zu einheimischen Musiktraditionen.39 Dort war die Musik nicht nur Ausdruck eines wachsenden Bedürfnisses nach religiöser und oft auch nationaler Selbstbestimmung, sondern darüber hinaus Motor dieser Entwicklung: Die Missionare hatten durch ihre lange Ignoranz gegenüber afrikanischen Liedern und Instrumenten dafür gesorgt, dass die Anziehungskraft der westlichen Kirchen vielerorts beschränkt blieb, während die unabhängigen Kirchen mit den vormals ausgeschlossenen Musikformen nun erfolgreich Mitglieder rekrutierten. Drittens kam es auch vor, dass sich der Widerstand gegen die kulturelle Enteignung an der Basis der Missionsgemeinden regte. Verantwortlich dafür mochte etwa die besondere Schwierigkeit sein, die sich daraus ergab, dass die übersetzten geistlichen Liedtexte auf westliche Melodien gesungen wurden. Weil nämlich die einheimischen Sprachen oftmals tonal waren und somit die Wortbedeutung auch von der Tonhöhe abhing, konnte die Melodieführung den Sinn des Gesungenen entstellen.40 Jene Missionare, die eine gewisse musikalische Neugier und Sensibilität mitbrachten, reagierten auf solche Transferprobleme, die sich in der mangelnden Sangeslust der Gemeinde spiegelten, und förderten die Verwendung der indigenen Musiksprache. Solche Vertreter fanden sich vor dem Ersten Weltkrieg nur sehr vereinzelt – unter den deutschen Missionen in Ostfrika beispielsweise stammten sie aus den Berliner und Herrnhuter Gesellschaften, während die Leipziger und B ­ etheler Missionare bei ihrer konservativen Linie blieben.41 Nach dem Ersten Weltkrieg jedoch, der den Nimbus europäischer Überlegenheit schwer beschädigt und das Selbstbestimmungsrecht der Völker ins öffentliche Bewusstsein gerückt hatte, gewannen die Anhänger eines inkulturierten Christentums Zulauf. Das spiegelte sich nicht zuletzt in der veränderten Haltung der Weltmissionskonferenzen. War man in Edinburgh 1910 noch der Meinung gewesen, dass die Bekehrung zum christlichen Glauben und die Übernahme westlicher Kultur untrennbar miteinander verbunden waren, äußerte man sich in Jerusalem 1928 ganz anders: »Wir wünschen sehnlich, die jungen Kirchen möchten das Evangelium ihrem eigenen Genius entsprechend ausdrücken, in Formen, die ihrem eigenen Erbe angemessen sind.«42 In dieser Äußerung manifestiert sich einer39 Vgl. David John Dargie, Xhosa Zionist Church Music. A Liturgical Expression Beyond the Dreams of the Early Missionaries, in: Missionalia 38. 2010, S. 32–53. 40 Vgl. Percival R. Kirby, The Changing Face of African Music South of the Zambezi, in: Klaus P. Wachsmann (Hg.), Music and History in Africa, Evanston, IL 1971, S. 248 f.; Lazarus Nnanyelu Ekwueme, African Music in Christian Liturgy. The Igbo Experiment, in: African Music 5. 1973/74, S. 12–33, hier S. 13–15. 41 Vgl. Kornder, Entwicklung, S. 45–70. 42 Zit. n. Verena Grüter, Was macht das Harmonium am Himalaya? Vom musikalischen Kulturwandel in der Ökumene, in: Grüter u. Schubert (Hg.), Klangwandel, S. 30. Einzelne Pioniere eines inkulturierten Christentums hat es freilich schon früher gegeben – © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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seits ein Einstellungswandel, den es weiter zu erforschen gälte: Seine Wurzeln scheinen im partizipatorisch-individualistischen Moment der protestantischen Kirchenmusik ebenso zu liegen wie im erstarkenden völkischen Nationalismus des frühen 20. Jahrhunderts. Andererseits sollte das Bekenntnis zur Inkulturation nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Musikerziehung vor Ort auch in der Zwischenkriegszeit häufig noch nach den eingefahrenen Mustern der Zivilisierungsmission verlief. Auch bedeutete die Rede von der Wiederentdeckung des »eigenen Erbes« keineswegs, dass nun auf breiter Front eine simple Rückkehr zu musikalischen Traditionen stattgefunden hätte. Vielmehr waren synkretistische Musiken und genuine Neuschöpfungen die typische Folge der interkulturellen Begegnung. Ob man nun den improvisierten »Fante Lyric« in den methodistischen Gemeinden der Goldküste oder die Begleitung christlicher Hymnen mit traditionellem Instrumentarium in den westafrikanischen Aladura-Kirchen oder auch die Bhajan-Gesänge – auf heimische Melodien gesungene Psalmen  – im indischen Punjab nimmt: Seit Ende des 19.  Jahrhunderts begannen an vielen Orten lokale Musiksprachen die importierten kirchen­ musikalischen Genres zu überformen.43 Dass die wachsende Indigenisierung allerdings nicht notwendig mit Synkretismus im kulturellen Ausdruck, geschweige denn mit einer vollständigen Abkehr von der westlichen Missionsmusik verbunden sein musste, soll ein anderes Beispiel vor Augen führen. Es zeigt, dass Kirchenmusik nun zwar von Afrikanern gemacht wurde, jedoch im musikalischen Gehalt keineswegs traditionell »afrikanisch« sein musste, sondern vielmehr den Prinzipien der viktorianischen Hymnologie verpflichtet bleiben konnte. Um so einen Fall handelt sich bei dem südafrikanischen Liedkomponisten John Knox Bokwe (1855–1922).44 Bokwe, ein Xhosa aus der Kapkolonie, hatte in Lovedale eine komplette Missionserziehung erhalten und sich dabei vom Hausjungen des Direktors bis zum Privatsekretär, Chorleiter und Buchhalter emporgearbeitet. Von der Frau des Direktors erhielt er darüber hinaus privaten

wie etwa den Missionswissenschaftler Reinhold Grundemann, der bereits auf der Brandenburgischen Missionskonferenz von 1892 am Beispiel Indiens argumentiert hatte: »Das nationale Ideal bricht sich zuletzt doch Bahn. […] Die Mission suchte europäische Melodien einzführen und hat es teilweise in den christlichen Gemeinden erreicht. Dagegen hat sich trotz des Widerstandes vieler Missionare eine christlich-indische Poesie und Musik gebildet, die bereits fast überall die Zulassung in den Kirchen errungen hat«. Zit. n. Hocke, Kirchenlied, S. 160; vgl. auch, Kornder, Entwicklung, S. 27–31. 43 Vgl. Rosenkranz, Lied, S. 58–61; Cox, Fault Lines, S. 146–150; Azamede, Transkulturationen, S. 244 f.; Chrys Kwesi Sackey, Highlife. Entwicklung und Stilformen ghanaischer Gegenwartsmusik, Münster 1996, S. 386–406. 44 Vgl. hierzu Grant Olwage, John Knox Bokwe, Colonial Composer. Tales about Race and Music, in: Journal of the Royal Musical Association 131. 2006, S. 1–37; Erlmann, Music, S. 120–128; Yvonne Huskisson, The Bantu Composers of Southern Africa, Johannesburg 1969, S. 6–9. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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Klavier- und Orgelunterricht. Im Jahr 1875 veröffentlichte Bokwe die erste notierte Komposition eines schwarzen Südafrikaners, die uns bekannt ist, und ließ etwa vierzig weitere folgen. 1884 gab er das erste Gesangbuch auf isiXhosa heraus, in dem sich sowohl übersetzte englische Lieder als auch eigene Kompositionen finden. Besondere Aufmerksamkeit zog er später durch die Adaption einiger noch älterer, aus vorkolonialer Zeit mündlich überlieferter Lieder des legendären Konvertiten Ntsikana auf sich. Im Kontext des erwachenden Antikolonialismus um die Jahrhundertwende erblickte die schwarze Elite, so ein Mitglied des African National Congress, in Bokwes Arrangements ungeachtet deren westlicher Elemente die Geburtsstunde einer eigenständigen südafrikanischen Kultur. Auch spätere Ethnomusikologen suchten in dieser Musik nach ihren schwarzen Wurzeln und deuteten die vermeintlich hybride Musik als Ausdruck von Widerstand im Sinne von Homi Bhabha; als Produkt eines Aushandlungsprozesses mithin, in dem die indigene Kultur die Hegemonie kolonialer Stereotype unterläuft. Allein: Die bisherige Rezeption Bokwes führt in die Irre, denn die detaillierte Analyse des Musikwissenschaftlers Grant O ­ lwage zeigt, dass der Missionszögling durchgängig im Stil der viktorianischen Erweckungslieder schrieb.45 Eine Reihe von kompositorischen Details, die hier nicht zu erläutern sind, verweisen nicht – wie bislang gedacht – auf afrikanische Traditionen, sondern entstammen der Klangwelt Ira Sankeys. Dass Bokwe somit der Missionsmusik treu blieb, verhinderte übrigens nicht, dass er selbst in den 1890er Jahren Protestpolitik mit seinen Liedern machen wollte. Die dort mitschwingende Zivilisierungsvision erschien ihm aber als Königsweg zur afrikanischen Selbständigkeit. All das bedeutet, dass Widerstand und Hybridität sich nicht unbedingt in der Musik selbst ausdrücken mussten, nur weil sie etwa aus der Feder eines schwarzen Komponisten stammte. Diese Variante der Inkulturation von Missionsmusik schließt die kulturelle Vereinheitlichung daher keineswegs aus. Ob nun insgesamt Homogenisierung oder Hybridisierung vorherrschten, lässt sich aber im Rahmen eines generalisierenden Überblicks über die missionarische Musikpolitik kaum beantworten. Dafür ist ein anderer Effekt hervorzuheben, der überall zum Tragen kam, wo in Afrika der Einfluss der Missionare spürbar war. Die Bedingungen für Vergemeinschaftungsprozesse, die auf der Bindekraft des Kommunikationsmittels Musik beruhten, veränderten sich mit der Zunahme transkultureller Beziehungen. Es entstand ein Neben- und Gegeneinander von Gemeinschaften, deren Grenzen durch musikalische Performanz hörbar gemacht wurden und die das Bedeutungsspektrum des Kulturkontakts von Imitation über Anverwandlung und Vermischung bis zum musikalisch artikulierten Widerstand ausloteten.

45 Vgl. Olwage, Bokwe, S. 10–37. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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Ein Beispiel hierfür liefert die Genese der nigerianischen Kirchenmusik.46 In Lagos, wo seit den 1840er Jahren verschiedene britische Missionsgesellschaften tätig waren, bildeten die sogenannten Saros die einheimische gesellschaftliche Elite unter den Yoruba. Die Saros waren ehemalige Sklaven, die in den britischen Bildungseinrichtungen von Sierra Leone eine liberal education genossen hatten und nun in ihre Herkunftsregion zurückkamen. Dort prägten sie seit Mitte des 19. Jahrhunderts das kulturelle Leben, indem sie Konzerte mit europäischer Musik veranstalteten, philanthropische Gesellschaften ins Leben riefen und Bibliotheken und Schulen finanzierten. Aktiv in den Chören und als Lehrer an den grammar schools der Missionskirchen lag das verwestlichte städtische Musikleben in Lagos und Umgebung weitgehend in den Händen der Saros. An Knotenpunkten wie der Cathedral Church of Christ bildete sich eine transkulturelle Gemeinschaft von Anhängern westlicher Kirchenmusik, zu deren Exponenten nicht nur der erste afrikanische Bischof der anglikanischen Kirche, Samuel Ajayi Crowther, gehörte, sondern vor allem außergewöhnliche Musiker wie Robert Coker (–1920) und Thomas K. Ekundayo Phillips (­1884–1969). Auch wenn der Einfluss von Phillips als Chorleiter, Organist und Komponist, der wie Coker seine musikalische Ausbildung in England fortführte, auf seine Schüler langfristig groß war, blieb doch seine Resonanz unter den Zeitgenossen in Lagos zugleich beschränkt: Die Kirchenmusik war eben das Bindemittel einer Migrantenelite mit einer spezifischen Bildungsbiographie, die von der lokalen Musiktradition der Yoruba bereits weitgehend entfremdet war. Mit eintrittspflichtigen Konzerten und den englischsprachigen Veranstaltungen an der multikulturellen Church of Christ ließen sich breitere Schichten nicht integrieren, und so bestand die traditionelle Musik der Yoruba neben der europäischen Musik fort, die von den Saros gepflegt wurde.47 Als es um die Jahrhundertwende zur Spaltung der Missionskirchen durch die Gründung unabhängiger afrikanischer Gemeinden kam  – vor allem weil die Saros sich in ihrem Aufstiegsstreben von der klerikalen Hierarchie und den europäischen Konkurrenten behindert sahen  –, bröckelte die Trennung der kulturellen Sphären und die Verbannung der Yoruba-Musik aus den christlichen Gemeinden erwies sich als nicht mehr haltbar. Das geschah zum einen als Gegenbewegung im Sinne einer kulturellen Selbstbehauptung, zum anderen weil die Mission weiter nach Expansion strebte und die Kirchen unter europäischer und einheimischer Leitung miteinander konkurrierten. Die Richtung der musikalischen Beeinflussung kehrte sich damit um, denn »in fact it was not the Yoruba musicians who had to come to terms with the music of the invading 46 Vgl. hierzu Bode Omojola, Nigerian Art Music, Ibadan 1995, Kap. 2, im Folgenden Absätze zit. n. http://books.openedition.org/ifra/598; ders., Yoruba Music in the Twentieth Century. Identity, Agency, and Performance Practice, Rochester, NY 2012, S.  113–122; Godwin Sadoh, Thomas Ekundayo Phillips. The Doyen of Nigerian Church Music, New York 2009; Robert Blench, Art. Nigeria, in: Grove 2001, Bd. 17, S. 907–916. 47 Vgl. Omojola, Art Music, Abs. 17; Sadoh, Phillips, S. 11. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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culture but the musical among the new elite who in time found that they had to adapt to traditional music«.48 Phillips beispielsweise schrieb nun Choräle, in denen nach viktorianischem Vorbild eine Orgel den vierstimmigen Gesang begleitete, er aber zugleich wie in der lokalen Musiksprache üblich eine pentatonische Melodie wählte und darauf bedacht war, bei der Kombination von Musik und Text den tonalen Charakter des Yoruba nicht zu verletzen. Auch wenn wie in diesem Beispiel an verschiedenen Orten die Dialektik von Übernahme und Ausgrenzung mit der Zeit in eine musikalische Hybridisierung mündete, sollte man nicht denken, dass damit eine Dynamik beschrieben wäre, die quasi gesetzmäßig transkulturelle Vergemeinschaftungen zur Folge gehabt hätte. Ebenso bestand weiterhin die Möglichkeit, dass die Musik als Marker von Zugehörigkeit kulturelle Gräben vertiefte. Was etwa die Tendenz zur Indigenisierung der Kirchenmusik angeht, die sich in der Musikpädagogik der Missionen verstärkt seit der Zwischenkriegszeit bemerkbar machte, war diese Abkehr vom eurozentrischen Zivilisierungs­projekt oft von einem ethnischen Nationalismus getragen, welcher danach strebte, die »völkische Kunst« zu konservieren und damit der Wandlungsfähigkeit afrikanischer Musikpräferenzen eine Absage erteilte. Franz Ferdinand Rietzsch, ein musikethnologisch geschulter Missionar der Herrnhuter Brüdergemeine, der in den 1930er Jahren zu den Nyakyusa und Nyiha in Tanganjika ging, kann exemplarisch für diese Einstellung stehen.49 Rietzsch vermochte einerseits die komplexen polyrhythmischen Strukturen und tonalen Nuancen der­ Nyakyusa-Musik zu erkennen und sah sich andererseits im Missions­alltag davon überzeugt, dass die europäische Musik für afrikanische Ohren unge­ eignet sei, weshalb er den Gemeinden neo-traditionalistische Gesänge zu oktroyieren versuchte.50 Daraus musste ein Konflikt entstehen: Die englischen­ Sankey-Lieder waren in den Gemeinden mittlerweile beliebt und genossen, vor allem unter denjenigen, die die Missionsschulen besucht hatten, den Nimbus der Fortschrittlichkeit, während das traditionelle Nyakyusa-Liedgut jetzt als zweitklassig eingestuft wurde. Zudem erinnerten die afrikanischen Lieder, die 48 Anthony King, Art. Nigerian Music, in: New Grove Dictionary of Music and Musicians, 20 Bde., hg. v. Stanley Sadie, London 1980, Bd. 13, S. 238. 49 Vgl. vor allem Kornder, Entwicklung; sowie Klaus Fiedler, Christianity and African Culture. Conservative German Protestant Missionaries in Tanzania, 1900–1940, Leiden 1996. 50 Rietzsch fragte sich, »ob wir unsere Arbeit im Sinne der vordringenden europ. Zivilisation oder im Sinne des hiesigen Volkstums aufzuziehen« haben. (Rietzsch an Baudert, 1932, zit. n. Kornder, Entwicklung, S. 116.) Für die Mission als »Faktor der Volkbildung« plädierte auch der Missionar und Ethnologe Diedrich Westermann: »Verständige Eingeborene haben längst eingesehen, daß sie trotz aller Europäisierung doch niemals Europäer sein werden, und sind von da zu einer neuen und bewußten Schätzung der Kräfte ihres eigenen Volkstums gelangt.« (Diedrich Westermann, Kultur und Mission in Afrika, in: Julius Richter (Hg.), Das Buch der deutschen Weltmission, Gotha 1935, S. 140–144, hier S. 143 f.) © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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Rietzsch in der Schule unterrichtete, offenbar die konvertierten Ältesten an jene Tänze, die von den Missionaren schon immer unterdrückt worden waren und von denen sie sich oft mühevoll distanziert hatten.51 Rietzsch teilte sein Dilemma mit der seit der Jahrhundertwende entstehenden Musikethnologie, die damals noch Vergleichende Musikwissenschaft hieß und deren frühe Wissensbestände nicht zuletzt auf der Tätigkeit von Missionaren fußten. Einerseits schärften die Musikethnologen mit ihren phono­graphischen Aufzeichnungen das Bewusstsein von der Unterschiedlichkeit und dem Eigenwert der Musikkulturen, andererseits trug die konservatorische S­ uche nach den von westlichen Klängen unbeeinflussten Traditionen dazu bei, den Dualismus von »europäisch« und »afrikanisch«, »modern« und »primitiv« zu vertiefen sowie den Nexus von Ort und Kultur erneut zu betonen, nachdem musikalische Transfervorgänge diesen bereits gelockert hatten.52 An synkretistischen Erscheinungsformen etwa einer zunehmend eigenständigen afrikanischen Kirchenmusik bestand lange Zeit kein Interesse. Während sich bei musikwissenschaftlich informierten Zeitgenossen die Idee von der Universalsprache Musik zu Beginn des 20. Jahrhunderts bereits desavouiert hatte, blieb selbst unter Musikethnologen die Toleranz gegenüber Mischformen und fluiden Geschmacksgemeinschaften noch unterentwickelt. Musikalische Grenzziehungen, die darauf zielten, Gemeinschaften zu fragmentieren und neu zu stiften, wurden freilich nicht nur von Europäern vorgenommen. Das zeigt beispielsweise die Evangelisationsbewegung, die der liberianische »Prophet« William Wadé Harris im Jahr 1913 an der Elfenbeinküste in Gang brachte.53 Harris, 1881/82 konvertiert, hatte eine Missionsschule durchlaufen und sich dabei auch die bekannten englischen Choräle angeeignet. Durch seine Tätigkeit als Lehrer und Katechet schien er zunächst für eine Laufbahn in der Methodist Episcopal Church prädestiniert, bevor seine Verhaftung wegen politischer Umtriebe und eine Erscheinung des Erzengel Gabriels im Jahr 1910 ihn zum auserwählten Propheten einer eigenständigen westafrikanischen Glaubensrichtung werden ließen. Als Prediger und Wunderheiler propagierte er ein bibeltreues Christentum, bekämpfte lokale Riten und Magieglauben und trat dabei zugleich für die Polygamie ein. Musik spielte in der überaus wirkungsvollen Evangelisation, die binnen 18 Monaten über einhunderttausend Menschen konvertieren ließ, eine große Rolle, denn Harris wurde stets von einer Gruppe singender Frauen begleitet. Diese sangen aber nicht die Lieder der Mission, sondern verwendeten Melodien aus der einheimischen Bevölkerung. Harris be51 Vgl. Fiedler, Christianity, S. 138 f.; Kornder, Entwicklung, S. 118 f. 52 Zur Dichotomisierung vgl. etwa Richard Wallaschek, Primitive Music. An Inquiry into the Origin and Development of Music, Songs, Instruments, Dances and Pantomimes of Savage Races, London 1893. 53 Vgl. James R. Krabill, The Hymnody of the Harrist Church Among the Dida of South Central Ivory Coast, 1913–1949. A Historico-Religious Study, Frankfurt 1995, S. ­169–183, 295–307; David A. Shank, Prophet Harris, the »Black Elijah« of West Africa, Leiden 1994. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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tonte, dass mit Gott in jeder Sprache und Musik zu kommunizieren sei und löste damit unter seinen Anhängern eine Flut von Liedkompositionen aus, die christliche Botschaften in indigene musikalische Idiome kleideten. Die Zugehörigkeit zu den Gemeinden der Harrist Church, die aus dieser Bewegung entstand, wurde somit nicht zuletzt klanglich markiert. So unterschiedlich die Reaktionen auf das Zusammentreffen der Musikkulturen ausfielen, beeinflusste es doch allenthalben Vergemeinschaftungsprozesse, die ohne die Auseinandersetzung mit der Musik der jeweils Anderen nicht hinreichend zu verstehen sind. In der Periode seit dem späten 19. Jahrhundert bis in die Zwischenkriegszeit, als die Präsenz der westlichen Missionare in Afrika ihren Zenit erreichte, sind Prozesse dieser Art verschiedentlich zu erkennen: in dem Heranwachsen einer verwestlichten einheimischen Elite und der Gründung unabhängiger Kirchen ebenso wie der Entstehung einer urbanen Populärkultur, in der die Absolventen von Missionsschulen oft eine wichtige Rolle spielten. Auch in den Missionsgemeinden, wo über Europäisierung oder Afrikanisierung der Musik verhandelt wurde, hatte dies Folgen für die Zuschreibung kultureller Zugehörigkeit: So eurozentrisch die ältere Linie der Zivilisierungsmission gewesen war, ging sie doch universalistisch denkend von einem kulturübergreifenden Wertehorizont aus. Die Minderheitenstrategie der musikalischen Indigenisierung, die einige fortschrittliche Missionare und Ethnologen vertraten, offenbarte dagegen eine weit größere Sensibilität für Differenzen, war aber auch offen für eine bis zum Rassismus reichende Fragmentierung der Menschheit in distinkte Kulturen. Dass die Missionsmusik solche Konflikte und Effekte provozieren konnte, statt einfach ignoriert zu werden, dass sie also die einheimischen Musiken herausforderte, so wie sie selbst im Laufe des 20.  Jahrhunderts mehr und mehr von ihnen herausgefordert wurde, lag wohl nicht zuletzt an einem middle ground geteilter kultureller Praktiken, genauer: an dem partizipatorischen Charakter, der sowohl die protestantische Gebrauchsmusik der Missionare als auch große Teile afrikanischer Musik­kulturen auszeichnete.

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»A la fin de tout, il reste la rumba«* Musikleben im spätkolonialen Léopoldville und Brazzaville

Zum Abschluss der sogenannten Table ronde, der Verhandlungen über die Unabhängigkeit des Belgischen Kongo, wurde im Februar 1960 im Brüsseler Plaza Hotel ein festlicher Ball gegeben. Die Band African Jazz um den Bandleader­ Joseph Kabasele, die die kongolesische Delegation begleitet hatte, spielte für die europäischen und afrikanischen Unterhändler zum Tanz auf und präsentierte einen eigens für den Anlass neu komponierten Song: Indépendance Cha Cha. Im Zeitalter der afrikanischen Dekolonisierung avancierte dieses Lied rasch zu einem der ersten pan-afrikanischen Hits und gilt bis heute als inoffizielle Nationalhymne des Kongo. Kabaseles eigenen Angaben zufolge hatte seine Band mit diesem und vielen weiteren Auftritten während der mehrere Wochen andauernden Verhandlungen das europäische Publikum in großes Staunen versetzt. Insbesondere die Spielfertigkeit seiner Musiker und der eingängige, leichtfüßige Sound der kongolesischen Rumba machten Eindruck auf die Zuhörer. Das Gastspiel von African Jazz in Brüssel soll dort gar als Ausweis für die gesellschaftliche Modernität und politische »Reife« des kongolesischen Volkes interpretiert worden sein.1 Bekanntlich ist die wenige Monate später gegründete Republik Kongo um­ gehend in Chaos und Bürgerkrieg versunken, was nicht nur der hastig vollzo­ genen Souveränitätsübergabe, innenpolitischen Rivalitäten, regionalen Separationsbewegungen und internationalen Interventionen unter den Vorzeichen des Kalten Krieges geschuldet war. Diese Entwicklung wurzelte ebenso in strukturellen Elementen des belgischen Kolonialismus, der auch nach dem Zweiten Weltkrieg an politischer Exklusion und starren, klar abgegrenzten Hierarchien entlang der Hautfarbe festhielt, kaum soziale Aufstiegsmöglichkeiten bot und

* Auszug aus dem Lied Ohé suka ya rumba der kongolesischen Sängerin Lucie Eyenga, abgedruckt in: Manda Tchebwa, Terre de la chanson. La musique zaïroise hier et aujourd’hui, Brüssel 1996, S. 60 f. 1 Vgl. David van Reybrouck, Kongo. Eine Geschichte, Berlin 2012, S. 307 f.; Gary Stewart, Rumba on the River. A History of the Popular Music of the Two Congos, London 2000, S.  86–88; zur herausgehobenen Stellung des Songs vgl. Hauke Dorsch, »Indépendance Cha Cha«. African Pop Music since the Independence Era, in: Africa Spectrum 45. 2010, S. 131–146, hier S. 132 f. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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so die Herausbildung einer breiten Schicht autochthoner Eliten, insbesondere von Bildungseliten, verhinderte.2 Mit Blick auf die rigide Herrschaft der belgischen Kolonialmacht verwundert es, dass ausgerechnet das kongolesische Musikleben im Zeitalter der Dekolonisierung eine ungeahnte Dynamik im subsaharischen Afrika entfalten konnte und Bands aus dem Kongobecken einen Bekanntheitsgrad weit über diese Region hinaus erlangten. Denn das Loblied auf die Unabhängigkeit blieb keineswegs der einzige musikalische Exportschlager aus der Mitte des Kontinents. Bands wie Ry-Co Jazz oder L’Orchestre Bantou tourten in Ost- wie Westafrika und stießen überall auf ein jubelndes Publikum. Die Begeisterung für kongolesische Musik in den 1960er Jahren soll sogar ähnliche Ausmaße angenommen haben wie die Leidenschaft für Fußball.3 Und der Intellektuelle und Pionier der kongolesischen Musikgeschichtsschreibung, Michel Lonoh, krönte sie als musikalische Ausdrucksform par excellence der sogenannten négritude, des vom Poeten und Politiker Léopold Sédar Senghor seit den 1930er Jahren propagierten (schwarz-)afrikanischen Konzepts kultureller Selbstbehauptung.4 Vor diesem Hintergrund beleuchtet dieser Beitrag die Entstehungsbedingungen und sozialen Ausprägungen des Musiklebens in Léopoldville von den 1930er Jahren bis zum Beginn der 1960er Jahre und wird dabei immer wieder auch den Blick über den Kongo-Fluss hinweg auf das gegenüberliegende französische Brazzaville richten, da dieser historische Prozess nur im Wechselspiel zwischen den beiden Städten angemessen nachvollzogen werden kann. In Abgrenzung zu traditionellen und spirituellen Musikpraktiken liegt der Fokus auf der Entwicklung der kommerziellen Unterhaltungsmusik von den Anfängen in den 1940er Jahren bis zur Unabhängigkeit der beiden Kongo-Staaten im Jahr 1960.5 Es wird erstens gezeigt, dass die rasante Entwicklung des Musiklebens in Léopoldville und Brazzaville sich ganz wesentlich sozioökonomischen und kulturellen Transfer- und Aneignungsprozessen verdankte, die teils weit über die Kongo-Region hinausweisen und ihren Ausgangspunkt keineswegs ausschließlich in den europäischen Kolonialmetropolen nahmen oder von der Kolonial2 Vgl. zusammenfassend Martin Thomas, Contrasting Patterns of Decolonization. Belgian and Portuguese Africa, in: ders. u. a. (Hg.), Crises of Empire. Decolonization and Europe’s Imperial States, 1918–1975, London 2008, S.  385–410, hier S.  385–393. Winfried Speitkamp, Kleine Geschichte Afrikas, Stuttgart 20092, S. 382–385. 3 Vgl. Ronnie Graham, The World of African Music, London 1992, S. 109 f.; Billy Bergman, African Pop. Goodtime Kings, Poole 1985, S. 45 f.; Stewart, Rumba, S. 101–109. 4 Vgl. Michel Lonoh, Négritude et musique. Regards sur les origines et l’évolution de la musique négro-africaine de conception congolaise, o. O. 1971, S. 14; zu Senghors négritude-Konzept vgl. Jane G. Vaillant, Black, French, and African. A Life of Léopold Sédar­ Senghor, Cambridge, MA 1990, S. 243–271. 5 In der Unterscheidung zwischen traditioneller, spiritueller und populärer Musik folge ich Bob White, Rumba Rules. The Politics of Dance Music in Mobutu’s Zaire, Durham 2008, S. 31–37. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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verwaltung vor Ort initiiert wurden. Zweitens entfaltete sich über die Produktion und Rezeption dieser Musik ein transkolonialer Kommunikationsraum, in dem Europäer und Afrikaner zusammenkamen, in dem soziale Beziehungen zwischen Bewohnern der beiden Städte geknüpft wurden und nicht zuletzt der Austausch innerhalb der Städte, das heißt zwischen ethnisch strukturierten Stadtvierteln, über das gemeinsame Musikhören und Tanzen befördert wurde. Übergreifend lässt sich drittens die Dynamik des Musiklebens in den Kongostaaten gerade nicht als Ausdruck nationalistischer oder gesellschaftspolitischer Bestrebungen deuten, wie es für andere afrikanische (und europäische) Länder getan worden ist,6 und wie die eingangs geschilderte Szene vom Brüsseler Unabhängigkeitsball es vielleicht auch nahelegen würde. Vielmehr zeigt der Aufschwung des Musiklebens am Pool, wie die Verbreiterung des Kongo-Flusses zwischen den beiden Städten genannt wird, dass die Stadtbewohnerinnen und Stadtbewohner in der »kolonialen Situation« (Georges Balandier) jene eng umgrenzten Freiräume konsequent ausnutzten, die ihnen von der Kolonialmacht belassen wurden, um musikalische Karrieren voranzutreiben beziehungsweise um vom kolonialen Alltag abzulenken oder gar aus ihm auszubrechen. Das Musikleben am Kongobecken fungierte demnach bis zu einem gewissen Grad als Kommunikationsraum eigener Ordnung, außerhalb der Zwänge der kolonialen Gesellschaft.7

6 Vgl. etwa Marissa J. Moorman, Intonations. A Social History of Music and Nation in­ Luanda, Angola, from 1945 to Recent Times, Athens 2008 und Kelly M. Askew, Performing the Nation. Swahili Music and Cultural Politics in Tanzania, Chicago 2002; zu Europa vgl. den Überblick bei Sven Oliver Müller, Einleitung. Musik als nationale und transnationale Praxis im 19.  Jahrhundert, in: Journal of Modern European History 5.  2007, S.  22–38 und speziell zur Oper Philipp Ther, Wie national war die Oper? Die Opernkultur des 19.  Jahrhunderts zwischen nationaler Ideologie und europäischer Praxis, in: ders. u. Peter Stachel (Hg.), Wie europäisch ist die Oper? Die Geschichte des Musiktheaters als Zugang zu einer kulturellen Topographie Europas, München 2009, S. 89–112. 7 Das in der afrikanischen und Kolonialgeschichte breit rezipierte Konzept der kolonialen Situation hat der französische Soziologe Georges Balandier aufbauend auf seine Forschungstätigkeiten im subsaharischen Afrika zwischen 1946 und 1951 entwickelt. Die koloniale Situation begriff er als historisch veränderliches System aufgezwungener Herrschaft einer kulturell andersartigen, sich überlegen wähnenden Minderheit über eine autochthone Mehrheit. Das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Kulturen berge ein Konfliktpotential in den Beziehungen zwischen Kolonial- und kolonisierter Gesellschaft und begründe die Notwendigkeit von Gewaltanwendung als zentrales Mittel der Herrschaftssicherung: Georges Balandier, La situation coloniale. Approche théorique, in: Cahiers internationaux de sociologie 11. 1951, S. 44–79, insbesondere S. 75 f. Eine leicht gekürzte deutsche Fassung findet sich bei Georges Balandier, Die koloniale Situation. Ein theoretischer Ansatz, übersetzt von Günter Herterich, in: Rudolf von Albertini (Hg.), Moderne Kolonialgeschichte, Köln 1970, S.  105–125. Zur Rezeption vgl. etwa Frederick Cooper, Colonialism in Question. Theory, Knowledge, History, Berkeley 2005, S. 3–38. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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I. Transkulturelle Faktoren in der Entwicklung des Musiklebens am Pool Die Entwicklung des kommerziellen Musiklebens am Kongo-Becken war ein inkrementeller Prozess, der seinen Ursprung in der Zwischenkriegszeit hatte und seit Ende der 1930er Jahre deutlich an Fahrt aufnahm. Wesentliche Impulse erhielt das musikkulturelle Leben erstens durch die Urbanisierung, die Ausdruck zunehmender Interventionen der Kolonialmächte in Wirtschaft und Gesellschaft war und zugleich von innerafrikanischen Migrationsströmen getragen wurde.8 Zweitens bildeten koloniale Institutionen, insbesondere die Missionsschulen und das Militär, wichtige Faktoren für die musikalische Entwicklung am Pool.9 Drittens beeinflussten importierte kubanische Schall­platten, die sowohl privat gehört wurden als auch über das neue Medium des Rundfunks öffentlich Verbreitung fanden, musikalische Geschmackspräferenzen des Publikums, aber auch die musikästhetische Entwicklung kongolesischer Bands. Viertens schließlich verdankte sich der Siegeszug einer genuin kongolesischen Rumba dem Geschäftssinn griechischer Kleinhändler, die zu Beginn der 1950er Jahre in Léopoldville begannen, die Musik lokaler Künstler auf Schallplatten aufzunehmen und zu vertreiben. Bis in die 1920er Jahre hinein konnte weder in Brazzaville noch in Léopoldville, das direkt gegenüber auf der anderen, südlichen Seite des Kongo­f lusses lag, von einem kommerziellen Musikleben die Rede sein. Eine klare Trennung von Ausführenden und Publikum war ebenso wenig ausgeprägt wie jene zwischen öffentlichem Raum und privater Veranstaltung, und eine stete Nachfrage seitens der afrikanischen Bevölkerung nach Musikalien gleich welcher Art war noch kaum zu beobachten.10 Von wenigen Ausnahmen abgesehen wurde das Musikleben vom religiösen und kolonialen Festkalender geprägt. Jenseits solcher Festanlässe interessierten sich die äußerst dünn besetzten Kolonialverwaltungen nur spärlich für musikalische Fragen, weshalb sich sonstige Musikpraktiken der kolonisierten Bevölkerung auf die Kirche und traditionelle Tanzaufführungen an Sonntagen beschränkten, die ethnisch strukturiert waren.11

8 Vgl. zur Urbanisierung in Afrika im 20. Jahrhundert allgemein: Andreas Eckert, Bright Lights – Big City. Zur Geschichte und Gegenwart der Städte in Afrika, in: Axel T. Paul (Hg.), Globalisierung Süd, Wiesbaden 2011, S. 314–330. 9 Vgl. dazu auch den Beitrag von Claudius Torp in diesem Band. 10 Vgl. zum Prozess der Kommerzialisierung von Musik die Überlegungen bei Timothy D. Taylor, The Commodification of Music at the Dawn of the Era of Mechanical Music, in: Ethnomusicology 51. 2007, S. 281–305. 11 Vgl. Phyllis M. Martin, Leisure and Society in Colonial Brazzaville, Cambridge 1995, S. 127–136; Didier Gondola, Bisengo ya la joie. Fête, sociabilité et politique dans les capitales congolaises, in: Odile Goerg (Hg.), Fêtes urbaines en Afrique. Espaces, identités et pouvoirs, Paris 1999, S. 87–112, hier S. 90 f., 97. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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Dies war auch an der Demographie der Städte abzulesen: Léopoldville entstand überhaupt erst 1923 als Hauptstadt und Verwaltungszentrum aus den beiden Kommunen Kinshasa und Kintambo, das Henry Morton Stanley 1881 in Léopoldville umgetauft hatte. Es hatte damals etwa 25.000 Einwohner, wobei diese Zahl noch keinen stabilen Ausweis einer sesshaften Stadtbevölkerung darstellte, da sich Afrikaner bis Ende der 1920er Jahre nur solange in der Stadt aufhalten durften, wie sie auch Arbeit hatten. Ebenso glich Brazzaville eher einem Arbeitscamp als einer gewachsenen Kommune. In den 1920er Jahren schwankte die Einwohnerzahl der französischen Kolonialhauptstadt zwischen 20.000 und 15.000; erst ab Mitte der 1930er Jahre setzte ein kontinuierliches Wachstum in beiden Städten ein, das sich nach dem Zweiten Weltkrieg enorm beschleunigte und sie bis zur Unabhängigkeit im Jahr 1960 auf etwa 130.000 Einwohner (Brazzaville)  beziehungsweise 400.000 Einwohner (Léopoldville) anwachsen ließ.12 Mit Blick auf das Geschlechterverhältnis verlief das Städtewachstum uneinheitlich und war zuerst von männlichen Arbeitskräften aus Westafrika geprägt, die zum einen für den Eisenbahnbau in beiden Kolonien zwangsrekrutiert wurden und zum anderen als niedere Bürohilfskräfte bei belgischen und französischen Firmen sowie in kolonialstaatlichen Institutionen arbeiteten. So kamen bis in die 1930er Jahre hinein etwa drei Männer auf eine Frau – eine Situation, die der Entwicklung eines kommerziellen Musiklebens nicht eben förderlich war.13 Dennoch spielten die Eisenbahnarbeiter ebenso wie die Coastmen oder Bapopo genannten Angestellten eine wichtige Rolle, denn sie brachten auch ihre Musik samt der zugehörigen Instrumente mit. Die Weitergabe der Kunst des­ Gitarren-Spiels soll demnach im Belgischen Kongo zuerst in den Händen kamerunischer Meister gelegen haben, und auch die ersten Orchester setzten sich aus Bapopo zusammen.14 12 Vgl. Jean-Luc Piermay, Kinshasa. A Reprived Mega-City? in: Carole Rakodi (Hg.), The Urban Challenge in Africa. Growth and Management of Its Large Cities, Tokyo 1997, S.  223–251, hier S.  226 f. Bevölkerungszahlen entnommen aus: Martin, Leisure, S.  28 und Léon de Saint Moulin s. j., Croissance de Kinshasa et transformations du réseau urbain de la République démocratique du Congo depuis l’indépendance, in: Jean-Luc Vellut (Hg.), Villes d’Afrique. Explorations en histoire urbaine, Paris 2007, S.  41–65, hier S. 42. 13 Vgl. Charles Didier Gondola Ebonga, Ata ndele… et l’indépendance vint: musique, jeunes et contestation politique dans les capitales congolaises, in: Hélène Almeida-Topor u. a. (Hg.), Les jeunes en Afrique. Bd. 2: La politique et la ville, Paris 1992, S. 463–487, hier S. 464 f. 14 Vgl. Sylvain Bemba, Cinquante ans de musique du Congo-Zaïre, Paris 1984, S. 55 f.; Martin, Leisure, S. 130 f.; Charles Didier Gondola, Villes miroirs. Migrations et identités urbaines à Kinshasa et Brazzaville 1930–1970, Paris 1997, S. 243 f.; anderen Autoren zufolge fand die Gitarre von Angola und Rhodesien aus ihren Weg in die Kongo-Region, vgl. Kazadi wa Mukuna, The Origins of Zairean Modern Music. A Socio-Economic Aspect, in: African Urban Studies 6. 1979, S. 31–39, hier S. 37. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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Der nach und nach einsetzende Zuzug von Frauen  – bis Ende des Zweiten Weltkriegs verringerte sich das Geschlechterungleichgewicht auf zwei zu eins15  – verdankte sich zum einen einer Stabilisierungspolitik ansässiger Unternehmen, die darauf abzielte, auswärtige Arbeitskräfte längerfristig zu binden, wodurch die Migration ganzer Familien befördert wurde. Zum anderen reagierte die belgische Kolonialmacht auf die Weltwirtschaftskrise mit einer Er­höhung der Kopfsteuer. Diese Maßnahme verstärkte den Zwang zur Lohnarbeit, forcierte dadurch die Landflucht und trieb nach und nach immer mehr Frauen in die Hauptstadt.16 Erst die verstärkte Migration von Frauen in die Städte gegen Ende der 1930er Jahre, so der kongolesische Historiker Charles Didier Gondola, habe neben der kolonialstaatlichen Liberalisierung von Alkohol elementare Voraussetzungen geschaffen, um Musikdarbietungen aus dem öffentlichen Raum und aus rein ethnisch strukturierten Zuordnungen herauszulösen und ein privat organisiertes Nachtleben zu etablieren: »Avec l’arrivée des femmes à la fin des années 1930, à Brazzaville comme à Kinshasa, la fête se retire progressivement de la rue pour s’exhiber dans les parcelles des particuliers, mais surtout dans les bars dancing.«17 Die wichtigste musikalische Institution, mit denen spätere kongolesische Stars des Musiklebens in Berührung kamen, war zunächst die Mission. Insbesondere katholische Missionsschulen spielten mit ihrem Musikunterricht sowohl für die Gesangs- wie für die Instrumentenausbildung einheimischer Musiker eine wichtige Rolle. Joseph Kabasele etwa, der später als Grand Kallé berühmt geworden ist, fiel bereits im Kirchenchor durch seine geschmeidige Stimme auf. Der Klarinettist Serge Essous berichtete selbst über die musikalische Prägung, die er in der Missionsschule erhalten hatte, und Pascal Sinamuey alias Tabu Ley Rochereau verdankte sogar seinen Künstlernamen der Erfahrung bei den Scheutisten  – er hatte als einziger Schüler gewusst, dass Denfert-Rochereau ein bedeutender französischer Militär im deutsch-franzö­ sischen Krieg von 1870/71 gewesen war.18 Neben den Missionsschulen boten auch Pfadfindergruppen Gelegenheit zur musikalischen Praxis. Außerdem übten die Blasmusikformationen des Militärs beziehungsweise der Force publique eine große Anziehungskraft aus, zumal auch sie Zugang zu westlichen Musikinstrumenten versprachen. Ab Mitte der 1930er Jahre verbreiterte sich nochmals das Angebot, als auch die Heilsarmee erst in Léopoldville und kurze Zeit später in Brazzaville Blasmusikformationen auf die Beine stellte.19 15 Vgl. Stewart, Rumba, S. 67. 16 Vgl. Kazadi wa Mukuna, The Genesis of Urban Music in Zaïre, in: African Music 7. 1992, S. 72–84, hier S. 73 f.; van Reybrouck, Kongo, S. 195–198. 17 Gondola, fête, S. 98; zur Liberalisierung des Alkohols ebd., S. 100 f. 18 Vgl. Gondola, indépendance, S. 466 f.; Jean Mpisi, Tabu Ley »Rochereau«. Innovateur de la musique africaine, Paris 2003, S. 79–81. 19 Vgl. Brindley Boon, Play the Music, Play! The Story of Salvation Army Bands, London 1966; Martin, Leisure, S. 133 f. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es zu einer generellen Neuausrichtung der Kolonialpolitiken in Brüssel und Paris, die im theoretischen Konzept der belgisch-kongolesischen Gemeinschaft beziehungsweise in der verfassungsrechtlichen Praxis der Union française ihren Niederschlag fanden und die ungeachtet aller Unterschiede auf eine Art von Entwicklungskolonialismus abzielten.20 Dieser machte sich auch in Ansätzen einer kolonialen Kulturpolitik für die einheimische Bevölkerung bemerkbar. So wurden in den beiden afrikanischen Stadtteilen von Brazzaville, Poto Poto und Bakongo, zwei Kulturzentren er­ öffnet, deren Leitung in kongolesische Hände gegeben und an denen Instrumentalunterricht von französischen Musiklehrerinnen erteilt wurde. Kurze Zeit später fand diese Maßnahme ein Echo auf der anderen Seite des Kongo, wo ebenfalls auf Ansinnen der Stadtverwaltung ein Kulturzentrum gegründet wurde, das unter anderem einen großen Musikwettbewerb für moderne afrikanische Musik initiierte.21 Von weitaus größerer Bedeutung für die Rezeption der Musik war der Vormarsch des Rundfunks auf dem afrikanischen Kontinent. Vorreiter dieser Entwicklung im subsaharischen Afrika war die britische Kolonie Kenia, wo die British East African Broadcasting Company bereits 1928 auf Sendung ging. Den Anfang im Pool machten demgegenüber private Initiativen: 1935 gründeten europäische Siedler in Brazzaville Radio-Colonial Paris; zwei Jahre später riefen auf der anderen Flussseite ortsansässige Jesuiten unter der Leitung von Père Mols Radio-Léo ins Leben. 1940/41, infolge der Besetzung von Belgien und Frankreich durch die Nationalsozialisten, wurden mithilfe der Alliierten staatliche Rundfunkstationen in den beiden (freien) Kongo-Hauptstädten installiert. Die mit leistungsstarken Transmittern ausgestatteten Kurzwellensender Radio Brazzaville und Radio Congo Belge erlangten insofern strategische Bedeutung, als sie zeitweise das Programm der BBC übernahmen und dadurch all jene besetzten Gebiete in Europa mit Informationen versorgten, in denen deutsche Störsender effektiv waren. Für den Aufschwung der kongolesischen Rumba spielten diese Stationen zunächst allerdings keine Rolle, zumal sie sich an eine europäische Hörerschaft wandten und dementsprechend klassische und europäisch geprägte Unterhaltungsmusik sendeten.22 Größeren Einfluss auf das Musikleben der Einheimischen am Kongofluss übte in dieser frühen Phase des Rundfunks Radio Congolia aus, das der bel20 Vgl. dazu Frederick Cooper, Development, Modernization and the Social Sciences in the Era of Decolonization. The Examples of British and French Africa, in: Revue d’Histoire des Sciences Humaines 10. 2004, S. 9–38 und Guy Vanthemsche, Belgium and the Congo, 1885–1980, Cambridge 2012, S. 81–87. 21 Vgl. Martin, Leisure, S. 142 f.; Gondola, indépendance, S. 478. 22 Vgl. grundlegend Greta Pauwels-Boon, L’origine, l’évolution et le fonctionnement de la radiodiffusion au Zaïre de 1937 à 1960, Tervuren 1979; außerdem Francis Bebey, La radio­diffusion en Afrique noire, Issy-les-Moulineaux 1963, S. 21; Martin, Leisure, S. 148; Stewart, Rumba, S. 18. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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gische Geschäftsmann Jean Hourdebise zwischen 1939 und 1948 betrieb. Zunächst gleichfalls als Musiksender für die europäische Bevölkerung angelegt, beteiligte sich Radio Congolia am sogenannten »guerre des ondes« und widmete in diesem Zusammenhang ab 1942 ein – zugegebenermaßen äußerst kurzes – Sendefenster von 15 Minuten in der Woche eingezogenen kongolesischen Soldaten. Mit Zustimmung der belgischen Kolonialverwaltung behielt Hourdebise dieses Format nach dem Krieg bei und weitete es auf 30 Minuten täglich aus. Gestaltet wurde die Sendung in Regionalsprachen  – neben Swahili, Tshiluba und Kikongo vor allem Lingala  – und musikalisch bestückt mit lateinamerikanischen Liedern, aber auch Live-Auftritten von lokalen Musikern. Mag die Berücksichtigung einheimischer Hörerinnen und Hörer auch ziemlich gering und letztlich ein nicht beabsichtigter Nebeneffekt der Kriegswirren gewesen sein – entscheidend ist, dass Radio Congolia für die öffentlichen Rundfunk­sender am Pool nach 1945 stilbildend wirkte. In Kinshasa entzog die Kolonialverwaltung Hourdebise 1948 die Lizenz, um kurz darauf mit Radio Congo Belge pour les indigènes die afrikanische Bevölkerung in Eigenregie zu versorgen. Und auch in Brazzaville wurde 1950 mit Radio A. E. F. eine Station gegründet, die sich an Europäer und Afrikaner richtete und landessprachliche Regionalprogramme sendete, in denen verstärkt die entsprechende Musik zum Einsatz kam.23 Die Zulassung afrikanischer Programme war nicht zuletzt Ausdruck der bereits angesprochenen Neuausrichtung der Kolonialpolitik nach dem Zweiten Weltkrieg. Dass diese behutsame gesellschaftspolitische Maßnahme dem musikkulturellen Leben am Pool eine ungeahnte Dynamik verleihen würde, verdankte sich noch einem anderen transkulturellen Faktor: dem Vormarsch der internationalen Plattenindustrie auf dem afrikanischen Markt. Bereits seit Ende der 1920er Jahre konkurrierten die britische Gramophone Company, die deutsche Firma Odeon und die französische Firma Pathé Frères um musikalische Entdeckungen und die Gunst neuer Konsumenten, insbesondere am Küstenstreifen zwischen dem Kongo und der Elfenbeinküste. In strategischer Hinsicht gab Odeon den Takt vor, zumal das deutsche Unternehmen mit Agenten zu­ sammenarbeitete, die lokale Trends verfolgten und vor Ort aufnahmen, was die Erfolgsquote der in Europa gepressten und anschließend reimportierten Platten deutlich steigerte.24

23 Vgl. Pauwels-Boom, Radiodiffusion, S. 172–184; Bebey, Radiodiffusion, S. 47 f.; Martin, Leisure, S. 149. 24 Die Einsicht, dass Menschen am liebsten die Musik hörten, die sie bereits kannten, hat sich innerhalb der Schallplattenindustrie bereits in den 1910er Jahren im Einwanderungsland par excellence, den USA , herauskristallisiert: Karl Hagstrom Miller, Talking Machine World. Selling the Local in the Global Music Industry, 1900–20, in: A. G. Hopkins (Hg.), Global History. Interactions between the Universal and the Global, Basingstoke 2006, S. 160–190. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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Die Weltwirtschaftskrise führte nicht nur zu Konzentrationsbewegungen innerhalb der Schallplattenindustrie, sondern ließ vorübergehend auch die aufwändige Markterschließung der afrikanischen Kolonien zum Erliegen kommen. Stattdessen vermarktete EMI angesichts einer um sich greifenden Begeisterung für lateinamerikanische Musik in Europa  – dem sogenannten Rumba Craze – in der ersten Hälfte der 1930er Jahre ganz pragmatisch eine entsprechende Plattenserie auch in Afrika, was sich als Glücksgriff erweisen sollte. Betitelt als G. V. Series, waren auf diesen Platten ausschließlich Songs kubanischer Gruppen wie dem Sexteto Habanero oder dem Trio Matamoros zu hören, die in New York und Paris eingespielt worden waren. Über innerafrikanische Handelsnetzwerke gelangten diese Platten auch an den Pool und gehörten bald darauf zum Standardrepertoire von Radio Congolia und allen anderen Radio­ sendern, die sich an die einheimische Bevölkerung richteten.25 Warum fiel Musik vom anderen Ufer des Atlantiks auf so fruchtbaren Boden, warum bildeten kubanische Songs wie »El Manicero« (Der Erdnuss­verkäufer) letztlich das musikästhetische Fundament, auf dem sich die kongolesische Rumba entwickelte? Der kongolesische Gitarrist Papa Noel drückte es lapidar so aus: »Anyone who knows both African music and Cuban music knows that there isn’t any real difference in the rhythm, only in the melodies. But it’s all African music anyway.«26 Der hohe Wiedererkennungswert ebenso wie die ästhetische Anschlussfähigkeit der kubanischen Son-Musik an traditionelle afrikanische Rhythmen und weitere musikalische Elemente machte diese Plattenserie auf beiden Seiten des Kongo-Flusses eminent populär und spielte für die Entwicklung der kongolesischen Rumba eine weitaus größere Rolle als etwa amerikanischer Jazz oder europäische Unterhaltungsmusik. Selbst der französische Sänger Tino Rossi, dessen Platten sich am Pool auch bei der einheimischen Bevölkerung großer Beliebtheit erfreuten, wurde letztlich von der G. V. Series und der anschließenden Entwicklung der kongolesischen Rumba in den Schatten gestellt.27

25 Vgl. Paul Vernon, Savannaphone. Talking Machines Hit West Africa, in: Folk ROOTS 122. 1994, online abrufbar unter: http://bolingo.org/audio/texts/fr122savanna.html; Bob White, Congolese Rumba and Other Cosmopolitans, in: Cahiers d’études africaines 168. 2002, S.  663–686, hier S.  668–670, einschließlich einer Diskussion zur Bedeutung des Kürzels G. V., die von »Grand Vocalistes«, »Gramophone Victor« bis hin zur (banalen) Erklärung reicht, dass es sich um ein alphabetisches Kürzel des Unternehmens handelte, das die Serie zwischen G. U. und G. W. zuordnete. Zum Rumba Craze vgl. Robin Moore, Nationalizing Blackness. Cubanismo and Artistic Revolution in Havana, 1920–1940, Pittsburgh 1997, S. 166–190. 26 Zit. n. Janet Topp Fargion, Booklet zur CD Out of Cuba: Latin American Music Takes Africa by Storm, Topic Records (= Topic World Series der British Library), London 2004, S. 2–8, hier S. 5. Auf dieser CD können die Klassiker der G. V. Series einschließlich des El Manicero vom Trio Matamoros angehört werden. 27 Vgl. Moore, Nationalizing Blackness, S. 672. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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Warum sich freilich »Rumba« als Oberbegriff für die entstehende moderne kongolesische Unterhaltungsmusik durchgesetzt hat, ist, wie so oft bei musikalischen Genrebildungen, umstritten. Manche meinen, »Son« wäre in einem französischen Umfeld nicht angenommen worden; andere glauben, diese Verschiebung sei auf irreführende Angaben der Plattenindustrie zurückzuführen.28 Da die Rumba zu dieser Zeit allerdings auch in Kuba selbst längst aus einer engen musikalischen Bezeichnung herausgelöst worden war und allgemeiner musikalisch wie tänzerisch bedingte Situationen gesellschaftlicher Ausgelassenheit beschrieb, mag diese begriffliche Entwicklung wenig überraschen.29 Die Aneignung der kubanischen Musik und die Erfindung der kongole­ sischen Rumba war schließlich einer Entwicklung in Léopoldville zu verdanken, die zu dieser Zeit im subsaharaischen Afrika einmalig war: dem Aufbau einer lokalen, kompetitiven Plattenindustrie.30 Bereits der Radiomann Hourdebise promotete lokale Musiker in seinem Radiostudio, und auch die Société Belge du Disque hatte während des Zweiten Weltkriegs in Léopoldville Aufnahmen von vorwiegend traditioneller Musik, aber eben auch mit einigen frühen Protagonisten der kongolesischen Rumba gemacht, die ursprünglich für den belgischen Markt bestimmt waren. Beide Initiativen verliefen zwar wieder im Sande, verwiesen aber auf eine nicht unerhebliche Nachfrage.31 In diese Marktlücke stießen seit 1947 gleich mehrere lokale Labels, die durchweg von griechischen Geschäftsleuten gemanagt wurden. Nicolas Jeronimidis und sein Bruder Alexandros waren 1948 die ersten mit ihrem Label Ngoma. Es folgten Opika (1949; Gabriel Moussa Benetar), Loningisa (1950; Basile und Athanase Papadimitriou), die Compagnie d’enregistrements folkloriques africains (CEFA, 1953; ein joint venture zwischen dem belgischen Musiker Bill Alexandre und der griechischen Handelsfirma COMITURI) und schließlich Esengo (1958; Constantin Antonopoulos und Henri Bowane), das aufgrund der Übernahme von Equipment und teils auch der Musiker von Opika als Nachfolger dieses Labels betrachtet werden kann. Warum es eine signifikante griechische Minderheit in den belgischen Kongo verschlagen hatte, ist noch nicht ausreichend untersucht worden. Eine erste Welle griechischer Migranten soll sich bereits um die Jahrhundertwende im Kongo28 Vgl. dazu die Diskussion bei Stewart, Rumba, S. 20 f. 29 Vgl. Alejo Carpentier, Music in Cuba [1947], Minneapolis 2001, S. 226. 30 Alle anderen Plattenfirmen, die in Afrika aktiv waren, wie etwa DECCA , EMI oder GALLO, gehörten der global operierenden Musikindustrie an, vgl. die entsprechenden Einträge in: Continuum Encyclopedia of Popular Music of the World, Bd. 1: Media, Industry, and Society, hg. v. John Shepherd u. a., London 2003, S. 707, 717 f., 723 f. Grundlegend zur Entwicklung der internationalen Musikindustrie: Pekka Gronow u. Ilpo­ Saunio, An International History of the Recording Industry, London 1998. 31 Vgl. Stewart, Rumba, S. 24. Graeme Ewens, Art. Ngoma, in: Continuum Encyclopedia of Popular Music of the World, Bd. 1: Media, Industry, and Society, hg. v. John Shepherd u. a., London 2003, S. 744. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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Freistaat angesiedelt haben. Um 1930 lebten bereits knapp 700 Griechen in Belgisch-Kongo; ihre Hochburg war Stanleyville. Doch auch in Léopoldville wuchs nach und nach eine griechische Gemeinschaft heran.32 Seit 1939 erschien in beiden Städten eigens eine griechische Wochenzeitung für die Minderheit. In den 1940er Jahren führte zum einen die Besetzung Griechenlands durch deutsche und italienische Truppen dazu, dass etwa 2.800 Griechen von den ägäischen Inseln auf teils abenteuerlichen Wegen Zuflucht im Kongo fanden und für die Dauer des Krieges in Flüchtlingslagern untergebracht wurden. Die meisten von ihnen wurden zwar nach Kriegsende repatriiert, doch einige sollen danach dauerhaft in den Kongo übergesiedelt sein.33 Zum anderen zog es Teile der griechischen Minderheit in Ägypten aufgrund des dort zunehmenden Nationalismus seit den 1940er Jahren und der damit verbundenen Ausgrenzung aus dem ägyptischen Wirtschaftsleben südwärts. Dies traf etwa auf die Gebrüder Jeronimidis und auf Benetar zu. Daneben griffen auch gewisse Pull-Faktoren: Papadimitriou etwa gelangte vor allem dank verwandtschaftlicher Bande nach Zentralafrika.34 Gemeinsam war vielen Griechen, die im Kongo siedelten, dass sie sich auf den Kleinwarenhandel und das Export- und Importgeschäft konzentrierten.35 Ausgehend von diesem Gewerbe bildete das Plattengeschäft bald die Haupt­ einnahmequelle. Mit der Gründung der griechischen Plattenstudios verlagerte sich der Schwerpunkt der Musikproduktion eindeutig nach Léopoldville. Gepresst wurde in Belgien, die Platten wurden danach reimportiert. Nachdem sich das Geschäftsmodell als erfolgreich erwiesen hatte, errichtete Ngoma eigens eine Fabrik in Frankreich, um auch das Exportgeschäft im protektionistischen frankophonen Afrika lukrativ zu gestalten. Dort wurden etwa 30.000 Platten monatlich gepresst, was die Nachfrage in Afrika allerdings bald nicht mehr deckte und daher eine zweite Produktionsstelle eröffnet wurde.36 Die Konkurrenz belebte nicht nur das Geschäft und führte zu ständigen Wechseln von Musikern von einem zum anderen Label. Die Studios wurden, wie Gary Stewart in seiner grundlegenden Studie »Rumba on the River« detailliert beschrieben hat, auch die wichtigsten Treffpunkte der Szene, wo sich 32 Vgl. Gondola, fête, S. 102. 33 Vgl. zu diesem abenteuerlichen Flüchtlingsdrama André Lederer, L’Odyssée des réfugiés grecs au Congo pendant la Seconde Guerre Mondiale, in: Bulletin de l’Académie Royale des Sciences d’Outre-Mer 27. 1983, S. 315–330, hier S. 325. 34 Zu Ägypten vgl. John Sakkas, Greece and the Mass Exodus of the Egyptian Greeks, 1956–66, in: Journal of the Hellenic Diaspora 35. 2009, S. 101–115, hier S. 105f; Pull-Faktoren bei den ägyptischen Griechen (u. a. Richtung Südafrika, Brasilien und Kanada) akzentuiert dagegen Alexander Kazamias, The »Purge of the Greeks« from Nasserite Egypt. Myths and Realities, in: Journal of the Hellenic Diaspora 35. 2009, S. 13–34, hier S. 24 f. 35 Vgl. dazu auch die Aussagen in den – allerdings über weite Strecken mit äußerster Vorsicht zu genießenden – Erinnerungen des Bremer Geschäftsmanns Ansgar Werner, Der Kongo bestimmte mein Leben, Norderstedt 2008, S. 32 f. 36 Vgl. Wolfgang Bender, Booklet zur CD Ngoma, The Early Years, 1948–60, Popular African Music/African Music Archive, Frankfurt 1996, S. 2–11, hier S. 4 f. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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hoffnungsvolle Talente tummelten, neue Ideen ausprobiert und nicht zuletzt Unterricht erteilt wurde. Sämtliche Innovationen – von der Gründung von Musikaliengeschäften über die Einführung neuer Instrumente wie dem Kontrabass oder der E-Gitarre bis hin zur Harmonielehre für Musiker, feste (und teils hohe)  Gehälter einschließlich Anmeldung bei der belgischen Verwertungsgesellschaft – gingen von den verschiedenen Studios aus. Auch die PromotionArbeit lag in den Händen der griechischen Geschäftsleute. Die Cousins Papadimitriou nutzten dazu ihren Kurzwarenladen, wo sie ihre eigenen neuesten Platten spielen ließen und die Kundschaft auf Geschmackspräferenzen abklopften. Auf dieser Grundlage wurde sogar eigens ein Auswahlkomitee eingerichtet, das den Daumen über frisch eingespielte Aufnahmen hob oder eben auch senkte – ein frühes Beispiel von Hörerforschung.37 Die Urbanisierung, Institutionen des Kolonialstaates und dessen zunehmend gestaltende Kolonialpolitik, nicht zuletzt die Popularisierung neuer Medien wie Rundfunk und Schallplatte waren die wichtigsten außermusikalischen Faktoren, die für einen Aufschwung des Musiklebens am Pool sorgten und zum Siegeszug der kongolesischen Rumba beitrugen. Nachdem deren transkulturelle Wurzeln von Westeuropa über Westafrika und Kuba bis zu den ägäischen Inseln betont worden sind, gilt es nun den Fokus auf die »lokale«, koloniale Situation zu richten und zu erörtern, für welche Gruppen sich durch diesen musikalischen Siegeszug Kommunikationschancen eröffneten und welche gesellschaftlichen Konsequenzen sich daraus womöglich ergaben.

II. Kommunikationschancen: Kongolesische Rumba am Pool Mit Blick auf die koloniale Situation und die weitere Geschichte insbesondere des Belgischen Kongo mag es nicht unmittelbar einleuchten, die ersten Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg am Pool als eine kulturelle Blütezeit einzuordnen. Doch ist es kein Zufall, dass Poto-Poto in zeitgenössischen Darstellungen mit Montmartre gleichgesetzt und die musikalische Lebendigkeit am Kongofluss in der einschlägigen Forschungsliteratur mit New Orleans, dem Geburtsort des Jazz, verglichen worden ist.38 Denn das musikkulturelle Leben in den beiden Hauptstädten barg neben musikästhetischen Innovationen auch ungeahnte soziale Dynamiken und begünstigte die Entstehung eines Kommunikationsraums jenseits rassischer Hierarchien, ethnischer Zugehörigkeiten, oder auch kolonialer Grenzen. So fand die kongolesische Rumba nicht nur bei der einheimischen Bevölkerung Anklang, sondern auch bei einigen Europäern am Kongo Pool. Dabei 37 Grundlegend hierzu Stewart, Rumba, S. 23–82. 38 Vgl. Alain Gheerbrant, Kongo, schwarz und weiß, Wiesbaden 1957, hier S. 14 sowie Stewart, Rumba, S. 3 f. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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überquerten die europäischen Bewohner Léopoldvilles zeitweise vermehrt den Kongo-Fluss, um sich in Brazzaville den Segregations- und Sperrstundenrege­ lungen ihrer Heimatstadt zu entziehen und in der angesagten Bar Chez ­Faignond zu amüsieren. Emile Joachim Faignond, im Kongo geborener Sohn eines Franzosen und einer Kongolesin, eröffnete diesen Tanzclub im Jahre 1948. Getanzt wurde zu afroamerikanischer, europäischer und afrokubanischer Musik; entsprechend gemischt war das Publikum. Das Chez Faignond genoss ein derart hohes Ansehen bei der weißen Bevölkerung, dass es in musikalischer Hinsicht auf rein europäische Clubs Einfluss nahm und sogar das französische Kolonial­ gouvernement seine Gäste wie den Ethnologen und Publizisten Alain Gheerbrant dorthin ausführte.39 Kaum geringere Attraktivität strahlte es auf die einheimische Bevölkerung aus, zumal auch Bewohner aus dem fernen Stadtteil Bacongo keine Mühen scheuten, das in Poto-Poto gelegene Etablissement aufzusuchen. Dies ist insofern bemerkenswert, als diese beiden Viertel von der französischen Kolonialadministration ganz bewusst nach ethnischen und sozialen Kriterien getrennt voneinander – zwischen beiden Stadtteilen lag das europäische Zentrum – geschaffen worden waren: Bacongo für Migranten aus der unteren Kongoregion, die überwiegend als Angestellte arbeiteten und Kikongo sprachen, Poto-Poto hingegen für Arbeiter aus dem Norden sowie aus Westafrika, in dem Lingala als Verkehrssprache neben vielen anderen herausragte.40 Die Attraktivität des ­Faignond gründete darin, dass dort häufig live acts geboten wurden und der Club in den 1950er Jahren zum Sprungbrett für berühmte kongolesische Rumba-Bands wie Negro Jazz oder L’Orchestre Bantou wurde.41 Doch auch in Léopoldville entwickelte sich nach dem Zweiten Weltkrieg allen Segregationsmaßnahmen zum Trotz ein reges Nachtleben. Bis zu 330 Bars wurden Ende der 1950er Jahre gezählt, in denen die kongolesische Rumba live oder vom Plattenteller ihr Publikum fand. Und auch hier trauten sich angesichts der laxeren Überwachung der europäischen Ausgangssperre Weiße in die Viertel der Einheimischen, um sich dort in Musikclubs wie dem O. K. Club oder dem Quist zu vergnügen. Mehr noch, die erfolgreichsten Bands traten seit 1954 sogar regelmäßig in der europäischen Ville auf. Von Henri Bowane, einem der frühen Stars und schillerndsten Figuren des kongolesischen Musiklebens in den 1950er Jahren, wurde sogar berichtet, dass er im europäischen Viertel wohnen durfte.42 Die Kommunikationschancen, die sich den Gästen dieser Etablissements bei Nacht boten, waren somit in der Tat ganz andere, als diese es aus der kolonialen Situation tagsüber gewohnt waren. Um noch einmal den kongolesischen­ 39 Vgl. Clément Ossinonde, Chez Faignond. Premier sanctuaire congolais de la rumba et des musiques du monde, au cœur de Poto-Poto – Brazzaville, Saint-Denis 2012; Gheerbrant, Kongo, S. 23. 40 Vgl. Martin, Leisure, S. 39–43. 41 Vgl. Ossinonde, Chez Faignond, S. 12–18. 42 Vgl. Stewart, Rumba, S. 12 f., 46 f., 58, 74. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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Historiker Charles Didier Gondola sprechen zu lassen: »Il n’y a pas plus égalitaire que la société en fête. Femmes et hommes; évolués, évoluants et indigènes s’y mêlent en intervertissant les rôles sociaux, en adoptant les masques qu’offre la nuit à la place des statuts que confère la hiérarchie sociale du jour.«43 Die Handlungsspielräume, die sich im Schutz der Nacht an der Bar oder auf dem Tanzboden ergaben, wurden nicht nur dazu genutzt, neue soziale Beziehungen zu knüpfen. Ebenso dienten die Clubs als Ort, um gesellschaftliche Konflikte auszutragen, die in der kolonialen Situation nicht beigelegt werden konnten, wobei dies nicht selten in Pöbeleien und Gewalt ausartete.44 Auch unter den Musikern bildete sich eine Art von Kommunikationsraum, in dem man sich gegenseitig beobachtete und auch austauschte, »koloniale« oder ethnische Zugehörigkeiten aber so gut wie keine Rolle spielten. O. K. Jazz, eine der erfolgreichsten Bands dieser Zeit mit dem begnadeten Gitarristen Franco Luambo Makiadi an der Spitze, war in ihrer Anfangsformation bunt gemischt mit Musikern aus beiden Städten. Erst als sich die Unabhängigkeit abzeichnete, kehrten Band-Mitglieder aus Brazzaville wie Serge Essous oder Nico Malapet dauerhaft in ihre Heimat zurück und gründeten dort das bereits erwähnte Orchestre Bantou  – wobei mit Papa Noel wiederum ein Musiker aus dem belgischen Kongo mitging. Mitunter gesellten sich auch weiße Musiker zu einzelnen Aufnahme-Sessions oder Auftritten, so etwa der Saxophonist Fud Candrix, der einige Studioaufnahmen mit Kabasele machte, oder der Schlagzeuger Charly Henault, der offenbar öfter mit African Jazz in Léopoldville auftrat und ganz sicher in Brüssel beim Auftritt im Plaza Hotel dabei war. Und auch die ständigen Formationswechsel bei den Bands sprechen klar dafür, dass sich ethnische oder protonationale Identitäten im musikalischen Produktionsprozess (noch) nicht niederschlugen.45 Schließlich darf man der kongolesischen Rumba noch in einer ganz profanen Hinsicht eine gewisse kommunikative Wirkung zurechnen, die freilich schwer zu messen ist: Da die meisten Bands in Lingala sangen, trug die Popularität der Rumba dazu bei, deren Status als Verkehrssprache inmitten eines linguistischen Schmelztiegels weiter zu festigen.46

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Gondola, fête, S. 108. Vgl. ebd., S. 106. Vgl. van Reybrouck, Kongo, S. 308. Stewart, Rumba, S. 40, 84 f. Dieses Argument macht besonders stark: Jesse Samba Samuel Wheeler, Made in Congo. Rumba Lingala and the Revolution in Nationhood, Master Thesis, University of Wisconsin 1999, online abrufbar unter: https://archive.org/details/Jesse_Samba_Samuel_ Wheeler.Made_in_Congo. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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III. Musikleben, koloniale Situation und die Wirkungsgrenzen musikalischer Kommunikation Unweigerlich führt das hier entfaltete Narrativ in die Versuchung, ein Loblied auf die völkerverbindende Kraft der Musik zu singen und ihr die vielzitierte Universalität zu attestieren, da sie Menschen unterschiedlicher Herkunft, Hautfarbe und sozialen Ranges einander näherbringt. Mit Blick auf den kolonialen Alltag ebenso wie auf den weiteren Verlauf der Geschichte, zumal des Belgischen Kongo, wird allerdings unmittelbar deutlich, in welch engen Grenzen sich die gesellschaftspolitische Wirkung von Musik abseits des Tanzbodens hielt. Dieses Urteil schließt nicht zuletzt die kolonisierte Bevölkerung mit ein, die die ihr gebotenen musikkulturellen Freiräume kaum dazu nutzte, um Widerstand gegen die Kolonialgesellschaft zu organisieren. Wie gering ein politisches Bewusstsein unter vielen Musikern ausgeprägt gewesen sein muss, zeigt sich nicht nur daran, dass insgesamt betrachtet Lieder mit dezidiert politischen Texten eher die Ausnahme bildeten.47 Auch Francos Verhalten im Moment der unmittelbar bevorstehenden Unabhängigkeit gibt einen gewissen Einblick: Das Angebot, mit O. K. Jazz in Brüssel bei der Table ronde zu spielen, schlug er mit der Begründung aus, dass er seinen Konzertverpflichtungen zu Hause nachgehen müsse.48 Und auch das kongolesische Publikum schien durch die gemeinsamen Musikerlebnisse kein größeres politisches Engagement auszubilden. Darüber hatte sich auch Patrice Lumumba in einer seiner Radioansprachen beklagt. Er kritisierte seine Landsleute dafür, dass sie nichts als Biertrinken und Party im Kopf hätten, während dem Land eine Tragödie drohe: »My Congolese Brothers! You are selling your country for a glass of beer! A tragedy engulfing our country, and the dancing continues at the Cité Congolaise. Leopoldville is a cheap cabaret where the people think only of their pleasures – dancing and beer.«49 Mithin diente das Musikleben, wie es sich nach dem Zweiten Weltkrieg rasant in den Kongo-Kolonien entwickelt hatte, kaum der politischen Mobilisierung und auch nicht so sehr einer kolonialgesellschaftlichen Befriedung und Verständigung, wenngleich beide Tendenzen im Ansatz zu beobachten waren. In der Gesamtschau bot der musikkulturelle Aufschwung einigen Wenigen die Chance zum sozialen Aufstieg und zu relativem Wohlstand, der breiten Masse in erster Linie aber eine Flucht vor den Realitäten des kolonialen Alltags. Das 47 Die wenigen Ausnahmen finden sich bei Gondola, indépendance, der meines Erachtens jedoch die Politisierung der kongolesischen Rumba unter den Vorzeichen der Dekolonisation in diesem Artikel repräsentativer erscheinen lässt, als sie es in der Breite gewesen ist. 48 Vgl. Stewart, Rumba, S.  83 f.; Kabasele und seine Band African Jazz wurde erst nach Francos Absage angefragt. 49 So erinnert sich zumindest eine enge Weggefährtin Lumumbas, Andrée Blouin, in ihrer Autobiographie: dies. u. Jean MacKellar, My Country, Africa. Autobiography of the Black Pasionara, New York 1983, S. 269. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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Rumbahören und -tanzen eröffnete eine Parallelwelt freier Kommunikation, die allerdings nur relativ begrenzte gesellschaftliche Auswirkungen im Alltag zeitigte. Der Tanzboden diente als – meist ausgelassene – Begegnungsstätte der »Globalgesellschaft«,50 um sich der kolonialen Situation zu entziehen, aber keineswegs, um sie zu überwinden.51 Vor allem in diesem Sinne erinnert die ungeheure Dynamik, die sich im Musikleben am Pool nach dem Zweiten Weltkrieg entfaltete, an die Swing Era in den USA, wo mit dem Swing in einer einschneidenden ökonomischen Krisen­ situation eine musikkulturelle Blütezeit einsetzte, die die gesamte amerikanische Gesellschaft erfasste und dennoch kaum etwas an ihren starren Hierarchien zu ändern vermochte.52 Verallgemeinernd ist demnach durchaus Vorsicht angebracht, Musik eine allzu starke gesellschaftspolitische Wirkung außerhalb ihres eigentlichen Resonanzraumes zuzuschreiben; der Aufschwung der kongolesischen Rumba im spätkolonialen Brazzaville und Léopoldville bietet jedenfalls kaum Anhaltspunkte für diesen Zusammenhang. Umgekehrt, und das zeigt die Episode vom Pool umso klarer, stellte das kongolesische Musikleben jedoch einen relativ autonomen sozialen Raum her, in dem die gesellschaftlichen Zwänge der kolonialen Situation nur bedingte Gültigkeit hatten.

50 So Balandiers Terminologie zur Bezeichnung der Gesamtbevölkerung der Kolonie: Balandier, Koloniale Situation, S. 121. 51 Vgl. dazu auch die nahezu literarische Schilderung des Musiklebens bei van Reybrouck, Kongo, S.  203: »Es war die Musik, die einen lachen und vergessen ließ, die zum Tanz und zur Verführung einlud, die froh machte und sinnlich. Saturday Night Fever, wenn auch am Sonntagnachmittag. Warum sollte man gegen dieses herrliche, heitere Leben protestieren?« 52 Vgl. zu den USA : Gary Dean Best, The Nickel and Dime Decade. American Popular Culture during the 1930s, Westport, CT 1993, S. 73–88, und Gunther Schuller, The Swing Era. The Development of Jazz, 1930–1945, Oxford 1989, S. 3–6. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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Vom polarisierten zum pluralisierten Publikum Populärmusik und soziale Differenzierung in Westdeutschland, circa 1950–1985

Der folgende Beitrag untersucht den tief greifenden Wandel des populärmusikalischen Repertoires, der sich in Westdeutschland von den 1950er bis in die 1980er Jahre vollzog und durch die zunehmende, um 1980 beschleunigte Ausdifferenzierung des kommerziellen Musikangebots in eine Vielzahl distinkter Genres gekennzeichnet ist. Er fragt nach den Ursachen für diesen Wandel und skizziert, wie sich Differenzierungen des musikalischen Repertoires auf die Integration von und die Beziehungen zwischen Rezipientengruppen auswirkten. In der deutschen Geschichtswissenschaft wird populäre Kultur beziehungsweise Musik in zwei Weisen betrachtet. Nationalgeschichtliche Gesamtdarstellungen räumen dem Thema mittlerweile (Unter-)Kapitel ein, in denen anhand von Populärkultur die soziokulturellen Folgen von Entwicklungen beschrieben werden, die, so wird vorausgesetzt, in anderen gesellschaftlichen Teil­bereichen wie der Politik und der Wirtschaft, in demographischen Veränderungen oder im Reich der Ideen, Mentalitäten und Werte ihren Ausgang nahmen.1 Die noch seltenen Spezialstudien zum Thema sehen diese Herangehensweise kritisch und beharren auf der spezifischen Relevanz des Gegenstandes, der sich nicht so leicht gängigen Periodisierungen und Narrativen fügt. Sie richten ihr Erkenntnisinteresse dabei meist auf die Erfahrungsdimension des Publikums, die es mit Blick auf Texte, Sounds und Aneignungspraktiken zu verstehen gelte. Mit expliziten Erklärungen für Wandlungsprozesse und scharfen Periodisierungen halten sich solche Studien eher zurück.2 Doch kann sich auch der verstehende Zugang der historischen Erklärung letztlich nicht enthalten, da er das 1 Für den Zeitraum der siebziger und achtziger Jahre s. etwa Edgar Wolfrum, Die geglückte Demokratie. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von ihren Anfängen bis zur Gegenwart, Stuttgart 2006, bes. S. 415; Andreas Rödder, Moderne – Postmoderne – Zweite Moderne. Deutungskategorien für die Geschichte der Bundesrepublik in den siebziger und achtziger Jahren, in: Thomas Raithel u. a. (Hg.), Auf dem Weg in die neue Moderne? Die Bundesrepublik Deutschland in den 1970er und 1980er Jahren, München 2009, S. 181–201. 2 Vgl. zuletzt Alexa Geisthövel, Ein spätmoderner Entwicklungsroman. »Saturday Night Fever«/»Nur Samstag Nacht« (1977), in: Zeithistorische Forschungen, Online-Ausgabe 10. 2013, H. 1. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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musikalische Phänomen in Geschichten einwebt und mit außermusikalischen Entwicklungen verbindet. Ohne ausreichende Reflexion der Eigen­dynamik des populärkulturellen Wandels wird Musik dabei erneut zum bloßen Ausdruck allgemeiner politischer, ökonomischer oder geistesgeschichtlicher Veränderungen, die auf Regierungswechsel oder Wirtschaftskrisen, Generationenabfolge oder Wertewandel, »Postmoderne« oder »Neoliberalismus« als die eigentlich veränderungswirksamen Basisprozesse zurückverweisen.3 Solange die oft beschworene Handlungsfähigkeit historischer Akteure (»agency«) nur auf der Seite der Rezeption in Betracht gezogen wird, bleibt »Pop« die Begleitmusik von Geschichten, deren Plots von Politik, Wirtschaft und »Zeitgeist« vorangetrieben werden. Der vorliegende Beitrag geht die Frage nach der Erklärung für populär­ kulturellen Wandel offensiver an und hofft, dadurch sowohl die Eigendynamik als auch die spezifische sozialhistorische Bedeutung kommerzieller Populärmusik herausarbeiten zu können. Er schließt dazu an Forschungen der angloamerikanischen Kultursoziologie und Musikwissenschaft an, die mit der Frage des Verhältnisses zwischen kommerzieller Kultur und Gesellschaft befasst sind und der Geschichtswissenschaft dazu Neues zu sagen haben.4 Aus dieser Forschung bezieht der Beitrag die Vorannahme, dass das kommerzielle, massenhaft verbreitete Musikrepertoire nicht etwa den »Zeitgeist« abbildet, sondern Resultat eines Zusammenspiels von Akteuren ist, die Einfluss auf die Auswahl und die Distribution von Populärmusik haben und in einem relativ geschlossenen professionellen Zusammenhang, der Musikbranche, operieren. Zu diesen Akteuren zählten im vorliegenden Fall das Personal von Schallplattenfirmen, aber auch Musikverleger, Plattenhändler, Programmgestalter im Rundfunk, Marktforscher und Musikjournalisten. Nicht zu diesen Akteuren gehörte dagegen das Publikum, das zwar die letzte Entscheidung über Annahme und Ablehnung des Angebots traf, in dessen Vorauswahl, Aufbereitung, Verbreitung und institutionalisierte Kommentierung jedoch nicht involviert war. Dass 3 So beispielsweise in Axel Schildt u. Detlef Siegfried, Deutsche Kulturgeschichte. Die Bundesrepublik von 1945 bis zur Gegenwart, München 2009; Barbara Hornberger, Geschichte wird gemacht. Die Neue Deutsche Welle. Eine Epoche deutscher Popmusik, Würzburg 2011; Annette Vowinckel, Neue Deutsche Welle. Musik als paradoxe Intervention gegen die »geistig-moralische Wende« der Ära Kohl, in: Archiv für Sozialgeschichte 52. 2012, S. 455–490. Vgl. auch Tom Holert u. Mark Terkessidis (Hg.), Mainstream der Minderheiten. Pop in der Kontrollgesellschaft, Berlin 1996. 4 Richard A. Peterson u. N. Anand, The Production of Culture Perspective, in: Annual Review of Sociology 30.  2004, S.  311–334; Simon Frith, Taking Popular Music Seriously. Selected Essays, Farnham 2007; Elijah Wald, How the Beatles Destroyed Rock ’n’ Roll. An Alternative History of American Popular Music, New York 2009. Vgl. auch Peter Wicke, Rock und Pop. Von Elvis Presley bis Lady Gaga, München 2011. Wegweisend für die Frage nach dem Zusammenhang von Musik und sozialer Differenzierung: Karl Hagstrom Miller, Segregating Sound. Inventing Folk and Pop Music in the Age of Jim Crow, Durham 2009. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

Vom polarisierten zum pluralisierten Publikum

die in Westdeutschland Ende der 1950er Jahre langsam beginnende, um 1980 rasch ausgeweitete Erforschung des Musikpublikums daran etwas änderte, ist höchst zweifelhaft. Wie zahlreiche soziologische und medienwissenschaftliche Studien gezeigt haben, nutzen die Content-Anbieter die von der Publikums­ forschung generierten, oft widersprüchlichen Daten vor allem dazu, Repertoire­ entscheidungen zugunsten eigener Vorstellungen und Interessen zu beeinflussen und zu legitimieren.5 Folglich ist mit dem im Titel benannten Publikum auch nicht eine Menge leibhaftiger Hörerinnen und Hörer gemeint, die mit Musikanbietern in »Verhandlung« getreten wären.6 Vielmehr bezeichnet der Begriff das »institutionell wirksame Publikum« als eine Fiktion, die sich aus Marktforschungsdaten und Verkaufszahlen, aber auch individuellen Beobachtungen und dem sprichwörtlichen »Bauchgefühl« von Musikproduzenten zusammensetzte und an dem sich der kollektive Entscheidungsprozess orientierte.7 Das Publikum interessiert hier zunächst als die Summe der Adressatengruppen, an die sich spezifische Musikgenres richteten. Einmal massenhaft verbreitet, sahen sich die leibhaftigen Mitglieder dieser Gruppen mit Verhaltenserwartungen konfrontiert, die in den jeweiligen Musikgenres gebündelt waren.8 Damit ist der sozialhistorisch höchst relevante Effekt der sozialen Differenzierung durch Populärmusik genannt, den auszuloten das zweite Ziel dieses Beitrags darstellt. Die übliche Perspektive wird damit umgekehrt: Statt Musik als Ausdruck bereits existierender Einstellungen oder gegebener gesellschaftlicher Bedürfnisse zu betrachten, wird hier gefragt, welche Publikumsgruppen von den 1950ern bis in die 1980er Jahre durch Musikgenres konfiguriert wurden. Der erste Teil des Beitrags skizziert die populärmusikalische Landschaft, die sich in Westdeutschland von den 1950er bis zu den späten 1960er Jahren herausbildete. Er beschreibt diese als Polarisierung zwischen englischsprachiger Rockmusik und deutschsprachigem Schlager, inklusive ihrer jeweiligen Publika. Der 5 Im Überblick: Philip Napoli, Audience Evolution. New Technologies and the Transformation of Media Audiences, New York 2010. In der historischen Literatur ist die Unbekanntheit des Publikums unter dem Schlagwort »Verwissenschaftlichung des Sozialen« u. a. von Anja Kruke, Demoskopie in der Bundesrepublik Deutschland. Meinungsforschung, Parteien und Medien 1949–1990, Düsseldorf 2007, und Benjamin Ziemann, Katholische Kirche und Sozialwissenschaften 1945–1975, Göttingen 2007, herausgearbeitet worden. 6 Dieses Verständnis von musikalischer Kommunikation ist in historischen Studien weit verbreitet. Vgl. etwa Sven Oliver Müller u. Jürgen Osterhammel, Geschichtswissenschaft und Musik, in: GG 38. 2012, S. 5–20, hier S. 11 (»Verhandlungsprozess zwischen den Interessen verschiedener Produzenten und Konsumenten«). 7 Zum Begriff der »institutionally effective audience«: James S.  Ettema u. David Charles Whitney, The Money Arrow. An Introduction to Audiencemaking, in: dies. (Hg.), Audiencemaking. How the Media Create the Audience, Thousand Oaks 1994, S. 1–19. 8 Zur Definition des Genres als Bündel von Erwartungen und Konventionen vgl. Jennifer C. Lena u. Richard A. Peterson, Classification as Culture. Types and Trajectories of Music Genres, in: American Sociological Review 73. 2008, S. 697–718, hier S. 698. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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zweite Teil analysiert strukturelle Veränderungen in der Produktion und Verbreitung von Musik, die in einem Zeitraum von vier, fünf Jahren um 1980 kulminierten und die beschleunigte Ausdifferenzierung des Repertoires in Gang brachten. Die nunmehr pluralisierte Genrelandschaft wurde von einem neuen Konsumententypus besiedelt, dem »kreativen Alleskenner«, den es in diesem Zusammenhang zu beschreiben gilt. Der geographische Fokus des Beitrags liegt auf Westdeutschland, doch da das Land in die globale Musikwirtschaft eingebunden war, deren Zentren in den USA und Großbritannien lagen, werden dortige Entwicklungen und transnationale Transfers berücksichtigt.

I. Tanzmusikreformen statt musikalischer Revolutionen: Die westdeutsche Musikproduktion und ihre Publika, 1950–1978 Die 1950er und 1960er Jahre waren in der Geschichte der Populärmusik eine Zeit primär technologischer Umbrüche, die zu Veränderungen der Musik­ produktion und des Repertoires führten. Dies geschah in verschiedenen Ländern zu jeweils anderen Zeiten und mit jeweils anderem Ausgang. Während musikwirtschaftliche Strukturentwicklungen zunächst in den USA Mitte der 1950er Jahre, in den 1960er Jahren auch in Großbritannien popmusikalische Revolutionen auslösten, begegnete man ihren Herausforderungen in Westdeutschland mit organisatorischen Anpassungen, die das bestehende Produktionssystem und dessen output im Großen und Ganzen unverändert ließen. Dies erklärt, warum in Deutschland populäre Musik bis in die 1970er Jahre weit überwiegend nach den alten Formeln der Tanz- und Unterhaltungsmusik produziert wurde, und wirft ein neues Licht auf die Polarisierung, die aus dem Import der englischsprachigen Rockmusik resultierte. Der Ausgangspunkt dieser Geschichte liegt in den frühen 1950er Jahren, als die Musikwirtschaft in den USA wie in Westeuropa noch deutlich die Züge des Verlagsgeschäfts aufwies.9 Musikverleger entwickelten gemeinsam mit Komponisten und Textern musikalische Ideen zur Marktreife, bevor sie mit fertigen Songs an die Musiknutzer, das heißt Radiostationen, Plattenfirmen, Filmgesellschaften, Musiktheater, Konzertveranstalter und Kapellen, herantraten. Diese ließen den Titel weithin erklingen und zahlten Lizenzgebühren für die öffentliche Aufführung und die Vervielfältigung der Titel auf Tonträgern an die Ur­ heber und Verleger. Zum Teil flossen diese Gebühren direkt an die Verleger, zum Teil  wurden sie durch Verwertungsgesellschaften pauschal erhoben und

9 Zum Folgenden s. Klaus Nathaus, Nationale Produktionssysteme im transatlantischen Kulturtransfer. Zur »Amerikanisierung« populärer Musik in Westdeutschland und Großbritannien im Vergleich, 1950–1980, in: Werner Abelshauser u. a. (Hg.), Kulturen der Weltwirtschaft, Göttingen 2012, S. 202–227. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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dann als Tantiemen nach einem zuvor ausgehandelten Verteilungsschlüssel an die affiliierten Verleger, Komponisten und Autoren ausgeschüttet. Im transnationalen Musikrechtehandel besetzten ebenfalls Verleger die zentrale Gatekeeper-Position. Beim so genannten Subverlagsgeschäft überließ ein ausländischer Verleger einem einheimischen Partnerverlag die Auswertung seines Repertoires für das betreffende Gebiet und teilte sich mit diesem die Tantiemeneinkünfte, in den 1950er Jahren in der Regel hälftig. Der Exporteur, zu dieser Zeit meist ein amerikanischer Verleger, konnte auf diese Weise seine Musikrechte im Ausland verwerten, ohne dafür dort in Werbung und den Gebühreneinzug investieren zu müssen. Der Importeur erhielt Zugriff auf Musiktitel, die ihre Zugkraft bereits auf dem weltweit führenden Musikmarkt unter Beweis gestellt hatten. Wichtig ist festzuhalten, dass Exporteure wie Importeure noch bis in die 1960er Jahre davon ausgingen, dass importierte Musik den Hörgewohnheiten des örtlichen Publikums angepasst werden müsse. Amerikanische Hits wurden daher in der Bundesrepublik meist mit deutschen Titeln und Texten versehen, neu arrangiert und von deutschen Musikern und lokalen Stars wie Freddy Quinn oder Peter Kraus neu aufgenommen. Nur bei Sängern wie Elvis Presley und Bill Haley, die dem deutschen Publikum aus Kino und Presse bekannt waren, bemühten sich deutsche Importeure auch um den Vertrieb der Originalaufnahmen. In der Musikwirtschaft der frühen 1950er Jahre war der Verleger die erste Anlaufstelle für Songschreiber und belieferte die Musiknutzer, einschließlich der Plattenfirmen, mit Repertoire. Mit der Verfügbarkeit erschwinglicher Aufnahmegeräte und durch Veränderungen in der Medienökologie, ausgelöst durch den Aufstieg des Fernsehens zum neuen Medium der Familienunterhaltung, verschob sich Mitte der 1950er Jahre in den USA dieses Gefüge.10 Songschreiber begannen, selbst Tonaufnahmen zu produzieren beziehungsweise ihre Musik von unabhängigen Produzenten aufnehmen zu lassen, die wiederum Radio­stationen und Plattenfirmen direkt belieferten. Viele kleine, lokale Radio­ unternehmen, die nach 1947 infolge erleichterter Zulassungsbedingungen ihren Betrieb aufgenommen hatten, beschäftigten nicht mehr Musiker, als mit der Musikergewerkschaft ausgehandelt, und sendeten schon aus Kostengründen vornehmlich Plattenmusik. Diese Sender zeigten sich offen für das Repertoire, das ihnen unabhängige Produzenten kostenfrei überließen, während die Marktführer RCA, Columbia, Capitol und American Decca noch einige Zeit lang versuchten, die Sendung ihrer Platten zu verhindern. Sie folgten der Auffassung, dass Musik, die man kostenfrei im Radio hören konnte, nicht mehr als Plattenaufnahme gekauft werden würde. Die Bedeutung der Tonaufnahme für die Verbreitung von Musik nahm zu, und die Verleger sahen sich vom 10 Diese Veränderung ist treffend als »shift from print to plastic« bezeichnet worden. Vgl. Russell Sanjek, From Print to Plastic. Publishing and Promoting America’s Popular­ Music, 1900–1980, New York 1983. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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Zentrum an den Rand der Musikwirtschaft gedrängt. Die populärmusikalische Revolution, die aus dieser Strukturentwicklung resultierte, bestand in der vergleichsweise plötzlichen und relativ ungefilterten Präsenz eines Repertoires, das sich nach der Abwanderung der Erwachsenen auf die Fernsehcouch explizit an das jugendliche Radiopublikum richtete und als »Rock ’n’ Roll« vermarktet wurde.11 In der westdeutschen Musikbranche nahm man diese Entwicklungen aufmerksam wahr und zog daraus Konsequenzen. Als erfolgreich erwiesen sich zwei Anpassungsstrategien. Die eine bestand darin, dass Musikverleger in eigene Tonstudios investierten, um selbst Bänder zu produzieren. Start­kapital und Produktionswissen erhielten sie durch das Subverlagsgeschäft und ihre amerikanischen Kontakte. Zu den ersten produzierenden Verlegern in Westdeutschland gehörten Ralph Maria Siegel und Will Meisel, die beide 1960 eine Produktionsfirma gründeten. Siegel hatte sich früher als andere Verleger der Auswertung ausländischer Musiktitel zugewandt,12 und Meisel hatte seinen Sohn Peter 1955 in die USA zu Hill & Range in die Lehre geschickt,13 einem der führenden Verlage für Country, Blues und Gospel. Mit den dort gesammelten Erfahrungen führte Peter Meisel die väterlichen Geschäfte weiter und gründete mit seinem Bruder Thomas 1962 die Hansa Musik Produktion, die sie in den darauf folgenden Jahren zum führenden Independent-Label in Deutschland aufbauten.14 Eine zweite Strategie, die einer Reihe von Verlegern und Produzenten die zentrale Gatekeeper-Position sicherte, bestand darin, Programmgestalter im öffentlich-rechtlichen Rundfunk mit Gefälligkeiten, Geschenken oder Gewinnbeteiligungen zum häufigen Einsatz des betreffenden Repertoires zu motivieren. Der erste dieser Fälle nach dem Krieg wurde 1949 ruchbar, als Kurt Feltz, damals Leiter der Musikalischen Unterhaltung beim NWDR , von ihm selbst betextete Musiktitel überproportional oft ins Programm nahm und im sendereigenen Tonstudio Aufnahmen produzierte, die er dann den Plattenfirmen anbot. Feltz musste seinen Stuhl beim Sender räumen, wechselte aber buchstäblich bloß die Straßenseite, um im Haus des Verlegers Hans Gerig in der Kölner Drusus­gasse ein Büro als unabhängiger Produzent zu beziehen. Dank seiner guten Kontakte vermochte Feltz weiterhin zahlreiche Titel seiner Verlags­ partner im Radioprogramm zu platzieren. Ein ähnliches Netzwerk zwischen Musikverlag und Rundfunkanstalt existierte beim Bayerischen Rundfunk um

11 Richard A. Peterson, Why 1955? Explaining the Advent of Rock Music, in: Popular Music 9. 1990, S. 97–115. 12 Art. Siegel Signs 3-Way Deal, in: Billboard, 7.7.1951, S. 10. 13 Klaus Eidam u. Rudolf Schröder, 100 Jahre Will Meisel. Eine Berliner Geschichte mit Musik, Berlin 1997, S. 94. 14 Dies., Die Hit-Fabrik. Zweiter Teil der Geschichte eines Berliner Musikverlages, Berlin 2001. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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den Programmgestalter Hans Ger Huber und seine Frau, die Liedtexterin Fini Huber-Busch.15 Entweder eingebunden in Netzwerke zwischen Verlag und Rundfunk oder ausgerüstet mit eigenen Tonstudios etablierten sich in Westdeutschland Produktionsteams, die ihre professionelle Sozialisation zumeist noch im »klassi­ schen« Verlagsgeschäft erfahren hatten und nach den überkommenen Formeln Tanz- und Unterhaltungsmusik veröffentlichten. Independent production, in den USA der 1950er Jahre synonym für Sound von den Rändern der Musikwirtschaft, wurde in Westdeutschland zuerst von Akteuren betrieben, die man eher zum Establishment der Branche zählen würde. Die Ankunft des Rock ’n’ Roll brachte diese Männer und vereinzelten Frauen nicht aus der Ruhe. Als eine vorübergehende Mode wurde er wie jedes andere ausländische Repertoire ausgewertet, das heißt finanziell wie stilistisch in die Bahnen der heimischen Schlager­produktion gelenkt. Hatte die westdeutsche Musikbranche mit organisatorischen Anpassungen auf die beginnende Verschiebung vom Verlags- zum Plattengeschäft reagiert, sahen sich ihre Vertreter ab 1963 mit der nächsten Herausforderung konfrontiert. Der gewaltige Erfolg der Beatles und die nachfolgende Beatwelle verdeutlichten, dass es dem deutschen Musikpublikum offenbar nichts ausmachte, anglophone Originalaufnahmen zu kaufen. Eine Grundannahme des Sub­verlagsgeschäfts, der gemäß das Publikum Versionen des importierten Repertoires in seiner Sprache verlangte, wurde dadurch entkräftet. Dies wiederum schwächte die Verhandlungsposition deutscher Verleger mit ihren britischen und amerikanischen Partnern, und deutsche Subverleger mussten sich mit abnehmenden Gewinnanteilen und kürzeren Auswertungszeiträumen zufrieden geben. Zwar blieb das Subverlagsgeschäft eine wichtige Stütze für die west­deutsche Produktion, wie die Branchenjournalistin Ursula Schuegraf 1971 in der US -amerikanischen Zeitschrift Billboard mit Bestimmtheit feststellte: »No German publisher can really be successful today without good AngloAmerican catalogs and it is the exploitation of these which enables him to do some promotion of German artists and writers.«16 Jedoch war für westdeutsche Produzenten absehbar, dass sich die eigene Position nur stetig verschlechtern würde, wenn sie nicht den Marktanteil der heimischen Musik steigern konnten. Dazu musste man vor allem die jugendliche Hörerschaft ansprechen, die man an den Beat verlor. Auf der Suche nach diesem Publikum gerieten die Diskotheken in den Blick, die ab etwa 1960 in größeren deutschen Städten eröff15 Einzelheiten zu diesen und anderen Fällen aus den 1950er und frühen 1960er Jahren in: Klaus Nathaus, From Dance Bands to Radio and Records. Pop Music Promotion in West Germany and the Decline of the Schlager Genre, 1945–1964, in: Popular Music History 6. 2011, S. 289–309, hier S. 295–298. 16 Ursula Schuegraf, The Sad Outlook for German Copyrights, in: Billboard, 16.10.1971, Supplement, S. 2 (Hervorhebung im Original). © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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net hatten und rasch in die Provinz vordrangen. Frühe Diskotheken in Westdeutschland waren noch weit entfernt von den Tanztempeln der späten 1970er. Die um 1960 erstmals eröffneten Tanzbar-Diskotheken glichen in vielen Belangen eher den Tanzlokalen des vorangegangenen Jahrzehnts, denn DiskJockeys agierten nicht einfach als stumme Plattenaufleger, sondern als Conférenciers, die ein altersgemischtes Publikum mit launigen Ansagen, zuweilen auch Spielen und Einlagen unterhielten. Sorgsam achteten die Plattenjockeys dieser Tanzetablissements auf Distanz zu den »Beatschuppen«, deren Zahl in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts schnell zunahm und die fast ausschließlich von Jugendlichen besucht wurden. Während sich dort nach Ansicht der ver­ öffentlichten Meinung und der Behörden Jugendliche im Halbdunkel zu ungehörigen bis kriminellen Aktivitäten trafen, bot nach Darstellung der Jockeys die Tanzbar-Diskothek einem mit den Anstandsregeln vertrauten Publikum von 16 bis sechzig Jahren moderne Tanzmusik und gepflegte Geselligkeit.17 Die deutsche Musikbranche und die Tanzbar-DJs gingen Mitte der 1960er Jahre eine enge und folgenreiche Verbindung ein. Auf der Suche nach dem verlorenen Jugendpublikum stießen produzierende Musikverleger und Schall­ plattenfirmen auf eine Gruppe von Disk-Jockeys, die nach professioneller Anerkennung strebten und sich der Schallplattenindustrie als Partner anboten. Unter der Führung Klaus Quirinis, der zuerst 1959 in Aachen Schallplatten aufgelegt hatte, gründeten westdeutsche DJs 1964 die Deutsche Disc-Jockey Organisation (DDO) unter anderem mit dem Ziel, von den Schallplattenfirmen kostenlos mit neuen Veröffentlichungen bemustert zu werden.18 Im Gegenzug empfahlen sich die Disk-Jockeys als Marktforscher, die den Musikproduzenten Einblicke in die Vorlieben des modernen Tanzpublikums zu geben versprachen. Dazu trugen DDO -DJs ihre Beobachtungen zur Beliebtheit von Neuerscheinungen der nationalen und internationalen Popmusik zusammen. Sie gaben Dispositionsempfehlungen für den Plattenhandel und eine Rangliste der zwanzig beliebtesten Diskotitel heraus, die ab 1966 monatlich in der Branchenzeitschrift Musikmarkt erschien. Der Musikmarkt legte seinen Lesern das Studium dieser Liste nahe, weil der Handel aus ihr »auf authentische Weise erfährt, was der Jugendliche haben möchte, wenn er einen Schallplattenladen betritt«. Platten­ firmen seien mit dieser Information in der Lage, »frühzeitig« und »ohne umständliche Recherchen« zugkräftige Nummern zu erkennen.19 Hoffnungen, über die Disk-Jockeys als Seismographen den jugendlichen Musikgeschmack registrieren zu können, wurden in den folgenden Jahren je17 Dazu Klaus Nathaus, »Moderne Tanzmusik« für die Mitte der Gesellschaft. Disko­t heken und Disk-Jockeys in Westdeutschland, 1960–1978, in: Bodo Mrozek u. a. (Hg.), Popgeschichte. Bd. 2: Zeithistorische Fallstudien, Bielefeld 2014 (im Erscheinen). 18 Heinrich (sic) Quirini, Die »Deutsche Disc-Jockey-Organisation« verdrängt keine Kapellen, in: Der Musikmarkt 12. 1965, S. 26. 19 Hit-Parade der »Deutschen Disc-Jockey-Organisation«. Neue Dispositionshilfe für den Handel, in: Der Musikmarkt 1. 1967, S. 1. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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doch schon deshalb enttäuscht, weil die Listen, die Roberto Blanco und Barry White, den »King of Soul«, James Brown, und den deutschen Bundespräsidenten, ­Walter Scheel (mit seiner Single »Hoch auf dem gelben Wagen«), im selben Atemzug priesen,20 viel zu heterogen waren, um musikalische Trends anzuzeigen. Wichtiger als die Marktforschung wurden die ab 1970 von der DDO veranstalteten Branchentreffen sowie die Diskothekentour als Probebühne für Gesangstalente. Die Tournee in Diskotheken wurde über den Verband der Deutschen Disko­theken-Unternehmer (DDU) organisiert, dessen Gründung 1968 ebenfalls von Quirini initiiert worden war. Die halbjährlichen »Künstlermeetings« der DDO, im selben Jahr erstmals veranstaltet, zogen führende Produzenten und ein­f lussreiche Plattenmanager an und wurden so zum Sprungbrett für steigende Schlagersterne von Howard Carpendale und Peter Maffay bis Peter Orloff und Christian Anders. Hinzu kamen Jack White, Frank Farian und Giorgio ­Moroder, die sich nach Anfängen als Sänger bald darauf als Produzenten etablierten. Die Diskothekenszene bildete ferner einen wichtigen Pool zur Rekrutierung von Mitarbeitern in den Marketingabteilungen der Branche. So wechselte eine Reihe von DDO -DJs von den Plattenspielern zu den Plattenfirmen, wo sie als Senderbetreuer und Diskothekenpromoter angestellt wurden. Der Einfluss der Diskotheken auf die deutsche Musikproduktion zeigt sich in den 1970er Jahren schließlich beim Fernsehen, dessen in dieser Dekade einflussreichsten Popmusik-Programme, insbesondere die 1969 erstmals ausgestrahlte ZDF-Hitparade, sich in der Studiokulisse, dem Auftrittsformat und der Interpretenliste an Diskotheken orientierten.21 Die westdeutsche Musik­ branche modernisierte sich also ab Mitte der 1960er Jahre in Partnerschaft mit Diskotheken, die sich ihrerseits nicht wesentlich vom Tanzlokal der 1950er Jahre fortbewegten. So verarbeitete die Branche den technologischen Wandel und Anzeichen eines veränderten Publikumsgeschmacks, ohne dabei das vertraute Terrain der Tanzmusik zu verlassen. Die Musik, die in diesem Umfeld entstand, blieb in der Harmlosigkeit ihrer Themen, der Eingängigkeit ihrer Melodien und der Tanzbarkeit ihrer Rhythmen Formeln verhaftet, die sich bis mindestens in die 1950er Jahre zurückverfolgen lassen. Während sich westdeutsche Musikproduzenten an der Diskothekenentwicklung orientierten, tauchte in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre Rockmusik als die nächste Herausforderung auf. Dieses Genre hatte zunächst in Groß­ britannien und den USA feste Formen angenommen, als Beat-Bands, allen­ 20 DDO/DDU-Disk-Jockeys tippen, in: musik-informationen 1. 1974, S. 26. 21 ZDF-Hitparaden-Redakteur Dieter Weber wurde auf mindestens einem DDO -Treffen gesichtet: Vgl. Art.  Diskothekenmeeting in Aachen, in: musik-informationen 6.  1975, S.  4.  – Der Beat Club von Radio Bremen dagegen, der 1965 erstmals auf Sendung gegangen war, hatte sich zu dieser Zeit bereits von Playback und deutschen Gruppen verabschiedet und sich voll und ganz auf progressive Rockbands konzentriert, die nunmehr live auftraten: Vgl. dazu Detlef Siegfried, Time Is on My Side. Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur der 60er Jahre, Göttingen 2006, S. 232 f. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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voran die Beatles, den aus ihrem kommerziellen Erfolg resultierenden Autonomiegewinn nutzten, um von ihnen selbst komponierte Songs aufzunehmen und mit musikalischen Experimenten über das Format des dreiminütigen Liebesliedes hinauszugehen. Begünstigt wurden diese Experimente unter anderem durch Neuentwicklungen in der Studiotechnologie, deren Möglichkeiten von einer Gruppe jüngerer Musikproduzenten ausgelotet wurden.22 Entscheidend war aber, dass die musikalischen Experimente bald von Musikjournalisten ernst genommen und umfänglich gedeutet und bewertet worden waren. Auf diese Weise hatte Rockmusik sehr bald einen eigenen, lebendigen Kanon von Bands und Werken (das heißt Musikalben) entwickelt. Dieser Kanon wiederum forderte die Musiker heraus, mit weitergehenden Experimenten die Geschichte von Einflüssen und Weiterentwicklungen fortzuschreiben. Zugleich verknüpften die Protagonisten des Rockgenres die Musik mit außermusikalischen Themen und steigerten so ihre Bedeutung. Rockmusiker und -kritiker gaben sich große Mühe, ihre Musik als »authentischen« Ausdruck sozialer und politischer Verhältnisse erscheinen zu lassen.23 Zur Profilierung des Genres wurde Rock gegen arbeitsteilige, formelhafte und kommerzielle Popmusik abgegrenzt. Das geschah auch in den Ursprungsländern des Genres. Jedoch konnten Rockbands und -produzenten in den USA und Großbritannien diese Grenzlinie nicht so scharf ziehen. Denn Rockmusik war selbst wirtschaftlich überaus erfolgreich und eröffnete einer Kohorte junger Männer Karrieremöglichkeiten im »music business«, so dass die Abgrenzung gegen den »Kommerz« kaum überzeugt hätte. In Westdeutschland hatte die scharfe Unterscheidung zwischen »authentischer« Rockmusik und kommerziellem Pop größere Plausibilität. Dies lag zum einen an der unangefochtenen Dominanz der Schlagermacher in der westdeutschen Musikbranche, zum anderen an der Art, wie das Rockgenre in Deutschland eingeführt wurde. Die frühen deutschen Adepten englischsprachiger Rockmusik waren häufig Publi­ zisten wie Rolf-Ulrich Kaiser, Siegfried Schmidt-Joos, Jürgen Deutschmann (alias Barry Graves) oder Frank Laufenberg, die sich mit detaillierten Kenntnissen über die anglo-amerikanische Szene in Deutschland einen Namen machten. Diese und weitere Journalisten arbeiteten sich zunächst in das vorhandene englisch­sprachige Material ein und stützten in ihren Veröffentlichungen den Eindruck, dass Rockmusik eine ausschließlich anglophone Musik sei.24 Mitunter geschah dies explizit, indem die für Rockmusik konstitutive »Authentizität« für Musiker aus den USA und Großbritannien reserviert wurde mit der 22 Dazu ausführlich Gordon Thompson, Please Please Me. Sixties British Pop, Inside Out, Oxford 2008. 23 Motti Regev, Producing Artistic Value. The Case of Rock Music, in: Sociological Quarterly 35. 1994, S. 85–102. 24 Wolfgang Rumpf, Pop & Kritik. Medien und Popkultur. Rock ’n’ Roll, Beat, Rock, Punk; Elvis Presley, Beatles/Stones, Queen/Sex Pistols in Spiegel, Stern & Sounds, Münster 2004. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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Begründung, dass nur in diesen Ländern der sozio-ökonomische und kulturelle Nährboden existierte, in dem Rockmusik hatte wurzeln können.25 Rock wurde zu einer Form von Wissen, das nach der Übersetzung durch kundige Kritiker verlangte und heimische Bands, die nach dem Vorbild der Beatles und­ Stones zur Gitarre griffen, von vornherein als bloße Kopien erscheinen ließ. Die Schwierigkeiten des westdeutschen »Krautrock« Anfang der 1970er Jahre verdeutlichen die Härte der Genrekonventionen. Während Krautrock-Bands von amerikanischen und britischen Kritikern und Musikerkollegen Anerkennung erhielten, wurde ihre Musik im eigenen Land bestenfalls als »gut gemacht« bewertet und von heimischen Plattenfirmen, deren Affinitäten eher bei diskothekenkompatibler Tanzmusik lagen, mit einer kurzfristigen Marketingstrategie »verbrannt«.26 Die klare Trennung zwischen anglo-amerikanischer Rockmusik und deutschem Schlager akzentuierte eine Polarisierung, die in der Unterschiedlichkeit der Genres angelegt war. Schlagermusik richtete sich in ihrer Unverbindlichkeit und einfachen Verständlichkeit an das breite, undifferenzierte Publikum all derjenigen, die bloß Entspannung und Vergnügen im Tanz suchten oder aufgrund mangelnder Bildung und Reife (noch) nicht für »gehobene« Unterhaltungsmusik oder gar Kunstmusik empfänglich waren. Das Genre war weiterhin von naiver, und das heißt weiblich konnotierter Begeisterung für substanzlose »Interpreten« gekennzeichnet. Die Schlagermacher selbst distanzierten sich von dieser Begeisterung, indem sie ihre Tätigkeit als ein Handwerk beschrieben, das darauf gerichtet sei, den Leuten zu geben, was sie verlangten.27 Rockmusik dagegen richtete sich an ein reiferes, kritisches Publikum, dem die Möglichkeit eröffnet wurde, aus der intensiven, ernsthaften Rezeption der Musik und ihrer Botschaften gegenkulturelle Identität zu beziehen. Dem Selbstverständnis nach setzte die Rockmusik der Formelhaftigkeit und der Oberflächlichkeit des Schlagers Kreativität, Originalität, authentisches Empfinden und tief schürfende Gedanken entgegen. Diese Gegensätze erreichten eine besondere Schärfe in einem Umfeld, in dem die Produzenten des deutschsprachigen Schlagers das Feld der Musik­ produktion bestimmten und die Anhänger des englischsprachigen Rock sich selbst als Angehörige einer Gegenkultur identifizieren konnten, die mit der Mehrheitsgesellschaft nicht einmal die Sprache teilte. In dieser Sichtweise wurde aus dem nur scheinbar harmlosen Schlager eine gefährliche Wucherung allgemein kapitalistischer, aber auch spezifisch deutscher Missstände, die in Wissenschaft und Öffentlichkeit sozialpsychologisch und ideologiekritisch seziert 25 Vgl. etwa Tibor Kneif, Über die Schwierigkeit, deutschen Rock zu hören, in: Musik und Bildung 8. 1976, S. 217 f. 26 Henning Dedekind, Krautrock. Underground, LSD und kosmische Kuriere, Höfen 2008. 27 Vgl. die Darstellung des Verlegers und Managers Hans R. Beierlein in Axel Eggebrecht, Warum nur, warum? Das Phänomen Udo Jürgens, Wien 1971. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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wurde.28 Scharf unterschied beispielsweise der Spiegel in einem 1970 erschienenen Heft mit dem Titel »Popmusik« zwischen anglo-amerikanischer Untergrund-Musik und deutschem Schlager und ließ in diesem Zusammenhang die heimische Kritik am englischsprachigen Beat für sich selbst sprechen, indem er aus Zuschriften an die ARD in Reaktion auf Beat-Sendungen zitierte. Ein Einsender formulierte das Bedauern, »daß wir keinen Hitler mehr haben, der diesem Unwesen entgegensteuern würde«, ein zweiter warf die Frage auf, ob man ein »Kolonialvolk« von England und Amerika sei, ein dritter kündigte an, »[m]it einem eisernen Besen wird dieses geisteskranke Ge­sindel, ungewaschen, unrasiert und langhaarig, demnächst aus unserem Vaterland hinausgefegt.«29 Unabhängig von der Frage der Repräsentativität solcher Äußerungen wurde populäre Musik als Resonanzraum für Debatten um die politische Lage der Bundesrepublik genutzt. Der Gegensatz von anglophonem Rock und deutschem Schlager diente dazu, die Frontstellung zwischen den Anhängern einer im weitesten Sinne außerparlamentarischen Opposition und der Mehrheitsgesellschaft im Bereich der Populärkultur abzubilden und zu ver­tiefen. Auf diese Weise wurde ein politischer Konflikt in einen fundamentalen, sozial­ psychologisch motivierten Gegensatz zwischen dem »deutschen W ­ esen« und dem »authentisch Anderen« transformiert und verstärkt. Mit diesem »Anderen« ließ es sich umso leichter identifizieren, je sicherer man es aus der Ferne beobachten konnte.30

II. Die Permissivität der Zahlen und das Auftauchen des popmusikalischen Alleskenners: Strukturwandel in der Populärmusik um 1980 Die Jahre um 1980 waren eine Blütezeit der popmusikalischen Do-it-yourselfProduktion, nicht nur in den USA und Großbritannien, sondern auch in anderen Ländern der industrialisierten Welt.31 Musik, die im Westen unter Genre28 Vgl. Christoph Nonn, Der Schlager und die westdeutsche Gesellschaft nach 1945, in: Sabine Mecking u. Yvonne Wasserloos (Hg.), Musik, Macht, Staat. Kulturelle, soziale und politische Wandlungsprozesse, Göttingen 2012, S.  259–285, bes. S.  263–265. Beispiele für zeitgenössische wissenschaftliche Arbeiten sind Dietrich Kayser, Schlager – Das Lied als Ware. Untersuchungen zu einer Kategorie der Illusionsindustrie, Stuttgart 1975, und Elke Stölting, Deutsche Schlager und englische Popmusik in Deutschland. Ideologie­ kritische Untersuchung zweier Textstile während der Jahre 1960–1970, Bonn 1975. Als ein Beispiel für die Berichterstattung in Presse und Rundfunk s. Art.  Hammer zum Glück, in: Der Spiegel 16. 1970, S. 224. 29 Das schreit zum Himmel, in: Der Spiegel 25. 1970, S. 119. 30 Vgl. Siegfried, Time Is on My Side, S. 376. 31 In Indien beispielsweise zog die Verbreitung der Musikkassette und des entsprechenden Rekorders einen Boom an lokal produzierter Musik nach sich. Vgl. dazu Peter Manuel, Cassette Culture. Popular Music and Technology in North India, Chicago 1993. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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bezeichnungen wie »Punk« und »New Wave« kommerziellen Erfolg verbuchte, wurde abseits der großen Unternehmen von kleinen Firmen produziert, die unter anderem mit von majors ausgemustertem Studioequipment operierten. In Großbritannien entstanden einige wichtige Labels wie Rough Trade und Beggars Banquet aus Plattenläden heraus, die sich wiederum lose zu regionalen Vertriebsnetzwerken zusammenschlossen und so den Absatz der Platten sicherten.32 Manche Titel wurden lediglich auf Audiokassetten verbreitet, die einfacher zu bespielen und zu vervielfältigen waren und mitunter in der Musikpresse besprochen wurden. In Westdeutschland schlugen ab etwa 1980 zahlreiche alternative Bands diesen Vertriebsweg ein und brachten ihre Aufnahmen in Auflagen von maximal einigen hundert Exemplaren über großstädtische Läden und per Lieferauftrag unter die Leute. Eine Kolumne in der deutschen Musikzeitschrift Sounds, in der Punkproduzent Alfred Hilsberg ausschließlich Kassettenaufnahmen besprach, sicherte diesem Repertoire überregionale Aufmerksamkeit.33 Ein weiteres wichtiges Element der independent-Szene waren die von Enthusiasten in Eigenregie hergestellten Fanzines, die mit Konzertund Plattenbesprechungen und nicht zuletzt mit ihrer rohen Optik das Erscheinungsbild dieser neuen Musikszene prägten. Über Fanzines, aber auch in Publikationen etablierter Verlage wurde ferner wichtiges Produktionswissen verbreitet. In Deutschland erschienen ab 1977 im Rowohlt-Verlag die jährlichen Taschenbücher der Reihe Rock Session, deren Leserinnen und Leser unter anderem detaillierte Auskünfte darüber bekamen, wie man in Eigenregie Masterbänder aufnimmt, welche Presswerke Schallplatten davon herstellen und wie man den Vertrieb organisieren kann. Dass die Bände der Rock Session neben Beiträgen deutscher Autoren auch übersetzte Artikel englischer und amerikanischer Autoren wie Lester Bangs, Simon Frith und Hunter S.  Thompson enthielten, verweist auf den Transfer dieses Wissens.34 Viele Aktive in der westdeutschen Rock- und Popszene musste man allerdings nicht mehr von den Möglichkeiten der Musikproduktion unterrichten. So waren viele Protagonisten des Mitte der 1970er Jahre von der Industrie fallen gelassenen »Krautrock« weiterhin als Musiker und Produzenten aktiv. Die Berliner Band Ideal beispielsweise, Anfang der 1980er Jahre unter den Vorreitern der Neuen Deutschen Welle, wurde von den vormaligen Krautrock-Produzenten Klaus D. Müller und Conny Plank aufgenommen.35

32 David Hesmondhalgh, Post-Punk’s Attempt to Democratise the Music Industry. The Success and Failure of Rough Trade, in: Popular Music 16. 1998, S. 255–274, hier S. 258 f.; Neil Taylor, Document and Eyewitness. An Intimate History of Rough Trade, London 2010. 33 Wolfgang Müller, Subkultur Westberlin 1979–1989. Freizeit, Hamburg 2013, S. 278 f. 34 Vgl. die beiden ersten Bände von Jörg Gülden u. Klaus Humann (Hg.), Rock Session. Magazin der populären Kultur, Reinbek 1977 bzw. 1978. 35 Dedekind, Krautrock, S. 227. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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Krautrock-Veteranen ebenso wie Neueinsteiger profitierten mitunter von der ebenfalls am Ende der 1970er Jahre einsetzenden öffentlichen Förderung heimischer Bands. Westberlin begann als erste Stadt in Deutschland 1979 mit der Förderung von Rockmusik und bestellte einen »Rockbeauftragten«. Mit einem Etat von zunächst gut 300.000 DM unterstützte der Senat die heimische Rockmusikszene durch Zuschüsse für Veranstaltungs- und Studiokosten, Vermittlung von Proberäumen, Vernetzung der Szene sowie einen Bandwettbewerb, dessen Gewinner auf Senatskosten eine Single herstellen konnte.36 Zwei Jahre darauf folgte Hamburg dem Berliner Beispiel durch die Gründung des Vereins RockBüro, der als Anlaufstelle für lokale Bandprojekte fungierte. Neben kommunalen Initiativen wandte sich die Deutsche Phono-Akademie, ein vom Verband der Musikindustrie 1973 ins Leben gerufenes Kulturinstitut, dem Rocknachwuchs zu und veranstaltete 1978 erstmals ein Pop-Nachwuchsfestival für heimische Bands.37 Begleitet wurde diese Initiative von Diskussionen um eine stärkere Professionalisierung der heimischen Szene, die 1980 in einem ersten Kursangebot für angehende Interpreten, Komponisten und Arrangeure von Popmusik an der Hochschule für Musik und darstellende Kunst in Hamburg umgesetzt wurden.38 Lokale Initiativen und öffentliche Förderung halfen Amateurmusikern bei ihren ersten Schritten aus dem Proberaum vor ein größeres Publikum. Allerdings vermochten Eigeninitiativen und verbesserte Bedingungen allein noch nicht, neue Talente und Ideen in der von deutscher Schlager- und Tanzmusik und importierter Rockmusik dominierten Musikwirtschaft zu etablieren. Überhaupt waren für den Wandel des weithin verbreiteten, kommerziell erfolgreichen Repertoires Impulse an der Basis des Musikmachens allenfalls eine Voraussetzung. Entscheidend für entsprechende Veränderungen war, dass die westdeutsche Musikbranche durchlässiger wurde für unbekannte Künstler und unerprobtes Repertoire. Dafür sorgten mehrere Strukturentwicklungen, die erneut auf dem weltweit führenden Musikmarkt ihren Ausgang nahmen und in Deutschland um 1980 Wirkung zeigten. Nachdem die 1950er und 1960er Jahre vor allem durch Wandel im Bereich der Musikproduktion gekennzeichnet waren, betrafen die technologischen und wirtschaftlichen Veränderungen des darauf folgenden Jahrzehnts vornehmlich die Bereiche Marketing und Vertrieb. Die Folgen für das Repertoire waren jedoch nicht minder einschneidend. Die erste wichtige Veränderung bestand darin, dass die führenden internationalen Plattenfirmen begannen, einen Teil  ihrer Musikproduktion auszula36 Art. Berlin. Subvention für Rockmusik, in: Der Spiegel 29. 1980, S. 137; Lutz Manthe u. a. (Hg.), Rock City. Handbuch zur aktuellen Situation der Berliner Rockszene, Berlin 1981. 37 Art. Pop-Nachwuchs-Festival ’78 verzeichnet große Resonanz, in: Der Musikmarkt 15. 1978, S. 5. 38 Art. Förderung des Pop-Nachwuchses nimmt langsam Formen an, in: Der Musikmarkt, 12. 1980, S. 12. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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gern und verstärkt in ihre Vertriebsorganisation zu investieren. In den 1950er Jahren hatten die majors unabhängige Produzenten noch als Konkurrenten behandelt und versucht, sie aufzukaufen beziehungsweise ihre erfolgreichen Künstler abzuwerben. In den 1970er Jahren gingen Unternehmen wie Columbia, EMI und PolyGram dazu über, Vertriebsvereinbarungen mit kleinen Firmen zu schließen. Diese Verträge ließen den »indies« die Freiheit, aber auch das Risiko bei der Entwicklung neuer Talente und Repertoires, während sich die majors als Vertriebsfirmen auf die Plattenherstellung, den Verkauf und die Rechteverwertung konzentrierten. Diese strategische Neuausrichtung hatte sich in den 1960er Jahren abgezeichnet und wurde in einer von der Columbia Record Group beauftragten Studie zur Vermarktung von Soul-Musik erstmals klar formuliert. Die Studie lag 1972 vor und wurde in der Industrie als Harvard Report einschlägig.39 Flexibilisiert wurden ferner die Beziehungen zu Mitarbeitern in den Bereichen Promotion und Management. Die deutsche Fachpresse registrierte 1977 den Trend, dass Angestellte von Plattenfirmen, die für die Werbung von Künstlern und Repertoires in Rundfunk und Presse zuständig waren, vermehrt in die Selbständigkeit wechselten, um in freier Mitarbeit für dieselben Unternehmen zu arbeiten. Derartige Arbeitsverhältnisse habe man aus den USA übernommen. Ehemaligen Angestellten, die über gute Kontakte verfügten, versprach die Selbständigkeit ein höheres Einkommen. Die Plattenfirmen ihrerseits förderten die Entwicklung, da sie davon ausgingen, mit dem Versprechen auf Tuchfühlung zu den Stars jederzeit engagierten Nachwuchs finden zu können.40 Die gesetzliche Zulassung privater Künstlervermittlung im Juli 1978 förderte den Flexibilisierungstrend im Bereich des Künstlermanagements weiter, denn er legalisierte nun die Betätigung von Agenten, die sich außerhalb bestehender Unternehmensstrukturen um die Vermarktung ihrer Künstler-Klienten kümmerten. Bis zu dieser Änderung war die Künstlervermittlung prinzipiell den staatlichen Arbeitsämtern vorbehalten gewesen und de facto meist ent­ weder illegal oder von Angestellten der Plattenfirmen und Musikverlage er­ ledigt worden.41 Während die großen Plattenfirmen ihre Beziehung zu Produzenten, Promotern, Managern und Künstlern flexibilisierten, erweiterten sie ihren direkten Zugriff auf die Distribution. Statt die internationale Vermarktung weiterhin über die Vergabe von Lizenzen an ausländische Partnerfirmen zu betreiben,

39 David Sanjek, Tell Me Something I Don’t Already Know. The Harvard Report on Soul Music Revisited, in: Norman Kelley (Hg.), Rhythm and Business. The Political Economy of Black Music, New York 2002, S. 59–76. 40 Uwe Tormann, Flucht vom Schleudersitz in die Selbständigkeit, in: musik-informationen 10. 1977, S. 32. 41 Art. Bundesanstalt für Arbeit läßt Privatvermittlung zu, in: Der Musikmarkt 14. 1978, S. 5. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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bauten sie auf Exportmärkten eigene Vertriebsstrukturen auf, indem sie im Ausland Niederlassungen gründeten oder lokale Firmen aufkauften.42 Das Kapital für diese Expansion stammte nicht nur aus den wachsenden Profiten der Branche, die 1973 einen Umsatz von 2 Milliarden Dollar erreichte und so groß war wie die Filmindustrie und der kommerzielle Sport zusammen. Es kam mitunter auch von branchenfremden Investoren, die mit Börsenkapital Firmen aus dem music business übernahmen und mit einer Reihe anderer Unternehmen von der Filmgesellschaft bis zur Parkhauskette in komplexen Konzernstrukturen zusammenführten.43 Internationale Expansion und vertikale Integration verlangten nach neuen Formen der Unternehmensorganisation. In kleineren und mittleren Musikproduktionsfirmen liefen alle Fäden bei Eigentümern zusammen, die oft selbst ein unmittelbares Interesse an der Musik hatten und direkten Einfluss auf Repertoireauswahl und Produktion nahmen. In multinationalen Konzernen dagegen bildete das Musikgeschäft Organisationseinheiten, die mit anderen Bereichen um die Ressourcen des Unternehmens konkurrierten. Diese Einheiten waren wiederum in Abteilungen gegliedert, die jeweils ein bestimmtes Musikgenre vermarkteten und ihrerseits um begrenzte Budgets wetteiferten. In diesen Organisationen gewannen Absatzzahlen, Chartplatzierungen und Marktforschungsdaten gegenüber dem »Bauchgefühl« und dem Argument vergangener Erfolge an Bedeutung, denn Zahlen gewährleisteten Vergleichbarkeit und machten Entscheidungen vor der nächsthöheren Konzernebene darstellbar.44 An der Ermittlung entsprechender Zahlen arbeitete man in Westdeutschland verstärkt seit 1976, als der Bundesverband der Phonographischen Wirtschaft beschloss, den Unsicherheiten des Handels in Dispositionsfragen abzuhelfen und an die Stelle diverser, voneinander abweichender Hitparaden eine offizielle Deutsche Verkaufs-Hitparade zu setzen.45 Bestsellerlisten, die auf Angaben des Schallplattenhandels sowie von Musikboxenaufstellern basierten, wurden in der westdeutschen Branchenpresse seit der zweiten Hälfte der 1950er Jahre veröffentlicht. Allerdings lag diesen Listen noch bis in die 1970er Jahre hinein eine vergleichsweise schmale Datenbasis mit Angaben von maximal zweihundert Einzelhändlern zugrunde. Noch problematischer war die Tatsache, dass eine ganze Reihe von Hitlisten im Umlauf war, die auf unterschiedlichen, oft

42 Für die europäischen Firmen Bertelsmann und PolyGram s. Peter Wicke, Ein Konzern schreibt Musikgeschichte. Bertelsmann und die Musik, in: Bertelsmann AG (Hg.), 175 Jahre Bertelmann. Eine Zukunftsgeschichte, München 2010, S. 172–207, hier S. 194– 197; Gerben Bakker, The Making of  a Music Multinational. PolyGram’s International Business, 1945–1998, in: Business History Review 80. 2006, S. 81–123. 43 Reebee Garofalo, Rocking Out! Popular Music in the USA , Somerville 20084, S. 220–222. 44 Keith Negus, Music Genres and Corporate Culture, New York 1999, S. 50 f. 45 Art. Guter Plan mit vielen Fragezeichen, in: musik-informationen 8. 1976, S. 2. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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intransparenten Verfahren basierten und den Popmusikmarkt ganz unterschiedlich darstellten.46 Dies änderte sich im letzten Drittel der 1970er Jahre, beginnend im Rundfunk. Öffentlich-rechtliche Sender ebenso wie Radio Luxemburg sahen sich seit der bereits erwähnten Affäre Feltz regelmäßig dem Vorwurf der Manipulation ihrer Hitparaden ausgesetzt, so dass man senderintern über neue Verfahren der Popularitätsmessung nachdachte. Radio Luxemburg etwa entwickelte ein System zur Ermittlung der beliebtesten Titel für die wöchentliche Hitparade, das im März 1976 an den Start ging. Bei diesem Verfahren stellte RTL in Sparkassenfilialen in seinem deutschen Sendegebiet insgesamt 6.000 signalrote Urnen auf, in die Bankkunden von Montag bis Mittwoch gewissermaßen unter Aufsicht der Bankangestellten ausgefüllte Stimmkarten einwerfen konnten, die ausschließlich in den Geldinstituten auslagen. Als Anreize zum Mitmachen stellte der Sender Preise im Wert von 300 bis 400 Mark in Aussicht. Programmdirektor Frank Elstner versprach, dass mit diesem Verfahren »die Blütezeit der Fanclub-Organisationen und Massen-Schreibbüros vorbei« sei.47 Wie die Presse wiederholt berichtete, hatten orchestrierte Masseneinsendungen von Hörerund Zuschauerpost Abstimmungen über Hitparaden-Platzierungen im Rundfunk verzerrt. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk bemühte sich ebenfalls darum, unter dem Druck des Manipulationsverdachts das Image seiner Hitparaden zu verbessern. Der Südwestfunk sah sich 1975/76 mit Vorwürfen seitens der DGB -Jugendzeitschrift ran und des Musikmagazins Sounds konfrontiert, denen zufolge die Hitparade des Pop Shop, der wichtigsten Popmusiksendung des Senders, nicht die tatsächlichen Präferenzen der Hörerschaft widerspiegele. Der Journalist Thommi Herrwerth hatte im Sommer 1975 in der Sounds berichtet, Originalunterlagen des Senders eingesehen und darin gefunden zu haben, dass politische Lieder nicht gesendet worden seien, während andere Songs, für die keine »Plusstimmen« (man konnte auch mit »Minusstimmen« Titel abwählen) eingegangen waren, in der Hitparade platziert worden seien.48 Der Sender wies die Anschuldigungen zurück, ging jedoch intern den Manipulationsvorwürfen nach. Die Überprüfung endete in einer Rüge an einen Pop Shop-Redakteur und einer Ermahnung an den verantwortlichen Redaktionsleiter. Diesem hielt der Hörfunkdirektor vor, er habe sich »keinen Einblick in die Abwicklungspraxis und die Dokumentationsmethoden des Pop-Shops verschafft«, obwohl ihm hätte klar sein müssen, »dass Hit-Paraden heikel sind«.49 Die Sendeleitung sah also das Problem durchaus nicht in tatsächlicher Hitparadenmanipulation, 46 Art. Ab 1971 jede Woche. MM-Hitparade mit 50 Titeln, in: Der Musikmarkt 12. 1970, S. 6. 47 Manipulierte Hitparaden, in: musik-informationen 3. 1976, S. 10. 48 Thommi Herrwerth, Hitparaden-Bluff, in: Sounds, 28.8.1975, S. 9. 49 Brief des Hörfunkdirektors an den Redaktionsleiter Pop Shop, 22.9.1975, Archiv des Südwestfunks, Bestand Hörfunkdirektion, P 15972 (unpaginiert). © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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sondern in der Anfälligkeit für Verdächtigungen seitens der Presse, was besondere Umsicht in der Behandlung der Hitparaden-Frage erfordere. Wenige Monate später veröffentlichte ran einen weiteren Artikel, der die Vorwürfe aus dem Vorjahr wiederholte und zudem darauf hinwies, dass ein Pop Shop-Redakteur Werbetexte für Plattenfirmen verfasste.50 Erneut bemühte sich der Sender um Aufklärung, und der betreffende Beschäftigte legte seinen Vorgesetzten eine Aufstellung seiner Textertätigkeit vor.51 Wie ernst die Direktion solche Vorwürfe nahm, zeigt die Tatsache, dass die Untersuchung von Nebentätigkeiten von Radiomitarbeitern für Künstler und Plattenfirmen auf freie Mitarbeiter ausgedehnt wurde.52 Während die Diskussionen um manipulierte Hörfunk-Hitparaden den Druck auf die Programmgestalter im Rundfunk erhöhten, für mehr Transparenz zu sorgen, wurden erste Schritte unternommen, ein System zur neutralen Ermittlung der Popularität von Musiktiteln zu errichten. Im Februar 1976 nahm die Baden-Badener Medico GmbH & Co. mit Media-Control einen »Ausschnittdienst für den Rundfunk« in Betrieb, der die Musikauswahl in 17 Hörfunkprogrammen aufzeichnete und den Plattenfirmen eine EDV-gestützte Auswertung anbot. Medico, deren Gründung auf eine Idee des Pop Shop-Redakteurs Karlheinz Kögel zurückging, versprach ihren potentiellen Kunden Auskünfte darüber, wie häufig, zu welchen Zeiten und in welchen Radioprogrammen bestimmte Titel gespielt wurden, so dass die Plattenhersteller die Erfolgs­chancen einzelner Produktionen abschätzen könnten. Dank der Computeranlage, die Medico zu diesem Zweck mietete, wurden diese Daten, die in früheren Zeiten bestenfalls nach Monaten vorgelegt werden konnten, den Unternehmen wöchentlich übermittelt.53 Das Verfahren überzeugte den Bundesverband der Phonographischen Wirtschaft, der seit 1976 nach einem Partner für die Erhebung »offizieller« Verkaufszahlen suchte. Das Unternehmen Medico, das mittlerweile unter dem Namen Media Control firmierte, erhielt auf einer Vorstandssitzung des Bundesverbandes am 1. Juli 1977 den Vorzug vor Allensbach und wurde mit der Ermittlung der Bestsellerliste beauftragt. Die Top 50 basierten nun auf dem Rücklauf von Fragebögen mit jeweils siebzig nationalen und internationalen Single- und LP-Neuerscheinungen, die an knapp 1300 Schallplatten-Fachhändler im Bundesgebiet versandt wurden und die absolute Zahl verkaufter Einheiten abfragten. Die eingegangenen Bögen – nach veröffentlichten Angaben Kögels lag der Rücklauf bei wöchentlich drei- bis vierhundert Stück – wurden von einem Computer ausgelesen, der die Daten nach Kriterien wie Ortsgröße, Umsatzhöhe und 50 51 52 53

Art. Bluff aus Baden-Baden, in: ran 1. 1976, S. 12 f. Aufstellung v. 7.1.1976, Archiv des Südwestfunks, Bestand Hörfunkdirektion, P 15952. Schreiben des Justitiars Egon Wagner an ran-Redakteur Dieter Schmidt, 10.5.1976, ebd. Peter Michael Kersten, »Media-Control« für die Titelüberwachung, in: Der Musikmarkt 5. 1976, S. 8 u. 10. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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Bundesland sortierte und zu einer repräsentativen Statistik hochrechnete. Die Liste der fünfzig meistverkauften Singles wurde wöchentlich, die der beliebtesten LPs zunächst 14-täglich im Musikmarkt abgedruckt. Darüber hinaus bot die Zeitschrift den Plattenhändlern den Service, bereits vor Erscheinen der folgenden Ausgabe die Ergebnisse der Auswertung telefonisch abfragen zu können.54 Bei den Musikexperten in der westdeutschen Branche, die sich bis dahin überwiegend auf ihre eigene Einschätzung von musikalischer Qualität und Publikums­bedürfnissen verlassen hatten, stießen Funküberwachung und Bestsellerlisten auf wenig Gegenliebe. Das lässt sich unter anderem im Rundfunk beobachten. Der Leiter der Musikalischen Unterhaltung beim Südwestfunk beispielsweise, ein gelernter Dirigent, lehnte die unter der Leitung seines ehemaligen SWF-Kollegen erstellten Hitlisten rundheraus ab. Seiner Ansicht nach handelte es sich bei Media Control um »ein Institut, das mit der Industrie und damit mit dem Kommerz eng zusammenarbeitet.« Statt den Listen dieser »funkfremden Firma« zu folgen, müsse der Sender »die Redakteure dazu bringen, unsere Programme nach den Richtlinien und der (sic) Programmabsichten der Anstalt auszuführen und dabei lediglich Qualitätsmaßstäbe auf allen Ebenen anzulegen«.55 Aber auch für die jüngeren Programmgestalter im Bereich Popmusik bedeuteten Zahlen letztlich eine Beschränkung ihrer beträchtlichen Eigenständigkeit. Beim SWF war 1970 der Pop Shop als ein sowohl politisch als auch musikalisch-kulturell progressives, neuartiges Jugendradio gestartet. Mit der Rückendeckung einer neuen Ideen prinzipiell aufgeschlossenen Direktion hatten die Macher der Sendung so manches heiße Eisen angefasst und mit politisch-linken Einstellungen nicht hinter dem Berg gehalten. Auch in diesem rock- und pop-affinen Soziotop avancierten die »offiziellen« Charts bald zur Richtschnur nicht zuletzt deswegen, weil sie die Dauerdiskussion um die Hitparaden-Intransparenz zu beenden versprachen, von der, wie geschildert, auch der Pop Shop betroffen war. Ähnliche Überlegungen dürften beim Fernsehen ausschlaggebend gewesen sein, wo die ZDF-Hitparade, das größte Schau­ fenster für Popmusik in Deutschland in dieser Zeit, vier Monate nach Veröffentlichung der ersten Media Control-Verkaufscharts das Verfahren zur Ermittlung von Interpreten und Songs von Jury- und Zuschauervoten auf Media Control-­ Daten umstellte.56 54 Art. Single- und LP/MC -Bestseller von Media-Control und MM , in: Der Musikmarkt 15. 1977, S. 5; Art. Ab dem 1. September 1977: eine neue Form der Bestseller-Liste, in: Der Musikmarkt 17. 1977, S. 5 u. 8. 55 Leiter Musikalische Unterhaltung an Hörfunkdirektor, 26.7.1978, Archiv des Südwestfunk, Bestand Hörfunkdirektion, P 20821. 56 Art. Neue Form der »Hitparade« im Zweiten Deutschen Fernsehen, in: Der Musikmarkt 1. 1978, S. 1. Zwei Jahre später wurde das Verfahren erneut geändert, nachdem man feststellte, dass die Verkaufslisten zu wenig Veränderungen aufwiesen. Bei dem neuen Verfahren arbeitete das ZDF jedoch weiter mit Media Control zusammen: vgl. Art. 80er Hitparade-Modell beteiligt wieder Zuschauer, in: Der Musikmarkt 11. 1979, S. 2. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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Die neuen Verkaufscharts kamen auch dem Schallplattenhandel entgegen, in dem sich um 1980 Konzentrationstendenzen abzeichneten. Vor allem in kleineren Städten waren Schallplatten in den 1970er Jahren häufig noch in Elektroläden als Seitenlinie zum Verkauf von Phono-Geräten vertrieben worden. Dazu kamen Warenhäuser und – zunächst in den Großstädten, oft in Bahnhofsnähe – kleine und hochgradig spezialisierte Plattenläden, deren Angebot primär durch die Kenntnisse und Interessen ihrer Betreiber bestimmt wurde. Um 1980 begannen in Deutschland wie andernorts Plattenfirmen wie WEA (die Buchstaben stehen für die in dem Unternehmen vereinten Plattenfirmen Warner Bros., Elektra und Atlantic), die Deutsche Grammophon Gesellschaft (DGG) und der PolyGram-Konzern, sich in das Einzelhandelsgeschäft einzuschalten. 1979 übernahm WEA die gut zwanzig Filialen der Firma Govi, die 1971 als Versandhandelsgeschäft gegründet worden war. Die DGG eröffnete die Kette der Pan Record Stores, und PolyGram begann ebenfalls 1979, Franchisenehmer bei der Gründung von Schallplattengeschäften in deutschen Mittelstädten zu unterstützen. Gegen die Klagen ortsansässiger kleiner Geschäfte argumentierte der Konzern, dass diese den »spezialisierten Bedarf vor allem jüngerer Käufer im Popbereich« nicht abdeckten.57 1982 eröffnete WOM (World of Music), die deutsche Tochter des gleichnamigen US -Unternehmens, seine ersten Filialen in Deutschland.58 Durch die engere Anbindung an die Plattenhersteller, das Filial­ system, den Einsatz von EDV und neuen Kommunikationstechnologien wurden die Bestellung und Auslieferung der Tonträgerware beschleunigt und dem individuellen Einfluss von Händlern, der im spezialisierten Plattenladen den Ausschlag gegeben hatte, entzogen.59 Dadurch erhielten quantitative Erhebungen ein größeres Gewicht, denn Zahlen erleichterten die Koordination von Herstellung, Distribution und die Disposition in Verkaufsstellen, die ein möglichst breites Angebot bereithalten wollten. In den entscheidenden Bereichen der Musikdistribution hielt die systematische Marktforschung Einzug. Diese verlagerte in Repertoireentscheidungen das Gewicht weg von den musikalischen Experten hin zu Akteuren, die eher bereit waren, mögliche Vorbehalte gegen eine Musikrichtung zurück­zustellen und Nachfrageindikatoren zu folgen. Dies führte noch nicht unmittelbar nach der Einführung der Media Control-Charts zum Durchbruch neuer Künstler und Repertoires, wie ein Vergleich der Hitlisten vor und nach der Einführung des neuen Modus erweist. Unter anderem mag dies daran gelegen haben, dass die neuen Charts einen stabileren Musikmarkt beschrieben: Hatten die vor dem September 1977 im Musikmarkt abgedruckten, nach dem alten Verfahren ermit57 Art. Polygram-Gruppe gibt Starthilfen, in: Der Musikmarkt 22. 1979, S. 12. 58 Art. World of Music, in: musik-informationen 9. 1982, S. 3. 59 Für ähnliche Entwicklungen in Großbritannien s. Paul Du Gay u. Keith Negus, The Changing Sites of Sound. Music Retailing and the Composition of Consumers, in: Media, Culture & Society 16. 1994, S. 395–413. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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telten Listen der beliebtesten fünfzig Songs im Durchschnitt wöchentlich etwa vier Neueinstiege verzeichnet, gelangten nur durchschnittlich drei neue Songs pro Woche in die neuen Media Control-Charts.60 Die neuen Bestsellerlisten waren, so scheint es, weniger empfindlich für geschickt beworbene Eintagsfliegen. Ihre Wirkung ist daher vor allem darin zu sehen, dass sie überhaupt erst ein einheitliches, entscheidungsrelevantes Marktinformationssystem etablierten. Für größere Bewegung auf dem Musikmarkt sorgte dann zunächst die Ausweitung der Liste von 50 auf 75 Single-Titel bzw. auf 65 LPs plus zehn Kompilationen in der ab Januar 1980 wöchentlich erscheinenden Hitparade der Langspielplatten. Insbesondere die Liste der meistverkauften Alben bildete in den darauf folgenden 18 Monaten eine wachsende stilistische Vielfalt ab. 1980 hielt sich »Rapper’s Delight« von der Sugarhill Gang als Vorbote der Rap-Musik einige Wochen lang in dieser Liste; ferner finden wir Bob Marleys Album­ »Survival«, Madness’ Debüt-LP »One Step Beyond« und Eddie Grant als Vertreter der (anglo-)karibischen Musikstile Reggae und Ska. Deutsche Rockmusik war stärker als in früheren Jahren repräsentiert mit  – unter anderem  – Nina­ Hagen, Udo Lindenberg, Marius Müller-Westernhagen und den Scorpions. Letztere sind neben Black Sabbath, Motörhead, Judas Priest und Iron Maiden zu den chartplatzierten Hardrock- bzw. Heavy Metal-Bands zu zählen. John Denver und Johnny Cash verhalfen Country-Musik auf die Bestseller-Liste; David Bowie, Frank Zappa und das Gitarrentrio John McLaughlin, Al di Meola und Paco de Lucia überschritten Genregrenzen. Otto Waalkes, Gottlieb Wendehals und Mike Krüger erzielten große Erfolge mit humoristischen Aufnahmen. Ab Juni/Juli 1981 erreichte die Neue Deutsche Welle mit der D. A. F., der Spider Murphy Gang und Ideal die Ränge der meistverkauften Langspielplatten, wo sie sich neben Kraftwerk und den Fehlfarben platzierten. Ferner erreichten schon länger etablierte Stile wie Disco, progressiver Rock, aber auch deutsche Schlager- und Tanzmusik von Roland Kaiser über Heino und Udo Jürgens bis James Last weiterhin die Bestsellerliste. Die Umstellung der Auswahlkriterien für Repertoires und Künstler von Geschmack und musikalischer Expertise auf Publikumszahlen begann, sich förderlich auf die stilistische Breite des allgemein verfügbaren Repertoires auszuwirken. Für einen weiteren Schub in diese Richtung sorgte die 1984 erfolgte Einführung des privaten Rundfunks in Deutschland, die dem allein werbefinanzierten Rundfunk ein Tätigkeitsfeld eröffnete. Das Geschäftsmodell privater Sender basierte auf dem Verkauf von Aufmerksamkeit an die werbende Wirtschaft und brachte so die Messung des Publikums und die darauf ausgerichtete Programmgestaltung mit sich. Aber auch der öffentlich-rechtliche Rundfunk richtete sich im Zuge der Zulassung privater Sender noch stärker auf 60 Der Vergleich der Musikmarkt-Top 50 über 17 Wochen von Februar bis Mai 1976 ergab insgesamt 65 Neueinstiege und für die gleichen 17 Wochen im darauf folgenden Jahr insgesamt 49 Neueinstiege. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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Quoten aus, die bald nicht mehr nur mit Blick auf Hitlisten, sondern auch auf der Grundlage von Hörerbefragungen und -tests ermittelt wurden.61 Etwa zeitgleich ereignete sich im Musikjournalismus ein einschneidender Wandel, der mit der beginnenden Pluralisierung des Repertoires und des Publikums korrespondierte. Die älteren Magazine für Populärmusik wie der New Musical Express (NME), der Melody Maker in Großbritannien oder der Rolling Stone in den USA, die sich in den 1960er Jahren der Rockmusik zugewandt hatten, hatten im Wechselspiel mit Rockbands die popmusikalische Kanonisierung dieses Genres vorangetrieben. Ziel dieser wegen ihrer Textlastigkeit so genannten »inkies« war es, die Spreu vom musikalischen Weizen zu trennen, ihre zumeist männlichen Leser zu unterscheidungsfähigen Hörern zu bilden und ihnen langfristig gültige Urteile zur Orientierung an die Hand zu geben. Dieser kritische Zugang zur Materie wurde nun von einer Reihe jüngerer Popjournalisten unterminiert, die, sozialisiert zu Zeiten des Punk, dem Selbstanspruch der Rockmusik auf Authentizität und Höherwertigkeit misstrauten und in den bilderbunten »glossies« neue Arten des Schreibens über Musik entwickelten. Eine der wichtigsten Neuerscheinungen im wachsenden Segment der PopMagazine war The Face, das 1980 aus der Taufe gehoben wurde. Mit Tony Parsons und Julie Burchill gewann The Face ehemalige Mitarbeiter des NME gewann, lebte aber ansonsten vor allem von Beiträgen freier Mitarbeiter sowie Fotos, unter anderem von Anton Corbijn und Pennie Smith. The Face weitete den Fokus von Musik auf Mode und andere Bereiche der Popkultur aus. Beiträge waren geprägt von Ironie und wit, einem leichten, aber scharfen Verstand, der die Leserschaft mit ungewohnten Ansichten und Schlagfertigkeit unterhielt. Kategorien wie Qualität und Relevanz wurden zugunsten einer beweglichen, selbstreflexiven Kombinatorik aller im Bereich der Popkultur befindlichen Elemente aufgegeben, gerne gewürzt mit lockeren Verweisen auf poststrukturelle Theoreme und Denker. »Stil« wurde zum Leitbegriff dieses neuen Popjournalismus. Darunter wurde ein intertextuelles Spiel verstanden, mit dem das postmoderne Subjekt sich selbst konstruierte.62 In Deutschland fand dieser Schreibstil Anhänger in der Redaktion der Sounds. Die Zeitschrift hatte sich unter dem Eindruck des Punk in Deutschland vom anglo-amerikanischen Authentizitätsparadigma gelöst und seit 1979 mit Dietrich Diederichsen einen in Deutschland neuen Typ des Popintellektuellen in ihren Reihen.63 61 Zu den Verfahren der Hörerforschung im Detail: Holger Schramm u. a., Wie kommt die Musik ins Radio? Stand und Stellenwert der Musikforschung bei deutschen Radiosendern, in: Medien & Kommunikationswissenschaft 50. 2002, S. 227–244. 62 Ulf Lindberg u. a., Rock Criticism from the Beginning. Amusers, Bruisers, and CoolHeaded Cruisers, New York 2005, S. 226. 63 Diederichsen beschreibt die Veränderungen in der Popmusikwelt um 1980 in: Ders., Sexbeat, Köln 1985. Das Buch ist auch ein Beispiel für das clevere Kombinations- und Verweisspiel im Poparchiv, das in den 1980er Jahren für den journalistischen Zugang zur Materie charakteristisch war. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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Das kuratoriale Selbstverständnis der neuen Popjournalisten reagierte auf den Wandel von Popmusik und -kultur, der eine fortschreitende Ausdifferenzierung der Genres, eine breitere Palette neuer Trends, eine größere Verfügbarkeit von Musik und Informationen über Pop sowie neue Synergien von Musik, Mode, Film, bildender Kunst und akademischer Theorie mit sich brachte. Der neue Popjournalismus entwickelte eine Strategie, sich in dieser gewandelten Populärkultur zu positionieren, und es scheint, als hätten Konsumenten diese Strategie bald übernommen. So haben zuerst US -amerikanische Soziologen Mitte der 1990er Jahre beobachtet, dass Personen mit einem gehobenem sozialen Status durchaus nicht wie »Snobs« ausschließlich das schmale Segment der Kunstmusik rezipierten, sondern als »Omnivore« eine größere Breite an Musikstilen hörten, als dies Personen mit einem niedrigeren Bildungsniveau und Prestige taten. Das Auftauchen des kulturellen »Allesfressers« wurde für die späten 1980er Jahre registriert.64 Nachfolgende soziologische Forschung hat die »Alles­ fresser-These« qualifiziert und unter anderem betont, dass der »omnivore« Kulturkonsum durchaus nicht unterscheidungsfrei, sondern höchst selbstreflexiv und informiert erfolgt.65 Der neue Konsumententyp markierte seinen sozialen Status durch breite Kennerschaft, aktuelle Informiertheit und die Fähigkeit, souverän kombinieren zu können. Er folgte darin den beweglichen Popintellektuellen der frühen 1980er Jahre. Feststehende Hierarchien innerhalb des Musikangebotes sind dadurch ebenso erodiert, wie sich die Verbindungen zwischen Musikgenres und sozialen Gruppen gelockert haben. Möglicherweise hat dies auch zu einer sozialen Öffnung von Geschmacksgemeinschaften geführt. Es könnte demnach für Frauen leichter geworden sein, bei der Rockmusik mitzureden, oder für ältere Semester, als Anhänger »junger« Musikstile Akzeptanz zu finden, während jugendliche Hörerinnen und Hörer im wachsenden, leichter zugänglichen Archiv des Pop alte Musik neu entdecken. Vor allem aber ergibt sich aus der Ausdifferenzierung des Repertoires und unsicher gewordenen sozialen Zuordnungen ein Individualisierungstrend. Die soziale Anforderung an den einzelnen Musikkonsumenten besteht nun nicht mehr darin, sich zu einer Gruppe zu bekennen, sondern sich unter Bezug auf ganz unterschiedliche populärkulturelle Elemente individuell vorteilhaft zu positionieren. Die hier unternommene Analyse macht das Auftauchen dieses »postmodernen Subjekts« im Bereich der Populärkultur verständlich als Folge eines Strukturwandels in der Produktion, Distribution und Bewertung von populärer Musik.

64 Richard A. Peterson u. Roger M. Kern, Changing Highbrow Taste. From Snob to Omnivore, in: American Sociological Review 61. 1996, S. 900–907. 65 Mike Savage u. Modesto Gayo, Unravelling the Omnivore. A Field Analysis of Contemporary Musical Taste in the United Kingdom, in: Poetics 39. 2011, S. 337–357. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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III. Populärmusikalische Kommunikation im 20. Jahrhundert: Ein Ausblick In der Geschichtswissenschaft wird der Wandel populärkultureller Inhalte, wie eingangs erwähnt, zumeist auf gesamtgesellschaftliche Trends und Publikumsbedürfnisse zurückgeführt. Dies setzt voraus, dass allgemein geteilte Befindlichkeiten in den Prozess der Kulturproduktion und -verbreitung einflossen, sei es dadurch, dass Kreative die Erfahrungswelt ihrer Rezipienten teilten,66 oder indem Kulturproduzenten sich dem Druck von Kaufentscheidungen und geäußerten Publikumswünschen (»voice and choice«) beugten.67 Fokussiert man indes auf die Anbieterseite von Populärmusik, wird zum einen deutlich, dass Musikproduzenten nur begrenzte, perspektivisch verzerrte und höchst interpretationsbedürftige Einblicke in die Präferenzen ihres Publikums hatten. Welche Musik aus welchen Gründen mit Begeisterung gehört wurde, war den Musikanbietern durchaus nicht klar. Die Intensivierung und Systematisierung der Marktforschung am Ende der 1970er Jahre löste dieses Problem nicht etwa, sondern begünstigte lediglich alternative Deutungen einer Nachfrage, die nunmehr als hochgradig divers eingeschätzt wurde, letztlich aber weiterhin unergründlich blieb. Zum anderen zeigt die Analyse aus der Produzentensicht, dass Musikanbieter ihre Entscheidungen an einer Vielzahl konkreter Bedingungen und Annahmen orientierten. Unter diesen sind abgesehen von den Vermutungen über Publikumsvorlieben Technologie, Recht, professionelle Sozialisation und die jeweilige Position im Netzwerk der Musikvermittler hervorzuheben. Die daraus resultierende Eigendynamik, Selbstbezüglichkeit und relative Geschlossenheit von Musikproduktion erklärt, warum die hier untersuchte Geschichte der populärmusikalischen Repertoireentwicklung ihren eigenen, von den vertrauten politik-, wirtschafts- und geistesgeschichtlichen Einschnitten unabhängigen Verlauf nahm. Sie ist auch der Grund dafür, weshalb Populärmusik nicht als Ausdruck allgemein geteilter Dispositionen zu betrachten ist, sondern auf spezifische Sozialisationseffekte hin untersucht werden sollte. Diese Effekte ergaben sich aus den Konventionen, die populärmusikalischen Genres im Laufe ihrer Etablierung eingeschrieben wurden und die bestimmte Rezeptionsweisen, Deutungen und Bewertungen von Musik nahe legten. Genrekonventionen beinhalteten ein Wissen über Gesellschaft, das es ermöglichte, Musikhörerinnen und -hörer gemäß ihren Präferenzen sozial zu verorten. Zudem implizierte dieses soziale Wissen für Schlagerhörer wie Rockfans be66 Richard Hoggart, The Uses of Literacy. Aspects of Working-Class Life, with Special Reference to Publications and Entertainments, London 1957, S. 173. 67 Vgl. etwa Kaspar Maase, Populärkultur  – Unterhaltung  – Vergnügung. Überlegungen zur Systematik eines Forschungsfeldes, in: Christoph Bareither u. a. (Hg.), Unterhaltung und Vergnügung. Beiträge der Europäischen Ethnologie zur Populärkulturforschung, Würzburg 2013, S. 24–36, hier S. 34. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

Vom polarisierten zum pluralisierten Publikum

stimmte Erwartungen, zu denen sich der einzelne Musikhörer nolens volens zu verhalten gezwungen sah. Als Zumutung also, zu der sich Musikfans affirmativ, abwehrend oder ironisch positionieren mussten, aber nicht unwissend verhalten konnten, stiftete Populär­musik Identität. Die Eigendynamik und relative Geschlossenheit moderner Kulturproduktion erfordert, musikalische Kommunikation im 20. Jahrhundert komplexer zu konzipieren, als es in der Geschichtswissenschaft meist geschieht. Die dort gängige Vorstellung eines »Aushandlungsprozesses« zwischen Publikum und Anbietern wäre zu ersetzen durch einen Kommunikationsbegriff, der die prinzipielle Unbekanntheit des Publikums für Musikvermittler voraussetzt und berücksichtigt, dass sich die Anbieter an einem imaginierten Publikum orientierten. Ein solches Kommunikationsverständnis lenkt einerseits den Blick auf ein zentrales Ungewissheitsproblem für Musikproduzenten, das darin besteht, den Publikumsgeschmack in fundamentaler Unkenntnis zukünftiger Nachfrage treffen zu wollen. Erkennbar wird andererseits, dass in der prinzipiellen Unbekanntheit des Publikums auch die Freiheit liegt, unter Berufung auf bestimmte Nachfrageindikatoren (bei gleichzeitiger Ausblendung anderer Indizien) neue Repertoires in Umlauf zu bringen. In beiden Fällen sorgt die Orientierung am imaginierten Publikum, einmal in der Furcht vor Fehlschlägen, das andere Mal in der Hoffnung auf neue Rezipienten, für kontingenten, eigendynamischen und folgenreichen Wandel.

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Kommunikation und Erlebnis Merkmale und Deutungen europäischer Folk- und Popmusikfestivals: Burg Waldeck und Roskilde

Musikfestivals sind Kommunikationsereignisse, die Gruppen zur Vergemeinschaftung dienen: Dort werden gemeinsam präferierte Stile entwickelt, gepflegt und Grenzüberschreitungen erprobt. Dabei stellt die jeweils im Mittelpunkt stehende Musik zwar das wichtigste Bindemittel dar, doch entsteht die Gemeinschaft mit Gleichgesinnten außerdem aus vielerlei anderen Elementen: Alter und sozialen Hintergründen der Teilnehmer, Festritualen, Anreise-, Übernachtungs- und Ernährungsmodalitäten, Alkohol- oder Drogenkonsum, Sozialverhalten in der Gruppe, politischen Präferenzen et cetera. Umfragen unter Festivalbesuchern haben ergeben, dass es eine aus derartigen Teilelementen entstehende diffuse »Atmosphäre« ist, die die temporäre Gemeinschaft der Festivalteilnehmer konstituiert. Nimmt man exemplarisch eine Teilnehmer­ befragung auf dem Tübinger Folk- und Liedermacherfestival 1977, so wird deutlich, dass die gebotene Musik wichtig war, um ein Gemeinschaftsgefühl entstehen zu lassen, aber nicht unbedingt entscheidend: Manche Teilnehmer führten »Popmüdigkeit« als Grund für ihr Interesse an Folkmusik an, andere erklärten, »i komm eigentlich mehr wegen de Leut, weniger wegen der Musik« oder gar »Folk interessiert mich eh nicht.«1 Viele Teilnehmer hoben die Gemeinschaft hervor, die das Tübinger Festival entstehen ließ: »eine Zusammengehörigkeit, wie man’s sonst gar nicht empfindet.« Ähnlich beschrieb es im darauf folgenden Jahr ein Besucher des Roskilde-Festivals: »It is hard to describe in words, but it was the feeling of freedom and solidarity with all the people there and huge music experiences, that combined made it so special.«2 Ein anderer beschrieb sein Gefühl beim gemeinsamen Konzertgenuss als »a sense of belonging and joy f­ loating through my body«.3 Zwar gab es auch im Alltag Möglichkeiten, einen spezifischen Stil zu pflegen, aber gerade im außeralltäglichen Beisammensein mit vielen Gleichgesinnten entstand ein Gemeinschaftsgefühl, in 1 Thomas Geyer, Besucherbefragung auf dem 3.  Tübinger Folk- und Liedermacherfestival. Bericht über ein studentisches Arbeitsprojekt, in: Jahrbuch für Volksliedforschung 23. 1978, S. 69–102, Zitate S. 84 f. 2 Klaus Rydal u. Kasper Søegaard (Hg.), Roskilde Stories, Kopenhagen 2008, S. 19. 3 Ebd., S. 44. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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dem individuelle Stilpräferenzen nicht nur bestätigt, sondern auch überprüft und justiert, möglichweise ganz verändert werden konnten. Aber die »Atmosphäre« wird nicht nur von der Zusammensetzung und den Präferenzen des Publikums bestimmt, sondern auch von den Rahmenbedingungen der Veranstaltung: Ort und Wetter, Bühnentechnik, Catering und Toiletten, Herkunft und Motive der Veranstalter, Preisgestaltung, Sicherheitskonzept und Verhalten der Polizei. Als Kommunikationsereignisse sind Popmusikfestivals also komplexe Begebenheiten, bei denen verschiedenste Elemente sich miteinander verbinden. Weil die »Atmosphäre« jeweils spezifisch wahrgenommen wird, lassen sich an den sie betreffenden Zuschreibungen soziale und mentale Wandlungsprozesse in der Gesellschaft ablesen. Am Beispiel zweier Institutionen  – des Festivals auf der Burg Waldeck in Südwestdeutschland und des Festivals im dänischen Roskilde  – sollen Entwicklungstendenzen von populären Musikfestivals zwischen den sechziger und den achtziger Jahren in Westeuropa nachgezeichnet und untersucht werden, inwieweit der teilweise transnationale Charakter dieser Festivals ihren Charakter als Kommunikationsereignis beeinflusst hat. In diesen Jahren, der Hochzeit der Gegen- und Alternativkultur, veränderten sich Wahrnehmungen und Bedeutungszuschreibungen dieser neuen Form des sozialen Miteinanders erheblich und bildeten Wandlungsprozesse in der Massen­ kultur ab. Inwieweit es sich um nationalspezifische Ausformungen innerhalb national übergreifender Großtrends handelte, wird im letzten Teil des Aufsatzes diskutiert. Bei beiden Veranstaltungen handelt es sich um Open-Air-Festivals, die auf nichtkommerzieller Grundlage mit großem ehrenamtlichem Engagement veranstaltet wurden. Sie waren beziehungsweise sind zentrale Ereignisse der nationalen Kulturgeschichte, aber auch Ikonen der internationalen Popkultur mit jeweils eigenem Profil.

I. Diskussion und Engagement. Vergemeinschaftungsmodus Waldeck Die Burg Waldeck, Treffpunkt der Jugendbewegung seit 1910, wurde einer größeren Öffentlichkeit in den 1960er Jahren bekannt, als sie mit den Festivals »Chanson Folklore International« einer internationalen Kulturbewegung einen deutschen Fokus gab und diesem über Radio und Fernsehen Resonanz verschaffte.4 Liedermacher wie Franz Josef Degenhardt, Dieter Süverkrüp und 4 Folgendes nach Detlef Siegfried, Time Is on My Side. Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur der 60er Jahre, Göttingen 20082, S.  571–600. Vgl. auch Holger Böning, Der Traum von einer Sache. Aufstieg und Fall der Utopie im politischen Lied der Bundesrepublik und der DDR , Bremen 2004, S. 59–85; Hotte Schneider, Die Waldeck. Lieder, Fahrten, Abenteuer. Die Geschichte der Burg Waldeck von 1911 bis heute, Potsdam 2005, S. 313–377; Michael Kleff, Die Burg Waldeck Festivals 1964–1969. Chansons Folklore ­International, Hambergen 2008. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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Walter Mossmann wurden hier groß, während gleichzeitig internationale Folkstars wie Phil Ochs, Odetta oder John Pearse den Anschluss an die Entwicklung in anderen Ländern vermittelten. Mehr noch als von den großen Namen lebten die Waldeck-Festivals jedoch von der massenhaften Selbsttätigkeit, dem Engagement, der Diskutier- und Spielfreude seines zumeist studentischen und gymnasialen Publikums. Die Idee, ein Festival zu gründen, lag in der Luft  – zumal nachdem das Newport Folkfestival an der US -Ostküste sich seit 1959 zu einem Anziehungspunkt der jungen Intelligenz entwickelt hatte und weit über die Grenzen der USA ausstrahlte. Das Waldeck-Festival war nicht als große Publikumsveranstaltung gedacht, sondern sollte in erster Linie die vereinzelten Künstler zum Erfahrungsaustausch zusammenbringen  – ähnlich wie die Gruppe 47, nur eben auf dem Gebiet von Chanson und Folklore. Erst in zweiter Linie wurde an ein Publikum gedacht – ein kleiner, handverlesener Kreis von fachkundigen Leuten, der die Debatte der Künstler anregen und reflektieren sollte.5 Dieses Konzept war elitär, es setzte sich ausdrücklich ab von den »rein kommerzialisierten Schlagerfestivals« und misstraute den konsumistischen Neigungen des Publikums. Die Pfingsttage seien »in erster Linie für den jungen Künstler gedacht und erst dann für den Konsumenten!«, hielten die Veranstalter fest. Eine kleine Gruppe junger Intellektueller aus dem linksbündischen Sektor verhalf Künstlern, die abseits des etablierten Kulturbetriebs gerade erst dabei waren, mit alten und neuen musikalischen Formen und Inhalten zu experimentieren, zu einer Probebühne und bot ihnen einen öffentlichen Resonanzraum. Dieser Raum sollte so weit wie möglich gefasst sein – nicht durch ein Publikum vor Ort, sondern durch die Vermittlung der Massenmedien. Gleichzeitig wurde der wachsende Zustrom zu der Veranstaltung von den Initiatoren skeptisch betrachtet, denn im Aufschwung der Popmusik – darunter auch Künstler mit politischen Intentionen – seit Mitte der sechziger Jahre sah man in erster Linie ein Vordringen der Konsumkultur, das sich auch auf die Waldeck auswirkte. Sie zog nicht mehr nur die Eingeweihten an, sondern mehr und mehr ein Massenpublikum: 1964 kamen 400, 1968 wurde mit 5.000 Personen die höchste Besucherzahl erreicht. Die so unerwartet entstandene Masse sprengte nicht nur die Kapazität des Geländes und die Leistungsgrenzen der ehrenamtlichen Organisatoren, sie veränderte auch die Qualität der Veranstaltung auf eine Weise, die nicht gewollt war. Tatsächlich machte für die Veranstalter von der Arbeitsgemeinschaft Burg Waldeck (ABW) ein Festival nur Sinn, wenn es an ihrem Traditionsort stattfand, von ihnen zu bewältigen war und in einem überschaubaren Rahmen blieb, der möglichst viel Diskussion zuließ und möglichst wenig Spielraum für Kon5 Dies und das folgende in Diethart Kerbs’ Eröffnungsrede zum ersten Festival 1964: Diethart Kerbs, Gesang zwischen den Fronten, in: Neue Sammlung 4. 1964, S. 437–442; sowie: Arbeitsgemeinschaft Burg Waldeck e. V. [Konzept und Plan], 18.2.1964, Archiv der Arbeitsgemeinschaft Burg Waldeck, Festivals 64/65. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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sum bot. Aus diesen Gründen entschieden sie sich nach den überwältigenden Publikumsmassen von 1966 – mit 3.000 waren doppelt so viele Menschen gekommen wie im Vorjahr – dafür, den Zulauf für das Festival 1967 zu drosseln. Gleichzeitig erweiterte sich in diesen Jahren das Spektrum dessen, was man als »gesellschaftlich engagiertes Lied« bezeichnen könnte. Es umfasste nicht mehr nur Volkslied, Chanson und zeitkritisches Lied, sondern auch die elektrisch verstärkte und mit Elementen aus Folk, Blues und Rock’n’Roll operierende und gleichzeitig textlich anspruchsvolle Populärmusik, die auch in den Hitparaden auftauchte. Dabei wurde die Frage, inwieweit sich die Veranstalter diesen neueren Tendenzen gegenüber öffnen sollten, zum Streitpunkt des Festivals 1967. Schon im Vorfeld hatten sie sich darauf verständigt, als Gegenbewegung gegen die vor allem durch ausländische Einflüsse verursachte Ausbreitung und vermeintliche Verflachung des Folk- und Protestsongs das Schwergewicht auf deutschsprachige Gegenwartslieder zu verlagern  – »ausländische« Chansons und Folklore sollten »nur noch zugelassen werden, wenn sie von hochqualifizierten Interpreten dargeboten werden«.6 Diese nationale Engführung löste nicht nur in der Öffentlichkeit Irritationen aus, sondern führte auch zu Dissonanzen unter den Waldeck-Aktivisten. In der Presse wurde dies als Rückzugsbewegung interpretiert, die nicht recht zu der explosionsartigen Ausbreitung passen wollte, die Folk und Protestsong inzwischen erfahren hatten. 1968 nahm auf der Waldeck der Einfluss der Politik zu. Es konnte gar nicht anders sein, denn seit dem Treffen im Vorjahr hatte sich die Studentenbewegung voll entfaltet; nur vier Tage nach dessen Ende war in Berlin Benno Ohnesorg erschossen worden. Das Festival von 1968 stand in vielerlei Hinsicht unter äußerem und innerem Druck. Es fand vom 12. bis 17. Juni statt – noch im Nachklang der Osterkrawalle und unmittelbar nach den Pariser Mai-Unruhen, die atmosphärisch auch östlich des Rheins fortwirkten. Eingeklemmt zwischen einer von der Waldeck aus kaum beeinflussbaren politischen Radikalisierungsdynamik auf der einen und einer ebenfalls jenseits der Festwiese entstandenen urbanen Massenkultur auf der anderen Seite, stand die Legitimität der Waldeck auf dem Spiel. Was hatte sie überhaupt bewirkt, was konnte sie bewirken, wenn in ihren beiden Interessenfeldern Politik und Kultur plötzlich derart starke Kräfte am Werk waren? Ein Teil der Presse sah das Waldeck-Festival gar schon »von der Geschichte überholt«.7 Das sechste Festival mit dem Titel »Waldeck 69 Gegenkultur« war das letzte in dieser Reihe und zugleich eines der interessantesten, weil es die Transformationen der linksoppositionellen Kulturszene besonders deutlich machte und zeigte, wie sehr der Umbruch der späten 1960er Jahre einen seiner Ursprungsorte verändert hatte und schließlich hinter sich ließ. Die Bewertungen dieses 6 Extrakt der Arbeitssitzung »Festival 1966 und 1967«, 17.7.1966, Deutsches Kabarettarchiv, Mainz, LN/H/5,2. 7 Die Zeit, 28.6.1968. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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Treffens sind auffällig disparat, aus den Kreisen der ABW wird es eher negativ, als eine »Art Abgesang« einer ansonsten erfolgreichen Reihe angesehen.8 Tatsächlich war es, gemessen an den Maßstäben der Veranstalter, durchaus erfolgreich. Denn wegen des gewollten »reinen Werkstattcharakters«9 war das Treffen durch einen hohen Anteil theoretischer Diskussion gekennzeichnet, die zwar nicht den Zerfall der »Gegenkultur« aufhalten konnte, aber durchaus Folgewirkungen hatte. Dass abseits des offiziellen Programms viel subkulturelles Jugendleben stattfand, gehörte ebenfalls zu den gemeinschaftsbildenden, wenn auch weniger erhofften Effekten. Allerdings spielten nun Folk und chanson­ orientierter Protestsong nur noch eine untergeordnete Rolle. Hanns Dieter Hüsch und Dieter Süverkrüp erschienen gar nicht erst – ebenso wenig wie britische und amerikanische Künstler –, Degenhardt kam nur zu Informationszwecken. Lediglich Hannes Wader und Reinhard Mey traten auf, wirkten aber nach Klaus Theweleits Auskunft wie »Überbleibsel aus Existentialisten-Kellern, die vergeblich ein Air von Melancholie zu verbreiten suchen«.10 Stattdessen wurde das Festival, wie ein Journalist pointiert beschrieb, »vom Pop­getöse donnernd überhallt«.11 Das Treffen markierte insofern das Ende der alten Waldeck, als ein Großteil des Publikums, das das Festival bis 1968 angezogen hatte, hier keinen Platz mehr fand. Es war gleichzeitig eine Weiterentwicklung des ursprünglichen Konzepts, weil es sehr viel dezidierter als im Vorjahr die neuen kulturellen und politischen Impulse aufnahm, die aus der Gesellschaft selbst kamen. Es setzten sich damit diejenigen durch, die besonders nah an den aktuellen Tendenzen in der Jugendkultur, aber nicht unbedingt an der alten Jugendbewegung waren. »Waldeck 69« war zugleich der letzte große Sammelpunkt der westdeutschen Gegenkultur in ihren verschiedenen Facetten und der ambitionierteste Versuch, ihre kulturelle Komponente politisch aufzuwerten und unter diesem Vorzeichen eine Vereinheitlichung herbeizuführen. In der zweiten Hälfte der sechziger Jahre hatte sich in der intellektuell geprägten Folk- und Liedermacherszene, wie sie sich bei den Festivals sammelte, eine Richtung herausgebildet, die stärker nach Massenwirksamkeit strebte und den deutschen Protestsong mit dem amerikanischen »Underground« konfrontierte. Diese jüngeren Waldeck-Anhänger wollten den Hunsrücker Winkel verlassen und ein Festival im urbanen Raum veranstalten, das große Massen erreichte. Sie veranstalteten im September 1968 die Internationalen Essener Songtage, die mit 40.000 Teilnehmern als erstes großes Festival auf europäischem Boden über die Bühne gingen und mit Künstlern wie Mothers of Invention, The Fugs, Brian Auger, Alexis Korner, Franz Josef Degenhardt, Dieter Süverkrüp, Amon 8 So eine Teilnehmerin im Rückblick, zit. nach Corinna Wahlers, Die Entwicklung des politischen Singens in den 1960er Jahren unter besonderer Berücksichtigung der Festivals auf Burg Waldeck, Magisterarbeit, Siegen 2003, S. 87. 9 Song 2. 1969, S. 8. 10 Die Zeit, 19.9.1969. 11 Frankfurter Rundschau, 27.9.1969. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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Düül und Tangerine Dream die ganze Breite der politisch gefärbten »Gegenkultur« in einer deutschen Färbung präsentierten.12 Essen war entstanden aus dem Impuls des amerikanischen Underground, vermischt mit Londoner und Amsterdamer Einflüssen und den heterogenen Elementen der auch in der Bundesrepublik aufschießenden Gegenkultur  – von den Protestsängern über die frühen Kommunen und experimentellen Pop-Bands bis hin zu den Provo-Subkulturen. Unter dem Vorzeichen der nichtkommerziellen Verschmelzung von Pop und Politik waren die Songtage die bedeutendste Veranstaltung der westdeutschen Gegenkultur in den späten sechziger Jahren und zugleich der Beweis, dass auch auf dem europäischen Kontinent mit diesem Konzept große Massen von Jugendlichen zu mobilisieren waren. Eingebettet wurde die Veranstaltung in einen theoretischen Rahmen, den Rolf-Ulrich Kaiser als Spiritus rector des Unternehmens gezimmert hatte: Ein Festival der Gegenkultur konnte (jedenfalls temporär) ein »eigenes, unabhängiges Reich« verwirklichen und eine Ahnung von den Möglichkeiten einer »jungen Kultur« vermitteln.13 Dieses Konzept richtete sich gegen die Verabsolutierung des Politischen, wie sie in einem Teil der Studentenbewegung betrieben wurde, aber auch gegen die Bindung an die alte Jugendbewegung, die von einem produktiven Faktor zur Fessel geworden war.

II. Zwischen Waldeck und Roskilde: Kommerzialisierung und Gegenwehr Im Laufe des Jahres 1970 wurde Popmusik für eine bis dahin nicht annähernd erreichte Masse westdeutscher Jugendlicher erstmals eine Erfahrung, die nicht mehr nur durch massenmediale Vermittlung zu haben war. Woodstock und Alta­mont waren nur die extremen Pole einer Reihe von Großveranstaltungen gewesen, die 1969 in den USA und Großbritannien jeweils Hunderttausende mobilisiert und auch in der Bundesrepublik Aufsehen erregt hatten. Nach drei Seiten hin sorgte die westdeutsche Festivalwelle von 1970 für Ernüchterung. Erstens zeigte sie, dass zahlreiche junge Veranstalter, die selbst Popmusikfans waren, viel Geld zu machen trachteten und sich als unerfahrene »hip-Kapitalisten« (Helmut Salzinger) entpuppten, die nicht die Ware lieferten, die sie versprochen hatten. Zweitens reagierte der Staat – oftmals im Zusammenwirken mit den Veranstaltern – mit massiven Kontrollmaßnahmen auf die virulente Gewalt, die scheinbar vom Publikum ausging, sodass von einer irgendwie »freien« Atmosphäre nicht die Rede sein konnte. Drittens waren die zuströmenden jugendlichen Massen bei der Rezeption von Popmusik anscheinend nicht viel weniger passiv als andere Bevölkerungsgruppen beim Genuss 12 Vgl. Siegfried, Time, S. 601 f. 13 Erster Entwurf eines Konzepts einer Zeitschrift für die »Junge Kultur«, o. D., Deutsches Kabarett-Archiv, LM /C/30. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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von Schlagermusik, sodass von einem aktivierenden Charakter »progressiver« Popmusik wenig zu verspüren war. Als Antizipation einer befreiten Gesellschaft konnten Popkonzerte und -festivals kaum gelten. Doch für die Besucher blieben sie Orte der sub- oder gegenkulturellen Vergemeinschaftung, die Raum für Identitätsbildung, Kommunikation und gemeinsame Praxis boten. Zum katastrophalen Abschluss der ersten deutschen Festivalsaison kam es im September 1970 auf Fehmarn. Unter dem Titel »Open Air Love + Peace« rührten drei Kieler Gastwirte, finanziell unterstützt von der Pornoproduzentin Beate Uhse, die Werbetrommel für ein Festival, das das größte seiner Art auf dem europäischen Kontinent werden sollte. Indes, anstelle der erwarteten 60.000 Besucher aus England, Deutschland, Holland, »vor allem auch aus Skandinavien«, wie die Veranstalter ankündigten, kamen lediglich 25.000, die eine im Ganzen desaströse Veranstaltung erlebten.14 Regen und Sturm verwandelten das Festivalgelände in eine Schlammwüste und verwehten den Bühnensound, den eine arg geschrumpfte Reihe von teilweise schlecht motivierten Bands erzeugte. Das Unternehmen erhielt eine denkbar ungünstige Presse. Anstatt zum europäischen Woodstock geriet Fehmarn zu einem provinziellen Altamont  – Gipfelpunkt jener negativen Erscheinungen, die das Bild des Festivalsommers 1970 bestimmten. Etwa 500.000 Jugendliche hatten in diesem Jahr die Pop-Festivals in der Bundesrepublik besucht, darunter auch ein großer Teil der linken Szene.15 Ein Mitglied einer linken Gruppe, interviewt während des Fehmarner Festivals, sprach für einen beträchtlichen Teil des Publikums, wenn er Alternativen zur kommerziellen Ausrichtung der Popfestivals forderte, bei denen nicht Profitgier und Gigantomanie, sondern Selbsttätigkeit im Mittelpunkt stehen sollte: »Die Leute haben […] den Massen- und Starrummel satt. Nur weil sie keine Alternative sehen, laufen sie weiterhin zu solchen Festivals – und kehren genauso unbefriedigt nach Hause zurück, wie sie kamen. Ich glaube, wir müssen selber Feste organisieren, bei denen der Schwerpunkt aber auf schöpferischer Eigentätigkeit liegt. Wir müssen versuchen, Festivalformen zu finden, die die Leute aktivieren – Festivals mit einer Atmosphäre, die die kreative Phantasie anregt und gleichzeitig zur kritischen Bewusstwerdung beiträgt.«16 »Selber Feste organisieren« – in dieser Formel steckte der prinzipielle Anspruch der Gegenkultur: Rockmusik gehört uns und nicht den Geschäftemachern, Musikfestivals sind Orte, auf denen wir uns über unsere Interessen verständigen, spielerisch unsere Gemeinschaft pflegen und mit neuer Energie nach Hause zurückkehren. Dies alles sollte aus eigener Kraft gestaltet werden – auch, weil 14 Zitat: Presseinformation, 6.8.1970, Archiv der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg, Beate Uhse, 18–9.2.3. Firmengeschichte 1a 1970–1975. 15 So Stefan Paul, der während der Arbeiten zu seiner Filmdokumentation »Open Air 70« das Geschehen intensiv beobachtet und in Konstanz, Heidelberg und auf Fehmarn gedreht hatte: Stefan Paul, Pop-Festivals und ihre Folgen, in: Sozialistische Zeitschrift für Kunst und Gesellschaft 4. 1970, S. 79–82, 80. 16 Badische Zeitung, 9.9.1970. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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angesichts der Erfahrungen des Festivalsommers 1970 Vorteile einer »professionellen« Organisation von oben beim besten Willen nicht erkennbar waren. Angeregt worden war die Imagination eines Popmusikfestivals als Ort der temporären alternativen Vergemeinschaftung von Filmen, die seit 1968 in die Kinos kamen – in jenem Jahr die Festivaldokumentation »Monterrey Pop« von D. A. Pennebaker, 1969 Fiktionalisierungen des Hippie-Lebens wie »Easy Rider« und »Alices Restaurant«, 1970 schließlich »Woodstock«, die Festivaldokumentation von Michael Wadleigh, die auch in der Bundesrepublik und in Dänemark zu sehen war.17 Allerdings sollte es in den Folgejahren nicht wieder zu einem einzigen großen Sammelpunkt der Gegenkultur kommen, wie ihn noch die Internationalen Essener Songtage gebildet hatten. Stattdessen entstanden mit der Ausdifferenzierung der Szenen Festivals, die sich auf Teilaspekte konzentrierten. Während es 1974 keine zehn Folkfestivals in der Bundesrepublik gab, waren es 1977 schon fast 50.18 Gleichzeitig zeigte die begrenzte Zahl der Besucher  – in Ingelheim kamen 1974 gut 3.000, 1977 5.000  –, dass hier, wie gewünscht, kein Angebot für die Masse der auch im Alternativmilieu verbreiteten Pop- und Rockadepten gemacht wurde.19 Dieses Segment wurde nach wie vor von kommerziellen Veranstaltern bedient, die ohne große Erfahrung eine schnelle Mark machen wollten, wie etwa beim Festival in Scheeßel von 1977, wo den 30.000 Besuchern nur fünf der angekündigten 23 Bands geboten wurden, woraufhin, wie auf Fehmarn, die Bühne in Brand gesetzt wurde – der »bisher in Deutschland größte Betrug der ohnehin unrühmlichen Festival-Geschichte«, wie die Musikzeitschrift Sounds konstatierte.20 Ein Jahr später geschah Ähnliches beim Festival auf der Loreley, weil die angekündigten Jefferson Airplane nicht auftraten.21 Rückblickend hielt die linksradikale Deutschrockband Checkpoint Charly fest, eine »Menge Freaks und Musiker« hätten »die Schnauze voll davon [gehabt], sich auf irgendwelchen Ghettofestivals unter polizeilicher Belagerung und für kriminelle Eintrittsgelder Musik anzuhören, die mit dem, was Rock, Blues oder jede andere Musik, die von Unterdrückten kommt, ursprünglich ausdrückt, nichts mehr zu tun hatte«.22 Zeitgleich zeigte ein Versuch an anderer Stelle, dass es auch anders ging. Das programmatisch »Umsonst & Draußen« genannte Festival der Musikerinitiative Ostwestfalen-Lippe in Vlotho (später Porta Westfalica) steigerte sich von 5.000 Besuchern im ersten Jahr 1975 auf 40.000 in 1977, 1979 waren es 100.000.23 Das schon 1977 vollmundig »größte AlternativVeranstaltung in Deutschland« titulierte Treffen stieß auf positiven Widerhall, 17 18 19 20 21 22 23

Vgl. Der Spiegel 38, 14.9.1970. Geyer, Besucherbefragung, S. 70. Zahl für 1977 in: Stern 29, 7.7.1977. Sounds 10. 1977, S. 7. Bericht in: Pflasterstrand 33, 1.–14.7.1978, S. 13. Pflasterstrand 59, 28.7.–10.10.1979, S. 15. Sounds 11. 1979, S. 17. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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weil es aus der Alternativszene heraus organisiert war, auf große Stars verzichtete, Transparenz an den Tag legte und Selbsttätigkeit förderte.24 Unter diesen Voraussetzungen waren selbst große Besuchermassen kein Problem. Sounds beobachtete »ein unübersehbares sinnliches Angebot, Musik von zwei Bühnen, Theatergruppen überall, Trommelchöre in der Zeltstadt, Infostände und eine im Lauf der Jahre immer größer werdende Plage von fliegenden Händlern, die wussten, dass sie nicht von den Freaks oder der Polizei vertrieben werden würden.«25 Ähnlich heterogen waren die Elemente, die das Roskilde-Festival zum Dauererfolg werden ließen. Beim kleinen nördlichen Nachbarn gestaltete sich die regionale und thema­ tische Ausdifferenzierung der Festivallandschaft nach einer Anlaufphase in den frühen 70er Jahren überschaubarer und harmonischer. Neben zwei großen, aus privater Initiative entstandenen und von hunderten Freiwilligen organisierten Folkmusikfestivals am nördlichen und südlichen Ende Jütlands, in Skagen (seit 1971) und Tønder (seit 1975), entwickelte sich nach flüchtigen Vorläufern an anderen Orten seit 1971 im östlichen Teil des Landes mit Roskilde ein Rock­ festival, das bald weit über die Region und das Land hinaus strahlen sollte.26

III. Freiraum und Engagement. Vergemeinschaftungsmodus Roskilde Das Festival von Roskilde, 1971 aus der Zusammenarbeit ortsansässiger Gymnasiasten mit einem Kopenhagener Musikagenten hervorgegangen, aber schon 1972 im Rahmen eines kommunalen Vereins durchgeführt, wurde mit Teil­ nehmerzahlen von anfangs 10.000, 1988 über 60.000 zum größten Festival Nordeuropas. Das erste in der Reihe der Roskilde-Festivals trug noch die Kennzeichen jenes Wildwuchses, der schon den bundesdeutschen Festival-Sommer 1970 bestimmt hatte: Woodstock-Euphorie und der Versuch, etwas Vergleichbares im europäischen Raum zu schaffen, private Initiative, unsichere Finanzierung, organisatorisches Chaos, Widerstände im lokalen Umfeld. Ähnlich wie Fehmarn, wenn auch nicht ganz so dramatisch, endete das »Sound-Festival« betitelte Treffen von 1971, dessen Finanzier mit der Kasse entschwand.27 Auf sicherere Beine wurde das Festival im darauf folgenden Jahr gestellt, als Roskildefonden, ein einige Jahre zuvor gegründeter Verein (2004 umbenannt in Foreningen Roskilde Festival), die Federführung übernahm und mit der Gemeinnützigkeit als ethischer Grundlage ein Gegenmodell zu der auf diesem Gebiet ansonsten vorherrschenden Kommerzialität schuf. Damit genoss es bei 24 Sounds 8. 1977, S. 10; Sounds 10. 1977, S. 9. 25 Sounds 11. 1979, S. 17. 26 Jens Henrik Koudal, Fra Skagen til Tønder. Om økonomi, organisation og repertoire på landets to største folkemusikfestivaller, in: Modspil 19. 1982, S. 32–39. 27 Thomas Gjurup, Roskilde Rock 1962–1972. …fra pigetråd til smat. En scrapbog med lyd, Roskilde 2005, S. 37. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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seinem jugendlichen, von der Alternativkultur beeinflussten Publikum erheblich mehr Legitimität als das gewinnorientierte Gebaren kommerzieller Veranstalter, zumal die Überschüsse unter anderem in die Förderung der Jugendarbeit flossen, nicht zuletzt zur Unterstützung junger Rockbands, aber später auch für globale humanitäre Zwecke vergeben wurden – etwa an Amnesty International, den World Wildlife Fund oder Ärzte ohne Grenzen.28 Bislang sind mehr als 100 Millionen Kronen als Überschuss verteilt worden, was Roskildefonden auch zu einem gewichtigen politischen Akteur werden ließ. In den ersten Jahren wurde das Roskilde-Festival noch stark vom Woodstock-Mythos überformt, wobei der Wille ausgeprägter war als das Können. Das Programm wurde eher zufällig als strategisch zusammengestellt, der Service war bescheiden, aber das Improvisierte machte auch einen Großteil der Anziehungskraft innerhalb eines Milieus aus, das Professionalität skeptisch betrachtete. Schon in diesen Jahren zeigte sich, dass die Musik oftmals Anlass, aber nicht unbedingt Mittelpunkt des Festivalbesuchs war. Sie gab eher den Hintergrundsound für die Atmosphäre eines hippiesken Gemeinschaftslebens ab, das aus vielen Aspekten bestand und sich nicht nur vor der Bühne abspielte.29 1978 erklärte Ebbe Kløvedal Reich, ein bekannter Schriftsteller aus dem linksradikalen Milieu Dänemarks, in einer Rede vor Festivalteilnehmern, Roskilde sei – gemeinsam mit Christiania und dem Thy-Lager – »die einzige authentische AntiInstitution, die geblieben ist von all dem Verrückten und Lebensbejahenden, das im Protest der späten 60er Jahre« entstanden sei.30 Die vier Möglichkeiten, die Reich als Wege, das Leben autonom zu gestalten, beschrieb, flossen in­ Roskilde zusammen: Musik, Rausch, Erotik und soziales Experiment. Nach dem Anwachsen der Teilnehmerzahl, die sich zwischen 1972 und 1976 von 15.000 auf 26.000 fast verdoppelt hatte, wurden Strukturen und organisatorische Abläufe professionalisiert. Die entscheidende Neuerung war ein modernisiertes Programmkonzept, das sich von den Stars der späten sechziger Jahre löste, ohne das Prinzip Woodstock als Gemeinschaftsideal aufzugeben. Der Erneuerungsschub kam nach dem Festival von 1977, das dem langjährigen Leiter Leif Skov zufolge »kein gutes Festival« war. Skov berichtet von einer gewissen »Erschöpfung« im Publikum und in der Festivalleitung, die an alten Rezepten festgehalten hatte.31 Die Erneuerungskur beinhaltete Folgendes: Neben organisatorischen Veränderungen – größeres Budget, Ausweitung der Areale, Konzentration der Zelte auf eigene Campinggelände jenseits der Bühnen und An28 Vgl. dazu Niels Bjerrum, Roskilde Festival  – en dansk interesseorganisation? Kopen­ hagen 2008. 29 Anders Rou Jensen, Mellem drømme og drøn. Roskilde Festival 25 år, Kopenhagen 1995, S. 38. 30 Ebbe Kløvedal Reich, Tale til Danmark, in: Johannes Feil (Hg.), Roskilde Festival, Kopenhagen 1981, S. 164–169, hier S. 164. 31 Leif Skov, Roskilde Festival – 27 år efter Woodstock, in: Historisk årbog fra Roskilde amt, 1996/97, S. 99–122, hier S. 106. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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kauf des orangenen Zeltes für die Hauptbühne, das Professionalität und Dauer signalisierte – verbannte man die überhandnehmenden kommerziellen Händler vom Verkaufsgelände und steuerte beim Musikprogramm um: Anstatt verblassende Stars der sechziger und frühen siebziger Jahre anzuheuern oder ein bisschen von allem zu bieten, wollte man künftig aktueller werden und setzte auf einzelne, jeweils neue Namen der Spitzenklasse wie etwa 1978 Bob Marley, im Jahr darauf Talking Heads oder 1982 U 2 als Top-Acts, präsentierte aber gleichzeitig in erster Linie neue und junge Bands.32 1978, so formulierte es Skov im Rückblick, »küssten wir den aktuellen Sternenhimmel anstatt uns weiterhin mit dem musealen zufrieden zu geben« – was sich sowohl auf die internationale wie die nationale Entwicklung bezog.33 Damit wurde am internationalen Charakter des Festivals festgehalten, anstatt jenen isolationistischen Stimmen zu folgen, die gefordert hatten, ganz auf das dänische Potenzial zu setzen.34 Durch die prinzipiellen Entscheidungen der späten siebziger Jahre wurde der Wandel institutionalisiert und das Festival für immer neue Jugendgenerationen attraktiv. Roskilde war einer derjenigen Orte, an dem die »Unangepassten«, die Skov erreichen wollte, sich verständigen konnten. Neue Anstöße hatte die Festival­ leitung unter anderem von den längst versunkenen Festen der dänischen KPZeitung »Land og Folk« geholt, die Skov »sehr imponiert« hatten, weil sie in einer entspannten Atmosphäre vonstattengingen und eine soziale Breite unter den Teilnehmern hatten, wie sie das Roskilde Festival nicht aufweisen konnte. Beim Fest der französischen KP-Zeitung »L’Humanité«, das er daraufhin besuchte, erhielt Skov viele Anregungen für Roskilde: Das Fest war eine Explosion von Erlebnissen und hatte alternative Städte mit exotischen Düften, Aktivitäten und Musik. Da gab es eine Aktualität, eine Nähe und ein südländisches Gepräge, das wir meiner Ansicht nach in Roskilde nötig hatten. Damals brauchten wir jemanden oder etwas, der oder das die Gedanken in Bewegung setzte und zu humanitären und ideellen Fragen Stellung bezog. In Wirklichkeit war die Hippiezeit ja etwas egofixiert und passiv. Das war einer der Gründe dafür, dass wir 1984 die alternative Stadt [aus Ständen der verschiedensten politischen und kulturellen Gruppen, D. S.] einführten mit viel Inspiration vom Land-og-Folk-Festival und den wunderbar vielen Initiativen von unten, die es seinerzeit gab.35

Eine nicht nur ökonomisch wichtige Rolle spielten und spielen die tausenden von ehrenamtlichen Mitarbeitern, die alljährlich beim Aufbau helfen, Gruppen, Bühnen oder Verkaufsstände betreuen, Müll entsorgen, Büro- und Gestaltungsarbeiten übernehmen  – und dafür gratis dabei sein können. Oftmals werden sie von lokalen Vereinen oder den benachbarten Hochschulen rekrutiert. Beim 32 33 34 35

Ebd., S. 111 f. Leif Skov im Interview, in: Erik Jensen, På Roskilde, Kopenhagen 2003, o. Pag. Dies wurde etwa vorgeschlagen in MM , August/September 1977, S. 8. In: Jensen, Roskilde, o.Pag. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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Festival 1981 waren es etwa 1.000 Helfer bei 51.500 zahlenden Teilnehmern, in den letzten Jahren circa 25.000 bei 90.000 Teilnehmern – dies ist seit 1995 die Obergrenze der verkauften Tickets  –, sodass man durchaus sagen kann, dass auch in dieser Hinsicht zu erheblichen Teilen das Publikum selbst sein Festival gestaltet.36 Zwar sorgt ein hauptamtlicher Apparat für die professionelle Vorbereitung und Durchführung der Veranstaltung (1995 bestand er aus acht Personen plus einigen Zivildienstleistenden und Arbeitslosen), aber das freiwillige, nichtkommerzielle und autonome Prinzip ist ein entscheidender Grund für die lange Lebensdauer und anhaltende Attraktivität des Roskilde-Festivals. Skov hält fest, dass es »kommerzielle Rockmusikfestivals mit Größe, Bedeutung und langer Tradition nirgendwo auf der Welt gibt – die noch bestehenden Festivals beruhen auf einem anderen Selbstverständnis und anderen Zielen als wirtschaftlichem Gewinn.«37 Seit Mitte der achtziger Jahre wurde auch der Handel auf dem Festival reguliert. Beherrschten zuvor Fastfood und recht zufällig erscheinende fliegende Händler den Platz, so gibt es seitdem für die unüberschaubare Zahl an Bewerbern aus ganz Europa eine Zulassungspolitik. Sie reguliert den »Basishandel«, also die Versorgung mit Speisen und Getränken, nach dem Prinzip der Vielfalt und Qualität, während der so genannte »Atmosphärenhandel« mit Handwerkswaren aller Art außerdem Originalität bieten soll.38 Die Tatsache, dass Roskilde große Massen anzieht, obwohl die Musikstile sich permanent wandeln, belegt einmal mehr, dass das Programm bei Musikfestivals zwar eine wichtige, aber keineswegs die ausschlaggebende Rolle spielt. Eine Teilnehmerbefragung von 1994 hat ergeben, dass ein Drittel der Besucher ausdrücklich nicht der Musik wegen kommt, sondern vom sozialen Beisammensein, der Atmosphäre et cetera angezogen wird. Fast alle Besucher erwähnen eine »besondere Stimmung«, die das Roskilde Festival ausmache und als Ausdruck von Freiheit, Gleichheit und Gemeinschaft erlebt wird.39

IV. Transnationale Wahrnehmungen. Roskilde als Vorbild Folk- und Popfestivals der sechziger bis achtziger Jahre waren häufig nicht nur nationale Kulturereignisse, sondern lebten vom Spannungsverhältnis der Entwicklungen in der internationalen Popkultur auf der einen und in den nationalen Szenen auf der anderen Seite. Während das Waldeck-Festival zwischen 36 Politisk revy 404. 1981, S.  13–14. Vgl. Brian Christiansen, Roskilde Festival. Keep on Rockin’, Kopenhagen 2008, S. 140. 37 Skov, Roskilde Festival, S. 106. 38 Anne-Grethe Nielsen, Handel på festivalen, in: Grete Rung (Hg.), Vi mødes i Roskilde. Roskilde Festival i 25 år, Roskilde 1995, S. 70–75. 39 Grete Rung, Hvordan gribe og begribe hvad Roskilde Festival er?, in: Rung, Roskilde, S. 140–147, hier S. 140. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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internationaler Beteiligung und Abschottung von der konsumindustriell geprägten westlichen Popkultur schwankte, profilierte sich Roskilde konsequent durch ein Mischkonzept, das Stars aus aller Welt mit skandinavischen und insbesondere dänischen Newcomern vereinte und zugleich ein internationaleres Publikum anzog, als dies in der Bundesrepublik der Fall war. Wie eine Studie von 1994 ergab, bestand es nur etwa zur Hälfte aus Dänen, die andere Hälfte kam aus anderen Ländern, an zweiter Stelle nach Schweden (20 Prozent) rangierte die Bundesrepublik mit 12 Prozent aller Teilnehmer.40 Für die siebziger Jahre erscheint, da der Anteil der Nichtdänen im Laufe der 80er Jahre von etwa 40 auf 50 Prozent zugenommen und sich dort stabilisiert hat, die Zahl von »höchstens 10 Prozent«, wie ein Frankfurter Alternativer 1979 den Anteil deutscher Roskildepilger taxierte, als realistisch  – bei mehreren zehntausend Besuchern (1979: 40.000) in jedem Falle eine beachtliche Zahl.41 Kommunikation zwischen den Teilnehmern war in jenen Jahren häufig noch auf Deutsch möglich, später wurde Englisch als Lingua franca geläufiger – und im Zweifelsfalle gemeinsames Fest und geteiltes Bier, wie es ein Däne berichtet, der in eine Party von Deutschen geraten war.42 Das dänische Festival wurde in der Bundes­ republik – insbesondere von Norddeutschland aus – nicht nur angesteuert, sondern auch aufmerksam beobachtet und kommentiert, als Vergleichsebene zur Lage im eigenen Lande. Seit 1975 berichtete das wichtigste deutsche Musikmagazin, Sounds, alljährlich über Roskilde, neben Blättern der Alternativszene wie dem Frankfurter Pflasterstrand und der tageszeitung  – fast ausnahmslos mit überaus positiver Tendenz. »Eines der schönsten Festivals, die ich je erlebt habe«  – derartig euphorische Aussagen finden sich häufiger.43 Wie stark das Festival wahrgenommen wurde, obwohl es jenseits der deutschen Grenzen lag, und wie positiv diese Wahrnehmungen waren, lässt sich sogar annäherungsweise quantifizieren. Im Sounds-Pop-Poll 1975 lag Roskilde auf Platz 4 der Kategorie »Bestes Festival des Jahres«, 1978 auf Platz 3.44 Fragt man nach den Inhalten der Roskilde-Rezeption in der Bundesrepublik, so zeichnen sich Charakteristika der grenzüberschreitenden Wahrnehmung ab, in der szenetypische Kriterien aufscheinen, aber auch nationale Stereotypen nicht zu übersehen sind. Hier fällt insbesondere auf, dass Roskilde in den siebziger Jahren als positives Gegenmodell zur westdeutschen Festivalszene betrachtet wurde. Hintergrund war erstens die absolut dominierende Erfahrung mit schlechter Festivalorganisation, die vor allem dem Profitstreben der Privatveranstalter angelastet wurde. Roskilde mit seiner Organisationsform, seinem 40 Rung, Roskilde, S. 153. 41 Pflasterstrand 59, 28.7.–10.10.1979, S. 15. Vgl. Pedersen, Hvem kommer, S. 95. Zahlreiche Erfahrungs- und Erlebnisberichte internationaler Teilnehmer finden sich in: Rydahl u. Søegaard (Hg.), Roskilde Stories. 42 Rydahl u. Søegaard (Hg.), Roskilde Stories, S. 225. 43 Pflasterstrand 59, 28.7.–10.10.1979, S. 15. 44 Sounds 2. 1976, S. 37. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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kleinen hauptamtlichen Apparat und dem gemeinnützigen Ziel hingegen hatte positivere Folgen für den Ablauf des Festivals und wurde im Alternativmilieu als vorbildlich betrachtet. Daher, so notierte Sounds-Redakteur Jörg Gülden, »entbehrt man hier des Gefühls, mal wieder ausgeplündert und angeschissen worden zu sein […] völlig!«45 Ein Berichterstatter namens »Matz« aus Frankfurt sah das »Faszinierende an diesem Festival« in der »Ruhe und Gelassenheit« auf der Seite der Veranstalter »(Ordner, peacige Bullen etc.)« und in den »Menschenmassen, die trotz Suff und Kiff ein unwahrscheinlich diszipliniertes Verhalten drauf hatten, wo wir stupiden Deutschen sehr, sehr viel von lernen können.«46 Nach Roskilde fuhren junge Deutsche nicht, wie ein anderer Kommentator im deutsch-dänischen Kauderwelsch schrieb, in erster Linie der Bands wegen, sondern »fordi atmosfæren er så angetörnt på denne festival.«47 Noch 1979 galt Roskilde trotz oder gerade wegen der Veränderungen der letzten Jahre als »Festival-Gesundbrunnen«, bei dem sich ein Besuch immer lohnte – »satis­ faction guaranteed«.48 Selbst das Festival von 1977, das den Veranstaltern Anlass für Selbstkritik und einen grundlegenden Richtungswechsel war, wurde in der Bundesrepublik in den höchsten Tönen gelobt. Aber auch die westdeutschen Bands erschienen  – zweitens  – im internationalen Vergleich provinziell, weil sie von den kommerziellen Produktionsund Vertriebsmethoden der Musikindustrie abhängig waren. Zwar wurden manche von ihnen  – Tangerine Dream, Can, Kraftwerk  – in Großbritannien und den USA stark beachtet, aber dabei handelte es sich hauptsächlich um­ Electronic-Gruppen, die dort für »deutsch« gehalten wurden, in der Bundesrepublik selbst aber auf vergleichsweise geringe Resonanz stießen. Im Vergleich zu den dänischen fielen deutsche Rockgruppen ab. Weil alle skandinavischen Bands in ihrer Muttersprache sangen, so hieß es in Sounds, »werden sie und ihre Message auch vom Publikum verstanden; es findet tatsächlich Kommunikation statt, ein Erlebnis, das einem hierzulande so gut wie nie widerfährt!«49 Auch der taz-Reporter konstatierte, dass »die unbekannten skandinavischen Bands um Längen besser sein können als die ›Top-Acts‹.«50 Thomas Eckert zufolge war »die musikalische Qualität dieser Gruppen und Musiker oft hervorragend und von einer eigenartigen Qualität, die sich durch spezifische skandinavische Eigenarten auszeichnet. Verglichen mit dem musikalischen Geschehen in deutschen

45 Sounds 8. 1977, o. Pag. 46 Pflasterstrand 59, 28.7.–10.10.1979, S.  14 f. Über »das sich dezent zurückhaltende Polizei- und Ordnerpersonal, das unterstützend helferisch tätig, beim Auftritt der Clash ein­ geklemmte Fans aus vorderster Reihe befreit bzw. anderen Becher mit Wasser reicht – eine hierzulande unübliche, freundliche Geste«: taz, 13.7.1985. 47 Sounds 8. 1978, S. 10. 48 Sounds 8. 1979, S. 11. 49 Sounds 8. 1977, o. Pag. 50 taz, 7.7.1981. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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Landen bieten vor allem dänische Bands von Pop bis Punk Hörenswertes.«51 Worin derartige »spezifisch skandinavische Eigenschaften« bestehen könnten, wurde nicht erläutert, aber insgesamt scheinen dänische Bands als authentischer, spontaner und experimenteller wahrgenommen worden zu sein. Ein Frankfurter Berichterstatter war überzeugt, die dänischen Veranstalter hätten »mit Recht« darauf verzichtet, deutsche Bands einzuladen, »da diese mit ihrem einfallslosen Sauerkrautrock […] sowieso nur unangenehm aufgefallen wären«.52 Auch hier entschied sich Qualität an der Frage der Kommerzialität: Die skandinavischen Bands erschienen ihm besser, weil »sie nicht einfach das Interesse haben, mit ihrer Musik die dicke Kohle zu machen«. In dieser recht schlichten Sichtweise spiegelten sich nicht zuletzt Stereotypen wider, die die deutsch-dänische Wahrnehmung generell bestimmten: Hier das große, mächtige, nicht zuletzt finanzstarke Land im Süden, dort die kleine, machtpolitisch einflusslose, aber weniger entfremdete und pfiffigere Nation im Norden. Besonders bemerkenswert ist in diesem Fall, dass dieses dänische Autostereotyp im westdeutschen Alternativmilieu geteilt und sogar besonders radikal vertreten wurde: das Deutsche war schlecht, auch wenn es die bevorzugten Musikstile betraf, das Dänische meilenweit überlegen. Drittens galten westdeutsche Bands ebenso wie ihr Publikum als rückständig aufgrund vermeintlich überlebter Kulturideale. So fragte sich der Musikjournalist Jörg Gülden 1977, warum die dänischen Bands »so viel besser« seien als die deutschen und kam zu der Auffassung, sie hätten es »einfacher«, weil »sie nicht diese kulturelle Bürde mit sich rumzuschleppen haben. Bei denen hat die Musik weniger mit Kunst zu tun, die haben viel weniger Respekt vor solchen Dingen als wir. Die lassen sich gehen und machen’s halt.«53 Das dänische Publikum sehe »in einem Rock-Konzert viel weniger als wir die Pflicht, jetzt reserviert zu lauschen, als die Möglichkeit, nu’ mal einen loszumachen. Zu tanzen. Auszuflippen.« Inwieweit die von Gülden konstatierte Diskrepanz zutreffend war, ist schwer zu ermessen, doch in diesem Zusammenhang geht es auch weniger um Tatsachen als um Selbst- und Fremdwahrnehmungen. Fest steht immerhin, dass deutsche Konzertbesucher allgemein als besonders kritisch galten. 1972/73 vorgenommene Befragungen unter Besuchern von Rock- und Popkonzerten in der Bundesrepublik hatten ergeben, dass das Publikum weniger als emotionalisierte »Fans« gesehen werden wollte, die als »fanatische Masse« noch in den sechziger Jahren konservative Untergangsphantasien beflügelt hatten. Der Großteil der Konzertbesucher betrachtete sich vielmehr als interessierte, aber auch distanzierte Beobachter. Ein Musiker sah darin einen nationalspezifischen Habitus: »Die Deutschen versuchen, intellektualistisch zu sein. Jeder tut so, als sei er ein Kritiker und Musikwissenschaftler … Sie kommen mit einer fast 51 taz, 12.7.1984. 52 Pflasterstrand 59, 28.7.–10.10.1979, S. 15. 53 Sounds 8. 1977, o. Pag. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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bösartigen Einstellung ins Konzert und schauen der Gruppe auf die Finger. In dem Sinne ›Machen die auch nichts falsch?‹ Solche Aufpasser gibt es in Deutschland jede Menge.«54 Mag sein, dass Güldens Gegenüberstellung reale Unterschiede benannte, gut möglich aber auch, dass hier länger angelegte Stereotypen reproduziert wurden, die ebenso auf der dänischen Seite existierten: die Dänen als pragmatisch und lebenslustig (»Die Italiener Skandinaviens«), die Deutschen als intellektualistisch gehemmt. Und schließlich erschien, viertens, Roskilde strukturell glaubhafter als die deutschen Festivals, weil es gemeinnützig war und insbesondere jugend­ kulturelle Einrichtungen unterstützte: »Alles in allem kann man als Deutscher über solche Dinge nicht nur staunen, sondern man wird wohl auch noch die übernächste Eiszeit abwarten müssen, bis Ähnliches auch hier bei uns geschieht.«55 Gemeinnützigkeit versus Profitorientierung  – das bestimmte den ganzen Charakter des Festivals. Skeptische Stimmen, wie sie in der dänischen linksalternativen Szene laut wurden und etwa im Entscheidungsjahr 1977 kritisierten, das Festival sei »allmählich phantasielos und merkantil« geworden, oder in den frühen achtziger Jahren eine aufkommende »Paranoia« mit Umzäunung der Bühne und Wachpersonal monierten, waren von deutscher Seite nicht zu vernehmen.56 Derartige auffällig stereotype Wahrnehmungen mögen im Kontext von Musikfestivals mit größerer Überzeugung geäußert worden sein, weil die Situation zwischen Nähe und Distanz speziell war. Einerseits fühlten sich ausländische Besucher des Festivals dem Publikum unmittelbar zugehörig, weil die Stil­ präferenzen und Rituale des Alternativmilieus – darunter die Musik – gemeinschaftsbildend wirkten. Andererseits fand verbale Kommunikation im interpersonalen Kontakt aufgrund der Sprachprobleme nur ausnahmsweise und relativ oberflächlich statt. In der Regel blieben die Deutschen unter sich. Diese Konstellation unterschied das Festival vom reinen Urlaubstourismus auf der einen und vom grenzüberschreitenden Besuch bei Freunden auf der anderen Seite. In den achtziger Jahren nahmen Vergleiche ab, nicht zuletzt, weil sich die ideolo­gische Überhöhung der Rockmusik als Bindemittel einer Gegenkultur verloren hatte. Stattdessen rückten die Vielschichtigkeit der Jugendkulturen und der Erlebniswert des Festivals in den Mittelpunkt. 1985 sah die taz das Festival als »Stilsupermarkt«, »der möglichst jeden Geschmack zufriedenstellen« sollte. Derartige Eindrücke trafen sich mit Systematisierungen, mit denen Soziologen die Gesellschaft der achtziger Jahre analytisch zu fassen versuchten. In der »Erlebnisgesellschaft«, wie Gerhard Schulze die kulturelle Qualität der postindustriellen Gesellschaft gekennzeichnet hat, spielen Erfahrung und Experi-

54 Zit. nach Rainer Dollase u. a., Rock People. Die befragte Szene, Frankfurt 1974, S. 58. 55 Sounds 8. 1976, S. 8 f. 56 MM , August/September 1977, S. 5; Politisk revy 404. 1981, S. 13–14. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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ment eine wichtige Rolle für die Selbstkonstruktion des Individuums.57 Dies wies eine Verbindungslinie zur Gegenkultur der sechziger Jahre auf. Wie Andreas Reckwitz in seiner Soziologie der Subjektkulturen konstatiert hat, war das Subjekt der Gegenkultur der 60er Jahre »eines des entgrenzten und spielerischen Begehrens nach intensiven Erfahrungen«.58 Gerade die »Gestaltungsidee eines schönen, interessanten, subjektiv als lohnend empfundenen Lebens«, nach Auffassung Schulzes der »kleinste gemeinsame Nenner von Lebensauffassungen in unserer Gesellschaft«, bot sich für eine Ästhetisierung und Kommerzialisierung durch Produktangebote und Werbung an.59 Insofern war der Weg von einem Festival der Gegenkultur hin zu dem von der taz beobachteten »Stilsupermarkt« nicht so weit, wie man vielleicht vermuten könnte.

V. Fazit Die Debatte über Politik und ästhetische Maßstäbe spielte auf der Waldeck eine große Rolle, in Roskilde eine randständige. Stand im Hunsrück die Diskussion über eine Ästhetik des Widerstands im Mittelpunkt des Festivals, so war es in Dänemark die Ausgestaltung eines umfassenden Freiraums für alle möglichen Lebensäußerungen – je nach individuellem Gusto: Liebe, Sex, Ausflippen, Drogengenuss, Leute kennen lernen, tanzen, Musik hören und diskutieren, aber kaum in organisierter Form. Hohe Qualitätsansprüche gab es bei beiden Veranstaltungsreihen, aber welche Musik als »gut« galt, wurde sehr unterschiedlich beurteilt. Auf der Waldeck war neben der Komplexität des Textes das Kriterium der Kommerzialität ausschlaggebend – also die Zugänglichkeit für die Masse: Je eingängiger sie war, desto stärker war die Ablehnung. In Roskilde hingegen war »gut«, was neu aufkommende Trends in der Jugendkultur schlüssig abbildete. Blickt man auf Festivals als Ereignisse transnationaler Kommunikation, so wird deutlich, dass Musik und das komplexe Umfeld eines Festivals mit seinen vielfältigen Akteuren – Polizei, Händler, politische Aktivisten – durchaus eine verbindende kommunikative Bedeutung haben. Da jedoch der Anteil des Nonverbalen beträchtlich höher ist als bei Begegnungen im nationalen Rahmen, schlagen sich vorgefasste Projektionen, durch die das Erlebte kontextualisiert wird, stärker nieder. Dadurch werden stereotype Auffassungen bestätigt, Abweichungen als Ausnahmen von der Regel aufgefasst. Allerdings vermitteln 57 Gerhard Schulze, Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt 1992. Als Ausdruck einer »Erlebnisökonomie« ist das Roskilde-Festival analysiert worden von: Mette Gotthardt, Kollektiv eufori & kolde øl. Publikums oplevelser på Roskilde Festival, Odense 2009. 58 Andreas Reckwitz, Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Weilerswist 2006, S. 442 f. 59 Schulze, Erlebnisgesellschaft, S. 37. Vgl. Zygmunt Bauman, Flüchtige Moderne, Frankfurt 2003. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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nonverbale Elemente wie Musik, Verhalten der Teilnehmer, Architektur des Geländes et cetera durchaus auch »reale« Verhältnisse, sodass stereotype Vorannahmen durch Realitätselemente stabilisiert oder destabilisiert werden können. Die Vorstellung, dass die Gegen- und Alternativkultur der sechziger bis achtziger Jahre prinzipiell internationalistisch gestimmt gewesen sei, trifft nur begrenzt zu. Unter den Fittichen der Folkwelle der sechziger Jahre wuchsen nationalspezifische Formen der Alternativkultur heran, die später als deutschoder dänischsprachige Rockmusik auch in der Populärkultur eine wichtige Rolle spielten. Gleichzeitig wurde der allgemein beklagten Kommerzialisierung der Gegenkultur schon in den frühen siebziger Jahren eine nationale Komponente beigemischt. Die Zeitschrift Germania konstatierte 1971, während die ­britischen und amerikanischen Bands bereits völlig konsumindustriell paralysiert seien, bestehe die Chance der »noch drei Jahre« zurückliegenden deutschen Szene darin, durch Selbstorganisation die drohende Kommerzialisierung abzuwehren.60 Noch 1990 hielt Detlef Kuhlbrodt in seinem Roskilde-Bericht in der taz ironie­frei fest: »Dänemark ist immer das netteste Land.«61 Und er erwähnte als Beispiel Polizisten mit gemalten Rosen auf den Wangen – ähnlich wie andere Berichterstatter vor ihm, die über die Jahre hin immer wieder die Freundlichkeit der dänischen Polizei hervorgehoben hatten, im Gegensatz zur deutschen Staatsgewalt. 1994, bei einer Serie von Interviews mit ausländischen Festivalteilnehmern, warf eine Mitarbeiterin des örtlichen Museums die Frage auf, inwieweit Ausländer das Festival als »dänisch« erlebten, und kam zu dem Ergebnis, dass sie die indigenen Teilnehmer zwar nicht als »typische Dänen« betrachteten, aber doch das Festival als »charakteristisch für die dänische Mentalität«.62 Nicht aus der Wahrnehmungsperspektive, sondern als Tatsache behandelte Festivalleiter Leif Skov diese Frage, als er in der Filmdokumentation von 2008 erklärte, das Besondere des Roskilde-Festivals sei schwer zu beschreiben oder gar zu kopieren: »Ich glaube, dass die nordische Weite immer noch in uns ist, obwohl es Kräfte gibt, die sie zerstören wollen. Wir müssen das verteidigen – Freiheit, Respekt, Persönlichkeit, Toleranz. Vielleicht empfinden wir das tief in unserer Seele. Es ist wichtig, dass wir das merken können, es ist also nichts ­Angelesenes. Aber wir müssen daran teilhaben, um es zu bewahren.«63 Die »nordische Toleranz«, das war stets ein Topos der westdeutschen Roskilde-Wahrnehmung gewesen. Dieses Stereotyp hatte sich in den Jahren nach der Jahrtausendwende gewandelt, als die dänische Regierungspolitik durch extreme Ausländerfeindlichkeit international Stirnrunzeln hervorrief. Auf der einen Seite war dies der 60 Germania 1. 1971, o. Pag. 61 taz, 9.7.1990. 62 Marita Bergien, Danmark, en orange prik på verdenskortet, in: Rung, Roskilde, S. 137– 139, hier S. 139. 63 Interview mit Leif Skov, in: Roskilde. Musikken. Festen. Følelsen. … Skal du med? film af Ulrik Wivel, Dänemark 2008, min. 70:50 f. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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Hintergrund für Skovs Insistieren auf einer Tradition der Toleranz, an der das Roskilde-Festival gegen die Politik der Rechtsregierung festhalten wollte. Auf der anderen Seite zeigten diese Politik und ihre Unterstützung durch einen Großteil der Bevölkerung, dass Toleranz nicht angeboren, »nordische Weite« nichts Unveränderliches war. Doch offenbar gab es zwischen den sechziger und den achtziger Jahren Gründe, die dänische Gesellschaft für toleranter zu halten als die westdeutsche. »Roskilde ist Mythos«, so Kuhlbrodt, »Wie Woodstock, Vlotho oder Scheeßel.« Und Mythen sind etwas anderes als die Wirklichkeit, auch wenn sie Realitätselemente enthalten können.

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Hans-Joachim Hinrichsen

Ausblick: Musikalische Kommunikation und Formen der Aneignung von Musik als Gegenstände der Historiographie

Eines hat der vorliegende Band in aller Klarheit gezeigt, ohne bereits alle Probleme lösen zu können: Die Untersuchung von »Kommunikationschancen im 20. Jahrhundert« (so der Titel der vorangegangenen Tagung) scheint, wenn man diese so definiert, dass sie die »Entstehung und Fragmentierung sozialer Beziehungen durch Musik« ins Auge fassen, ohne jede Frage eine faszinierende Doppelaufgabe der Geschichts- und der Musikwissenschaft zu sein. Und auch dabei bilden diese beiden Fächer sicherlich nur den festen Kern eines noch viel weiter zu spannenden interdisziplinären Projekts, an dem ebenso die Soziologie, die Ethnologie, die Psychologie oder die Anthropologie mit Gewinn beteiligt sein könnten. Doch ist bei näherem Zusehen allein schon der eben beschworene feste Kern, die selbstverständlich scheinende gemeinsame Zuständigkeit von Historiographie und Musikologie, weit weniger unproblematisch, als man meinen könnte. Denn beide Disziplinen unterhalten zum Gegenstand der jeweils anderen ein kompliziertes Verhältnis: In der Geschichtswissenschaft hat lange Zeit, eigentlich sogar bis vor kurzem, die Musik eine erstaunlich geringe Rolle gespielt, und die Musikwissenschaft, die als akademische Disziplin ohnehin auf ein nur kurzes Alter zurückblicken kann, kümmerte sich ihrerseits zunächst wesentlich mehr um die Untersuchung der ästhetischen und der philologischen als um die der geschichtlichen oder der gesellschaftlichen Dimension ihrer Objekte. Geschichte erschien also in der Musikwissenschaft in erster Linie unter einem verhältnismäßig engen Blickwinkel, nämlich in der Zuspitzung auf die musikalischen Werke (Werkgenese, Entstehungsumstände u. ä.), Musik hingegen in der Geschichtswissenschaft umgekehrt als eher vage und generell erfasstes kulturelles Phänomen statt als zentral fokussierter, konkreter Untersuchungsgegenstand. Dieser Zustand der friedlichen, aber auch unfruchtbaren Koexistenz zweier Fächer, die sich eigentlich viel zu sagen hätten, gehört heute zwar der Vergangenheit an, doch sollte man, bevor man mit Blick auf einen möglicherweise inzwischen eingetretenen musical turn in der Geschichtswissenschaft einerseits und angesichts der seither erfolgten methodischen Anreicherung der Musikwissenschaft durch soziologische, ethnologische, anthropologische oder kulturwissenschaftliche Fragestellungen andererseits in Euphorie ausbricht, die methodologischen Gründe für die vormalige © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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Problematik ernst nehmen und zu verstehen versuchen. Dass sich eine naturwüchsige Schnittmenge zwischen beiden Disziplinen in Form einer genuinen Musikhistoriographie ergibt, hat die Probleme nämlich nicht beseitigt (sondern vielmehr erst sichtbar gemacht). Obwohl also zum methodischen Kern der Musikwissenschaft eigentlich die Musikgeschichte unverzichtbar hinzugehört  – als Geschichte etwa der musikalischen Gattungen, der Formen, der Institutionen, der Musiker (und dies nicht zuletzt auch unter dem Aspekt der Biographie) –, hat die musikwissenschaftliche Historiographie ein Objektivitätsproblem ganz besonderer Art in dem ihr eigentümlichen Gegenstand: der Musik. Das mag banal klingen, wird aber erstaunlich selten wirklich als das Problem gesehen, das es ist. Eine Musikgeschichte im anspruchsvollen Sinn des Worts müsste in erster Linie das Phänomen Musik in seinem geschichtlichen Wesen erfassen können. Aber was heißt das genau? Noch Johann Gustav Droysen, dessen »Historik« seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zu den axiomatischen Grundlagen der Geschichtswissenschaft zählen dürfte, war gerade dieser Möglichkeit gegenüber skeptisch. Während er die geschichtlich-narrative Darstellbarkeit eines menschlicher Intention entzogenen »stillen Geschehens«, etwa der Sprachgeschichte, überhaupt kategorisch ausschloss,1 konzedierte er die Möglichkeit einer Historizität kultureller Phänomene immerhin in gewissen Entfaltungsstufen (wobei freilich die Musik nicht zufällig an letzter Stelle steht): »So hat kein Mensch vor Aristoteles daran gedacht, daß die dramatische Poesie eine Geschichte habe; bis gegen die Mitte unseres Jahrhunderts ist es niemandem eingefallen, von einer Geschichte der Musik zu sprechen.«2 Merkwürdig genug, hat sich freilich um exakt dieselbe Zeit die Musikgeschichte als akademische Disziplin zu etablieren begonnen: mit den im Wintersemester 1856/57 beginnenden musikhistorischen Vorlesungen des frischgebackenen Privatdozenten Eduard Hanslick an der Wiener Universität.3 1 Johann Gustav Droysen, Historik. Band 1: Rekonstruktion der ersten vollständigen Fassung der Vorlesungen (1857); Grundriß der Historik in der ersten handschriftlichen (1857/1858) und in der letzten gedruckten Fassung (1882), hg. v. Peter Leyh, Stuttgart 1977, S.  234: »Die erzählende Darstellung wird nur unter gewissen Bedingungen anwendbar sein. Indem sie voraussetzt, daß man den Tatverlauf nach seinen wesentlichen Momenten rekonstruieren und in diesen als gewollte und bewußte Handlung zeichnen kann, so wird sie da nicht anwendbar sein, wo dieser Verlauf nicht mehr oder noch nicht mit hinreichender Vollständigkeit zu rekonstruieren ist; aber auch da nicht, wo ein sozusagen stilles Geschehen die Dinge werden läßt, wo also die Wandlungen unmerklich vor sich gehen, die bedingenden und bestimmenden Einflüsse gleichsam latent wirken.« 2 Johann Gustav Droysen, Historik. Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte, hg. v. Rudolf Hübner, Darmstadt 19675, S. 138. 3 Vgl. die eigene Charakterisierung dieses Vorgangs in Hanslicks Memoiren: »Meine Vorlesungen waren die ersten musikalischen in Wien und so ziemlich der Anfang der populär-wissenschaftlichen Vorträge überhaupt, wie sie bald darauf Mode geworden sind.« Eduard Hanslick, Aus meinem Leben [1894], hg. v. Peter Wapnewski, Kassel 1987, S. 175. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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Da sich die Musikwissenschaft bei ihrer Installierung an den Universitäten an vermeintlich verwandten Fächern orientierte, verstand sie sich zunächst als eine Text- und Kunstwissenschaft; entsprechend bildete sie auch ihr methodisches Instrumentarium und ihr Forschungsprogramm aus. Die differentia specifica ihres Objekts gegenüber den Untersuchungsgegenständen der Kunstgeschichte und der Literaturwissenschaft blieb weitgehend unreflektiert. Geschichte wurde dabei zwar von Anfang an nicht ausgeblendet, wie schon allein die Wiener Vorlesungen Hanslicks zeigen, die ihrerseits auf die im deutschen Sprachraum bereits zögerlich etablierte Textgattung der »Musikgeschichte« rekurrieren konnte (das berühmteste Beispiel dürfte Johann Nikolaus Forkels unvollendet gebliebener Versuch vom Ende des 18. Jahrhunderts sein4). Aber sie blieb in gewisser Weise eine äußerliche Zutat, und die methodisch immer ausgefeiltere Konzentration auf das Kunstwerk selbst erwies sich als eine hart­ näckig überdauernde Erbschaft der idealistischen Autonomie-Ästhetik, für die der Kontext und die Genese keine conditio sine qua non zu einer angemessenen Erkenntnis des Kunstwerks darstellte. Zugleich hatte sich damit die Musikwissenschaft, in einem Zeitalter rapide schwindender musikalischer Alphabetisierung gravierend, partiell in ein Abseits manövriert, das zwar von anderen Fächern manchmal respektvoll bestaunt, manchmal aber auch als Tendenz zu methodologischer Esoterik belächelt wurde. Natürlich ist aber der Anspruch der Musikologie, eine Kunstwissenschaft zu sein, ernst zu nehmen. Ohne einschlägige Expertise kann sie nicht betrieben werden, wie es ja auch ohne Kenntnis der erforderlichen Kulturtechniken eine musikalische Praxis gar nicht erst gäbe. Nur ist die Barriere gegenüber dem fachfremden Blick von außen hier besonders hoch; über die Objekte anderer Kunstwissenschaften (Gedichte, Romane, Dramen, Bilder, Statuen, Gebäude) glaubt auch der Laie zumindest noch halbwegs kompetent mitreden zu können. Dass der Kontakt der Musikwissenschaft und der Musiktheorie mit anderen Disziplinen durch konsequente Kultivierung eines fast unzugänglichen Fachjargons bestürzend schnell verloren gehen kann, ist allerdings auch schon vor 300 Jahren als gravierendes Problem erkannt worden, woran zu erinnern sich gerade dann lohnt, wenn man sich Gedanken über »musikalische Kommunikation« und »Kommunikation mithilfe der Musik« zu machen anschickt. Es war schon das ehrgeizige Programm des Hamburger Publizisten Johann Mattheson, die Musik zum allgemein verständlichen Diskursgegenstand der Frühaufklärung zu machen. Seine diesem Programm verpflichteten drei »Orchestre«Schriften erschienen seit 1713 bezeichnenderweise im Kontext einer populären Publikationsreihe, die sich der Erziehung und Bildung des modernen Städters für den gepflegten Umgang auf dem gesellschaftlichen Parkett widmete, wie schon der Reihentitel annoncierte: »Der geöffnete Ritter-Platz/Worinnen 4 Johann Nikolaus Forkel, Allgemeine Geschichte der Musik, Bd.  1, Leipzig 1788, Bd.  2, Leipzig 1801. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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Die vornehmsten Ritterlichen Wissenschaften und Übungen […] Denen Liebhabern zum Vergnügen/vornehmlich der politischen Jugend zu Nutzen/und denen Reisenden zur Bequemlichkeit an das Licht gestellet werden« (so die Eröffnungsbände der Reihe: Hamburg 1702, Hamburg 1704, bei Benjamin Schiller). Matthesons drei kleine Bücher wendeten sich denn auch ausweislich ihres Untertitels gerade nicht an den Fachmann, sondern an das urbane Ideal des allgemein gebildeten, aber keineswegs bis zur Borniertheit spezialisierten galant homme  – mit der Absicht, ihm die Möglichkeit zu verschaffen, sich, etwa im Salon, an Gesprächen über Musik beteiligen zu können. Das 18. Jahrhundert ist überhaupt das Zeitalter der berühmten Querelles (so etwa in Paris um die Oper) und bietet damit geradezu Modellbeispiele für eine musikinduzierte Kommunikationskultur an – bis hin zur Entstehung der Musikpublizistik mit der Leipziger Allgemeinen musikalischen Zeitung (1799). Dass die Musikkultur des späten 18. Jahrhunderts, noch weit mehr als die Lese- und Theaterkultur, geradezu ein Paradigma der Herausbildung einer aufgeklärten Öffentlichkeit darstellt, ist schon Jürgen Habermas in seinem einschlägigen Standardwerk nicht entgangen;5 daran wäre die Geschichtswissenschaft auch heute wieder dringend zu erinnern. Wie sich dagegen im 20. Jahrhundert der Anteil der Musik am öffentlichen Diskurs, an der Vergesellschaftung, als Gegenstand und Medium der Kommunikation darstellte, gehört zur erklärten Fragestellung des vorliegenden Bandes. Aus dem Blickwinkel der hinter ihrem Fachjargon abgeschirmten, sich aber auch mit Recht auf die Kunsthaftigkeit ihres Gegenstands berufenden Musikwissenschaft dürfte es zunächst einmal verständlich sein, wenn sie argwöhnt, dass eben dieser Gegenstand mit seinen zentralen ästhetischen Eigenschaften (»the music itself«, wie es inzwischen ein Teil  der amerikanischen Musikwissenschaft offensiv formuliert) zu verschwinden droht, sobald sich Historiker mit ihm befassen. Von diesem Dünkel allerdings sollte man die Musikwissenschaft befreien. Denn ihr eigenes Objektivitätsproblem (siehe oben) hat sie selbst nicht wirklich bewältigt und darf daher auf die Beihilfe anderer Disziplinen gespannt sein. Das musikalische »Werk selbst«, auf das sich die Musikwissenschaft gern berufen hat, ist eher ein ideologisches Konstrukt als eine greifbare Realität. Seine Ungreifbarkeit ist allerdings für jeden, der sich mit ihm beschäftigt, außerordentlich irritierend. Es ist ein soziales so gut wie ein individuelles Produkt, ein geschichtlich kontingentes ebenso wie ein ästhetisch permanent präsentes Phänomen, eine fast autistisch konsumierbare ebenso wie eine kollektiv realisierbare Erscheinung. Zwar wendet es aufgrund dieses Facettenreichtums, der mit seinem besonderen ontologischen Status zu tun hat (als eines nicht realen, sondern »intentionalen« Gegenstands, wie es in der philosophischen Phänomenologie heißt), jedem der Fächer, die sich mit ihm beschäftigen, eine andere Seite zu. Integral erfassbar ist es aber erst, wie es Sven Oliver Müller jüngst 5 Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, Frankfurt 19904, S. 101. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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pointiert ausgedrückt hat, als Glied innerhalb einer »Kommunikationskette, an deren Beginn und an deren Ende die Erwartungen, Wahrnehmungen, Veränderungen und Anpassungen des Publikums stehen«.6 Hier also scheint sich das Kommunikationsmodell zu bewähren, und in der Geschichtswissenschaft ist inzwischen das Erkenntnispotential, das die Einbeziehung der Musik bietet, ebenfalls zunehmend erkannt und ausgewertet worden. Nun ist bisher allerdings die Rede von der Musik als einer ambitionierten Kunst gewesen; und modellhaft durchgeführte Studien reflektieren auch mit Recht die notwendigen Restriktionen des Gegenstandsbereichs (Musik als Kunst, Publikum als Elite, ausgewählte Orte und Institutionen7). In der vergangenen Tagung allerdings war – wohl durchaus beabsichtigt – eher pauschal von »der« Musik im Kollektivsingular die Rede. Abgesehen von der schwierigen, epistemologisch aber immerhin lösbaren Frage, was Musik denn eigentlich ist (klingendes Phänomen, notierte Struktur, rezipiertes Ereignis, intentionaler Gegenstand), stellt sich darüber hinausgehend die weit schwierigere (vielleicht im Gegenteil aber auch müßige) Frage, was denn eigentlich unter Musik zu verstehen sei. Bei zu weitherziger Begriffsverwendung, die jedes Schallereignis vereinnahmt, wird der Begriff »Musik« als distinkter Terminus obsolet. Andererseits hat nicht zuletzt die Entwicklung der Neuen Musik des 20. Jahrhunderts gezeigt (etwa in der musique concrète), dass aus diesem Bereich nichts a priori ausgeschlossen werden kann. Es sollte aber der zugrunde liegende Musikbegriff jedes Mal sorgfältig geklärt und reflektiert werden. Dass dies über die inzwischen geläufige Differenzierung zwischen allen möglichen Formen von E- und U-Musik (eine Unterscheidung, die auf die GEMA zurückgeht und daher zunächst urheberrechtliche, nicht etwa ästhetisch-soziologische Gründe hat) hinauszugehen hat, versteht sich von selbst. Mit ihr zusammen hängen natürlich alle denkbaren Hörertypologien und Publikums-Stratifikationen. Der Musikbegriff der Musikwissenschaft war traditionell dadurch limitiert, dass ihr als erforschenswerter Gegenstand nur jene Musik erschien, die strukturelle Analyse erheischt – und erträgt. Diese erstreckt sich also auf alle komponierte, schriftlich überlieferte, werkhaft organisierte (Kunst-)Musik und deckt damit immerhin, als Materialbestand nicht gerade klein, mehr als ein Jahrtausend einschlägiger Kulturgeschichte ab. Folgerichtig hat sie alle Musikarten, die unter diesem Aspekt relativ uninteressant sind, an denen aber (wie etwa bei der Popularmusik) die Modi der Rezeption und der Gemeinschaftsbildung interessieren könnten, anfangs der Soziologie oder der Ethnologie überlassen, bemüht sich jedoch mittlerweile um deren Integration in den eigenen Fachbezirk. Der Gegenstandsbereich der Musikwissenschaft ist mithin so umfangreich, dass man sich über die karge Ausstattung des Fachs mit universitären Lehrstühlen nicht oft 6 Sven Oliver Müller, Das Publikum macht die Musik. Musikleben in Berlin, London und Wien im 19. Jahrhundert, Göttingen 2014, S. 17. 7 Siehe dazu ebd. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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genug wundern kann. Zu der Diversifizierung der Musikarten kommt mittlerweile das seit einem guten Jahrhundert andauernde Anwachsen des virtuellen Archivs der Klangkonserven hinzu, die nicht nur einen anderen als den schriftlichen Aufzeichnungsmodus realisieren, sondern auch die akustische Präsenz der (klingenden) Musik – und damit auch fundamentale Fragen der Interpretation  – in den Vordergrund des Interesses stellen. Hier ist die Musikwissenschaft, so wie jedes andere geistes- oder sozialwissenschaftliche Fach auch, auf die Mithilfe technischer Disziplinen angewiesen, wie es auch schon mit Erfolg versucht worden ist.8 So wie schon der Musikbegriff bedarf wohl auch der Begriff der Kommunikation einer weiteren Klärung.9 Beide Begriffe stehen prominent im Titel des Bandes. Aber nicht alles, was hier verhandelt wurde, drängt sich dem unvoreingenommenen Betrachter zwanglos als »Kommunikation« auf. Bisweilen hätte der ältere Begriff der »Interaktion« ebenso gute, wo nicht bessere Dienste ge­ leistet; an manchen Stellen war der Blickwinkel sogar noch eingeschränkter und von bloßer Rezeption die Rede. Was also untersucht man, wenn man »musikalische Kommunikation« erforscht? Will man wissen, ob jemand oder eine Gemeinschaft mithilfe von Musik kommuniziert, ob sie strikt musikalisch kommuniziert oder ob sie mit der Musik kommuniziert? Und ist in jedem Falle ein Musik machendes oder ein Musik hörendes Kollektiv eine Kommunikationsgemeinschaft? Wie sind diverse Kommunikationsfelder (der Musiker untereinander, des Publikums, der Diskursgemeinschaft der Kritiker) mitein­ander verschränkt? Musikmachen ist, und das macht die Musik als analytische Sonde für die Geschichtswissenschaft natürlich besonders geeignet, immer ein sehr konkreter Handlungszusammenhang; ihre Praktizierung, einerlei ob in der Oper, im Tanz oder im Konzert, erfordert ein Höchstmaß an Koordination. Ein koordinierter Handlungszusammenhang ist aber auch eines der fundamentalen Definitionskriterien für das Phänomen der Kommunikation. Es liegt daher, wenn tatsächlich die Musik »als die vielleicht sozialste aller Künste«10 gelten darf, auf der Hand, dass hier Material für viele geschichtswissenschaftliche und musikologische Einzelstudien bereitliegt. Die Musikwissenschaft hat hier schon – von den Nachbardisziplinen oft noch unbemerkt – wichtige Resultate eingebracht; mit der Karikatur eines bornierten, auf die Komponisten-Heroengeschichtsschreibung fixierten Fachs, für das sie von Uninformierten manchmal gehalten wird, hat sie längst nichts mehr zu tun (wenn sie es denn je hatte). 8 Vgl. als jüngsten Beleg: Heinz von Loesch u. Stefan Weinzierl (Hg.), Gemessene Interpretation. Computergestützte Aufführungsanalyse im Kreuzverhör der Disziplinen, Mainz 2011. Seit 2004 arbeitet in England das Center for the History and Analysis of Recorded Music (abgekürzt: CHARM) an vergleichbaren Aufgaben. 9 Siehe dazu das instruktive Editorial von Sven Oliver Müller u. Jürgen Osterhammel, Geschichtswissenschaft und Musik, in: dies (Hg.). Musikalische Kommunikation. Themenheft Geschichte und Gesellschaft 38. 2012, S. 5–20. 10 Müller, Publikum, S. 13. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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Sei es, dass schon früh für die wichtige, wenngleich heute zu simpel erscheinende Unterscheidung zwischen »Darbietungsmusik« und »Umgangsmusik« gesorgt wurde (macht jemand selbst Musik oder hört er nur zu?), sei es, dass Rezeptionsgeschichte und Interpretationsforschung inzwischen die Musik als sozialen Handlungszusammenhang und mediales Ereignis zu würdigen wissen, oder sei es, dass die gemeinschaftsbildende Bedeutung der Musik etwa in den historischen Nationsbildungsprozessen des 19.  und frühen 20.  Jahrhunderts verständlicher gemacht werden konnte – fast überall sind disziplinäre Beschränkungen durchlässiger geworden. Allerdings kehrt damit die Frage nach der Art des Zusammenhangs zwischen der »Musik« und der »Kommunikation« zurück. Wie sehr der kommunikative Impuls in die Werkstruktur eingebaut sein kann, zeigt Wolfgang Amadé Mozarts berühmter Pariser Brief vom 3. Juli 1778 anlässlich seiner später so genannten »Pariser« Sinfonie im Concert spirituel (ähnliche Aussagen gibt es später über seine Wiener Klavierkonzerte) – ein Dokument von singulärem Wert, weil es nicht nur zeigt, mit welchen technischen Maßnahmen ein Komponist auf welche Publikumsreaktionen spekuliert, sondern auch erkennen lässt, bis zu welchem Grad an Bewusstheit eine Komposition überhaupt in einem kühl kalkulierten Modus vorweggenommener Kommunikation mit dem Publikum erfolgen kann. Warum also gerade »Kommunikation« und »Musik«? Es muss etwas geben, das so nur der Musik eigen ist und, in welchen Kommunikationsprozessen auch immer, nicht durch andere kulturelle Praktiken bewirkt werden kann. Daher kommt man nun auch nicht umhin zu fragen, welche Art von Musik  – genauer sogar: welche ihrer ästhetischen, strukturellen und klanglichen Eigenschaften – in welche kommunikativen Prozesse eingebettet ist. Diese Prozesse kann man sich, wenn nicht überhaupt als »Kette«, so doch auch leicht als »Kreislauf« vorstellen – als Kreislauf deshalb, weil dann das untersuchte Phänomen vorteilhafterweise dieselbe logische Struktur wie das methodologische Vorgehen (»hermeneutischer Zirkel«) aufweist. Dabei darf die Geschichtswissenschaft ebenso wenig vom artifiziell organisierten Charakter der Musik (auch der improvisierten und der usuellen) abstrahieren, wie die Musikwissenschaft die implizit geschichtliche und gesellschaftliche Dimension ihres Objekts vergessen darf. Es gibt anspruchsvolle Versuche, die Dimensionen von Ästhetik, Geschichte und Gesellschaft zu verschränken, ohne die Fixierung auf das Kunstwerk preisgeben zu müssen. Bekannt ist Theodor W. Adornos musiksoziologische, nach wie vor aber heftig umstrittene Prämisse, die er selbst mit beträchtlicher methodischer Virtuosität durchgeführt hat: »Die zentralen Kategorien der künstlerischen Konstruktion sind übersetzbar in gesellschaftliche«.11 Daraus hat Carl Dahlhaus, sicherlich einer der einflussreichsten Musikwissenschaftler der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, eine weitere Prämisse für sein 11 Theodor W. Adorno, Einleitung in die Musiksoziologie, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 14, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt 1973, S. 411. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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Konzept einer »Problemgeschichte des Komponierens« abgeleitet: »Nur in dem Maße, wie ein Historiker von der inneren Zusammensetzung der Werke deren geschichtliches Wesen abliest, ist die Geschichtsschreibung, zu der er schließlich gelangt, auch ästhetisch substantiell, statt ein Kunstfremdes, von außen an die Werke herangetragenes Arrangement zu sein.«12 Diese Warnung vor dem »kunstfremden« Herantragen der Geschichte an die Musik »von außen« bleibt ein hoher Anspruch an die Geschichts- wie an die Musikwissenschaft, wenn denn das Projekt einer die Fachgrenzen überwindenden Kooperation gelingen und der eigentümlichen Dignität des Gegenstands wirklich Rechnung getragen werden soll. Die Einbettung des komplexen Gegenstands »Musik« in das nicht weniger komplizierte Phänomen »Kommunikation« kann hier in der Tat erheblichen Erkenntnisgewinn versprechen, denn nur so wird »das Werk« aus seiner irritierenden Hermetik gelöst, ohne es damit gleich aufzulösen. So wie es, Adornos kopernikanischer Wende in der Musiksoziologie folgend, nicht nur die Anwesenheit der Musik in der Gesellschaft gibt, sondern auch eine der Gesellschaft im Werk,13 so ist ebenfalls nicht nur mit den Spuren der Musik in der Geschichte zu rechnen (primäre Untersuchungsaufgabe der Geschichtswissenschaft und der Soziologie), sondern auch mit dem Niederschlag von Geschichte in der Musik (primäre Untersuchungsaufgabe der Musikwissenschaft und der Musikästhetik). Dass all dies erst in der Kette oder im Kreislauf der Kommunikation zu einer keineswegs leicht erfassbaren Realität gelangt, sollte eigentlich beide Fächer an einen gemeinsamen Tisch zwingen. Es sei nochmals daran erinnert, dass sich die Musikwissenschaft in den ersten Jahrzehnten ihrer akademischen Etablierung auf die Erforschung von Musik als Werktexten konzentriert hat, nach dem Muster der bereits institutionalisierten Nachbardisziplinen wie der Philologie oder der Kunstgeschichte. Sie hat dabei die gerade für die Musik spezifische Dimension des Erklingens systematisch ausgeschlossen oder halbherzig zunächst in den Bereich der sogenannten Rezeptionsgeschichte als einen Appendix verwiesen. Es ist nun wichtig, dass dieser Ausschluss der performativen Dimension zugunsten der textlichen zwar bewusst vollzogen worden ist, dass er in Wirklichkeit aber undurchschaut – sozusagen durch die Hintertür  – an vielen Stellen wieder rückgängig gemacht worden ist. Rückgängig gemacht werden musste, kann man sogar sagen, denn man hatte es schließlich mit musikalischen Kompositionen und nicht mit Romanen oder Skulpturen zu tun. Musikalische Analyse ist der klingenden Realität der Musik verpflichtet, ob sie dies weiß oder nicht. Inzwischen haben sich die Teilgebiete der Rezeptionsgeschichte und der Interpretationsforschung inner­ 12 Carl Dahlhaus, Grundlagen der Musikgeschichte, Köln 1977; hier zit. n. dem Wiederabdruck des Gesamtwerks in: Carl Dahlhaus, Gesammelte Schriften, Bd. 1: Allgemeine Theorie der Musik I, hg. v. Hermann Danuser u. a., Laaber 2000, S. 11–155, hier S. 49. 13 Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 7, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt 1972, S. 345: »Immanenz der Gesellschaft im Werk«. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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halb der Musikwissenschaft fest etabliert.14 Die wissenschaftliche Reflexion auf die praktische Interpretation kann also der geläufigen Musikanalyse die Augen für ihre undurchschauten Prämissen und Axiome öffnen, und erst so kann auch der gesamte Kommunikationskreislauf aus Produktion, Reproduktion und Rezeption sichtbar werden, aus dem die mentalen Repräsentationen von Musik, einfacher gesagt: die Komponistenbilder und Musikvorstellungen, die das private Musik-Erleben wie das öffentliche Musikleben prägen, hervorzugehen pflegen. Und erst auf diese Weise wird Musik als das integrale kulturelle Phänomen, das sie in der Geschichte menschlicher Gesellschaften darstellt, greifbar. Daraus folgt, dass definierende Eigenschaften der Kommunikation wie etwa ihre Bestandsdauer oder auch ihre mögliche Asymmetrie noch stärker in der Forschung reflektiert werden müssten.15 Nicht zufällig bezieht sich alles Voranstehende substanziell auf das 18. und mehr noch auf das 19. Jahrhundert, während im Titel des Bandes vom 20. Jahrhundert die Rede ist. Diese scheinbare Abweichung ist aber kein Fauxpas, sonder eine methodische Notwendigkeit. Denn fast alles, was über musikalische und musikbezogene Kommunikationsstrukturen des 20. Jahrhunderts zu verhandeln ist, hat bei aller Eigenständigkeit der Gegenwart seine Wurzeln so sehr in den vorvergangenen Jahrhunderten, dass ohne deren genaue Kenntnis nicht voranzukommen ist. Sowohl die Geschichts- wie die Musikwissenschaft haben lange übersehen, in welchem Ausmaß die bis heute prägenden Praktiken im 19.  Jahrhundert ausgebildet worden sind. Es sei nur erinnert an die überaus wichtige Institution der bürgerlichen Musikvereine, die am Beginn des 19. Jahrhunderts im deutschsprachigen Kulturbereich wie Pilze aus dem Boden schossen (einige von ihnen, etwa die Gesellschaft der Musikfreunde in Wien und die Allgemeine Musik-Gesellschaft Zürich, beide 1812 gegründet, existieren noch heute16). Ermöglicht wurde dies durch die neue Rechtsform des Vereins als Folge einer Rezeption des napoleonischen Code civil; aufmerksam gemacht hat auf das Phänomen insgesamt ein inzwischen klassischer Text eines Historikers.17 Durch diese Vereine erst kam es zu der bis heute bestimmenden Verbürgerlichung des Musiklebens, und die anfangs in diesen Musikgesellschaften praktizierte musikalische Selbsttätigkeit hat später durch die Schei14 Vgl. Hermann Danuser (Hg.), Musikalische Interpretation (=Neues Handbuch der Musikwissenschaft, Bd. 11), Laaber 1992; ferner Andreas Ballstaedt u. Hans-Joachim Hinrichsen (Hg.), Werk-Welten. Perspektiven der Interpretationsgeschichte, Schliengen-Liel 2008. 15 Das hat Jürgen Osterhammel in der Schlussdiskussion der vorangegangen Tagung im Januar 2013 mit Recht angemahnt. 16 Vgl. Hans-Joachim Hinrichsen, Die Allgemeine Musik-Gesellschaft Zürich. Gründungsphase und Blütezeit im historischen Kontext, Zürich 2011 und den Beitrag von William Weber in diesem Band. 17 Thomas Nipperdey, Verein als soziale Struktur in Deutschland im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert. Eine Fallstudie zur Modernisierung, in: ders., Gesellschaft, Kultur, Theorie. Gesammelte Aufsätze zur neueren Geschichte, Göttingen 1976, S. 174–205. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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dung in aktive und passive Vereinsmitglieder erst zur Segregation des nur noch zuhörenden, aber zahlenden Publikums geführt.18 Ein weiteres Beispiel stellen die zahlreichen Musikfeste dar, deren Tradition sich bis heute die periodisch wiederkehrenden Festivals (mit ihrer folgenreichen Rezeption in der Populärkultur) verdanken19 – alles Phänomene, die tatsächlich erst unter dem Aspekt einer musikalischen Kommunikationskultur angemessen zu erfassen sind. Mit Absicht hat daher das kürzlich abgeschlossene umfangreiche Forschungsprojekt der European Science Foundation (»Musical Life in Europe 1600–1900. Circulation, Institutions, Representation«) das 20. Jahrhundert weitgehend ausgespart, weil es einerseits lediglich früher gelegte Spuren weiterverfolgt, andererseits aber durch deren Transformation auch erhebliche Sonderprobleme bereithält.20 Die im 20. Jahrhundert neu hinzugekommenen Institutionen, Veranstaltungsformen, Verbreitungsmedien und Musiksparten könnten durch ihre schiere Vielfalt und ihre scheinbare Andersartigkeit leicht dazu verführen, die oben skizzierten Kernprobleme verschwimmen zu lassen. Umso wichtiger ist es, sie im Blick zu behalten, denn im 19.  Jahrhundert sind die Grundlagen für viele Praktiken, für die Hör- und Spielgewohnheiten und für die Kommunikationsprozesse auch der Gegenwart gelegt worden. Die Aufgaben sind also umfangreich und immens, die möglichen Forschungs­ felder kaum zu überblicken. Um nur noch einen weiteren Aspekt herauszugreifen, hat dieser Sammelband auch die Frage neu aufgeworfen, in welchem Ausmaß Musik mit Emotionen verbunden ist. Dazu lässt sich sagen, dass die traditionelle Sichtweise der Musik als genuiner Sprache der Gefühle – die, in der Aufklärung entstanden, vor allem die romantische Musikästhetik geprägt hat – heute mit größter Skepsis betrachtet werden muss. Auch Emotionen sind in ihrem Ausdruck soziale Konstruktionen und werden kommunikativ verhandelt; in der Musik prätendieren sie eine Unmittelbarkeit, die in Wirklichkeit nicht gegeben ist. Schon allein aus diesem Grunde ist es auch hier wieder angezeigt, Vermittlungsinstanzen ins Auge zu fassen: unter anderen eben die »Kette« oder den »Kreislauf« der »Kommunikation«. Eine Erweiterung des traditionellen Musikbegriffs scheint zwar dringend erforderlich, aber diese darf, wie bereits erwähnt, um der distinkten Erfassbarkeit willen nicht bis zur Beliebigkeit gehen. Wie gesagt, wäre hier weiter systematisch nachzudenken. Es hat sich aber auch gezeigt, 18 Vgl. als umfassende Darstellung: Claudia Heine, »Aus reiner und wahrer Liebe zur Kunst ohne äußere Mittel«. Bürgerliche Musikvereine in deutschsprachigen Städten des frühen 19. Jahrhunderts, Textband und Dokumentenband (Teilbände I und II), Diss. Universität Zürich 2009. 19 Vgl. dazu Samuel Weibel, Die deutschen Musikfeste des 19. Jahrhunderts im Spiegel der zeitgenössischen Presse, Berlin 2006 und – für die Weiterentwicklung in der Populär­ kultur – den Aufsatz von Detlef Siegfried in diesem Band. 20 Vgl. exemplarisch als einen der im Kontext dieses Forschungsprojekts erschienenen Bände Hans Erich Bödeker u. a. (Hg.), Espaces et lieux de concert en Europe 1700–1920. Architecture, musique, société, Berlin 2008. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

Ausblick: Musikalische Kommunikation und Formen der Aneignung von Musik

dass selbst bei einer Beschränkung auf die komponierte Kunstmusik (was sich aus Gründen der Restriktion der ohnehin schon ungeheuren Materialfülle legitimieren ließe) der traditionelle Werkbegriff in Bewegung gerät. Im Kommu­ nikationsprozess spielt er zwar eine (möglichst näher zu bestimmende) Rolle, denn es ist keineswegs gleichgültig, welche Musik gespielt, gehört und besprochen wird, aber seine schein-objektive Isolation sollte sowohl in der Geschichtswie in der Musikwissenschaft der Vergangenheit angehören.21 Die (einerseits eingeschränkte, andererseits aber auch sachverständige) Wahrnehmung von Musik als Struktur und die Privilegierung dieses ihres Aspekts zum bevorzugten Analysegegenstand kann, so verstanden, als Symptom ihrer Spiel-, Hör- und Interpretationsweise und damit als eine ihrerseits geschichtliche (und wohl auch geschichtlich vergängliche) Entdeckung bezeichnet werden. Nur ist diese Art von Zäsur auf höchst komplizierte Weise mit geschichtlicher Erkenntnis vermittelt, weil sie Hör- und Interpretationsgegenwarten schafft, deren Geschichtlichkeit sich gern verbirgt. Erkennt man aber, in welchem Ausmaß die mit historiographischen Aussagen verbundenen Wertungen unausgesprochen basieren auf jeweils gegenwärtiger und eben darin zutiefst geschichtlicher musikalischer Erfahrung – also auf der Art und Weise, wie Musik erklingt und gespielt wird, wie sie klingend überliefert und rezipiert worden ist und wie sie als zu aktualisierende gedacht wird –, dann hat man in nuce die ästhetisch-ontologische Doppelproblematik der Musikgeschichtsschreibung vor Augen,22 die nach einer systematischen Erforschung unter dem Aspekt der »Kommunikation« geradezu verlangt. Für eine Übertragung dieser Perspektiven bis in die unmittelbare Gegenwart hat der vorliegende Band viele Bahnen geebnet.

21 Vgl. dazu als instruktiven philosophischen Beitrag: Albrecht Wellmer, Das musikalische Kunstwerk, in: Andrea Kern u. Ruth Sonderegger (Hg.), Falsche Gegensätze. Zeitgenössische Positionen zur philosophischen Ästhetik, Frankfurt 2001, S. 133–175. 22 Vgl. Hans-Joachim Hinrichsen, Musikwissenschaft. Musik  – Interpretation  – Wissenschaft, in: Archiv für Musikwissenschaft 57. 2000, S. 78–90. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300701 — ISBN E-Book: 9783647300702

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Autorinnen und Autoren

Celia Applegate ist Willam R. Kenan, Jr. Chair of History und Professor of History an der Vanderbilt University, Nashville, Tennessee. Hans-Joachim Hinrichsen ist ord. Professor für Musikwissenschaft an der Universität Zürich. Stephanie Kleiner ist Akademische Mitarbeiterin im Exzellenzcluster 16 »Kulturelle Grundlagen von Integration« der Universität Konstanz. Sven Oliver Müller ist Leiter der Forschungsgruppe »Gefühlte Gemeinschaften? Emotionen im Musikleben Europas« am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Berlin. Klaus Nathaus ist Associate Professor in Western Contemporary History an der Universität Oslo. Jürgen Osterhammel ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Konstanz. Martin Rempe ist Akademischer Mitarbeiter an der Leibnizpreis-Forschungsstelle »Globale Prozesse« der Universität Konstanz. Detlef Siegfried ist Professor für Neuere Deutsche und Europäische Geschichte an der Universität Kopenhagen. Toru Takenaka ist Professor für Geschichte an der Graduate School of Letters der Osaka University. Martin Thrun ist als Musikwissenschaftler seit 1988 freiberuflich oder als wissenschaftlicher Mitarbeiter einschließlich Lehrstuhlvertretungen an universi­ tären oder außeruniversitären Einrichtungen tätig; derzeit ist er an der Universität Leipzig beschäftigt. Claudius Torp ist Wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte der Universität Kassel.

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Autorinnen und Autoren

William Weber ist Professor of History Emeritus an der California State University, Long Beach. Sarah Zalfen war als Politologin bis Juli 2014 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Max-Plack-Institut für Bildungsforschung, Berlin; seitdem ist sie am Brandenburgischen Ministerium für Forschung, Wissenschaft und Kultur in Potsdam tätig. Hansjakob Ziemer ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, Berlin.

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Personenregister

Abendroth, Walter  171 Adenauer, Konrad  124 Adorno, Theodor W.  9, 49 f., 55 f., 61 f., 155 f., 158, 171, 195, 301 f. Aizan, Yamaji  209 Alexandre, Bill  244 Anders, Christian  259 Anderson, Benedict  35 Ansermet, Ernest  160, 164 Ansorge, Conrad  47 Antonopoulos, Constantin  244 Applegate, Celia  212 Aron, Paul  83 Auber, Daniel-François-Esprit  34, 70, 85 f. Auger, Brian  280 Bach, Johann Sebastian  81, 124, 191 Balandier, Georges  237 Bangs, Lester  263 Bantock, Granville  79 Barbirolli, John  163, 165 Bartók, Béla  170 Bayly, Christopher  28 Bazzini, Antonio  79 Becker, Howard  148 Beecham, Thomas  159, 164 Beethoven, Ludwig van  71, 73, 78, 80 f., 124, 145, 180, 188, 203 Bekker, Paul  17, 57, 88–98, 102–116, 139– 153, 164 Benetar, Gabriel Moussa  244 f. Benjamin, Walter  89 Berg, Alban  96, 155, 169 Berlioz, Hector  32 f., 73, 159, 171 Bernstein, Leonard  9, 18, 169, 177, 179–198 Bhabha, Homi  230 Bittmann, Antonius  71 Bizet, Georges  79, 83, 85 Blanco, Roberto  259 Blaukopf, Kurt  154 Böhm, Karl  9, 157, 160, 165 Böhme, Gernot  94 f., 103 f. Boonzajer Flaes, Rob  38

Bortniansky, Dmitri  33 Bösch, Frank  140 Boulez, Pierre  157, 160 Boult, Adrian  19, 160–163, 167, 169 f., 173, 176 Bourdieu, Pierre  59, 67 Bowane, Henri  244, 247 Bowie, David  271 Brahms, Johannes  19, 70 f., 73, 78, 80 f., 83 f., 139, 145, 162, 164, 172, 180 Brandt, Willy  125, 130, 132 Brecher, Gustav  149 Brendel, Franz  51 f. Brown, James  259 Brown, Steven  120 Bruch, Max  81 f. Bruckner, Anton  9 f., 77, 80, 82 Buch, Esteban  70 Bülow, Hans von  28, 154, 162, 172 f. Burchill, Julie  272 Burckhardt, Hans  146 Busch, Fritz  156, 161, 163, 166–170, 173–177 Busoni, Ferruccio  64, 101 Butting, Max  57 f. Cahnbley, August  83 Cahnbley-Hinken, Tilly  83 Candrix, Fud  248 Canetti, Elias  156, 177 Carpendale, Howard  259 Cash, Johnny  271 Castiglione, Enrico  182, 192 Celibidache, Sergiu  166, 170, 177 Chōfū, Anesaki  209 Claudius, Herrmann  127 Claudius, Matthias  127 Coker, Robert  231 Comaroff, Jean  221 Comaroff, John L.  221 Comettant, Oscar  36 Coquard, Arthur  79 Corbijn, Anton  272 Cott, Jonathan  193

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Personenregister Craft, Robert  160 Cross, Ian  132 Crother, Samuel Ajayi  231 Dahlhaus, Carl  137, 301 d’Albert, Eugène  86 Debussy, Achille-Claude  77–80, 83, 165 Degenhardt, Franz Josef  277, 280 Del Mar, Norman  160 Delius, Frederick  79 DeNora, Tia  152 Denver, John  271 Deutschmann, Jürgen (Barry Graves)  260 Dittrich, Rudolf  203 Donizetti, Gaetano  70 Doráti, Antal  160, 165 Draeseke, Felix  77, 81 f., 85 Droysen, Johann Gustav  296 Dubois, Théodore  79 Dukas, Paul  84 Dvořák, Antonín  77 Eckert, Thomas  289 Eggebrecht, Hans Heinrich  60 f., 65 Eichborn, Hermann Ludwig  40 f. Eisler, Hanns  119 Ekundayo Phillips, Thomas K.  231 f. Elgar, Edward  167, 169 Englert, Michael  127 Erdmann, Eduard  55, 62 Erlmann, Veit  227 Ernst Ludwig von Hessen-Darmstadt, Großherzog 170 Ernst, Heinrich Wilhelm  82 Essous, Serge  240 Eulenburg, Friedrich Albrecht Graf zu  38 Eyken, Heinrich van  83 Faignond, Emile Joachim  247 Farian, Frank  259 Farrenc, Louise  73 Feltz, Kurt  256 Fenton, John William  38 Ferrier, Kathleen  194 Feuchtwanger, Leon  111 f. Finck, Carl  143 Fores, Devin  89 Forkel, Johann Nikolaus  297 Frevert, Ute  138

Friedrich Wilhelm III. 35 Frisch, Walter  71 Frith, Simon  263 Fritzsche, Peter  102 Fuchs, Carl  74 Furtwängler, Wilhelm  56 f., 67, 102, 154, 157 f., 162, 164–166, 169, 171, 177, 194 Gabriel, Sigmar  120 Gardiner, John Eliot  160 Gehlen, Arnold  89 Gerhardt, Paul  219–221 Gerig, Hans  256 Gershwin, George  189 Gheerbrant, Alain  247 Gielen, Michael  157, 160, 197 Gluck, Christoph-Willibald  34 Goldmark, Karl  77, 81 Gondola, Charles Didier  240, 248 Gounod, Charles  70 f. Graf, Max  52, 54 Grant, Eddie  271 Gretschaninow, Alexander  79 Grétry, André  79 Grieg, Edvard  77 Gülden, Jörg  289, 291 Gülke, Peter  160 Habeneck, François-Anton  160 Hagen, Nina  271 Hahn, Alban von  51 Haley, Bill  10, 255 Hallén, Andreas  79 Händel, Georg Friedrich  78, 86, 124 Hanslick, Eduard  296 f. Hattinger, Wolfgang  183–185 Hausegger, Siegmund von  47, 143 Haydn, Joseph  78, 80, 180 Heder, Robert  84 Heino (Heinz Georg Kramm)  271 Heister, Hanns-Werner  58 Henault, Charly  248 Herrmann, Hugo  111 Herrwerth, Thommi  267 Hindemith, Paul  57 Hochberg, Bolko Graf von  79 Hoffmann, E. T. A.  35 Hofmeister, Friedrich  82 Honegger, Arthur  169 Horenstein, Jascha  165 Hourdebise, Jean  242, 244

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Personenregister Huber, Hanns-Gerd  257 Huber-Busch, Fini  257 Huizinga, Johan  62–65 Hummel, Joseph Friedrich  73 Hüsch, Hanns Dieter  280 Hüther, Gerald  126 Ingehoven, Jan  72 Jansen, Christian  39 Jansen, Marius  206 Jaspers, Karl  65 Jeronimidis, Alexandros  244 f. Jeronimidis, Nicolas  244 f. Jolson, Al  15 Jullien, Louis  39 Jünger, Ernst  96 Kabasele, Joseph  235, 240, 248 Kainz, Josef  146 Kaiser, Joachim  180 Kaiser, Roland  271 Kaiser, Rolf-Ulrich  260, 281 Kant, Immanuel  45 Kappey, Jacob Adam  36 Karajan, Herbert von  9, 166 f., 168, 177 Kaufmann, Fritz Mordechai  82 Kestenberg, Leo  17, 93, 97, 101–104, 107, 111, 115 Kienzl, Wilhelm  85 Kleiber, Carlos  169 Kleiber, Erich  109, 161 f., 166, 168–170, 173, 176 Klemperer, Otto  101, 161 Klinger, Max  81 Klose, Friedrich  84 Kløvedal Reich, Ebbe  285 Klusen, Ernst  121, 127 Knappertsbusch, Hans  161, 167, 173, 179 Knox Bokwe, John  226, 229 f. Koch, Christoph Heinrich  44 Kögel, Karlheinz  268 Koenen, Lilly  83 Kohl, Helmut  125 Kraus, Peter  255 Krenek, Ernst  90 Krips, Joseph  162 Krüger, Mike  271 Kubelik, Rafael  194 Kuhlbrodt, Detlef  293 Kuhlo, Johannes  217

Laak, Dirk van  92 Lambert, Franz  125 Lanner, Joseph  86 Last, James  271 Laufenberg, Frank  260 Leinsdorf, Erich  160, 163, 166 Liszt, Franz  81–83, 85, 164 Lonoh, Michel  236 Lorenz, Alfred  84 Lucia, Paco de  271 Ludwig XIV. 34 Lully, Jean-Baptiste   34 Lumumba, Patrice  249 Maazel, Lorin  154 Mahler, Gustav  77 f., 80 f., 85, 142, 146, 161–163, 165 f., 177, 180 f., 193–197 Mahmud II. 38 Maffay, Peter  259 Makiadi, Franco Luambo  248 f. Malapet, Nico  248 Mandl, Richard  84 Markevitch, Igor  166, 169 Marley, Bob  271, 286 Mattheson, Johann  297 f. Matzner, Joachim  154 May, Ernst  146 McLaughlin, John  271 Meisel, Peter  256 Meisel, Thomas  256 Meisel, Will  256 Mendel, Herbert  45 Mendelssohn Bartholdy, Felix  160, 197 Mengelberg, Willem  18, 139–153, 161 Meola, Al di  271 Merten, Klaus  11 Mey, Reinhard  280 Meyer, Ernst Hermann  56 Meyer, Leonard  141 Meyerbeer, Giacomo  34, 70, 109 Meyer-Olbersleben, Max  83 Mitropoulos, Dimitri  158, 165, 194 Mlynarski, Emil  86 Moeser, Carl  50 Mols, Père  241 Monteux, Pierre  157, 164, 166 Moody, Dwight L.  217 Morales, Ottala  79 Moroder, Giorgio  259 Mossmann, Walter  277 Moszkowski, Moritz  85

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Personenregister Motaung, Audrey  125 Mottl, Felix  172 Mozart, Wolfgang Amadeus  70 f., 73, 78, 80–83, 124, 203, 301 Muck, Karl  172 Müller, Klaus D.  263 Müller-Westernhagen, Marius  271 Munch, Charles  19, 161, 164, 166 f., 168– 170, 173–175 Nägeli, Hans Georg  47 Nancy, Jean-Luc  135 Napoleon III. 39 Náprawnik, Eduard  86 Natorp, Bernhard Christoph Ludwig  46 Neumann, Peter Horst  130 f. Newman, Ernest  172 Niemann, Walter  82 Nikisch, Arthur  142, 161 f., 164–166, 177 Nikolaus I.  33 Ntsikana 230 Ohnesorg, Benno  279 Olwage, Grant  230 Orloff, Peter  259 Ormandy, Eugene  165, 168 Paderewski, Ignacy Jan  70 Painter, Karen  72, 78 Papa Noel  243, 248 Papadimitriou, Athanase  244–246 Papadimitriou, Basile  244–246 Parès, Philippe-Charles  85 Parsons, Tony  272 Paul VI. (Papst)  193 Pauls, Carl  214 Paumgartner, Bernhard  160 Perry, Matthew C.  38 Petrich, Hermann  219 f. Peukert, Detlev  153 Pfannenstiel, Alexander  41 Pfeiffer, Carl  51 Pfeiffer, John  166 Pfitzner, Hans  77 f., 83 f. Plank, Conny  263 Porter, Cole  189 Potter, Pamela  212 Presley, Elvis  255 Quinn, Freddy  255 Quirini, Klaus  258 f.

Rachmaninow, Sergei Wassiljewitsch  77, 79 Rathenau, Walther  99–101, 115 Rau, Johannes  125 Reckwitz, Andreas  133, 292 Reddy, William  186 Reger, Max  77 f., 80–83 Reiner, Fritz  19, 161, 163, 166, 168 f., 176 Reiners, Emmy  83 Rennes, Catharina van  83 Richter, Hans  165, 167, 172, 174 Ridgewell, Rupert  75 Rietzsch, Franz Ferdinand  232 f. Rimski-Korsakow, Nikolai  79 Rochereau, Tabu Ley (Pascal Sinamuey) 240 Rosbaud, Hans  56, 165 Rosenwein, Barbara  186 Rossi, Tino  243 Rossini, Gioacchino  70, 81 Rubinstein, Anton  74 Sabata, Victor de  165 Sachs, Wilhelm  83 Säcke, Johann  83 Saint-Saëns, Camille  70, 77–79, 85 Salzinger, Helmut  281 Sanderling, Kurt  166 Sankey, Ira D.  217, 219, 230 Scheel, Walter  259 Scherchen, Hermann  55, 159, 161 f., 166–170, 173, 176 Schering, Arnold  61 Schilling, Gustav  45 Schillings, Max von  77 f. Schlee, Alfred  58 Schmidt, Franz  81 Schmidt, Helmut  125 Schmidt-Joos, Siegfried  260 Schönberg, Arnold  17, 53- 57, 59–62, 64, 72–74, 84, 90, 96, 101, 139 f., 163 Schreker, Franz  90, 102, 107–110 Schubert, Franz  73, 78, 83 Schuegraf, Ursula  257 Schuller, Gunther  172 Schulze, Gerhard  291 Schumann, Robert  73, 78, 80, 83, 85, 180 Schweitzer, Albert  223 Scott, Cyril  84 Scriabin, Alexander  84 Scriabin, Vera  84 Seffner, Carl  81

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Personenregister Seidl, Anton  172 Senghor, Léopold Sédar  236 Serafin, Tullio  164 Shūji, Isawa  207 Sibelius, Jean  85 Siegel, Ralph Maria  256 Sieger, Friedrich  142, 151 Simmel, Georg  62 Simon, Heinrich  142 Skov, Leif  285 f., 293 Small, Christopher  145 Smetana, Bedřich  70, 77 Smith, Pennie  272 Solti, Georg  155, 163, 166 f., 174, 177 Spohr, Ludwig  50, 81 Spontini, Gaspare  34 Stanley, Henry Morton 239 Steinbach, Fritz  147 Steinbrück, Peer  120 Steinmeier, Frank-Walter  120 Stewart, Gary  245 Stokowski, Leopold  169 Strauss, Richard  72–74, 77 f., 80 f., 83 f., 87, 139, 142 f., 145, 157, 162, 164 f., 167, 169, 173 Strawinsky, Igor  56 f., 72, 139 f., 191 Süverkrüp, Dieter  277, 280 Svendsen, Johan  85 Swarowsky, Hans  160 Szell, George  163, 165 f. Takuboku, Ishikawa  210 Talich, Vaclav  164 Taruskin, Richard  34 Tersteegen, Gerhard  33 Theweleit, Klaus  280 Thompson, Hunter S.  263 Thrun, Martin  70, 73–74, 80 Tieck, Ludwig  44 Toscanini, Arturo  162–166, 169, 177 Trémisot, Édouard  85 Tschaikowsky, Peter Iljitsch  70 f., 77, 79 f., 145 Turino, Thomas  133

Uhse, Beate  282 Upton, George P.  39 Varrentrapp, Georg  143 Vaughan Williams, Ralph  167, 169 Verdi, Guiseppe  164 Victoria, Queen  33 Vieuxtemps, Henri  82, 85 Vogel, Hans-Jochen  135 Waalkes, Otto  271 Wackenroder, Wilhelm Heinrich  44 Wadé Harris, William  233 Wader, Hannes  280 Wagner, Richard  30 f., 70 f., 78, 91, 124, 159, 162, 164, 171–173, 197, 209–211 Wagner, Siegfried  172 Walter, Bruno  160 f., 163 f., 166, 171, 173, 175 f., 180, 194 Wand, Günter  165 Weber, Carl Maria von  86 Weber, Max  190 Webern, Anton von  53, 59, 61 f., 96 Weingartner, Felix  84, 142, 159 f., 162, 164, 172 f. Weißmann, Adolf  55 Weizsäcker, Richard von  192 Wendehals, Gottlieb  271 Wense, Hans Jürgen von der  56 Wesley, Charles  218 Wesley, John  218 White, Barry  259 White, Jack  259 Wickert, Winfried  214 Wieprecht, Wilhelm  28–36, 39 Wilhelmy, August  70 Winkworth, Catherine  219 Wodehouse, P. G.  27 Wolf, Georg Friedrich  44, 73, 77 f., 83 f. Wood, Henry  163 f., 173–175 Zahn, Johannes  217 Zappa, Frank  271

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