Ökologische Erinnerungsorte 9783666300516, 9783525300510, 9783647300511


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Ökologische Erinnerungsorte
 9783666300516, 9783525300510, 9783647300511

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© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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Ökologische Erinnerungsorte Herausgegeben von Frank Uekötter

Vandenhoeck & Ruprecht © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

Mit 11 Abbildungen und 2 Karten Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-30051-0 ISBN 978-3-647-30051-1 (E-Book) Umschlagabbildung: »Tschernobyl«, Foto: Rüdiger Lubricht Fotografie © Rüdiger Lubricht Gedruckt mit Unterstützung der VolkswagenStiftung.

© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U. S. A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: textformart, Göttingen | www.text-form-art.de Druck und Bindung: Q Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Inhalt

Frank Uekötter Wege zu einer ökologischen Erinnerungskultur . . . . . . . . 7

Deutsche Erinnerungsorte Anna-Katharina Wöbse Der Knechtsand – ein Erinnerungsort in Bewegung . . . . . 29 Joachim Radkau Der »Größte Anzunehmende Unfall« . . . . . . . . . . . . . . 50 Andrew Denning Zwischen Natur und Moderne: Wintersport im deutschsprachigen Europa . . . . . . . . . . 61 Frank Uekötter Die Autoritäre Versuchung: Das Reichsnaturschutzgesetz . . 86 Sarah Waltenberger Sebastian Kneipp: Ein Erinnerungsort wird gemacht . . . . . 101

Grenzüberschreitende Erinnerungsorte Franziska Torma »Serengeti darf nicht sterben!« . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Jeannette Prochnow Drushba heißt Freundschaft: Die deutsch-russische Energiepartnerschaft als ökologischer und energiepolitischer Erinnerungsort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157

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Karena Kalmbach Von Strahlen und Grenzen: Tschernobyl als nationaler und transnationaler Erinnerungsort . . . . . . . . . . . . . . 185

Globale Erinnerungsorte Stefan Esselborn Koloniale Landschaft und industrielle Landwirtschaft: Das »Groundnut Scheme« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 Ewald Blocher Pyramiden der Lebenden. Der Assuan-Hochdamm als Erinnerungsort im Zeitalter technischer Großplanung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 Sonja Weinbuch Globale Erschütterungen: Tambora und Krakatau . . . . . . 273 Frank Uekötter, Sarah Waltenberger Erinnerungsorte im Internet. Ein Erfahrungsbericht . . . . . 303 Nachwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334

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Frank Uekötter

Wege zu einer ökologischen Erinnerungskultur

Anfang der 1970er-Jahre schien der Umgang mit der Vergangenheit für Umweltschützer noch ganz einfach zu sein. Als der sozialliberale Bundesinnenminister Hans-Dietrich Genscher im Januar 1970 seine umweltpolitischen Vorhaben vor dem Innenausschuss des Deutschen Bundestags erläuterte, da vertrat er auch einen bestimmten Blick auf die Geschichte der Umweltpolitik. Er wolle »an die Stelle des noch aus der vorindustriellen Zeit stammenden nachbarrechtlichen Immissionsschutzes eine moderne Konzeption der Luftreinhaltung« setzen, erklärte er den Abgeordneten.1 So war das in den selbsternannten Anfangszeiten der Umweltpolitik: Die Vergangenheit erschien als lange und unselige Tradition der Nachlässigkeit, von der man sich als anständiger Reformpolitiker nach Kräften abzugrenzen suchte. Aus der Geschichte konnte man eigentlich nur lernen, dass die eigenen Reformen dringend geboten, ja seit langem überfällig waren. Inzwischen ist derlei schwierig geworden. Auch bei Umweltthemen leben wir in einer erinnerungsgesättigten Gesellschaft: Nach Jahrzehnten intensiver ökologischer Debatten findet sich kaum noch ein Thema, das nicht einschlägig vorgeprägt ist. Jeder nukleare Störfall evoziert Tschernobyl, jede Ölpest die lange Liste einschlägiger Katastrophen seit der Havarie des Öltankers Torrey Canyon, und in den Seveso-Richtlinien der Europäischen Union von 1982 und 1996 wurde die Erinnerung an den italienischen Chemieunfall von 1976 sogar juristisch kanonisiert. Wie stark der Alpdruck der Geschichte bisweilen ist, zeigte die Katastrophe der Ölplattform Deepwater Horizon im Golf von Mexiko 2010: Plötzlich fehlten die verölten Seevögel, die seit Jahrzehnten die obligatorische Ikonisierung einer Ölpest sind! Das drückte sich in einer spürbaren Irritation der Beobachter aus, gefolgt von einer seltsamen Dankbarkeit, als schließlich doch ölverschmierte Vögel Wege zu einer ökologischen Erinnerungskultur © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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aufgespürt werden konnten. So gibt es zu praktisch jedem ökologischen Thema einen historisch gewachsenen Vorrat von Assoziationen und Erinnerungen, und ein Ausstieg aus der Geschichte à la Genscher ist keine realistische Option mehr. Wer über Atomkraft reden möchte, aber zu Tschernobyl und Fukushima schweigen will, macht sich verdächtig. Ein Projekt über Ökologische Erinnerungsorte erscheint vor diesem Hintergrund als ein naheliegender Gedanke. Seit 1984 der erste Band der von Pierre Nora herausgegebenen lieux de mémoire erschien, hat sich das Konzept der Erinnerungsorte zu einer kontinentaleuropäischen Erfolgsgeschichte mit Folgeprojekten von Italien bis zu den Niederlanden entwickelt.2 Auf die Deutschen Erinnerungsorte, 2001 im C. H. Beck-Verlag erschienen, folgten Erinnerungsorte der DDR, der römischen und der griechischen Antike, Erinnerungsorte des Christentums und die Europäischen Erinnerungsorte.3 Etienne François definierte Erinnerungsorte in geradezu klassischer Form als »langlebige, Generationen überdauernde Kristallisationspunkte kollektiver Erinnerung und Identität, die in gesellschaftliche, kulturelle und politische Üblichkeiten eingebunden sind und die sich in dem Maße verändern, in dem sich die Weise ihrer Wahrnehmung, Aneignung, Anwendung und Übertragung verändert«.4 Im Mai 2013 ergab eine Suchanfrage im Internet für den Begriff 870.000 Treffer. Auch nach Jahrzehnten besitzt die Idee der Erinnerungsorte eine ganz eigene Anziehungskraft, die auch im Rahmen des hie­ sigen Projekts zu spüren war. Nach und nach wurde jedoch deutlich, dass sich die Ökologischen Erinnerungsorte nicht ganz nahtlos in die Nora’sche Tradition einfügen würden. Zwar sind konzeptionelle Änderungen bei einschlägigen Projekten kein Sa­ krileg: Der Kontrast zwischen den affirmativ-patriotischen Erinnerungsorten Frankreichs und den deutschen Erinnerungsorten, die weithin als Musterbeispiel einer gleichermaßen selbstbewussten wie kritischen Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit gepriesen wurden, ist dafür ein eindrücklicher Beleg. Es war wohl auch die bemerkenswerte Flexibilität des Konzepts, die den transnationalen Erfolg der Erinnerungsorte ermöglicht hat. Allerdings gewannen die Modifikationen bei den Ökologischen Erinnerungsorten einen Umfang, der bis in die epistemischen Grund­lagen des Projekts reichte. All dies sprach im Rahmen des Gesamtprojekts »Umwelt und 8

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Erinnerung«, aus dem der vorliegende Band hervorgegangen ist, für ein betont vorsichtiges, tastendes Vorgehen.5 Das dokumentiert sich nicht zuletzt im Umfang dieses Buches, das weder in der Seitenzahl noch im Deutungsanspruch mit den gängigen Großunternehmen auf Augenhöhe stehen möchte. Es geht eher um eine Art Zwischenbericht, mit dem das Potential ökologischer Erinnerungsorte ausgelotet werden soll, ohne das Thema inhaltlich oder methodisch zu erschöpfen.6 Zugleich geht es den folgenden Beiträgen aber auch darum, Lust auf Umweltgeschichte zu machen, in bester Erinnerungsort-Tradition: Der Reiz des Unterfangens lag stets auch darin, einen Leserkreis jenseits der Fachkollegen zu erreichen. Die folgenden Beiträge reklamieren deshalb keine enzyklopädische Vollständigkeit, sondern zielen vielmehr darauf, in einem ersten Wurf das Spektrum der Möglichkeiten abzuschreiten, die Erinnerungsorte bei Umweltthemen eröffnen. Bei der Konzeption wurde deshalb besonderer Wert auf eine Vielfalt der Themen und Perspektiven gelegt, die hier zumindest kurz angerissen werden soll. Der Knechtsand ist eine Sandbank in der Wesermündung, die in den 1950er-Jahren im Zentrum eines aufsehenerregenden Naturschutzkonflikts stand. Sie wurde 1957 unter Naturschutz gestellt und ging nach Konflikten um touristische und andere Nutzungen im Nationalpark Wattenmeer auf. Das Wort »GAU« als Abkürzung für »größter anzunehmender Unfall« hat sich längst von seinen Ursprüngen in der nuklearen Debatte emanzipiert und gilt in der Alltagssprache als Synonym für ein spektakuläres Missgeschick. Wenn man jedoch die Spur des Begriffs zurückverfolgt, landet man inmitten der Paradoxien der nuklearen Kontroverse: Der GAU verkörperte zunächst das Streben nach Regeln für den Umgang mit den Risiken der Kernkraft, dann jedoch das Umkippen der Zweifel innerhalb der nuklearen Community in eine öffentliche Kontroverse, in der der GAU von einem technischen Begriff zur Chiffre für die Entgrenzung aller bekannten Gefahren avancierte. Beim Wintersport geht es um Naturerfahrungen und damit um ein Schlüsselthema der Moderne. Die sportliche Betätigung in den winterlichen Alpen brachte zahlreiche Menschen in das Gebirge, aber zugleich die Frage, wie viel menschliche Gestaltung mit dem Naturerlebnis Wintersport noch vereinbar sein würde. Mythologisierungen der Sportarten stehen hier neben Kunsteisbahnen Wege zu einer ökologischen Erinnerungskultur © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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und Schneekanonen. Das 1935 verabschiedete Reichsnaturschutzgesetz war einer der größten Erfolge der deutschen Naturschutzbewegung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, aber zugleich Angelpunkt ihrer NS-Geschichte und deshalb Gegenstand einer anhaltenden Kontroverse. Bei Kneipp geht es um die Genese einer Schlüsselfigur, in der sich Lebensreform, alternative und konventionelle Medizin, klerikale Bezüge und nicht zuletzt lokale und kommerzielle Interessen miteinander verflochten. Der Film Serengeti darf nicht sterben ist auf den ersten Blick ein überzeitliches Bekenntnis zum Schutz der afrikanischen Natur. Wenn man ihn jedoch als Erinnerungsort betrachtet, werden die unterschiedlichen Kontexte des Films und seines Protagonisten sichtbar, unter denen die lange Tradition Afrikas als Projektionsfläche deutscher und europäischer Phantasien vielleicht die folgenreichste ist. Beim deutsch-russischen Erdgasgeschäft geht es nicht nur um nüchterne wirtschaftliche Kalküle, sondern auch um einen Strang der Erinnerung, der sich trotz Anfechtungen von unterschiedlichen Seiten seit den späten 1960er-Jahren in bemerkenswert ungebrochener Form bis in die Gegenwart erhalten hat. Tschernobyl ist der vielleicht konfliktträchtigste Fixpunkt umweltpolitischer Erinnerungspolitik, da sich die Interpretation des Ereignisses und seiner Folgen in Deutschland, Frankreich und Weißrussland nicht nur in den Einstellungen zur Atomkraft niedergeschlagen, sondern auch mit Grundfragen der jeweiligen politischen Systeme verquickt hat. Am Anfang des »Groundnut Scheme« stand die Idee, durch den großflächigen Anbau von Erdnüssen in Ostafrika europäische Ernährungsbedürfnisse zu befriedigen und nebenbei noch etwas für die Entwicklung Afrikas zu tun. Am Ende stand eine Mani­ festation planerischer Hybris, die zum Inbegriff eines katastrophal aus dem Ruder laufenden Großprojekts wurde. Trotzdem spielte das Projekt in den Diskussionen um den globalen Siegeszug des amerikanischen Modells hochtechnisierter, industrieartiger Agrarproduktion kaum eine Rolle und erlebt vielleicht sogar eine bescheidener dimensionierte Wiederholung an Ort und Stelle: Derzeit investieren Großunternehmen in Tansania in den Anbau der ölhaltigen Strauchpflanze Jatropha, um vom weltweiten Biotreibstoffboom zu profitieren. Eine ähnliche Karriere hat auch der ägyptische Assuan-Hochdamm durchlaufen, nur ließ sich das Debakel hier nicht so leicht auf lokale Sonderbedingungen schieben: 10

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Der Staudamm steht in einer Ahnenreihe, die von der US-amerikanischen Tennessee Valley Authority bis zum chinesischen DreiSchluchten-Damm reicht. Mit Tambora und Krakatau werden schließlich zwei Vulkanausbrüche auf dem Territorium des heutigen Indonesien in den Blick genommen, die sowohl im wörtlichen wie im übertragenen Sinne globale Erschütterungen auslösten und damit Einblicke in das Potential von Naturkatastrophen in der Erinnerungsforschung liefern.

Szenen einer Annäherung: Die Ökos und die Geschichte Die Frage nach Ökologischen Erinnerungsorten ist keineswegs so neuartig, wie sie auf den ersten Blick wirken mag. In gewisser Weise stand die Frage nach Umwelt und Erinnerung sogar am Anfang der internationalen Umweltgeschichtsforschung: Wilderness and the American Mind hieß das Buch, das Roderick Nash 1967 auf den amerikanischen Buchmarkt brachte.7 Der Band wurde ein grandioser Erfolg, wie er jungen Forschungsrichtungen selten vergönnt ist. 14 Jahre nach Erscheinen nahm die Los Angeles Times das Buch in die Liste der 100 wichtigsten Bücher auf, die in den USA seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs erschienen waren, und 2001 gewann der Band den National Outdoor Book Award in der Kategorie »Outdoor Classic«. Offenbar hatte Nash mit seiner dickleibigen Monographie einen Nerv getroffen. Die Konfrontation mit der natürlichen Umwelt war ein Leitmotiv der amerikanischen Geschichte und damit fester Bestandteil des US-amerikanischen Patriotismus. Was Nash geschaffen hatte, war gewissermaßen eine Studie über ökologische Erinnerungsorte avant la lettre. Ein vergleichbares Werk gab es in Deutschland nicht.8 Das war kein Zufall: Anders als in den USA fehlte der deutschen Umweltszene ein Sinn für Geschichte. Während die Erinnerung an John Muir, George Perkins Marsh und andere Pioniergestalten für die amerikanische Umweltbewegung eine wertvolle Begründungsressource darstellte, zeigten sich in Deutschland vor allem zwei Reaktionsmuster. Einerseits wurde der Blick in die Geschichte kurzerhand für belanglos erklärt, weil er nichts zum Umgang mit den Herausforderungen der Gegenwart beitrug; Genschers Bemerkung ist dafür ein einschlägiger Beleg. Andererseits zeigte sich immer wieder ein Bedürfnis nach Abgrenzung: Die ökologische Wege zu einer ökologischen Erinnerungskultur © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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Bewegung der Gegenwart sei etwas ganz anderes als ihre Vorläufer. Wer über Traditionen sprechen wollte, brachte mithin nur das noble Anliegen und seine Vertreter in Misskredit. Diese Haltung lag sicherlich im Wechsel der politischen Einfärbung begründet, die sich in der deutschen Umweltbewegung um 1970 vollzog. Während Themen wie Natur und Heimat zuvor eher im konservativen Spektrum Rückhalt gefunden hatten, wurden ökologische Probleme nun zu einem der populärsten Anliegen der politischen Linken. Hinzu kam die Zeit des Nationalsozialismus, die sich wie ein sperriger Block jedem positiven Geschichtsbezug entgegenstellt. Exemplarisch erwähnt seien die Empörung über die NS-Vergangenheit des Landschaftsarchitekten Heinrich Wiepking-Jürgensmann, die 1968 ein Fixpunkt des Studentenprotests an der Universität Hannover war, sowie die Debatte über Anna Bramwells provozierende These einer »grünen Partei« im NS-Staat.9 Man kann durchaus von einer Angst der Umweltszene vor der eigenen Geschichte sprechen, die Erinnerungen geradezu zu einem Tabuthema machte. Das hatte in mancherlei Beziehung auch Vorzüge. Mit dem, was Klaus Bachmann polemisch als »Versöhnungskitsch« bezeichnet hat, werden sich Umwelthistoriker auf absehbare Zeit wohl nicht herumschlagen müssen.10 Das ökologische Gedächtnis zeigt in Deutschland zudem einen vergleichsweise schwachen Hang zur Heroisierung. Während andere Länder stolz auf eine Ahnengalerie von Rachel Carson bis Chico ­Mendes verweisen, blieb die Verehrung der Altvorderen in der deutschen Umweltszene vergleichsweise schwach. Die großen Vorbehalte, mit denen die Polit-Prominenz der Grünen von Petra Kelly bis Joschka Fischer zu kämpfen hatte, sind ein trefflicher Spiegel dieser Einstellung. Das Verleugnen der eigenen Vergangenheit war auf Dauer freilich unehrlich und schlug sich in einem irreführenden Verständnis des eigenen politischen Standpunkts nieder. Auch das zeigt sich mustergültig in Genschers vollmundiger Erklärung, die da­rüber hinwegtäuschte, dass seine Umweltpolitik ein gehöriges Maß an Kontinuität barg. Wo sich Institutionen oder Gesetze bewährt hatten, setzte Genscher auf die Fortentwicklung bestehender Traditionen, und das war für den Erfolg seiner Umweltpolitik nicht unbedeutend. Mit Blick auf den neuartigen Charakter des Politikfelds und den institutionellen Zwang, im Bund-Länder-Verhältnis 12

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Kompromisse zu finden, wäre ein dezidierter Kontinuitätsbruch in der Tat eine schlechte Idee gewesen.11 Dennoch hatte es Folgen, dass Genschers Erinnerungspolitik letztlich auf eine ahistorische Illusion hinauslief: Die Vorstellung, durch eine mutige Tat mit einer als defizitär erkannten Politik zu brechen, gehört seither zur Mythologie der Umweltszene – von der Gründung von Umweltministerien, die zumeist viel bürokratische Kontinuität verdeckten bis hin zu diversen Schornsteinbesetzungen durch Greenpeace. Das Scheitern des Klimagipfels von Kopenhagen, das immer noch der Aufarbeitung harrt, hatte auch hier seine Wurzeln. Sofern es in der Umweltbewegung überhaupt einen nennenswerten Bestand von Erinnerungen gab, bezog er sich vor allem auf die Zeit seit den 1970er-Jahren; nicht selten war der zeitliche Horizont mit der eigenen Lebensgeschichte identisch. Seveso und Tschernobyl, Sandoz und Exxon Valdez sind nur einige der Ereignisse, die ins ökologische Gedächtnis eingingen: als Mahnungen an die Nachlebenden, eine Wiederholung um jeden Preis zu vermeiden. Vor allem die Jahrestage von Tschernobyl sind in dieser Hinsicht einschlägig, wie der Beitrag von Karena Kalmbach zeigt. Für ein Projekt über Ökologische Erinnerungsorte ergeben sich daraus mehrere Herausforderungen. Da ist zunächst eine gewisse chronologische Schmalbrüstigkeit: Erinnerungen brauchen eine gewisse Zeit, um sich zu entfalten und zu verändern. In bisherigen Erinnerungsort-Projekten hat sich ein Zeitraum von 20 Jahren als Mindestabstand zur Gegenwart etabliert, der auch in diesem Projekt nicht unterschritten wurde.12 Allerdings zeigt die Erfahrung, dass Erinnerungsorte besonders dann ihren Reiz entfalten, wenn sie längere Zeiträume und mehrere Generationen umfassen. Weiter bleiben auf diese Weise vor allem negative Ereignisse im Gedächtnis, es handelt sich also mithin um dystopische Erinnerungen. Darin spiegelt sich unverkennbar, dass die Umweltbewegung sich mehr als andere soziale Bewegungen über Horrorszenarien definiert hat.13 Positiv konnotierte Erinnerungsorte finden sich im Gedächtnis der ökologischen Bewegungen hingegen kaum. Die Katastrophe hat einen Ort – Ökotopia hingegen nicht. Das größte Problem der in Umweltkreisen lebendigen Erinnerungen besteht jedoch darin, dass ihr ein prononcierter Drang zur Monumentalisierung innewohnt. Sie laufen auf eine bestimmte kanonische Lesart hinaus, die von den Zeitgenossen um keinen Preis verändert werden darf. Zwar zeigen die folgenden Beiträge, Wege zu einer ökologischen Erinnerungskultur © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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dass Erinnerungen auch im Umweltbereich nicht statisch sind. Zugleich steht ein solcher Wandel der Erinnerungen jedoch automatisch im Verdacht, auf ein Schwinden der mühsam akquirierten »Lehren der Geschichte« hinauszulaufen. Die Frage nach Ökologischen Erinnerungsorten befindet sich damit unvermeidlich auf Kollisionskurs mit den Hegemonialansprüchen der Umweltszene. Die Frage nach den Metamorphosen des Gedächtnisses gehört schließlich untrennbar zu der Suche nach Erinnerungsorten, ist geradezu ihr unveräußerbarer Kern. Mindestens ebenso wichtig ist bei Ökologischen Erinnerungsorten jedoch eine Art stiller Erinnerung, die in Institutionen und Praktiken verborgen liegt. Deren Perpetuierung ist zumeist ein unbewusster Prozess, und so bedarf es eines quasi archäologischen Freilegens verborgener Traditionen durch den Historiker, um zu zeigen, dass hinter dem Kyoto-Protokoll der Erdgipfel von Rio steht oder hinter Genschers Immissionsschutzgesetz die Preußische Gewerbeordnung von 1845. Im Streit um das Reichsnaturschutzgesetz verbirgt sich eine Auseinandersetzung über die autoritäre Versuchung, die sich mit jedem staatlichen Naturschutz verbindet und nicht nur in Deutschland zweifelhafte Folgen gezeitigt hat. Und jenen, die über einen »Fashion-Gau« oder »PR-Gau« spotten, dürfte die bewegte Geschichte des »größten anzunehmenden Unfalls« in den seltensten Fällen bewusst sein.

Ökologische Erinnerungsorte und Erinnerungsorte der Umweltbewegung Das bislang Gesagte sollte freilich nicht so verstanden werden, als ob sich der vorliegende Band ausschließlich an Umweltbewegte richten würde oder diesen gar in anwaltlicher Weise verbunden wäre. Von Anfang an herrschte in der Arbeitsgruppe »Umwelt und Erinnerung« Konsens, dass die Anhänger der Umweltbewegungen zwar einen wichtigen Adressatenkreis darstellen würden, zugleich jedoch Interessen und Sichtweisen dieser Gruppe konsequent hinterfragt werden müssten. Das dokumentiert sich auch in den folgenden Beiträgen. Franziska Torma untersucht, welche soziokulturellen Deutungsangebote und Konfliktlagen hinter der Einrichtung des Serengeti-Nationalparks standen, Anna-Katharina Wöbse schildert die Zerwürfnisse unter den Naturschützern nach 14

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der Rettung des Knechtsand, und Andrew Denning seziert den ewigen Streit um den richtigen Wintersport. Konflikte um Deutungen, wie sie nicht nur um Tschernobyl, sondern beispielsweise auch um den »Wasserdoktor« Sebastian Kneipp ausgefochten wurden, thematisieren die Beiträge intensiv und ohne Parteinahme. Der Wert einer kritisch-distanzierten Betrachtung ist umso ­höher, als auch das ökologische Gedächtnis Prägungen von interessierter Seite unterliegt. Im Kleinen zeigt sich dies beim Reichs­ naturschutzgesetz, wo es einer überschaubaren Gruppe von Akteuren frappierend lange gelungen ist, die Legende eines problemlosen, im Kern unpolitischen Akts der Gesetzgebung aufrechtzuerhalten. Im Großen zeigt sich das in Jeannette Prochnows Beitrag, wo die ganze korporative Macht mehrerer Großkonzerne auf den kultur- und erinnerungspolitischen Flankenschutz für das politisch umstrittene Erdgasgeschäft ausgerichtet ist. Das Ende der Kernenergie in Deutschland täuscht leicht darüber hinweg, dass der atomare Komplex in Frankreich aller Kritik an den Nukleo­k raten zum Trotz weiter fest im Sattel sitzt. Die Konzernmanager der Kneipp-Werke sind sich ihrer kulturellen Hegemonie sogar so sicher, dass sie sich jüngst trauten, die Produktion im schwäbischen Bad Wörishofen einzustellen. Ein wesentlicher Befund dieses Bandes besteht freilich darin, dass die ökologische Erinnerung in vielen Fällen erstaunlich unbestimmt ist. Nur selten gibt es eine solche Einmütigkeit im Urteil, wie sie Stefan Esselborn für das Groundnut Scheme belegt: Ein Agrarprojekt, das mehr Erdnüsse importiert als exportiert, kann wohl tatsächlich nichts anderes als ein gigantisches Fiasko sein. Schon beim Assuan-Staudamm sieht die Sache komplizierter aus: Bei aller Kritik an den Folgen bilden Hochstaudämme doch zugleich einen Eckpfeiler unserer Vorstellungen von Modernität, wie Ewald Blocher betont. Und es geht ja nicht zwangsläufig um einen Konflikt zwischen Umweltbewegten und ihren Gegnern. Wie ­Sarah Waltenberger nachweist, war die Bedeutung Kneipps über mehrere Generationen hinweg heftig umstritten. Erst nach 1945 verblasste die Erinnerung, so dass inzwischen nahezu jede physische Verbindung zwischen nackten Beinen und kaltem Wasser einschlägige Assoziationen hervorruft. Es geht bei der Multiperspektivität aber vielleicht nicht nur um ein Gebot wissenschaftlicher Redlichkeit. Wöbses Beitrag über den Knechtsand liest sich geradezu wie eine Blaupause für NaturWege zu einer ökologischen Erinnerungskultur © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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schutzkonflikte: Administration gegen Zivilgesellschaft, Bewahrungseifer gegen Eigendynamik der Natur und dazu der ewige Streit darüber, welche Natur denn nun zu schützen sei. So erkennen sich Aktive im Spiegel der Geschichte wieder und können all jene Konflikte, mit denen sie sich gegenwärtig konfrontiert sehen, mit mehr Distanz betrachten und reflektieren. Darin steckt ein Wert der Historie für die aktuelle Umweltdebatte, der bislang viel zu wenig Beachtung gefunden hat. Die zahlreichen unintendierten Folgen ökologischer Postulate lassen sich leichter diskutieren und verhandeln, wenn sie nicht als aktuelle Streitthemen, sondern im Gewand eines historisch generierten Erfahrungsschatzes in Erscheinung treten. Die Einladung zur kritischen Selbstreflexion zielt jedoch nicht nur auf Umweltbewegte, sondern auch auf die Gesamtheit nationaler Diskursgemeinschaften. Das gilt im deutschen Kontext umso mehr, als sich in den vergangenen Jahren durchaus so etwas wie ein ökologischer Patriotismus entwickelt hat: Auf wenige Dinge reagiert der gemeine Bundesbürger empfindlicher als auf den Nachweis, dass andere Länder mehr für die Umwelt tun. Auch hier setzen die folgenden Beiträge Akzente. Wie Kalmbach zeigt, fehlt es in Frankreich durchaus nicht an einem atomkritischen Diskurs, nur folgt dieser anderen Konfliktlinien und bricht sich im Streit um die Rekrutierung französischer Funktionseliten. Der auf den ersten Blick recht deutsche Kneipp entpuppt sich als grenzüberschreitendes Phänomen, das selbst im Vatikan seine Unterstützer fand.

Orte und Akteure All dies unterstreicht einmal mehr, wie wichtig der Rückbezug auf soziale Gruppen für die Erinnerungsforschung ist. Derlei gehört seit Maurice Halbwachs zum Kernbestand des methodischen Arsenals, und dennoch ist gerade bei Umweltthemen vor der ver­ lockenden Illusion frei schwebender Mythen zu warnen.14 Auf genau dies läuft schließlich die von Umweltaktivisten angestrebte Monumentalisierung hinaus: Ereignisse wie Tschernobyl sollen als Mementi für alle Menschen gelten. Tatsächlich zeigen sich selbst beim Groundnut Scheme, dessen Scheitern nie infrage stand, nach Gruppenzugehörigkeit differenzierte Erinnerungsstränge. 16

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Über die Stabilität dieser Gruppen lassen sich dabei kaum allgemeingültige Aussagen treffen. Das eine Extrem markiert wohl der Wintersport, wo der Streit um Natürlichkeit und Naturnähe quasi ein Evergreen ist und lediglich in immer neuen Kontexten verhandelt wird. Wie sehr sich jedoch Trägergruppen verschieben können, zeigt Joachim Radkaus Beitrag über den GAU: Hier wechselte eine Gruppe von nuklearen Insidern, deren Sorgen sich um das Konzept des Größten Anzunehmenden Unfalls drehten, die Seiten und speiste ihre Kritik in die entstehende Anti-AtomkraftBewegung ein. Als der GAU sich von nuklearen Themen löste und in den allgemeinen Sprachgebrauch einging, spiegelte das auch die mühsam errungene kulturelle Hegemonie des Atomprotests. Ökologische Herausforderungen haben jedoch nicht nur Gruppen und deren Erinnerungen geprägt, sondern auch Gruppen geschaffen. Das zeigt etwa der Fall des Assuan-Damms: Die Rea­ lisierung eines solchen Projekts implizierte zugleich den Aufstieg einer neuartigen hydraulischen Funktionselite, die erst einmal ihren Platz in Politik und Gesellschaft finden musste. Analog gilt dies für die nukleare Elite – der schon erwähnte Topos der Nukleokratie in Frankreich markiert dies besonders deutlich – und für die Partner im Erdgasgeschäft. Für die Erinnerung an Kneipp spielten eigens gegründete Vereine eine wesentliche Rolle, wobei sich Erinnerungen und Interessen auch hier verschränkten: Der Erinnerungsort Kneipp fiel nicht von Himmel – er wurde gemacht. Dass alle diese Gruppen zugleich darauf erpicht waren, ihre Interessenlagen unsichtbar zu machen, bedarf keiner ausführlichen Begründung. Ein besonderes Thema ist in diesem Zusammenhang die Kluft zwischen jenen, die in Umweltpolitik oder Umweltverbänden aktiv sind, und dem Rest der Gesellschaft. Der Streit um das Reichsnaturschutzgesetz betraf in erster Linie die Funktions­eliten der Naturschutzverwaltungen und ließ die breite Öffentlichkeit ziemlich kalt. Auch beim Knechtsand zeigt sich eine Sonderstellung der Aktiven, die nur in der Zeit des heißen Protests etwas aufbrach. Bei Tschernobyl sind die Netzwerke der Anti-AtomBewegung sowie die Tschernobyl-Solidaritätsbewegungen ein zentraler Faktor. Wie könnte es auch anders sein: Wer den Erdgipfel von Rio de Janeiro 1992 vor Ort erlebte, hat ihn zwangsläufig intensiver in Erinnerung als die große Masse jener, die ihn allenfalls vor den Bildschirmen verfolgten. Eine eingehende Beschäftigung Wege zu einer ökologischen Erinnerungskultur © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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mit diesem Phänomen ist nicht nur historiographisch, sondern auch politisch ein Desiderat. Man muss nicht Robert Michels und sein ehernes Gesetz der Oligarchie anführen, um zu erahnen, dass sich eine Zweiteilung der Erinnerung in der Umweltszene zu einem Legitimitätsproblem ersten Ranges auswachsen könnte. Es sei nicht verschwiegen, dass der Rekurs auf Gruppen in diesem Band an manche Grenzen gelangt. Das gilt insbesondere für Sonja Weinbuchs Beitrag über die Ausbrüche der indone­sischen Vulkane Tambora und Krakatau. Zwar hat die neuere Forschung gezeigt, dass es durchaus eine gruppenspezifische Vulnerabilität gegenüber Naturkatastrophen gibt.15 Das ändert freilich nichts daran, dass es sich bei Naturkatastrophen letztlich um störrische Ereignisse handelt, die wie erratische Blöcke in das Gefüge der menschlichen Geschichte hineinfallen. Wenn solche Katastrophen zu Themen der Erinnerungsforschung avancieren, verbindet sich damit ein erhebliches Risiko, Sinnstiftung des Sinnlosen zu betreiben. Arno Borst brachte diese Vorbehalte schon 1981 auf den Punkt mit seiner These, es widerstrebe »dem modernen europäischen Selbstgefühl«, Naturkatastrophen »als dauernde Erfahrung der Gesellschaft und der Geschichte anzunehmen«.16 Bezeichnenderweise kommen Naturkatastrophen in den jüngst erschienenen Europäischen Erinnerungsorten nicht vor, während Kriegserfahrungen und Friedenssehnsüchten ein eigenes Kapitel gewidmet wird.17 Das ist umso bemerkenswerter, als sich mit dem Erdbeben von Lissabon 1755 ein eminent transnationales Ereignis als Bezugspunkt angeboten hätte. Weinbuchs Beitrag nähert sich dem komplizierten Verhältnis zwischen Ereignis und Folgen durch ein Spiel mit Perspektiven, das den Vorwurf des Klimadeterminismus ins Leere laufen lässt: Es geht weniger um die Frage nach realer oder imaginierter Kausalität, sondern vielmehr darum, dass die Hungersnot, die auf das Jahr ohne Sommer 1816 folgte, fast 200 Jahre später in neuer Form in unser kollektives Gedächtnis eingeht. Die Entdeckung des anthropogenen Klimawandels könnte insofern auch das Geschichtsgefühl der Europäer neu formen. Bei aller kognitiven Unbestimmtheit haben Naturkatastrophen immerhin den Vorzug einer klaren geographischen Definiertheit: Der Ort der Eruption lässt sich auch retrospektiv exakt bestimmen. Das ist bei Erinnerungsorten bekanntlich nicht zwingend erforderlich. Pierre Nora wählte für die französischen Erinnerungs18

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orte auch geographisch unbestimmte Orte wie Jeanne d’Arc, die Tour de France oder Marcel Prousts A la recherche du temps perdu, und die Mehrzahl der Projekte sind ihm darin gefolgt. Als eine Ausnahme seien die Niederländischen Erinnerungsorte erwähnt, die sich auf Bauwerke konzentrieren, die in Verbindung zu wichtigen Ereignissen der niederländischen Geschichte stehen.18 Auch der hiesige Band thematisiert mit dem Reichsnaturschutz­ gesetz und dem GAU Erinnerungsorte ohne festen geographischen Bezug. In ihrer Mehrzahl sind die in diesem Band thematisierten Erinnerungsorte jedoch durchaus lokalisierbar. Ein Fingerzeig, dass Erinnerungsorte, die stets in irgendeiner Weise mit der natürlichen Umwelt verbunden sind, in besonderem Maße zu solchen Konkretionen hinführen? Man müsste es nicht bedauern: Die Spuren in der afrikanischen Landschaft, die zum Erbe des Groundnut Scheme gehören, bieten einen reizvollen Kommentar zu einem globalen Topos. Teile des Projektgebiets gehören nun zum Msanji Wildpark und stellen damit eine bemerkenswerte Verbindung von wildgewordener Planung und wildgewordener Landschaft dar. Geographisch fixierbare Erinnerungsorte führen nicht zwangsläufig zu jener Art von Trivialisierung, die findige TourismusManager längst in vielfältiger Weise bedienen. Es geht bei den Erinnerungsorten schließlich darum, dass diese in einer bestimmten Lokalität nicht aufgehen, ja überhaupt erst verständlich werden, wenn man sie konsequent in supralokale Kontexte einordnet. Das zeigen die folgenden Beiträge nachdrücklich: Der AssuanStaudamm war weit mehr als ein ägyptisches Ereignis und die Drushbatrasse weit mehr als eine Metallröhre. Es geht nicht um eine Relokalisierung des Groundnut Scheme, sondern vielmehr darum, die konkrete Manifestation eines Erinnerungsorts in der natürlichen Umwelt als eine weitere Dimension des Gedächtnisses zu begreifen. An diesem Punkt distanziert sich das Projekt von jener Fokussierung auf Diskurse, die bislang die Forschungen über Erinnerungsorte dominiert hat. Ökologische Erinnerungsorte haben stets auch eine biologisch-physikalische Dimension mit einer ganz eigenen Logik, die im Falle des Knechtsand vielleicht am deutlichsten wird: Die natürliche Erosion einer Sandbank, um deren Erhalt eine ganze Region erbittert gestritten hat, setzt der menschlichen Geschichte eine ironische Schlusspointe auf. Die theoretischen und methodischen Implikationen einer solchen ErweiteWege zu einer ökologischen Erinnerungskultur © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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rung des Gedächtnis-Begriffs können hier nur angedeutet werden, es sei aber darauf verwiesen, dass man Ansätze bei genauer Betrachtung schon in Noras Pionierprojekt erkennen kann. Der Beitrag über Verdun berichtet von einer Debatte um 1930, ob die Schlachtfelder wiederaufgeforstet werden sollten, und tatsächlich kann man im Überwuchern eines Schlachtfeldes auch eine Metapher für das allmähliche Verblassen von Verdun erkennen.19 Solche Verschränkungen von materieller und diskursiver Erinnerung ziehen sich wie ein roter Faden durch den vorliegenden Band. Zu den begünstigenden Faktoren für die enorme Resonanz von Grzimeks Serengeti darf nicht sterben gehören die Bilder rostender Panzer und wuchernder Vegetation auf dem Schlachtfeld von El Alamein, desto mehr, als sich zweifellos mancher Betrachter wünschte, dass über die Kriegserfahrung nun endlich auch im übertragenen Sinne Gras wachsen möge. Auch beim Krakatau steht der globale Nimbus des Vulkans in spannungsvollen Bezügen zu seiner geologischen und biologischen Realgeschichte. In den Alpen dokumentieren Kunsteisbahnen, Sessellifte und Schneekanonen in gebauter Form, wie die Auseinandersetzungen über die Natürlichkeit des Wintersports ausgingen. Die Drushba-Pipeline ist gleichermaßen ein Erinnerungsstrang in materieller und metaphorischer Hinsicht, und bei Tschernobyl ist der Rückbezug auf die materiellen Hinterlassenschaften und ihre potentiellen Gefahren ohnehin für ein Verständnis unverzichtbar. Und alle Kritik am Assuan-Damm darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass er auf absehbare Zeit einen nicht hintergehbaren Faktor in der ägyptischen Realität darstellen wird. Der fruchtbare Nilschlamm ist nur noch eine Erinnerung, die sich mit dem Kunstdüngerimport intellektuell wie materiell verknüpft. Mit dieser Vielzahl von Bezügen in Politik, Wirtschaft und Lebenswelt wird zugleich erkennbar, welche Definition von Ökologie diesem Projekt zugrunde liegt. Es geht nicht um die Ökologie als biologische Wissenschaft, sondern um jene Ökologie, die zum Kampfbegriff der Umweltbewegungen wurde: eine Chiffre für die Interdependenz von Mensch und natürlicher Umwelt. Das vermeidet nicht zuletzt eine Reduktion auf politische Ökologie, bei der es vielleicht schwer gefallen wäre, die Beiträge über Kneipp und Wintersport zu legitimieren. Die Interaktion von Mensch und Natur findet in vielen Sphären statt, gerade auch der Lebenswelt. Ein enges Verständnis von Ökologie und Umwelt wäre mit Blick auf 20

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die intellektuelle Tradition der Erinnerungsorte, die ihre Kraft stets auch aus der Vielfalt der Orte und Traditionen bezogen, auch schwer zu vermitteln gewesen. All dies lässt sich in der folgenden Definition zusammenfassen, die aus intensiven gruppeninternen Diskussionen hervorging und im Rahmen des Gesamtprojekts maßgebend ist: Ökologische Erinnerungsorte sind geographisch und zeitlich begrenzte Ereignisse, in denen die Interaktion von Mensch und Natur in ihrer ganzen Vielfalt eine wesentliche Rolle spielt. Diese Ereignisse zeichnen sich durch eine Mehrzahl von politischen, administrativen, diskursiv-kulturellen oder lebenspraktischen Folgen aus, die über die Zeit des Ereignisses hinausreichen und zumindest in einzelnen Facetten bis in die Gegenwart nachwirken. Diese Nachwirkungen müssen sich nicht zwangsläufig in einem starken Bewusstsein für das Ereignis selbst dokumentieren, sondern können auch in Handlungs- und Denkweisen verborgen liegen. Die Analyse von Erinnerungsorten ist somit zu erweitern um eine Analyse politisch-administrativer, ökonomischer oder lebensweltlicher Praktiken und kollektiver Mentalitäten, deren geschichtliche Prägung sich erst durch die quasi archäologische Freilegung der historischen Zusammenhänge erschließt. Bei der Analyse dieser Memorialpraktiken ist Bruchlinien und Divergenzen besondere Beachtung zu schenken.

Jenseits des Nationalstaats Die Ökologischen Erinnerungsorte begannen mit dem Blick auf Deutschland, wuchsen jedoch im Laufe der Zeit darüber hinaus. Das dokumentiert auch der vorliegende Band, indem er zusätzlich zu den deutschen Erinnerungsorten auch grenzüberschreitende und globale verfolgt. Damit fügt er sich in den gegenwärtigen Trend, die Tradition der Erinnerungsorte aus einer engen Fixierung auf Nationalstaatlichkeit herauszuführen.20 Das zeigte sich bereits in den Deutschen Erinnerungsorten, die ein Schwergewicht auf »geteilte Erinnerungsorte« legten, »solche also, die für Deutschland wie für benachbarte Nationen gleichermaßen bedeutsam sind: das Straßburger Münster, Versailles, Tannenberg/ Grunwald, Rom, Karl der Große/Charlemagne, Rapallo, der WieWege zu einer ökologischen Erinnerungskultur © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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ner Heldenplatz, Stalingrad«.21 Auch die niederländischen Erinnerungsorte thematisierten nicht ausschließlich Orte innerhalb ihrer Landesgrenzen und den kolonialen Besitzungen, sondern auch den Westfälischen Frieden von Münster, das WM-Finale von München 1974 und Srebrenica, wo der Völkermord unter den Augen niederländischer UN-Soldaten geschah.22 Die Transnationalisierung setzte sich mit den Europäischen Erinnerungsorten sowie den Deutsch-Polnischen Erinnerungsorten fort, die mit 130 Autoren und acht Bänden in zwei Sprachen gegenwärtig das größte deutsch-polnische Projekt im Bereich der Geisteswissenschaften darstellen.23 Es ist hinlänglich bekannt, dass die französischen Erinnerungsorte von ihrer ursprünglichen Intention her ein Projekt des nationbuilding waren. Tatsächlich hat die Tradition der Erinnerungsorte dafür sensibilisiert, in welchem Ausmaß die historische Imagination in den vergangenen zwei Jahrhunderten unter dem Eindruck von Nationalstaatlichkeit und Nationalismus stand. Oft sind es die auf den ersten Blick ganz unscheinbaren Themen, an denen die Inkommensurabilität der Erinnerungen deutlich wird. Die schwülstige Beschwörung des Bodens in den französischen Erinnerungsorten hätte im deutschen Band zumindest Irritation, wenn nicht Empörung ausgelöst – und das nicht nur, weil im deutschen Pendant auch »Blut und Boden« als Erinnerungsort firmiert.24 Es mag dahingestellt bleiben, ob Ökologische Erinnerungsorte als zumeist eher unheroische und häufig konfliktträchtige Orte überhaupt ein gutes Rohmaterial für affirmativ-patriotische Unternehmungen liefern. Der erwähnte grüne Patriotismus macht sich wohl nicht ganz zufällig an aktuellen Beobachtungen fest: Für Mutmaßungen über eine besondere Naturverbundenheit der Deutschen hat die umwelthistorische Forschung bislang jedenfalls wenig Belegmaterial liefern können. In jedem Fall ist festzuhalten, dass Deutschland im Rahmen dieses Bandes durchweg als Diskursgemeinschaft verstanden wird. Es sind nicht zuletzt die grenzüberschreitenden Erinnerungsorte, die dafür sensibilisieren, in welchem Ausmaß die Verständigung über das kollektive Gedächtnis im nationalstaatlichen Rahmen stattfindet. Wer Kalmbachs Darstellung der nationalen Tschernobyl-Narrative in Deutschland, Frankreich und Weißrussland liest, der erkennt, dass sich hinter der berühmten Wolke, die an der Grenze Halt machte, eine Trennung diskursiver Sphären verbirgt. 22

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Grenzüberschreitende Erinnerungsorte führen deshalb nicht zwangsläufig zur Suspendierung nationalstaatlich konturierter Diskursgemeinschaften und manchmal sogar zu deren Affirmation. Wie aber kommt man zu globalen Erinnerungsorten? Eine weltumspannende Diskursgemeinschaft, die sich in Analogie zu nationalen Diskursgemeinschaften analysieren ließe, gibt es bekanntlich nicht. Die in den vergangenen Jahrzehnten deutlich intensivierte Verständigung, die sich in zahlreichen Konferenzen und multilateralen Verhandlungen niederschlägt, könnte dies zwar langfristig ändern, im Moment hat sich dieser Austausch jedoch vor allem im Entstehen transnationaler Netzwerke niedergeschlagen, deren fragile Legitimität alljährlich in der Berichterstattung über die globalen Klimaverhandlungen zu besichtigen ist. Hinzu kommen forschungspragmatische Probleme, da eine vollständige Betrachtung all jener Gruppen, in denen weltweit Erinnerungen über globale Orte verhandelt werden, rasch an G ­ renzen stößt. Wie also kommt man zu globalen Erinnerungsorten? Esselborn und Blocher nähern sich der Herausforderung, indem sie einen Fixpunkt wählen, über dessen Bewertung weithin Einmütigkeit herrscht. Bei allen Nuancen, die Esselborn in den Erinnerungen an das Groundnut Scheme aufspürt, bleibt doch festzuhalten, dass außerhalb der Region niemand das Projekt je als etwas anderes gesehen hat als ein spektakuläres Debakel. Auch beim AssuanDamm gibt es zum Mindesten einen weltumspannenden Konsens, dass das Projekt gravierende Nebenwirkungen hervorrief. Man könnte hier vielleicht eher von Mythen als von Erinnerungs­orten im eigentlichen Sinne sprechen, indem die Divergenzen hinter einem gemeinsamen Verdammungsurteil weitgehend verblassen. Dabei ist zu beachten, dass dieser globale Diskurs ziemlich zusammenhanglos neben einer komplexeren Erinnerung im lokalen und nationalstaatlichen Rahmen steht. Die Menschen Ostafri­ kas waren im Bauplan des Groundnut Scheme zwar eigentlich nur als ehrfürchtige Beobachter vorgesehen, entwickelten jedoch ihre eigenen Lesarten, die sich freilich weniger am Gesamt­projekt als an seinen konkreten Folgen für Wirtschaft und Gesellschaft festmachten. Im Villagization-Programm des unabhängigen Tansania feierte die zentralistische Großplanung im Interesse der Modernisierung fröhliche Urständ. Beim Assuan-Damm lassen sich im lokalen Zusammenhang rückwärtsgewandte Utopien nachweisen, Wege zu einer ökologischen Erinnerungskultur © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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die ein bizarres Gegenmodell zur Fortschrittseuphorie der Funktionseliten bilden, sowie die territoriale und kulturelle Verlusterfahrung der Nubier. Deren Schicksal kommt im globalen Mythos des Assuan-Hochdamms bezeichnenderweise gar nicht vor. Einen anderen Weg verfolgt Weinbuch für die indonesischen Vulkane. Hier ist die Globalität im Kern ein biologisch-physika­ lisches Substrat – die weltweiten Folgen für Klima und Vegetation, die auf die Urgewalt der Eruptionen zurückgingen. In manchen Kreisen mag derlei im Ruch eines ökologischen Determinismus stehen, aber vielleicht ist es an der Zeit, dass Umwelthistoriker mit diesem Vorwurf offensiv umgehen: Wenn ein Jahr ohne Sommer zu Missernten führt, sind der Macht der Imagination enge Grenzen gesetzt. Hungrige Mägen knurren auch dann, wenn sie nicht gefragt werden. Der gängige Blick auf hegemoniale und subalterne Diskurse greift bei Umweltthemen zu kurz – und vielleicht nicht nur hier.25 Es macht wohl nicht zuletzt den Charme der Ökologischen Erinnerungsorte aus, dass sie zu solchen Fragen und Perspektivierungen hinführen. Dass wir diese zum Teil nur ansatzweise beantworten und einlösen können, liegt in der Natur eines solchen Zwischenberichts. Es ist aber durchaus denkbar, dass die Ökologischen Erinnerungsorte, die sich bislang noch überwiegend der Nora’schen Tradition verpflichtet fühlen, auf längere Sicht zu einem Konkurrenzprojekt mit globalem Ausgriff ent­w ickeln könnten. Es mag für eine junge Disziplin wie die Umweltgeschichte ein wenig vermessen erscheinen, die Rivalität mit einer Forschungstradition zu suchen, die inzwischen gleich mehrere Opera Magna hervorgebracht hat. Aber wer am Ende einer langen Wanderung die Beine in ein kühles Wasserbecken steckt, der ahnt vielleicht, dass es Dinge gibt, die sich weder im Kulturellen noch im Nationalen auflösen lassen.

Anmerkungen 1 Hans-Dietrich Genscher, Planungen und Vorhaben des Bundesministeriums des Innern. Bericht vor dem Innenausschuss des Deutschen Bundestages am 22. Januar 1970 in Berlin, Bonn 1970, S. 3. 2 Mario Isnenghi (Hg.), I Luoghi della Memoria. 3 Bände, Rom 1996–1997; Jan Bank u. a. (Hg.), Plaatsen van Herinnering. 4 Bände, Amsterdam 2005–2007.

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3 Etienne François, Hagen Schulze (Hg.), Deutsche Erinnerungsorte. 3 Bände, München 2001; Martin Sabrow (Hg.), Erinnerungsorte der DDR, München 2009; Elke Stein-Hölkeskamp, Karl-Joachim Hölkeskamp (Hg.), Erinnerungsorte der Antike. Die römische Welt, München 2006; dies. (Hg.), Die griechische Welt. Erinnerungsorte der Antike, München 2010; Christoph Markschies, Hubert Wolf (Hg.), Erinnerungsorte des Christentums, München 2010; Pim den Boer u. a. (Hg.), Europäische Erinnerungsorte. 3 Bände, München 2012. 4 Etienne François, Hagen Schulze, Einleitung, in: dies. (Hg.), Deutsche Erinnerungsorte I, München 2001, S. 9–24; S. 18. Zur Definition durch Nora siehe Pierre Nora, Between Memory and History. Les Lieux de Mémoire, in: Representations 26 (Frühjahr 1989), S. 7–24; S. 7. 5 Das Gesamtprojekt »Umwelt und Erinnerung« umfasst neben diversen Veröffentlichungen auch ein Online-Portal, das in einem abschließenden Beitrag eingehend vorgestellt wird, ein Interviewprojekt mit Zeitzeugen sowie eine Buchreihe mit einschlägigen Monographien. 6 Als ein Erinnerungsort-Projekt in nuce kann Bernd Herrmann, Christine Dahlke (Hg.), Schauplätze der Umweltgeschichte. Werkstattbericht, Göttingen 2008 gelten. Auf eine Orientierung an oder den Vergleich mit Nora wird in diesem Band allerdings explizit verzichtet. (Bernd Herrmann, Christine Dahlke, Vorwort, in: ebd., S. 1–3; S. 1.) 7 Roderick Nash, Wilderness and the American Mind, New Haven und London 1967. 8 Die konzeptionell ähnlichen Arbeiten von Ulrich Linse (Ökopax und Anarchie. Eine Geschichte der ökologischen Bewegungen in Deutschland, München 1986) und Rolf Peter Sieferle (Fortschrittsfeinde? Opposition gegen Technik und Industrie von der Romantik bis zur Gegenwart, München 1984) erzielten nie eine vergleichbare öffentliche Resonanz. 9 Ursula Kellner, Heinrich Friedrich Wiepking (1891–1973). Leben, Lehre und Werk, Diss. Universität Hannover 1998, S. 295–297; Anna Bramwell, Blood and Soil. Walther Darré and Hitler’s Green Party, Abbotsbrook 1985. 10 Dazu Hans Henning Hahn, Heidi Hein-Kircher, Anna KochanowskaNieborak (Hg.), Erinnerungskultur und Versöhnungskitsch, Marburg 2008. 11 Zu Genschers Umweltpolitik vgl. Kai F. Hünemörder, Die Frühgeschichte der globalen Umweltkrise und die Formierung der deutschen Umwelt­ politik (1950–1973), Stuttgart 2004 und Jens Ivo Engels, Naturpolitik in der Bundesrepublik. Ideenwelt und politische Verhaltensstile in Naturschutz und Umweltbewegung 1950–1980, Paderborn 2006. 12 Besonders deutlich zeigt sich das in den Erinnerungsorten der DDR, die genau 20 Jahre nach dem Fall der Mauer erschienen. 13 Dazu vom Verfasser Frank Uekötter, Jens Hohensee (Hg.), Wird Kassandra heiser? Die Geschichte falscher Ökoalarme, Stuttgart 2004. 14 Maurice Halbwachs, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Frankfurt 1985 (urspr. erschienen 1925). Wege zu einer ökologischen Erinnerungskultur © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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15 Theodore Steinberg, Acts of God. The Unnatural History of Natural ­Disaster in America, Oxford und New York 2000. 16 Arno Borst, Das Erdbeben von 1348. Ein historischer Beitrag zur Katastrophenforschung, in: Historische Zeitschrift 233 (1981), S. 529–569; S. 532. 17 Pim den Boer u. a. (Hg.), Europäische Erinnerungsorte 2.  Das Haus Europa, München 2012. 18 Bank u. a., Plaatsen van Herinnering. 19 Antoine Prost, Verdun, in: Pierre Nora (Hg.), Erinnerungsorte Frankreichs, München 2005, S. 253–278; S. 268, 277. 20 Im Falle des französischen Originals ging die nationalstaatliche Fixierung so weit, dass Frankreichs lange Kolonialgeschichte vollständig ausgeblendet blieb. (Monica Juneja, Architectural Memory between Re­ presentation and Practice: Rethinking Pierre Nora’s Lex lieux de mémoire, in: Indra Sengupta [Hg.], Memory, History, and Colonialism. Engaging with Pierre Nora in Colonial and Postcolonial Contexts [German Historical Institute London Bulletin Supplement 1], London 2009, S. 11–36; S. 15.) 21 François, Schulze, Einleitung, S. 19. 22 Simon Groenveld, Munster: raadhuis. De Vrede van Munster, 1648, in: Maarten Prak (Red.), Plaatsen van Herinnering. Nederland in de Zeventiende en Achttiende Eeuw, Amsterdam 2006, S.  238–249; Auke Kok, München: het Olympiastadion. De Wereldkampioenschappen Voet­ bal in 1974, in: Wim van den Doel (Red.), Plaatsen van Herinnering. Nederland in de Twintigste Eeuw, Amsterdam 2005, S.  398–409; Peter Bootsma, ­Srebrenica. Dutchbat III en de Moord op 7000 Moslims, in: ebd., S. ­472–485. 23 Bislang erschienen ist Hans Henning Hahn, Robert Traba (Hg.), DeutschPolnische Erinnerungsorte. Band 3: Parallelen, Paderborn 2012. 24 Armand Frémont, Der Boden, in: Nora, Erinnerungsorte Frankreichs, S.  281–309; Anna Bramwell, »Blut und Boden«, in: Etienne François, Hagen Schulze (Hg.), Deutsche Erinnerungsorte III, München 2001, S. 380–391. 25 Für den Versuch des Herausgebers, Materialität in der Erinnerungsforschung stark zu machen, siehe Frank Uekötter, Recollections of Rubber, in: Frank Müller, Dominik Geppert (Hg.), Imperial Sites of Memory (erscheint 2014 bei Manchester University Press).

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Deutsche Erinnerungsorte

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Anna-Katharina Wöbse

Der Knechtsand – ein Erinnerungsort in Bewegung

Dieser Ort der Erinnerung ist nahezu unerreichbar. Wir stehen im Herbst an der Küste der Wesermündung, am Meeresrand zwischen den Cuxhavener Ortsteilen Sahlenburg und Berensch, und starren angestrengt ins Watt. Der Große Knechtsand liegt, das beweist das Kartenmaterial, gut elf Kilometer Luftlinie westlich von unserem Standpunkt. Aber es gibt kein Hinkommen. Die Sandbank liegt in der Ruhezone I des Nationalparks Niedersächsisches Wattenmeer. Betreten verboten. Eine Schlickwüste breitet sich vor unseren Augen aus. Das Meer ist gerade mal wieder woanders, wie so oft in dieser Gegend. Es wird erst in ein paar Stunden wiederkommen. Die Wasserreste der letzten Flut stehen in den sandigen Rillen, die Wattwürmer arbeiten verlässlich und hinterlassen kleine Kringel auf der Oberfläche. Hier ist es kalt, bleiern und zugig. Öde geradezu. Nicht gerade das, was man mit dem spektakulären Titel »Weltnaturerbe« assoziieren würde. Da lösen sich zwei Punkte aus dem Grau. Ein Brandgans-Paar marschiert ins Bild. Die Schnäbel der Vögel leuchten tiefrot, die schwarzen Köpfe wenden sich dem Untergrund zu, der braunrote Bruststreifen, die schwarz-weißen Flügel und die orangenen Beine machen sie zu einer farbenprächtigen Erscheinung in dieser weitläufigen Tristesse. Die beiden haben zu tun – das Pärchen sucht nach Schlickkrebsen und Wattschnecken. Wir lehnen uns an das blaue Metallschild des Nationalparks, das uns in unsere Schranken weist, und sehen den Vögeln bei der Nahrungssuche zu. Wenn wir den Erinnerungsort nicht erreichen, kommen seine gefiederten Vertreter eben zu uns. Denn eins der historischen Herzstücke des Nationalparks ist diese wandernde, geografisch unzuverlässige und von Land aus kaum sichtbare Sandbank Knechtsand, und der Kampf um ihre Unversehrtheit wurde nicht zuletzt dank des vor uns wandelnden illustren Der Knechtsand – ein Erinnerungsort in Bewegung © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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Federviehs gewonnen. Der Erfolg, der in diesen Erinnerungsort eingeschrieben ist, macht ihn für uns im Hier und Jetzt unzugänglich. Wir werden keinen Fuß dorthin setzen. Aber nähert man sich ihm historisch und entwirft eine Topografie der Erinnerung, werden viele Traditionsstränge sichtbar, die von großer Bedeutung für unsere Lesart des Wattenmeeres sind.1 Im Juni 2009 erhielt dieser erdgeschichtlich noch so junge Lebensraum von der Bildungs­ organisation der Vereinten Nationen UNESCO die höchsten Weihen, die eine Landschaft weltweit bekommen kann. Er gehört seitdem zu den 193 bislang ausgewiesenen Stätten des Weltnaturerbes. Die Verleihung war von medialem Pomp, öffentlichen Kundgebungen und der Aufmerksamkeit einer ganzen Küstenregion begleitet. Das Gleiche gilt für die Frühphase der Schutzbemühungen. Wie gestaltete sich der Weg von der frühen zur aktuellen ökologischen Aufmerksamkeit, und wie wurde aus einem peripheren Eiland ein Nukleus des heutigen Weltnaturerbes?

Das Ereignis Am 9.  September 1952 trat das sogenannte Knechtsand-Abkommen in Kraft.2 Es schrieb einen Tauschhandel fest, den der amtierende Bundeskanzler Konrad Adenauer mit den Alliierten ausgehandelt hatte. Zuvor hatte das im Zweiten Weltkrieg evakuierte Helgoland als Bombenübungsziel der britischen und der in England stationierten amerikanischen Luftstreitkräfte gedient. Der Bundesregierung war daran gelegen, den Bewohnerinnen und Bewohnern der einzigen deutschen Hochseeinsel die Rückkehr auf die roten Felsen möglichst schnell zu ermöglichen. Die Suche nach einer alternativen Abwurfstelle hatte sich schwierig gestaltet. Nicht nur der Knechtsand, sondern auch der Norderoogsand wurde als Ersatz diskutiert. Aber letzterer hätte die Existenz eines bereits ausgewiesenen Erinnerungsortes der deutschen Naturschutzbewegung gefährdet: die 1909 eingerichtete und populäre Vogelfreistätte Norderoog. Nach Intervention des Vereins ­Jordsand und der Schutzgemeinschaft Deutsches Wild, die über gute Kontakte zu der aufblühenden internationalen Naturschutzszene verfügten und sowohl in Großbritannien als auch der Schweiz Fürsprecher für das vogelreiche Eiland aktivierten, wurde den Alliierten als Ersatz die unbewohnte Sandbank in der Wesermündung zur Ver­ 30

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fügung gestellt.3 Die hiesige Bewohnerschaft sah sich bald mit den drastischen Folgen dieses Tauschhandels konfrontiert. Im betroffenen Land Wursten formierte sich rasch der Widerstand.4 Nicht nur die ansässigen Krabbenfischer und die Küstenschiffahrt sahen sich in ihrer Existenz bedroht. Für die ansässigen Heilbäder und die Fremdenverkehrsbranche stellte sich die Lage nun ebenfalls als äußerst prekär dar. Aber auch eine ökologische Argumentation tauchte in den Widersprüchen auf: Die vorgelagerten Sände seien ein wichtiger Teil des Küstenschutzes, weil sie bei Sturm und Flut die Gewalten des Meeres brächen. Aber die Position der lokalen Bevölkerung und ihrer politischen Vertreter war gegenüber der Interessen der Bundesregierung schwach. Adenauer war an einer schnellen Wiedererlangung der Souveränität, militärischen Sicherheit und an der Integration in die westeuropäische Politik gelegen. Helgoland war ein Symbol dieser wiederhergestellten Souveränität, aber mit ihr waren Zugeständnisse an die westlichen Alliierten verbunden. Die Interessen der Lokalpolitik schienen in diesem Kontext als vernachlässigbare Größe. Im November 1953 überflogen die ersten Militärflugzeuge die Sandbank und versenkten Übungsbomben in den seichten Gewässern. Die Menschen in den benachbarten Gemeinden wähnten sich zurück im Krieg. In der hitzigen Debatte, die die Region seit Bekanntwerden der Pläne beherrschte, spiegelten sich deutlich die Versatzstücke des Kalten Krieges wider. Die Fischer, traditionell konservativ, bekamen plötzlich Unterstützung von Hamburger Kommunisten, die in den Protestversammlungen darauf aufmerksam machten, dass die Alliierten hier die zukünftigen Flugrouten für den Krieg gegen die Sowjetunion öffneten und einstudierten.5 Aber ebenso wurden Stimmen laut, die gegen die »Fremdbestimmung« der Deutschen durch die Siegermächte protestierten. Die Auseinandersetzungen vor Ort waren hart und rauh  – und änderten nichts daran, dass der Große Knechtsand zunehmend unter Beschuss geriet. In Bonn verhandelte man gerade über die Entschädigungen der Krabbenfischer, als im Januar 1954 die Bombenabwürfe der Royal Air Force noch verstärkt wurden.6 Im Laufe des Jahres mussten die Fischer immer öfter in den Häfen bleiben. In der Umgebung meldeten Hausbesitzer Risse in den Wänden, in Cuxhaven gingen Fensterscheiben zu Bruch, Hausfrauen beklagten zerborstene Einweckgläser, in Cappel stürzte der Backofen des Bäckermeisters Trautmann ein.7 Im Sommer brachen vom BomDer Knechtsand – ein Erinnerungsort in Bewegung © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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benlärm gestresste Badegäste ihre Ferien ab.8 Verletzte und sterbende Seehunde wurden gemeldet.9 Aber erst ein durch die Flüge verursachtes Massensterben von Brandgänsen sollte dem Protest ernsthaftes politisches Gewicht und der Debatte eine ökologische Dimension verleihen, die nicht nur die regionale, sondern auch die nationale Lesart von Natur und Landschaft nachhaltig veränderten. Dass das Wattenmeer ein eigenes Reich der Küsten- und Seevögel beziehungsweise einer der wichtigsten Rastplätze der Ostatlantikroute der Zugvögel darstellt, war keine neue Erkenntnis. Mit der touristischen Erschließung der Nordseeinseln und der massen­haften Nutzung der Ressourcen von Möweneiern oder dem beliebten Freizeitvertreib des Seevogelschießens war auch der gezielte Schutz der »gefiederten Freunde« einhergegangen. Der größte Verband seiner Art, der Bund für Vogelschutz, hatte seit seiner Gründung 1899 besonders entlang der Küsten sogenannte »Vogelfreistätten« gekauft oder gepachtet und mit saisonalen Wächtern beschickt, die den Schützlingen in diesen begrenzten Arealen eine ruhige Aufzucht ihrer Brut gewährleisten sollten. In den 1920er-Jahren hatte der Bund für Vogelschutz auch auf dem Knechtsand ein solches Reservat eingerichtet, es aber später wieder aufgeben müssen. Die Erinnerung an die ökologische Einzigartigkeit des Knechtsandes musste erst wieder reaktiviert werden. Das geschah durch Bernhard Freemann, der in der kleinen Küstengemeinde Wremen als Volksschullehrer tätig war. Der Lehrer selbst hegte ein ausgeprägtes ornithologisches Interesse und hatte sich speziell der Erforschung der Lebensweise der Brandgänse verschrieben. Es war schon seit längerem bekannt, dass die Vögel sich hier im Sommer in großen Scharen einfanden. 1952 begann Freemann im angrenzenden Wattenmeer die Vögel systematisch zu beringen, um herauszufinden, woher die Tiere kamen und wohin sie flogen. Das Ergebnis der Beringungsaktionen zeigte sich rasch – Meldungen von Ringfunden liefen aus Dänemark, Großbritannien, den Niederlanden und Frankreich ein. In Freemanns Heimat befand sich offenkundig ein Hot Spot der europäischen Brandgansgemeinde. Die Hinweise verdichteten sich, dass sich die Tiere hier alljährlich im Spätsommer im großen Stil zum gemeinsamen Mausern trafen. Fast der gesamte Bestand von bis zu 200.000 Tieren kam zusammen, um kollektiv die Schwungfedern abzusto32

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Abb. 1: Lehrer Freemann beim Beringen einer Brandgans (Bildarchiv Stiftung Naturschutzgeschichte).

ßen. Während dieser Massenmauser sind die Brandgänse für vier Wochen flugunfähig und entsprechend verletzlich. Den Tag verbringen sie in den seichten und nahrungsreichen Gewässern der Sände, um sich des Nachts dichtgedrängt auf den höheren Anwehungen zusammenzufinden. Als also die Bomben ins vermeintlich leere Watt fielen, trafen sie im August und September 1954 auf Tausende von Vögeln, die nicht flüchten konnten. Dabei schienen die Vögel weniger von Splittern getötet zu werden als vielmehr den Druckwellen zum Opfer zu fallen, die ihnen die Eingeweide zerrissen. Lehrer Freemann besichtigte das Grauen und sammelte akribisch die Augenzeugenberichte der Fischer. Er selbst legte lautstark Zeugnis ab und machte seine Beobachtungen umgehend öffentlich.10 Der Knechtsand – ein Erinnerungsort in Bewegung © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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Mit dem Eintritt der Brandgans in den Reigen der Schutz­motive gewann der Protest eine völlig neue Dynamik. Die Bewegung hatte ihre Ikone bekommen: Die treibende Brandgansleiche in den Prielen des Wattenmeeres flankierte fortan die Presseberichterstattung und ging hinaus in die Welt. Anders als bei vielen anderen Artenschutzdebatten stand hier nicht die Seltenheit, sondern vielmehr die Massenhaftigkeit im Vordergrund. Mehrere zigtausend Vögel, die der Region die Ehre gaben, sich ihrem Schutz anzuvertrauen, waren hier nun plötzlich  – wie die menschliche Bewohnerschaft auch – einer Gewalteinwirkung ausgesetzt, der sie sich nicht entziehen konnten. Aber im Gegensatz zu den Deutschen, die in ihrem Selbstbestimmungsrecht nach der aggressiven Expansion des Zweiten Weltkriegs beschränkt waren und sich politisch de­savouiert hatten, symbolisierten die Vögel eine natürliche Unschuld und Verletzlichkeit, die das diskreditierte Volk nun dringend erhalten sehen wollte – und die Vögel so ihrerseits politisch instrumentalisierte. Die politisch-ökologische Versuchsanordnung funktionierte. Freemann und die von ihm mit initiierte Schutz- und Forschungsgemeinschaft Knechtsand, die als Verein die Interessen des Brandgansschutzes vertrat, wurden zu wichtigen politischen Figuren. Denn für die ausländische Presse schien es leichter, sich mit der Figur der Brandgans zu solidarisieren als mit Teilen der deutschen Bevölkerung und deren wirtschaftlichen Interessen. Das Migra­ tionsverhalten dieses Vogels machte ihn zu einem kosmopolitischen beziehungsweise pan-europäischen Angehörigen verschiedener Staaten. Freemann und seine Schutzgemeinschaft setzten gezielt auf die Kooperation mit auswärtigen Verbänden, um auch nicht im Entferntesten den Ruch einer nationalistischen Färbung ihrer Kampagne entstehen zu lassen. Der behördliche Naturschutz – nach seiner Nähe zum nationalsozialistischen Regime im Dritten Reich erst im Wiederaufbau und der Neufindung begriffen – war nicht unbedingt begeistert von solchen autonomen Projekten. Bei der Ausweisung des Gebietes hatte er noch in einem Gutachten kundgetan, dass »wenn schon einmal Bombenziele ausgewiesen werden müssen  – die Ausweisung einer Sandbank, die bei Flut unter Wasser fällt, am wenigsten störend für die Interessen des Naturschutzes empfunden werden muss«11 und so die Einrichtung von Naturschutzseite aus legitimiert. Nun sah man sich mit der sehr selbstbestimmt agierenden Koalition unter Führung des 34

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Vogelschützers Freemann konfrontiert, die sich mit einer gekonnten Dramatisierung des Sterbens vor der Küste die Aufmerksamkeit der Medien sicherte.

Inszenierungen Ein Blatt, das das auflagensteigernde Potenzial dieses Tier­dramas für sich entdeckte, war das erst zwei Jahre alte Produkt des Hamburger Verlagshauses von Axel Springer, die Bildzeitung. Am 19. Oktober 1954 machte sie mit einem Foto von zwei Vogel­leichen am Spülsaum auf, das von der Schlagzeile »Immer wieder Bombenhagel auf deutsches Vogelparadies« flankiert wurde. Der Appell, den die Bildzeitung in die Welt schickte, lautete schlicht: »Macht Schluss! Macht Schluss!«. Die Zielrichtung der Berichterstattung, in deren Mittelpunkt ein Mädchen stand, das ein durch den Bombenabwurf verwaistes Seehundbaby in seinen Armen nach Hause trug, war überdeutlich: Die britische Besatzungsmacht disqualifizierte sich aus Sicht der Bild durch ihre Militärübungen, während die Deutschen genug Herz, Liebe und Empathie zeigten, um ihre Befähigung zur souveränen Kulturnation hinreichend unter Beweis zu stellen.12 Das Thema erreichte über­ regionale Aufmerksamkeit. Auch in der Times, dem damaligen politischen Leitmedium Großbritanniens, häuften sich die Meldungen.13 Im November 1954 debattierte der Deutsche Bundestag über die Situation an der Wesermündung  – und die Lage der Brandgänse. Aber die außenpolitischen Verhältnisse schienen noch kein offensives Aufbegehren gegen die britischen Interessen zu erlauben, und die CDU-geführte Bundesregierung wand sich, eindeutig Stellung zu beziehen. Die Zahlen von über 70.000 getöteten Brandgänsen allein in der Mauserzeit 1954, die Lehrer Freemann in den Ring geworfen hatte, wurden angezweifelt. Als der Konflikt bald darauf internationalisiert wurde und zivil­ gesellschaftliche Kräfte selbst Teilhabe an den außenpolitischen Beziehungen verlangten, wurden die Handlungsoptionen konkreter. Der Internationale Rat für Vogelschutz schickte schließlich eine Delegation versierter Sachverständiger aus den Nieder­landen, Großbritannien, Dänemark und Deutschland, die von einem Flugzeug der Royal Air Force aus die Bestände der Brandgänse in den Weiten des Wattenmeeres in Augenschein nehmen sollten. Sie beDer Knechtsand – ein Erinnerungsort in Bewegung © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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stätigten im Großen und Ganzen die Angaben Freemanns über die Massenmauser. Aber auch sie  – staatlich alimentierte Ornithologen  – plädierten gemäß der außenpolitischen Räson nicht für ein Ende der Bombardements, sondern nur für eine Mäßigung des Bombenmaterials: Statt Spreng- sollten nun nur noch Rauchbomben abgeworfen werden. Diese Milderung der Verhältnisse wurde bald durch das britische Oberhaus unterstützt.14 Von den Wogen der öffentlichen Gunst angetrieben, mochten sich die Vogelschützerinnen und Vogelschützer vor Ort allerdings nicht mehr mit der Entschärfung oder gar einem Ende der Manöverflüge abgeben, sondern hatten ihre Forderungen längst erweitert: Der Knechtsand sollte Naturschutzgebiet werden. Als 1957 die Verlängerung des Knechtsand-Abkommens anstand, mobilisierte die Schutz- und Forschungsgemeinschaft Knechtsand noch einmal all ihre Kräfte, Verbündeten und die Presse. Am 8. September 1957 rief sie zu einer friedlichen Besetzung der Sandbank auf. Und die Verbündeten strömten busladungsweise herbei. Im Morgengrauen machten sich 20 Kutter, prächtig mit Wimpeln und Bannern ausstaffiert und mit mehreren Hundert Aktivistinnen und Aktivisten besetzt, auf den Weg ins Watt. Ihnen folgte eine Entourage von Presseleuten, bestückt mit Fotoapparaten und Filmkameras. Weder Art noch Ort der Inszenierung waren neu. Schon der Kampf um Helgoland und auch die frühen Fischer­proteste auf dem Knechtsand hatten sich bestimmter Protestrituale bedient, die jetzt wiederholt wurden.15 Ein Mahnfeuer wurde entfacht und an einem eigens aufgestellten Masten nicht nur die grün-weiße Europaflagge, sondern auch die Fahne des Landes Wursten gehisst, flankiert von wehenden Totenkopfflaggen, die nicht zuletzt an die mittelalterliche Unabhängigkeit und dauernde Bereitschaft zum Widerstand des Landstriches erinnerten. Die Schar der Widerständigen, die nun im Sprechchor die Freiheit der Sandbank intonierten, war heterogen: Abgesandte der Tier-, Vogel- und Naturschutzbewegung waren angereist, Vertreterinnen und Vertreter der Unteren Naturschutzbehörde, der Lokalpolitik, der Naturwissenschaft und des Landesjagdverbandes. Ihre Petitionen, von einer angeschwemmten Orangenkiste, die als Podium diente, verlesen, kreisten allesamt um die eine Forderung: Den Großen Knechtsand von Bombardements jeglicher Art zu verschonen und zum Reservat zu machen. Die Inszenierung war erfolgreich: Die Bilder und Berichterstattungen von der friedlichen Besetzung des Sandes fan36

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Abb. 2: Einig im Widerstand – die friedliche Besetzung des Knechtsandes 1957 (Bildarchiv Stiftung Naturschutzgeschichte).

den sich breit gestreut und positiv konnotiert in den Medien der jungen Bundesrepublik wieder. Als die Bundesregierung verlautbaren ließ, sich dem öffentlichen Druck nicht beugen zu wollen und weiterhin den alliierten Bedürfnissen nach militärischen Übungsräumen zu entsprechen, fand sich in der Struktur des föderalen Systems ein eigener Weg hin zum Reservat: Während in Bonn Debatten und diplomatische Sondierungen vorgenommen wurden, kooperierte das Land Niedersachsen in seiner Rolle als Oberste Naturschutzbehörde mit dem Regierungspräsidenten in Stade und erließ am 8.  Oktober  1957 kurzerhand die »Verordnung über das Natur­ schutzgebiet ›Vogelfreistätte Knechtsand‹«.16 Es stellte mit 244 Quadratkilometern das größte Naturschutzgebiet der jungen Bundesrepublik dar.

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Das Reich der Erinnerung Die Schlacht war damit also gewonnen. Denn die Alliierten nahmen bald darauf Abstand davon, in einem offiziell deklarierten Naturschutzgebiet und von internationalen Fachleuten als transnationales Reich des europäischen Brandgansbestandes anerkannten Reservat weiterhin Übungsbomben abzuwerfen. Die Aktionen hatten eine populäre und öffentlichkeitswirksame Dimension entwickelt. Dank der Ikone Brandgans hatte sich die humanitäre und ökologische Imprägnierung des Protestes durchsetzen können. Es zeigte sich jedoch rasch, dass nach Erreichen des Ziels ganz andere Interessen in den Vordergrund taten, als sich Lehrer Freemann und seine Mitstreiterinnen und Mitstreiter das gedacht hatten. Sie selbst wurden nun bald zu Eindringlingen und Unerwünschten. Denn die Unterschutzstellung brachte ein Betretungsverbot mit sich, das auch die vormaligen Heldinnen und Helden exkludierte. Die Beamten der Unteren Naturschutzbehörde entschieden fortan, wer das Reich der Brandgänse betreten durfte.17 Für die am Protest beteiligte lokale Bewohnerschaft begann damit ein seltsam schmerzhafter Prozess der Entfremdung von dem Ort, für den sie gekämpft hatte. Der Ort und der Kampf selbst schienen in eine abgeschlossene Vergangenheit transponiert zu werden, die von den verschiedenen Interessensgruppen recht unterschiedlich memoriert wurde. Da gab es das individuelle Erleben. Bei einem Zeitzeugen­ gespräch 2001 im kleinen Hafenort Wremen, in der einst die Schutz- und Forschungsgemeinschaft Knechtsand ihren Hauptsitz gehabt hatte, wurde die Sandbank als Ort großer Freiheit lebendig: Die bereits erwähnten Beringungsaktionen unter Leitung des Lehrers Freemann hatten für die lokale Mensch-Natur-Beziehung eine wichtige Rolle gespielt. Er hatte nämlich seine Schülerinnen und Schüler für die Datenerhebung aktiviert. Auf Kuttern, ausgestattet mit Butterbroten und Sinalco-Getränkekisten, die Freemann seinen Freiwilligen spendierte, fuhren die jungen Mannschaften hi­ naus, um die Tiere einzukesseln, einzelne Tiere zu fangen und zu markieren.18 Mehrfach wurden sie von extra anreisenden in- und ausländischen Jugendgruppen dabei unterstützt. Sie machten aus dem Knechtsand einen Ort der saisonalen Völkerverständigung. Diese Sommertage im Watt waren für die Jugendlichen identi38

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Abb. 3: Rennen für den Naturschutz – eine junge Berin­ gerin bei der Arbeit (Bildarchiv Stiftung Naturschutz).

tätsstiftend. Sie hatten Spaß, konnten sich beweisen, indem sie flink wie die Hasen den flüchtenden Gänsen nachstellten, waren in einem wichtigen naturwissenschaftlichen Auftrag unterwegs und kamen sandig, müde und erfüllt von den Fahrten zurück. Sie waren Teil von etwas Großem. Die Erzählungen sind geprägt von einem sinnlichen Erleben des Wattenmeeres, einem Initiations­ erlebnis, in dem der ganze körperliche Einsatz für den Schutz einer bunten Ente ebenso kennzeichnend war wie das gemeinsame Hinausfahren und ein einzigartiges Gruppenerlebnis.19 Auch die Erzählungen von Hans Fricke, einem Bremer Protagonisten der Friedens- und Umweltbewegung, kann als stellvertretend für viele der Aktivistinnen und Aktivisten angesehen werden, die sich dem Knechtsandprotest ursprünglich aus pazifistischen Der Knechtsand – ein Erinnerungsort in Bewegung © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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Motiven heraus angeschlossen hatten. Für ihn war das Wattenmeer bis dahin nur eine nichtssagende Matschfläche mit eher beschränktem Erlebniswert gewesen. Aber beim Zusammentreffen mit den Brandgansaktivisten und in der Auseinandersetzung mit der Lebensweise der Tiere erweiterte sich sein Horizont immens: Das Grau steckte offenkundig voller Leben. Pazifismus und Naturschutz zeigten plötzlich große Schnittmengen.20 Während diese Erfahrungen maßgeblich für die individuelle Mensch-Natur-Beziehung war, verlor der Knechtsand als unmittelbarer Ort nach der Unterschutzstellung an medialer Aufmerksamkeit, galt aber weiterhin als Markstein in der weiteren Entwicklung der Wahrnehmung des Gesamtraums Wattenmeer. Derweil wurde die Forschung vor Ort institutionalisiert. Systematische Beobachtungen und Zählungen wurden unter der Ägide des Biologieprofessors Hans Oelke vom Zoologischen Institut der Universität Göttingen vorgenommen, die längst nicht mehr auf die Brandgänse fokussiert waren, sondern auch die botanischen Eigenarten und auch die unauffälligeren Lebenswelten der Insekten im Blick hatten. Ein Wohn- und Beobachtungsturm wurde errichtet und bot in den Sommermonaten Unterkunft für Forschende der Biologie, die mit dem Privileg einer Betretungserlaubnis ausgestattet waren.21 Aber der unerbittliche »Blanke Hans« nahm der Konstruktion den Grund. Der Ort selbst entzog sich der Beständigkeit. Das Wattenmeer ist als äußerst dynamischer Lebensraum ständig in Bewegung. Die wenigen höhergelegenen und bewachsenen Partien der Sandbank erodierten allmählich. Die Vogelschützerinnen und Vogelschützer hatten noch in den 1950erJahren versucht, mit unterstützenden Maßnahmen wie Buschpflanzungen und Sandfangzäunen der Verlagerung die Stirn zu bieten. Freiwillige Helferinnen und Helfer, sogar die Bundeswehr und das Technische Hilfswerk rückten an, um bei der Befestigung der Insel zu helfen, aber das sollte sich auf Dauer als zwecklos erweisen.22 Vor allem aber änderte sich allmählich die Interpretation der Sandbank. Denn nachdem die erste politische Aufladung der Insel einer ethisch-moralischen Argumentation für ihren Schutz gewichen war, wurde sie nun zunehmend unter den biologischen Vorzeichen der Habitatsentwicklung gelesen. Bereits 1971 waren große Teile des niedersächsischen Wattenmeeres mit der Unterzeichnung des Ramsar-Abkommens als Feuchtgebiete internatio40

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naler Bedeutung zum Schutz von Zugvögeln in einen weltweiten Kontext gestellt worden. Zum gleichen Zeitpunkt wurde ein letzter brachialer lokaler Versuch unternommen, die ausschließlich ökologische Bestimmung der Insel in Frage zu stellen und sie in einem Aneignungsprozess wieder enger an die Wirtschaft der Küstengemeinden anzubinden. Die Kreisfraktion der CDU forderte gemeinsam mit dem Verkehrsverein Dorum, die Fläche des Naturschutzgebietes drastisch zu verkleinern und die dadurch frei werdenden Gebiete dem Fremdenverkehr zu öffnen. Denn der Knechtsand bot, was die zunehmend vom Tourismus abhängigen Küstengemeinden an der Wesermündung schmerzlich vermissten: weißen Sandstrand. In ersten Skizzen der Zukunftsvision von einem modernen Badebetrieb war eine dichte Bebauung mit Apartmenthäusern am Dorumer Tief und ein auf der Sandbank auf Säulen ruhender Betonbau mit Restaurant und sanitären Anlagen zu sehen. Der Transfer der Badegäste vom Hafen zur Badedüne sollte durch eine »Schwebebahn«, flankiert von einem Shuttle-Service mit Kuttern und Motorbooten gewährleistet werden. Die Kosten schienen die Initiatoren nicht zu scheuen – allein für das Sessellift-Projekt war eine Investitionssumme von 2,7 Millionen DM veranschlagt. Der Badebetrieb würde die Naturschutzaufgaben des Knechtsands nicht beeinträchtigen – »im Gegenteil sollte dieses Projekt dem Naturschutzgedanken dienstbar gemacht werden«, so der CDU-Kreisvorsitzende Dr. Döhner.23 Aber der behördliche Naturschutz ließ den schillernden Traum von einer Sesselliftbahn zur Strandbar auf der Sandbank schnell platzen. Der Leiter des Instituts für Vogelforschung »Vogelwarte Helgoland«, Wilhelmshaven, wollte dem Tourismus keinen Fußbreit zugestehen: Die Freigabe auch nur eines Teils des Knechtsands würde »nicht nur dem Ansehen der Bundesrepublik schaden, sondern […] das Signal zum Ausverkauf des Naturschutzes bedeuten«.24 Es war offenkundig noch nicht gelungen, den Knechtsand als vielfältiges Habitat in der Öffentlichkeit zu verankern. Der Tourismus weckte Begehrlichkeiten. Die frühe Ikone der Kampagne, die Brandgans, die die hohe Düne selbst nicht in Anspruch nahm, sondern vornehmlich in den flachen Gewässern unterwegs war, wurde nun durchaus zum Feindbild oder wie es in einem zornigen Zeitungsartikel hieß: »Die Sände stehen unter Naturschutz und kaum jemand kennt sie aus eigener Anschauung. Wer sie gesehen hat, wird zugeben müssen, daß es in der heutigen Zeit kaum Der Knechtsand – ein Erinnerungsort in Bewegung © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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noch zu verantworten ist, wenn man diese Sände, die idealste Bademöglichkeit bieten, der Allgemeinheit vorenthält. Der Mensch dürfte nicht weniger wichtig sein als die Brandgans.«25 Die Lokalpolitik, die selbst am Kampf für die Sandbank beteiligt gewesen war, musste schließlich einsehen, dass sich dieser Ort nur schwerlich würde dahingehend neu deuten lassen, den Gewerbesteuereinnahmen der Kommune sprudelnde Quellen zu verschaffen.26 Auch wenn die Erinnerung an die widerständige Phase der 1950er insgesamt verblasste, bestand doch kein Zweifel, dass dieser Ort längst als ökologisch bedeutsamer Raum für die gesamte Bundesrepublik etabliert war. Die Konzentration auf kleinteilige Schutzkonzepte erwies sich angesichts der wissenschaftlichen Ökologisierung, die den Naturschutz im Laufe der 1970er-Jahre prägte, als zunehmend obsolet. Der Knechtsand selbst wurde bald einem auf Bundes- und Landesebene diskutierten Projekt einverleibt: Dem Nationalpark Wattenmeer, der nach einem mehrjährigen Vorlauf 1986 Realität wurde. Es scheint fast wie eine Ironie der Geschichte, dass genau zu diesem Zeitpunkt die Forschung auf dem Knechtsand aufgegeben werden musste, weil die Sandbank ihr tatsächlich keinen »Grund« mehr bot.27 Die zuständige Bezirksregierung in Lüneburg befand nicht nur, dass dieser Flecken ausreichend erforscht sei, sondern verweigerte auch die Unterstützung der Idee, die Sandbank weiter zu befestigen. Denn inzwischen hatte sich die Prämisse durchgesetzt, dass das Wattenmeer eine letzte deutsche Wildnis darstellte, in die eben nicht mehr eingegriffen werden sollte.28 Die Brandgänse indes bewiesen, dass sie sich mit der Dynamik gut arrangieren konnten. Seit 1978 war ihre Zahl vor Ort kontinuierlich gesunken – dafür wuchsen ihre Bestände um die Insel Trischen während der Mauserzeit.29 Die Gänse hatten sich eine neue Trutzburg für ihre Zeit der Fluchtunfähigkeit gesucht und ihre temporären Domizile verlagert. Erst in den 1980er-Jahren, als sich die Bundesrepublik unter dem Eindruck der Erfolge der Grünen insgesamt ökologisierte, wurde die Chronik des konkreten Protests wieder aufgefrischt – und mit ihr die Erzählung des Knechtsands. Die Naturfreunde hatten bis dato zu den wenigen überregionalen Natur- und Umweltschutzgruppen gehört, die den Protest gegen die Bombardierung des Großen Knechtsands aktiv memoriert hatten.30 Innerhalb der SPD war die Beteiligung »ihrer« Naturfreunde, die von 42

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der Partei bis dahin eher als versponnene und tendenziell zu linke Organisation stiefmütterlich behandelt worden waren, nicht aufgegriffen worden. Nun aber wurde die Aktion unter dem Eindruck der steigenden gesellschaftlichen und politischen Nachfrage an grünem Profil wieder aktiv in die eigenen Annalen eingeschrieben.31 1983 veröffentlichte der Spiegel einen großen Artikel über das bedrohte »Weltwunder Wattenmeer«, das unter der Verschmutzung von Chemieeinleitungen, Müll und chronischer Verschmutzung leide und dessen Schutz zunehmend von politischer und gesellschaftlicher Relevanz sei. Auch hier zeigte sich, dass der Kampf um den Knechtsand keineswegs vergessen war. Der Spiegel prangerte nämlich die ungebrochene militärische Nutzung des empfindlichen Ökosystems an – der Große Knechtsand diente dabei als Referenzgröße. Er werde zwar nicht mehr wie in den 1950er-Jahren als Bombenabwurfziel genutzt. »Aber praktisch überall, die Seebäder ausgenommen, jaulen Nato-Jäger im Tiefflug über Vogelwiesen und Seehundbänke.«32 Die Funktion des Ortes als Mahnmal eines Missbrauchs einer friedlichen Naturlandschaft wurde weiter tradiert. Die Zeit druckte 1988 einen Bericht des Vogelwärters von Trischen, Peter Todt, über die Folgen der Waffenerprobungsgebiete der Bundeswehr und der Rüstungsindustrie in der Meldorfer Bucht. Auch hier erinnerte der Autor an den Erfolg der Aktivistinnen und Aktivisten, die britische Regierung an den Bombenflügen auf den Knechtsand zu hindern, um dann bitter zu schlussfolgern: »Aber heute, wo wir wieder Herr im eigenen Land sind, und das Wort Naturschutz groß im Munde der Politiker geführt wird, können wir es uns angeblich nicht leisten, auf das Leben von Tieren Rücksicht zu nehmen, obwohl die Tierwelt durch Tierschutz, Naturschutz- und Nationalparkgesetze auf dem Papier geschützt ist.«33 1987 – als die Knechtsandforschung quasi an ihr Ende gekommen war – begann eine Historisierung des Ortes, als das Informationszentrum Niedersächsisches Wattenmeer in Dorum eine umfangreiche Ausstellung mit dem Titel »Knechtsand  – Geschichte einer Sandbank« eröffnete. Inzwischen hat zudem die Umweltgeschichte das spannende Narrativ dieser Auseinandersetzung wiederentdeckt34 – nicht zuletzt dank der überlieferten umfangreichen visuellen Dokumentation. In der Dauerausstellung des Museums zur Naturschutzgeschichte in Königswinter ist dem Kampf für den Knechtsand ein zentraler Platz eingeräumt worDer Knechtsand – ein Erinnerungsort in Bewegung © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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den.35 Die Revitalisierung der Erinnerung ist zum einen der Tatsache geschuldet, dass eine breitere Öffentlichkeit diese frühe Aktion nach der flächendeckenden Popularisierung des friedlichen aber gleichzeitig auch radikalen grünen Protests, den Greenpeace in seinen Kampagnen so gekonnt und erfolgreich inszenierte, neu interpretierte und so plötzlich deren eingeschriebene Modernität zu lesen verstand. Zum anderen lieferte er Figuren, der die Erzählung der Geschichte der Naturschutz- und Umweltbewegung dringend bedurfte, um sie zu individualisieren und ihr Gesichter und konkretere Konturen zu verleihen.

Die Ente und das Welterbe Tatsächlich diente der Große Knechtsand als facettenreiches Testgelände sowohl für changierende politische, gesellschaft­ liche als auch für ökologische Grundsatzdebatten. Das militärische Übungsfeld hatte der Bundesrepublik als Eintrittskarte in den Reigen souveräner Staaten gedient. Der folgende Protest hatte durch die pre-ökologische, vor allem aber als ethische Debatte um Tier- und Naturschutz gleichzeitig der Einübung von zivilgesellschaftlichem Engagement gedient. Hier zeigte sich, dass dank des transnationalen Charakters der Brandgans eine europäische Kooperation zwischen politischen und zivilgesellschaftlichen Akteuren zustande kommen konnte, die ihrerseits bewies, dass Tier- und Naturschutz als starkes Konsensthema eine durchaus friedensstiftende Funktion besaß. Aber es zeigte sich ebenso, dass der so spezifisch deutsche behördliche Naturschutz erst lernen musste, lokale beziehungsweise autonome Akteure neben sich gelten zu lassen. Der Große Knechtsand diente zudem als Experiment, in dem das Verhältnis zwischen Bund, Ländern und Gemeinden überprüft wurde – und Niedersachsen zeigte schließlich, dass das Land durchaus bereit war mittels seiner Naturschutzkompetenzen bis in die Außenpolitik mit hineinzuregieren. Vor allem aber sollte der Große Knechtsand als Versuchsanordnung für den Umgang mit der in Deutschland kaum noch vorhandenen Wildnis dienen. Die erste Generation der Protagonistinnen und Protagonisten wurde in ihrem ökologischen Bewusstsein und zivilgesellschaftlichen Gebaren ohne Zweifel von den Erfahrungen auf dem Knechtsand geprägt, aber sie wurden schließlich von ihrem per44

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sönlichen Erinnerungsort vertrieben.36 Auch die vielen Studierenden, die als Vogelwarte viele Sommer auf der Insel verbrachten, mussten sich nicht nur den wandelnden Strömungen des Wattenmeeres, sondern auch der neuen Wildnispolitik unterwerfen – und lernen, ihren privaten Nostalgieraum nicht nur loszulassen, sondern ihn gänzlich aufzugeben. Das Mosaik aus Naturschutzgebieten, von dessen Steinen der Knechtsand der mit Abstand größte war, wurde dem sich seit 1970 beschleunigenden großräumigen Ökologieverständnis nicht mehr gerecht. Es wurde zunehmend in globalen Zusammenhängen gedacht. Eine Sandbank blieb eine Sandbank, aber nun wurde sie Teil  des Netzes international bedeutsamer Feuchtgebiete, dann Nationalpark, schließlich Biosphärenreservat. Sie bediente die Forderungen der Vogelschutz-Richtlinie der EU und der FloraFauna-Habitat Richtlinie der EU. Der Knechtsand war eines der historischen Kernstücke des expandierenden Naturschutzregimes und hatte eine avantgardistische Rolle bei der Inwertsetzung des ökologischen Gesamtraums Wattenmeer gespielt, aber seine spezifische Bedeutung wurde im Zuge dieser kumulativen Entwicklung von anderen ökologischen Höhepunkten überlagert.37 Die vorläufige Krönung ist die Integration in das globale Welterbesystem der Vereinten Nationen.38 Für die Nominierung musste nicht nur eine umfassende wissenschaftliche Expertise, sondern auch die Zustimmung von Menschen und Gemeinden in drei verschiedenen Ländern gewonnen werden. Vor allem aber musste das Denken der Naturschutzszene in gewisser Weise die Richtung ändern, wie es der am Nominierungsprozess aktiv beteiligte Biologe Karsten Reise beschrieb. Jahrelang hatte man gebetsmühlenartig vor den vielfältigen Gefahren für das Wattenmeer gewarnt. Nun musste man seine Vorzüge hervorheben: Worin war das Wattenmeer »trotz alledem am besten geblieben?« Denn das Label Weltnaturerbe ist nicht zuletzt eine Auszeichnung für die Erfolge des Schutzes: »Die Anerkennung zum Weltnaturerbe ist nicht nur eine objektive Einschätzung der Naturwerte, sondern belohnt wird auch die Leistung der Menschen um den Erhalt dieser Natur.«39 Mit der Nobilitierung des Wattenmeers geht eine Historisierung des Raumes einher, wie der Begriff des »Erbes« deutlich signalisiert. Das Weltnaturerbe ist eben nicht Ausdruck einer vergessenen und deshalb zufällig erhaltenen Natur, sondern vor allem Ausdruck einer aktiv erinnerten – und deshalb geschützten Landschaft. Der Knechtsand – ein Erinnerungsort in Bewegung © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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In diesen Historisierungsprozess ist der Erinnerungsort Knechtsand zwar in mehrfacher Hinsicht eingebettet, geht gleichzeitig aber in dessen Weiten verloren. Durch die neue Perspektive des Welterbes kann er ex post neu und vielleicht auch komplexer erinnert werden – nicht zuletzt als erstaunliche Vorwegnahme von zivilgesellschaftlichem Engagement, der Europäisierung des Naturschutzes und der zum Teil sehr widersprüchlichen Heterogenität von Schutzinteressen und deren Vergänglichkeit. Es zeichnet sich ab, dass er im Verlauf des Tradierungsprozesses des Gesamtraums Wattenmeer wieder ein individuelleres narratives Profil bekommen könnte, weil er die Kristallisationspunkte im Netz der ökologischen Erinnerungsfäden so griffig macht. Und weil seine Ikone, die Brandgans, uns bis heute als gut sichtbare und signifikante Erscheinung nicht nur an die ökologische, sondern auch an die historischen Anpassungsprozesse in einem dynamischen System erinnert. Kurz vor der Auszeichnung war allerdings noch einmal deutlich geworden, wie fragil der Status selbst eines hoch dekorierten Naturschutzgebietes letztlich sein kann. In Zeiten knapper werdender Ressourcen erinnerte sich das Energieunternehmen RWE Dea AG nämlich an die vermuteten Erdölvorkommen in unmittelbarer Nachbarschaft des Knechtsands, die bereits im Knechtsand-Abkommen 1952 erwähnt worden waren, und trieb die Projektierung von Probebohrungen voran. Tatsächlich wurden in der Anmeldung zum Weltnaturerbe diese Projektierungen billigend zur Kenntnis genommen. Fest steht allerdings auch, dass die etwaige Förderung nur außerhalb des Nationalparks stattfinden darf. Aber diese externen Zugriffe mittels kilometerlanger Bohrsysteme und Pipelines trieb die Naturschutzverbände auf die Barrikaden.40 2008 kündigte der Konzern zwar an, nach der Förderplattform Mittelplate, die 1987 gegen heftigen Protest in Betrieb gegangen war, keine weiteren Plattformen im Wattenmeer verankern zu wollen. Aber die Pläne sind deswegen noch nicht endgültig vom Tisch. Fossile Begehrlichkeiten können solche Projekte rasch wieder beleben. Wer weiß – vielleicht muss in nicht allzu ferner Zukunft wieder eine Allianz aus Aktivistinnen und Aktivisten der inzwischen globalisierten Community des Heimat- und Naturschutzes den Knechtsand besetzen, um diesmal eben nicht nur eine Sandbank, sondern einen Teil des Menschheitserbes zu verteidigen. 46

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Anmerkungen 1 Die für diesen Beitrag relevanten archivalischen Bestände für die Geschichte des Knechtsand-Protestes finden sich im Niedersächsischen Hauptstaatsarchiv, im Stadtarchiv Cuxhaven und im Archiv Naturschutzgeschichte in Königswinter (Bestand Frels). Dort befindet sich auch der Nachlass von B, Freemann. 2 Der Wortlaut des Abkommens zwischen Großbritannien und der Bundesrepublik (Nr. 1997) findet sich unter www.untreaty.un.org/unts/1_60 000/4/25/00007214.pdf (zuletzt aufgerufen am 20.12.2010). 3 Flensburger Tageblatt, »Norderoog – die Vogelfreistätt in Gefahr«, 14.6. 1951. Schriftwechsel des Vereins Jordsand mit der Zentralstelle für Naturschutz und Landschaftspflege, dem Tierschutz-Verein Hamburg und der Schutzgemeinschaft Deutsches Wild im Juni 1951 im Archiv des Verein Jordsand, Ahrensburg, Akte »Diverses«. 4 Dokumentation einer »Protestversammlung«, 9.11.1951, Stadtarchiv Cux­ haven, StaCu 467 »Bombenabwürfe auf Knechtsand«. 5 Zeitzeugengespräch mit K. H. Carstens, 30.5.2001  – allerdings reagierten die Fischer mit einem abweisenden »Dat geit nich – wech mit Politik« auf die Avancen. Siehe auch Schreiben der kommunistischen Abgeordneten des niedersächsischen Landtags an den Präsidenten des Landtags, 8.9.1954, StaCu 467. 6 Nordsee-Zeitung, »Entschädigung der Knechtsand-Fischer«, 22.1.1954; Nordsee-Zeitung, »Bisher stärkster Übungsangriff«, 23.1.1954. 7 Nordsee-Zeitung, »Backofen widerstand Luftdruckwellen nicht«, 11.9. 1954; Nordsee-Zeitung, »Knechtsandausschuß: So geht es nicht weiter«, 14.9.1954. 8 Nordsee-Zeitung, »Bombenlärm ist keine Erholung«, 17.8.1954. 9 Nordsee-Zeitung, »Verletzte Seehunde angetrieben«, 8.7.1954. 10 Nordsee-Zeitung, »Unter dem Kreuz vom Großen Knechtsand«, 17.9. 1954. 11 Niedersächsische Landesstelle für Naturschutz und Landschaftspflege an die Schutzgemeinschaft Deutsches Wild e. V., 18.6.1951. Abschrift im Archiv Verein Jordsand, Ahrensburg, Akte »Diverses«. 12 Anna-Katharina Wöbse, Die Bomber und Brandgans. Zur Geschichte des Kampfes um den ›Knechtsand‹, in: Jahrbuch Ökologie 2008, München 2007, S. 188–199; S. 193. 13 In den Jahren zwischen 1951 und 1958 wurden in der Times 16 Artikel zum Knechtsand-Konflikt publiziert. 14 Vgl. Friedrich Goethe, Über den Mauserzug der Brandenten (Tadorna tadorna L.) zum Großen Knechtsand, in: Wilhelm Meise, Fünfzig Jahre Seevogelschutz: Hamburg, Verein Jordsand 1957, S. 96–106. 15 Wolfgang Kraushaar, Die Protest-Chronik 1949–1959, Band 1: 1949– 1952, Hamburg 1996, S. 343. Nordsee-Zeitung, »Helgolandfeuer für den Großen Knechtsand«, 3.1.1952. Vgl. auch Der Knechtsand, MitteilunDer Knechtsand – ein Erinnerungsort in Bewegung © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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gen der Schutz- und Forschungsgemeinschaft Knechtsand, e. V., Februar 1958. Verordnung über das Naturschutzgebiet »Vogelfreistätte Knechtsand« im Wattenmeer nordwestlich des Landes Wursten, Landkreis Wesermünde, Amtsblatt der Regierung in Stade, 9.10.1957, S. 71. Der Lehrer Freemann bekam ab 1961 beispielsweise keine Betretungs­ genehmigung mehr. Als er das Naturschutzgebiet dennoch betrat, wurde von der Unteren Naturschutzbehörde Anzeige gegen ihn erstattet. Auszug aus den Strafakten des Amtsgerichts Dorum, 1963, im Bestand »Frels«, Stiftung Naturschutzgeschichte, Königswinter. Siehe für die wiederholte Forderung, die Sandbank für Führungen zugänglich zu machen, Nordsee-Zeitung, »Knechtsand-Freunde: Besucher sollen Insel betreten dürfen«, 18.4.1977. Die Aktionen sind fotografisch reich dokumentiert worden. Bildarchiv der Stiftung Naturschutzgeschichte, Königswinter, Bestand »Frels«. Zeitzeugengespräch in Wremen, 30.5.2001. Nordsee-Zeitung, »Früher Einsatz für die Natur«, 31.5.2001. Gespräch mit Hans Fricke, 8.4.2008. Hans Oelke, Die Brandgans (Tadorna tadorna)  im Mausergebiet Großer Knechtsand, in: Journal of Ornithology Volume 110, Number 2, 1969, S. 170–175. Ders., Beiträge zur Naturkunde Niedersachsens. KnechtsandHeft, Selbstverlag, Peine 1979. Nordsee-Zeitung, »Immer noch das Paradies der Seevögel«, 16.12.1964. Nordsee-Zeitung, »Knechtsand soll Badedüne werden«, 16.4.1971. S.a. zu Kritik der Kreistagsfraktion der SPD: Nordsee-Zeitung, »Bedenken gegen Knechtsand-Projekt«, 28.4.1971. Goethe zitiert in: Wilhelmshavener Zeitung, »Freigabe des Knechtsandes würde den Ausverkauf des Naturschutzes einleiten«, 10.7.1971. Nordsee-Zeitung, »Da hört Naturschutz auf«, 20.7.1971. Nordsee-Zeitung, »Zehntausende von Brandgänsen zur Zeit am Großen Knechtsand«, 18.8.1971. Nordsee-Zeitung, »Stürtz: Von 9 Hektar blieb nur ein kläglicher Rest…«, 26.4.1986, und Nordsee-Zeitung. »Schutzgemeinschaft Knechtsand: Ohne Wohnturm keine Forschung«, 3.11.1986. Vgl. Cuxhavener Nachrichten, »Aus für die Knechtsand-Forschung?«, 2.5.1985; Nordsee-Zeitung, »Grüne Insel versinkt im Meer«, 12.8.1985. Georg Nehls, Brandentenmauser im Wattenmeer, in: Nationalpark Niedersächsisches Wattenmeer, Umweltbundesamt (Hg.), Umweltatlas Wattenmeer, Band 2: Wattenmeer zwischen Elb- und Emsmündung, Stuttgart 1999, S. 86 f. Vgl. Hans Fricke, Begegnung mit Tadorna, in: Naturfreunde Kinderpost, 41. Jg., 5 (September 1989), S.  8–11. Jochen Zimmer, Wulf Erdmann, Hundert Jahre Kampf um die freie Natur: illustrierte Geschichte der Naturfreunde, Essen 1991. Ulrich Grober, 100 Jahre Rot-Grün, in: Die Zeit, 4.8.2005. Viele Dokumente der Naturfreunde-Geschichte und der Knechtsand-Aktion sind im Eco-Archiv erhalten, dessen Bestände inAnna-Katharina Wöbse © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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zwischen im Archiv der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn unter­gebracht sind. Anonym, »Die ersten Grünen«, in: Der Spiegel 3 (1985), S.  39–42. Vgl. auch Jochen Zimmer, Mit uns zieht die neue Zeit. Die Naturfreunde. Zur Geschichte eines alternativen Verbandes in der Arbeiterkulturbewegung, Köln 1984. Der Spiegel, »Erst stirbt der Seehund, dann der Mensch«, in: Der Spiegel 32 (1983), S. 34- 55; S. 51. Peter Todt, Krieg im Wattenmeer, in: Die Zeit, 5.8.1988, Rubrik »Reisen«. Jens Ivo Engels, Naturpolitik in der Bundesrepublik. Ideenwelt und politische Verhaltensstile in Naturschutz und Umweltbewegung 1950–1980, Paderborn 2006. http://www.naturschutzgeschichte.de/5_museum/museum.html (zuletzt aufgerufen am 15.4.2013). Nordsee-Zeitung, »Vogelland Knechtsand«, 24.7.1976. WWF Deutschland (HG.): Bilanz über 20 Jahre Nationalpark Niedersächsisches Wattenmeer. WWF, Frankfurt a. M. 2006. Deutsche UNESCO-Komission: http://www.nationalpark-wattenmeer.de/ nds/nationalpark/steckbrief (zuletzt aufgerufen am 15.4.2013). Karsten Reise, Denkanstöße, in: Martin Stock, Ute Wilhelmsen, Weltnaturerbe Wattenmeer, Neumünster 2009, S. 32. www.wwf.de/presse/details/news/erster_erfolg_im_streit_mit_der_oel industrie/printer.html; www.greenpeace.de/themen/meere/nachrichten/ artikel/keine_oelbohrungen_im_nationalpark_wattenmeer/ (zuletzt aufgerufen am 15.4.2013).

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Joachim Radkau

Der »Größte Anzunehmende Unfall«

Der »GAU« oder »GaU«, das populäre Kürzel für den »größten anzunehmenden Unfall« speziell bei Kernkraftwerken, markiert zumindest semantisch den Ort, an dem vor allem die kernkraft­ kritische bundesdeutsche Publizistik seit der Mitte der 1970erJahre den nuklearen Alptraum mit Vorliebe lokalisierte und attackierte. Genau besehen handelt es sich um einen schillernden Begriff, dessen Kontexte zwischen Kernkraft-Apologetik und Kernkraft-Kritik pendelten und dessen Geschichte aus lauter Kuriositäten besteht. Im Umgang mit dem »GAU« spiegeln sich die Einstellungen von Gegnern und Befürwortern der Kernkraft und ihr Wandel im Laufe der Zeit, und wie in einem Brennglas vereint der Begriff damit die Paradoxien der deutschen nuklearen Kontroverse. Erst in der jüngsten Vergangenheit lässt sich eine Art Konvergenz erkennen. Indem sich dieser Beitrag auf Deutschland konzentriert, soll keineswegs suggeriert werden, dass sich die Geschichte der Kernenergie allein im nationalstaatlichen Rahmen verstehen ließe. Schon die Genese des Begriffs lässt die transnationale Vernetzung der nuklearen Geschichte erahnen. Der GAU entstand als Verdeutschung des amerikanischen Maximum Credible Accident (MCA), der jedoch nie auch nur entfernt die Popularität seines deutschen Pendants erreichte. Im Deutschen bekam der GAU eine Assonanz an »Grauen« – nichts mehr von dem altdeutschen Gau-Begriff, der noch im »Rheingau« fortlebt, durch die nationalsozialistischen Gauleiter allerdings einen fatalen Beigeschmack bekam. Vom ursprünglich gemeinten Wortsinn her sollte der »größte anzunehmende Unfall«  – die Abkürzung »GAU« war innerhalb der nuklearen Community nicht korrekt – den »Auslegungsstörfall« bezeichnen: den maximalen Störfall, für dessen Beherrschung die Reaktoren – angeblich – ausgelegt waren und der deshalb im Interesse der Genehmigungsfähigkeit von Kernkraftwerken mit dem größten unter realistischen Annahmen vorstellbaren Störfall 50

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gleichgesetzt wurde. Aber »anzunehmend« ist ein mindestens so mehrdeutiger Begriff wie »credible«, »glaubwürdig«. Konnte man nicht auch größere, durch die Reaktorauslegung nicht beherrschbare Störfälle »annehmen«? Der »GAU«, der eigentlich zur Beruhigung erfunden worden war, entwickelte in den Medien eine alarmierende Eigendynamik. Diese erfanden dazu den »Super-GAU«. Der konnte im Kontrast zum beherrschbaren GAU als nicht mehr zu beherrschende Katastrophe, aber auch als weitere Steigerung eines schon in sich grausigen GAU verstanden werden. David Okrent, Maschinenbaulehrer an der University of California-Los Angeles und in den 1960er-Jahren Mitglied des amerikanischen Advisory Committee on Reactor Safeguards (ACRS), der 1981 die bis heute kundigste und detaillierteste Insider-Darstellung der frühen amerikanischen Expertendiskurse zur Reaktor­ sicherheit publizierte, fand den MCA-Begriff in den internen Unterlagen der Atomic Energy Commission (AEC), zu denen er Zugang besaß, zuerst 19591; auch in den Akten der Deutschen Atomkommission (DAtK) taucht er  – noch ohne Eindeutschung  – zuerst in jenem Jahr auf.2 Woher dieser Begriff stammte, vermochte selbst Okrent nicht zu klären. Aber schon das Schweigen der Akten verrät, dass das MCA-Konzept weder sicherheitstechnischen Experimenten noch sicherheitsphilosophischen Expertendiskussionen entsprungen war. Wie hätte das auch geschehen können? Damals, 1959, gab es mit zivilen Kernkraftwerken nur ganz geringe Betriebserfahrungen. Das erste zivile amerikanische Kernkraftwerk, Shippingport war erst 1957 in Betrieb gegangen, und mit seinen 90 MW handelte es sich nach späteren Maßstäben um ein »Liliput-Kraftwerk«. Bei dem MCA handelte es sich offenbar um eine zur formalen Absicherung der Genehmigungsfähigkeit von Reaktoren erfundene Fiktion in Analogie zur Definition der Druckfestigkeit bei Stahlträgern und vergleichbaren Komponenten der Großtechnik: Wenn ein solches Artefakt einem maximalen Druck standhält, kann man davon ausgehen, dass es auch eine geringere Druckbelastung erträgt, zumindest eine solche in gleicher Richtung. Dass man mit einer derart simplen linearen Kausalität die Risiken einer hochkomplexen Technologie wie der Kerntechnik mitnichten in den Griff bekommt, war im Prinzip von Anfang an klar. Wenn eine Eisenbahnbrücke dem Druck von sechzig Waggons standhält, wird sie auch unter dreißig Waggons nicht einstürzen; bei KernDer »Größte Anzunehmende Unfall« © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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kraftwerken ist jedoch das maximale Risiko ungleich schwerer zu bestimmen, und selbst wenn man gegen dieses wirksame Vorkehrungen getroffen hat, ist noch längst nicht gesagt, dass man damit alle anderen Risiken beherrscht. Diese sind eben nicht alle gleichartig und lassen sich nicht je nach Quantität an einer Linie auf­reihen. Nicht in jeder Hinsicht war diese Situation ganz neu. Auch Stahlträger, die einem Stresstest standgehalten hatten, konnten durch Materialermüdung im Laufe der Jahrzehnte an Festigkeit verlieren; Brücken konnten durch Flutwellen und Sturmböen zerstört werden wie die Eisenbahnbrücke über den Firth of Tay in der berüchtigten Sturmnacht des Dezember 1879. Materialermüdung und Einwirkungen von außen, später EVA abgekürzt, gehören zu den unübersichtlichsten Risikosektoren der Großtechnik; durch die Laufzeitverlängerung von Kernkraftwerken und jüngst durch Fukushima bekamen sie eine Brisanz wie noch nie. Im Konzept des GAU hatten diese Risiken keinen Platz. Clifford Beck, der damalige Leiter der Hazards Evaluation Branch der AEC, erklärte im Juni 1959 – zu einer Zeit, als die Debatte über das nukleare Risiko noch nicht durch getätigte Milliardeninvestitionen belastet war  – in einem Vortrag Safety Factors to Be Considered in Reactor Siting auf einer Reaktortagung in Rom unverblümt: »Es ist prinzipiell unmöglich, für ›glaubwürdige Störfälle‹ eine objektive Definition oder Spezifizierung zu geben, und daher zieht der Versuch, diese für einen vorgegebenen Reaktor zu definieren, ein Gefühl von Frustration und Vergeblichkeit nach sich, zumal man nie sicher sein kann, dass alle potentiellen Störfälle berücksichtigt sind.« Welche Konsequenzen zieht er daraus? Zum einen die Forderung nach einem massiven Containment, von dem man hoffen kann, dass es auch im schlimmsten Fall noch standhält und das darüber hinaus ein optisch eindrucksvolles und »intuitiv attraktives« Bollwerk gegen horrende Eventualitäten biete, zum anderen jedoch das Postulat, Kernkraftwerke nur weitab von bevölkerungsreichen Gebieten zu errichten.3 Diese letzte Forderung brachte dicht besiedelte europäische Länder in die Bredouille. Auch in den USA avancierte sie nicht zur offiziellen Reaktorsicherheitsphilosophie, wurde jedoch inoffiziell zunehmend zur Regel. Darauf wies ausgerechnet Heinrich Mandel, der später in den Medien als »Atompapst« apostrophierte Protagonist der Kernenergie im RWE, 1966 das Bundesforschungs52

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ministerium hin, um Pläne der Großchemie für firmeneigene Kernkraftwerke in »Hoechst, Leverkusen oder Ludwigshafen« zu hintertreiben.4 Konkrete Gestalt gewann vor allem das BASF-Projekt in Ludwigshafen; als das RWE, das in nächster Nähe Biblis plante, dazu beitrug, dass die Bundesregierung das BASF-Projekt untersagte, tobte man an der Spitze der Chemie über die »barbarische Brutalität des RWE«.5 Noch nie war man bis dahin in Bonn derart gezwungen worden, sich gegenüber dem »Restrisiko« jenseits des »Auslegungsstörfalls« so konkret zu verhalten, wie durch die Konfrontation mit dem Ludwigshafen-Projekt6: Hier könnte man den GAU als überraschenden Erinnerungsort lokalisieren. Eine versteckte Ironie der Geschichte: In gewissem Sinne hat kein anderer als der »Atompapst« Mandel, der am meisten zum Siegeszug der Leichtwasserreaktoren beitrug, in der Bundesrepublik die ersten seriösen Hinweise auf den »Super-GAU« geliefert, der fortan zum Fanal der größten Anti-AKW-Bewegung der Welt wurde. Der Reaktorsicherheitsreferent des bundesdeutschen Atomministeriums reagierte auf das MCA-Konzept von Anfang an skeptisch: Das sei eine »in der konventionellen Sicherheitspraxis nicht vorkommende Betrachtung«. Der zuständige DAtK-Arbeitskreis bemerkte schon 1958, man müsse zwischen dem »maximal beherrschbaren« und dem »maximal denkbaren« Störfall unterscheiden: im Grunde eine simple Logik, die jedoch später nur noch von Gegnern der Kernkraft ins Feld geführt wurde. K. E. Zimen vom Berliner Hahn-Meitner-Institut erklärte dem Bundesatomministerium 1961: »Es liegt in der Natur der Sache, dass ein ›glaubwürdiger‹ Maximalunfall keine objektiv angegebene Größe ist, sondern von subjektiven Faktoren abhängt. Einzig und allein der ›größtmögliche‹ Unfall (gleich momentane Freisetzung sämtlicher Spaltprodukte in die Atmosphäre als radioaktive Wolke über dem zerstörten Gebäude) ließe sich objektiv formulieren […]. Daher ist es nur natürlich, dass in den Sicherheitsberichten verschiedener Kernenergieanlagen sehr verschiedene ›Philosophien‹ bei der Definition des glaubwürdigen Maximalunfalls zutage treten […]«. Hielte man sich nämlich an den einzigen exakt definierbaren größtmöglichen Unfall, dann bliebe in den »bewohnten Gebieten der Erde« kaum mehr ein Reaktorstandort übrig. Kein Versicherungsunternehmen wäre in der Lage gewesen, diesen Maximalunfall zu erträglichen Konditionen zu versichern. Der »Größte Anzunehmende Unfall« © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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Hätte die Atomwirtschaft das gesamte Risiko selber tragen müssen, hätten sich zwangsläufig solche Reaktortypen durchgesetzt, die bereits durch ihre Konstruktion und Funktionsweise das Maximalrisiko in engen Grenzen gehalten hätten. Das hohe Spaltstoffinventar der Leichtwasserreaktoren, das das »Restrisiko« so horrend macht, erklärt sich daraus, dass diese abgeschaltet werden müssen, um mit neuem Spaltstoff beladen zu werden, und diese Abschaltung ein recht aufwendiger Prozess ist. Daher waren in der nuklearen Frühzeit auch andere Reaktortypen im Gespräch – in der Bundesrepublik der Kugelhaufenreaktor, in England und den USA pebble-bed reactor genannt –, bei denen der in Graphit­hüllen eingeschweißte Spaltstoff permanent durchläuft. Dieser Reaktortyp gelangte jedoch über vereinzelte Prototypen nicht hinaus; er hatte keine mächtige »Community« hinter sich, die diesen neuartigen Reaktortyp, der bisherige Entwicklungspfade verließ und andersartige Risiken mit sich brachte, bis zur technischen Perfektion und Marktreife hätte voranbringen können. Der Leichtwasserreaktor, der sich weltweit durchsetzte, profitierte davon, dass er in seinem Kühlkreislauf an die bestehenden Dampfkraftwerke anknüpfte und die für diesen Reaktortyp erforderlichen Urananreicherungsanlagen schon in den Militärkomplexen zur Verfügung standen. Die Privatwirtschaft hätte damals nicht im Traum daran denken können, diese extrem aufwendigen Anlagen auf eigene Kosten zu erstellen. Die Leichtwasserreaktoren dagegen gaben diesen teuren Fossilen des nuklearen Wettrüstens einen zivilen Sinn und einen Schein ökonomischer Rationalität. Den Atommächten dienten sie insgeheim dazu, einen Teil der militärischen Kosten zu verstecken. Mit dem »größten anzunehmenden Unfall« ließen sich mancherlei Manipulationen anstellen. Um 1960 suchten Teile der deutschen nuklearen Community, den GAU sogar in eine Sonderlizenz zu verdrehen: Die den damaligen Euratom-Normen entsprechende Toleranzdosis von 0,5 rem pro Jahr dürfe bei einem GAU auf das Fünfzigfache erhöht werden! Da musste Karl Wirtz, der technische Leiter und mitunter Zuchtmeister des Kernforschungszentrums Karlsruhe, manchen Kombattanten energisch den Kopf zurechtsetzen.7 In den frühen 1960er-Jahren setzte sich beiderseits des Atlantiks eine handfeste technische Definition des GAU durch, mit der nicht nur die Juristen, sondern auch die Ingenieure etwas anfangen konnten: der GAU als Bruch der Haupt­kühlleitung  – 54

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mittels derer die Reaktorhitze Turbinen antreibt  – und das Notkühlsystem als jene Installation (»Auslegung«), die diesen Störfall beherrscht. Seither steht jedoch die große Frage im Raum und hat durch Fukushima eine neue brennende Aktualität erlangt, wieweit auf ein derartiges Notkühlsystem Verlass ist, das nur äußerst selten im Ernstfall erprobt wird und dann womöglich einen Reaktorkern durchdringen soll, in dem heiße Kettenreaktionen bereits eskalieren und das Kühlwasser im Augenblick zerzischen lassen. Zweifel daran gab es von Anfang an und nicht zuletzt bei solchen Experten, die von den Vorgängen im Reaktor sehr konkrete Vorstellungen besaßen. Durch den internationalen Kernkraft-Boom, der Ende der 1960er-Jahre einsetzte, wurde diese Problematik akut und brisant, zumal sich nunmehr die Leichtwasserreaktoren durchsetzten, die nicht mit Natururan, sondern mit angereichertem Uran betrieben werden und dadurch eine höhere Leistungsdichte besitzen. Aber gerade da wurde es immer schwerer, aus dem neuen Risikobewusstsein praktische Konsequenzen zu ziehen. Ein Experte des Instituts für Reaktorsicherheit warnte 1969, dass »bezüglich Notkühlwirksamkeit […] für alle Leichtwasserreaktoren auf der Welt eine echte Wissenslücke« bestehe. In der Bundesrepublik wie in den USA wurden zu jener Zeit entsprechende Forschungsprojekte initiiert; und obwohl man sich mit Modellversuchen und Computersimulationen begnügte  – die Unmöglichkeit realistischer Groß-Experimente ist das Grund-Dilemma der Kerntechnik! –, waren die Resultate nicht gerade beruhigend.8 Genau zu der Zeit, als der weltweite Siegeszug der Leichtwasser­ reaktoren begann, vollzog sich hinter den Kulissen eine »Revolution in Sachen Leichtwasser-Sicherheit« (David Okrent): Man erkannte, dass eine Kernschmelze und die dadurch verursachte Beschädigung des Containments durchaus keine ganz und gar unglaubwürdigen Eventualitäten waren.9 Aber jetzt waren Milliarden investiert, und man konnte oder wollte von diesem Technologiepfad nicht mehr zurück. Mit einer gewissen Logik wanderte die Risikodiskussion, die innerhalb der zuständigen Expertenkreise stecken blieb, in die Öffentlichkeit ab. Es hat seine Gründe, wenn der Kernenergie-Konflikt gerade zu jener Zeit weitere Kreise zu ziehen begann, obwohl keine nukleare Katastrophe vor Augen stand, die eine allgemeine Panik ausgelöst hätte. Es fehlt in der Geschichte der Kernenergie nicht an Versuchen, Widerstand zu Der »Größte Anzunehmende Unfall« © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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pathologisieren und als irrationale Psychose hinzustellen; der Topos der »Radiophobie«, den Karena Kalmbach in ihrem Beitrag diskutiert, steht insofern in langen Traditionen. Umso nachdrücklicher ist zu betonen, dass die Frage der Sicherheit unter Experten kontrovers diskutiert wurde, lange bevor sich um die Kernkraft eine öffentliche Kontroverse entspann. Die Geschichte des AntiAKW-Protests gehört im großen und ganzen eben doch in die Geschichte der Aufklärungen, nicht der Massenpsychosen. Es waren wesentlich Insider-Informationen, nicht wilde Spekulationen aufgeregter Laien, die dazu führten, dass sich der Protest gegen die Kernkraft auf den »Super-GAU« einschoss.10 Das erste umfassende Argumenten-Arsenal der bundesdeutschen Atomkraft-Gegner, das 470-Seiten-Opus von Holger Strohm »Friedlich in die Katastrophe«, das im Oktober 1973 erschien11 – mit jeder neuen Auflage schwoll sein Umfang an, bis er BibelFormat besaß  –, schöpfte aus der damals schon bemerkenswert umfang- und kenntnisreichen kernkraftkritischen Publizistik der USA; Strohm war Gründer der deutschen Sektion der Friends of the Earth, der ersten internationalen Umwelt-NGO, die 1969 der charismatische David Brower ins Leben gerufen hatte, als er den bis dahin kernkraftfreundlichen Sierra Club unter Protest verließ und die ebenso berühmte wie paradoxe Parole ausgab »Think globally – act locally!«, die gegenüber der nuklearen Problematik mehr Sinn machte als auf manchen anderen Umwelt-Kampffeldern.12 In Strohms erster Auflage ist der MCA allerdings noch kein Thema; auch die Verdeutschung »GAU« war noch nicht geläufig. Diese Begriffe gehörten damals noch zum Vokabular der Kernkraft-Befürworter; erst in den darauf folgenden Jahren entwickelte der GAU in den deutschen Massenmedien sein Eigenleben. Ob es klug war, sich auf das vor Harrisburg und Tschernobyl noch recht nebulöse Katastrophenrisiko einzuschießen und es nicht weitsichtiger und juristisch durchschlagender gewesen wäre, stattdessen die chronische, durch ihre Jahrtausend-Dimension letztlich unlösbare Endlager-Problematik in den Mittelpunkt zu rücken, war unter Kernkraft-Gegnern umstritten; da haben sich ihre Haupt-Zielscheiben im Lauf der Jahrzehnte hin und her verschoben. Als 1986 der Super-GAU von Tschernobyl geschah, waren auch viele alte Anti-AKW-Kämpen konsterniert, die sich im Zuge der Kampagnen gegen die Nachrüstung primär auf das der Kerntechnik innewohnende Proliferationspotential  – die Bereit56

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stellung von Spaltstoff und Know-how für die atomare Waffenproduktion – eingeschossen hatten. Seit den 1990er-Jahren stehen die Atommülltransporte nach Gorleben im Mittelpunkt der Proteste. Als sich 2011, genau ein Vierteljahrhundert nach Tschernobyl, die Katastrophe von Fukushima ereignete, war deshalb längst die Entsorgungsproblematik zum Hauptobjekt der Gegenbewegung geworden, in der Bundesrepublik wie in anderen Ländern. Für wie »glaubhaft« man welche Katastrophe hält, hängt wesentlich von unvorhersehbaren Geschehnissen ab. Während GAU und Super-GAU nach wie vor Reizworte der deutschen Medien sind, hat sich der Sicherheitsdiskurs – sofern er das GAU-Konzept überhaupt je ernst genommen hat – längst von der damit verknüpften Denkweise weit entfernt. Ludwig Merz, in den 1960er-Jahren ein führender Kopf der bundesdeutschen Reaktorsicherheitskommission, der durch wachsende Einsicht in das nukleare Risiko zum Plädoyer für die unterirdische Reaktorbauweise gelangte und sich dadurch isolierte, bekannte 1981 dem Verfasser, der »unglückliche GAU« sei in Wahrheit eine bloße Fiktion der formalen Genehmigungsvorschriften und keine Sicherheitsphilosophie  – er sei nur zu einer solchen hochgespielt worden.13 Dass das GAU-Konstrukt dennoch in der Praxis der Genehmigungsprozeduren aus Trägheit weiter fortgeschleppt wurde, verfolgte man selbst im Kernforschungszentrum Karlsruhe mit Unbehagen.14 Am 29.  März 1979, einen Tag nach dem Störfall von Harrisburg, berief der Deutsche Bundestag eine Enquete-Kommission »Zukünftige Kernenergie-Politik« ein. Unter den vielen dann folgenden Enquete-Kommissionen ist sie bis heute vorbildlich geblieben. Bis zu einem gewissen Grade gelang es ihr, in einer Situation, in der der Konflikt um die Kernenergie bis an den Rand des Bürgerkrieges geraten war, zwischen Befürwortern und Kritikern der Kernkraft einen Konsens herbeizuführen. So wurde man sich da­ rüber einig, dass auf probabilistische Berechnungen über die Häufigkeit oder Seltenheit eines »Super-GAU« kein Verlass sei und es von daher nicht anginge, die extremen Folgen eines Maximalstörfalls mit Hinweis auf seine angeblich extrem minimale Eintrittswahrscheinlichkeit zu bagatellisieren.15 Auch die Versicherungswirtschaft, deren Kalkulationen sich üblicherweise auf die Wahrscheinlichkeitsrechnung gründeten, hatte sich im Fall der Kernkraftwerke nicht auf den Probabilismus verlassen. Der »Größte Anzunehmende Unfall« © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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Bahnbrechend wurde das 1984 erschienene Opus Normal ­ ccidents des Yale-Soziologen Charles Perrow, der 1979 als BeA rater der von Präsident Carter eingesetzten Kommission zur Untersuchung des Reaktorstörfalls von Harrisburg alias Three Mile ­Island fungiert hatte. Da vertrat Perrow mit einer Kombination von historischer Empirie und Organisationssoziologie die These, dass unerwartete, unvorhersehbare Störfälle zur Normalität hochkomplexer, eng verkoppelter Großtechnologien gehören.16 Demnach ist die gesamte Fixierung des Sicherheitskalküls auf einen bestimmten imaginären Maximalstörfall von Grund auf verkehrt; vielmehr kommt es, wenn man sich schon auf derartige TechnikKomplexe einlässt, ganz darauf an, die Sicherheitsvorkehrungen auf den Umgang mit unvorhergesehenen Vorkommnissen hin zu konditionieren. Dafür lieferte Tschernobyl, kurz nachdem Perrows Buch international bekannt wurde, die drastische Illustration. Die Reaktor­ katastrophe in der Ukraine inspirierte mehr Visionen als neue Theorien. Wolf Maahn verfasste damals seinen Super-GAU-Song: »Oohoho Tschernobyl Das letzte Signal vor dem Overkill Heh, heh, stoppt die AKW’s!«

Maahn erwähnte die »Strahlenmesstrupps«, die ihre Geigerzähler »über Milch und Kopfsalat« hielten, und die Ängste von Kindern, die im Regen gespielt haben und nun fürchten, verstrahlt zu sein. Und doch regiert der Zweifel, ob die Katastrophe tatsächlich ein Umdenken bewirken würde: »Kanzler und Parteichefs setzen weiter auf Atom/Lassen Sonne, Wind und Wasser ungenutzt um uns herum …« Am Ende spekuliert Maahn, die Politiker wollten vielleicht »Kaiser Nero in den Schatten stellen/Der ja nur eine Stadt in Brand setzte.« Zu dieser Zeit wurde der GAU zu einem Teil der Alltagssprache, was man durchaus als Indiz für eine gewisse Stabilisierung der kollektiven Erinnerung interpretieren kann. Der Kontext der nuklearen Kontroverse wurde dabei zunehmend unscharf: Einen GAU konnte es seither in allen möglichen Bereichen des Lebens geben. Als Frankreich 2005 kurz vor der Abstimmung über den europäischen Verfassungsvertrag stand, schrieb der Spiegel mit Blick auf die kommende Niederlage von einem drohenden »Polit-Gau«.17 Ein Jahr später sprach das Hamburger Nachrichtenmagazin von 58

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einem »Medien-GAU«, als Papst Benedikt XVI. mit seiner Regensburger Rede Empörung in der muslimischen Welt provozierte.18 Inzwischen bedarf es nicht einmal mehr einer wirklichen Katastrophe, um das Wort zu verwenden. In der Boulevardpresse gilt zum Beispiel ein modisches Problem, das niemanden physisch gefährdet, gerne mal als »Fashion-GAU«. Inzwischen ist der GAU eine universell verwendbare Bezeichnung für ein irgendwie als dramatisch empfundenes Ereignis. Nur eines bleibt mit dem Konzept unverbrüchlich verbunden: eine nicht mehr hinterfragbare Sicherheit bezüglich des eigenen Standpunkts. Aber ist das ein kluger Weg, über die Gefahren der Kernkraft nachzudenken? Auf einem internationalen Symposium zur Reaktorsicherheit auf dem Monte Verità  – nomen est omen!  – oberhalb von Ascona im Jahr 1999, an dem der Autor dieses Artikels teilnahm, erklärte ein Referent, ohne auf Widerspruch zu stoßen, dass sich die vertrackte Problematik der nuklearen Sicherheit – dass nämlich Gefahren mitunter gerade dort lauern, wo man sie am wenigsten vermutet – am besten durch eine indische Legende illustrieren lasse. Einst hatte ein Maharadscha eine wunderschöne Tochter; und natürlich war sie von vielen Freiern umworben. Da war eine harte Selektionsbedingung vonnöten. Und so ließ der Fürst im Lande verkünden, er werde jeden Werber vor zwei verschlossene Türen führen: Hinter der einen befinde sich seine Tochter, hinter der anderen lauere ein hungriger Tiger. Da behielten nur noch drei Freier den Mut. Der erste war ein Optimist, der auf gut Glück ohne viel Grübeln eine Tür öffnete: Pech gehabt, er wurde vom Tiger zerrissen. Der zweite wollte es klüger machen und stellte große Berechnungen an, welches die richtige Tür sein könne: Auch das nützte ihm nichts, auch er erwischte die falsche Tür und fiel dem Tiger zum Opfer. Der Dritte wollte noch schlauer sein, folgte der Philosophie des Worst-Case-Szenarios und machte ein Training, wie man im Ruckzuck-Verfahren Tiger zähmt. Das hätte er gar nicht nötig gehabt; denn hinter der Tür, die er öffnete, wartete die Prinzessin. Diese umarmte ihn – und stieß ihm von hinten einen Dolch ins Herz.

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Anmerkungen 1 David Okrent, Nuclear Reactor Safety. On the History of the Regulatory Process, Madison,Wis. 1981, S. 32. 2 Joachim Radkau, Aufstieg und Krise der deutschen Atomwirtschaft 1945–1975. Verdrängte Alternativen in der Kerntechnik und der Ursprung der nuklearen Kontroverse, Reinbek 1983, S. 359. 3 Okrent, Nuclear Reactor Safety, S. 32 ff. 4 Radkau, Aufstieg und Krise, S. 373. 5 Werner Abelshauser, in: ders. (Hg.), Die BASF. Eine Unternehmens­ geschichte, München 2002, S. 514. 6 Radkau, Aufstieg und Krise, S. 379 ff. 7 Ebd., S. 358 f. 8 Ebd., S. 370; für die USA sehr ausführlich Okrent, Nuclear Reactor ­Safety, S. 294–305. 9 Okrent, Nuclear Reactor Safety, S. 296. 10 Joachim Radkau, Die Kernkraft-Kontroverse im Spiegel der Literatur. Phasen und Dimensionen einer neuen Aufklärung, in: Armin Hermann, Rolf Schumacher (Hg.), Das Ende des Atomzeitalters? Eine sachlichkritische Dokumentation, München 1987, S. 308 ff. 11 Holger Strohm, Friedlich in die Katastrophe. Eine Dokumentation über Kernkraftwerke, Hamburg 1973. 12 Joachim Radkau, Die Ära der Ökologie. Eine Weltgeschichte, München 2011, S. 611 f. 13 Ähnliche Hinweise bei Joachim Radkau, Sicherheitsphilosophien in der Geschichte der bundesdeutschen Atomwirtschaft, in: S + F (Sicherheit und Frieden) 3/88, S. 113. 14 Vgl. D. Smidt in Rudolf Lukes (Hg.), Sechstes Deutsches AtomrechtsSymposium, Köln 1980, S. 40, 41, 46. 15 Zukünftige Kernenergie-Politik. Kriterien  – Möglichkeiten  – Empfehlungen. Bericht der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages, Bonn 1980, S. 32. 16 Charles Perrow, Normal Accidents. Living With High-Risk Techno­logies, New York 1984. 17 Der Spiegel 21 (2005), S. 110. 18 Der Spiegel 47 (2006), S. 122.

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Andrew Denning

Zwischen Natur und Moderne: Wintersport im deutschsprachigen Europa

Französische Künstlichkeit vs. deutsche Natürlichkeit Der kulturelle und ökologische Stellenwert von Wintersport im deutschsprachigen Europa wird am besten durch das französische Beispiel deutlich. Nach dem Zweiten Weltkrieg verpflichteten sich französische Geschäftsleute und Behörden, Frankreich zum Spitzenreiter in der lukrativen und stetig expandierenden Wintersportindustrie zu etablieren. Vor dem Zweiten Weltkrieg waren französische Skiorte lediglich von unterordneter Bedeutung. Europäische Touristen der Mittelschicht bevorzugten Ferienorte in der Schweiz, Österreich und Deutschland, da diese durch eine bessere Erreichbarkeit, Komfort und ihr kulturelles Programm überzeugten. Durch die Kombination öffentlicher und privater Initiativen entwickelte sich Frankreich jedoch innerhalb weniger Jahrzehnte zum Wintersport-Paradies par excellence. Die eigens zu diesem Zweck errichteten, in sich geschlossenen stations inté­ grées wie Val Thorens (1967 eröffnet) und Les Arcs (1968 eröffnet) zogen internationale Touristen an, die zuvor traditionelle Zentren des Alpentourismus wie Kitzbühel, Garmisch-Partenkirchen und Mürren bevorzugt hatten. Josef Ritz, der Autor des ADAC-Reiseführers für Wintersportorte von 1967, Mit Auto und Ski, lobte die Modernität der französischen Winterorte: »Frankreich hat die höchsten Skipisten, die jüngsten Skiorte, die originellsten Skiaufzüge und die kessesten Skihasen. […] Das Skifahren ist in Frankreich eine blutjunge Sportart, frei von überlieferten Konventionen. Es hat in kurzer Zeit massenhaft Anhänger gefunden, wird staatlich gefördert, und über den Wintersportorten schwebt ein Hauch kometenhaft zunehmenden Skiruhms.«1 Indirekt sagt Frankreichs Entwicklung in der Nachkriegszeit viel über die deutsche Beziehung zum Wintersport und zur natürlichen Landschaft im 20. Jahrhundert aus. Für viele deutsche TouZwischen Natur und Moderne © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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risten und Tourismusunternehmer gehörten die für Frankreich typische moderne Architektur, die Diskotheken und das dichte Netz von Skiliften nicht an den Berghang. Eine Welle des Widerstands ging von den östlichen Alpen aus, wo die Wintersportorte älter waren und sich gemeinsam mit den Alpendörfern entwickelt hatten. Die Kritiker betonten die Künstlichkeit der französischen stations intégrées. Im Vergleich dazu seien die etablierten Orte in den östlichen Alpen natürlich gewachsen, wodurch es Wintersport-Begeisterten möglich sei, die Natur in ihrer reinsten Form zu erleben – frei von der Störung moderner Technik und Methoden. G. A. Michel, der Präsident des Schweizer Skiverbands und Direktor des Verkehrsvereins des Berner Oberlandes, traf 1971 den Kern der traditionalistischen Position, indem er die hypermodernen französischen Anlagen als steril und gesichtslos bezeichnete. Michel behauptete, die französischen Gebiete seien »Skigelände ohne Charakter«. Er beschrieb die Popularität des französischen Modells als »Symptome unserer Wohlfahrtsgesellschaft, die viel von Natur- und Umweltschutz spricht und schreibt, aber nicht bereit ist, etwas dafür zu geben«.2

Wintersport als deutsches Kulturgut Deutschsprachige Kritiker beklagten die französische Variante der Nachkriegsentwicklung weniger aus ästhetischen oder ökonomischen als aus historischen Gründen. Seit der Gründung des Deutschen Kaiserreichs war Wintersport besonders tief in der deutschen Kultur verwurzelt. Daher verklärten die Deutschen den Wintersport durch eine Brille der Erinnerungen und Mythen, die im Laufe eines Jahrhunderts angehäuft worden waren. Die Franzosen hingegen, die nicht im selben Umfang wie die Deutschen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert Wintersport praktiziert hatten, waren in ihrer Beziehung zum Wintersport mehr gegenwartsorientiert und wirtschaftlich motiviert. Skifahren, Rodeln und Schlittschuhlaufen waren auf lokaler, regionaler, nationaler und sogar auf transnationaler Ebene zu wichtigen Merkmalen der deutschen Identität geworden. Obwohl einige Nationa­litäten mit speziellen Wintersportarten identifiziert wurden  – die niederländischen Eisläufer, die norwegischen Skifahrer und die kanadischen Eishockeyspieler seien hier erwähnt  – avancierte im 62

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deutschsprachigen Mitteleuropa der Wintersport als Ganzes zu einem bestimmenden Merkmal des kulturellen Lebens. Allerdings gründeten die Popularität von Wintersport und seine Bedeutung für die deutsche Kultur nicht ausschließlich auf einem abstrakten, philosophischen Verständnis von Sport. Vielmehr galt dieser Sport vor dem Zweiten Weltkrieg als besonders »deutsch«, da er Skifahrer, Eisläufer und Rodler in engen Kontakt mit der Natur und speziell mit der unverwechselbaren deutschen Landschaft brachte. Ob Skifahren am Arlberg, Rodeln im Schwarzwald oder Eislaufen auf dem Davosersee, die Deutschen entwickelten eine emotionale Beziehung zu ihrer lokalen Landschaft und somit eine lokale Identität. Diese lokalen, naturgeprägten Identitäten förderten wiederum eine allgemeine deutsche Identität. Obwohl Eisläufer auf der Hamburger Alster und Skifahrer in den Tiroler Alpen sehr unterschiedlichen Landschaften huldigten, teilten sie eine spirituelle Verbindung zur Natur, die unter Wintersportlern als einzigartig »deutsch« galt. Somit spielte Wintersport hinsichtlich der deutschen Vorstellung von »Heimat« zu Beginn des Wilhelminischen Zeitalters eine wichtige Rolle. Obgleich vor dem Zweiten Weltkrieg vereinzelt Wintersport-Begeisterte auch in Ländern wie Frankreich und Italien vorzufinden waren, vermerkten deutsche Berichterstatter, dass allein in deutschen Gebieten Wintersport als »Volkssport« betrachtet werden könne. Als französische Geschäftsmänner das Wintersportgeschäft nach dem Zweiten Weltkrieg revolutionierten, spiegelte die Kritik deutscher Kommentatoren die Bedeutung der Geschichte, der Erinnerung und des Mythos wider, die bei der Entstehung der Wintersportkultur in Deutschland wirkte. Zugleich wurde deutlich, wie dieser Sport die intensiven persönlichen und kollektiven Ver­ bindungen mit der Natur und Landschaft anregte.

Wintersport als Reaktion auf die Moderne Bei der Erfindung und Popularisierung des Wintersports in Deutschland zu Beginn des Wilhelminischen Zeitalters handelte es sich um die konzertierte Antwort auf die Verhältnisse der Moderne. Wintersport-Befürworter behaupteten, dass Skifahren, Rodeln und Eislaufen die Geselligkeit neu belebe. Zudem könne damit die kulturelle Dekadenz sowie die physische und moraliZwischen Natur und Moderne © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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sche Degeneration, die durch die modernen Folgeerscheinungen wie Industrialisierung, Urbanisierung und Säkularisierung hervorgerufen wurden, gehemmt werden. Die Idee einer engeren Bindung zur Natur, die heilsam für die Deutschen sei, war während der Wilhelminischen Zeit sehr populär. Das Wachstum und der steigende Einfluss der »Zurück zur Natur!«-Gruppen (zum Beispiel der Deutsche und Österreichische Alpenverein und die Wandervögel) sowie die aufkommenden kulturellen Bewegungen wie beispielsweise die Freikörperkultur und der Naturschutz belegen diese Entwicklung. Für viele moderne Menschen war Wintersport eine Rückkehr zur Natur und eine Flucht aus den moralisch verdorbenen, degenerierten Wohnstuben der Städte, um inmitten der Naturgewalten die eigene Kraft, Ausdauer und Mut unter Beweis zu stellen. 1906 pries der Verein zur Förderung des Fremdenverkehrs in München und im bayerischen Hochland die gesundheitlichen Kräfte, die durch die Ausübung von Sport während des Winters freigesetzt werden. Die dank dem Winter »völlig staubfreie[…], reine[…], kräftige[…] Luft«, heile die »geplagten und überreizten Nerven«, welche durch die »Arbeit und die unbarmherzige Hast unseres Städtelebens« verursacht seien.3 Die Befürworter des Wintersports hatten somit sowohl eine gesundheitliche als auch kulturelle Motivation. Wintersport steigerte die Kraft und die physische Ausdauer und wehrte die Gefahr moderner Gebrechen wie Tuberkulose und Neurasthenie ab. Zugleich erlaubte der Wintersport jedem Einzelnen, durch eine Rückkehr zur vollendeten Natur der Entfremdung durch das moderne Leben zu entfliehen.

Wintersport als Produkt der Moderne Obwohl die Kritik an der Modernisierung eine wichtige Rolle bei der wachsenden Bedeutung des Wintersports spielte, schufen die indirekten Folgen der Modernisierung zugleich einen verbesserten Zugang zum Sport. Das Wachstum der Mittelklasse, die Bildung einer Massenkultur, die Zunahme von Freizeit, die Entwicklung moderner Sportarten, die neue Beschäftigung mit Hygiene und Gesundheit sowie der wachsende Einfluss des Tourismus spielten jeweils eine entscheidende Rolle für die steigende Beliebtheit von Wintersport und seinem Bedeutungswandel: vom nützlichen Fort64

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bewegungsmittel bis hin zur modernen Freizeitkultur. Somit bestand seit Mitte des 19. Jahrhunderts, also dem Beginn der modernen Ära des Wintersports, dieser Sport paradoxerweise sowohl als Kritik an der Modernität als auch als Produkt der modernen Bedingungen. Man war in einem dynamischen Spannungsverhältnis gegensätzlicher Pole gefangen: Tradition versus Veränderung, Ursprünglichkeit versus Modernität und Natur versus Zivilisation. Während der Verbreitung im deutschsprachigen Europa spiegelten die mit dem Wintersport assoziierten Konnotationen sowohl auf der individuellen als auch kulturellen Ebene eine Verhandlung dieser Gegensätze wider. Die deutsche Wintersportkultur veranschaulicht eine typisch moderne Beziehung zur Natur, die eine romantische Aufwertung der Landschaft mit der rationalen und effizienten Ausnutzung der natürlichen Umgebung verbindet, um menschliche Bedürfnisse zu befriedigen. Dabei erwies sich die Landschaft des deutschen Wintersports als besonders paradox: Während sie als räumliche und geistige Flucht vor den Sorgen der modernen Gesellschaft imaginiert wurde, schürten zugleich Popularität und Renta­bilität des Wintersports öffentliche und private Interessen, die Naturräume weiter zu rationalisieren, zu dominieren und schließlich zu kommerzialisieren. Auf diese Weise spiegelt die Wintersportlandschaft die sich verändernde Beziehung zwischen der deutschen Gesellschaft und der natürlichen Umwelt während der Moderne wider. Der Naturraum des deutschen Wintersports stellte die Landschaft dar, die die Deutschen zu einer bestimmten Zeit »brauchten«. Diese Bedürfnisse waren dynamisch und oft auch widersprüchlich. Zugleich riefen verschiedene geographische Räume auch unterschiedliche Deutungen der Landschaft hervor. Die Wintersportkultur interpretierte die deutsche Landschaft als einen großen Spielplatz inmitten der Natur, als eine Flucht vor der degenerierten Zivilisation, als einen vor dem Kapitalismus geschützten Bereich und ebenso als Konjunkturfaktor. Da viele dieser sich widersprechenden Naturbilder zur gleichen Zeit existierten, führte dies zu einem Spannungsverhältnis.4

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Historizität als Legitimation Um einen eigenen Mythos zu schaffen und kollektive Erinnerung zu stiften, berief sich der deutsche Wintersport auf eine besonders lange Geschichte. Carl J. Luther, der Altmeister des deutschen Skisports in der ersten Hälfte des 20.  Jahrhunderts, behauptete, Skifahren sei »älter als Methusalem«.5 Verwandte SchneeschuhTechnologien existierten bereits in der Eiszeit und Vorläufer der modernen Ski, die in Zentralasien gefunden wurden, stammten aus dem sechsten Jahrtausend vor Christus. In ähnlicher Weise wurden primitive Formen von Schlitten auf eine Zeit vor Christi Geburt datiert. Schlittschuhlaufen hingegen entwickelte sich verhältnismäßig spät zu Beginn des Mittelalters. Angesichts dieser langen Abstammung ist der Wintersport tief mit den beliebten Vorstellungen von vormodernem Erbe und Einfachheit, der intensiven Verbindung mit der Natur sowie dem heroischen Kampf der Menschheit mit den Naturgewalten in ihrer gefährlichsten und extremsten Form verwoben. Auf Grund dieser langen historischen Tradition betrachteten Wintersport-Begeisterte Ski und Schlitten häufig als ein dem Feuer und Rad ebenbürtigen Eckpfeiler der Zivilisation  – als Symbole der Fähigkeit der Menschheit, die Elemente durch Erfindergeist zu zähmen.6 Die Wintersportausrüstung sorgte dafür, dass man sich auf potentiell tödlichem Terrain wie Eis und Tiefschnee während extremer Kälte fortbewegen und in der Neuzeit sogar erholen konnte. Folglich muss der Wintersport als ein Produkt der Zivilisation während ihres langen Zähmungsprozesses der Natur interpretiert werden. Dies führte zu Darstellungen von Wintersport als heroischen Taten der Überlegenheit, wie Anton Fendrichs Beschreibung von 1911 verdeutlicht: »Der Winter und der Schnee, sie sind da, wie viele herbe Dinge auf der Welt, auf daß wir Meister über sie werden. Stark sollen wir uns an ihnen machen, bis sie uns anstatt einer Geduldsprobe ein Kraftmaß geworden sind. Nicht fliehen sollen wir sie, sondern kämpfen mit ihnen, wie der alte Erzvater Jakob, als er mit dem Engel rang und ihn nicht ließ, bis er ihn segnete.«7

Der Freiburger Geologieprofessor und Skipionier Wilhelm Paulcke verkörperte mit seinem Können diese frühe Bedeutung. In66

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dem er 1896 den Oberalpstock im Kanton Glarus (Schweiz) bestieg, wurde er der erste Skifahrer, der erfolgreich den Gipfel eines Dreitausenders erreichte. Seit Beginn der ersten Einführung in Zentral­europa wurde Wintersport paradoxerweise als ursprünglich und naturwüchsig, zugleich aber auch als Mittel zur Bezwingung der Natur verstanden.

Wintersport als lokales Phänomen Bis zur Nachkriegszeit erlebten die meisten Menschen Wintersport als ein lokales Phänomen, das bequem zu erreichen und erschwinglich war. Viele der frühen Entwicklungen im Wintersport konzentrierten sich auf »Hausberge« und Wälder, die in der Nähe der städtischen Gebiete lagen und mit Zügen und Bussen innerhalb weniger Stunden erreicht werden konnten. Beispiele sind der Feldberg und der Schwarzwald nahe Freiburg im Breisgau, die Bayerischen Voralpen südlich von München sowie der Wienerwald und die Rax-Schneeberg-Gruppe südwestlich von Wien. Die Nähe dieser Berge und Wälder zu den städtischen Gebieten war unbedingt notwendig, da Wintersport-Begeistere danach strebten, der städtischen Zivilisation durch den Wintersport zu entfliehen – und sei es nur für einen Nachmittag. Ferner wurde die lokale Verwurzelung der Wintersportler durch die föderale Struktur der nationalen Skiverbände in Deutschland, Österreich und der Schweiz sowohl widergespiegelt als auch gefördert. In jedem Land bestand der Gesamtverband aus Einzelverbänden auf regionaler, kantonaler bzw. Landesebene, die sich wiederum aus lokalen Skiklubs zusammensetzten. Während des Wilhelminischen Zeitalters hatte die überwältigende Mehrheit dieser lokalen Verbände weniger als 100 Mitglieder. Diese ermöglichten den Mitgliedern von Skiklubs innerhalb ihrer Städte und Gemeinden soziale Kontakte mit Gleichgesinnten zu knüpfen. Ebenso bestanden die Klubunternehmungen aus Skiausflügen und -touren in die lokale Landschaft. So war zum Beispiel der 1892 gegründete Schneeschuhverein München (SVM) zur Jahrhundertwende einer von mehr als einem halben Dutzend Skiklubs in der Münchner Umgebung. Regelmäßig organisierte der SVM für seine Mitglieder Skiausflüge zum südlich von München gelegenen Schliersee.8 Somit förderte der SVM nicht nur die Geselligkeit unZwischen Natur und Moderne © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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ter den Mitgliedern, sondern auch das Gefühl einer gemeinsamen Identität, das durch ihre gemeinschaftliche Beziehung zur Landschaft um den Schliersee entstanden war. Diese lokalen Bezüge wurden durch tausende kleine, regionale Wintersportklubs multipliziert, die in Deutschland, Österreich-Ungarn und der Schweiz in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg entstanden waren.

Die Anfänge des Wintertourismus Obwohl die große Mehrheit Wintersport im Wilhelminischen Zeitalter direkt vor Ort ausübte, waren Tourismus und Wintersport von Beginn an eng miteinander verwoben. Bereits vorhandene touristische Strukturen beeinflussten die geographische Verteilung der modernen deutschen Wintersportorte in zweierlei Hinsicht: Erstens waren Wintersportorte auf bereits bestehende Erholungsgebiete angewiesen, die sich als »Sommerfrische«, »Kurorte« und alpine Urlaubsorte etabliert hatten. Viele der frühen Wintersportler waren ganzjährig, also auch in den Sommermonaten, im Bereich des Bergsteigens oder Wanderns aktiv. Die Anhänger des Wintersports nutzten die bestehende Infrastruktur von Verkehrsmitteln und Unterkünften, um ihre bevorzugten »Spielplätze« in den Wintermonaten zu erreichen. Auf vertrautem Terrain konnten sie nun auch Skifahren, Schlittschuhlaufen und Rodeln. Zweitens erzeugten die kulturellen Assoziationen mit Wintersport und der aufkeimenden Obsession nach Gesundheit und Hygiene eine Verbindung zwischen Wintersport und den etablierten Kurorten. Dieses Phänomen zeigte sich am deutlichsten in der deutschsprachigen Schweiz, wo Wintersport zunächst in Erholungsorten und Sanatorien als Mittel zur Verbesserung der Gesundheit eingeführt wurde. Des Weiteren konnten damit ganzjährig Gäste angezogen werden. Zum Beispiel wurde im Tuberkulose-Sanatorium in Davos in den späten 1860er-Jahren Eislaufen ein beliebtes Wintervergnügen. Die Patienten, die von der gesunden Winter-Alpenluft profitieren wollten, fanden während der langen Wintermonate hiermit eine Unterhaltungsmöglichkeit. Ähnlich war auch die Entwicklung in St. Moritz, das vor der Ankunft des Wintersports einen Ruf als Kurort genoss. Als Erstes etablierte sich das Eislaufen, dann Rodeln und schließlich Skifahren, das in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts immer beliebter wurde.9 Die 68

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frühe Prominenz von Kurorten wie Davos und St. Moritz in der Geschichte des Wintersports verdeutlicht zweierlei: Zum einen den Zusammenhang zwischen Sommer-Urlaubszielen und Gesundheitszentren und zum anderen den der geographischen Verteilung der Wintersportgebiete. Die wesentlichen Entwicklungen, die die Erreichbarkeit verbesserten, und die kulturelle Vereinigungen von Sommerfrische und Kurorten erlaubten dem Wintersport schnell aufzuholen. Diese historische Beziehung besteht bis zum heutigen Tag – so wie auch Davos und St. Moritz immer noch zu den begehrtesten und beliebtesten Wintersportzentren gehören.

Technisierung des Wintersports Da die Popularität des Wintersports im späten 19.  Jahrhunderts wuchs, setzen Wintersportler und ihre Vertreter in den regionalen und nationalen Sportverbänden sowie die vom Wintersport wirtschaftlich profitierenden Hotel- und Resort-Betreiber moderne Technologien und ökonomische Praktiken ein. Als Ziel galt es, die Abhängigkeit von unvorhersehbaren klimatischen Verhältnissen oder Geländebedingungen zu verringern, um somit markt­ fähiger zu sein. Die höhere Benutzerfreundlichkeit sollte zudem bei den Sportlern für eine steigende Beliebtheit sorgen.10 Eine Entwicklung wie etwa die Kunsteisbahn klammerte den Faktor Natur vollständig aus. Eislaufen wurde ein rationalisierter und vorhersehbarer Vorgang, bei dem man sich nicht mehr über die Gefahren von dünnem Eis oder herausstehenden Baumstümpfen Sorgen machen musste. Die erste Kunsteisbahn wurde 1876 in London eröffnet. Zur Jahrhundertwende besaßen bereits viele deutsche Städte eine künstliche Eisfläche für die Öffentlichkeit, die auch für Eiskunstlauf- und Eisschnelllauf-Wettkämpfe genutzt wurden. Die wohl berühmteste war der 1910 eröffnete Berliner Sportpalast, wo Eisschnelllauf- und Eiskunstlauf-Wettbewerbe für über 10.000 Zuschauer veranstaltet wurden. Die Befürworter der Kunsteisbahn sahen diese Veränderung als einen weiteren Schritt in Richtung stärkerer Rationalisierung und Popularisierung des Eislaufens, der wiederum den sozial-gesundheitlichen Wert von Sport erhöhe. Auch Wintersportzentren begannen Eisbahnhallen zu bauen, weihten Rodelbahnen ein und errichteten sogar Alpen­ bahnen speziell für Skifahrer. Diese um die Jahrhundertwende Zwischen Natur und Moderne © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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einsetzende Entwicklung beschleunigte sich zusehends während der Weimarer Republik. Während viele den demokratisierenden Einfluss der Technik feierten, betrachteten andere die Technisierung des Wintersports mit Unbehagen. Der heterogenen Gruppe von Kritikern gehörten viele Mitglieder der frühen Umwelt- und »Zurück-zur-NaturBewegung« an, mit denen der Wintersport lange Gemeinsamkeiten geteilt hatte. Diese Kritiker glaubten, dass Alpenbahnen und Kunsteishallen nicht den menschlichen Einfallsreichtum widerspiegelten, sondern eher ein Ausdruck moderner Dekadenz seien. Sie vertraten die Ansicht, die Einführung menschengemachter Technologie und Infrastruktur in die natürliche Landschaft entfremde diese Sportart von der Natur. Zudem verwöhne man Rodler und Skifahrer, indem man ihnen ermöglicht, das Tempo der Abfahrt ohne die Mühsal des Aufstiegs zu genießen. Wenn auch der Wintersport besonders gut geeignet schien, mit den modernen städtischen Bedingungen fertig zu werden und die Deutschen wieder der Natur anzunähern, so hatte die Technisierung des Sports die Probleme der urbanen Moderne in die scheinbar unberührte Berglandschaft transportiert: gewaltige Menschenmengen, Verschmutzung von Luft, Wasser, Lärm und die »Vernarbung« der natürlichen Landschaft durch Stromleitungen und Eisenbahnschienen. Zwischen den beiden Weltkriegen wurden diese Probleme immer virulenter. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es zu einer weiteren Verschärfung, da der Sport immer beliebter und lukrativ wurde. 1951 fasste der deutsche Autor Hubert Mumelter die Unzufriedenheit der Kritiker im Hinblick auf Technisierung und Popularisierung speziell für den alpinen Skilauf zusammen: »Sein Standpunkt edel, bieder, stur, bleibt, dass ein Tempel die Natur und dass die Berge man entweiht durch Sportbetrieb und Lustbarkeit. Drum seine Abneigung ist gross für alle, die die Alpen bloss als Tummelplätze frech benützen und ehrfurchtlos hinunterflitzen. Ganz insbesonders sind ihm greuel die angestauten Menschenknäuel. Von Liften, Pisten nicht zu sprechen, die gradezu Naturverbrechen!«11

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Indem der Wintersport mit Tradition und einer urmenschlichen Verbindung zur Natur assoziiert wurde, die im Übergang zur Moderne verloren gegangen sei, beschworen die Kritiker eine mythische Vergangenheit. Wie die Debatten zur Technisierung zeigen, spalteten sich die Deutungen der Beziehung von Wintersport und Natur seit dem ersten Erscheinen des Wintersports in der zweiten Hälfte des 19.  Jahrhunderts in zwei entgegengesetzte Lager auf: Zum einen gab es diejenigen, die sich vom Wintersport aufgrund seiner Ursprünglichkeit, Zeitlosigkeit und seiner Naturverbundenheit angezogen fühlten. Diese Traditionalisten feierten die Natürlichkeit des vormodernen Wintersports, indem sie die uralte Abstammung von Skiern und Schlitten und das mittelalterliche Erbe von Schlittschuhen mythologisierten. Sie romantisierten die ehemals enge Naturverbindung und zogen es vor, diese Sportarten ohne die störende, moderne Technik auszuüben. Der traditionalistische Appell zielte auf Einfachheit und natürliche Wintersportgebiete, da man glaubte, dass genau dies ihre moderne, dekadente Gesellschaft erfordere – eine heroische Landschaft frei von den Fingerabdrücken (bzw. Eisenbahnschienen) der modernen Gesellschaft. In ihren idealen Wintersportgebieten sollte die Erhabenheit der Natur den Skifahrern und Eiskunstläufern Ehrfurcht einflößen und so wieder ein Gleichgewicht in der modernen Welt schaffen, die nach Ansicht der Traditionalisten die Bedeutung der Natur für die Bildung des individuellen Charakters ignoriert hatte. Andererseits argumentierten viele Sportbegeisterte, dass die Menschen vom Wintersport gerade wegen seiner Modernität angezogen wurden. Das heißt, es war die Praxis und die kulturelle Bedeutung des Wintersports  – seine Geschwindigkeit und seine Anmut, seine Verbindung mit Luxus, Berühmtheit und Massenkultur sowie seine angesagte Popularität –, die die Grundlage für sein explosives Wachstum zur Jahrhundertwende und darüber hinaus legten. Wie Dr. H.  Schifferdecker 1940 beschrieb, lag die Freude am Skifahren nicht in der Wertschätzung der Landschaft, sondern in »drei Minuten restlosen, erfüllten, wunschlos tatfrohen Glücks! … eines Glücks, gezeugt aus dem Rausch der Geschwindigkeit, der Lust des Könnens, der Freude am willigen, führigen Schnee […]«.12 Die Wirklichkeit liegt jedoch zwischen diesen beiden polemischen Polen. Der unverwechselbare Reiz des Wintersports beZwischen Natur und Moderne © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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stand in der Tatsache, dass er zugleich ursprünglich und modern war. Diese Kategorien schlossen sich gegenseitig nicht aus. Wintersportler aller Art erlebten eine intensive Verbindung mit der Natur, während zur gleichen Zeit diese Beziehung durch moderne Technik und moderne Vorstellungen hinsichtlich Freizeit, Ästhetik und Populärkultur vermittelt wurde. Wintersport kombinierte Geschwindigkeit und Einfachheit, die Beherrschung der Natur und die der eigenen Person, die Erfahrung der Schönheit der Natur und die Schöpfung ästhetischer Schönheit durch Bewegung. Durch die Verbindung von Natur, Bewegung und Geselligkeit könne Wintersport letztlich die Menschheit heilen, erklärte 1930 eine Beschreibung des Skifahrens: »Wir kommen aus der grauen Nacht der Ebene, aus dem Herenkessel [sic] Großstadt in den strahlenden Tag der Berge. Wir schütteln die Bande des Alltags von uns ab und gehen ein in ein Reich herrlicher Freiheit, darin uns ein blausilberner Reigen von Sonnentagen erwartet. Wir ziehen behutsam Spuren in schimmernde Flächen, auf denen das Himmelslicht schnell vergängliche Schneekristalle aufsprühen läßt zu lebendigem Spiele von Gold und Diamanten, von Rubinen und Smaragden. Wir, die wir alle Söhne des Lichtes sind, feiern selige Rückkehr in die Urheimat. […] Wir sehen, in Minuten schwerelosen Gleitens, der Menschheit ältesten Ikarus-Traum verwirklicht; und Freundschaft und Kameradschaft, zwei der schönsten Tugenden, dürfen sich aufs neue üben. Und endlich versinken, wie vom Zauberstab berührt, die Jahre, welche das Jetzt von der Kindheit trennen, und wir jauchzen wieder auf von überquellender, ungetrübter und uranfänglicher Freude.«13

Wintersport war daher im romantischen Sinne für das Individuum geistig erbaulich, während man zur gleichen Zeit von dem modernen Bewusstsein profitierte (und dieses zugleich näher zu bestimmen verhalf).

Wintersport als transnationaler Einigungsmoment Die Einheit der deutschen Wintersportkultur wurde durch die Geselligkeit des Sports sowie durch deren sprachliche und topographische Affinitäten begünstigt. Die Entwicklung des Skisports im frühen 20.  Jahrhundert zeigt, wie der Wintersport von bestehenden kulturellen Verbindungen profitierte, aber auch neue 72

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schuf. Da Skifahren im frühen 20.  Jahrhundert immer beliebter wurde, befürworteten viele Skifahrer, die aktiv an der Veröffent­ lichung deutschsprachiger Sport-Zeitschriften wie Deutscher Wintersport, Deutsche Alpenzeitung und Mitteilungen des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins beteiligt waren, eine stärkere Zusammenarbeit. Zur Jahrhundertwende forderten deutschsprachige Skifahrer eine transnationale Vereinigung, die widerspiegeln sollte, wie das gemeinsame Sporterlebnis und die geteilte Verbindung zur natürlichen Landschaft die Wintersportkultur bestimmte – und nicht etwa politisch gezogene Grenzen. Um eine gemeinsame Vereinigung mit einer föderalen Struktur zu schaffen, die die Interessen aller Skifahrer schützt, wurden der Deutsche Skiverband und der Österreichischer Skiverband am 4.  November 1905 in München gegründet. Gemeinsam traten sie dem ein Jahr zuvor initiierten Schweizerischen Skiverband bei. Am nächsten Tag gründeten die drei nationalen Verbände den Mitteleuro­ päischen Skiverband, um die Interessen aller deutschsprachigen Skifahrer zu vertreten. Dieser Vorläufer der Fédération Internationale de Ski, die 1924 während der ersten Olympischen Winterspiele zur Vertretung der Skifahrer auf internationaler Ebene gegründet wurde, zeigt zum einen die Vorreiterrolle des deutschsprachigen Europas in der frühen Geschichte des Skisports. Zum anderen verdeutlicht er die Rolle des Wintersports hinsichtlich der Konstruktion eines germanischen Mitteleuropas zur Jahrhundertwende. Die gemeinsame Erfahrung der »deutschen« Landschaft spielte in diesem Konstrukt eine wichtige Rolle. Artikel über Skifahren und Reiseführer beschrieben zum Beispiel vor dem Zweiten Weltkrieg stets die deutschen Ostalpen, die sich von Bayern nach Bozen und vom Wallis bis zu den Toren Wiens erstrecken, als deutlich anders als die französisch und italienisch geprägten Westalpen. Zur gleichen Zeit wurden aber die fundamentalen Unterschiede zum deutschen Mittelgebirge und Erzgebirge betont.14 Diese Landschaft wurde sowohl als erhaben schön als auch in topografischer und klimatischer Hinsicht perfekt für den Wintersport und speziell fürs Skifahren als geeignet empfunden. Auf diese Weise förderten die Ostalpen die Identität der vereinigten deutschsprachigen Skifahrer über nationale Grenzen hinweg. Gleichzeitig unterschied man sich deutlich von der nordischen Landschaft und ihrer LanglaufIdentität. Obwohl viele deutsche Skifahrer mit Langlauf begonnen Zwischen Natur und Moderne © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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hatten, war während der Zwischenkriegszeit der alpine Skilauf sowohl in der Praxis als auch in den Medien im deutschsprachigen Europa eindeutig vorherrschend geworden. Dabei wurde die alpine Form des Sports, die wesentlich durch die Landschaft der Ostalpen bedingt war, als besonders deutsch betrachtet.

Wintersport als Wirtschaftsfaktor Zwischen den beiden Weltkriegen wuchsen die Popularität und die Möglichkeit der Vermarktung des Wintersports exponentiell. Aus diesem Grund stieg auch der Umfang der staatlichen und privaten Investitionen in diesem Bereich und im Besonderen im Skisport. Zu dieser Zeit begannen alle Beteiligten – insbesondere die in den bisher verarmten alpinen Gebieten  – Skifahren nicht als bloße Freizeitbeschäftigung, sondern als wertvollen Bestandteil der modernen Dienstleistungsgesellschaft zu sehen. Aufgrund der massiven öffentlichen und privaten Investitionen in die Infrastruktur seit den frühen 1930er-Jahren wurde die Anreise aus den städtischen Gebieten zunächst zum und dann auf den Berg einfacher, billiger und schneller. Das stundenlange bergauf Stapfen, um eine Abfahrt genießen zu können, wurde selbst in den bescheidensten Wintersportzentren durch schnellen, maschinellen Antrieb ersetzt. Zur gleichen Zeit aber prangerten viele diese Entwicklung an, da sie dem Wintersport den heroischen Aspekt raube und den »Charakter verderbe«.15 In dieser Kritik an der Technisierung des Wintersports schwang die Idee mit, dass der wahre Wert des Wintersports in der Interaktion von Mensch und Natur liege. Eine faule Fahrt mit dem Skilift, auf die eine blitzschnelle Schussfahrt folgt, ermögliche es nicht, die Landschaft wahrzunehmen oder eine Verbindung mit dem Gelände unter den Skiern einzugehen. Diesmal ging die Kritik jedoch nicht allein von direkt betroffenen Gruppen wie Umweltschützern und Alpinisten aus, die sich bisher vor allem an dem wachsenden Einfluss der Skifahrer und anderer Wintersportler gestört hatten. Anfang der 1930er-Jahre schlossen sich diesen Gruppen auch unzufriedene Skifahrer an, von denen viele bedauerten, wie die Technik die Beziehung der Skiläufer zur Landschaft verändert hatte. Die traditionalistische Kritik war damit wieder präsent. Dabei wurde die Erinnerung an die »gute alte Zeit« der Jahrhundertwende heraufbeschworen  – eine Zeit, 74

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bevor die moderne Technik und die kapitalistische Gesinnung der jungfräulichen Berglandschaft gewaltige Menschenmassen aufgezwungen hatten.16 In diesem neuen Zeitalter des technisch aufgerüsteten Wintersports wurde die natürliche Landschaft für das Sport­vergnügen von untergeordneter Bedeutung. Sie diente lediglich als Bühne und Kulisse eines Tagesausflugs und war nicht mehr das Ziel an sich. Viele Schlittschuhläufer praktizierten ihren Sport völlig abseits der Natur. Anstatt mögliche Wege auf dem lokalen Fluss, Kanal oder See ausfindig zu machen, zogen sie den Komfort, die Sicherheit und die gleichbleibenden Bedingungen der Eishalle vor. Auch wenn der ein oder andere noch den Blick auf die Zugspitze oder das Matterhorn beim Skifahren oder Rodeln zu würdigen wusste, so wurde das Terrain unter den Füßen durch die technische Veränderung der Landschaft immer weniger charakteristisch und zunehmend einheitlicher. Die Verbreitung der Lifte und das Präparieren der Pisten machten das Gelände homogener und damit auch weniger außergewöhnlich. Um den Wintersport produktiv und wirtschaftlich rentabel zu gestalten, »rationalisierten« Geschäftsleute und Behörden die Wintersportgebiete, indem sie im Namen der Sicherheit und Produktivität die Landschaft von »Hindernissen befreiten«. Dies erwies sich ebenso als solide wirtschaftliche Strategie wie die Homogenisierung des Ski-Erlebnisses an sich. Ziel war, die Bedürfnisse der großen Mehrheit an Freizeit-Skifahrer zu stillen. Andererseits rebellierte eine Minderheit der Skisportler gegen die »Vermassung« des Sports und sehnte sich nach einer mythischen Vergangenheit, in der der Skifahrer noch näher an der Natur war. Infolgedessen beendeten einige Skifahrer die gängige Praxis des Hobby-Skilaufens und fuhren abseits der präparierten Pisten.

Umwelt und Wintersport Einige machten sogar den alpinen Skisport selbst für die Ent­ fremdung von der Natur und die Zerstörung der Landschaft verantwortlich. Als Reaktion gaben sie diese Sportart zugunsten des Langlaufs auf, der von ihnen als eher besinnlich und im Einklang mit der alten Praxis des Skifahrens befunden wurde. Darüber hinaus behaupteten die Kritiker, Langlauf sei weniger in ausbeuteZwischen Natur und Moderne © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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rische ökologische und ökonomische Praktiken verwickelt. Der­ artige Einstellungen verbreiteten sich in den 1930er-Jahren durch die weitgehende Fokussierung auf die Menschenmengen, die die »Vermassung« mit sich brachte. In der Nachkriegszeit verband sich diese Kritik mit der Sorge um die ökologischen Auswirkungen des alpinen Skisports.17 Diese Skifahrer nutzen den Mythos der Naturverbundenheit der Skifahrer, um eine gegensätzliche Kategorisierung vorzunehmen: »natürliches«, umweltfreundliches Lang­ laufen versus »künstlicher«, zerstörerischer Alpin-Skisport. In den 1960er- und 1970er-Jahren differenzierte sich diese Aufteilung in nordische und alpine Disziplinen. Während die Trennung der beiden Disziplinen im Fall des Freizeit-Skisports einst eine Frage der sportlichen Ideale und Ziele war (d. h. Ausdauer gegenüber Technik und Geschwindigkeit), wurde sie zunehmend zu einer Frage der Umweltethik. Die Empörung gegen die modernen Ski-Praktiken verstärkte sich in der Nachkriegszeit und wurde häufig von der Umweltbewegung, die sich während dieser Zeit formierte, unterstützt. Anfangs wurde die Kritik meist noch von Beteiligten außerhalb der Skifahrer-Gemeinde initiiert. So kritisierte zum Beispiel der Deutsche Alpenverein stets die Gleichgültigkeit der Alpinsportszene gegenüber der Umwelt in der Nachkriegszeit und plädierte für eine Rückkehr zur Einfachheit.18 In einigen Fällen versuchten ganze Gemeinden, das Verhältnis von Hobby-Skifahren und Umwelt nachhaltiger zu gestalten. So verboten die Schweizer Dörfer von Zermatt und Saas Fee in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg Verbrennungsmotoren. Alle Besucher sollten damit gezwungen sein, per Zug in die Urlaubsorte zu reisen. Indem sie die Quelle der Luftverschmutzung und damit gleichzeitig den Bedarf an Infrastruktur (Straßen, Parkplätze) minimierten, hofften sie, die Umweltschäden zu mildern.

Industrialisierung des Wintersports Die Anforderungen an einen konkurrenzfähigen Wintersport und die Kombination von Touristenwünschen und umfassenden wirtschaftlichen Investitionen im Wintersport veranlassten öffent­liche und private Stellen zur gezielten Gestaltung von Wintersport­ gebieten während der Nachkriegszeit. Dieser Trend verstärkte sich 76

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vor allem in den 1960er-Jahren massiv. Die Organisatoren der frühen Wintersport-Wettkämpfe fürchteten unerwartete Wetterveränderungen, die negative Auswirkungen auf die Eis- und Schneeverhältnisse hatten. Zum Beispiel herrschte bei den Olympischen Winterspielen in St. Moritz 1928 so starker Föhn in den Alpen, dass die Temperaturen auf bis zu 20 Grad Celsius stiegen, was verheerende Auswirkungen auf die Ski- und Eislaufveranstaltungen hatte.19 Da die Eis-Veranstaltungen sehr anfällig für Warmwetterperioden waren, arbeiteten die Organisatoren der Olympischen Winterspiele ab 1936 in Garmisch-Partenkirchen mit gekühlten Eisbahnen.20 In den 1960er-Jahren wurden die meisten dieser Veranstaltungen in das Innere von riesigen Arenen verlegt – die Verbindung zwischen diesem Sport und der Winterlandschaft war damit de facto nicht mehr existent. Da die Anforderungen der Wettkampfbedingungen und die der Hobby-Skifahrer zur Manipulation der als unsicher und chaotisch geltenden Landschaften führten, durchliefen die Skigebiete eine ganz ähnliche Entwicklung in der Nachkriegszeit. Die Maßnahmen, die im Zusammenhang mit den Olympischen Spielen in Mitteleuropa in der Nachkriegszeit stehen, sind bezeichnend für die sich wandelnde Beziehung zwischen Wintersport und der natürlichen Landschaft. Wettkampf-Rodelbahnen und -Skistrecken wurden zunehmend durch sorgfältige technische Planung konstruiert. Als Vorbereitung auf die Olympischen Winterspiele 1964 in Innsbruck setzte die österreichische Regierung über 6400 kg Sprengstoff ein, um die Landschaft für Skistrecken, Bob- und Rodelbahn zu gestalten. Die österreichische Armee fällte 915 Kubikmeter Holz und setzte 750 kg Grassamen, 2650 kg Kunstdünger und 5000 kg Asphalt ein, um die Topographie der Landschaft entsprechend den Sicherheitsbedürfnissen der Weltklasse-Athleten und dem Planbarkeitsanspruch der Veranstaltungsorganisatoren anzupassen.21 Wintersportgebiete vom lokalen Hausberg bis hin zum internationalen Standard setzten ähnliche Maßnahmen der Umwelttechnik ein, um die Sicherheit zu verbessern, die Flächen maximal auszunutzen und im Wettbewerb zu bestehen. Die starke Zunahme von großen und kleinen Skigebieten in der Nachkriegszeit führte zu einem intensiven Wettbewerb. Wenn ein Ort mit tadellos präparierten Pisten und einem idealen, künstlich hergestellten Skigelände glänzen konnte, mussten die anderen diesem Beispiel folgen  – andernfalls war der wirtschaftliche NachZwischen Natur und Moderne © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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teil gewiss. Die Summe dieser Einzelmaßnahmen in Mitteleuropa führte zu einer breit angelegten Homogenisierung der Wintersport-Landschaft, die nach Sicht vieler Wintersport-Traditionalisten allerdings auch den Verzicht auf die angemessene Auseinandersetzung mit der Natur bedeutete. Die wohl bemerkenswerteste Entwicklung innerhalb der technischen Planung des Wintersports war die Manipulation der Elemente. Die Betreiber der Wintersportorte und auch die Sportler selbst hatten schon lange die Bedeutung garantierter Schnee- und Eisverhältnisse erkannt. Tatsächlich war für viele der großen internationalen Resorts ihre »Schneesicherheit« eines der Verkaufsargumente im zwanzigsten Jahrhundert (d. h. die Anzahl der Tage pro Saison, in denen ein bestimmter Ort eine minimale Schneedecke erwarten kann). Fortschritte in der chemischen Industrie führten in den 1960er-Jahren zur Herstellung einer Verbindung, die als »Schneezement« bekannt ist. Durch dessen Einsatz behielt der Schnee trotz warmer oder feuchter Bedingungen seine Festigkeit. Obwohl diese chemische Verbindung nachteilige Auswirkungen auf den Boden, die Vegetation und das Grundwasser hatte, wurden sie im Namen der Ökonomie eingesetzt. Bei den Olympischen Winterspielen in Innsbruck 1964 sah man sich aufgrund einer längeren Zeit ohne Schnee zu einem Akt der Umweltmanipulation im großen Stil gezwungen. Der Schneemangel auf den Skiabfahrten, der Sprungschanze und der Bobbahn ließ die österreichische Regierung die Armee mobilisieren: Tausende von Kubikmetern Schnee wurden per Lkw aus dem etwa 20 km entfernt liegenden Gschnitztal zur Abfahrtsstrecke am Patscherkofel und dem Slalomkurs am Axamer Lizum transportiert, um die Pisten zu präparieren.22 Anfang der 1970er-Jahren wurde das Skifahren mit der Einführung von Schneekanonen weiter unabhängig vom Klima. Wie diese Nachkriegsentwicklungen veranschaulichen, machte der technische Fortschritt den Wintersport immer weniger von den natürlichen Gelände- und Wetterbedingungen abhängig. Dies führte bei den Traditionalisten sowohl innerhalb als auch außerhalb der Skisportgemeinde zum Vorwurf, der moderne Wintersport habe seine eigentliche Existenzberechtigung, nämlich das moderne Individuum in eine Verbindung mit der Natur zu bringen, aufgegeben.

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Die Ambivalenz des Wintersports Die Reaktionen auf die Entwicklungen der Nachkriegszeit waren äußerst ambivalent. Erstens waren diese Veränderungen für die Bewohner von wirtschaftlich vom Wintersport profitierenden Regionen, wie den Alpen und dem Schwarzwald, Teil  einer langen Tradition, die sich im Spannungsfeld von Tourismus und dem Erhalt der lokalen Kultur in den Berggebieten befand. Oftmals hatten die Bewohner der Bergdörfer aufgrund ihrer Abhängigkeit von den Bergen im Hinblick auf Landwirtschaft und Hirtenhaltung eine intensive Beziehung zur Landschaft.23 Der Wintersport-Tourismus bot vielen Bergbewohnern die Möglichkeit, im Dienstleistungsgewerbe tätig zu sein, was weit lukrativer und wirtschaftlich abgesicherter als die Landwirtschaft war. Somit wurden die lokalen Identitäten durch die speziellen Erfordernisse des Massentourismus verändert. Sowohl Wohn- und Hotelunterkünfte als auch die Infrastruktur wurden ausgebaut, um die Millionen an Touristen und die Waren, die für ihre Versorgung benötigt wurden, in die Wintersportgebiete befördern zu können. Zweitens brachten Regierungen von der lokalen bis hin zur nationalen Ebene die Ambivalenz der Industrialisierung des Wintersports zum Ausdruck. Auf der einen Seite wollten sie das Wachstum und die Vielfalt der Wirtschaft in den Land- und Bergregionen mit Hilfe des Wintersport-Tourismus unterstützen. Auf der anderen Seite ließ der Aufstieg der grünen Parteien und das wachsende ökologische Bewusstsein in der Öffentlichkeit während der Nachkriegszeit diese Förderung für die Regierungen zunehmend zur Gratwanderung werden: einerseits wirtschaftliche Entwicklung auf Basis natürlicher Schönheit und Landschaft, andererseits der unermessliche ästhetische, moralische und spirituelle Wert der Landschaft – ein Wert, der in vielerlei Hinsicht von der wirtschaftlichen Entwicklung und der »Vermassung« des Wintersports gefährdet wurde. Drittens waren auch die Haltungen und Handlungen der Wintersportler selbst durch diesen Widerspruch gekennzeichnet. Die meisten Wintersportler führten die Naturerfahrung als einen der großen Anreize ihres Sports an. Sie wollten ihren Sport ohne die vermeintlichen Nachteile des modernen, städtischen Lebens, wie Überfüllung und Verschmutzung, ausüben. Gleichzeitig aber forZwischen Natur und Moderne © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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derten viele Wintersportler, dass ihre Flucht aus der Zivilisation viele zu dieser Zivilisation gehörende Bestandteile beinhalte: gut ausgestattete Hotels, schicke Restaurants und abseits der Piste ein entsprechendes Unterhaltungsangebot. In der Tat stellte sich die Masse Wintersporturlaub als Flucht aus der Zivilisation mittels Luxus vor. Folglich wetteiferten Wintersportzentren, indem sie ihre Urlaubsorte immer luxuriöser ausstatten, um Touristen, die auf der Suche nach Unterhaltung und Hüttenzauber waren, anzulocken. Alle Akteure innerhalb der deutschen Wintersport-Kultur waren somit in diesem Zwiespalt gefangen: Zum einen die romantisch, mythologisierte Version einer Vergangenheit, in der die Natur frei von Zivilisation und der Mensch noch intensiv mit der Natur verbunden war, zum anderen die Verbindung von Wintersport und Modernität – einschließlich Technik, Massenkultur und Luxus.

Folgen des Wintersports In den 1980er-Jahren waren sich Urlauber, Sportler und wirtschaftliche Interessengruppen in den deutschsprachigen Ländern allgemein einig, dass sich der Wintersport inmitten einer mora­ lischen und materiellen Krise befand. In moralischer Hinsicht argumentierten die Kritiker, dass Wintersport im Zeitalter von Kunsteisbahnen und geplanten Pisten im besten Fall nur noch eine schwache Verbindung mit der natürlichen Umwelt habe. Zugleich behaupteten viele, die Praxis des Wintersports sei besonders umweltzerstörend. Die Bearbeitung der Pisten und die Herstellung von Kunstschnee führten zu Bodenerosion, beeinträchtigten einheimische Tier- und Pflanzenarten und verursachten einen Oberflächenabfluss. Zudem wurde die Wasserqualität nachhaltig geschädigt.24 Der Wintersport rief ein enormes Wachstum der Bevölkerung in den Bergregionen hervor, das saisonalen Schwankungen unterlag. Ebenso erfuhr die Umwelt durch Rodungen und technische Eingriffe in die Landschaft große Veränderungen. Der wachsende Effekt dieser Veränderungen zeigte sich besonders eindrücklich während des »Lawinenwinters« 1999. Als eine Reihe von Lawinen­ abgängen Europas Alpenregion traf, glaubten viele, der Wintersport-Tourismus habe sowohl für die Bevölkerung als auch für 80

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den Zustand des Ökosystems im Gebirge eine derart gefährliche Situation geschaffen, die schlussendlich zum Verlust von 80 Menschenleben geführt hatte.25 Weitere Entwicklungen rund um den Wintersport, insbesondere der Bau von Verkehrswegen und die starke Zunahme von Apartments, Hotels und anderer Unterkünfte in den Bergregionen, veränderten die natürliche Landschaft und brachten die Bestandteile der Urbanisierung mit den damit verbundenen Vor- und Nachteilen an den Berghang. Diese durch den Wintersport selbst verursachten Folgen wirkten sich zusammen mit dem wachsenden Bewusstsein um die äußeren Faktoren, zu denen in erster Linie die globale Erwärmung zählt, auf die Zukunft des Wintersports aus. Obwohl der Klimawandel nicht notwendigerweise eine Verringerung der gesamten Schneedecke in Mitteleuropa bedeutet, weisen aktuelle Klimamodelle darauf hin, dass die durchschnittliche Höhenlage für »Schneesicherheit« bis 2050 um hunderte Meter steigen wird. (Unter »Schneesicherheit« versteht man einen Durchschnitt von 100 Tagen mit ausreichender Schneelage pro Winter, der für Skigebiete benötigt wird, um wirtschaftlich rentabel zu sein.) Demzufolge hätte der Klimawandel einen nachteiligen Effekt auf die Lebensfähigkeit der Skiindustrie und wahrscheinlich auch auf die Popularität von Ski- und Wintersport als Ganzem.26 Als Reaktion auf diese Umweltveränderungen wurde ein ungewöhnliches Bündnis zwischen den ehemaligen Gegnern geschlossen. Die bisher abweichenden Ideale und Praktiken der Traditionalisten im Wintersport, die sich mit der Naturschutzbewegung und einem nachhaltigen Wintersport identifizierten (einschließlich der Absage an den umweltintensiven Alpinskisport zugunsten des Langlaufs) und der Befürworter der Technisierung des Wintersports, die die Interessen der Tourismusindustrie bis hin zu denen der Hobby-Skifahrer abdeckten, begannen sich anzunähern. Beide Seiten verstanden die endogenen und exogenen Umwelt­ probleme als mögliches Ende des Wintersports. Ganz gleich, ob man den Wintersport aus wirtschaftlichen, ästhetischen oder gesundheitlichen Gründen aufrechterhalten wollte, diese ehemals widersprüchlichen Interessengruppen begannen eine gemeinsame Basis zu finden. Daher setzte in den 1990er-Jahren ein deutlicher Trend zur Vermarktung von nachhaltigem Tourismus und Wintersport ein. Zur gleichen Zeit bevorzugte die Wintersport-Klientel Zwischen Natur und Moderne © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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zunehmend nachhaltigere Praktiken. Gemeinden wie Arosa, Neukirchen am Großvenediger und Bad Reichenhall setzten alle Bemühungen daran, die modernsten Unterkünfte und Annehmlichkeiten mit einer nachhaltigen Wirtschaftsweise zu verbinden. Für diese Gemeinden wurde Nachhaltigkeit zur entscheidenden Marketingstrategie.27 Mit diesen Veränderungen ging auch eine Anerkennung seitens der Wirtschaftsinteressen und der staatlichen Institutionen einher: Trotz des technischen Fortschritts, der eine Manipulation von Terrain und Klima möglich werden ließ, blieb das Geschäft des Wintersports von klimatischen Bedingungen und einem letzten Hauch »natürlicher« Eigenschaften abhängig. Daher zielten in den 1990ern wirtschaftliche Zwänge, staatliche Vorschriften und öffentliche Nachfrage auf die Gestaltung einer umweltverträglicheren Form des Wintersports.28

Wintersport heute Im Augenblick herrscht sowohl bei den Wintersport-Praktikern als auch in der gesamten deutschen Gesellschaft eine schizophrene Haltung gegenüber Wintersport: Auf der einen Seite besteht die Überzeugung, die Industrie habe damit begonnen, die Fehler der Vergangenheit zu erkennen und mit dem Ziel einer nachhaltigeren Zukunft ihre Handlungsweise verändert. Der Wunsch nach Nachhaltigkeit bewirkte, die oft widerstreitenden Meinungen der Wintersportbetreiber und -anhänger mit denen der Umweltschützer in Einklang zu bringen. Der nachhaltige Ansatz in der letztlich erfolglosen Bewerbung Münchens um die Olympischen Winterspiele 2018 war offensichtlich, da besonderer Wert auf die Nutzung der vorhandenen Infrastruktur und den Umweltschutz gelegt wurde. Selbst Mitglieder der Münchner Grünen unterstützen daher dieses Anliegen.29 Eine derartige Konzentration auf Nachhaltigkeit ließ allerdings zunehmend ein Nullsummenspiel von Wintersport und Umwelt bezweifeln. Vielmehr vermutete man, der Erfolg des einen werde auf Kosten des anderen erzielt. Zur gleichen Zeit gelangte man jedoch auch zu der Erkenntnis, Wintersportgebiete seien verbaut und bestimmte, sportbedingte Maßnahmen hätten dauerhafte Auswirkungen auf die Landschaft geschaffen. Diese Einstellung führte bei vielen Deutschen zu nur verhaltener Begeisterung bis hin zum offenen Widerstand gegen die deutsche 82

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Bewerbung für die Winterspiele 2018. Dies stand im deutlichen Kontrast zu der öffentlich inszenierten Unterstützung der süd­ koreanischen Bevölkerung und ihrer Politiker, die hierfür den Zuschlag erhielten. Derzeit besteht die Kulturlandschaft des Wintersports aus zwei divergierenden Vorstellungen, welche die Spaltung innerhalb der Wintersport-Kultur seit ihrer Gründung in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts wiedergeben: Die erste, euphorische Vision beschreibt die Schnittmenge des Wintersports und der natürlichen Umwelt als produktives Hochgefühl, als eine größere Wertschätzung der natürlichen Umwelt und als Flucht aus dem Alltag. Die zweite Vision wird durch Furcht bestimmt, indem sie die Beziehung zwischen Wintersport und Umwelt als nicht nachhaltig und gefährlich bewertet und die räuberische Haltung der modernen Menschheit gegenüber der Natur reflektiert.30 Beide Vorstellungen stützen sich dabei auf Erinnerungen an frühere Wintersport-Praktiken und Landschaften, die Elemente der Wahrheit, aber auch mythologisierte Aspekte enthalten. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts repräsentierten Wintersportgebiete die Landschaften, nach denen die deutsche Gesellschaft in der Moderne verlangte: ob zur Flucht aus der Zivilisation, als eine Insel des Luxus im Herzen der Natur, als Wirtschaftsmotor der Bergregionen oder als »Nationalpark für Deutsche«.31 Heute ist das euphorische Landschaftsbild und das der Angst ein und dasselbe. Weit von einem unmittelbaren Gegensatz entfernt, spiegeln moderne Wintersportgebiete die dialektische Beziehung zwischen diesen beiden Polen wider. Sie repräsentieren die Ambivalenz des Verhältnisses von Kultur und Natur in der Moderne, das die Deutschen hatten – und auch weiterhin haben. Aus dem Englischen von Sarah Waltenberger

Anmerkungen 1 Josef Ritz, Mit Auto und Ski, 9. Aufl., München 1967, S. 175. 2 Hans Bachmann, Das Skidorf aus der Retorte?, in: DSV (Hg.), Ski 24, 5 (1971/72), S. 24 f. 3 Verein zur Förderung des Fremdenverkehrs in München und im bayer. Hochland (Hg.), Winter in Bayern 1906/07, München 1906, S. 1. Zwischen Natur und Moderne © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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4 Zu den zahlreichen und oft widersprüchlichen Bedeutungen von Natur in der Moderne vgl. William Cronon, Introduction: In Search of Nature, in: ders. (Hg.), Uncommon Ground: Rethinking the Human Place in Nature, New York 1996, S. 23–56. 5 Carl J. Luther, Älter als Methusalem, in: Der Winter 32 (1938/39), S. 1. 6 Roland Huntford, Two Planks and  a Passion: The Dramatic History of Skiing, London 2008; E. John B. Allen, The Culture and Sport of Skiing: From Antiquity to World War II, Amherst 2007; Arnold Lunn, The Story of Skiing, London 1952. 7 Anton Fendrich, Der Skiläufer: Ein Lehr- und Wanderbuch, Stuttgart 1911, S. 4. 8 Schneeschuh-Verein München, XV. Jahres-Bericht pro 1907/08, München, S. 15–17. 9 Susan Barton, Healthy Living in the Alps: The Origins of Winter Tourism in Switzerland, 1860–1914, Manchester 2008. 10 Zum Beispiel bremste eine Reihe von trockenen und warmen Wintern in den nördlichen Alpen von 1895–1905 die Begeisterung fürs Skifahren in München und den Bayerischen Voralpen. Die Skiklubs konnten weder Rennen noch Kurse veranstalten, wodurch keine neuen Skifahrer gewonnen werden konnten. Vgl. Schneeschuh-Verein München, XV. Jahres-Bericht, S. 10 f. 11 Hubert Mumelter, Skifibel, München 1951, S. 28. 12 Dr. H.  Schifferdecker, Nur drei Minuten Abfahrtsglück, in: Der Winter 34 (1940/41), S. 41–43; S. 43. 13 Otto Krugmann, Wegbereiter der Kunst, in: Carl J. Luther (Hg.), Deutscher Skilauf: Ein Querschnitt, München 1930, S. 129–134; S. 132. 14 Hans Fischer, Abfahrten, die man gemacht haben muss, München 1932; ders., Noch 100 Abfahrten, München 1934; Carl J. Luther, Das weiße Reich, Berlin 1935; ders. (Hg.), Skiparadiese der Alpen, München 1933; Stefan von Dévan, Mit Auto und Ski in die Alpen, 2. Aufl., München 1956. 15 Helmut Sohre, Ein Lob dem Skilift, in: Der Winter 38 (1950/51), S. 301. 16 1969 schätzte der Deutsche Skiverband die Zahl der aktiven Skifahrer in der Bundesrepublik auf 8 Millionen. Vgl. Vertritt der DSV die deutsche Skifahrerschaft?, in: Der Winter 56 (1968/69), S. 584 f. 17 Herbert Leupold, Günter Krusche, Vergeßt den Langlauf nicht!, München 1936; Hans Brunner, Skilaufen und Skiwandern, Modeerscheinung oder Sportbewegung mit Tiefgang?, in: Der Schneehase (1969–1971), S. 37–42; Wandern und Langlauf haben Zukunft, Ein Interview mit Abteilungsleiter Wandler, in: Ski (DSV) 25 (1972/73), S. 24. 18 Hermann Kornacher, Wer stoppt den Ausverkauf unserer Berge?, in: Mitteilungen des Deutschen Alpenvereins 7 (1955), S. 19 f.; Erwin Lauterwasser, Skisport  – Alpenmord?, in: Mitteilungen des Deutschen Alpenvereins 40 (1988), S. 12 f. 19 Susan Saint-Sing, St. Moritz 1928, in: John E. Findling und Kimberly D. Pelle (Hg.), Encyclopedia of the Modern Olympic Movement, Westport, Conn. 2004, S. 289–296.

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Andrew Denning © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

20 IV. Olympische Winterspiele 1936, Garmisch-Partenkirchen: Amtlicher Bericht, Organisationskomitee für die IV. Olympischen Winterspiele 1936, Berlin 1936. 21 Offizieller Bericht der IX. Olympischen Winterspiele Innsbruck 1964, Organisationskomitee der IX. Olympischen Winterspiele in Innsbruck 1964, Wien 1967, S. 27, 76. 22 Ebd., 76 f. 23 Bernhard Tschofen, Berg, Kultur, Moderne: Volkskundliches aus den Alpen, Wien 1999; vgl. Werner Bätzing, Die Alpen: Geschichte und Zukunft einer europäischen Kulturlandschaft, München 2005, S. 44–54, 91–104. 24 Ulrike Pröbstl, Kunstschnee und Umwelt: Entwicklung und Auswirkungen der technischen Beschneiung, Bern 2006. 25 Christoph Köck, Die Ästhetik des idealen Winters: Zur Saisonalität des Skisports, in: Markwart Herzog (Hg.), Skilauf  – Volkssport  – Medien­ zirkus: Skisport als Kulturphänomen, Stuttgart 2005, S. 164 f. 26 Bruno Abegg, Palmen auf den Almen? Auswirkungen einer Klimaänderung auf den Wintertourismus, in: Wolfgang Isenberg (Hg.), Der Winter als Erlebnis: Zurück zur Natur oder Fun, Action und Mega-Events? Neue Orientierungen im Schnee-Tourismus, Bensburg 1999, S. 39–51. 27 Vgl. z. B. »Alpine Pearls,« eine Vereinigung alpiner Reiseveranstalter, die den Schwerpunkt auf »sanfte Mobilität« und nachhaltigen Tourismus legt, http://www.alpine-pearls.com/en/about-us.html (zuletzt aufgerufen am 31.7.2011). 28 Vgl. z. B. die Alpenkonvention und ihre nachfolgenden Anlagen, die sowohl eine Entwicklung der alpinen Wirtschaft mit nachhaltigen Methoden als auch die Lösung primärer und sekundärer Folgen des Wintersports anstrebt. Convention on the Protection of the Alps (Alpine Convention), unterzeichnet in Salzburg, Österreich, 7. Nov. 1991, http:// www.alpconv.org/theconvention/index_en (zuletzt aufgerufen am 31.7. 2011). 29 »Green Party Members Launch Pro-Olympic Website.«, http://www. muenchen2018.org/en/news/news-306-green-party-members-launch-proolympic-website.html (zuletzt aufgerufen am 31.7.2011). 30 Diese Unterscheidung bezieht sich auf Bales Beschreibung von Sportlandschaften, die er als »topophil« und »topophob« definiert. John Bale, Landscapes of Modern Sport, London 1994, S. 120 f. 31 Hans Thoma, Die Alpen – Nationalpark der Deutschen, in: Mitteilungen des Deutschen Alpenvereins 10 (1958), S. 151–154.

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Frank Uekötter

Die Autoritäre Versuchung: Das Reichsnaturschutzgesetz

Naturschützer sind gewöhnlich unzufriedene Menschen. Das Schwanken zwischen Engagement und Resignation ist in der deutschen Natur- und Heimatschutzbewegung eine generationenübergreifende Konstante, seit sich die einschlägigen Verbände im späten 19.  Jahrhundert konstituierten, und das hatte seine Gründe. Im dicht besiedelten Mitteleuropa war die Bewahrung und Pflege der Natur eine schwierige Aufgabe. Immer wieder kollidierten die eigenen Anliegen mit den Interessen von Landwirtschaft und Industrie, so dass zähe Verhandlungen und faule Kompromisse fast schon zur zweiten Natur geworden waren. Umso bemerkenswerter war deshalb die Mitteilung, die der Bund Naturschutz in Bayern im August 1935 an seine Gruppenführer und Vertrauens­männer schickte. Hier äußerte sich eine seltene Spezies, der begeisterte Naturschützer, denn es gab Großes zu vermelden: »Nun hat der Reichsforstmeister Göring auch den Naturschutz in seine starke Hand genommen und unseren Bestrebungen das reichsgesetzliche Rückgrat gegeben.«1 Die bayerischen Naturschützer waren nicht die einzigen, die im Sommer 1935 euphorisch waren. Am 26.  Juni 1935 hatte das nationalsozialistische Kabinett ein Reichsnaturschutzgesetz verabschiedet, das den deutschen Naturschutz juristisch und politisch auf eine neue Grundlage stellte. Das war für die einschlägigen Zirkel umso beeindruckender, als sich die Naturschutzarbeit seit Jahrzehnten ziemlich lustlos vorangeschleppt hatte. Von der Zwangspause im Ersten Weltkrieg hatte sich die Bewegung nie so recht erholt, während Wirtschaftskrisen und Autarkiebestrebungen die Kräfte der Gegenseite stärkten. Zwar hatte der preußische Landtag 1920 gefordert, die Regierung möge »mit gegebener Beschleunigung« den Entwurf für ein Naturschutzgesetz vorlegen, aber die Sache verzögerte sich über Jahre und verlief schließlich im 86

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Sande.2 So blieb der Bewegung nur das institutionelle Gerüst aus den Jahren vor 1914, als in allen Teilen des Deutschen Reiches neue Verbände, Gesetze und staatliche Stellen geschaffen worden waren. Das war im internationalen Vergleich ein durchaus leistungsfähiges Netzwerk, aber die Aufbruchstimmung, die seinerzeit in der Natur- und Heimatschutzbewegung geherrscht hatte, war Anfang der 1930er-Jahre nur noch eine ferne Erinnerung. Auch die NS-Zeit hatte wenig ermutigend begonnen. Mit dem Arbeitsdienst drohte eine Begradigung von Flüssen und eine Kultivierung von Ödland, das oft für den Naturschutz besonders wertvoll war. Die erzwungene Gleichschaltung im Reichsbund Volkstum und Heimat war unter den Vereinsmeiern geradezu verhasst. Ein weitreichendes Tierschutzgesetz, das die Nationalsozialisten gleich nach der Machtergreifung verabschiedeten, wurde nach Protesten der Mediziner rasch wieder verwässert, und ein von Göring erlassenes Totalverbot von Tierversuchen überlebte nur ganze drei Wochen.3 Auch die Verhandlungen über ein neues Naturschutzgesetz sahen wenig ermutigend aus, als das Reichsjustizministerium im Februar 1935 einen Gesetzentwurf verschickte: Vom Reichserziehungsministerium bis zum Finanzressort waren überall Bedenken und Einwände zu hören. Das änderte sich jedoch schlagartig, als sich Göring in die Verhandlungen einschaltete. Handstreichartig entzog er dem Reichserziehungsminister Bernhard Rust die Zuständigkeit für den Naturschutz, um es dem eigenen Reichsforstamt einzuverleiben, und sein dortiger Referent für Naturschutz Hans Klose machte sich eifrig an die Überarbeitung des Gesetzentwurfs. Nach wenigen Wochen war das so lange ersehnte Gesetz Realität.4 Die rasante Geschwindigkeit war nicht das einzige, was bei den Naturschützern einen tiefen Eindruck hinterließ. Das Reichs­ naturschutzgesetz enthielt so ziemlich alles, was man sich seinerzeit als Naturschützer nur wünschen konnte. Das Gesetz vereinheitlichte die Bestimmungen zu Schutzgebieten und Naturdenkmalen und schuf ein umfassendes Netz von Naturschutzbeauftragten auf Reichs-, Bezirks- und Kreisebene. Zugleich griff es den zeitgenössischen Trend auf, den Blick von einzelnen »Naturschutzflecken« auf die gesamte Landschaft zu erweitern: Seither konnten die Behörden Landschaftsschutzgebiete ausweisen, zudem waren die Naturschützer bei Projekten mit erheblichen Auswirkungen auf das Landschaftsbild anzuhören. Schließlich bot das Die Autoritäre Versuchung © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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Gesetz auch einen neuen Weg im Umgang mit Entschädigungsforderungen. Entsprechend dem NS-Grundsatz »Gemeinnutz vor Eigennutz«, Punkt 24 im Parteiprogramm der NSDAP, erklärte das Reichsnaturschutzgesetz: »Rechtmäßige Maßnahmen, die auf Grund dieses Gesetzes […] getroffen werden, begründen keinen Anspruch auf Entschädigung.«5 Die Frage der Entschädigungen hatte den deutschen Naturschutz schon länger umgetrieben. Verhandlungen mit Grundstücksbesitzern waren seit jeher eine frustrierende Erfahrung gewesen, und so wuchs schon vor dem Ersten Weltkrieg der Wunsch, dass der Staat dem Naturschutz mit neuen gesetzlichen Bestimmungen unter die Arme greifen möge. Konnte man nicht argumentieren, dass »der Staat – als Vertreter der Interessen der Allgemeinheit im Dienste der Kultur – niemand Unrecht tut, wenn er einen Einzelnen daran hindert, allen jetzt und künftig Lebenden ein unersetzliches Gut wegzunehmen«? Und wäre es deshalb nicht konsequent, Maßnahmen zum Schutz der Natur einfach von der Entschädigungspflicht zu befreien? Mit dieser Forderung wandten sich jedenfalls einige prominente Heimatschützer 1913 an die deutschen Regierungen, bezeichnenderweise in einer Denkschrift, die ausdrücklich als »vertraulich« deklariert war.6 Das blieb zwar ohne Folgen, aber die Sehnsucht nach einer solchen Regelung blieb in Naturschutzkreisen lebendig. In einem Beitrag für den Völkischen Beobachter sah Schoenichen 1933 »eine besondere Aufgabe der nationalsozialistischen Bewegung« darin, »auch solche Denkmäler der Natur und solche landschaftlich bemerkenswerten Teile unseres Heimatbodens, die sich in privatem Besitz befinden, für die Nation dauernd zu sichern«, wobei Schoe­nichen ausdrücklich Bezug auf den »Wahrspruch« »Gemeinnutz geht vor Eigennutz« nahm.7 Die neue Regelung erfüllte also einen lang gehegten Traum, und das machte sich rasch in der Alltagsarbeit des Naturschutzes bemerkbar. Man hatte nun tatsächlich Druckmittel: Wo man zuvor mehr oder weniger vom guten Willen aller Beteiligten abhängig gewesen war, konnte man nun mit entschädigungsloser Enteignung drohen und auf den Segen Hitlers und Görings verweisen. »Ich mache ausdrücklich noch einmal darauf aufmerksam, daß dieses Naturschutzgesetz auf die Initiative des Führers hin geschaffen wurde«, mahnte der Naturschutzbeauftragte des Gaus Hessen-Nassau in einem Rundschreiben.8 88

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So begann im Sommer 1935 eine Zeit, wie ihn der Naturschutz seit seinen Anfängen nicht mehr erlebt hatte. Überall begann nun eine emsige Betriebsamkeit: Dutzendfach wurden Schutzgebiete ausgewiesen, zuvor stockende Verhandlungen wiederaufgenommen und in Windeseile zum Abschluss gebracht, neue Ini­ tiativen gestartet. Selbst nach dem Krieg gerieten Naturschützer ins Schwärmen, wenn sie an diese Jahre zurückdachten. Die Verabschiedung des Gesetzes sei »eine Entscheidungsschlacht« gewesen, erklärte der badische Naturschützer Karl Asal 1949: »Was an Fortschritt ihm verdankt wird, kann nur der richtig ermessen, der vordem schon in der praktischen Naturschutzarbeit gestanden war und mit unzulänglicher rechtlicher Wehr sich mühsam hatte behelfen müssen. Mit einem Schlage war der oft genug mit Geringschätzung behandelte Naturschutz eine Größe geworden, mit der man rechnen mußte.«9 So lief die Arbeit für mehrere Jahre auf Hochtouren, und das nationalsozialistische Deutschland wurde zum einzigen Land Europas, das in den 1930er-Jahren einen Boom des Naturschutzes erlebte. Für viele Naturschützer wurde es eine geradezu rauschhafte Erfahrung, und nur ganz selten ließen sich Zweifel am Schulterschluss mit den Nationalsozialisten erkennen. Nach der langen Krise wirkte das NS-Regime wie die erste deutsche Regierung, die wirklich die Bedürfnisse des Naturschutzes erkannt hatte – ganz anders als die schwächliche Republik von Weimar. Der NS-Boom wäre möglicherweise noch größer gewesen, wenn sich die Naturschützer stärker für den Trend zu einer weiträumigen Landschaftspflege geöffnet hätten.10 Überwiegend blieb man der Tradition kleinräumiger Schutzgebiete und Naturdenkmale verhaftet und so verzettelte man sich mit unzähligen Initiativen von begrenzter Reichweite  – bis hin zur kuriosen Aufforderung der Reichsstelle für Naturschutz vom August 1937, das Vorkommen von Blutegeln in den Gewässern des Reiches zu kontrollieren (»Man wate mit nackten Beinen langsam in der Uferzone des Gewässers herum und hebe die Beine alle 1–2 Minuten hoch.«).11 Aber auch so war die Bilanz rundweg beeindruckend, zumal sich Organe, die den Naturschutz zuvor ignoriert hatten, nun plötzlich kooperationsbereit zeigten. Mit dem Reichsnaturschutzgesetz war man im administrativen Chaos des NS-Staats gewissermaßen satisfaktionsfähig geworden. 1938 endete ein fast drei Jahrzehnte währender Kampf um den Hohenstoffeln, einen Basalt­ Die Autoritäre Versuchung © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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kegelberg im südbadischen Hegau, als Göring die Stilllegung eines umstrittenen Steinbruchbetriebs verfügte. Vorausgegangen war eine Intervention des Reichsführers-SS Heinrich Himmler, der sich um eine »germanische Volksburg« auf dem Gipfel sorgte, und auch dieser Verbündete bereitete den Naturschützern keine Kopfschmerzen.12 Im Gegenteil: Als im Zweiten Weltkrieg ein Konflikt um einen Staudamm in der nahe gelegenen Wutachschlucht entbrannte und der Reichsforstmeister als Oberste Naturschutzbehörde nach langem Zögern im März 1943 seine Einwilligung gab, suchten einige Naturschützer erneut die Nähe zu Himmler. Hans Klose, seit 1938 Leiter der Reichsstelle, hatte keine Bedenken: »Wenn überhaupt etwas zu machen sein wird, so nur auf dem Wege über die SS«, schrieb er im Juni 1943 an Ludwig Finckh, der im Kampf um den Hohenstoffeln eine Schlüsselrolle gespielt hatte, und träumte gar schon von einem »Führerentscheid«, bei dem sich Himmler gegen Speer würde durchsetzen müssen.13 Am Ende ging das Kalkül freilich nicht auf. Entschuldigend teilte ein SS-Obergruppenführer im August 1943 mit, dass Himmler »gerade in letzter Zeit unerhört wichtige und vordringliche Aufgaben zu meistern hat«.14 An solche Bündnispartner wollte sich nach 1945 naturgemäß niemand mehr erinnern, und die Episode fehlt bis heute in naturschutzinternen Darstellungen des Wutachkonflikts.15 Das war aber nur ein einzelner Aspekt eines nationalsozialistischen Erbes, das eine ziemlich unübersichtliche Gemütslage ergab. Der NS-Boom löste nach dem Ende des Dritten Reichs konträre Gefühle aus, denn die sehnsüchtige Erinnerung stand neben einem Gefühl der Schuld. Man hatte endlich einmal das Ohr der Mächtigen gehabt – aber diese Mächtigen hatten Deutschland ins Verderben geführt. Man hatte für einige Jahre eine äußerst intensive Naturschutzarbeit betrieben – aber zugleich auch häufig gegen andere Interessen verloren. Man hatte mehr Naturschutzgebiete ausgewiesen als je zuvor in der deutschen Geschichte – aber was bedeutete ein solcher Schutz im Kriegs- und Nachkriegschaos? Die widersprüchlichen Empfindungen spiegelten sich geradezu mustergültig in einer Rede über den »Weg des deutschen Naturschutzes«, die Hans Klose 1948 auf einer Arbeitstagung deutscher Naturschutzbeauftragter hielt. Da sprach er wehmütig vom Boom nach dem Reichsnaturschutzgesetz, der für ihn nichts weniger als die »hohe Zeit des deutschen Naturschutz« war  – und beschwor 90

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zugleich »blutige Tränen«, da der Arbeitsdienst »auf die Landschaft losgelassen« wurde.16 Die Spannung zwischen beiden Lesarten wurde vorerst nicht aufgelöst. Es regierte ein für die Vergangenheitspolitik der Adenauerzeit typischer Impuls: Man konzentrierte sich auf die anstehenden Aufgaben und schwieg über die Vergangenheit. Bereits im Sommer 1945 hatte Klose die Naturschutzbeauftragten aufgefordert, die Reihen zu schließen: »Nur der ist heute in unseren Reihen tragbar, der fanatisch gewillt ist, sich mit aller Kraft für die heute mehr denn je bedrohte, gleichzeitig aber im Werte mehr denn je gestiegene Heimatnatur und Heimatlandschaft einzusetzen.«17 Später drückte er sich etwas weniger martialisch aus, aber die Linie blieb unverändert: Nach dem fatalen Bündnis mit dem NS-Staat zog man sich auf kleine Zirkel vertrauenswürdiger Kameraden zurück und beobachtete alle Regungen in Gesellschaft und Politik mit misstrauischer Distanz. Die Abschottung nach außen, die nach 1945 im Naturschutz allenthalben zu spüren war, hatte viel mit der Erfahrung zu tun, dass man sich beim Schulterschluss mit dem Nationalsozialismus gehörig die Finger verbrannt hatte. Wie weit die mannhafte Opposition zur Gesamtgesellschaft gehen konnte, zeigte der Tätigkeitsbericht des sauerländischen Naturschutzbeauftragten Wilhelm Lienenkämper vom Januar 1949, der mit der stolzen Erklärung schloss: »Es wurde bei vielen Behörden- und Dienststellenleitern eine zunehmende Furcht vor der Unbeliebtheit im Volke festgestellt. Solche Rückgratschwäche dient nicht zur Stärkung der Einsatzbereitschaft der Gutwilligen und ist den Erfolgen unserer Arbeit abträglich. Die Oberste Naturschutzbehörde muß gebeten werden, den Hilfsbremsern den Rücken mit Franzbranntwein einzureiben.«18 Die »hohe Zeit« wurde selbstverständlich nicht vergessen; aber sie war nichts, was man mit hehren Worten erinnern wollte. Gewiss hatte man endlich einmal kraftvoll durchgreifen können, aber man wusste eben auch, dass sich derlei in der Demokratie nicht wiederholen ließ. Man erinnerte sich zwar sehnsüchtig, wie »die Naturschutzarbeit von den Fesseln der Entschädigungspflicht befreit wurde«, ahnte aber zugleich, dass diese Zeit nun vorüber war.19 Tatsächlich schloss das Grundgesetz entschädigungslose Enteignungen grundsätzlich aus, so dass der folgenreiche Paragraph 24 des Reichsnaturschutzgesetzes gegenstandslos wurde. Die DDR verabschiedete 1954 ein Gesetz zur Erhaltung und Pflege Die Autoritäre Versuchung © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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der heimatlichen Natur und begann damit eine neue Rechtstradition.20 Ansonsten hielt sich die DDR mit Kritik an faschistischen Traditionen im westdeutschen Naturschutz jedoch zurück, zumal das mit Blick auf das eigene Personal in der Landschaftsplanung wohl rasch zum Bumerang geworden wäre.21 Da fiel es auch den westlichen Naturschützern nicht schwer, die Vergangenheit zu beschweigen. So war es bald nur noch die juristische Persistenz des Reichsnaturschutzgesetzes, das die bundesdeutschen Naturschützer an ihre Verstrickung in den Nationalsozialismus erinnerte. Dieses wollte man jedoch um keinen Preis opfern und nervös registrierte man, dass sich »mancherorts Zweifel« am Fortbestand des Gesetzes regten. »Die Landräte und die Oberbürgermeister der kreisfreien Städte als untere Naturschutzbehörden werden gebeten, bei jeder Gelegenheit mit Nachdruck auf die Gültigkeit von Reichsnaturschutzgesetz und Naturschutzverordnung und auf die Strafbarkeit von Zuwiderhandlungen hinzuweisen«, schrieb Hans Schwenkel 1950 in seinem Taschenbuch des Naturschutzes.22 Aber damit ließ sich die Debatte nicht abwürgen, zumal es auch Zweifel in den eigenen Reihen gab. Auf der Arbeitstagung deutscher Naturschutzbeauftragter 1948 zirkulierte eine anonyme Eingabe  – später stellte sich heraus, dass sie von Leo von Boxberger stammte, einem der unabhängigen Geister im deutschen Naturschutz  –, in der das Reichsnaturschutzgesetz als eines der »sog[enannten] Göring­gesetze« tituliert wurde. Die Empörung der Teilnehmer gipfelte in dem bezeichnenden Vorschlag, man solle »die Eingabe stillschweigend zu den Akten nehmen«.23 Die Apologie des Reichsnaturschutzgesetzes betonte nicht nur die Bedeutung der darin enthaltenen Bestimmungen. Das Gesetz wurde zugleich auch zum Symbol eines landesweit einheitlichen Vorgehens, insbesondere für die Reichsstelle für Naturschutz, die in Egestorf in der Lüneburger Heide eine provisorische Unterkunft gefunden hatte und nach dem Ende des Reichs um ihr Überleben kämpfte.24 Aber auch andere beklagten in den 1950er-Jahren »die Sterilität des Bundes« im Naturschutzbereich, da die Aktivitäten der einzelnen Bundesländer als unbefriedigender Ersatz galten.25 Zugleich war man bemüht, jeden Ruch eines Nazi-Gesetzes zu zerstreuen; für Asal war die Fortgeltung nach 1949 »ein schöner Beweis dafür, daß in ihm das lautere Denken und Wollen der Naturschutzbewegung unverfälscht durch politische Tendenzen seinen 92

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Ausdruck gefunden hatte.«26 Zum autoritären Charakter des NSNaturschutzes sparte man sich hingegen jeglichen Kommentar, zumal man weiterhin ohne großes Nachdenken auf die Machtmittel des Staates setzte, eine Haltung, die Jens Ivo Engels folgendermaßen kommentiert hat: »Diktatur, so scheint es, war so weit legitim, als sie der ›guten Sache‹ des Naturschutzes diente.«27 Das letzte Wort zur Fortgeltung des Reichsnaturschutzes sprachen jedoch die Gerichte. 1953 konnte die Bundesanstalt für Naturschutz und Landschaftspflege von einem Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart berichten, das die Klage eines Grundstücksbesitzers zurückwies, welche das Gesetz als »ein Lieblingskind des Nationalsozialismus« attackiert hatte.28 Kurz darauf bestätigte auch das Bundesverwaltungsgericht die Rechtsgültigkeit der Vorschriften.29 Am 14.  Oktober 1958 wurde die Fortgeltung auch vom Bundesverfassungsgericht bestätigt, das allerdings im Reichsnaturschutzgesetz ein Rahmengesetz im Sinne des Grundgesetzes erkannte und es zum Landesrecht erklärte.30 Vollends abgelöst wurde das Gesetz in der Bundesrepublik durch das Bundesnaturschutzgesetz von 1976. Schon nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts war jedoch im Naturschutz eine merkliche Beruhigung zu erkennen. Die rechtliche Situation war endgültig geklärt, die Gefahr eines fatalen juristischen Rückfalls gebannt, und neue legislative Vorhaben gab es fortan vor allem auf Länderebene. Das spiegelt sich auch in dem nüchtern-legalistischen Blickwinkel, der fortan in historischen Rückblicken auf das Reichsnaturschutzgesetz zu finden war. Ein Beitrag über »50 Jahre Reichsnaturschutzgesetz«, der 1985 in Natur und Landschaft erschien, dem Organ des staatlichen Naturschutzes in Deutschland, erwähnte zum Beispiel völlig ungerührt »zahlreiche Verbesserungen und Neuerungen«. Die von nationalsozialistischer Ideologie geprägte Präambel wurde zwar als »Negativposten« angeführt, das abschließende Urteil war jedoch positiv gestimmt: Das Gesetz habe dem Naturschutz »Grund­lagen verschafft, auf denen wir heute aufbauen.«31 Fünf Jahre später hob Wolfgang Erz an gleicher Stelle die »relativ klaren Begriffsbestimmungen für die konkreten Inhalte« hervor. Das Gesetz habe »das zu diesem Zeitpunkt an Kodifizierung für den Naturschutz Erreichbare« geboten, wobei sich der Hinweis auf den »Zeitpunkt« nicht etwa auf den Nationalsozialismus bezog, sondern auf das allgemeine Entwicklungsstadium der Naturschutzbewegung.32 Noch Die Autoritäre Versuchung © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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2005 war zum 70-jährigen Jubiläum in Natur und Landschaft zu lesen: »Das Reichsnaturschutzgesetz ist nicht als ein ideologie­ geprägtes, typisches Nazigesetz einzustufen.«33 Die hartnäckige Apologie ist umso bemerkenswerter, als es zu diesem Zeitpunkt längst eine jahrzehntelange Debatte über die nationalsozialistische Vergangenheit von Naturschutz und Landschaftspflege gab. Es waren zunächst personelle Kontinuitäten, an denen sich die Konflikte entzündeten, so etwa an der Universität Hannover, wo der Landschaftsplaner Heinrich Friedrich ­Wiepking 1946 eine neue akademische Heimat gefunden hatte, nachdem er im Zweiten Weltkrieg maßgeblich an den Planungen für die eroberten Ostgebiete beteiligt gewesen war. Ende der 1960er-Jahre stieß dies universitätsintern auf Kritik, und 1972 erklärte dort die Fachschaft der Abteilung Landespflege, »daß Herr Wiepking aufgrund seines politischen Wirkens während der NS-Zeit und der naturideologischen Interpretation der Landespflege als Repräsentant des Faches nicht tragbar wäre«.34 Ein Jahr später wurde die Verleihung eines Heinrich-Wiepking-Preises eingestellt, der seit 1961 als Nachwuchspreis verliehen worden war.35 Walter Mrass, später Leiter der Bundesforschungsanstalt für Naturschutz und Landschaftsökologie, beschrieb in seiner 1970 erschienenen Dissertation eingehend die Organisation der Landespflege in den deutschen Ostgebieten und speziell die Bezüge zum Reichskommissar für die Festigung des deutschen Volkstums.36 Seit den frühen 1980er-Jahren wurden ideologische Bezüge und personelle Kontinuitäten auch von Gert Gröning und Joachim Wolschke-Bulmahn in zahlreichen Veröffentlichungen thematisiert.37 Zu diesem Zeitpunkt war das Thema aber bereits zu einem Teilaspekt des allgemeinen Wandels der Natur- und Landschaftsschutzszene in den 70er- und 80er-Jahren geworden. Bürgerprotest und politische Ökologie mischten die betuliche, staatszentrierte Gemeinschaft auf, und NS-Bezüge waren in dieser Situation eine Trumpfkarte, mit der sich ein möglichst dramatischer Bruch mit der Vergangenheit einfordern ließ. Die NS-Vergangenheit des Naturschutzes war ein einfacher Weg, das Anliegen der zumeist jungen Reformer politisch zu überhöhen: Wenn der eigene Naturschutz demokratisch und weltoffen war, jener der Vätergeneration hingegen konservativ und autoritär, dann kämpfte man ja eigentlich noch gegen die letzten Zuckungen des Faschismus. So 94

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wurden im Streit um die NS-Vergangenheit auch tagespolitische Konflikte ausgetragen, und da brauchte man vor allem üble Zitate. Das Reichsnaturschutzgesetz, das in dieser Beziehung nicht viel hergab, rückte damit noch weiter in den Hintergrund. Sogar Gert Gröning und Joachim Wolschke-Bulmahn, die für ihre scharfe Kritik an tatsächlichen und vermeintlichen Nationalsozialisten geradezu berüchtigt wurden, kümmerten sich kaum um das Reichsnaturschutzgesetz und dessen Vollzug und erklärten sogar: »Der Gesetzestext als solcher hätte auch schon in der Weimarer Republik verabschiedet werden können.«38 Erst die umwelthistorische Forschung hat Bewegung in diese starren Fronten gebracht. Es zeigte sich, dass die Ideologisierung des Naturschutzes im nationalsozialistischen Sinne deutlich überzeichnet worden war, da im Stile einer Blütenlese nur die einschlägigen Zitate angeführt worden waren. Der Volkskundler Friedemann Schmoll spottete, dass man mit einem »eifrigen Sammeln und Markieren von xenophobischen Reizvokabeln« praktisch jede These und auch ihr Gegenteil belegen könne.39 Dass die weitaus meisten Veröffentlichungen der NS-Zeit ideologisch unverdächtig waren, war lange Zeit einfach ausgeblendet worden. Die Allianz von Naturschutz und NS-Staat, so könnte man zugespitzt sagen, vollzog sich eher im Schatten einer weitgehenden Bezugslosigkeit der jeweiligen Ideenwelten und Rhetoriken, die durch abenteuerliche Konstrukte wie die »deutsche Urlandschaft« nur notdürftig übertüncht wurde.40 Stattdessen rückte die praktische Arbeit der Naturschützer verstärkt in den Blick, wo sich rasch Hinweise auf die skizzierte, europaweit einzigartige Boomzeit in den 1930erJahren fanden. In Württemberg waren zum Beispiel von 1937 bis 1943 insgesamt 46 Naturschutzgebiete mit einer Gesamtfläche von 12.995,3 Hektar und in Baden 58 Schutzgebiete mit 7143,9 Hektar ausgewiesen worden.41 Schließlich ließ auch der internationale Vergleich die herausragende Bedeutung des Reichsnaturschutzgesetzes hervortreten. Der amerikanische Umwelthistoriker Charles Closmann nannte es »one of the industrialized world’s most wideranging conservation laws«.42 Der amtliche Naturschutz nahm dies nur zögerlich zur Kenntnis. Als 2002 auf einer Tagung des Bundesumweltministeriums die herausragende Bedeutung des Gesetzes betont wurde, zeigten sich unter den Vertretern des Naturschutzes heftige Abwehrreflexe.43 Drei Jahre später bemerkte Reinhard Piechocki zum ReichsnaturDie Autoritäre Versuchung © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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schutzgesetz: »Die Auswirkungen auf die praktische Naturschutzarbeit waren […] gering«.44 Auch der Band zum 100-jährigen Jubiläum des Bundesamts für Naturschutz sprach weitaus lieber über die ideologischen Bezüge als darüber, wie sich die prak­tische Naturschutzarbeit im NS-Staat entwickelt hatte.45 Eine neuere Veröffentlichung referiert die apologetischen Erklärungen, die Naturschützer nach 1945 für ihre Mitgliedschaft in der NSDAP formulierten und fügt hinzu, dass »die genannten Motive nachvollziehbar« seien.46 Gelegentlich werden gar Anklänge an alte Muster der Ver­ gangenheitsbewältigung erkennbar, die im Rest der Gesellschaft längst tabuisiert sind. Im Handbuch Naturschutz und Landschaftspflege beklagte Piechocki den »Missbrauch von Heimatgefühl und Naturverständnis« im Nationalsozialismus, eine Neuformulierung des alten Topos, nach dem das gutmütige deutsche Volk von bösen Mächten in die Irre geführt worden sei.47 In der Beschreibung des Reichsnaturschutzgesetzes wird weiterhin von »entscheidenden Fortschritten« gesprochen und unter anderem »die übersichtliche Systematisierung der Schutzkategorien« hervorgehoben.48 Über die rauschhafte Zeit nach 1935 redet man hingegen nicht, und die entschädigungslose Enteignung gilt weiterhin als Petitesse. Gerne weist man im Naturschutz auch auf die Naturzerstörung im NS-Staat hin, wobei manchmal schon der grobschlächtige Tonfall verräterisch ist: »Durch das brutale Urbarmachen so genannter Ödland-Flächen und ihre Kriegswirtschaft fügen die Nazis der Natur vor und nach 1935 schwerste Schäden zu«, hieß es in einer »Hintergrundinfo« zum 100-jährigen Jubiläum des Bundesamts für Naturschutz 2006 – auch das ein altbekannter Topos: deutsches Volk und deutsche Natur als wehrlose Opfer der Nazis.49 Es ist eben auch im 21. Jahrhundert eine schmerzhafte Einsicht, dass der deutsche Naturschutz ein Profiteur des Nationalsozialismus war oder sich jedenfalls so fühlte. Es ging eben nicht um fanatisierte Ideologen, die eine gute Sache missbrauchten, sondern vielmehr um »ganz normale Naturschützer«, die, überraschend mit günstigen Rahmenbedingungen konfrontiert, nahezu alle Hemmungen fallen ließen. Damit sind die damaligen Naturschützer jenen der Gegenwart sehr viel ähnlicher geworden, als es der liebgewonnene Gegensatz konservativ-autoritärer und progressivökologischer Aktivisten suggerierte. Die Herausforderungen der Gegenwart entsprechen schließlich in wesentlichen Punkten jenen 96

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der NS-Zeit: Weiterhin geht es um Schutzgebiete und Nutzungs­ beschränkungen in einem dicht besiedelten Deutschland. Das Problem der Entschädigungspflicht hat in den vergangenen zwei Jahrzehnten noch zusätzliche Brisanz bekommen. Die Umsetzung der 1992 erlassenen Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie der Europäischen Union hat durch die massive Ausweitung der unter Schutz stehenden Fläche zahllose Konflikte mit Grundstückseigentümern provoziert. Und das ist wiederum nur die europäische Variante eines weltweiten Anstiegs der geschützten Fläche, der nahezu unvermeidlich zu Konflikten mit Besitzern und indigenen Bevölkerungen führt. Längst ist zweifelhaft, ob Schutzgebiete tatsächlich die allein seligmachende Strategie des Naturschutzes sind, und doch setzt der globale Naturschutz weiter auf Expansion. Bei der Vertragsstaaten-Konferenz der Bio­diversitätsKonvention in Nagoya 2010 wurde unter anderem beschlossen, den Anteil der Naturschutzgebiete an der weltweiten Landfläche von 13 auf 17 Prozent zu erhöhen, eine Entscheidung, die zweifellos den sehr erheblichen Hass auf einen Naturschutz, der die Menschen nicht mitnimmt, weiter anfachen wird. Und so darf man abschließend vermuten: Die Debatte wird weitergehen.

Anmerkungen 1 Staatsarchiv Würzburg Landratsamt Bad Kissingen Nr. 1237, Bund Naturschutz in Bayern an die Gruppenführer und Vertrauensmänner, 28.8.1935. 2 Sitzungsberichte der verfassunggebenden Preußischen Landesversammlung, Tagung 1919/21, 9. Band, Berlin 1921, Sp. 11782. 3 Vgl. Frank Uekoetter, The Green and the Brown. A History of Conservation in Nazi Germany, New York, Cambridge 2006, S. 55–57. 4 Hans Günter Hockerts, Friedrich P. Kahlenberg (Hg.), Akten der Reichskanzlei. Die Regierung Hitler Bd. II: 1934/35, Teilband 1: August 1934 – Mai 1935. Bearbeitet von Friedrich Hartmannsgruber, München 1999, S. 556 f. 5 Hans Klose, Adolf Vollbach, Das Reichsnaturschutzgesetz vom 26.  Juni 1935 und Die Naturschutzverordnung vom 18.  März 1936, Neudamm 1939, S. 84. 6 Generallandesarchiv Karlsruhe Abt. 235 Nr. 48254, Eingabe an die deutschen Regierungen, undatiert. 7 Walther Schoenichen, Der Naturschutz im nationalen Deutschland, in: Völkischer Beobachter Jg. 46 Nr. 84, Norddeutsche Ausgabe A (25.3.1933), S. 6. Die Autoritäre Versuchung © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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8 Staatsarchiv Darmstadt G 38 Eudorf Nr. 47, Beauftragter für Naturschutz, Gau Hessen-Nassau an die Ortsringleiter, 4.6.1938. 9 Karl Asal, Bewährung und Weiterbildung des Reichsnaturschutzrechts, in: Hans Klose, Herbert Ecke (Hg.), Verhandlungen deutscher Landesund Bezirksbeauftragter für Naturschutz und Landschaftspflege. Dritte Arbeitstagung 11.  bis 13.  September 1949 Boppard am Rhein, Egestorf 1950, S. 10–20; S. 10. 10 Dazu Willi Oberkrome, »Deutsche Heimat«. Nationale Konzeption und regionale Praxis von Naturschutz, Landschaftsgestaltung und Kulturpolitik in Westfalen-Lippe und Thüringen (1900–1960), Paderborn u. a. 2004. 11 Hauptstaatsarchiv Düsseldorf BR 1011 Nr. 43 Bl. 185. 12 Bundesarchiv Berlin Document Center RSK II Nr.  I 107, S.  1586. Allgemein zu diesem Konflikt Volker Ludwig, Die Entstehung des Naturschutzgebietes »Hohenstoffeln«, in: Hegau 42 (1997/98), S. 153–90; Kurt Oesterle, Doktor Faust besiegt Shylock. Wie Ludwig Finckh den Hohenstoffel rettete und wie der Reichsführer-SS Heinrich Himmler als sein Mephisto ihm dabei half, in: Hegau 42 (1997/98), S. 191–208; Uekötter, The Green, S. 85–99. 13 BArch B 245/6 Bl. 182R. 14 Generallandesarchiv Karlsruhe Abt. 235 Nr. 48275, Der höhere SS- und Polizeiführer bei den Reichsstatthaltern in Württemberg und Baden im Landkreis V und beim Chef der Zivilverwaltung im Elsaß an Ludwig Finckh, 25.8.1943. 15 Vgl. Friedbert Zapf, »Hände weg von der Wutachschlucht!«  – Naturschützer boten Energiewirtschaft die Stirn, in: Der Schwarzwald 1 (2009), S. 4–8; Friedbert Zapf, 70 Jahre Naturschutzgebiet Wutachschlucht. Hermann Schurhammer, »alemannischer Dickschädel« und »Vater des Schutzgebietes«, in: Der Schwarzwald 3 (2009), S. 14–16. 16 Hans Klose, Der Weg des deutschen Naturschutzes, in: ders., Herbert Ecke (Hg.), Verhandlungen deutscher Landes- und Bezirksbeauftragter für Naturschutz und Landschaftspflege. Zweite Arbeitstagung 24.– 26. Oktober 1948 Bad Schwalbach und Schlangenbad, Egestorf 1949, S. ­30–46; S. 38, 40. 17 Westfälisches Archivamt Münster Bestand 717 Akte »Reichsstelle (Bundesstelle)  für Naturschutz (und Landschaftspflege)«, Der Direktor der Reichsstelle für Naturschutz, Denkblätter der Reichsstelle für Naturschutz über die künftige Wahrnehmung von Naturschutz und Landschaftspflege, 26.6.1945, S. 4. 18 Hauptstaatsarchiv Düsseldorf NW 60 Nr. 711 Bl. 35R. 19 Asal, Bewährung, S. 11. 20 Ellenor Oehler, Zur Entwicklung des Umweltrechts, in: Institut für Umweltgeschichte und Regionalentwicklung (Hg.), Umweltschutz in der DDR. Analysen und Zeitzeugenberichte. Bd.  1: Politische und umweltrechtliche Rahmenbedingungen, München 2007, S. 99–128; S. 101. 21 Vgl. Andreas Dix, »Freies Land«. Siedlungsplanung im ländlichen Raum der SBZ und der frühen DDR 1945–1955, Köln u. a. 2002.

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22 Hans Schwenkel, Taschenbuch des Naturschutzes. Ein Ratgeber für Wanderer und Naturfreunde. 2. Aufl. Salach 1950, S. 61. 23 Hans Klose, Herbert Ecke (Hg.), Verhandlungen deutscher Landes- und Bezirksbeauftragter für Naturschutz und Landschaftspflege. Zweite Arbeitstagung 24.–26. Oktober 1948 Bad Schwalbach und Schlangenbad, Egestorf 1949, S. 80 f. 24 Hans Schwenkel, Lebensbild von Dr. Hans Klose, in: Nachrichtenblatt für Naturschutz und Landschaftspflege 25 (1954), S. 21–23; S. 22. 25 Carl Duve, Das Ethos des Naturschutzes in Gesetz und Rechtsprechung, in: Konrad Buchwald u. a. (Hg.), Festschrift für Hans Schwenkel, Ludwigsburg 1956, S. 544–563; S. 553. 26 Asal, Bewährung, S. 11. 27 Jens Ivo Engels, »Hohe Zeit« und »dicker Strich«. Vergangenheitsdeutung und -bewahrung im westdeutschen Naturschutz nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Joachim Radkau, Frank Uekötter (Hg.), Naturschutz und Nationalsozialismus, Frankfurt und New York 2003, S. 363–404; S. 388. 28 Hans Klose, Aus der Bundesanstalt. Eine Richtigstellung, in: Nachrichtenblatt für Naturschutz und Landschaftspflege 24 (1953), S. 17–18; S. 17. 29 Duve, Ethos, S. 554 f. 30 Edeltraud Klueting, Die gesetzlichen Regelungen der nationalsozialistischen Reichsregierung für den Tierschutz, den Naturschutz und den Umweltschutz, in: Radkau, Uekötter, Naturschutz und Nationalsozialismus, S. 77–105; S. 104. 31 Günter W. Zwanzig, 50 Jahre Reichsnaturschutzgesetz (RNG), in: Natur und Landschaft 60 (1985), S. 275–277; S. 275, 276. 32 Wolfgang Erz, Rückblicke und Einblicke in die Naturschutz-Geschichte, in: Natur und Landschaft 65 (1990), S. 103–105; S. 105. 33 Reinhard Piechocki, In »Natur und Landschaft« zurückgeblättert … 32. Teil: Vor 70 Jahren: Das Reichsnaturschutzgesetz, in: Natur und Landschaft 80 (2005), S. 378. 34 Zitiert nach Ursula Kellner, Heinrich Friedrich Wiepking (1891–1973). Leben, Lehre und Werk, Diss. Universität Hannover 1998, S.  297. Von 1920 bis kurz nach den Zweiten Weltkrieg bezeichnete er sich unter Verwendung des Mädchennamens seiner Frau als Wiepking-Jürgensmann. 35 Ebd., S. 295–297. 36 Walter Mrass, Die Organisation des staatlichen Naturschutzes und der Landschaftspflege im Deutschen Reich und in der Bundesrepublik Deutschland seit 1935, gemessen an der Aufgabenstellung in einer modernen Industriegesellschaft (Beiheft 1 zu Landschaft + Stadt), Stuttgart 1970, S. 22–29. 37 Für eine Würdigung dieser Veröffentlichungen siehe Frank Uekötter, Natur- und Landschaftsschutz im Dritten Reich. Ein Literaturbericht, in: ders., Radkau, Naturschutz und Nationalsozialismus, S.  447–481; S. ­454–459. 38 Gert Gröning, Joachim Wolschke-Bulmahn, Liebe zur Landschaft. Teil 1: Natur in Bewegung. Zur Bedeutung natur- und freiraumorientierter BeDie Autoritäre Versuchung © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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wegungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts für die Entwicklung der Freiraumplanung, Münster 1995, S. 200. Friedemann Schmoll, Die Verteidigung organischer Ordnungen. Naturschutz und Antisemitismus zwischen Kaiserreich und Nationalsozia­ lismus, in: Radkau, Uekötter, Naturschutz und Nationalsozialismus, S. 169–182; S. 169. Dazu ausführlich Ludwig Fischer, Die »Urlandschaft« und ihr Schutz, in: Radkau, Uekötter, Naturschutz und Nationalsozialismus, S. 183–205. Bärbel Häcker, 50 Jahre Naturschutzgeschichte in Baden-Württemberg. Zeitzeugen berichten, Stuttgart 2004, S. 28. Vgl. auch Thomas M. Lekan, Imagining the Nation in Nature. Landscape Preservation and German Identity, 1885–1945, Cambridge, Mass. u. a. 2003; Oberkrome, »Deutsche Heimat«; Thomas Zeller, Straße, Bahn, Panorama. Verkehrswege und Landschaftsveränderung in Deutschland von 1930 bis 1990, Frankfurt und New York 2002; Uekoetter, The Green. Charles Closmann, Legalizing  a Volksgemeinschaft. Nazi Germany’s Reich Nature Protection Law of 1935, in: Franz-Josef Brüggemeier, Mark Cioc, Thomas Zeller (Hg.), How Green Were the Nazis? Nature, Environment, and Nation in the Third Reich, Athens, Ohio 2005, S. 18–42; S. 23. Frank Uekötter, Naturschutz und Nationalsozialismus – Erblast für den Naturschutz im demokratischen Rechtsstaat? in: Natur und Landschaft 77 (2002), S. 422–423; S. 422. Piechocki, In »Natur und Landschaft« zurückgeblättert, S. 378. Hans-Werner Frohn, Friedemann Schmoll (Bearb.), Natur und Staat. Staatlicher Naturschutz in Deutschland 1906–2006, Bonn-Bad Godesberg 2006. Almut Leh, Hans-Joachim Dietz, Im Dienst der Natur. Biographisches Lese- und Handbuch zur Naturschutzgeschichte in Nordrhein-Westfalen (1908–1975), Essen 2009, S. 41. Reinhard Piechocki, Naturschutz im Nationalsozialismus, in: Werner Konold, Reinhard Böcker, Ulrich Hampicke (Hg.), Handbuch Naturschutz und Landschaftspflege. Kompendium zu Schutz und Entwicklung von Lebensräumen und Landschaften, 20. Ergänzungslieferung, Landsberg 2006, S. 1–22; S. 17. Ebd., S. 9. Hintergrundinfo »100 Jahre Naturschutz als Staatsaufgabe«, online verfügbar unter http://www.bfn.de/fileadmin/MDB/documents/hintergrund_ 100_jahre.pdf, S. 4.

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Sarah Waltenberger

Sebastian Kneipp: Ein Erinnerungsort wird gemacht Abschied von Kneipp Kneipp verlässt Wörishofen  – und das zum zweiten Mal. 1897 führte Sebastian Kneipps Ableben zu einer verstärkten Erinnerungsbildung in Wörishofen. Gedenktage, Jubiläumsfeierlichkeiten und Denkmale sollten sicherstellen, dass man sich seiner auch in Zukunft erinnern würde. Heute sind es wirtschaftliche Überlegungen, die die bisher eifrig gepflegte Verbindung von Kneipp und seiner Wirkstätte beenden sollen. Die Ankündigung der KneippWerke, ihre Produktion in Bad Wörishofen bis Mitte 2013 aufzugeben, verunsichert nicht nur den Bürgermeister des Ortes, der massive Veränderungen aufgrund der »Entfernung des Marktkerns« befürchtet.1 Der schwäbische Kurort bangt derzeit zweifellos um seine Identität. Aber was hat die Verlagerung eines Firmen-Standorts mit 40 Mitarbeitern damit zu tun? Und wie kam es überhaupt dazu, dass ein Beichtvater aus dem 19. Jahrhundert zur Markensubstanz einer Firma wurde, die heute Aromabäder, Kosmetik- und Saunaartikel vertreibt?2 Eines lässt sich jedoch mit absoluter Gewissheit feststellen: Jeder kennt heute Kneipp und seine Wasserkur. Er besitzt also als Kristallisationspunkt kollektiver Erinnerung einen festen Platz in der deutschen Gedächtnislandschaft. Die große Frage ist: Warum? Eindrücklich zeigt die Erinnerungsgeschichte von Kneipp, dass es sich bei Erinnerung nicht um einen unvermeidlichen Automatismus handelt. Die Erinnerung an ihn war und ist immer auch mit ganz konkreten Interessen verbunden und muss daher als Teil eines gesteuerten Prozesses betrachtet werden.

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Vom schwäbischen Weberkind zum »Helfer der Menschheit« Von Beginn an war Kneipps Vita ein wichtiger Aspekt der Erinnerungsbildung. Sowohl er selbst als auch seine Anhänger betonten die ärmliche Herkunft, seine harte Kindheit und die Widrigkeiten mit denen er zu kämpfen hatte. Vor diesem Hintergrund wirkt Kneipps Aufstieg zum »Helfer der Menschheit«3 noch ­dramatischer. Sebastian Kneipp wurde am 17.  Mai 1821 in Stephansried im Unterallgäu als viertes Kind eines Landwebers geboren. Da er früh selbst am Webstuhl sitzen musste, endete sein regulärer Schulbesuch bereits mit zwölf Jahren. Sein Ziel Geistlicher zu werden, konnte er aber letztlich durch die Unterstützung eines verwandten Kaplans verwirklichen. Dr. Matthias Merkle bereitete ihn auf den Besuch des Dillinger Gymnasiums vor, das im Herbst 1844 den 23-jährigen Kneipp aufnahm. Sein bereits angeschlagener Gesundheitszustand verschlechterte sich zunehmend im Verlauf seines Theologiestudiums (1848–1852) in Dillingen und München. Während eines Besuchs der Königlichen Hof- und Staatsbibliothek 1849 stieß er jedoch auf das Buch von Johann Sigmund Hahn Unterricht von der Kraft und Wirkung des frischen Wassers in die Leiber der Menschen. Hierdurch angeregt gelang es ihm, sich mithilfe regelmäßiger Bäder in der Donau selbst zu kurieren. Kneipps Genesung bildete den Ausgangspunkt seiner Krankenbehandlung – zunächst von Kommilitonen, dann von Gemeindemitgliedern und später von tausenden Kurgästen.4 Die eigene Heilung einer Krankheit, bei deren Behandlung die Schulmedizin versagt hatte, ist dabei ein gängiges Muster, das sich insbesondere unter den Vertretern der Naturheilkunde finden lässt. Dieses Ereignis in Kneipps Biographie spielte sowohl für seine Popularität als auch für die Legitimation seiner Behandlungsmethoden eine tragende Rolle. Indem Kneipp immer wieder die Wirksamkeit seiner Heilweise durch seine Selbstheilung betonte, konstruierte er sich zum lebenden Beweis seines Schaffens: »Was aber mir zur Gesundheit verholfen hat, als ich ein Kandidat des Todes war, das dürfte wohl auch Andere zu heilen geeignet sein.«5 Am 5. August 1852 empfing er im Dom zu Augsburg seine Dia­ konats- und am 6. August 1852 die Priesterweihe. Dem folgte am 102

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24. August 1852 die Primiz in Ottobeuren. Bevor er im April 1855 zum Beichtvater der Dominikanerinnen in Wörishofen berufen wurde, war er in Biberach, Boos und Augsburg als Kaplan tätig.6 Seine ersten Jahre in Wörishofen waren vor allem von der Arbeit in der klösterlichen Wirtschaftsführung geprägt, was sich auch in der Thematik seiner frühen Publikationen widerspiegelt.7 Durch den Einsatz von Entwässerungsverfahren, der Einführung neuen Saatguts und Versuchen mit künstlichen Düngemitteln gelang es ihm, die Klosterwirtschaft gewinnbringend auszubauen. Auch in der Viehhaltung verzeichnete er beträchtliche Erfolge, indem er neue Rinderrassen zur Zucht einsetzte und die Stallungen ausbaute. Aufgrund seiner besonderen Verdienste in der Bienenzucht avancierte er unter anderem zum »schwäbischen Bienenvater«.8 Den Grund für die Interessenverlagerung – weg von den Wasseranwendungen und hin zur Landwirtschaft – sah sein späterer Biograph und Wegbegleiter Alfred Baumgarten in Kneipps Bestreben, den Verdacht einer gewinnsuchtorientierten Krankenbehandlung abzuwenden.9 Von Beginn an hatte Kneipp nämlich mit Anzeigen und Beschwerden aufgrund seiner Heiltätigkeit zu kämpfen. Apotheker und Schulmediziner, die eine »Gewerbebeeinträchtigung« oder »Kurpfuscherei« befürchteten, versuchten ihn wiederholt per richterlichem Beschluss zu stoppen. Gleichwohl therapierte er während dieser Zeit weiterhin die Ordensfrauen und Bediensteten in der Badeküche des Klosters. Seinen eigenen Angaben zufolge experimentierte er auch mit der Behandlung kranker Tiere durch Wasseranwendungen.10 Dabei war er zutiefst überzeugt, Wasser sei das »vorzüglichste und allgemeinste Heilmittel«.11 Dieser Universalanspruch kulminierte bei Kneipp in einer Mystifizierung des Wassers als einem durch Gott gegebenen Allheilmittel. Obwohl Kneipp nicht der erste Verfechter der Wasserheilkunde war, vermied er es, an seine Vorgänger anzuknüpfen und betonte immer, durch eigene Erfahrung die rechte Therapie entwickelt zu haben.12 Dabei berief er sich stets auf seine bäuerliche Herkunft, die ihm die einzig wahre, durch Bescheidenheit geprägte Lebensweise nahe gebracht habe und für ihn das Ideal und Vorbild sinnvoller Existenz blieb: Die Ernährung, die Art der Kleidung und das Barfußgehen übernahm er aus dem Milieu des bäuerlichen Elternhauses. Als weitere Quelle benannte er die Volksheilkunde, aus der er zahlreiche Anwendungen übernahm, so etwa die Kräuterbäder, Fußbäder und Essigwaschungen.13 Neben den WasseranwendunSebastian Kneipp © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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gen als Heilmethode entwickelte er ein umfassendes Gesundheitssystem, das auf folgenden fünf Säulen basiert: Hydrotherapie als Lehre der Heilung, Bewegungstherapie als Lehre der Gesunderhaltung,14 richtige Ernährung unter Einschränkung von Genussmitteln,15 Heilkraft der Kräuter16 und Ordnungstherapie als Lehre des seelischen Gleichgewichts17. Internationale Berühmtheit erlangte Kneipp durch seine beiden Publikationen Meine Wasserkur (1886) und So sollt ihr leben (1889). Der daraufhin einsetzende Besucherstrom nach Wöris­ hofen veranlasste Kneipp, ab 1890 täglich öffentliche Ansprachen zu halten – seine Zeit reichte einfach nicht mehr aus, um mit jedem Kurgast einzeln in Kontakt zu treten. Zugleich übernahm ein im selben Jahr gegründeter Kneipp-Verein die Koordination der Besuchermassen in Wörishofen. Als Vereinsorgan erschienen erstmals 1892 die Kneipp-Blätter, die der »Verbreitung der Grundsätze des Herrn Pfarrers Kneipp«18 dienen sollten. Um seine Heilmethode im Ausland bekannter zu machen, unternahm Kneipp zudem ab 1892 zahlreiche Vortragsreisen durch ganz Europa, unter anderem 1894 nach Rom, wo er anlässlich seiner Ernennung zum päpstlichen Geheimkämmerer in einer persönlichen Audienz von Papst Leo XIII. empfangen wurde. Häufig löste Kneipps Besuch in seinen Vortragsorten neue Vereinsgründungen aus. Hierdurch steigerte Kneipp nicht nur seinen Bekanntheitsgrad, sondern konnte auch neue Mitglieder und Spendengelder akquirieren. Um sich gegen die Angriffe der Schulmedizin zu schützen und sein Vermächtnis zu sichern, hatte Sebastian Kneipp bereits früh die Zusammenarbeit mit einzelnen Schulmedizinern gesucht  – den sogenannten »Kneippärzten«. 1894 institutionalisierten sich diese und gründeten den Internationalen Verein Kneipp’scher Ärzte. Im Zeitraum von 1894 bis 1897 verschlechterte sich Kneipps Gesundheitszustand zusehends, so dass er nicht mehr in der Lage war, seine Wassergüsse selbst vorzunehmen und sich weitgehend aus der Öffentlichkeit zurückzog. Am 17.  Juni 1897 starb Sebastian Kneipp im Alter von 76 Jahren in Wörishofen. Wie berühmt Kneipp durch sein Wirken geworden war, zeigt die enorme Zahl der Trauergäste. Insgesamt sollen sich bis zu 6000 Gäste anlässlich der Beerdigung in Wörishofen eingefunden haben.19

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Die Wörishofener und ihr Kneipp Der durch Kneipps Schriften ausgelöste Besucherandrang in Wörishofen veränderte das Erscheinungsbild des Ortes grundlegend. Innerhalb weniger Jahre wurde Wörishofen mittels der Kneipp’schen Lehre zum internationalen Kurort. Bereits 1888 können erste bauliche Maßnahmen als Reaktion auf den wachsenden Kurbetrieb registriert werden. Neben einem Restaurant entstand das erste eigens für Kneipp’sche Wasseranwendungen konzipierte Badehaus. Von 1889 bis 1897 erfolgten insgesamt 132 Neu- und 243 Um- und Erweiterungsbauten, um den wachsenden Besucherstrom bewältigen zu können.20 Auch die Infrastruktur der Gemeinde wurde den neuen Erfordernissen entsprechend gestaltet: 1896 wurde aufgrund des steigenden Briefverkehrs eine eigene Postagentur in Wörishofen eingerichtet. Ebenso erfolgte ab 1893 der Ausbau der Kanalisation. Auch der Anschluss an das Eisenbahnnetz ließ nun nicht mehr auf sich warten. Am 4.  Juni 1895 gründeten Wörishofer Bürger zusammen mit Sebastian Kneipp die Localbahn-Actien-Gesellschaft. Die elektrisch betriebene Bahn brachte neben der verbesserten Verkehrsanbindung noch einen weiteren Vorteil – den Bau eines Elektrizitätswerkes, das ab dem 7. Februar 1896 sämtliche Haushalte in Wörishofen mit elektrischem Licht versorgte.21 Neben Infrastrukturmaßnahmen bemühte sich die Wöris­ hofer Bevölkerung um eine touristenkompatible Förderung des gesellschaftlichen Lebens. Schließlich wollte man dem Anspruch eines Kurortes gerecht werden. Ein erster Schritt hierfür war 1889 die Gründung eines Verschönerungsvereins, der sich für die Gestaltung des Kurparks einsetze. Um neben dem regulären Kur­ betrieb für Unterhaltung zu sorgen, wurde 1895 das Museum Artis er­öffnet, das als Veranstaltungsort für Konzerte, Ausstellungen und Theateraufführungen genutzt wurde. Ebenso wurde ein sogenannter Lawn-Tennis- und Chroquet-Platz errichtet. Ein winter­ liches Freizeitangebot wurde durch die Aufstauung des Dorfbachs geschaffen, so dass die Kurgäste bei Blasmusikbegleitung Schlittschuh laufen konnten.22 Infolge der Modernisierung wurde Wörishofen zunehmend für die »höhere Gesellschaft« als Kurort interessant. Ein großer Teil des internationalen Hochadels, geistliche sowie weltliche Würden­ Sebastian Kneipp © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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träger und Repräsentanten des Großbürgertums waren in Wörishofen zur Kur. Die neue Möglichkeit mit dem Fremdenverkehr Geschäfte zu machen und die Modernisierungsmaßnahmen innerhalb des Ortes ließen die Bevölkerung von 1880 bis 1900 um 250 Prozent anwachsen.23 Die Einwohnerstatistik des Ortes ist daher auch ein Indikator für den Erfolg der Kneipp’schen Lehre. Kneipps gezielte Öffentlichkeitsarbeit spielte bei der Etablierung Wörishofens zum Kurort eine tragende Rolle. So stellte er zum Beispiel in den 1880er-Jahren den ehemaligen Hoffotografen Fritz Grebmer an und erteilte ihm die Aufgabe, ihn gemeinsam mit berühmten Gästen zu fotografieren. Anschließend hatte Grebmer dafür Sorge zu tragen, dass die Bilder europaweit in Zeitungen veröffentlicht wurden.24 Und auch die enge Beziehung zwischen Kneipp und dem Erzherzog Franz Joseph I. von Österreich-Ungarn erwies sich bereits zu seinen Lebzeiten als äußerst gewinnbringend: Der Erzherzog, der wiederholt in Wörishofen kurte und als großzügiger Geldgeber auftrat, gilt als Initiator für Kneipps Ernennung zum Päpstlichen Geheimkämmerer. Außerdem zeigte er sich vor allem in den Kreisen des Adels als ausgezeichneter Propagandist der Kneipp’schen Heilweise. Des Weiteren war es wohl seine Kneipp-Begeisterung, die zu dem hohen Anteil österreichischer Kurgäste um die Jahrhundertwende beitrug.25 Sebastian Kneipp wirkte aber nicht nur durch seine Beziehungen, sondern auch selbst aktiv an Wörishofens Gestaltung zur Kneipp-Stadt mit. Gleichzeitig steuerte er damit maßgeblich die Art seiner Wahrnehmung in der Öffentlichkeit. So sollten seine zahlreichen Stiftungen sein caritatives Wirken öffentlich sichtbar werden lassen. Zugleich wird durch die Namensgebungen der Stiftungen sein ausgeprägtes Selbst- und Sendungsbewusstsein deutlich: Bereits 1890 erfolgte die Grundsteinlegung des »Sebastianeums«. Dem folgte 1893 die Einweihung des so genannten »Kinderasyls«, mit dessen Eröffnung am Sebastianstag Kneipp wiederum seine eigene Person betonte. Das 1896 seine Pforten öffnende Kurhaus »Kneippianum« verweist abermals unmittelbar auf den Stifter. Ferner widmete sich Kneipp nach seiner Ernennung zum Pfarrer 1881 in Wörishofen umfangreichen Restaura­ tionsarbeiten, infolgedessen er der Pfarrkirche 1891 eine neue Glocke, die »Sebastiana«, stiftete.26 Den Grundstein für die heute übermächtige Omnipräsenz in »seiner« Stadt hat Kneipp demnach selbst gelegt. 106

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Allerdings fand der bis 1897 anhaltende Aufwärtstrend mit Kneipps Tod zunächst ein jähes Ende. Während 1892 12.107 Gäste in Wörishofen zu Kur waren, wurden 1898 lediglich 6341 und 1899 sogar nur 6035 Besucher erfasst. Um diese Krise zu überwinden, lag es vor allem im Interesse des Ortes, die Erinnerung an die Person Sebastian Kneipp wach zu halten und gleichzeitig die enge Beziehung zwischen Wörishofen und seiner Heilmethode »als Mittelpunkt der Kneippbewegung«27 zu betonen  – zumal die Kneipp’sche Lehre nicht an eine geographische Besonderheit, eine Heilquelle oder Ähnliches, gebunden war. Zu diesem Zweck setzte unmittelbar nach Kneipps Tod eine aktive Erinnerungspflege durch den Bau von Denkmälern, zum Beispiel dem KneippBrunnen 1897, der Kneipp-Büste 1899, dem Kneipp-Standbild 1903, zahlreichen Gedenktafeln im Ort und Straßenumbenennungen ein.28 Auch die Jubiläumsfeierlichkeiten, so etwa Kneipps 100. Geburtstag am 17. Mai 1921, wurden zur aktiven Erinnerungsbildung herangezogen.29 Gleichzeitig erfolgte ein umfassender Spendenaufruf, mit Hilfe dessen man die Errichtung eines Kneipp-Museums plante.30 1937 wurde zudem ein Kneipp-Mausoleum, bestehend aus Gruftkapelle und Marmorsarkophag, in Bad Wörishofen gebaut.31 In diesem Zusammenhang muss auch die Wappenverleihung an Wörishofen durch König Ludwig III. im Mai 1915 erwähnt werden. Entgegen dem ausdrücklichen Wunsch des Wörishofer Gemeinderats, eine Gießkanne abzubilden, entschied sich jedoch die zuständige Wappenkommission aus heraldischen Gründen für einen silbernen Wellenbalken. 1920 erfolgte die Erhebung der Gemeinde zur Stadt und noch im selben Jahr wurde Wörishofen vom Bayerischen Staatsministerium des Innern zum »Bad« ernannt.32 Für den anhaltenden Besucherstrom in den 1930ern war insbesondere die Praxis der Kinderlandverschickungen durch die 1933 gegründete Nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV) verantwortlich.33 Die Aufnahme der Kneipp-Kurorte in den Reichsfremdenverband und in das Amt für Reisen, Wandern und Urlaub (RWU) lösten eine Welle von Kurortsgründungen nach Wöris­ hofer Vorbild aus. Als Abteilung der nationalsozialistischen Tourismusorganisation Kraft durch Freude (KdF) garantierte die RWU nämlich eine konstante Besucherzahl. Zweifellos muss somit dem staatlich verordneten Tourismus im Dritten Reich eine bedeutende Rolle in der Entwicklung des Kurorts Wörishofen zuSebastian Kneipp © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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gedacht werden.34 In der Nachkriegszeit war vor allem die An­ erkennung als Kneipp-Heilbad 1948 für die wachsenden Besucherzahlen in den 50er-Jahren entscheidend. Weitere Baumaßnahmen wie die Errichtung eines Hallenbads 1962, einer Kunsteisbahn 1972 und die Erschließung eines Golfplatzes 1977 steigerten die Attraktivität des Ortes. Den seit 1993 rückläufigen Gästezahlen – eine Folge der Gesundheitsreformen  – wurde mit der Planung eines Thermalbads begegnet. Mit der Eröffnung des Erlebnisbads Bad Wörishofen im Mai 2004 wurde neben dem Kurbetrieb ein zweites Standbein geschaffen.35 Die anfänglichen Bedenken einiger Kritiker, die »Südsee-Therme« führe zu einer »Verwässerung der Kneipp-Lehre«, zeugen vom Bewusstsein um das große Erbe der Stadt.36 Gleichzeitig offenbart sich in dieser Diskussion der Spagat der Wörishofener zwischen Traditionspflege und Moderni­sierung.

»Kneipp wirkt. Seit 1891« Trotz der eingangs erwähnten Aufgabe der Ur-Kneipp-Stadt als Produktionsstandort legen auch die Kneipp-Werke großen Wert auf ihre lange Geschichte. Dabei scheint der Hang zur Tradition kein Spezifikum der Kneipp-Werke zu sein, die bis 2006 mit ihrem Slogan »Kneipp wirkt. Seit 1891« explizit diesen Aspekt betonten. Neben dem Vertrauen in das Produkt soll damit zugleich auch eine langandauernde Verbraucherakzeptanz signalisiert werden. Ob Persil, Oetker oder eben Kneipp – es gilt: »Je älter, je besser«.37 Die Ursprünge der Kneipp-Werke lassen sich bis in die 1890erJahre zurückverfolgen, da zu dieser Zeit Kneipps Popularität auch wirtschaftliche Interessen weckte. Einzelne Hersteller begannen sich auf Produkte zu spezialisieren, die auf die von Kneipp entwickelten Methoden zugeschnitten waren. Die neu entstandenen Erzeugnisse wurden dabei aggressiv mit dem Begriff Kneipp als Garant für Qualität und Wirksamkeit beworben. Die Palette der vertriebenen Artikel umfasste unter anderem Reformkostüme, Kur- und Badeartikel, Kneipp-Sandalen, Kneipp-Malz-Kaffee und Kneipp-Brot. Das sich damals ausbreitende neue Bewusstsein für Gesundheit und den eigenen Körper schlug sich unmittelbar in der davon profitierenden Ökonomie nieder. 108

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Diese Entwicklungen, die insbesondere durch das Erscheinen seiner beiden Hauptwerke Meine Wasserkur und So sollt ihr leben ausgelöst wurden, nahmen derart überhand, dass sich Kneipp 1893 zum Handeln veranlasst sah und öffentlich erklärte, er stehe sämtlichen Fabrikanten fern.38 Diese Aussage traf allerdings nicht gänzlich zu, da er bereits 1890 die Mechanische Leinenspinnerei Memmingen bevollmächtigt hatte, ihre Produkte »KneippWäsche« nennen zu dürfen. Zudem ging er eine Partnerschaft (inklusive einer Gewinnbeteiligung) mit dem Würzburger Apotheker Leonhard Oberhäußer ein, aus der die späteren Kneipp-Heilmittelwerke hervorgingen.39 Kneipp berechtigte allein Oberhäußer mit der Herstellung und dem Vertrieb von Heil-, Lebens-, Körperpflege-, Gesundheits-, Diät- und Arzneimitteln.40 Neben einer stetig wachsenden Produktpalette kam es ab 1920 zu einer enormen Aufwertung durch die Belieferung von Apotheken. Oberhäußers Enkel, Luitpold Leusser, der ab 1951 das Unternehmen als KneippHeilmittel-Werk weiterführte, war hauptverantwortlich für den in den 1970er-Jahren eintretenden Boom der Kneipp-Produkte, da er die Vertriebskanäle auf Drogeriemärkte und den Lebensmitteleinzelhandel ausweitete. 2001 erwarb die Paul Hartmann AG 80 Prozent der Unternehmensanteile und wurde schließlich nach erheblichem Ausbau des internationalen Marktes im April 2008 alleiniger Anteilseigner. Heute beschäftigt die Hartmann AG weltweit 10.220 Mitarbeiter und erwirtschaftet eigenen Angaben zufolge 1,76 Mrd. Euro Umsatz (Stand 2012).41 Kneipps Funktionalisierung als Werbeträger ist also keineswegs ein Phänomen der jüngsten Vergangenheit. Auch die wechsel­ seitige Reklamewirkung von beworbenem Produkt und der Person Kneipp existierte bereits zu Kneipps Lebzeiten. Schon Adolf ­Brougier, Teilhaber der Firma Franz Kathreiner, erkannte 1913, dass Werbung maßgeblich zur Verbreitung des Namens Kneipp beigetragen hatte.42 Die kontinuierliche Berufung der Industrie auf ihren Begründer Sebastian Kneipp ist daher sicher entscheidend dafür verantwortlich, dass dieser noch heute bekannt ist. Unterstellt man dem Begriff Unternehmer jedoch eine gewinnorientierte Handlungsweise, so erklärt sich auch, warum vor allem Kneipps Gegner zu seinen Lebzeiten diese negativ konnotierte Lesart akzentuierten. So wurde der Erfolg des gesamten »KneippFanatismus« ausschließlich auf die »Reklame gewinnsüchtiger Speculanten« zurückgeführt.43 Außerdem stützten sich seine Sebastian Kneipp © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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Kontrahenten auf den Vorwurf der Bereicherung, da hiermit ein Merkmal der Kurpfuscherei gegeben war und Kneipp juristisch belangbar wurde.44 Aus diesem Grund akzentuierten Kneipps Widersacher aus der Naturheilkunde und Schulmedizin insbesondere den Aspekt, dass Geld geflossen ist. Kneipp selbst und seine Anhänger hingegen betonten stets wohin das Geld floss  – nämlich in die zahlreichen Stiftungen. Zu klären, woher das Geld kam, lag weniger in deren Interesse. Kneipps eigene Zielsetzung ist hierbei offensichtlich: Erstens wollte er sich vor möglichen Anzeigen schützen und zweitens seine Stellung als Pfarrer nicht riskieren. Seine Anhänger wiederum hatten ihn bereits zu Lebzeiten derart zum selbstlosen Samariter hochstilisiert, dass auch nur der Verdacht, er habe durch sein Handeln finanzielle Vorteile erhalten, als Angriff galt. Auch die Vorstellung, Kneipp hätte ein Interesse an der flächendeckenden Bekanntheit seiner Person gehabt oder sogar selbst dazu beigetragen, wurde zunehmend undenkbar. Bis heute gilt es, das Bild des selbstlosen und einfachen Dorfpfarrers, der den Rummel um seine Person ablehnte, aufrecht zu erhalten.

Der Naturheiler Betrachtet man die Werbestrategie der Kneipp-Werke, so offenbart sich noch eine weitere Konstruktion an Erinnerungsbildung, die an bestimmte Interessen geknüpft ist. Indem das Unternehmen 2006 ihren Werbeslogan in »Kneipp wirkt. Natürlich« änderte, sollte Sebastian Kneipp als großer Naturheiler im kollektiven Gedächtnis installiert werden. Die Zielsetzung liegt auf der Hand: Das etwas angestaubte Markenimage sollte verjüngt und die Produktpalette im Hinblick auf die boomende Naturkosmetik erweitert werden. Auch hier handelt es sich keineswegs um ein Novum. Die Erinnerung an Kneipp als Vertreter der Naturheilbewegung hat eine weit zurückreichende Tradition, die allerdings weniger selbstverständlich ist, als es uns heute erscheinen mag. Insbesondere die Naturheilbewegung selbst spielte bei diesem Erinnerungsstrang eine wichtige Rolle. Zu Kneipps Lebzeiten bestand zunächst keinerlei Interesse an dieser Interpretation  – weder bei Kneipp, seinen Anhängern und schon gar nicht bei den Vertretern der 110

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Naturheilbewegung. Einer der Gründe, der zunächst besonderen Anstoß bei den Naturheilern erweckte, war der Titel des Buches Meine Wasserkur. Die Tatsache, dass abgesehen von einigen Modifika­tionen die Wasseranwendungen bereits bekannt waren, nahmen die Anhänger der Naturheilbewegung zum Anlass, Sebastian Kneipp und seine Methode als »pure Nachahmung« zu entlarven.45 Auch nach Kneipps Tod wurden die Vertreter der Naturheilbewegung nicht müde, den Erfolg seiner Methode damit zu erklären, dass Kneipps Leser einer gewissen Klientel angehörten und nur deshalb seine Bücher »immer noch wie ein Blitz in die Finsternis der deutschen Volksdummheit einschlagen«.46 Aber auch die Kneippianer übten sich nicht in Zurückhaltung und bezeichneten wiederum die Anhänger der Naturheilbewegung als »Todesfeinde«47 und »törichte Eiferer«48. Die Kluft zwischen diesen beiden Lagern zementierte sich auch auf organisatorischer Ebene. Sowohl Sebastian Kneipp als auch seine Befürworter grenzten sich von jeglichen ideellen und ideologischen Kämpfen der Verbände für eine bessere naturgemäße Ernährungs- und Heilweise ab und gründeten zur eigenen Interessenvertretung selbständige Organisationen und Publikationsorgane. Dieser von Kneipp eingenommene Sonderweg musste von der Naturheilbewegung wiederum als Provokation verstanden werden, zumal beide Bewegungen ähnliche Zielgruppen ansprachen. Ein weiterer Streitpunkt war das Verhältnis zur Schulmedizin. Kneipps gezielte Zusammenarbeit mit Ärzten und die Gründung des Internationalen Vereins Kneipp’scher Ärzte 1894 bedeutete für die Anhänger der Naturheilbewegung den größten Verrat: Kneipp »verkaufte« ihre Behandlungsmethode an die verhassten Schul­ mediziner. Zudem lehnte er im Gegensatz zur Naturheilkunde Medikamente nicht prinzipiell ab, sondern verwies lediglich auf den alternativen und »spottbilligen«49 Einsatz von Heilkräutern. Dieser uns heute sehr »natürlich« anmutende Ansatz widersprach allerdings der Auffassung der Naturheiler, die zunächst lediglich die Faktoren Wasser, »zweckmäßige Diät, Bewegung, Luft, Licht und Wärme« zu Therapiezwecken duldeten.50 Die Anwendung von Kräutern hingegen war ebenso wenig wie die Medizinalheilkunde mit den Grundsätzen der Naturheilkunde vereinbar, die schlicht jede Form der »Rezeptmedizin« ablehnte und Kneipps »Verbrennesselung« und »Verheublumung«51 als Angriff auf die arzneilose Heilweise beschrieb. Sebastian Kneipp © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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Auch Kneipps eigener Lebensstil wurde den Ansprüchen der Naturheilkunde nicht gerecht und bot wiederholt Anstoß zur Kritik. Kneipp, dem eigenen Erscheinungsbild nach zu schließen kein Kostverächter, war weder Vegetarier noch sprach er sich für ein generelles Verbot von Genussmitteln wie Bier und Tabak aus. Aus­ sagen wie »Ich bin nicht Puritaner und gestatte gern ein Glas Wein oder Bier« riefen tiefes Unverständnis in den Reihen der Natur­ heilbewegung hervor.52 Auch die Kneippbewegung sah zunächst keine Notwendigkeit, die Nähe zur Naturheilkunde zu suchen, sondern bemühte sich um die Anerkennung innerhalb der Schulmedizin. Infolge der zunehmenden Zusammenarbeit mit einzelnen Ärzten war es den Kneippianern daher umso wichtiger, die Distanz zur Naturheilbewegung zu wahren. Besonders die Kneippärzte versuchten stets, ihre Selbständigkeit zu behaupten und ein Aufgehen der Kneipplehre in einer allgemeinen Naturheilkunde zu verhindern. Unter Akzentuierung der Unterschiede versuchte man sich von der Naturheilbewegung weitgehend zu emanzipieren. Insbesondere nach 1920, als die Kneippbewegung in ihrer Organisationsstruktur gefestigt war und im Gegensatz zu den Naturheilverbänden weiter an Popularität gewann, wurde kein Grund für eine Annäherung ge­sehen. Indem wiederholt betont wurde, dass Kneipp seinen eigenen Weg ging und keineswegs kopierte, wurde der Anspruch auf die eigene Originalität betont.53 Auch wollte man mittels der Distanzierung auf das mildere, weniger martialische Vorgehen Kneipps verweisen, das einem breiteren Publikum attraktiv gemacht werden sollte. Schon Kneipp hatte nämlich feststellen müssen, dass »nichts das Wasser als Heilelement so sehr in Verruf und Mißkredit [bringt] als indiskretes, maß- und vernunftloses Anwenden« durch bestimmte Naturheiler.54 Im selben Zusammenhang steht wohl auch die weniger strenge Lebensführung, die im Gegensatz zur Naturheilkunde weitaus geringer von Verboten dominiert wurde. Während in den 1920er-Jahren die Kneippianer an Selbst­ bewusstsein und Mitgliedern gewannen, hatte hingegen die Naturheilbewegung ihren Zenit überschritten. Dies erklärt auch die zu dieser Zeit einsetzende Kurskorrektur der Naturheiler: Die bisher von völliger Ablehnung und martialischer Wortwahl geprägte Beziehung wandelte sich zunehmend in eine Annäherung, die ein Aufgehen der wachsenden Kneipp-Gemeinde in die eigene Orga112

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nisation anstrebte. Trotz allen Widerstands hatten die Anhänger der Naturheilbewegung es nämlich nicht verhindern können, dass mit der von Vincenz Prießnitz populär gemachten Hydrotherapie zunehmend der Name Kneipp verbunden wurde. Das schwindende Bewusstsein um Prießnitz, der als Ikone der Naturheilbewegung galt, sollte jetzt mit der neuen Galionsfigur Sebastian Kneipp kompensiert werden. Nach der Gleichschaltung des Kneipp-Bunds mit der Reichsarbeitsgemeinschaft der Verbände für naturgemäße Heil- und Lebensweise 1934 schien dieses Ziel erreicht worden zu sein.55 Das nun zwangsweise durchgesetzte Aufgehen der KneippVereine veranlasste wiederum die Kneippbewegung, ihre Führungsrolle innerhalb der allgemeinen Naturheilkunde einzufordern. Um die Hierarchie zu verdeutlichen, wurde im Gegensatz zu früheren Deutungen Sebastian Kneipp jetzt auch von seinen Anhängern als wesentlicher »Reformator und Vollender« der Naturheilkunde bezeichnet.56 Nach dem Zweiten Weltkrieg konnte die Naturheilbewegung nicht mehr an die Erfolge der Vorkriegszeit anschließen  – der Kneipp-Bund ging hingegen aus der NS-Zeit vergleichsweise gestärkt hervor und entwickelte sich in der Bundesrepublik zum bedeutendsten Verband dieser Bewegung. Wie erfolgreich die Vereinsarbeit wieder aufgenommen werden konnte, zeigen die rasant anwachsenden Mitgliederzahlen in den Jahren 1949 bis 1958 von 9000 auf 50.000.57 Infolge der eigenen Reorganisation suchten daher viele ehemalige Prießnitz-Vereine die Nähe zur Kneipp­ bewegung und formierten sich zu sogenannten Prießnitz-KneippVereinen. Die Konkurrenz zwischen der Naturheilbewegung und den Kneippanhängern schien sich damit weitgehend erübrigt zu haben. Heute versucht sowohl die Kneippbewegung als auch die Kneippindustrie den Aspekt der naturgemäßen, ganzheitlichen Heilungsmethoden zu betonen. Mit dem Image des großen Naturheilers gilt es vor allem, dem derzeit alle Lebensbereiche erfassenden Natur-Trend gerecht zu werden. Kneipp als Naturheiler »ist aktuell wie nie«.58

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»Der Wasserdoktor« Neben der Naturheilbewegung lässt sich die Schulmedizin als wichtige Akteursgruppe der Erinnerungsbildung identifizieren. Um Kneipps Aufstieg zum »Wasserdoktor« nachvollziehen zu k­ önnen, muss vor allem ihre Wahrnehmung genauer betrachtet werden. Insbesondere der Beginn von Kneipps Heiltätigkeit war seitens der Schulmediziner von Distanzierung und Bekämpfung geprägt. Nachdem Kneipp während seiner Zeit in Boos eine choleraerkrankte Magd behandelt hatte und zunehmend unter dem Titel »Cholera-Kaplan« Bekanntheit erlangte, hatte ihn die konser­vative Schulmedizin im Visier.59 Einer daraufhin eingehenden Anzeige folgten zahlreiche weitere Anklagen wegen Gewerbebeeinträchtigung, Kurpfuscherei und Körperverletzung durch Vertreter der Ärzteschaft. Die Ablehnung durch den Ärztestand erklärt sich zum einen mit ihrem neu etablierten Verständnis von Krankheit und Gesundheit. Humorale, solidare und vitalistische Theorien, die auch Kneipp vertrat,60 wurden wissenschaftlich widerlegt und stattdessen der lokale pathologische Prozess ins Zentrum einer strikt naturwissenschaftlichen Betrachtung gerückt. Die daraus resultierende Überzeugung, Krankheiten überwiegend mit Medikamenten zu behandeln, führte zu erbitterten Kämpfen mit der Naturheilkunde.61 Zudem war die schlechte Organisation des Berufsstandes der Ärzte bis Mitte des 19. Jahrhunderts für die aggressiven Abgrenzungsversuche von den Nichtprofessionellen im Gesundheitswesen verantwortlich. Die Etablierung der Ärzteschaft als geschützter Beruf mit staatlich legitimierter Sachkompetenz ist erst ein Produkt der zweiten Hälfte des 19.  Jahrhunderts. Es bedurfte mehrerer Medizinalreformen, um exakte Trennlinien zwischen den unterschiedlichen medizinischen Kompetenzbereichen zu ziehen und deren Einhaltung zu garantieren. Zum anderen führten die verschiedenen Theorien von Krankheit, Heilung und Behandlung und die Vielfalt der eigenständigen Berufsgruppen dazu, dass innerhalb der Ärzteschaft der Zusammenhalt eher gering ausgeprägt war. In einem Punkt waren sich aber alle einig: Den Kurpfuschern musste das Handwerk gelegt werden.62 Sebastian Kneipp, dem Laien ohne naturwissenschaftliche Bildung und Arbeitsweise, musste daher ebenfalls Einhalt geboten werden. Das 114

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zur Verfügung stehende Mittel bildete das sogenannte Kurierverbot von 1851, das die Ausübung des Heilerberufes an die Bedingung einer staatlichen Genehmigung knüpfte. Aber auch nach der Wiederherstellung der Kurierfreiheit 1873 bewegte sich Kneipp mit seiner Heiltätigkeit in einer rechtlichen Grauzone. Die vehemente Bekämpfung der Naturheiler hinderte die Vertreter der Schulmedizin allerdings nicht, sich für ihre Behandlungsmethoden zu begeistern. Trotz des starken Aufschwungs der Klinischen Hydrotherapie im späten 19. Jahrhundert blieb es für die Schulmedizin das oberste Anliegen, sich von Kneipp, einem Mitglied der »Sekte von Naturärzten«, abzugrenzen.63 Es galt, die Hydrotherapie als Tätigkeitsfeld innerhalb der Schulmedizin zu etablieren und Kneipps unwissenschaftliche Arbeitsweise zu diffamieren, da diese dem gesamten Ärztestand »bedeutenden moralischen und materiellen Schaden« gebracht habe.64 Wie weit die Anfeindungen gingen, zeigt eine telegraphische Nachricht von 1889, die vermeldete: »Pfarrer Kneipp ist um die mitternächtliche Stunde in seiner Badewanne gestorben.«65 Die daraufhin erschienenen Pressemitteilungen, Kondolenzschreiben und eintreffenden Trauergäste in Wörishofen zwangen Kneipp zu einer Gegendarstellung. Nachdem er sich höflichst »für die Anteilnahme und die zahlreichen Zusagen zu [s]einem Leichenbegräbnis« bedankt hatte, äußerte er unmissverständlich, wer für diese »boshafte Erfindung« zuständig gewesen sei: seine Gegner innerhalb der Schulmedizin.66 Trotz dieser Konflikte waren es letztlich approbierte Ärzte, die Kneipps Wasseranwendungen wissenschaftlich begründeten und für die Überlieferung seines Erbes sorgten. Die Grundlage hierfür hatte Kneipp noch zu seinen Lebzeiten gelegt: Da sich mit seiner wachsenden Popularität die Angriffe der Mediziner häuften, entschloss sich Kneipp 1887, Ärzte in seinen Sprechstunden hinzuzuziehen, die ihn vor Fehldiagnosen und Kurpfuscher-Klagen bewahren sollten. Der erste ständig anwesende Arzt war Dr. Bernhuber. Ihm folgte im Jahr 1888 Dr. Kleinschrod, der die Lehre Kneipps unter medizinischen Gesichtspunkten weiterentwickelte. Weitere wichtige Ärzte, die sich in Kneipps Dienst stellten, waren Dr. Bergmann und Dr. Baumgarten. Letzterem war es vor allem ein wichtiges Anliegen, Kneipps Lehre wissenschaftlich zu begründen und die Verbreitung der Kneipp’schen Heilmethode voranzutreiben.67 Als wohl wichtigstes Ergebnis dieser ZusamSebastian Kneipp © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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menarbeit ist die schon erwähnte Gründung des Internationalen Vereins Kneipp’scher Ärzte 1894 zu nennen. Neben dem gegenseitigen Erfahrungsaustausch galt die wissenschaftliche Erforschung und Vertretung des Kneipp’schen Heilverfahrens in der Öffentlichkeit als Zweck dieser Organisation.68 Ebenso sollte mit Hilfe einer theoretischen Grundlage um Akzeptanz innerhalb der naturwissenschaftlich orientierten Schulmedizin geworben und der Beweis erbracht werden, dass nicht »Sinnestäuschungen, Suggestionen und fanatische Ideen« für die Heilung verantwortlich seien.69 Neben der Kooperation mit approbierten Ärzten war Kneipps Entscheidung, sein Erbe an die Medizin weiterzureichen, zu­ kunftsweisend. Indem Ärzte durch therapeutische Neuerungen zur weiteren Ausgestaltung des Heilverfahrens beitrugen und sich in aktuelle medizinische Diskussionen einschalteten, hielten sie seine Methode am Leben. Auch die Tatsache, dass sich die Kneippärzte, im Gegensatz zur Naturheilbewegung, in kritischen Fragen wie dem Impfzwang eher zurückhaltend äußerten, trug bedeutend zu ihrer breiten Akzeptanz bei.70 Da viele Kneippärzte selbst Kurorte nach Wörishofer Vorbild gründeten, leisteten sie zudem einen wichtigen Beitrag bei der Verbreitung der Kneipp’schen Lehre. Nach Kneipps Tod führte allerdings seine Entscheidung zugunsten der Kneippärzte zu massiven Unstimmigkeiten, die die Bewegung zu spalten drohten. Waren zuvor die Kneippianer, zu denen sowohl Laien als auch Kneippärzte zählten, geschlossen gegen die »Allopathen«71, die konservativen Schulmediziner, an­ getreten, so schien sich nun diese Verbindung wieder in das althergebrachte Muster von Wissenschaftlern und Nichtprofessionellen aufzuspalten. Der kurze aber heftige Nachfolgerstreit wurde von der Frage bestimmt, ob Kneipps Lehren unter der Leitung eines Kirchenmannes, also eines Laien, bewahrt oder von Ärzten weiter­ entwickelt und erforscht werden sollten. Um sich gegenüber der Schulmedizin zu etablieren, sprachen sich nun auch die Kneippärzte ausdrücklich gegen die Laien­ heilkunde aus und betonten, dass Kneipp kein Arzt war. Einerseits versprachen sich die Kneipp-Mediziner davon, Kneipps »vorsinthflutliche« wissenschaftliche Kenntnisse zu entkräften und seine »Ungenauigkeiten« bzw. »Unrichtigkeiten« als »ein Zeichen von Originalität und Selbständigkeit« interpretieren zu können.72 Andererseits wurde durch die Akzentuierung der Nichtprofessio116

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nalität die Notwendigkeit der eigenen Rolle innerhalb der Kneippbewegung gestärkt, die erst unter ärztlicher Aufsicht ihre volle Legitimation erhielte. Trotz ihrer Bemühung, die Methoden wissenschaftlich zu begründen, stießen die Kneippärzte bei vielen Vertretern der klassischen naturwissenschaftlichen Medizin weiterhin auf immense Ablehnung. Zum Beispiel verwies der Direktor des Münchener Allgemeinen Krankenhauses, Professor Dr. von Ziemssen (1829–1902), »solche Afterärzte […] von der Schwelle der geheiligten Wissenschaft«.73 Im Gegensatz zu den Medizinern wollten vor allem die KneippVereine Kneipp als Arzt verstanden haben. Verstärkt trat diese Deutung infolge der Nachfolgerdebatte und dem problematischen Verhältnis zu den Kneippärzten auf. Dies spiegelt sich insbesondere in den Themen wider, die in dem Organ des Wörishofener Stamm-Kneipp-Vereins publiziert wurden. Obwohl eine eigene Zeitschrift der Kneippärzte existierte, widmeten sich die Autoren  – meist Laien  – neben der Vereinsberichterstattung beinahe ausschließlich medizinischen Themen. Dabei muss ihre Betonung der Arzt-Funktion als Plädoyer für die Laienheilkunde verstanden werden, die mit Kneipp als Paradebeispiel beweisen wollte, wie gewinnbringend und wenig schädlich die Ausübung der Heiltätigkeit durch einen nicht studierten »Arzt« sein kann. Durch die zahlreichen Beschreibungen zur Selbstbehandlung wollte man sich zudem von dem durch die Kneipp-Mediziner eingenommenen Standpunkt abheben, dass die Behandlung ausschließlich ­Sache der Ärzte sei. Kneipps Charakterisierung als »gottbegnadeter Arzt«74 sollte neben der Stärkung der Laienheilkunde auch seine Ebenbürtigkeit mit der Schulmedizin betonen. Ab circa 1920 kann jedoch eine grundlegende Veränderung im Umgang der Schulmedizin mit der Kneipp-Methode festgestellt werden, die sich in einer zunehmenden Annäherung äußerte. Als wohl bedeutendstes Ereignis ist die am 10. Juni 1923 veranstaltete Exkursion des medizinischen Lehrstuhls der Universität München nach Bad Wörishofen zu erwähnen. Diese Lehrveranstaltung markierte einen Wendepunkt im gegenseitigen Verständnis. Erstmals informierten sich Vertreter der naturwissenschaftlich aus­gerichteten Universitätsmedizin vor Ort über das in Bad Wörishofen praktizierte Verfahren. Prof. Gottfried Böhm, der damalige Abteilungsleiter für physikalische Therapie des Krankenhauses rechts der Isar, resümierte: »Die Zeiten, in welchen speziell die Sebastian Kneipp © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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medizinischen Universitätskreise das Kneipp’sche Heilverfahren gleichgültig oder ablehnend behandelten, sind vorüber.«75 Eine weitere Begebenheit, die im Kontext der Annäherung nicht unerwähnt bleiben darf, ist die Errichtung klinischer Stützpunkte in Krankenhäusern. Durch den Einsatz Kneipp’scher Heilmethoden im Rahmen der stationären und ambulanten Behandlung waren diese nun nicht mehr auf den Kurbetrieb beschränkt.76 Damit war nicht nur eine Annäherung von Schulmedizin und der Lehre Kneipps vollzogen worden, die Schulmedizin begann auch die einzelnen Verfahren in ihren Behandlungsablauf zu integrieren. Dieser Meinungsumschwung erklärt sich zum einen durch das neue Interesse der Schulmedizin an Kneipps Abhärtungs­ maßahmen, die eine Fülle von Beispielen für die an Bedeutung gewinnende Präventivmedizin boten. Zum anderen deckte sich die von Kneipp propagierte ganzheitliche Behandlung mit der neuen Ganzheitsbetrachtung des Patienten, die nicht nur den lokalen Krankheitsprozess, sondern den ganzen Menschen berücksichtigte. Und schließlich waren es die verstärkten Autarkiebestrebungen, die Kneipp als billige und einfache Alternative zum Medikamenteneinsatz attraktiver werden ließen. Letzteres kann insbesondere nach 1933 für den Erfolg der Kneipp’schen Heil­ methoden verantwortlich gemacht werden. Im Zuge der umfassenden Veränderung von Gesellschaft, Kultur und politischem System wandelte sich auch die Erinnerung an Sebastian Kneipp ab 1933 grundlegend. Signifikant ist hierbei vor allem die bewusste Reminiszenz an den deutschen, gesunden, volkstümlichen Arzt, der für die Parteiinteressen und politischen Ziele instrumentalisiert wurde. Dass hier der nationalsozialistische Topos der Volksgemeinschaft Pate stand, ist offenkundig. Innerhalb des NS-Konzepts der »Gesundheitsführung« erlangte die Naturheilkunde, der auch Kneipp zugerechnet wurde, einen speziellen Stellenwert, da diese für die sozialdarwinistische Politik der Artverbesserung und Wehrertüchtigung nützlich erschien. Die Gleichschaltung aller Verbände der Lebensreformbewegung und ihrer spezifischen Zielrichtungen sollten eine breite »Volksgesundheitsbewegung« ins Leben rufen. Hierzu wurde die Synthese von Elementen der Naturheilkunde und der Schulmedizin in der Neuen Deutschen Heilkunde (NDH) angestrebt. Kneipp, der genau dieses Ziel durch seine Integration innerhalb der Medizin wiedergab, wurde zum Musterbeispiel für die NDH. Besonders seine Anleitungen zur Ab118

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härtung und seine alternative Kräutermedizin rückten in den Fokus. Angeregt durch seine Arbeit wurde er insbesondere für das SS-Heilkräuterprogramm zur Referenz.77 Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs hielt das Interesse der Schulmediziner weiter an, die sich im Februar 1948 im Kneippärztebund neu organisierten. Der wohl folgenreichste Schritt war die von ihnen initiierte Aufnahme Wörishofens in den bayerischen Heilbäderverband 1949. Für die Zukunft war damit die Grundlage für die Finanzierung durch gesetzliche Krankenkassen geschaffen worden, die unter dem Slogan »Reha vor Rente« lange Zeit die Kneipp-Kur förderten. Mit der Neubewertung der ambulanten Badekur und den damit verbundenen Kürzungen Ende der 1990er-Jahre trat auch eine Neuorientierung ein. Themen wie Wellness bzw. »Kneippness« als »das deutsche Ayurveda«78 und Anti-Aging scheinen derzeit die klassische Krankenbehandlung in der Kneipp-Therapie zunehmend in den Hintergrund zu drängen.

Der Geistliche Stadtvater, kurstädtischer Motor, Naturheiler, Marke, Begründer der Wellnessbewegung oder auch Arzt – diese uns heute präsenten Interpretationen verdrängen zunehmend ein Bild aus der öffentlichen Wahrnehmung, nämlich das von Kneipp als Geist­ lichem. Bis zu seinem Tod war dies allerdings gänzlich anders und das lag vor allem an Kneipp selbst. Kneipp war stets immens bemüht, primär als Pfarrer wahrgenommen zu werden. Zu diesem Zweck legte er bei seinen öffentlichen Vorträgen nie die Soutane ab und auch auf Fotografien war es ihm stets ein Anliegen, durch sein Ordensgewand als Kirchenmann kenntlich zu sein. Bilder ohne Talar finden sich lediglich aus seiner Zeit vor Wörishofen, als er noch nicht in der Öffentlichkeit stand. Die Legitimation seiner Doppelfunktion als Priester und Heiler führte Kneipp auf sein Verständnis vom Menschen als ganzheitlichem Wesen aus Körper, Geist und Seele zurück. Daher erklärte er auch die Krankenbehandlung als zwangsläufigen Aspekt seiner Tätigkeit als Geistlicher. Um keinen Zweifel an seiner Funktion aufkommen zu lassen, betonte er in seinen Schriften, dass er in erster Linie Priester und Seelsorger sei. Lediglich durch das »Mitleid mit den Leidenden getrieben«, sah er sich gezwungen, als Heiler tätig zu Sebastian Kneipp © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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werden, obwohl dies ihm »Undank, Spott und Hohn« eingebracht habe.79 Kneipp sah sich selbst als Opfer, das selbstlos handelte und ungerechterweise dafür bestraft wurde. Dieser von Kneipp in Umlauf gebrachte Nimbus wurde von seinen Anhängern mit Dankbarkeit aufgriffen und gipfelte schließlich in einer Glorifizierung zum »Priesterarzt«.80 Die posthume Legendenbildung mit Visionen und Jesusvergleichen,81 die ihn zum Übermenschen verklärte, war sicherlich eine wichtige Grundlage für den Erfolg und das Weiterbestehen seiner Methoden. Diese pathosgeschwängerte Sicht auf Kneipp als barmherzigen Samariter – an der er nicht ganz unschuldig war82 – blendet nur allzu gern die Aspekte seines aktiven Unternehmertums aus.83 Auch die Behauptung, dass Wörishofen vor allem von einfachen, armen, aus der Landbevölkerung stammenden Kranken aufgesucht wurde, lässt sich mit Blick auf die Kurlisten kaum bestätigen. Vielmehr zeigt sich hier seine Klientel als das Who-is-Who des europäischen Hochadels und des solventen Wirtschaftsbürgertums. In diesem Zusammenhang ist außerdem die Tatsache interessant, dass Kneipp sein Ansehen als Priester dafür einsetze, seine Publikationen zu legitimieren, indem er die von der Kirche verliehenen Ehrungen stets seinem Namen anfügte.84 Anlässlich seiner Ernennung zum Monsignore 1893 soll er geäußert haben: »Mir ischs ganz gleich, aber für die Methode mag’s gut sein!«85 Dieser Umstand erklärt auch, warum sich Kneipp so vehement um eine Wahrnehmung als Geistlicher bemühte. Neben dem Schutz vor dem Konkurrenzdenken der Ärzte nutze er seine kirchliche Autorität, um die Glaubwürdigkeit seiner Person und seiner Heilmethoden zu steigern. Innerhalb der Schulmedizin wurde daher auch Frage diskutiert, ob »Kneipp […] mit seiner Methode diese gewaltige Verbreitung gefunden [hätte], wenn ihn nicht sein Priester­ gewand, sein Talar, geschützt und empfohlen hätte«.86 Dass dieser Erinnerungsstrang nach Kneipps Tod schnell an Bedeutung verlor, lag vor allem an dem Verhalten der Kirche. Im Gegensatz zu Kneipp selbst war die katholische Kirche eher auf Abstand bedacht und sprach ab 1850 zahlreiche Verwarnungen gegen Kneipp aus, die ihn von seiner Heilertätigkeit abhalten sollten.87 Die Vermutung liegt also nahe, dass es sich bei Kneipps Einsatz in Wörishofen um eine »Strafversetzung«88 handelte, die Kneipp in der Provinz als Beichtvater der Nonnen isolieren sollte. Da die von Kneipp neu besetzte Stelle bereits 40 Jahre vakant war 120

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und sich im Kloster gerade einmal sieben Schwestern befanden, wird dieser Eindruck bestärkt.89 Der enorme Priestermangel in den städtischen Gebieten zu dieser Zeit spricht ebenfalls für diese These. Obwohl die Beschwerden der Schulmediziner an das Bischöfliche Ordinariat in Augsburg nicht abrissen, blieb es letztlich bei Verwarnungen und der vehementen Forderung an Kneipp, »alles zu unterlassen, was für ihn selbst schädlich werden könnte«.90 Selbst der Vorwurf, ein großer Anteil von Kneipps Arbeit läge in Konversionen, blieb folgenlos.91 Dass die Anschuldigungen gegen Kneipp ohne Konsequenzen für ihn blieben und er schließlich sogar vom Papst empfangen wurde, ist vermutlich seinen großen Fürsprechern, dem Erzherzog von Österreich-Ungarn und seinem geistigen Ziehvater Mathias Merkle, zu verdanken. Die katholische Kirche pflegte insgesamt gesehen eine ambivalente Beziehung zu Sebastian Kneipp. Einerseits war man von offizieller Stelle bemüht, einen gewissen Abstand zu wahren und Kneipp von größeren juristischen Verstößen abzuhalten. Andererseits kann man an dem hohen Anteil Geistlicher unter den Kurgästen das enorme Interesse an Kneipps Methode erkennen. Dass sich Geistliche der Kneipp’schen Methode vermutlich näher fühlten, als der rein auf Naturwissenschaften basierenden Medizin oder der die Natur gottähnlich verehrenden Naturheilkunde, erscheint plausibel und mag als wichtiger Faktor deren beträchtliche Zahl unter den Besuchern erklären. Dennoch bleibt zu vermuten, dass nicht nur gesundheitliche Motive für einen Besuch in Wörishofen verantwortlich waren. Vielmehr ging es auch um die Überprüfung, ob die heilende Tätigkeit von Kneipp auch mit der Würde des geistlichen Amtes vereinbar sei. Dieser Verdacht bestätigt sich insbesondere durch den hohen Frauenüberschuss in Wörishofen und die Tatsache, dass Kneipp entgegen der kirchlichen Moralvorstellungen gemischtgeschlechtlich baden ließ. Daher mehrten sich die Geschichten über das »sündige Wörishofen«, das dringend beobachtet werden musste. Aufgrund von Beschreibungen Wöris­ hofens als »Indianerdorf, […] in welchem dunkelgebräunte und halbnackte Weiber auf junge Geistliche Jagd machen«,92 war es für die katholische Kirche ein Anliegen, ihre Rolle als Hüterin des sittlichen und moralischen Empfindens glaubhaft zu verteidigen. Demnach kann davon ausgegangen werden, dass mit Kneipps Tod – zumal sein Erbe an die Ärzte ging – für die katholische Kirche dieses Kapitel vorerst abgeschlossen war. Um einen endgülSebastian Kneipp © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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tigen Schlussstrich zu ziehen und Ähnliches in der Zukunft zu vermeiden, untersagte Bischof Pankratius von Dinkel 1898 allen Geistlichen der Diözese Augsburg aufs Schärfste die Ausübung der Heilkunde.93 Trotz aller Unstimmigkeiten zwischen Kneipp und seinen geistlichen Vorgesetzten waren sie sich in einem Punkt einig: Er war Geistlicher – und sonst nichts. Interessanterweise wurde Kneipps Lesart als Mann der Kirche auch gerne von den Vertretern der Medizin aufgegriffen. Speziell die Kneippärzte versuchten unter Betonung dieser Funktion, seine methodischen Ungenauig­keiten oder schlicht Falsches zu entkräften. Ebenso wurden verfeindete Vertreter der klassischen Schulmedizin nicht müde zu erklären, dass Kneipp nur Pfarrer war – allerdings mit der Intention, ihm die Legitimation zur Heilung abzusprechen. Die Kneipp-Vereine hingegen vermieden weitgehend eine derartige Betrachtung. Ihr Anliegen war es Kneipp als ernstzunehmenden Arzt darzustellen. Neben der Etablierung innerhalb des Ärztestandes war es den Vereinen ein besonderes Anliegen, die Persönlichkeit Sebastian Kneipp für viele Menschen attraktiv und interessant erscheinen zu lassen. Seine Charakterisierung als einer von ihnen, als volkstümlicher, bodenständiger, humorvoller Mann mit derben Sprüchen sollte zur Identifikation einladen.94 Ein respekteinflößender Priester wäre dieser Aufgabe kaum gerecht geworden. Erst mit der Zäsur des Zweiten Weltkriegs ist eine Re-Sakralisierung bzw. eine bewusste Darstellung Kneipps als Dorfpfarrer zu beobachten. Mittels des Duktus der katholischen Kirche schuf man mit Kneipp ein unvorbelastetes Instrument zum Transport von Werten wie Heimat und Volkstum. Seine Deutung als volkstümlicher Menschenfreund und heimatverbundener Volksheld, der sich gegen die ignorante Obrigkeit auflehnte, kommt besonders eindrücklich in dem 1958 von Wolfgang Liebeneiner produzierten Heimatfilm Sebastian Kneipp – Der Wasserdoktor zum Ausdruck. Anlässlich des 100. Todestags von Kneipp 1997 schien auch die Kirche wieder ihren berühmten Vertreter zu entdecken: Der »Weltpriester«95 Kneipp als sympathischer Botschafter der eigenen Sache.

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Kneipp – der gemachte Erinnerungsort Bereits zu Sebastian Kneipps Lebzeiten führte eine rege Rezeption zur Ausdifferenzierung unterschiedlicher Interpretationen. Auch nach seinem Tod unterlag die Art, wie sich an ihn erinnert wurde, wiederholt substantieller Veränderung. Dabei handelte es sich weniger um eine lineare Abfolge von gewandelten Bildern, sondern eher um einen verzweigten Diskurs, da ältere Narrationen durch neue ergänzt, nicht aber völlig verdrängt wurden. Diese Dynamik der Erinnerung birgt das Potential, das häufig als unscharf kritisierte Erinnerungsort-Konzept zu konkretisieren: Schwammige Beschreibungen von Erinnerungsorten als Elemente der Vergangenheit, die sich in der Erinnerung zu Figuren »formen«, implizieren einen selbständigen, von äußeren Bedingungen losgelösten Vorgang. Wie aber gezeigt werden konnte, handelte es sich bei Kneipp stets um einen bewussten, zielgerichteten Erinnerungsprozess, der an ganz bestimmte Akteure gebunden war. So wurde klar, dass Kneipp aktiv auf seine Wahrnehmung als Geist­ licher Einfluss nahm. Seine schriftlichen Erklärungen, öffent­ lichen Auftritte und Fotografien lassen einzig diese Interpretation zu. Zugleich erschuf sich Kneipp durch gezielte Öffentlichkeitsarbeit zum caritativen Stifter und lebenden Beweis seiner Lehren. Die katholische Kirche, die nach seinem Tod unter allen Umständen einen zweiten Heiler in den eigenen Reihen verhindern wollte, erreichte ein Verblassen dieser Lesart unter Auslassung weiterer Bezugnahme. Die Kneipp-Werke wiederum bauten ganz gezielt ihr Firmenimage um die Marke Kneipp auf und betonen je nach aktueller Produktpalette und Zielgruppe mal den geschichtsträchtigen Qualitätsgaranten, mal den innovativen Naturheiler Kneipp. Das Verhalten der Naturheilbewegung war ebenfalls durch die jeweilige Situation und das eigene Selbstverständnis bestimmt. Während zu Beginn noch die Unterschiede hervorgehoben und Kneipp als Verräter, Nachahmer und den Grundsätzen der Naturheilkunde zuwider handelnder Betrüger bezeichnet wurde, ließen die schwindenden Mitgliederzahlen in den eigenen Reihen Kneipp zur Ikone der Bewegung werden. Die Ärzteschaft wiederum, die anfangs noch aufgrund der Konkurrenzsituation Kneipp als »­Pfuscher« diskreditierte, öffnete sich im Zuge der eigenen Professionalisierung gegenüber der Kneipp’schen Lehre. Und nicht Sebastian Kneipp © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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zuletzt war da die Wörishofer Bevölkerung, die nach Kneipps Tod mithilfe von Jubiläen und Denkmälern die eigene Sonderrolle betonte und Kneipp im Ortsbild verankerte. Wie immens wichtig diese »Verortung« von Sebastian Kneipp in Wörishofen noch immer für die Identität der Stadt ist, zeigt die eingangs beschriebene Verunsicherung der Bevölkerung. Die Kneipp-Werke hingegen brauchen diesen geographischen Bezug nicht mehr. Wo produziert wird und welche Produkte das Konterfei des Pfarrers bewirbt, scheint variabel geworden zu sein: Körperöle, Handtücher, Vitaminpräparate oder Kindershampoo – der Phantasie sind hier keine Grenzen gesetzt. Der Eindruck der unerschöpflichen Interpretationsmöglichkeiten setzt sich auch in anderen Bereichen fort: Kneipp-Weltrekord, Kneipp-Kindergarten, Kneipp-Erlebniscamp, Kneipp-Hotel, Kneippiade etc. Und irgendwie ist heute ja auch alles ein bisschen Kneipp. Es ist nicht mehr wichtig, welche Art der Erinnerung an ihn die richtige ist, da sich das zu Beginn herrschende Konkurrenzverhältnis der einzelnen Interpretationsentwürfe weitgehend aufgelöst hat. Dieses Neben­ einander an Erinnerungsbildern hat zu einer zunehmenden Beliebigkeit der Deutungen geführt. Allein die Verbindung von Wasser und Kälte scheint heute auszureichen, um eine Assoziation mit dem Namen Kneipp hervorzurufen  – oder eben auch ein Schaumbad. Erinnern muss also immer als aktiver Prozess betrachtet werden, der der Instrumentalisierung von Vergangenem dient. Die dabei bestimmenden Zielsetzungen werden wiederum durch den Bezugsrahmen der jeweiligen Gegenwart und ihren Interessen diktiert. Erinnerung ist kein statistischer Zustand, sondern immer eine von bestimmten Akteuren geleitete, dynamische Rekonstruktion. Der Erinnerungsort Kneipp entstand nicht im luft­ leeren Raum – er wurde gemacht.

Anmerkungen 1 http://newsticker.sueddeutsche.de/list/id/1280276 (zuletzt aufgerufen am 1.10.2012). 2 http://www.kneipp.de/shop/bestellung/produktkategorien.html (zuletzt aufgerufen am 24.4.2013). 3 Ludwig Burghardt, Helfer der Menschheit Sebastian Kneipp. Eine Dokumentation nach historischen Quellen, Bad Wörishofen 1988.

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4 Zu den biographischen Angaben vgl. Sebastian Kneipp, Mein Leben, Regensburg 1949. 5 Sebastian Kneipp, So sollt ihr leben! Winke und Rathschläge für Gesunde und Kranke zu einer einfachen, vernünftigen Lebensweise und einer naturgemäßen Heilmethode. In der Kneipp’schen Urfassung, Kempten 1897, S. VII. 6 Alfred Baumgarten, Sebastian Kneipp, 1821–1897. Biographische Studie, Berlin 1898, S. 22, 29, 35. 7 Sebastian Kneipp, Fritz, der fleißige Landwirt, Augsburg 1874; ders., Die Kaninchenzucht, Kempten 1874; ders., Bienenbüchlein, Augsburg 1874; ders., Fritz, der fleißige Futterbauer, Augsburg 1875; ders., Fritz, der eifrige Viehzüchter, Donauwörth 1877. 8 Burghardt, Helfer, S. 20 f. 9 Baumgarten, Sebastian Kneipp, S. 53. 10 Sebastian Kneipp, Codizill zu meinem Testamente für Gesunde und Kranke, München 1928, S.  347 f. Vgl. auch die Bezeichnung »Horse ­Doctor« der Washington Post: M. Weiller, Origin of water cure, in: The Washington Post (20.9.1896), S. 17 f. 11 Kneipp, So sollt ihr leben, S. V. 12 Vgl. ders., Mein Leben, S. 24: »Das meiste habe ich gelernt aus der Schule der Erfahrung und nur weniges aus Büchern, weil ich keine Bücher ge­ lesen habe als das bezeichnete Schriftchen.« 13 Ders., So sollt ihr leben, S. 22–26. 14 Z. B. ebd., Kap. 5, S. 29–51. 15 Z. B. ebd., Kap. 7 und 8, S. 56–96. 16 Z. B. ders., Mein Testament für Gesunde und Kranke. In der Kneipp’schen Urfassung, 6. Aufl., Kempten 1896, S. 299–310. 17 Z. B. ders., So sollt ihr leben, S. 332–334. 18 Kneipp Blätter Nr. 1 (1891), S. 3. 19 Burghardt, Helfer, S.  59 f. Vgl. hierzu auch die »Zug-Ordnung anlässlich des Leichen-Begräbnisses des hochwürdigen Herrn Prälaten und Pfarrers Sebastian Kneipp« aus dem Wörishofener Tagblatt. Abgedruckt bei Eberhard Schomburg, Sebastian Kneipp 1821–1897. Die Lebensgeschichte eines außergewöhnlichen Mannes, 6.  Aufl., Bad Wörishofen, S. 157. 20 Ludwig Burghardt, Wörishofen am Wendepunkt, in: ders. (Hg.), Wörishofen. Beiträge zur Geschichte des Ortes zusammengestellt aus Anlaß der 900. Wiederkehr seiner ersten urkundlichen Erwähnung im Jahre 1067, Bad Wörishofen 1967, S. 101–144; S. 112. 21 Josef Wolf, Ein Bauerndorf wird Weltbad. Sebastian Kneipp und sein Wöris­hofen, Bad Wörishofen 1956, S. 79. 22 Burghardt, Helfer, S. 51 f. 23 Bayerisches Landesamt für Statistik und Datenverarbeitung (Hg.), Statistik kommunal 2010. Stadt Bad Wörishofen, München 2012, S. 2. 24 Harald Klofat, Idee, Überzeugung und Lehre. Sebastian Kneipp  – die Wörishofer Jahre, Altusried 2009, S. 83. Sebastian Kneipp © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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25 Zu den statistischen Auswertungen vgl. Sarah Waltenberger, Sebastian Kneipp. Die Genese eines Erinnerungsortes, München 2013, S. 30–52. Abrufbar unter: http://umweltunderinnerung.de/images/umweltunderinne rung/publikationen/1_U&E_Waltenberger.pdf. 26 Burghardt, Helfer, S. 19, 25. 27 Kurort Wörishofen, in: Centralblatt für das Kneipp’sche Heilverfahren Nr. 3 (1900), S. 33–36; S. 34. 28 Michael Petzet, Bayerisches Landesamt für Denkmalpflege (Hg.), Denkmäler in Bayern, Bd. 7: Schwaben, München 1986, S. 389. 29 Hundertjahrfeier Sebastian Kneipp, in: Die Kneipp-Kur. Zeitschrift zur Erhaltung und Verbreitung der arzneilosen und naturgemäßen Gesundheitslehre von Sebastian Kneipp. Offizielles Organ des Verbandes der Kneipp-Vereine Nr. 3/4 (1921), S. 23. 30 Kneipp-Blätter. Monatsschrift für Volksgesundheitspflege, für Kneipp’sche Heil- und Lebensweise Nr. 31 (1921), S. 133 f. 31 Petzet, Denkmäler, S. 389. 32 August Filser, Leben und Streben in Wörishofen, in: Reinhard H. Seitz (Hg.), Wörishofen auf dem Weg zum Kneippkurort, zu Bad und Stadt, Lindenberg 2004, S. 15–50; S. 38 f. 33 Burghardt, Helfer, S. 131. 34 Hasso Spode, Die NS-Gemeinschaft »Kraft durch Freude« – ein Volk auf Reisen?, in: ders. (Hg.), Zur Sonne, zur Freiheit! Beiträge zur Tourismusgeschichte, Berlin 1991, S. 79–94; S. 85. 35 Filser, Leben, S. 47–50. 36 Markus Heinrich, Das Wasser als Zauberformel (= Unsere Städte. Nr. 11), in: Augsburger Allgemeine (15.4.2006). Abrufbar unter: http://www4. azol.de/cms_media/module_vv/5545_1_badwoerishofen.pdf. 37 Helga Einecke, Je älter, je schöner, in: Süddeutsche Zeitung (19.7.2012), S. 22. 38 Burghardt, Helfer, S. 53. 39 Die Kneipp-Werke beteiligten Kneipp mit 3 Prozent des Umsatzes. Vgl. Max Bonifaz Reile, Erinnerungen an Kneipp, Regensburg 1942, S.  12 f. Auch Kathreiner Malzkaffee verpflichtete sich, einen Teil des Gewinns an Kneipps Wohlfahrtseinrichtungen abzuführen. Vgl. Alfred Baumgarten, Ein Fortschritt des Wasser-Heilverfahrens. Untersuchung und Kritik der Systeme Priessnitz und Kneipp, Wörishofen 1901, S. 180. 40 http://www.kneipp.de/de/service_navigation/ueber_uns/geschichte_ meilensteine.html (zuletzt aufgerufen am 11.4.2013). 41 Geschäftsbericht 2012 der Hartmann Gruppe, Heidenheim 2013, S. 20, 28. 42 Adolf Brougier, Die Entstehung des Kneipp-Malzkaffees, in: Die KneippKur. Wörishofer Blätter für Volksgesundheitspflege. Organ der Kneippvereine Nr. 13 (1913), S. 167–174; S. 171. 43 Friedrich Frey, Das Prießnitz’sche Heilverfahren und Pfarrer Kneipp, Berlin 1896, S. 54. 44 Vgl. hierzu den »Aachener Ärztestreit«, in dem besonders die starke Reklametätigkeit der Kneipp-Bewegung und die weitreichende Produkt­

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palette der Kneipp-Artikel kritisiert wurden. Der Aachener Streit über das Kneipp’sche Heilverfahren, in: Centralblatt für das Kneipp’sche Heilverfahren Nr. 3 (1901), S. 2–7, 13–22, 25–38, 41–49; S. 26 f. Hans Ripper, Zur Steuer der Wahrheit. Offenes Sendschreiben an den hochwürdigsten Herrn Pfarrer Seb. Kneipp in Wörishofen (Zum 4. October 1893), 47. Aufl., o. O. 1893, S. 7. Helfricht berichtet sogar von Spitzeln, die Beweise gegen Kneipp sammeln sollten. Vgl. Jürgen Helfricht, Vincenz Prießnitz (1799–1851) und die Rezeption seiner Hydrotherapie bis 1918. Ein Beitrag zur Geschichte der Naturheilbewegung, Husum 2006, S. 293. Philo vom Walde, Die Wahrheit über Kneipp. Ein Wort zur Vertheidigung, Freiwaldau 1899, S. 7. Karl Arthur Tannert, Kneipp, Priessnitz – Oertel, Heraus mit der Wahrheit!, Neisse o. J. [1899 o. 1900], S. 6. Alfred Baumgarten, Suum cuique, in: Centralblatt für das Kneipp’sche Heilverfahren Nr. 6 (1899), S. 25–29, 41–45, 49–60; S. 25. Sebastian Kneipp, Meine Wasserkur, durch mehr als 30 Jahre erprobt und geschrieben zur Heilung der Krankheiten und Erhaltung der Gesundheit. In der Kneipp’schen Urfassung, 5. vermehrte und berichtigte Aufl., Kempten 1888, S. 111. Lorenz Gleich, Ueber die Nothwenigkeit einer gänzlichen Umgestaltung der sogenannten Heilwissenschaften unserer Tage, Augsburg 1848, S. 71. Philo vom Walde, Vinzenz Prießnitz – Sein Leben und sein Wirken. Zur Gedenkfeier seines hundertsten Geburtstages, Berlin o. J., S. 137. Kneipp, Meine Wasserkur, S. 10. Z. B. Baumgarten, Suum cuique, S. 43. Kneipp, Meine Wasserkur, S. 16. Kneipp-Blätter Nr. 45 (1935), S. 171. Christian Fey, Die Kneipplehre. Ihre Entwicklung und ihr Ausbau nach den Erkenntnissen unserer Zeit, München 1939, S. 13. Kneipp-Bund (Hg.), Die Kneipp-Bewegung. Ihre Entwicklung im In- und Ausland, Bad Wörishofen 1981, S. 13 f. Diese Formulierung findet sich in zahlreichen Werbebroschüren. Z. B. Silvia Ruhland, Wellness à la Kneipp, in: ReformhausKurier Nr. 9 (2007), S. 7–11. Schomburg, Sebastian Kneipp, S. 39. Kneipp, Meine Wasserkur, S. 15. Ludwig Aschoff, Paul Diepgen, Heinz Goerke, Kurze Übersichtstabelle zur Geschichte der Medizin, 7. Aufl., Berlin u. a. 1960, S. 37. Robert Jütte, Die Entwicklung des ärztlichen Vereinswesens und des organisierten Ärztestandes bis 1871, in: ders., Thomas Gerst (Hg.), Geschichte der deutschen Ärzteschaft. Organisierte Berufs- und Gesundheitspolitik im 19. und 20. Jahrhundert, Köln 1997, S. 15–42; S. 39 f. Simon Baruch, Das Wasser in der ärztlichen Praxis, Stuttgart 1896, S. 17. Hugo Davidsohn, Die Technik der Hydrotherapie, Berlin 1906, S. 6.

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Wendelin Waibel, Kneipp wie ich ihn erlebte, München 1955, S. 54. Homöopathische Monatsschrift Nr. 14 (1889), S. 159. Burghardt, Helfer, S. 41. Zur Gründungssitzung vgl. Baumgarten, Fortschritt, S. 344. Alfred Baumgarten, 300 Fälle nach Kneipp’scher Heilmethode geheilet oder gebessert, Kaufbeuren 1898, S. 7. Vgl. Wörishofener Kur- und Bade-Blatt mit amtlicher Fremdenliste. Amtliches Publikations-Organ der Gemeinde Wörishofen Nr. 5 (1899), S. 2. Kneipp vermied es, den negativ konnotierten Begriff »Schulmedizin« zu verwenden. Auch sonst übte er keine Kritik an der wissenschaftlichen Medizin. Einzig der Terminus »Allopathie« lässt sich finden: Sebastian Kneipp, Mein Testament, S. 83. Der Aachener Streit, S. 14; Burghardt, Helfer, S. 32. Zitiert nach Achim Wölfing, Entstehung und Bedeutung des Begriffes Schulmedizin. Die Auseinandersetzungen zwischen der naturwissenschaftlichen Medizin und Vertretern anderer Heilmethoden im 19. und 20. Jahrhundert, Freiburg i. Br. 1974, S. 118. Zu Kneipp’s Todestag, in: Die Kneipp-Kur. Offizielles Organ des Wöris­ hofener Central-Kneipp-Verbandes und des Stamm-Kneipp-Vereines Wörishofen Nr. 2 (1902), S. 177 f. Albert Schalle, Es dämmert, in: Kneipp-Blätter. Monatsschrift für Volksgesundheitspflege, für Kneipp’sche Heil- und Lebensweise Nr. 33 (1923), S. 50 f.; S. 50. Z. B. Paul Haggeney, Die Kneippsche Heilweise im Großstadt-Krankenhaus, in: Kneipp-Blätter. Monatsschrift für Volksgesundheitspflege, für Kneipp’sche Heil- und Lebensweise Nr. 45 (1935), S. 110–114. Uwe Heyll, Wasser, Fasten, Luft und Licht. Die Geschichte der Naturheilkunde in Deutschland, Frankfurt a. M. 2006, S. 225. Wellness Kneipp-Kuren: »Das ist das deutsche Ayurveda«, in: Focus online (9.7.2010). Abrufbar unter: http://www.focus.de/gesundheit/gesund leben/fitness/news/wellness-kneipp-kuren-und132das-ist-das-deutscheayurvedaund147_aid_528477.html. Vgl. auch Ruhland, Wellness. Kneipp, Meine Wasserkur, Vorwort zur ersten Auflage, S. I. Schomburg, Sebastian Kneipp, S. 6. Vgl. ebd., S. 45; Burghardt, Helfer, S. 20; Peter F. Kopp, Pfarrer auf Abwegen. Erfinder Hahn, Wasserheiler Kneipp, Kalendermann Reimmichl, Zürich 1987, S. 47. Kneipp hat selbst diesen Vergleich bemüht: »Der Samaritan [sic] war auch kein studierter Doktor […] und es genierte ihn gar nicht, daß seine Landsleute ihn vielleicht tadeln würden wegen seiner barmherzigen Liebe.« Kneipp, So sollt ihr leben, S. VIII. Trotz seiner großen Spendenbereitschaft konnte Kneipp ein beträcht­ liches Privatvermögen erwirtschaften. In seinem Testament berücksichtigte er seine zehn Neffen und Nichten mit je 3000 Mark. Archiv des Kneipp Museums D 110 a; Abschrift aus dem Testament von Prof. Matthias Merkle vom 19.4.1895.

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84 So heißt es z. B. bei Mein Testament: »Von Msgr. Sebastian Kneipp, päpstlicher Geheimkämmerer, Pfarrer in Wörishofen, Inhaber des Comthurkreuzes des Ordens vom hl. Grabe.« 85 Zitiert nach Karl Pörnbacher, Sebastian Kneipp (17. Mai 1821 – 17.  Juni 1897) – ein Lebensbild, in: Reinhard H. Seitz (Hg.), Wörishofen auf dem Weg zum Kneippkurort, zu Bad und Stadt, Lindenberg 2004, S. 77–92; S. 89. 86 H. Kuhlmann, Die Uebereinstimmung Kneipp’scher Lehre und Methode mit der heutigen Schulmedizin. Eine vergleichende Studie, in: CentralBlatt für das Kneipp’sche Heilverfahren Nr. 5 (1899), S. 338–345; S. 343. 87 Burghardt, Helfer, S. 43. 88 Klofat, Idee, S. 17. 89 Burghardt, Wörishofen, S. 102. 90 Archiv des Kneipp-Museums D 6 c; Antwort des Bischöflichen Ordina­ riates zu Augsburg vom 14.4.1866. 91 Josef Leute, Das Sexualproblem und die katholische Kirche, Frankfurt a. M. 1908, S. 312; Staatsarchiv Augsburg, BA Mindelheim, Nr. 1648. 92 Die luftige Station, Briefe aus einem christlichen Bade, in: Leipziger Volkszeitung Nr. 220 (1895), S. 171 f. 93 Ordinariatsarchiv Augsburg Amtsblatt für die Diözese Augsburg Nr. 6, Erlass gegen Ausübung der Heilkunde durch Kleriker vom 10.5.1898. 94 Vgl. Lustiges von Kneipp, in: Die Kneipp-Kur. Zeitschrift zur Erhaltung und Verbreitung der arzneilosen und naturgemäßen Gesundheitslehre von Sebastian Kneipp. Offizielles Organ des Verbandes der Kneipp-Vereine Nr. 3 (1910), S. 94. Unter anderem wird hier über eine schnell und viel sprechende Frau berichtet, der Kneipp angeblich »täglich drei Blitzgüsse auf’s Maul« verschrieben haben soll. 95 Vgl. Rasso Ronneburger, Der Weltpriester Sebastian Kneipp (* 17.5.1821, † 17.6.1897). Fakten und Gedanken in Erinnerung an seinen 100. Todestag, in: Jahrbuch des Vereins für Augsburger Bistumsgeschichte 31 (1997), S. 11–31.

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Grenzüberschreitende Erinnerungsorte

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Franziska Torma

»Serengeti darf nicht sterben!«

»Afrika wird also weiter sterben. Aus alten Karten und den Über­resten von Menschensiedlungen und von Tieren kann man ersehen, dass noch vor dreihundert Jahren die Südgrenze der Sahara vierhundert Kilometer weiter nördlich lag als heute. Auf zweitausend Kilometer Front gingen in kurzer Zeit eine Million Quadratkilometer Land verloren. In der Nachbarkolonie Kenia, die ebenso wie Tanganjika und Uganda zu ­British-Ostafrika gehört, rückt im Norden und Nordosten die Wüste jedes Jahr um zehn Kilometer gegen den Urwald vor. Es stirbt soviel in Afrika, und es wird immer mehr sterben. Aber es muss doch nicht alles zur Wüste, zu Farmen, Negersiedlungen, Großstädten und leeren Trockensteppen werden. Wenigstens an einem kleinen Fleck soll die Welt so herrlich bleiben, wie sie erschaffen ist, damit schwarze und weiße Menschen nach uns hier andächtig werden und beten können. Wenigstens die Serengeti darf nicht sterben.«1

Bei einem Blick in das Internet findet sich folgende Kunden­ rezension zum Film Serengeti darf nicht sterben: »Wenn ich das Lied von Thomas Godoj ›Helden gesucht‹ höre, dann denke ich zuerst an Bernhard und Michael Grzimek […]. Menschen die eine Vision haben und für ihren Traum anderen Geschöpfen zu helfen, sogar ihr Leben riskieren […]. Als anderswo auf der Welt noch die Sorge […] dem Wirtschaftswunder galt, gingen diese beiden Männer auf einen einsamen Kreuzzug gegen Ignoranz und Ausbeutung unserer Natur- und Tierwelt. Ich kann nur jedem empfehlen, wer ein sinnvolles Dschungel-Camp sehen möchte, der sollte sich lieber diese Filme anschauen. Für die Schule sind sie ebenfalls gut geeignet, damit auch hier jeder sehen kann, was die meisten Kinder in Tansania längst wissen. Wer waren diese beiden Männer aus Deutschland und was haben sie zum Erhalt unserer Erde geleistet?«2 So urteilte ein begeisterter Rezensent über die auf amazon. de erhältliche DVD-Ausgabe von Kein Platz für Wilde Tiere und Serengeti darf nicht sterben. Diese Film-Edition erschien im Jahr 2004, fünfundvierzig Jahre nach der Kinofassung des letztgenann»Serengeti darf nicht sterben!« © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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ten Films. Das gab Anlass zu weiteren Lobeshymnen: Bei Serengeti darf nicht sterben handle es sich um einen »beeindruckenden Klassiker« oder etwas salopper formuliert, einen »Kultfilm«3. Auch das gleichnamige Buch kam in mehreren hunderttausenden Exemplaren und Neuauflagen auf den Markt. Die jüngste Ausgabe ist von 2001.4 Bis heute ist der Ort als geflügeltes Wort präsent: Die Süddeutsche Zeitung betitelte einen Artikel über den geplanten Bau eines Highways durch die Steppe Tansanias noch im Jahr 2010 mit der Schlagzeile »Serengeti darf nicht sterben!«5. Das Straßenbauprojekt führe direkt durch das Migrationssystem der letzten afrikanischen Gnuherden. Der Artikel zitierte nicht nur den Ökologie-Professor Andrew Dobson aus Princeton als aktuelle kritische Stimme, sondern setzte mit einer Reminiszenz an Bernhard und Michael Grzimek ein. Der abendfüllende und mit einem Oscar preisgekrönte Dokumentarfilm Serengeti darf nicht sterben gilt nicht nur als Meilenstein der Tierdokumentation, sondern aus heutiger Perspektive als ökologischer Erinnerungsort. Diese Art der Erinnerung ist jedoch weder zeitlos noch alleingültig. Gespräche mit Angehörigen der aktuellen Studentengeneration, die meist Ende der 1980er-, Anfang der 1990er-Jahre geboren sind, zeigen, dass weder der Film noch Michael und Bernhard Grzimek allgemein bekannt sind.6 Nicht nur zeitlich, sondern auch räumlich unterscheidet sich die Erinnerung an die Serengeti-Steppe. In Tansania spiegelt die Serengeti je nach ethnischer Gruppe unterscheidbare Erinnerungsperspektiven wider. Für die Massai-Bevölkerung war der Nationalpark angestammtes Weideland, wobei die Legitimität dieser Anrechte in den 1950er- und 1960er-Jahren nicht akzeptiert wurde. Für die ethnische Gruppe der Ikoma archivierte die Steppenlandschaft ihre eigene Erinnerung an die Vorfahren, die auf diesem Land gelebt hatten und gestorben waren.7 Der Vorstellung, dass die Steppenlandschaft ein historisches Archiv sei, hing auch Bernhard Grzimek an. Für ihn trug die Serengeti Spuren der ökologischen Veränderung und somit eines früheren Daseinszustands in sich: Fossilien erinnerten an das frühere Tierleben, alte Karten an die einst vergangene Bewaldung, und die Versteppung erschien als Folge anthropogenen Wandels. Unter diesen verschiedenen Varianten steht hier eine bestimmte Art von Erinnerung im Mittelpunkt, die in der ›jungen Bundesrepublik‹ und ihrer Beziehung zu Afrika zu suchen ist.8 Zwar 134

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waren die Filmsprache und die Botschaften des Filmes Serengeti darf nicht sterben international anschlussfähig9, doch Bernhard Grzimeks Filme waren innerhalb Deutschlands von zusätzlichen Pressekampagnen begleitet, die ihren eigenen historischen Ort besetzten.10 Dabei gilt es eine Besonderheit zu berücksichtigen: Bereits die Afrika-Kampagnen der Grzimeks trugen Erinnerungsinstanzen in sich, welche die afrikanische Natur in der bundesrepublikanischen Gesellschaft zu verankern halfen. Um diesen Prozess zu beleuchten, stehen drei Punkte im Mittelpunkt: Nach einem Überblick über Grzimeks filmisches und zoologisches Engagement in Afrika werden die Erinnerungen an Kolonialismus und Nationalsozialismus in Bezug zur bundesrepublikanischen Gegenwart analysiert. Abschließend geht es um die Frage, in welcher Form aus Erinnerung an die Steppe ihre Geschichte wird.

Die Reisen und die Filme Der Film und das begleitende Buch Serengeti darf nicht sterben waren bereits das dritte Afrika-Projekt des Frankfurter Zoodirektors und Verhaltensforschers Bernhard Grzimek. 1952 brachen Vater und Sohn Grzimek zu einer ersten Forschungsreise nach Französisch-Westafrika auf. Trotz der sich wandelnden politischen Geographie des Kontinents im Zuge der Dekolonisation wählten sie zur Beschreibung ihres Reiseziels ein relativ eindeutiges Label: »Flug ins Schimpansenland« war der Titel des daraus resultierenden Reiseberichts.11 Die Landkarte, die sich – wie bei Reise- und Expeditionsberichten üblich – im Titelumschlag fand, verzeichnete nicht die neue politische Grenzziehung, sondern Verbreitungsgebiete afrikanischen Großwilds (Abb. 1). Ein drohender Elefantenbulle treibt darauf zwei Afrikaner an den rechten Kartenrand und somit bezüglich der Laufrichtung aus dem Bild (und aus Afrika) heraus. Diese spezielle Neuinterpretation von Jäger und Gejagtem erschien zusätzlich als Zeichnung auf dem Schutzumschlag (Abb. 2). Auf den ersten Blick wird deutlich, was später Grzimeks öffentlich verkündetes Programm werden sollte: Nicht die Menschen und ihre politische Geschichte, sondern die wilden Tiere prägten Gegenwart und Zukunft des afrikanischen Kontinents.12 Im Jahr 1954 reisten Michael und Bernhard Grzimek in den Belgisch-Kongo, den heutigen Viruga-Nationalpark, sowie in den »Serengeti darf nicht sterben!« © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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Abb. 1: Bernhard Grzimek’s Karte von Afrika als Land der Tiere

Ituri-Wald13. Anschließend ging es weiter in den Sudan, nach Uganda, Kenia und Tanganjika, dem heutigen Tansania14. Das eigentliche Anliegen bestand darin, Tiere für den Frankfurter Zoo einzufangen, darunter auch ein Exemplar der vom Aussterben bedrohten Waldgiraffenart Okapi. Die Reise wurde in dem Buch »Kein Platz für wilde Tiere« und einem gleichnamigen Film festgehalten. Bernhard und Michael Grzimek gründeten dazu eine eigene Filmproduktionsfirma, die Okapia-Film, die auch den späteren Serengeti-Film produzieren sollte. Bernhard und Michael Grzimek erlebten mit Kein Platz für wilde Tiere ihren internationalen Durchbruch. Mit zwei Goldenen Bären auf der Berlinale 1956 setzte sich der Film gegen Walt Disneys African Lion durch. Er sprach nicht nur Afrika- und Tierinteressierte an, sondern vermochte es tatsächlich, ein größeres Publikum zu fesseln. Woher rührte diese Faszination? In Buch und Film inszenierte Grzimek Afrikas wilde Tiere als letzten Rest charismatischer Megafauna, die von der wachsenden Weltbevölkerung aktiv verdrängt werde.15 Doch nicht nur den relativ abstrakt bleibenden Vorgang des Bevölkerungswachstums 136

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Abb. 2: Titelumschlag »Flug ins Schimpansenland«. Mit freundlicher Genehmigung des Kosmos Verlags, entnommen aus: Grzimek, Flug ins Schimpansenland (© 1952 Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co. KG, Stuttgart).

machte Bernhard Grzimek für die zunehmende Zerstörung der Natur verantwortlich. Sehr gut zuspitzen ließ sich die Bedrohung, der die afrikanische Tierwelt ausgesetzt schien, in der Großwildjagd und im Großwildjäger. Hier zählten vor allem moralische Argumente.16 Wenn die Tiere Afrikas von der wachsenden Weltbevölkerung und ihrer Zivilisation verdrängt würden, dürfe »das Sterben der letzten Tiere […] nicht zum Vergnügen von Parvenüs und reichen Snobs, zum Amüsement von Sonntagsjägern herabgewürdigt werden«.17 Der Film Kein Platz für wilde Tiere arbeitete nicht nur mit diesen Bedrohungsszenarien, sondern setzte auch auf Ästhetik und Faszination.18 Zwei Geschichten inszenierten Idyllen einer vermeintlich intakten, paradiesischen Natur und Lebenswelt. Eine Liebesgeschichte um das Mbuti-Paar Kasimo und Epinie zeigte Visionen vermeintlicher kultureller ›Ursprünglichkeit‹. Die Geschichte einer Flußpferdherde, wobei auch hier die Protagonisten personalisiert dargestellt waren, setzte das Leben der Tiere im Nationalpark in Szene. Vor allem diese Sequenz über die Tiere verfolgte in den Bildern, in der Filmmusik und im gesprochenen Kommentar eine Emotionalisierung der Zuschauer. Dieser verfielen sogar professionelle Filmkritiker wie Friedrich Luft in der Süddeutschen Zeitung: »Dieser Film birgt optische Herrlichkeiten. Panoramen von ziehender Schönheit. […] Farbeffekte in Ansehung des afrikanischen Himmels, der flirrenden Vogelwelt, der in satter Unversehrtheit wuchernden Urwaldflora, daß man nur noch ans Kofferpacken denkt, und die Sehnsucht nach den Stätten solcher malerischen Unberührtheit kaum zu dämpfen ist«.19 Eine Dialektik zwischen vermeintlich unberührter Natur und vorrückender »Serengeti darf nicht sterben!« © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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Zivilisation war das dramaturgische Spannungsfeld des Filmes, der bereits zukunftsweisende touristische Sehnsüchte anzusprechen wusste. Vor allem die Verstädterung und der infrastrukturelle Ausbau schienen diese Vision von Afrika zu bedrohen. Die Filmhandlung spitzt die Bedrohung der afrikanischen Tiere im dramatisch inszenierten Sterben einer Elefantenkuh zu, die ein Großwildjäger verletzt haben soll. Gleichzeitig dazu wurde die Forderung nach Schutzgebieten laut, in denen wilde Tiere vor menschlichen Übergriffen sicher seien.20 Am Ende des Films Kein Platz für wilde Tiere führte Bernhard Grzimek sein folgendes Projekt ein: »Jetzt wird die Serengeti-Steppe, der einzige Nationalpark in Tanganjika, zu zwei Dritteln durch die britische Mandatsverwaltung als Naturschutzgebiet aufgegeben. Eines der berühmtesten Tierparadiese der Erde, ein ideeller Besitz der ganzen Menschheit, wird dadurch vernichtet.« (ab TC 1:08:43)21 In der Serengeti-Steppe hatte Bernhard Grzimek einen fassbaren Ort für seine zunächst allgemein gehaltenen Tierschutzappelle gefunden. Um dieses Gebiet zu retten, hatten Bernhard und Michael Grzimek vorgeschlagen, vom Erlös des Films Kein Platz für wilde Tiere Land anzukaufen, um es dem Nationalpark anzugliedern. Die britische Kolonialregierung beauftragte die Grzimeks jedoch, stattdessen die Tierherden der Serengeti zu zählen und ihre Wanderwege zu untersuchen, um der neuen Grenzziehung eine wissenschaftliche Basis zu verleihen.22 Dabei standen auch menschliche Wohn- und Nutzungsrechte wie die der Massai auf dem Spiel, wobei sogar kurzfristig der Plan kursierte, Menschen komplett aus dem Park auszusiedeln.23 Da im Rahmen der Dekolonisation sowohl die moralische als auch die politische Legitimität für derartig offensichtlich koloniale Praktiken schwand, entschied sich die Mandatsverwaltung Tansanias, den menschlichen und tierischen Bewohnergruppen jeweils ein eigenes Gebiet zuzusprechen.24 Dass damit auch die Rechte der einheimischen Bevölkerung verletzt wurden, steht auf einem anderen Blatt. Am 11. Dezember 1957 hoben Bernhard und Michael Grzimek vom Frankfurter Flughafen erneut Richtung Afrika ab.25 Sie hatten eigens den Pilotenschein erworben. Von ihrer dritten Expedition brachten sie nicht nur wissenschaftliche Einsichten über die Wanderwege und Lebensumstände der Steppentiere mit, sondern auch erneut den abendfüllenden Farbfilm Serengeti darf nicht sterben und ein gleichnamiges Buch. Dessen Untertitel »367.000 Tiere 138

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suchen einen Staat« anthropomorphisierte und politisierte die Territorialrechte des wandernden Großwilds. Im Zeitalter der Dekolonisation, als die Rechte auf Land blutig umkämpft wurden, parallelisierte Bernhard Grzimek nicht nur die Gebietsrechte der Massai und des wandernden Großwildes, sondern erhob sich selbst zum Anwalt einer spezifischen Gruppe von Subalternen, die selbst überhaupt nicht sprechen konnten. Aus dieser Perspektive verknüpfte der Film drei Lesarten: einen Forschungsbericht, die ästhetisch-emotionale Inszenierung eines (noch) intakten Ökosystems sowie die Bedrohung afrikanischer Tiere durch den Menschen. Hier galten nicht nur die ›weiße‹ Großwildjagd, sondern auch die als solche bezeichnete ›Wilderei‹ afrikanischer Jäger sowie die Nutztierherden der Massai als Gefährdung.26 Der Serengeti-Film argumentierte mit dem Faktor ›Zeit‹ und sprach die plakative Warnung aus, dass aufgrund der rasant anwachsenden Bevölkerung Afrikas die Grenzen des Parks in der Gegenwart überlegt gezogen werden müssten, um den Tieren für die Zukunft ein Habitat zu sichern. Für Grzimek war klar, dass eine friedliche Koexistenz zwischen Mensch und Tier nicht möglich sei. So war auch Bernhard Grzimeks idealer Raum in erster Linie menschenleer: »Und weit, weit im Umkreis nur Steppe, Wasser, Wolken, Tiere, keine Menschen«27, wie er bereits in Kein Platz für wilde Tiere verkündet hatte. Diese aus heutiger Sicht hoch problematische Vorstellung der Serengeti-Steppe sollte für einige Zeit zum Ideal des afrikanischen Tierschutzes werden.28 Der bereits erwähnte überwältigende Erfolg des Filmes Serengeti darf nicht sterben29 ist sicher darauf zurückzuführen, dass Tier- und Naturschutz in den 1950er- und 1960er-Jahren verstärkt an internationaler und medialer Bedeutung gewannen. Zusätzlich ist jedoch die Attraktion des Serengeti-Filmes im allgemeinen Klima der Dekolonisation zu suchen. Über Teile Afrikas – vertreten durch die Tierherden – konnte so immer noch die europäische Hand gehalten, und neue Territorien in Form von Nationalparks abgesteckt werden. Die Serengeti war einerseits ein Ort innerhalb eines global, universal und apolitisch entworfenen Tier- und Naturschutzes, andererseits bündelte diese Steppe spezifisch westdeutsche Anliegen.30 In dieser Vielschichtigkeit lagen der zeitgenössische Erfolg und das Vermächtnis der Grzimek’schen Bilder aus Tansania. Die Tatsache, dass sich eine weit entfernte Steppenlandschaft in Afrika und ihre bedrohten tierischen Bewohner im »Serengeti darf nicht sterben!« © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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Selbstverständnis der Bundesrepublik verankern konnten, verweist darauf, dass Bernhard Grzimek indirekt auf Themenfelder Bezug nahm, die die bundesrepublikanische Gesellschaft ansprachen. Die einzelnen Angelegenheiten musste er dabei gar nicht explizit aussprechen. Diese Diskussionsangebote trugen soziokulturelle Erinnerungsinstanzen an die koloniale und national­ sozialistische Vergangenheit in sich, bezogen sich auf die Gegenwart und verwiesen auf eine Zukunftsutopie.

Von Kolonialismus und Nationalsozialismus zur bundesrepublikanischen Gegenwart In Bezug auf den Erfahrungshorizont der Zeitgenossen lag Afrika vielleicht gar nicht so fern, wie es ein Blick auf die Landkarte heute vermuten ließe. Einerseits war die koloniale Vergangenheit des Deutschen Reiches in noch lebenden Personen wie General Paul von Lettow-Vorbeck (1870–1964) präsent, dem letzten Kommandanten der Schutztruppe von Deutsch-Ostafrika. Andererseits hatten in der Bundesrepublik die wenigsten Personen Zweifel an den Vorzügen der historischen deutschen Kultur- und Zivilisierungsmission im ›Dunklen Kontinent‹. Diese wurde unter veränderten Vorzeichen mit Geldern der Entwicklungshilfe in der Gegenwart fortgeführt. Afrika hatte ohnehin eine lange Tradition als Projektionsfläche für europäische und deutsche Wünsche, Vorstellungen und Großmachtphantasien. In Bernhard Grzimeks Medienprodukten blieb diese koloniale Vergangenheit unterschwellig präsent. Die Grzimeks bewegten sich in Tansania durch die ehemalige Kolonie Deutsch-Ostafrika, wobei sie sich nicht explizit in die koloniale Tradition einordneten und auf keine direkte Traditionslinie zu den Forschungsreisenden der Kolonialzeit verwiesen. Koloniale und imperiale Verhaltensmuster stellten jedoch ein Repertoire zur Verfügung, aus dem die Grzimeks in ihren Reisen performativ zitieren konnten. So dienten ihnen das koloniale Abenteuer und eine gewisse Heroisierung ihrer Expedition als eine geeignete Vermittlungsstrategie, um den Tierschutz im Gewand populärer Erzählmuster zu verankern. Die koloniale Vergangenheit lebte in materiellen Bruchstücken fort. Vater und Sohn stießen auf Fort Ikoma, das die deutsche 140

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Schutztruppe erbaut hatte und das die Briten nach Ende der deutschen Präsenz genutzt hatten. In den 1950er-Jahren eroberte die Natur diesen zerfallenden Rest der deutschen Kolonialgeschichte schrittweise zurück: Zebras hielten sich im Innenhof des Forts auf, Bäume sprengten langsam die noch gut erhaltenen Mauern, und die Gräber deutscher und britischer Kolonialsoldaten waren selbst zum Bestandteil der Landschaft geworden.31 Deutsch-Ostafrika war als Bezeichnung nur noch auf Münzen lesbar, die vereinzelt und von Erde überkrustet im Fort herumlagen, wobei die Inschrift erst nach dem Abkratzen des Steppenbodens zum Vorschein kam.32 Es finden sich darüber hinaus in Personen Hinweise auf die Präsenz der Vergangenheit. Grzimeks Nennung des österreichischen Reisenden Oscar Baumann, des deutschen Hauptmanns der Schutztruppe Moritz Mercker, der deutschen Siedler Wilhelm, Adolph und Friedrich Siedentopf sind jedoch eher Bodensatz der Geschichte denn Verweise auf eine national-patrio­ tische Tradition. Bezüge zu Henry Morton Stanley und David Livingstone erweiterten den Rahmen in postnationaler Weise.33 Dies verschob nicht nur die materiellen Reste der Burg, sondern auch Geschichte in eine nicht näher benannte, nur noch archäologisch-lesbare Vergangenheit. Im Grunde korrespondierte das Ausblenden des deutschen Kolonialismus mit der Marginalisierung des zeitgenössischen postkolonialen Einflusses in Afrika und führte zu einer Beschönigung ihrer eigenen Mission als apolitisch.34 Diese Auffassung entsprach durchaus der damals üblichen Vorstellung davon, wie genau koloniale Macht auszu­sehen habe. Grzimeks Zeitgenossen verstanden in den 1950er- und 1960erJahren Kolonialismus in erster Linie als politischen Prozess. Aus diesem Grund waren Praktiken und Narrative, welche die heutige Wissenschaft und Öffentlichkeit als kolonial bewertet, in den 1950er- und 1960er-Jahren als solche gar nicht sichtbar. Die Bundesrepublik war im Gegensatz zu England und Frankreich auch nicht in die gewaltsamen Dekolonisationskämpfe involviert. Ein zeitgenössisches Verständnis von kolonialer Herrschaft als Territorial- und Machtpolitik, in dem sanftere Formen von Einfluss als unpolitisch galten, prädestinierte die Bundesrepublik für Entwicklungshilfe und humanitäre Missionen.35 Diese knüpften häufig an das unhinterfragte, paternalistische Idealbild ›des guten‹ Kolonialherren an. In der Person Albert Schweitzers, der seit den 1920er-Jahren als Missionar und ›Urwalddoktor‹ ein ›Urwald»Serengeti darf nicht sterben!« © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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krankenhaus‹ betreute, schien das humanitäre Deutschland sogar die dunklen Jahre von Nationalismus und Holocaust überdauert zu haben.36 Bernhard Grzimek verschob dieses Idealbild in das Tierreich, was mit spezifischen Umdeutungen verbunden war.37 Er projizierte Fragmente einer expliziten und widersprüchlichen Kolonialismuskritik auf die Natur. Der medizinische Fortschritt trage zum Bevölkerungswachstum bei, die Tropenmedizin dränge die Malaria und die Schlafkrankheit zurück, die laut Bernhard Grzimek die letzten Tier-Paradise vor menschlichen Zugriffen schütze.38 Damit attackierte Bernhard Grzimek genau diejenigen kolonialen Eingriffe wie die medizinischen Hilfe, die im Zeitalter der Dekolonisation noch Legitimität ex-post verleihen konnten. Moralische Vorwürfe gegen europäische Ausbeutungstendenzen in Afrika verschob Grzimek in den Bereich der Natur und Tierwelt und blieb dabei selbst von Stereotypen und dem kolonialen Menschenbild seiner Zeit alles andere als frei.39 Ähnlich wie mit Fort Ikoma das koloniale Offensichtliche verschwand, wuchs auch über die Relikte des Zweiten Weltkriegs Gras. Beim Hinflug in die Serengeti-Steppe überflogen Bernhard und Michael Grzimek Nordafrika. Der Blick aus dem Flugzeug wurde zumindest für Bernhard Grzimek zu einem Blick auf eigene erlebte Geschichte. Auf einer Straße in der Sandwüste ragte eines von Il Duces megalomanischen Gebäuden empor, ein »riesiger Triumphbogen aus weißem Marmor, den Mussolini sich selbst errichtet«40 hatte. Neben diesem »Bauwerk für die Ewigkeit« befand sich ein Flughafen aus Erwin Rommels Afrikafeldzug. Grasbüschel sprengten die Asphaltrollbahn, und die Offizierskasinos waren nur noch Ruinen.41 Über die Kriegsschauplätze und die Minenfelder des Zweiten Weltkriegs wucherte die Vegetation: »Als die Panzer verrosteten, wurde es zunächst um El Alamein grün, und dann zog sich der fruchtbare, manchmal zwei Meter hohe Teppich immer weiter nach beiden Seiten an der Küste entlang […]. Das neue grüne Leben konnte gut Fuß fassen und sich an das Mittelmeerklima gewöhnen, denn es wucherte zunächst zwischen den unheimlichen Minenfeldern […]. Das lebendige Gras aber ist längst über die Todeszone hinaus gewandert.«42 Das heraufbeschworene Bild, über die Zeit des Zweiten Weltkriegs und die damit verbundene nationalsozialistische Herrschaft Gras wachsen zu sehen, dürfte einem Großteil der Deutschen nach 142

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1945 entgegen gekommen sein. Auch Bernhard Grzimeks eigene Rolle im Nationalsozialismus war schillernd gewesen: Nach seiner Promotion in Tiermedizin 1933 hatte er im Reichsernährungsministerium gearbeitet und die Ergebnisse seiner verhaltensbiologischen Forschung im Illustrierten Blatt, das im Verlag der Frankfurter Zeitung veröffentlicht wurde, publiziert. Bernhard Grzimek war NSDAP-Mitglied und als Tierarzt für die Wehrmacht tätig gewesen. 1945 ernannte ihn der amtierende Bürgermeister zum Direktor des Frankfurter Zoos. In den späten 1940er- und frühen 1950er-Jahren sollte er den kriegszerstörten Zoologischen Garten wiederaufbauen. Sein geschickter Umgang mit den Medien und seine Fähigkeit, sich auf das Publikumsinteresse einzustellen, kamen ihm dabei entgegen.43 Grzimeks Tierfilme sind nicht als bloße Verdrängungsstrategie zu verstehen. Ambivalenzen, Umdeutungen und Verklausulierungen charakterisieren den Umgang mit dem Nationalsozialismus. Im Film und Buch Kein Platz für wilde Tiere argumentierte Bernhard Grzimek zwar selbst in den geopolitischen Bahnen nationalsozialistischer Raumphantasien, wobei jedoch im Afrika der 1950er-Jahre nicht mehr das (deutsche) Volk, sondern das Großwild ohne Raum war.44 Rassische und eugenische Versatzstücke des ideologischen Paares »Rasse« und »Raum« wurden auf einer anderen Ebene verhandelt.45 Explizit behandelte Bernhard Grzimek dieses Problem in seiner Auseinandersetzung mit der Großwildjäger-Riege. So diente die Kritik an der imperialen Jagd in Afrika als Negativfolie, vor der Grzimek sein Wunschbild der Fotosafari formulieren konnte.46 Die koloniale Jagd bewertete er als Machtritual des weißen Jägers und als inszenierte, symbolische Überlegenheitsdemonstration, die nicht mehr zeitgemäß sei.47 Die Kritik an der Großwildjagd thematisierte darüber hinaus den Sachverhalt des aktiven und bewussten Tötens. Besonders Fahrt gewann das Thema ›Großwildjagd‹ und die damit verbundene Delegitimation biologistischer Argumentationsmuster anlässlich der Jagdsafari von Hans Otto Meißner. Dieser ehemalige NS-Diplomat hatte seine Expeditionserlebnisse in publizistischer Form verewigt. 1955 erschien Meißners Safari-Bericht Ich ging allein…, der nicht nur an den imperialen Mythos des ›großen weißen Jägers‹ anknüpfte, sondern im Abschuss eines Gorillas gipfelte. Gorillas standen unter Artenschutz. Allein diese Tatsache und der heroisch-verklä»Serengeti darf nicht sterben!« © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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rende Beschreibungsstil hätten genug Angriffsfläche geboten. Die Wortwahl, wie Meißner die Tötung des Primaten als »Hinrichtung« schilderte, berührte darüber hinaus nationalsozialistische Ideologeme und Propagandafragmente. Auch wenn Meißner diejenigen biologistische Ansätze, die die nationalsozialistische Gesellschaftspolitik in den Bereich des Menschen übertragen hatte, wieder in den Bereich der Natur zurückverwies, griff er genau auf diejenige Sprache zurück, mit der auch Volksgemeinschaftsideologie und Holocaust legitimiert worden waren. Er idealisierte die »Erhaltung der Art« sowie die fortschreitende Vervollkommnung des Kollektivs, wobei das einzelne Lebewesen von geringer Bedeutung sei.48 Die Episode zeigte deutlich, was mit denjenigen Individuen geschah, die »aus der Art geschlagen«49 seien, wie der Gorilla, der angeblich die umliegenden Dörfer terrorisiert haben soll: »›Verurteilt zum Tode durch Erschießen!‹ Mit diesem Spruch des Ministeriums für die überseeischen Gebiete in Paris wurde der Stab über Bobo, den Einsiedler von Yé, gebrochen. Er hatte zwei Morde begangen […]. Sein Maß war voll, […] und natürlich kam nur die Höchststrafe in Betracht. Die Vollstreckung des Urteils wurde mir übertragen. So begab ich mich denn an den Äquator, um dort meines Amtes zu walten.«50 In Meißners Schilderung verschwamm zusätzlich die Grenze zwischen Afrikanern und Menschenaffen.51 In seinem Buch Keine Angst um wilde Tiere, einer Replik auf Bernhard Grzimeks Thesen zum Aussterben des Großwildes, wurde Meißner überdeutlich. Der schwarze »Primitivmensch« sei den »Raubtieren« zuzurechnen.52 Ließ sich mit diesen rassistisch-biologistischen Ausfälligkeiten gar übermäßige Gewalt gegen Afrikaner in den Dekolonisationskriegen legitimieren? Wie Leserbriefe in der Tages- und Wochenpresse zeigen, reagierten weite Teile der deutschen Gesellschaft sehr sensibel auf Meißners »Säuberungsaktion« in Afrikas Dschungel. Ein Begriff, der häufig im Zusammenhang mit den Tierschutzappellen verwendet wurde, war der der »Ausrottung«53, vor der nun die wilden Tiere Afrikas zu schützen seien. Auf der Suche nach einer bundesrepublikanischen Gegenwart zwischen Nationalsozialismus und Westorientierung bot Bernhard Grzimek Möglichkeiten, bestimmte Aspekte der Vergangenheit umzudeuten, wobei der Umweg über das afrikanische Großwild eine explizite Thematisierung überflüssig machte. Grzimeks Afrika-Filme trugen damit implizit zum bundesrepublikanischen 144

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Selbstentwurf bei. Als Verhandlungsfolie der Frage, welches Modell von ›Moderne‹ erstrebenswert sei, bot sich das Zerrbild ›Amerika‹ an. Die USA hatten in Bernhard Grzimeks Argumentation eine schillernde Aussagekraft. Dem allgemeinen Amerikabild folgend stand das Land auch bei Grzimek für eine Konsum- und Medienkultur. Es würden, »um das Papier für eine Tagesausgabe einer der großen New Yorker Zeitungen herzustellen etwa 15.000 Bäume gefällt.« Grzimek setzte noch als konsumkritische Warnung hinzu: »Um in Riesenanzeigen Rasierkrem, Bier, Whisky und Nylons anzupreisen, vernichten wir unsere Zukunft«.54 Er selbst war jedoch geschickt genug, die Macht der Massenmedien für seine Zwecke zu nutzen. Seine eigene Erfolgsgeschichte wäre ohne bewusste Medien­kampagnen undenkbar. Zusätzlich nannte Grzimek den einst vorhandenen Tierreichtum in den Prärien Nordamerikas im selben Atemzug mit den Landschaften Europas, womit er seine Wertschätzung der amerikanischen Natur und der Nationalparks ausdrückte. Diese hatte jedoch auch eine Kehrseite: Damit projizierte er ein westliches Referenzmodell des Tierschutzes auf Afrika und sah in der Geschichte Europas und Nordamerikas destruktive Tendenzen, vor denen nun die Steppen Afrikas zu bewahren seien.55 Die Erziehung zum Tier- und Naturschutz könne nur gelingen – so seine pater­nalistische Argumentation  –, wenn das Großwild nicht in erster Linie für ›amerikanische Jagdtouristen‹ geschützt werde.56 Der Projektionsfläche des »Großwildjägers« fügten amerikanische oder amerikanisierte »Neureichs«57 eine weitere Bedeutungsdimension hinzu. Vermeintlich schwerbewaffnete Jäger gingen motorisiert auf Safari und ließen den Tieren kaum noch Chancen auf Flucht und Gegenwehr. Zu guter Letzt produziere sich der moderne Großwildjäger auf Kosten des aussterbenden Großwildes selbst. Es schien den Vorlieben amerikanischer Millionäre zu entsprechen, inmitten ihrer Trophäensammlung unter dem Aktfoto einer Filmschauspielerin für eigene Fotos zu posieren, Wetten abzuschließen, dass sie entweder einen Löwen in nur einem Tag erlegen könnten oder es fertigbrächten, einen Elefanten mit Pfeil und Bogen zu töten.58 Grzimeks Angriffe gipfelten in Invektiven auf den Nobelpreisträger Ernest Hemingway, der nostalgisch-heroische Safaris in Erzählungen und Romanen verewigt hatte und selbst auf Großwildjagd gegangen war.59 »Serengeti darf nicht sterben!« © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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Darüber hinaus stand Amerika für ein Unbehagen an der eigenen Gegenwart und dem bundesdeutschen ›Weg nach Westen‹, den Grzimek mit Wirtschaftswachstum, Verstädterung und dem Einzug materieller Werte verknüpfte.60 Kein Platz für wilde Tiere zeigte, wie Silhouetten einer amerikanischen Großstadt die Leinwand überwucherten. Amerika stand in Grzimeks Auffassung aus ökologischer Perspektive für einen »verschwenderischen Umgang mit Raum und Ressourcen«61, wobei er hier antiamerikanische Ressentiments des deutschen Konservatismus teilte, die im Verlauf der 1950er-Jahre zu einer breiter soziokulturell geteilten Einschätzung werden sollten. In dieser speziellen Variante eines verzeitlichten Weltbilds, in dem Kontinente Entwicklungsstufen der Menschheitsgeschichte zu verkörpern schienen, stand Afrika für die Vergangenheit und Amerika für die Zukunft Europas. Aus dieser Perspektive betrafen Aussagen über Amerika Zukunfts­ entwürfe der eigenen Gesellschaft. In Debatten über ›Afrika‹ und ›Amerika‹ stieß Grzimek eine Diskussion über diejenigen Werte an, die die bundesrepublika­ nische Gegenwart prägen sollten. Der Gegenpol zwischen der modernen Welt des »Wirtschaftswunders« und Bernhard Grzimeks afrikanischem »Tierparadies« setzte sich in der publizierten Meinung von Filmkritikern fort, wie in dem Appell Friedrich Lufts, Gegenwelten zur modernen Zivilisation aufrecht zu erhalten: »Laßt nicht die Zivilisation, laßt nicht die lumpige Welt der Sakko­ träger die letzten Reste schönen, wilden, ungekämmten Lebens niedertrampeln! Unsere Erde wird fad, sie wird greulich verwaschen, wird farblos und stupid, wenn der Ausbeutungstrieb noch die letzten Farbflecken auf dem Erdball wegwischt. Laßt um Himmels willen, etwas Platz für wilde Tiere!«62 Die wilden Tiere schienen in derartig emotionalen Ausführungen fast zu einem Rettungsanker deutscher Kultur, deutschen Selbstverständnisses und der deutschen Zukunft zu werden. Denn nicht nur der vermeintliche Materialismus von Wirtschaft und Konsum, sondern auch die dadurch ausgelöste geistig-seelische Verkümmerung, die vor allem die Jugend betreffe, gäben Anlass zur Sorge.63 Michael Grzimek, der bei einem Flugzeugabsturz in der Serengeti sein Leben verloren hatte, verkörperte dagegen Werte wie Idealismus, Tatendrang und Forschungsleistungen, die der Jugend zum Vorbild gereichen sollten.64 Ein Artikel zu seinem Tod in der Zeit führte dazu aus: »Für die von Desillusionierung und seelischer 146

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Verkümmerung bedrohte junge Generation, der dieser junge Idealist selbst angehörte, mag er ein Beispiel sein, dass nicht die Ansammlung von materiellen Gütern, sondern der Dienst an einer überpersönlichen Aufgabe, der auch heute überall möglich ist, Erfüllung bedeutet.«65 Bundesbürger, die diesem Wertekanon gehorchten, fänden auch im Ausland Wertschätzung, wie die Inschrift auf einem Denkmal zeigte, das die britische Kolonialregierung an Michaels Bestattungsort in der Serengeti gestiftet hatte: »Er gab alles, was er besaß, für die Erhaltung der wilden Tiere Afrikas«.66 Aus dieser Perspektive lag die Zukunftshoffnung der Bundes­ republik in den Händen neuer Leitbilder, die zivile Werte verkörperten. Grzimeks Kampagnen vermittelten somit den Übergang zum demokratischen Staat medial. Im globalen Kontext zeigten sie paternalistische Führungswerte in der Gestalt Bernhards sowie jugendlichen Idealismus in der Gestalt Michael Grzimeks. An diese postnationalen und postkolonialen Ideale schien auch das künftige Überleben des Großwildes geknüpft zu sein. Um die afrikanischen Menschen für den Tierschutz einnehmen zu können, galt es, sie ebenfalls in Bezug auf ihre Umwelteinstellungen (erneut) zu zivilisieren: »Wir Europäer müssen unsere schwarzen Brüder noch lehren, was sie besitzen. Nicht weil wir klüger, sondern weil wir älter sind und sie unsere Fehler und Sünden nicht wiederholen sollen.«67 Ein Verschwinden der Tierherden Afrikas würde in Grzimeks Auffassung Afrika der Zukunft berauben, die er in der touristischen Erschließung der Nationalparks sah. Schauende und fotografierende Safari-Touristen sollten den afrikanischen Staaten neue Einkommensquellen nach ihrer politischen Unabhängigkeit sichern. In dieser touristischen Version des umgrenzten Tierparadieses fanden die Ansprüche der afrikanischen Bevölkerung jedoch keinen Platz. Der Serengeti-Film schuf die Basis für Bernhard Grzimeks nationale Naturschutzkarriere und verhalf ihm in der Folgezeit auch zu internationaler Bekanntheit. Damit baute er eine Art ›Grzimek-Mythos‹ auf, der eng mit den Tierschutzkampagnen und Filmen der 1950er-Jahre verknüpft war. Zentral war, dass es ihm zeit seines Lebens gelang, das Thema ›Tierschutz‹ in der Tagesund Wochenpresse zu halten. Zwar nahm innerhalb Deutschlands die regionale Fauna im Lauf der Jahre einen größeren Platz ein wie zum Beispiel in seinen Kampagnen gegen Massentierhaltung und Legebatterien in den 1970er-Jahren. Doch das exotische Tier »Serengeti darf nicht sterben!« © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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blieb in der Öffentlichkeit präsent68: Leoparden, Servale und Löwen waren seit 1956 die Stars seiner TV-Sendung Ein Platz für Tiere, die bis zu seinem Tod im Jahr 1987 ausgestrahlt wurde. Fast jede Folge endete mit Spendenaufrufen für die Serengeti-Steppe und den afrikanischen Tierschutz. Bernhard Grzimek pflegte weiterhin seine Provokationsstrategie und sorgte für Schlagzeilen, indem er möglichst prominente Personen öffentlich angriff. Gegen die Pelzmode hatte es in den frühen 1960er-Jahren MedienKampagnen in Großbritannien gegeben. 1965 gerieten Leopardenmäntel berühmter Frauen auch in sein Visier. Während sich Gina L ­ ollobrigida gegenüber den Aufrufen Grzimeks ungerührt zeigte, verkündete eine Pressemitteilung, dass Wilhelmine Lübke, die Frau des Bundespräsidenten, ihrem Leopardenmantel öffentlich abgeschworen habe.69 Wichtiger als der politische und soziale Einfluss Grzimeks ist hier die Tatsache, dass diese Kampagnen mit Reminiszenzen an seine Afrikafilme der 1950er-Jahre durchzogen waren: »Keine Angst vor wilden Tieren …« fand sich als Zwischen­titel in der Presse zur Leopardenmantel-Kampagne. Auch das Argument lebte fort, dass das exotische Großwild vor allem durch die Jagd ausgerottet würde.70 Publizistische Rückblicke zu Jubiläen zitierten seine frühen Erfolge: Unter dem Titel »Kein Platz für Grzimek?« reflektierte die Zeit bereits 1974 über die Polarisierung, die der Fernseh-Zoo-Direktor auslöste. Auch wenn sich der Autor Rudolf Walter Leonhardt bemühte, Grzimek jenseits der Extreme »Hohn« und »Heiligenverehrung« zu beschreiben, blieb der Einsatz für die Serengeti-Steppe ein zentraler Meilenstein der Lebenserzählung.71 Diese Afrika-Kampagnen hatten den Grundstein für seinen politischen Einfluss in den 1970er-Jahren gelegt. Zwischen 1970 und 1973 war er Beauftragter für den Naturschutz der Bundesregierung. Diese Verflechtung aus Tierschutz in Afrika und deutscher Umweltpolitik machten Pressemeldungen in verdichteter Form deutlich. Ein Artikel über Bernhard Grzimeks Unterstützung für Hessens Grüne im Jahr 1978 war mit der Überschrift »Ein Platz für Grüne« versehen.72 In den 1980er-Jahren wurde Bernhard Grzimek zum Kurator der ugandischen Nationalparks ernannt, nachdem er dort mit ähnlichen Argumenten wie schon in den 1950er-Jahren die »Wilderei« der einheimischen Bevölkerung angegriffen hatte.73 Anlässlich seines Todes am 13.3.1987 schmückten Originalbilder aus dem Serengeti-Projekt 148

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die Zeitungen. Sein letzter Wunsch, dass er in der Serengeti bestattet werden möchte, verband ihn mit diesem Ort noch posthum.74 In der jüngsten Vergangenheit gilt er innerhalb Deutschlands einerseits als »Vorreiter der Ökologiebewegung«75 oder andererseits als »Verkörperung einer alte[n], betuliche[n] Bundesrepublik«76. Details zu seinen etwas schillernderen Lebensumständen, seinen unehelichen Kindern und seiner NSDAP-Mitgliedschaft kamen zwar in der Folgezeit ans Licht, vermochten aber das ›Idealbild Grzimek‹ nicht nachdrücklich zu beschädigen.77 Er verschwand nach seinem Tod allmählich aus dem öffentlichen Bewusstsein, da seine Prominenz eng an seine Medienpräsenz geknüpft war. Während jedoch Bernhard Grzimek als Person ab den 1980erJahren verblasste, bleibt die Serengeti als idealtypischer, afrikanischer Raum in Dokumentarfilmen gegenwärtig. Ihr Image ist innerhalb der westlichen Welt relativ stabil. Dokumentationen wie »Serengeti  – Der Mythos lebt« aus dem Jahr 2005 funktionieren nach ähnlichem Muster wie Bernhard Grzimeks Serengeti-Film: Die Tiere stehen »als Hauptakteure im erzählerischen Mittelpunkt einer spektakulären Landschaft, die neben dem heutigen Serengeti-Nationalpark stets auch das Gebiet des Ngorongoro-Kraters umfasst. […] Fast immer werden die Lebenszyklen der Tiere geschildert, ihr ›Familienleben‹, sowie ihre gefahrvollen Wanderungen im Laufe des Jahres. […] Neben den natürlichen, schuldlosen Bestien lauern jedoch stets auch ›menschliche Hyänen‹ in Gestalt der ›Wilderer‹ und, abstrakter, in Form des Bevölkerungswachstums.«78 Die Bildsprache bleibt ebenfalls erstaunlich konstant: Luftaufnahmen, großräumige Totalen, aber auch Nahaufnahmen von Tieren. Bis auf die Massai, die immer noch als Relikte des afrikanischen ›Naturvolks‹ inszeniert werden, spielt die afrikanische Bevölkerung keine Rolle. Michael Flitner argumentiert, dass sich Serengeti darf nicht sterben von seiner historischen Erinnerung an Bernhard Grzimek gelöst habe und zeit- und generationenübergreifend zunehmend als Klassiker des internationalen Genres ›Wildtierfilm‹ rezipiert wird. Die Serengeti lässt sich heute als internationaler Erinnerungsort fassen, der im nationalen Rahmen eng an die Mediengeschichte der jungen Bundesrepublik geknüpft ist. Eine Gemeinsamkeit verbindet beide Ebenen: Die Geschichte des Nationalparks in Tansania wird zur »weißen Geschichte«, in der zeitgenössische regionale Konflikte zu Gunsten einer zeitlos inszenierten Natur ausgeblendet werden.79 »Serengeti darf nicht sterben!« © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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Erinnerung und Geschichte Zusammenfassend lassen sich drei Punkte anführen, warum ­Bernhard Grzimeks Filme zu einem ökologischen Erinnerungsort werden konnten. Die Unterscheidung zwischen nationaler und internationaler Erinnerung sowie das allmähliche Verblassen Bernhard Grzimeks regen zu einer weiteren Frage an: Welche historische Halbwertszeit und Reichweite hatte die Serengeti als Erinnerungsort? Erstens spielte Grzimeks Wendung an die Presse eine sehr große Rolle, da auf diesem Wege spezifische Argumentationsmuster und Deutungen verankert werden konnten. Dazu zählten vor allem die Ablehnung der Großwildjagd und eine gewisse postkoloniale Nostalgie gegenüber Afrika, die sich im Ideal der unbewohnten, menschenleeren Wildnis ausdrückte. Zum Zweiten machten Grzimeks Tierschutz-Kampagnen den geographischen Ort der Serengeti zum Topos postkolonialen Tierschutzes: »Ein Nationalpark ist ein Stück Wildnis und soll es auch bleiben wie in Urzeiten. Menschen, auch eingeborene Menschen, sollen darin nicht leben.«80 Diese euround nordamerikazentrische Idee der menschenleeren Wildnis und der paradiesischen Zukunftsversion einer besseren Welt (für Tiere) war auf Denk- und Praxisfelder zurückzuführen, die den europäischen und nordamerikanischen Naturschutz dieser Zeit prägten. Das eher virtuelle Ewigkeitsideal einer wilden Natur war jedoch nur vermeintlich apolitisch. Bernhard Grzimek transportierte als »Albert Schweitzer der Tiere«81 ›humanitäre‹ Missio­nen ins Tierreich. Durch religiöse Metaphern82, stellte er seine Sendungsmission jenseits von Geschichte und Politik. Gerade dadurch konnte seine Mission wiederum höchst politisch werden, da er zum Vermittler zwischen den Positionen der Europäer und Afrikaner und sogar zum Vertrauten und Berater des ersten Staatspräsidenten des unabhängigen Tansanias, Julius Nyerere, avancierte. Zusammen mit den Spendengeldern, die Bernhard Grzimek mitunter durch Aufrufe in seiner Fernsehsendung Ein Platz für wilde Tiere für die Frankfurter Zoologische Gesellschaft sammelte und in den afrikanischen Tierschutz investierte, wurde er zu einem der einflussreichsten Finanziers des afrikanischen Wildschutzes, der unabhängig von politischen und diplomatischen Kanälen operieren konnte. Mitte der 1970er-Jahre verfügte er über einen Fonds von über 10 Mil­lionen 150

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Mark und etablierte die Serengeti-Forschungsstationen der Frankfurter Zoologischen Gesellschaft, die afrikanische Wildhüter zum Kampf gegen einheimische Jagdformen ausbildeten, die in seiner Perspektive immer noch Ausdruck der ›Wilderei‹ waren.83 Dieser Zugang zur Serengeti klammerte alternative, indigene Ansprüche auf die Steppe wie Nutzungsrechte und Sinnzusammenhänge der dort wohnenden Bevölkerung als Bedrohung für die Tierwelt aus. Drittens war das Deutungsmonopol der ›menschenleeren Wildnis‹ mit Machtritualen verbunden, da es Entscheidungsinstanzen schuf, wer an welchen Plätzen leben und wohnen durfte. Die Tatsache, dass diese hochproblematischen Facetten in den letzten Jahren stärkere Aufmerksamkeit erhalten, spricht dafür, dass sich die Qualität der Serengeti als Erinnerungsort verändert. In Büchern wie »Conservation Refugees«84 taucht die Serengeti als Beleg für die Verletzung einheimischer Rechte und die letzt­endlich neo­ koloniale Dimension der frühen Naturschutz-Projekte auf. Auf der Suche nach der Erinnerung an die Serengeti können viele Entwürfe der afrikanischen Steppenlandschaft gefunden werden. Gerade diese Vielschichtigkeit machte die vergangene Faszination des Ortes aus. Wie bei jedem Topos müssen auch hier die Botschaften und Assoziationszusammenhänge verständlich sein, um die betreffende Gesellschaft anzusprechen. Wenn diese ihre Bedeutung verlieren oder neue Bedeutungsebenen erhalten, wird aus ökologisch-kultureller Erinnerung eine Form von memoria, die nur noch im historischen Sinn, in Quellen und in der Geschichtswissenschaft lesbar ist.

Anmerkungen 1 Bernhard Grzimek, Michael Grzimek, Serengeti darf nicht sterben. 367.000 Tiere suchen einen Staat. Frankfurt a. M. 1959, S. 231 f. 2 Danke, Michael und Bernhard Grzimek!, 6. Februar 2009, Verfasser TV Expedition, www.amazon.de, Kundenrezension zur DVD Serengeti darf nicht sterben und Kein Platz für wilde Tiere, Universal Music Familiy Entertainment, 2004. 3 Ein Klassiker!, 9.  November 2011, Verfasser T.Reality, www.amazon.de, Kundenrezension; KULT-FILM!!, 10. Januar 2009, Verfasser Meine Meinung, www.amazon.de, Kundenrezension. 4 Michael Flinter, Inszenierte Natur, postkoloniale Erinnerung: »Serengeti darf nicht sterben!«, in: Michael Flitner, Julia Lossau (Hg.), Themenorte, Münster 2005, S. 107. »Serengeti darf nicht sterben!« © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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5 Arne Perras, Christopher Schrader, Straße durch Nationalpark. Serengeti darf nicht sterben, in: Süddeutsche Zeitung online, 16.9.2010, 14:47. 6 Zu dieser Einschätzung kommt auch Michael Flitner: Flitner, Inszenierte Natur, S. 108. 7 Thomas Lekan, Serengeti Shall Not Die. Bernhard Grzimek, Wildlife Film, and the Making of a Tourist Landscape in East Africa, in: German History Vol. 29, No. 2, 2011, S. 243. Jan Bender Shetler, Imagining Serengeti. A History of Landscape Memory in Tanzania from Earliest Times to the Present, Athens 2007. 8 Dazu auch: Hendrik Pletz, »Es wäre besser um die Welt bestellt, wenn die Menschen sich untereinander wie Löwen benähmen«. Die ersten Grzimek-Filme und die junge Bundesrepublik, in: Maren Möhring, Massimo Perinelli, Olaf Stieglitz (Hg.), Tiere im Film. Eine Menschheits­ geschichte der Moderne. Köln, u. a. 2008, S. 97–113. 9 Zu transatlantischen Kontexten der Filme Bernhard Grzimeks: Johannes Paulmann, Jenseits von Eden. Kolonialismus, Zeitkritik und wissenschaftlicher Naturschutz in Bernhard Grzimeks Tierfilmen, in: Johannes Paulmann (Hg.), Deutscher Kolonialismus und Natur vom Kaiserreich bis zur Bundesrepublik. Zeitschrift für Geschichtswissenschaft (Themenheft) 56/6 (2008), S. 493–588. 10 Vgl. Material vom Filmverleih: Kein Platz für wilde Tiere (maschinenschriftlich). Kein Platz für wilde Tiere. Heft zum Film. Europa Filmverleih GmbH, Presse-Dienst (Hg.), Kein Platz für wilde Tiere. Europa Filmverleih GmbH, Presse-Dienst (Hg.), Serengeti darf nicht sterben! Aufstellung internationaler Pressestimmen (maschinenschriftlich), 2.3.1960. Diese Unterlagen stammen aus dem Archiv der Münchner Filmhochschule und Kopien sind im Besitz der Autorin. Zur Bedeutung von Grzimeks Tierfilmen im Umweltschutz: Jens Ivo Engels, Von der Sorge um die Tiere zur Sorge um die Umwelt. Tiersendungen als Umweltpolitik in Westdeutschland zwischen 1950 und 1980, in: Archiv für Sozialgeschichte 43 (2003), S. 297–323. Dazu allgemein: Gregg Mitman, Reel Nature. America’s Romance with Wildlife on Films, Cambridge, Mass. 1999. 11 Bernhard Grzimek, Flug ins Schimpansenland. Reise durch ein Stück Afrika von heute, Stuttgart 1952. 12 Zu »Flug ins Schimpansenland« siehe auch: Paulmann, Jenseits von Eden, S. 543 f. 13 Ders., Kein Platz für wilde Tiere, Sankt Augustin 1985, S. 224. 14 Europa Filmverleih GmbH, Presse-Dienst, Kein Platz für wilde Tiere, München 1954, S. 3. 15 Bernhard Grzimek, Kein Platz für wilde Tiere, München 1954, S. 7. 16 Zum Legitimationsverlust der Großwildjagd nach 1945: Matt Cartmill, A view to a death in the morning; hunting and nature through history, Cambridge, Mass. 1996. 17 Grzimek, Kein Platz, 1954, S. 83. 18 Europa Filmverleih, Kein Platz für wilde Tiere. Heft zum Film, S. 4. 19 Süddeutsche Zeitung, 20.7.1956.

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20 Zu dieser Art von Naturschutz und seinen neokolonialen Machtbeziehungen: Dan Brockington, Fortress Conservation. The Preservation of the Mkomazi Game Reserve, Tanzania, Oxford, Bloomington 2002. ­Jonathan S. Adams, Thomas O. McShane, The Myth of Wild Africa, Conservation without Illusion, Berkeley 1996. 21 Die Zeitangabe bezieht sich auf folgende Ausgabe, Bernhard Grzimek, Michael Grzimek, Serengeti darf nicht sterben. 1959 Okapia Film, Neuauflage 1991 Concorde Video GmbH, VHS-Videokassette. 22 Grzimek, Serengeti, S.  13 f., 245, 302, 315. Michael Grzimek, Bernhard Grzimek, A study of the Game of the Serengeti Plains, in: Zeitschrift für Säugetierkunde 25 (1960), S. 13–15. Grzimek, Serengeti, S. 245, 302 f. Roderick Neumann, Imposing Wilderness. Struggles over livelihood and nature preservation in Africa, Berkeley 1998, S. 122–139. Zur Auseinandersetzung der Kolonialregierung in Tanganjika mit den Massai bezüglich der Nutzungsrechte des Ngorongorokraters: Adams, Myth, S. 52 f. 23 Zu den ungeklärten Fragen der Weiderechte der Massai und der Frage, wer im Nationalpark leben durfte: Neumann, Imposing Wilderness, S. 131 ff. Adams, Myth, S. 46 ff. 24 Neumann, Imposing Wilderness, S. 137 f. Adams, Myth, S. 51. 25 Grzimek, Serengeti, S. 11. 26 Ebd., S. 241, 254. Zum Nicht-Verstehen der Koexistenz der einheimischen Bevölkerung neben dem Großwild Afrikas durch Bernhard Grzimek und den europäischen Wildschutz aufgrund einer eurozentrischen Definition von ›Wildnis‹: Adams, Myth, S. xv-xviii. 27 Grzimek, Kein Platz, 1954, S. 203. 28 Vgl. Adams, Myth, S. xiii-xiv. 29 »Kein Platz für wilde Tiere« erlebte zahlreiche Auflagen im deutsch­ sprachigen Raum, in England, Schweden, Spanien, Frankreich, den USA, Japan, Holland, Italien und war ab 1960 sogar in Lizenzausgaben von Buchclubs erhältlich. »Serengeti darf nicht sterben« lief in über 60 Ländern. Dazu: Paulmann, Jenseits von Eden, S. 548–550. 30 Zur Globalität in der Ära Adenauer: Eckart Conze (Hg.), Die Heraus­ forderung des Globalen in der Ära Adenauer, Bonn 2010. 31 Vgl. Grzimek, Serengeti, S. 90–110. 32 Lekan, Serengeti Shall Not Die, S. 242. Grzimek, Serengeti, S. 82. 33 Lekan, Serengeti Shall Not Die, S.  232. Paulmann, Jenseits von Eden, S. 541–560. 34 Der Begriff postkolonial meint hier nicht nur eine zeitliche Periodisierung, sondern verweist auf vom Kolonialismus geprägte Machtstrukturen und Weltbilder auch nach dem formellen Ende der Kolonialherrschaft, dazu: Sebastian Conrad, Shalini Randeria, Einleitung. Geteilte Geschichten. Europa in einer postkolonialen Welt, in: dies. (Hg.), Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt a. M. 2002, S. 9–49. Derek Gregory, The Colonial Present, Malden 2007. »Serengeti darf nicht sterben!« © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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35 Susanne Zantop, Colonial Fantasies. Conquest, Family, and Nation in Precolonial Germany, 1770–1870, Durham, N. C. 1997. 36 Caroline Fetscher, Lambarene und der Dschungel der Deutschen, in: Michael Flitner (Hg.), Der deutsche Tropenwald. Bilder, Mythen, Politik, Frankfurt und New York 2000, S. 225–243. 37 Süddeutsche Zeitung, 29.7.1959. 38 Grzimek, Kein Platz, 1954, S. 13–15. 39 Zum Beispiel zeigte das die Sequenz im Ituri-Wald (in »Kein Platz für wilde Tiere, TC 0:36:19–0:53:41). In dieser Sequenz inszenierten die Grzimeks das Leben der Mbuti in den Bahnen des ethnographischen Films. Beschreibungsmuster vermeintlicher Ursprünglichkeit vewendeten Begriffe wie Wilde, Neger etc. 40 Grzimek, Serengeti, S. 29 f. 41 Ebd., S. 30. 42 Ebd., S. 31. 43 Zur Rolle Grzimeks im NS-Staat, wobei Lekan ihn eher als Mitläufer, denn als begeisterten NS-Anhänger sieht: Lekan, Serengeti Shall Not Die, S. 246. Dazu auch: Paulmann, S. 541 f. An den Filmen arbeiteten Filmschaffende mit nationalsozialistischer Vergangenheit mit, unter anderen Wolfgang Zeller, der auch die Filmmusik zu Jud Süß geschrieben hatte. Dazu: Paulmann, Jenseits von Eden, S. 548. 44 Michael Flitner, Vom ›Platz an der Sonne‹ zum ›Platz für Tiere‹, in: Flitner, Der deutsche Tropenwald, S. 244–262. 45 Zu Kontinuität und Diskontinuität sowie mehreren Lesarten dieser Verbindung: Mark Bassin, Race contra Space. The Conflict between German Geopolitik and National Socialism, in: Political Geography Quarterly 2 (1987), S. 115–134. 46 Lekan, Serengeti Shall Not Die, S. 227. 47 Zur imperialen Jagd in Afrika: Bernhard Gißibl, Natur und Kolonialismus. Elefanten in Deutsch-Ostafrika, 1850–1918, in: Nils Freytag, Dominik Petzold (Hg.), Das ›lange‹ 19.  Jahrhundert. Alte Fragen und neue Perspektiven, München 2007, S. 221–244. Bernhard Gißibl, German ­Colonialism and the Beginnings of International Wildlife Preservation in Africa, in: Frank Zelko (Hg.), From Heimat to Umwelt. New Perspectives on German Environmental History, GHI Washington Bulletin Supplement 3 (2006), S. 121–143. Bernhard Gißibl, Jagd und Herrschaft. Zur politischen Ökologie des deutschen Kolonialismus in Ostafrika, in: Paulmann, Deutscher Kolonialismus, S. 501–520. 48 Manfred Behr, Hans-Otto Meißner, Keine Angst um wilde Tiere, München 1959, S. 292. 49 Hans-Otto Meißner, Ich ging allein, Brühl 1955, S. 219. 50 Weltbild, 20 (1954), S. 16. 51 Ebd.: »Ohne Rücksicht auf eheliche Bindungen hatte er sich an jedem Gorillaweib vergriffen, das ihm über den Weg lief. Friedliche Familienväter wurden von ihm gebissen, Kinder erschreckt und Schlafnester anderer Leute zerstört.«

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52 Behr, Keine Angst, S. 93. 53 Vgl. die Angriffe von Franziska Kinz, in: Der Spiegel, 11.2.1959, S.  64, Der Spiegel 16.3.1960, S.  63. Auch in den Leserbriefen in; Der Spiegel, 30.3.1960, S. 5. 54 Grzimek, Kein Platz, 1954, S. 7. 55 Grzimek, Serengeti, S. 239: »Wie hier über die Steppen Afrikas, stampften vor hundertfünfzig Jahren die Riesenherden über die Prärien Nordamerikas und Kanadas; andere Tiere, aber in gleicher Üppigkeit. So sah es früher auch einmal in Europa aus. Kein Buch, keine Vorstellungskraft kann das beschreiben.« Im Film: »[…] mit welch‹ mannigfaltigem Leben kurz vor unserer Zeit die weiten Steppen ganz Afrikas angefüllt waren, wie hundert Jahre vorher riesige Tierherden über die Prärien Nordamerikas stampften und wie prächtig einst Europa von Tieren bevölkert war.« (ab 1:16:47) 56 Vgl. Grzimek, Serengeti, S. 229–231, 237. REVUE, 12.5.1956. 57 Europa Filmverleih, Kein Platz für wilde Tiere, Heft zum Film, S. 5. 58 Die Welt, 6.6.1959. 59 REVUE, 26.5.1956, S. 12; Deutsche Zeitung, 26.2.1955. 60 Dan Diner, Feindbild Amerika. Über die Beständigkeit eines Ressen­ timents, München 2002, S.  12. Zu (Anti-) Amerikanismus allgemein: Adelheid von Saldern, Alf Lüdtke, Inge Marßolek (Hg.), Amerikanisierung. Traum und Alptraum im Deutschland des 20.  Jahrhunderts, Stuttgart 1996. Zur Westorientierung: Anselm Döring-Mannteuffel, Wie westlich sind die Deutschen? Amerikanisierung und Westernisierung im 20. Jahrhundert, Göttingen 1999. Ulrich Herbert (Hg.), Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung, 1945 bis 1980, Göttingen 2002. 61 Joachim Radkau, Natur und Macht. Eine Weltgeschichte der Umwelt, München 2000, S. 287. 62 Süddeutsche Zeitung, 20.7.1956. 63 Dazu Axel Schildt, Moderne Zeiten, Göttingen 1995, S. 421. 64 Europa Filmverleih, Serengeti darf nicht sterben!, S. 23. 65 Die Zeit, 6.2.1959. 66 In dem Material des Europa Filmverleihs und in den eingesehenen Nachrufen wurde die Inschrift auf dem Denkmal zitiert, vgl. Europa Filmverleih, Serengeti darf nicht sterben!, S.  12, 15, 20; Deutsche Woche, 11.2.1959; REVUE, 14.3.1959, S. 11. 67 Grzimek, Serengeti, S. 168. 68 Zu Grzimeks Naturschutzplänen in Deutschland und ihren afrikanischen Bezügen: Bernhard Gissibl, Grzimeks »bayerische Serengeti.« Zur transnationalen politischen Ökologie des Nationalparks Bayerischer Wald, in: Hans-Werner Frohn, Jürgen Rosebrock, Friedemann Schmoll (Hg.), »Wenn sich alle in der Natur erholen, wo erholt sich dann die Natur?« Naturschutz, Freizeitnutzung, Erholungsvorsorge und Sport – gestern, heute, morgen, Bonn – Bad Godesberg 2009, S. 229–263. 69 Ärger mit dem Pelz der reichen Damen. Zoodirektor Grzimek fürchtet »Serengeti darf nicht sterben!« © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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um die Raubkatzen, in: Abendzeitung, 19.2.1965. Wilhelmine Lübke zieht den Leopardenmantel aus, in: Süddeutsche Zeitung, 15.2.1965. Abendzeitung, 19.2.1965. Kein Platz für Grzimek?, in: Die Zeit, 26.4.1974. Stuttgarter Nachrichten, 6.7.1978. Grzimek geht wieder auf die Barrikaden. Wilderer töteten 10.000 Nilpferde, in: Abendzeitung, 9./10.2.1980. Grzimeks letzter Wunsch: Grab in der Serengeti. Beileids-Schreiben von Weizsäcker, in: AZmagazin, 16.3.1987. Ein Platz für Bernhard Grzimek. Wie ein Zoodirektor das Naturbild der Nation prägte und zum Vorreiter der Ökologiebewegung wurde, in: Die Zeit, 14.3.1997. Christoffer Leber, Bernhard Grzimek, in: Ökologische Erinnerungsorte, http://www.umweltunderinnerung.de/index.php/kapitelseiten/aufbrueche /81-bernhard-grzimek (zuletzt aufgerufen am 25.7.2013). Der erste Tieronkel des deutschen Fernsehen. Der wahre Professor Grzimek, in: Hamburger Abendblatt, 14.3.2009. Dazu auch die Biographie: Claudia Sewig, Bernhard Grzimek – Der Mann, der die Tiere liebte, Bergisch-Gladbach 2009. Flinter, Inszenierte Natur, S. 108 f. Ebd., 119 f. Grzimek, Serengeti, S. 245. Süddeutsche Zeitung, 29.7.1959. Europa Filmverleih, Kein Platz für wilde Tiere, S. 12. Lekan, Serengeti Shall Not Die, S. 244. Mark Dowie, Conservation Refugees. The Hundred-Year Conflict between Global Conservation and Native Peoples, Boston 2009.

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Jeannette Prochnow

Drushba heißt Freundschaft: Die deutsch-russische Energiepartnerschaft als ökologischer und energiepolitischer Erinnerungsort

»Heutzutage sind Erdgas und Elektrizität aus unserem Alltag sowie aus der Wirtschaft nicht mehr wegzudenken. Sie sind somit essentiell für unsere Gesellschaft«1, ist auf der Homepage von »Gazprom Germania« zu erfahren. Das Tochterunternehmen der russischen OAO Gazprom preist Erdgas als »sicheren, umweltverträglichen und effizienten Energieträger« an und auch die E.ON Ruhrgas AG hebt in ihrer Internetpräsentation »die gute Umweltverträglichkeit nicht nur im Vergleich mit anderen fossilen Brennstoffen« hervor. »Die umweltschonende Energie Erdgas« sei »eine zukunftsorientierte Option«. »Vor diesem Hintergrund«, so lässt sich in einer Imagebroschüre des Essener Unternehmens lesen, »trägt E.ON Ruhrgas zum Beispiel durch seine langjährigen und verlässlichen Lieferbeziehungen mit Gazprom sowie durch seine Beteiligung an Projekten wie dem Bau der Nord Stream Pipeline aktiv dazu bei, die Verbindung zwischen Deutschland und Russland weiter auszubauen und langfristig Erdgas nach Europa zu lenken.«2

Die deutsch-russische Erdgas-Partnerschaft nahm mit der Entdeckung des Urengoi Gasfeldes Ende 1966 ihren Ausgang. Sowohl die damalige Deutsche Demokratische Republik (DDR) als auch die Bundesrepublik Deutschland (BRD) schlossen Langzeit­ verträge mit der Sowjetunion über Erdgaslieferungen.3 Zentral geplant baute die Sowjetunion ihre Erdgaswirtschaft von einem regionalen zu einem globalen Wirtschaftszweig aus, was ihr seit den 1970er-Jahren Investitionen westlicher Konzerne und Devisen einbrachte. Drushba heißt Freundschaft © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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Insbesondere nach dem »Ölschock« 1973 war in den westeuropäischen Industrieländern, aber auch in der DDR ein vermehrtes Interesse an der Diversifizierung der Ressourcen und Energiequellen zu verzeichnen.4 Eine langfristige Folge dieses Strategiewechsels in der Energieversorgung war ein anhaltender Wechsel von Öl zu Gas auf dem Wärmemarkt und in der Elektrizitätswirtschaft. Gleichzeitig ließen die neu entdeckten sibirischen Gasfelder eine Ergänzung der Energieerzeugung mit Kohle durch Gasimporte zu.5 In den vergangenen 40 Jahren äußerte sich in Deutschland diese Prioritätenverschiebung vor allen Dingen in einer vermehrten Hinwendung zum russischen Gas6, das die Importe aus Norwegen und den Niederlanden zunehmend ergänzte. Russisches Erdgas stellte für die deutsche Industrie eine langfristige Alternative in der Rohstoffversorgung dar7 und deckt heute 36 Prozent des Erdgasaufkommens in Deutschland.8 Nach dem Zerfall der Sowjetunion 1991 avancierte der rus­ sische Staatskonzern Gazprom zu einem der weltweit größten Gaskonzerne und einem herausragenden Handelspartner für westeuropäische und deutsche Unternehmen, mit dem gemeinsam immer neue Investitionen, wie z. B. der Bau der Ostsee-Pipeline, getätigt werden. Als der ehemalige Bundeskanzler und SPDPolitiker Gerhard Schröder im Jahr 2005 das Angebot der Konzernriesen Gazprom, E.ON und BASF annahm, Aufsichtsratschef ihres gemeinschaftlichen Konsortiums »Nord Stream« zu werden, das seither die Ostsee-Pipeline konstruiert, überschlug sich die deutsche und internationale Presse: »Schröder verrubelt seinen Ruf« titelte Spiegel online9. Doch nicht nur die Personalie Schröder und seine Zukunftsgestaltung im Kreml-nahen Gazprom Konzern, der seit den 1990er-Jahren aufgrund seiner politischen Fragwürdigkeiten immer wieder heftigster Kritik ausgesetzt ist, stand im Zentrum der Debatten rund um die Ostsee­ pipeline. Diese gefährde darüber hinaus, aufgrund der Umgehung des Land­weges und somit der prospektiven Transitländer des Baltikums und Polen, die deutsch-baltischen und vor allem die sensiblen deutsch-polnischen Beziehungen. Bei der Frankfurter Rundschau rief der Konstruktionsbeginn der Pipeline darüber hinaus »Ängste vor Umweltschäden beim Bau und beim Betrieb, vor Munition, aber auch vor russischer Spionage, vor der Präsenz des russischen Militärs zum Schutz der Anlage und vor der Abhängigkeit von den sibirischen Gasvorkommen« hervor.10 Zugleich beurteilte 158

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der Autor des Artikels »russisches Gas als unentbehrlich für die euro­päische Versorgung«. Tatsächlich verfügt Russland über die größten sichergestellten Reserven weltweit. Dabei wird der europäische Gasmarkt zum jetzigen Zeitpunkt zu 90 Prozent über Pipelines versorgt.11 »Der hohe Anteil der deutschen Importe aus Russland«, so der im Jahr 2008 vom Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie herausgegebene »Bericht der Bundesregierung zur Öl- und Gasmarktstrategie«, »hat eine jahrzehntelange Tradition«.12 Die »politische Flankierung« der Erdgaswirtschaft13, von der im Bericht der Bundesregierung die Sprache ist, wirft seit den 1970er-Jahren bei politischen Entscheidungsträgern, Wissenschaftlern und Journalisten nicht nur zentrale Fragen hinsichtlich der Versorgungssicherheit auf, sondern trifft direkt ins Mark der politischen Identität der wiedervereinigten Republik bzw. des einst geteilten Deutschlands. Amerikanische Politikwissenschaftler haben in diesem Zusammenhang von der »Geopolitik des Gases« gesprochen.14 Auch der umstrittene Konstruktionsbeginn der Nord Stream Pipeline durch die Ostsee 2005 hat eine öffentliche Debatte über das Wesen der deutschen Energiewirtschaft bzw. deutsch-russischen Erdgaspartnerschaft losgetreten. Die anhaltende Auseinandersetzung rund um den Bau der Erdgasleitung verdeutlicht, wie eng energiewirtschaftliche Belange verknüpft sind mit der Erinnerung an die deutsche und europäische Nachkriegsgeschichte und den daraus resultierenden politischen Selbstbildern Deutschlands. Energieunternehmen, Bundesregierung und die Medien als Organe der Meinungsbildung und Vertreter der öffentlichen Meinung beurteilen den Pipelinebau unter Bezug auf die nunmehr 40-jährige Geschichte der deutsch-russischen Energie­kooperation. Ihre Argumentationen nehmen dabei wechselseitig in einer Weise aufeinander Bezug, die weit über die harten wirtschaftlichen Fakten hinausgehen. Energiepolitik und Energiewirtschaft sind, wie sich zeigt, zu einem erheblichen Maße auch Symbolpolitik. Im Bestreben nach ökonomischer, politischer und umweltpolitischer Legitimierung bzw. Delegitimierung der Nord Stream Pipeline bedienen sich die involvierten Akteure eines Symbolhaushalts, der sich vor allem aus dem nationalen Gedächtnis Deutschlands speist. Die am Energiediskurs beteiligten Gruppen haben sich dabei weitestgehend auf ein Set von relevanten Ereignissen der politischen und ökonomischen Vergangenheit verständigt. Die Drushba heißt Freundschaft © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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Deutung dieser Ereignisse bleibt jedoch im Aushandlungsprozess begriffen und wird den jeweiligen ökonomischen, wirtschaftsund umweltpolitischen Interessen und Ängsten unterworfen. Da der energiepolitische Diskurs in Anlehnung an die deutsche Geschichtsschreibung geführt wird, ist es wohl kaum verwunderlich, dass ihm hinsichtlich der Selektion von Ereignissen, die in die argumentative Wagschale geworfen werden, zunächst regionale Spezifika eigen waren, die sich aus der deutsch-deutschen Teilungsgeschichte erklären. Im Verlauf der lebendigen Debatten rund um den Bau der Ostseepipeline ist interessanterweise eine Überwindung dieser Spaltung zu beobachten. Die der westdeutschen Öffentlichkeit nahezu unbekannten, wirtschaftspolitischen Prestigeprojekte »Drushbatrasse« und »Erdgastrasse«, die dem politischen Apparat der DDR in den 1970er- und 1980er-Jahren als Inbegriff der deutsch-sowjetischen Freundschaft galten, fanden im Verlauf der Debatten Eingang in die gesamtdeutsche »Hitliste« der energiewirtschaftlichen und populärwissenschaftlichen Geschichtsschreibung. Auf diese Weise speist sich der Energiediskurs nicht nur aus der öffentlichen Geschichtsschreibung, die immer eine Selektion an Ereignissen voraussetzt, sondern beeinflusst diese Selektionsprozesse wiederum. Wirtschaftspolitik und kulturelles Gedächtnis sind somit keine separaten Sphären, sondern kreieren in ihrem Wechselspiel neue ökologische und energiehistorische Erinnerungsorte. Energiekonzerne sowie die mit der Energiepolitik beauftragten Regierungsinstitutionen waren seit Beginn der strittigen energiewirtschaftlichen Kooperationen aktiv an der »Erfindung« des Erinnerungsortes »deutsch-russische Energiepartnerschaft« beteiligt. Ihre Deutungsmuster zielten, wie im Folgenden gezeigt werden soll, zum einen auf die »Rettung des politischen Klimas« als auch auf ein Bekenntnis zum ökologischen Klimaschutz ab, um ihre bilateralen, operativen Geschäfte gegenüber der medialen Öffentlichkeit zu rechtfertigen.

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Ein Kapitel über Teilung, Wiedervereinigung und die Rettung des politischen Klimas Der deutsche Erdgashandel wird heute dominiert von den Unternehmen Gazprom Germania GmbH, der Essener E.ON Ruhrgas AG, der ostdeutschen VNG-Verbundnetzgas AG, der BASF und der Erdgas- und Erdöl GmbH (BEB). Diese Unternehmen sind über Anteilseignungen und die Gründung von Tochter- und Gemeinschaftsunternehmen auf das Engste miteinander verknüpft und voneinander abhängig. Das deutsche Energiewirtschaftsgesetz von 2005, das eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2003 umsetzte und laut Bundesregierung auf eine »Intensivierung des Wettbewerbs«15 zielte, hat weniger zu einer angestrebten »Entflechtung der Erdgaswirtschaft«16 als zu ihrer Zerklüftung geführt. In der Praxis teilen jedoch weiterhin die genannten Kernproduzenten, Händler und Infrastrukturbetreiber das Geschäft unter sich auf und stehen darüber hinaus im engsten Dialog mit Vertretern der Politik. Die Repräsentanten dieser energiewirtschaftlichen Peers kennen sich in Ost wie West seit langem und bekräftigen die nunmehr vier Jahrzehnte andauernde Kooperation zukunftsgewiss bei allerlei Jubiläen. Diese Festakte finden stets im Schulterschluss mit der deutschen und russischen Politelite statt, die die Rahmenbedingungen für den deutsch-russischen Erdgashandel bereitstellen. Beim Staatsbesuch Vladimir Putins 2001 beispielsweise übergab der Vorstandsvorsitzende der Ruhrgas AG, Dr. Burckhard Bergmann, dem russischen Präsidenten einen »historischen Gaszähler«, laut Ruhrgas »Symbol für die rund 400 Milliarden Kubikmeter Erdgas, die seit 1973 nach Deutschland geliefert wurden.«17 Derart symbolische Vorgänge und Rituale vermitteln nicht nur Wissen über bestimmte Ereignisse, derer im Rahmen von Jubiläen gedacht wird. Sie dienen ferner der gegenseitigen Versicherung von Unterstützung zwischen Politik und Wirtschaft und fungieren als Legitimationsstrategien. Die Deutung der Vergangenheit geht einher mit dem Entwurf von Leitbildern für die Zukunft und zielt außerdem auf die öffent­liche Billigung aktueller und zukünftiger Investitionstätigkeiten ab.

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Erdgas-Röhren-Geschäft Von Energieunternehmen und Bundesregierung wird das historische Ereignis des so genannten »Erdgas-Röhren-Geschäfts«, dessen Grundlage ein 1970 geschlossener Vertrag über Erdgaslieferungen zwischen der Ruhrgas AG18 und der sowjetischen Staatshandelsfirma Sojuzneft-Export war, einmündig als Auftakt einer Tradition stilisiert, die vor allen Dingen der Skepsis und den Ängsten der Wirtschaftsberichterstattung entgegengesetzt wird. »Gazprom scheint so schwer fassbar wie der Stoff, den es produziert, so mysteriös wie eine russische Matrjoschka-Puppe, die mit jeder Enthüllung nicht kleiner, sondern größer und unförmiger wird«, hatte das Manager Magazin 1999 geschrieben. »Wo hört Gazprom auf, wo fängt der Staat an?«19, fragte das Blatt rhetorisch. Diese Frage nimmt vor dem Hintergrund der schwierigen Beziehungen Russlands mit seinen Nachbarländern, die seit dem Zerfall der Sowjetunion auch Pipeline-Transitländer sind (z. B. die Ukraine), auf Aspekte der Versorgungssicherheit genauso Bezug wie auf Wunschbilder von einer demokratisch und marktwirtschaftlich organisierten Wirtschaft. Das Misstrauen gegen Russland bzw. die Sowjetunion als totalitäre Großmacht mit Expansionsdrang ist seit der Oktoberrevolution 1917 und mehr noch seit Ende des Zweiten Weltkrieges tief im deutschen und europäischen Gedächtnis verankert. Bei der Beurteilung der deutsch-russischen Energiepartnerschaft werden in der Presse dementsprechend auch nationale, idealisierte Selbstbilder des wiedervereinigten Deutschlands in Stellung gebracht, die Deutschland und Russland als unvereinbare Gegensätze erscheinen lassen. Dem Staatskonzern Gazprom wird vor allem die Rolle eines politisch zweifelhaften Wirtschaftspartners zugedacht, wie sich an der Kontroverse um Gerhard Schröders Position als Aufsichtsratschef im Nord Stream Konsortium zeigt, an dem Gazprom mit 51 Prozent die meisten Anteile hält. Die Zusammenarbeit mit einem Konzern wie Gazprom entspräche, so Spiegel Online im Jahr 2005, »nicht dem Selbstverständnis eines Demokraten«.20 Außerdem haben die Industrieländer bei der »Ölkrise« 1973, ausgelöst durch den Konflikt zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn, schmerzlich erfahren, dass Energie­ressourcen durchaus als politische Waffe eingesetzt werden können. Die Verhaftung des Ölmagnaten und Putin­k ritikers 162

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Michail Chodorkowskij im Jahr 2003, dessen Yukos-Konzern in Folge zerschlagen wurde, hat das Misstrauen der russlandkritischen Presse in die russische Energiewirtschaft weiter verstärkt, und auch die politikwissenschaftliche Forschung betont, dass ein Großteil der für die Industrieländer attraktiven Gasressourcen in politisch instabilen Staaten und Regionen wie z. B. Russland, Iran oder Algerien lagern.21 Das Interesse deutscher Wirtschafts- und Industrievertreter am russischen Markt blieb von derartigen ideologischen Bedenken jedoch unberührt, so dass die Online-Ausgabe der Frankfurter Allgemeinen Zeitung 2005 zu dem Schluss kam: »Trotz der zwischenzeitlichen Verunsicherung durch das Vorgehen der Staatsanwaltschaft gegen Chodorkowskij blieb Deutschland 2004 ein wichtiger Investor in Russland […] Die Bundesregierung begrüßt daher eine direkte Beteiligung von deutschen Energiekonzernen an rus­ sischen Gas- und Ölfeldern.«22

Bemerkenswerterweise nahmen die Medienstimmen in Zeiten der Blockteilung eine weitaus positivere Haltung gegenüber dem deutsch-sowjetischen Rohstoffhandel ein. Das Dreiecksgeschäft beim »Erdgas-Röhren-Vertrag« wurde 1970 zwischen einer sow­ jetischen Handelsdelegation unter Vorstand des Außenhandelsministers Patolitschew, der Ruhrgas AG, der Mannesmann-Export GmbH und der Deutschen Bank geschlossen. Die Deutsche Bank stand einem Bankenkonsortium vor, die der sowjetischen Regierung Zwischenkredite zur Verfügung stellte, um die Rohre der Mannesmann AG einzukaufen. Der Kredit wurde später durch die Einnahmen aus dem von Ruhrgas gekauften Erdgas getilgt. Nach demselben Prinzip folgten bis in die 1980er weitere Lieferverträge. Im Kontext des allgemeinen Entspannungskurses zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik Deutschland pries die Presse den Abschluss als »das größte und politisch bedeutsamste Ost-West-Geschäft der Nachkriegszeit«23. Die enthusiastische Bewertung des Vertrages folgte der Annahme, derart »spektakuläre Geschäfte« würden »das ostpolitische Klima« verbessern24 und »sicherere Friedensgarantien« schaffen.25 Durchaus befürwortend nahmen die Medien die rohstoffwirtschaftlichen Unternehmungen der Bonner Regierung und der beteiligten Konzerne Ruhrgas und Mannesmann zur Kenntnis. Ferner galt der Vertrag als modell­haft für eine Reihe folgender Wirtschaftsabkommen, die in Drushba heißt Freundschaft © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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den 1970er-Jahren zwischen westdeutschen Firmen und der sowjetischen Regierung geschlossen wurden. Das neuerliche Aufblühen des Osthandels wurde politisch durch einen bilateralen deutschsowjetischen Handelsvertrag flankiert. Kanzler Helmut Schmidt ging es laut Angaben eines 1974 erschienenen Artikels in Der Spiegel im Schatten der »Ölkrise« vornehmlich um eine Handelsvereinbarung mit der UdSSR als Rohstoff- und Energielieferant, mit dem Ziel ökonomische Rückschläge der deutschen Industrie zu verhindern.26 Nicht zuletzt bedeutete der »Erdgas-Röhren-Deal«, das »Röhrendebakel«27 von 1963 zu überwinden. Auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges hatte Konrad Adenauer auf Drängen der USA eine Liefersperre für Stahlrohre gegen die UdSSR verhängt und deutsche Firmen waren gezwungen, kontraktbrüchig zu werden. Nicht die Interessen der Sowjetunion waren Ende der 1960er, Anfang der 1970er-Jahre dem Argwohn der Berichterstatter ausgesetzt, sondern die der US-Regierung. Der Spiegel mutmaßte sogar, Grund für das auf Initiative Amerikas verhängte Embargo sei weniger die vermeintliche Gefährdung der »europäischen Natoflanke« gewesen, sondern die Protektion der Marktstellung USamerikanischer Konzerne, die im Rohstoff-Geschäft aktiv seien. Die deutsche Industrie hätte »das wirtschaftliche Nachsehen« gehabt.28 Das Erdgas-Röhren-Geschäft wurde demnach nicht nur als ostpolitisches Instrument, sondern auch als Zeichen der Emanzipation von den USA angesehen. Besonders deutlich wurde letzterer Aspekt in den 1980er-Jahren, als die Reagan-Administration nach dem Einmarsch sowjetischer Truppen in Afghanistan vergeblich gegen einen weiteren »Erdgas-Röhren-Vertrag« zu intervenieren versuchte. Die bundesdeutsche Regierung verweigerte sich einem erneuten Embargo. Politik wie Presse versprachen sich eine Reihe positiver Impulse, nicht nur für die Ost-West-Beziehungen, sondern auch für die Auftragslage der deutschen Industrie. Schließlich appellierten die Wirtschaftsberichterstatter in den 1970er- und 1980er-Jahren an das deutsche Selbstbild, ein Land der Spitzentechnologie und Qualitätsarbeit zu sein. Zwar sei Sibirien »eine Schatzkammer«, aber die Mangelwirtschaft und der technische Rückstand der UdSSR hindere diese, ihre Rohstoffe allein und ohne westdeutsches Know-How zu erschließen.29 Dennoch ist in den 1980er-Jahren ein langsamer Stimmungswechsel in der Presse zu verzeichnen. Das positive Bild von der Sow­jetunion als energiepolitischer Partner, das in den 1970er-Jah164

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ren vorherrschte, bekam im Angesicht des sowjetischen Afgha­ nistaneinmarsches und der Angst vor einer Intervention Moskaus in Polen, wo die Solidarność-Bewegung immer mehr Anhänger fand, deutliche Risse. Während in den 1970ern noch verlautbar wurde, beim »Erdgas-Röhren-Vertrag« ginge es in erster Linie um ökonomische Fakten und die Sowjetunion bewiese sich als zuverlässiger Partner, rückten ab 1980 Konfliktpunkte der Vertrags­ verhandlungen in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Dies betraf zum einen Versuche der sowjetischen Unterhändler, das Zinsniveau bei den Dreiecksverträgen zu drücken. Die sowjetische Gasexportgesellschaft geriet darüber hinaus für eine Anhebung der Gaspreise in die Kritik. Noch dazu kommt es im Winter 1981 zu Lieferverzögerungen, so dass Zweifel an der Lieferzuverlässigkeit und Ängste vor einer zu großen Abhängigkeit geäußert werden. Auch der einst erhoffte Auftragssegen für die deutsche Industrie sei ausgeblieben. Besonderer Unmut kam auf, als ausgerechnet die amerikanische Firma Caterpillar von den sowjetischen Vertragspartnern den Zuschlag für die Lieferung technischen Geräts bekam: »Dass Moskau das US-Unternehmen Caterpillar mit einem staatlichen Auftrag bedachte, ist kennzeichnend für die sowjetische Verhandlungsstrategie: Das Geschäft rangiert klar vor der Politik. Auch auf langjährige Lieferanten wurde keine Rücksicht genommen. Das spürten am meisten die Mannesmänner«30

Die Zeit stellte 1981 desillusioniert fest, dass das »Erdgas-RöhrenGeschäft« zwar mehr Unabhängigkeit vom Öl der Opec, dafür aber mehr Abhängigkeit von der UdSSR schaffe.31 Doch solange die Energiewirtschaft noch im Kontext der Blockteilung bewertet wurde, haftete den deutsch-russischen Wirtschafts­beziehungen weiterhin das positive Image des politischen Stabilisierungsfaktors an. Mit dem Fall des Ostblocks hat dieses geopolitische Argument jedoch an Überzeugungskraft verloren. Infolge der veränderten weltpolitischen Lage haben die Medien den bundespolitischen Entscheidungsträgern zusehends ihre Unterstützung entzogen. Mehr denn je gilt Russland seit Beginn der 1990er als energie­ politisch höchst zweifelhafter Partner, gerieten Energiekonzerne in Ost und West in immer größere Kritik und die Angst vor einer zu großen Abhängigkeit von russischem Gas nahm zu.

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Ganz anders argumentieren selbstverständlich die Energie­ konzerne selbst. Die E.ON Ruhrgas, die über gegenseitige Anteilseignung engste Geschäftsbeziehungen zu Gazprom pflegt, begegnet öffentlicher Skepsis an der politischen Integrität Russlands und daraus resultierender eventueller Gefahren für die Versorgungssicherheit nach wie vor mit geo­politischer Rhetorik. Das »ErdgasRöhren-Geschäft« wird weiterhin als ein »wichtiger Pfeiler der Entspannungspolitik«32 während des Kalten Krieges präsentiert. Die Imagekampagne und Selbstdarstellung der E.ON Ruhrgas AG stellt dabei den Vertrag von 1970 und den Bau der Nord Stream Pipeline in eine gemeinsame, Jahrzehnte währende Tradition: »Die Gaswirtschaft in Deutschland – sowohl in den alten als auch in den neuen Bundesländern – bezieht seit 1973 Erdgas aus Russland […] Ein Großteil dieser Verträge wurde im August 2006 bis 2035 verlängert, und ein neuer Liefervertrag über die Nord Stream Pipeline ist bis 2036 vereinbart worden.«33

Oder wie es die Gazprom Germania in einer Imagebroschüre, flankiert von einem Foto, das den russischen Präsidenten M ­ edjedew und den damaligen deutschen Außenminister Steinmeier abbildet, wie sie den symbolischen Startknopf für den Baubeginn der Ost­ seepipeline drücken, formuliert: »Nur ein enges freundschaftliches Verhältnis zwischen Russland und Europa auf der Basis einer historisch gewachsenen Zusammenarbeit und unter Beachtung der Interessen beider Seiten wird es den Partnern ermöglichen, den Herausforderungen des 21.  Jahrhunderts zu begegnen. […] Die 40 Jahre haben gezeigt: der russische Lieferant ist seinen Verpflichtungen immer nachgekommen. […] Zukunftsträchtige Investitionen in solche Projekte, wie die Nord Stream […] garantieren Stabilität und Sicherheit der russischen Erdgaslieferungen auch in den nächsten Jahrzehnten.«34

Als sängen Wirtschaft und Politik im Einklang, ist aus dem »Bericht der Bundesregierung zur Öl- und Gasmarktstrategie« 2008 zu erfahren: »Der hohe Anteil der deutschen Importe aus Russland hat eine jahrzehntelange Tradition. […] In den vergangenen Jahrzehnten hat sich Russland stets als verlässlicher Lieferant erwiesen. Diese Partnerschaft muss weiter ausgebaut werden. […] Die weitere Diversifizierung von Bezugsquellen und Transitrouten bleibt eine zentrale Aufgabe. Bei Erd-

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gas ist die Ostseepipeline Nord Stream als Teil der Bemühungen zum Ausbau der transeuropäischen Netze ein wesentlicher Beitrag dazu.«35

Wirtschafts- und energiepolitisch ist das rohstoffarme Deutschland und seine Regierung von der privaten Erdgaswirtschaft abhängig, umgekehrt könnte diese ohne Investitionsgarantien der Bundesregierung keine Investitionen in ihr »freundschaftliches Verhältnis« mit den russischen Partnern tätigen. In Abwehr gegen jedwede Zweifel an der Rechtschaffenheit dieser Partnerschaft bemühen sich Bundesregierung und Energiekonzerne gemeinsam um den Schutz des bilateralen und innerdeutschen politischen Klimas, indem sie unterstreichen, dass Erdgaslieferungen von russischer Seite seit jeher störungsfrei verlaufen seien. Tatsächlich hatten Deutschland und andere EU-Länder in den vergangenen Jahren wiederholt Probleme mit Gaslieferungen, weil Russland in Konflikte mit Transitländern wie der Ukraine involviert war. Zu echten Engpässen ist es allerdings bisher nicht gekommen.36 Neben einer legitimierenden Öffentlichkeitsarbeit setzen die Energieunternehmen zusätzlich auf strategisches Sponsoring. Die E.ON Ruhrgas AG unterstützt z. B. den Petersburger Dialog, der 2001 vom damaligen russischen Präsidenten Wladimir Putin und dem ehemaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder ins Leben gerufen wurde, indem sie die jährlich stattfindenden Begegnungen von Vertretern aus Politik, Wirtschaft, Medien und Wissenschaft finanziert. Im Rahmen des Petersburger Dialogs 2006 in Dresden unterzeichneten Prof. Georg Unland, Rektor der TU Bergakademie Freiberg, und Prof. Vladimir St. Litvinenko, Rektor des Staatlichen Bergbauinstituts St. Petersburg, unter Anwesenheit der Bundeskanzlerin Angela Merkel und des russischen Präsidenten Vladimir Putin ein »Memorandum zur Gründung eines ständigen deutsch-russischen Rohstoff-Forums«, das sich zum Ziel gesetzt hat, »Strategien zur effektiven Nutzung fossiler, mineralogischer und alternativer Rohstoffressourcen zu diskutieren und zu entwickeln.« Darüber hinaus planen die Universitäten gemeinsame Forschungsprojekte.37 Zur Umsetzung dieser Aufgaben bildeten die Forschungseinrichtungen eine Arbeitsgruppe, der auch die Industriepartner OOO Gazprom Export (Nachfolger der sowjetischen Staatshandelfirma Sojuzgazexport, die 1991 in die OAO Gazprom integriert wurde) und die Leipziger Verbundnetz Gas AG (VNG) angehören.38 Nicht nur durch derartige Kooperationen mit HochDrushba heißt Freundschaft © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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schulen, sondern auch durch die finanzielle Unterstützung weiterer Kultur-, Bildungs- und Sportinstitutionen (wie z. B. dem Bundesliga-Fußballverein Schalke 04), sichern sich die umstrittenen Energieunternehmen in immer mehr Sphären des öffentlichen Lebens auch jenseits der Wirtschaft einen Platz. Ihre Firmenlogos sind auf allen Programmblättern der geförderten Institutionen zu finden. Gekoppelt mit einer umfangreichen Öffentlichkeitsarbeit soll in den Importländern mittels Sponsoring gesellschaftliches Vertrauen in die Energiekonzerne und die Errichtung weiterer Pipelines zwischen Westeuropa und Russland geschaffen werden. Außerdem unterstützen die Unternehmen nach eigenen Angaben »aktiv den interkulturellen Dialog zwischen Deutschland und Russland«39, um »Brücken zwischen den Völkern« zu bauen.40 E.ON Ruhrgas trug als finanzieller Förderer dazu bei, dass im Jahr 2003 »das rekonstruierte Bernsteinzimmer als Symbol der deutsch-russischen Freundschaft«41 der Öffentlichkeit präsentiert werden konnte. Der »geübte DDR-Bürger«, wie der ostdeutsche Volksmund zu sagen pflegt, wird sich angesichts dieser Wortwahl um mindestens 20 Jahre zurückgesetzt fühlen, sich an das ein oder andere politische Ritual und vielleicht sogar an den Höhepunkt der deutsch-sowjetischen Freundschaft erinnern: den Bau der »Drushbatrasse« und »Erdgastrasse« in den 1970er- und 1980er-Jahren.

»Drushbatrasse« und »Erdgastrasse« 1968 wurde das erste Regierungsabkommen zwischen der DDR und der UdSSR geschlossen, in dem auch der Import von Erdgas festgeschrieben war. 1974 unterzeichneten die Delegierten der ehemaligen RGW-Mitgliedsstaaten auf der 28. Tagung des RGW (Rat Gegenseitiger Wirtschaftshilfe) in Sofia das »Generalabkommen über die Zusammenarbeit bei der Erschließung der Erdgaslagerstätte Orenburg«. Als Gegenleistung für Erdgaslieferungen verpflichteten sich die Staaten zur Übernahme von Bauabschnitten der Erdgas-Pipeline »Sojus« in der damaligen Sowjetunion. Darunter fielen die Verlegung von Erdgasleitungen, die Errichtung von Verdichterstationen und die Bereitstellung von Ausrüstung und technischem Gerät. Von 1974–1978 übernahm die DDR die Konstruktion der so genannten »Drushba-Trasse« (Trasse der 168

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Freundschaft), einem 550 km langen Abschnitt in der Ukraine. Im Zuge des Urengoi-Abkommens 1982 und des Jamburg-Abkommens 1984 verpflichtete sich die DDR erneut zur Konstruktion von Pipeline-Abschnitten in der Ukraine, Weißrussland, im Ural und Kasachstan unter dem Label »Erdgastrasse«. Im Zuge der Vertragsverpflichtungen rekrutierte die DDR insgesamt ca. 15.000 überwiegend männliche Personen für das Konstruktionsvorhaben aus diversen volkseigenen Betrieben und Kombinaten, die als Haupt- und Nebenauftragnehmer den Pipelinebau betrieben. Wie die Ruhrgas-AG im Westen fungierte im Osten das VEB Verbundnetz (Teil des Kombinats »Schwarze Pumpe«) als zentraler Einkäufer und als Verteilerunternehmen. Neben der Konstruktion der Pipeline und technischer Anlagen, übernahm der Staat den Ausbau der Infrastruktur entlang der so genannten »Trasse«, d. h. es wurden Wohnkomplexe, Schulen etc. für die zukünftigen sowjetischen Betreiber gebaut. Die verbauten Materialien sowie technisches Gerät, das zum Einsatz kam, wurden auch in Westdeutschland eingekauft wie z. B. die Rohre der Mannesmann AG, die ebenfalls beim parallel stattfindenden »Erdgas-Röhren-Geschäft« der Bundesrepublik im Einsatz waren.42 Die Unternehmen »Drushba-Trasse« und »Erdgastrasse« waren in eine der größten politischen Kampagnen der DDR eingebettet. Der Minister für Kohle und Energie Klaus Siebold erklärte das sozialistische Integrationsobjekt 1974 zu einem »Zentralen Jugendobjekt«, über das die Jugendorganisation FDJ (Freie Deutsche Jugend)  die offizielle Schirmherrschaft hatte. Als Folge dessen waren 1976 2500 der 4000 Arbeiter, Meister und Ingenieure vor Ort FDJler.43 Die beim »Trassenbau« beteiligten Berufsgruppen waren Schweißer, Dreher, sonstige Monteure, Mechaniker, Forstarbeiter, aber auch Maurer, Köche, Reinigungskräfte, medizinisches Personal und nicht zuletzt FDJ-Funktionäre, die sich als so genannte »Kulturniks« um das Freizeitprogramm der Arbeiter kümmerten, aber auch politische Veranstaltungen und Zusammenkünfte mit der sowjetischen Massenjugendorganisation, dem »Komsomol«, organisierten. Der »Trassenbau« wurde zum »Bauwerk des Jahrhunderts« erklärt44 und als »ein Stück konkrete Gestaltung der sozialistischen ökonomischen Integration« gepriesen. Die ostdeutsch-sowjetische Energie-Kooperation galt als »die optimale Verknüpfung der Volkswirtschaft« der beteiligten Länder und als Grundstein für »die Schaffung der materiell-technischen Basis einer gemeinDrushba heißt Freundschaft © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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samen kommunistischen Zukunft«.45 Es sei darauf hingewiesen, dass die öffentlichen Diskurse im Hinblick auf die deutsch-sowjetische Energiekooperation in beiden deutschen Staaten erstaun­liche Überschneidungen aufwiesen. Nicht nur in der DDR herrschte eine »zukunftsorientierte Technikbegeisterung«46. Auch in westdeutschen Zeitungen wurde das »Röhren-Erdgas-Geschäft« als »Anzeichen der Versachlichung des Ost-West-Verhältnis in Form eines wirtschaftlichen und wissenschaftlich-technischem Aus­ tausches«47 bewertet. Gleichermaßen priesen die Medien der DDR den Gedanken der Friedenssicherung zwischen Ost und West. Von einem »Stück sichtbarer Friedenspolitik« und einer »Zusammenarbeit von Staaten unterschiedlicher Gesellschaftsordnung zu beiderseitigem wirtschaftlichem Vorteil« wird dort gesprochen.48 Dem Technik- und Umwelthistoriker Joachim Radkau zufolge »lässt sich die deutsche Technikgeschichte in der Zeit der deutschen Teilung [in vieler Hinsicht] eben doch als eine Geschichte schreiben!«49 Der Verweis auf technologische und diskursive Überschneidungen soll aber nicht über gravierende Unterschiede hinwegtäuschen. In den Medien der DDR hatte weiterhin »das marxistische Dogma gegolten, der Fortschritt der Produktivkräfte – und mit denen waren konkret die Technik und die technisch geschulten Menschen gemeint«50. Im Zentrum der medialen Kampagne der DDR stand dementsprechend das Ideal des proletarischen Internationalismus, bei dem »Völkerfreundschaft« und »Plan­erfüllung« als zentrale Handlungsmaximen galten. Die »Trasse«, wie das Projekt kurz genannt wurde, galt auch als Ort der »kommunistischen Erziehung«.51 Über die Medien wurden die Trassenkampagnen in die DDR-Gesellschaft hineingetragen. Das Presseorgan der FDJ, die Zeitung Junge Welt, begleitete den »Trassenbau« mit einer eigenen Berichterstattungsserie, die DEFA-Studios drehten vier Dokumentationen und es erschienen mehrere begleitende Bildbände. Die »Trassenerbauer«, wie die Arbeiter genannt wurden, galten als »proletarischen Kampfreserve«, »junge Revolutionäre«, »Helden der Arbeit« und in Anspielung an das blaue Hemd der FDJ-Uniform als »Botschafter im Blauhemd«. Neben öffent­ lichen Auszeichnungen und ideologischen Entlohnungen in An­ erkennung für ihren »Kampf um das tägliche Planplus«52 kamen sie in den Genuss diverser materieller Vergünstigungen und sozialpolitischer Vorteile wie einem für DDR-Verhältnisse hohen 170

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Lohn, Zugang zu Exportwaren, Begünstigungen bei der Urlaubsplatzvergabe, der Zuteilung von Studienplätzen, Wohnungen, Telefonanschlüssen und Kraftfahrzeugen.53 Die weit reichenden Medienkampagnen und Sonderrechte für Arbeiter nahmen mit dem Fall der Mauer und der Wiedervereinigung ein jähes Ende. Das Bauprojekt »Erdgastrasse« wurde 1993 mit erheblich reduziertem Personalaufwand und unter Einbindung westdeutscher Unternehmen beendet. Es ist erstaunlich, wie sehr die Öffentlichkeitsarbeit der heute privatwirtschaftlichen Energieunternehmen an das Freundschafts­ mantra der FDJ-Kampagnen im Rahmen des DDR-Pipelinebaus in der Sowjetunion erinnern. Es scheint fast, als hätten insbesondere die Public Relations-Experten der in den neuen Bundesländern ansässigen Energiekonzerne VNG und Gazprom Germania nach 1989 lediglich auf der Ebene der Wortwahl hier und da die Schrauben etwas nachgezogen und den kommunistischen durch den europäischen Gedanken ersetzt. Schließlich ist seit dem Mauer­fall nicht mehr der RGW die relevante Bezugsgröße für das operative Geschäft, sondern die Europäische Union. Ansonsten bleibt die Erdgaswirtschaft der Zukunftsgestaltung und dem technischen Fortschritt verschrieben. Bei der Erfüllung dieser Auf­gaben bleiben die Konzerne gern unter sich, wie in einem Artikel des Wochenmagazins Der Spiegel aus dem Jahr 2008 unter dem Titel »Giftiger Cocktail«54, der »die alten Seilschaften« bei Gazprom Germania anprangerte, nachzulesen ist. Das Magazin identifizierte die Traditionen der Erdgaswirtschaft seit dem Bau der »Erdgastrasse« vor allem auf personeller Ebene. Und so trafen sich auch bei der Feier zum 50jährigen Firmenjubiläum des Leipziger Konzerns VNG vor allem Altbekannte der ost- und westdeutschen Energieriesen, die seit den 1970er-Jahren die Führung beim deutsch-russischen Erdgasgeschäft übernommen haben. Unter den Gästen und Festrednern waren neben der Kanzlerin Angela Merkel und hochrangigen Vertreter der VNG-Partner E.ON Ruhrgas, Gazprom und der BASF-Tochter Wintershall auch der ehemalige Ministerpräsident von Sachsen, Kurt Biedenkopf, der damalige Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, Wolfgang Tiefensee, sowie der Botschafter der Russischen Föderation Wladimir Kotenev anwesend, der seit Juli 2010 Haupt­ geschäftsführer der Gazprom Germania ist. Kotenev ist nicht nur bereits mit den bundespolitischen Entscheidungsträgern vertraut, Drushba heißt Freundschaft © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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sondern auch Nachfolger Hans-Joachim Gornigs, seinerseits ehemaliger Regierungsbeauftragter des Erdgasleitungsbaus der DDR und Mitbegründer der Gazprom Germania. Diese personellen Kontinuitäten in den ostdeutschen Energieunternehmen stellen die VNG vor ganz spezifische Herausforderungen bei ihrer Imagepflege, da sie gezwungen sind, sich mit dem Erbe des SED-Staates auseinanderzusetzen bzw. zumindest mit diesem zu leben. Die Firmenchronik des Unternehmens hebt die Jahre der Regierungsabkommen zwischen der UdSSR und der DDR als Schlüsselereignisse der Firmengeschichte hervor. Die Tatsache, dass mit diesen Abkommen eine der größten politischen Kampagnen des Einparteiensystems einherging, findet allerdings weder in der VNG-Chronik noch in der Imagebroschüre des Konzerns »Medium Gas« Erwähnung. Der Modernisierungskurs des Unternehmens seit der Wende wird dafür en detail vorgeführt. Im Zuge der energiewirtschaftlichen Umstrukturierung Ostdeutschlands bereitete das Handelunternehmen »VEB Verbundnetz Gas« bereits ab dem Frühjahr 1990 seine unternehmerische Selbstständigkeit und Herauslösung aus dem Kombinat »Schwarze Pumpe« vor. Dabei standen ihm die westdeutschen Unternehmen Ruhrgas, die BEB sowie das Bundeswirtschaftsministerium zur Seite mit dem Ergebnis, dass der volkseigene Betrieb wenige Tage vor der Wirtschafts- und Währungsunion in eine Aktiengesellschaft umgewandelt wurde, an der die Ruhrgas AG und die BEB 35 bzw. 10 Prozent Anteile erwarben. Heute halten die EWE Oldenburg, die Wintershall Holding GmbH und Gazprom Germania Anteile an der VNG. Während die Imagebroschüre der VNG davon spricht, dass die Ruhrgas AG und BEB »[…] dem Leipziger Unternehmen bei den ersten Schritten in die Marktwirtschaft [halfen]«, titelte Der Spiegel 1990 im Zusammenhang mit der marktwirtschaftlichen Neuordnung des ostdeutschen Erdgashandels, es werde »zu viel gemauschelt«.55 Die Wendejahre sind als alles andere als eine harmonische Vereinigung der Energiewirtschaft zu charakterisieren. Die Zeit sprach 1991 sogar von einem »ostdeutschen Gaskrieg«.56 Die VNG lieferte sich damals einen erbitterten Konkurrenz- und Preisstreit mit der Wintershall Erdgashandelshaus GmbH (WIEH), einem gemeinsamen Tochterunternehmen der BASF und dem russischen Unternehmen Gazprom. Mit der Wiedervereinigung übernahm die Bundesregierung das »Yamburg-Abkommen« mit der Sowjetunion. Sie überließ dem Verteile172

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runternehmen VNG das Gas zum sogenannten »Waidhaus-Preis«, dem Betrag, den auch die Ruhrgas-AG beim Eintritt des Gases auf bundesdeutsches Gebiet im bayrischen Waidhaus zahlt. Über das »Orenburg-Abkommen« übernahm die privatwirtschaftliche WIEH die Preishoheit. Sie hatte nun das Liefermonopol über Erdgas in den neuen Bundesländern und veranschlagte beim Eintritt im sächsischen Sayda einen höheren Preis als die Bundesregierung.57 Die VNG, mit ihrem Aktionär Ruhrgas im Rücken, versuchte, durch rechtliche Schritte eine Angleichung des Preises frei Sayda an den Waidhaus-Preis durchzudrücken, woraufhin die WIEH der VNG die Lieferungen kürzte. Nach damaliger Auffassung der »Zeit« handelte es sich in Wirklichkeit um einen Streit zwischen dem Gasimporteur Ruhrgas und der BASF. Letztere wolle dem Monopolisten seine Alleinstellung auf dem Markt streitig machen.58 Erst nach Vermittlungen durch das Kartellamt konnte der Streit niedergelegt und ein Preis-Kompromiss zwischen der WIEH und der VNG ausgehandelt werden. Nach Ende des politisch »Kalten Krieges« gingen die Konkurrenzkämpfe auf dem deutsch-russischen Gasmarkt erst einmal in eine ökonomisch heiße Phase. Was die Unternehmen heute als eine partnerschaft­ liche Kooperation der Energieunternehmen im Nord Stream Konsortium darstellen, ist das Resultat einer Reihe hart erkämpfter Kompromisse, die den Konzernen Tadel und Misstrauen der Wirtschaftspresse einbrachten. Doch auch wenn der kritische Medientenor über die Energieunternehmen seit 1990 anhält, sind sich die Konzerne, die seit der Wende eine diskursive Übereinkunft mit der Politik gefunden haben, der Absegnung der Bundespolitik sicher und so lobte Kanzlerin Angela Merkel in ihrer Festrede anlässlich des 50-jährigen Bestehens der VNG diese als ein »beispielhaftes Unternehmen in den neuen Bundesländern«59. Im Zuge der medialen Aufbereitung des Pipelinebaus der DDR etablierte sich die Bezeichnung »Trassenbau« nachhaltig als Eigenname für diese ökonomischen Großprojekte und auch nach der Wende genießen sie in den neuen Bundesländern einen hohen Bekanntheitsgrad. Dazu tragen regionale Medien, die regionale Gaswirtschaft und nicht zuletzt so genannte »Trassenvereine« bei, die in den 1990er-Jahren von ehemaligen Beschäftigten des DDRPiplinebaus gegründet wurden. Regionalzeitungen und die auf­ lagenstarke ostdeutsche Illustrierte Super Illu berichteten bis 2010 über die regelmäßig stattfindenden Treffen ehemaliger »TrassenDrushba heißt Freundschaft © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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erbauer«. Das Multimedia-Projekt »Damals in der DDR«, eine Gemeinschaftsproduktion des Mitteldeutschen Rundfunks, Westdeutschen Rundfunks und der Produktionsfirma Looks Films TV, nahm den »Trassenbau« als erinnernswertes und charakteristisches Ereignis der DDR-Geschichte auf. Die Stadtwerke Chemnitz und Erdgas Südsachsen widmeten dem Projekt während der Museumsnacht Chemnitz 2007 unter dem Titel »Faszination Erdgas« eine Ausstellung und die Dokumentation »Honeckers Jahrhundertbau« von Jürgen Ast und Hajo Obuchhoff, der selbst beim »Trassenbau« gearbeitet hat, war derart erfolgreich, dass sie auf regionalen wie überregionalen TV-Sendern mehrmals ausgestrahlt wurde. Der »Trassenbau« ist ohne Zweifel ein Erinnerungsort der DDR, an dem sich nicht nur die Funktionsweise der Massen­ organisation FDJ und Mechanismen sozialistischer Agitation exemplifizieren lassen. Das wachsende Interesse an der deutsch-sowjetischen Erdgaskooperation seit Beginn der Konstruktion der Nord Stream Pipeline richtete schließlich auch in den alten Bundesländern bzw. den überregionalen Medien zunehmend die Aufmerksamkeit auf den »Trassenbau«. 2009 strahlte der Deutschlandfunk das dreistündige Feature »Das blaue Wunder bei Fünfzig Minus« über den Bau der »Erdgastrasse« aus. Im Mittelpunkt stand das Leben zehntausender Deutscher, die in der ehemaligen Sowjetunion im Einsatz waren. Im selben Jahr wurde der »Trassenbau« bzw. der erste Oktober 1975, an dem die erste Schweißnaht der »Drushbatrasse« gezogen wurde, als charakteristisches Ereignis der deutschen Nachkriegsgeschichte in das von der Bundeszentrale für Politische Bildung (bpb), des Rundfunk Berlin Brandenburg (RBB) und der Tagesschau koproduzierte Multimediaprojekt »60xDeutschland« aufgenommen. Auch in diesem Feature steht der Alltag der Arbeiter im Vordergrund. Und Die Zeit vom 15. April 2010 fügte den »Trassenbau« der DDR endgültig in eine energiehistorische Ereigniskette mit der Nord Stream Pipeline ein. Die Kurzmitteilung über die Einweihung des ersten Bauabschnitts der Ostseepipeline wurde von zwei großformatigen Bildern mit den jeweiligen Beschriftungen »Westwärts« und »Ostwärts« gerahmt. Ersteres zeigt den russischen Präsident Medwedjew den Bauabschnitt einweihend, letzteres zwei ostdeutsche Schweißer am DDR-Bauabschnitt der »Drushbatrasse«. »Dass die Bundesrepublik damals schon Rohre 174

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lieferte, war ein Freundschaftsdienst, der sich jetzt auszahlt«, ist in der Mitteilung zu lesen.60 Diese zeithistorischen Rückblicke schwelgen nicht in nostal­ gischer Erinnerung. Die Rolle der Massenorganisation FDJ und das mit dem Pipelinebau verbundene finanzielle Fiasko für den ostdeutschen Staat kommen durchaus zur Sprache. Es wird aber auch nicht darauf verzichtet, auf die harten Arbeitsbedingungen der mehreren tausend Trassenbauer hinzuweisen, die zwischen zwei und zehn Jahren in der Sowjetunion arbeiteten. Sie lassen auch nicht vergessen, dass diese Pipelines bis heute zur Erdgasversorgung Deutschlands und Mitteleuropas beitragen. Mit dem Leben der Arbeiter wird in Radio- und TV-Features weitaus weniger kritisch ins Gericht gegangen als mit den politischen Funktionären und Energieunternehmen. Die Berichte machen bekannt mit dem oft unbekannten Alltagsleben von DDR-Bürgern. Anders als die vielen negativ besetzten Erinnerungsorte, wie die »Mauer« oder Haftanstalten für politische Gefangene, steht die »Trasse«, trotz ihrer ideologischen Einbettung, nicht zuletzt für die wenigen industriellen Errungenschaften des Arbeiter- und Bauernstaates. Und wie geht das einst staatliche Erdgashandelsunternehmen VNG mit der »Drushbatrasse« und »Erdgastrasse« und seiner sozialistischen Vergangenheit um? Vor allen Dingen flexibel und zukunftsbewusst. Die Firmenpräsentation ist darauf bedacht, sich der politischen Sprache des wiedervereinigten Deutschlands auf der einen und der ökonomischen Sprache der Energiewirtschaft auf der anderen Seite anzupassen. Unmissverständlich wird sich zur Friedlichen Revolution 1989 und zur Wiedervereinigung bekannt. Gleichzeitig werden die Errungenschaften des DDR-Pipelinebaus hervorgehoben: »Prof. e.h. Dr. Ing. Klaus-Ewald Holst blickt 50 Jahre nach Gründung und 18 Jahre nach der für VNG so wichtigen Privatisierung ebenfalls voller Enthusiasmus in die Zukunft. In einer Welt, die sich ständig weiter drehe, müsse sich auch sein Unternehmen immer weiter verändern. […] Garant für diesen Optimismus sind die Erlebnisse und Erfahrungen der vergangenen 50 Jahre. Sie haben das Unternehmen geprägt wie kein anderes. Holst nennt beispielhaft die friedlichen Demonstrationen im Oktober 1989, die über das Schicksal aller Ostdeutschen entschieden haben.«61

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Schließlich wird der Pipelinebau der DDR und vor allem die Anbindung Westberlins an das ostdeutsche Netz 1985 als Ereignis der deutsch-deutschen Entspannungspolitik verortet. Der Erdgastransit nach Westberlin, an dessen Aushandlung auch die Ruhrgas AG beteiligt war, habe »einen Wandel durch Annäherung« befördert.62 Tatsächlich willigte die politische Führung der DDR nur widerwillig und unter dem Druck der Sowjetunion, die längst das ökonomische Potential ihrer Erdgasvorkommen strategisch einzusetzen wusste, ein, sich als Transitland zur Verfügung zu stellen.63 Zweifelsohne trugen nicht nur marktwirtschaftliche Umstrukturierungsmaßnahmen, sondern zu einem erheblichen Maße symbolische Neu- und Umdeutungsprozesse nach der Wende zur Transformation der VNG von einem volkseigenen zu einem marktwirtschaftlichen Unternehmen bei. Die Wurzeln dieser gelungenen Transformation lokalisiert das Unternehmen im einstigen Prestigeprojekt des untergegangenen Staates DDR. Die Trassenprojekte, so die Selbstdarstellung des Unternehmens, »eröffneten die Chance, Teilbereiche der Wirtschaft zu modernisieren und boten eine langfristige Versorgungssicherheit von der nach 1990 auch das wiedervereinigte Deutschland profitierte.«64 In diesem Sinne bekräftigte der Vorstandsvorsitzende der OAO Gazprom, Alexej Miller, bei seiner Ansprache im Rahmen des 50-jährigen Jubiläums des ostdeutschen Verteilerunternehmens das in der deutschrussischen Erdgaspartnerschaft allseits präsente Motto von »einer sicheren Zukunft«, »in der Gazprom als zuverlässiger Lieferant und VNG als zuverlässiger Abnehmer auftreten.«65

Ein kurzes Kapitel über Wärme, Licht und die Reduzierung von Kohlendioxid-Emissionen Auf der Ebene energiewirtschaftlicher, bilateraler Verträge herrscht eine gegenseitige Abhängigkeit zwischen Bundespolitik und den großen Energiekonzernen, die vor diesem Hintergrund einen handlungspolitischen wie auch diskursiven Konsens gefunden haben. Der öffentlichen Kritik der deutschen Presselandschaft an der deutsch-russischen Energiepartnerschaft, insbesondere seit dem Fall der sozialistischen Regime, wurde von Seiten der Energiekonzerne mit einer intensiven Imageoffensive begegnet, bei der sich auf die zur Tradition stilisierten Aspekte der Versorgungs­ 176

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sicherheit und Verständigung zwischen Russland und Deutschland gestützt wurde. Dabei erinnern die Legitimationsstrategien der Energiekonzerne nicht selten an den Zukunfts- und Technikglauben sozialistischer Zeiten. Aber eine Imagepolitik, die allein auf geopolitische Legitimationen und Versorgungssicherheit ausgerichtet ist, reicht in Zeiten gesamteuropäischer und globaler Klimaschutzbestrebungen längst nicht aus. Deutschland ist seit den 1970er-Jahren auch das Land der Umweltpolitik, die vom Bundesinnenministerium mit einem Schwerpunkt auf Luftreinhaltung und Wasserschutz (sowie Arbeitssicherheit) eingeleitet wurde. Gleichzeitig formierte sich die Anti-Atomkraft- und Umweltbewegung.66 Mit dem Abschied vom »Kohlezeitalter« gab es die Tendenz, Umweltschutz auch technisch zu verstehen. Im Zuge dessen rückte auch die Energiepolitik in den Mittelpunkt der Umweltdebatte.67 In umweltpolitischer Hinsicht hing die ostdeutsche Industrie der Westdeutsche jedoch weit hinterher. Bei der Wende trat der völlig veraltete Stand der ostdeutschen Industrie offen zutage.68 Einer umweltpolitischen Rhetorik verpflichtet, weiß die VNG aber auch, diese Schwäche der DDR-Wirtschaft in ihre individuelle Stärke umzuwandeln. Der Untergang der DDR erscheint in der Firmengeschichte nicht nur als politische Zäsur, sondern läutet ihrer Selbstdarstellung zufolge auch eine Wende im ostdeutschen Klimaschutz ein. Die VNG beansprucht, unterstützt von ihrem westdeutschen Partner Ruhrgas, an diesem Wandel einen erheblichen Anteil zu tragen. »Die Gaswirtschaft mit ihren veralteten Anlagen zur Stadtgasproduktion trug mit zur ökologischen Krise bei«, bekennt das Unternehmen in einer Imagebroschüre. »Das Gasturbinenprogramm widerspiegelte die Dilemmata der Umweltpolitik in der DDR: Es gab kein »Aus« für veraltete Technologien, da die Produktionsplanerfüllung Vorrang hatte«, heißt es weiter.69 1989 fand Erdgas in den Neuen Bundesländern vor allem in der Industrie Verwendung, die Haushalte hingegen wurden, mit der Ausnahme Ostberlins, zu einem Großteil mit aus Braunkohle erzeugtem Stadtgas versorgt. »Aus wirtschaftlichen und umweltpolitischen Gründen, musste die Umstellung auf Erdgas wesentlich schneller als ursprünglich avisiert vollzogen werden«70, erklärt die Broschüre zur Geschichte der ostdeutschen Erdgaswirtschaft. Dementsprechend findet auch das Jahr 1992, in dem das VNG-Netz an das westliche Erdgas-Verbundsystem angeschlossen wurde, auf der Homepage des UnterDrushba heißt Freundschaft © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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nehmens gesonderte Erwähnung. »Mit Beginn der Erdgaslieferungen der Ruhrgas AG strömt erstmals Erdgas aus Westeuropa nach Ostdeutschland. Die einseitige Abhängigkeit vom russischen Erdgas ist damit aufgehoben«71 und die Umstellung von Stadtgas auf Erdgas war in die Wege geleitet. Umwelt- und Klimaschutz ist aber längst keine nationale Angelegenheit mehr. Die Europäische Union oder die Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen, die im Kyoto-Protokoll festgehalten sind, agieren als supranationaler, handlungspolitischer und diskursiver Akteur, dessen Vorgaben sich die nationalen Regierungen kaum mehr entziehen können. Demzufolge hob auch der »Bericht der Bundesregierung zur Öl- und Gasmarktstrategie« hervor: »Die Gewährleistung der Versorgungssicherheit steht neben dem Klimaschutz und der Wirtschaftlichkeit im Zentrum der energiepolitischen Agenda in Deutschland und der EU. […] Langfristig müssen wir unsere Importabhängigkeit von Öl und Gas durch neue Technologien reduzieren«72

Während die Imagepolitik der VNG vor allem an ihrem Wandel von einem volkseigenen Handelsbetrieb zu einem marktwirtschaftlichen Unternehmen orientiert bleibt, im Rahmen dessen auch eine umweltpolitische Wende genommen wurde, präsentiert sich ihr »Helfer« in turbulenten Zeiten, die heutige E.ON Ruhrgas AG, deutlich weniger bescheiden bei der klimapolitischen Beweisführung. Die Bedeutung des Erdgases wachse »im Rahmen der nationalen und internationalen Klimaschutzpolitik«, konstatiert Ruhrgas auf seiner Homepage.73 Innerhalb einer energiepolitischen Landschaft, in der man sich auf einen Diskurskonsens zwischen Politik und Wirtschaft geeinigt zu haben scheint, sehen sich die Unternehmen gezwungen, auf umweltpolitische Vorgaben zu reagieren, um sich weiterer Unterstützung durch die Regierung bzw. zukünftiger Regierung zu versichern. »Unser Engagement für den umwelt- und klimaschonenden Erdgaseinsatz ist ein wichtiger Teil der täglichen Arbeit, denn Erdgas ist ein Schlüssel für umweltorientierte Energieversorgung«, bekennt der Essener Energiekonzern.74 Gemeinsam mit seinem Partner Gazprom sucht E.ON Ruhrgas ergo auch im Hinblick auf umweltpolitische Belange die diskursive Nähe zur Politik. Vor diesem umweltpolitischen Hintergrund sowie im Hinblick auf unzuverlässige Transitländer wie die Ukraine oder Weißruss178

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land erscheinen neue Investitionsprogramme wie die Errichtung neuer Untergrundspeicher in Deutschland oder die Initiierung neuer Pipeline-Projekte wie Yamal II oder Nord Stream nicht nur als »Schlüsselprojekte für die langfristige Versorgungssicherheit«.75 Der technische Fortschritt der letzten Jahrzehnte, der neue Pipeline-Investitionen erst ermöglichte, rücke nun auch »Belange der Menschen und der Umwelt«76 in den Fokus der unternehmerischen Tätigkeiten. Umweltpolitische Verantwortung übernimmt Ruhrgas z. B. durch die finanzielle Förderung des Ausbaus eines Netzes von Erdgas-Tankstellen, in den Ruhrgas nach eigenen Angaben bis zu 36 Millionen Euro investierte.77 Darüber hinaus sei dem Unternehmen vor allem an der »technisch-wissenschaft­ lichen Kooperation für Energieeffizienz« gelegen: »Dazu unterzeichneten die Leiterin des Departments für strategische Entwicklung bei Gazprom, W. W. Rusakova, und E.ON Ruhrgas-Vorstand Jürgen Lenz eine entsprechende Vereinbarung in Essen. Es geht um Vorhaben, die unter dem Gesichtspunkt der Weiterentwicklung des Kyoto-Protokolls und der Joint Implementation Fortschritte zum Klimaschutz bringen. Ziel dieser Projekte ist die Senkung der Kohlen­ dioxid-Emissionen«.78

Das »Joint-Implementation«-Projekt zielte vor allem auf Energieund Antriebseinsparung beim Erdgastransport und die Reduzierung von Schadstoffemissionen ab. Die EU-Kommission dankte den Energiekonzernen, wie in der Energiepolitik üblich, äußerst symbolträchtig und verlieh dem Projekt bereits 1999 den »Better Environment Award«.79 Die von Bundesregierung und Erdgaswirtschaft beschworene Trias von »Versorgungssicherheit, Klimaschutz und Wirtschaftlichkeit« bildet auch den Kern der Imagestrategien der Gazprom. Die Public-Relations-Experten der Gazprom Germania bekräftigen auf ihrer Homepage: »Als umweltverträglicher Energieträger, welcher bei steigendem Bedarf in Deutschland und Europa den ökologischen Anforderungen unserer Zeit entspricht, wächst die Rolle des Erdgases auf dem Energiemarkt stetig.«80

Mit anderen Worten, Deutschland sei auf einen weiteren Ausbau des Pipeline-Netzes im Namen des Klimaschutzes angewiesen. Eine Studie des »Öko-Instituts e. V.« aus dem Jahr 2007 belegt, dass die Treibhausemissionen des Erdgases im Vergleich zu Drushba heißt Freundschaft © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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anderen fossilen Energieträgern am niedrigsten liegen.81 Damit ist jedoch noch nichts zu den Umweltbelastungen durch die Pipelineverlegungen selbst gesagt, geschweige denn wurde ein Vergleich zu nicht-fossilen Energieträgern angestrengt. In dieser Hinsicht meldete auch die Frankfurter Rundschau unlängst erhebliche Bedenken an, inwieweit der Bau der Ostseepipeline »durch ein ökologisch schwer angeschlagenes Meer, vorbei an Naturparks und Vogelschutzgebieten« dem Umweltschutz dienlich sein könnte.82 Konfrontiert mit umweltpolitischen Beanstandungen beschwören die Energiekonzerne die »hochwertige Qualität des russischen Erdgases.« Außerdem ginge »der Einsatz von Energieträgern wie Erdgas […] mit vielen innovativen Entwicklungen und Technologien einher und reduziert die CO2-Emmissionen.«83 Und so habe Erdgas auch vor dem Hintergrund umweltpolitischer Maßgaben aus der Politik seit Beginn der deutsch-russischen Partnerschaft »als wichtiger Energieträger nichts von seiner Bedeutung eingebüßt und wird auch künftig als Spender von Licht und Wärme in Millionen Haushalten und Gewerbebetrieben sowie auch als wertvoller Rohstoff in der Industrie Verwendung finden.«84

Der Technik- und Umwelthistoriker Joachim Radkau spricht mit Blick auf die energiepolitische Situation der Bundesrepublik von einem »Patt zwischen den etablierten Mächten der Energiewirtschaft und den Protagonisten der erneuerbaren Energien.« Er konstatiert weiter, dass »insgesamt gesehen […] der Widerspruch zwischen einer an betriebswirtschaftlichen Interessen orientierten Technikentwicklung und Umweltbelangen schwerlich zu bezweifeln [ist].«85 Das »Erfolgsprinzip Partnerschaft« in Förderung, Transport, Handel und seit den 1990er-Jahren auch im deklarierten Klimaschutz wird sich für die großen Unternehmen der deutsch-russischen Erdgaswirtschaft durch den Beistand der Bundesregierung wie auch durch die Europäische Union auszahlen. Mittels Sponsoring im Kultur- Wissenschafts- und Umweltbereich haben sich die Erdgaskonzerne im öffentlichen Leben Deutschlands längst einen festen Platz erobert. Auch der Klimaschutz wird durch die wechselseitige ökonomische und diskursive Abhängigkeit von öffentlicher Meinung, Politik und Wirtschaftsunternehmen zu einer wirtschaftlichen Ressource, an der Bundesregierung und Energiekonzerne gleichermaßen Interesse haben. Die Unternehmen, die die deutsch-russische Energiepart180

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nerschaft in den 1970er-Jahren noch unter den Vorzeichen Bundesrepublik Deutschland, Deutsche Demokratische Republik und Sowjetunion begründeten, die die deutsche Energiewirtschaft 1990 strukturell einigten und mit neuen Großprojekten weiter ausbauten, geben heute in Abgleich mit der Bundespolitik richtungweisend den Ton bei der öffentlichen Selbstdarstellung der Energiewirtschaft an. Ob »Erdgas-Röhren-Geschäft«, »Drushbatrasse« und »Erdgastrasse« oder »Nord Stream Pipeline«, heute wie früher geht es, um mit dem Leitspruch Gazproms zu schließen: »Mit Erdgas in die Zukunft«.

Anmerkungen 1 http://www.gazprom-germania.de/erdgaswissen/energietraeger-erdgas. html (zuletzt aufgerufen am 20.9.2010). 2 E.ON Ruhrgas AG, Unternehmenskommunikation: Erdgas kommt aus Russland. Gewachsenes Vertrauen und langfristige Energiepartnerschaft, S. 8. 3 M. Nadejda Victor, David G. Victor, Bypassing Ukraine: Exporting Russian Gas to Poland and Germany, in: David G. Victor, Amy M. Jaffe, Marc M. Hayes (Hg.), Natural Gas and Geopolitics. From 1970 to 2040, New York 2006, S. 129. 4 Joe Barnes, Mark H. Hayes, Amy M. Jaffe, David G. Victor, Introduction to the study, in: Victor, Natural Gas, S. 3. 5 Jonathan Stern, Gas Pipeline Co-operation between political adversaries. Examples from Europe. Report Submission to Korea Foundation, o. O. 2005, S. 2 f. 6 Amy M. Jaffe, Mark H. Hayes, David G. Victor, Conclusions, in: Victor, Natural Gas, S. 467. 7 Fiona Hill, Russia. The 21st Century’s Energy Superpower?, in: The Brooking’s Review, Bd. 20, Nr. 2 (2002), S. 28–31. 8 Bericht der Bundesregierung zur Öl- und Gasmarktstrategie 2008, S. 31. 9 Alexander Schwabe, Carsten Volkery, Schröder verrubelt seinen Ruf, in: Spiegel online, 12.12.2005, http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0, 1518,389956,00.html (zuletzt aufgerufen am 16.9.2010). 10 Hannes Gramillscheg, Ärger mit der langen Leitung. Gaspipeline durch die Ostsee: Während Geologen den Meeresboden untersuchen, hält der Protest der Anrainer an, in: Frankfurter Rundschau, 39 (15.2.2008). 11 Bericht der Bundesregierung zur Öl- und Gasmarktstrategie 2008, S. 17 12 Ebd., S. 41. 13 Ebd. 14 Barnes, Introduction, in: Victor, Natural Gas, S. 5. 15 Bericht der Bundesregierung zur Öl- und Gasmarktstrategie 2008, S. 7. Drushba heißt Freundschaft © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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16 Gesetz über die Elektrizitäts- und Gasversorgung (Energiewirtschafts­ gesetz – EnWG), Anfertigungsdatum 7.7.2005, S. 1. 17 http://www.eon-ruhrgas.com/cps/rde/xchg/SID-E5F12DDB-987B1BB2/ er-corporate/hs.xsl/3865.htm (zuletzt aufgerufen am 16.9.2010). 18 E.ON übernahm Ruhrgas 2003. 19 Dietmar Student, Frostige Oase. Innenansichten der größten Gasfirma der Welt. Gazprom ist so ziemlich das einzige, das in Russlands Krisenwirtschaft richtig funktioniert, in: Manager Magazin 6 (1999), http:// www.manager-magazin.de/magazin/artikel/0,2828,23192,00.html (zuletzt aufgerufen am 20.9.2010). 20 Schwabe, Schröder verrubelt seinen Ruf. 21 Mark H. Hayes, David G. Victor, Politics, Markets, and the Shift to Gas. Insights from Seven Historical Case Studies, in: Victor, Natural Gas, S. 322 f. 22 FAZ.net, Chodorkowskij-Urteil ohne Auswirkung auf deutsche Wirtschaft, 31.5.2005, http://www.faz.net/s/RubDDBDABB9457A437BAA85 A49C26FB23A0/Doc~EA532128326B742FCAE4B48DB165ACD82~ATpl ~Ecommon~Scontent.html (zuletzt aufgerufen am 20.9.2010). 23 Der Spiegel 33 (1969), Auf kleiner Flamme. 24 Der Spiegel 37 (1973), Taube Ohren. 25 Der Spiegel 21 (1973), »Fangen wir mit der Wirtschaft an«. 26 Der Spiegel 42 (1974), In Moskau Weichen stellen. 27 Die Zeit, 19.12.69, »Gibst du Röhren – geb’ ich Gas«. 28 Der Spiegel 23 (1969), Sowjet-Entwicklungsauftrag: Turnier der Großrohre. 29 Der Spiegel 48 (1981), Die Gas-Scheichs von Sibirien. 30 Der Spiegel 35 (1981), Verbissen gefeilscht. 31 Heinz-Günter Kemmer, Energie-Vasall Bundesrepublik?, in: Die Zeit, 20.11.1981. 32 E.ON Ruhrgas AG, Unternehmenskommunikation, S. 20. 33 Ebd. 34 Gazprom Germania GmbH, Mit Erdgas in die Zukunft, Berlin 2008, S. 13. 35 Bericht der Bundesregierung zur Öl- und Gasmarktstrategie 2008, S. 41. 36 Zeit online, 24.2.2011, http://www.zeit.de/politik/ausland/2011-02/putinkonfrontation-eu (zuletzt aufgerufen am 3.10.2011). 37 Technische Universität Bergakademie Freiberg, Report 41, Nachrichten aus Lehre und Forschung, http://tu-freiberg.de/presse/report/R41November06.pdf (zuletzt aufgerufen am 20.9.2010). 38 Ebd. 39 Gazprom, Erdgas, S. 28. 40 Ebd., S. 13. 41 http://www.eon-ruhrgas.com/cps/rde/xbcr/er-corporate/Ruhrgas_GeBe 03_de.pdf (zuletzt aufgerufen am 28.9.2010). 42 http://www.vng.de/VNG-Internet/de/zz_Dokumente/Beitraege_medium gas/Beitrag_Karlsch.pdf (zuletzt aufgerufen am 21.9.2010).

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43 Katharina Belwe, Zentrales Jugendobjekt der FDJ »Erdgastrasse«, Gesamtdeutsches Institut, Bundesanstalt für Gesamtdeutsche Aufgaben, Analysen und Berichte, II 1–191 12, Bonn 1983. 44 Zentralrat der Freien Deutschen Jugend, Am Bauwerk des Jahrhunderts. Erlebnisse vom Zentralen Jugendobjekt »Ergastrasse« der Freien deutschen Jugend, Berlin (Ost) 1985. 45 Gerd Eggers u. a. (Hg.), Abenteuer Trasse. Erlebnisse und Beobachtungen, Berlin (Ost) 1978, S. 5 f. 46 Joachim Radkau, Technik in Deutschland vom 18. Jahrhundert bis heute, Frankfurt a. M. und New York 2008, S. 388. 47 Marion Gräfin Dönhoff, Signal aus Moskau. Auch im Wahlkampf darf Bonn sich nicht schwerhörig zeigen, in: Die Zeit, 1.8.1969. 48 Zentralrat der Freien Deutschen Jugend, Am Bauwerk des Jahrhunderts, S. 14. 49 Radkau, Technik in Deutschland, S. 399. 50 Ebd., S. 391. 51 Zentralrat der Freien Deutschen Jugend, Am Bauwerk des Jahrhunderts, S. 108. 52 Zentralrat der Freien Deutschen Jugend, Am Bauwerk des Jahrhunderts. 53 Belwe, Zentrales Jugendobjekt. 54 Jürgen Dahlkamp, Frank Dohmen u. a., Giftiger Cocktail, in: Der Spiegel 35 (2008). 55 Der Spiegel 43 (1990), Zu viel gemauschelt. Deutsche Konzerne kämpfen um das lukrative Erdgasgeschäft in Ostdeutschland. Auch die Russen mischen mit. 56 Maria Huber, Heinz Günter Kemmer, Kampf der Monopole. Ist die Energieversorgung in den neuen Bundesländern nach dem Jahreswechsel gefährdet?, in: Die Zeit, 13.12.1991. 57 Die Zeit, 1.11.1991, Machtkampf der Monopole. 58 Ebd. 59 http://www.vng.de/VNG-Internet/de/zz_Dokumente/Beitraege_medium gas/Beitrag_Karlsch.pdf (zuletzt aufgerufen am 21.9.2010). 60 Die Zeit, 15.4.2010. 61 http://www.vng.de/VNG-Internet/de/zz_Dokumente/Beitraege_medium gas/Beitrag_Karlsch.pdf (zuletzt aufgerufen am 21.9.2010). 62 Ebd. 63 Stern, Gas Pipeline, S. 2 f. 64 http://www.vng.de/VNG-Internet/de/zz_Dokumente/Beitraege_medium gas/Beitrag_Karlsch.pdf (zuletzt aufgerufen am 21.9.2010). 65 http://www.vng.de/VNG-Internet/de/zz_Dokumente/Beitraege_medium gas/Beitrag_50_Jahre_VNG.pdf (zuletzt aufgerufen am 21.9.2010). 66 Radkau, Technik in Deutschland, S. 374. 67 Ebd., 376 f. 68 Ebd., S. 388. 69 http://www.vng.de/VNG-Internet/de/zz_Dokumente/Beitraege_medium gas/Beitrag_Karlsch.pdf (zuletzt aufgerufen am 21.9.2010). Drushba heißt Freundschaft © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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70 Ebd. 71 http://www.vng.de/VNG-Internet/de/1_Unternehmen/geschichte/chronik/ index.html. 72 Bericht der Bundesregierung zur Öl- und Gasmarktstrategie 2008, S. 5. 73 http://www.eon-ruhrgas.com/cps/rde/xchg/SID-12A17A06-E987BAEA/ er-corporate/hs.xsl/615.htm. 74 http://www.eon-ruhrgas.com/cps/rde/xchg/SID-57EC95B2-73904850/ er-corporate/hs.xsl/611.htm. 75 E.ON Ruhrgas AG, Unternehmenskommunikation, S. 10. 76 http://www.eon-ruhrgas.com/cps/rde/xchg/SID-AF480DA0-6FA5A03/ er-corporate/hs.xsl/589.htm (zuletzt aufgerufen am 23.9.2010). 77 http://www.eon-ruhrgas.com/cps/rde/xchg/SID-57EC95B2-73904850/ er-corporate/hs.xsl/2952.htm. 78 E.ON Ruhrgas AG, Unternehmenskommunikation, S. 14. 79 Ebd. 80 http://www.gazprom-germania.de/erdgaswissen/energietraeger-erdgas. html. 81 Uwe R. Fritsche, Endenergiebezogene Gesamtemissionen für Treibhausgase aus fossilen Energieträgern unter Einbeziehung der Bereitstellungsvorketten, Oköinstitut e. V., Darmastadt 2007, S. 4 82 Gramillscheg, Ärger mit der langen Leitung. 83 http://www.gazprom-germania.de/erdgaswissen/energietraeger-erdgas. html. 84 http://www.vng.de/VNG-Internet/de/zz_Dokumente/Beitraege_medium gas/Beitrag_Karlsch.pdf (zuletzt aufgerufen am 21.9.2010). 85 Radkau, Technik in Deutschland, S. 377; 385.

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Karena Kalmbach

Von Strahlen und Grenzen: Tschernobyl als nationaler und transnationaler Erinnerungsort

Bezeichnet man, wie Etienne François, einen Erinnerungsort nur dann als »lebendig«, wenn er diskutiert und umstritten wird, dann kann man Tschernobyl zweifelsohne den Status eines sehr lebendigen Erinnerungsortes zusprechen. Die Meinungen darüber, wie viele Todesopfer dieser Atomunfall gefordert hat, welche Arten von Erkrankungen durch die freigesetzte Strahlung hervorgerufen werden oder wie mit den besonders belasteten Gebieten in Osteuropa zu verfahren ist – um nur die prominentesten Aspekte in der öffentlichen Debatte zu nennen –, könnten weiter nicht auseinander gehen. Diese öffentliche Debatte um die Auswirkungen von Tschernobyl bekommt besondere politische Relevanz durch die Tatsache, dass mit jeder Interpretation von Tschernobyl eine Beurteilung der Gefährlichkeit von radioaktiver Niedrig­ dosisStrahlung einhergeht und somit im Allgemeinen mit Aussagen zu Tschernobyl auch ein Statement verbunden ist, welche Lehren und Konsequenzen für die zivile Nutzung der Kernenergie aus dem Ereignis und seinen Folgen gezogen werden müssen. In dieser Hinsicht ist auch die Erinnerung an Tschernobyl, der wir besonders zu den Jahrestagen begegnen, keineswegs unpolitisch, sondern versucht in ihrer Formsprache und den präsentierten »Fakten« entscheidenden Einfluss zu nehmen auf die Perzeption der Risiken, die mit dieser Form der Elektrizitätsgewinnung verbunden sind. Gleichzeitig spiegeln diese Tschernobyl-Narrative eben diese verschiedenen Risikowahrnehmungen wider, die wir bei den unterschiedlichen Akteuren der Tschernobyl-Debatte ausmachen können. Welchen Formen der Erinnerung wir bei Tschernobyl begegnen, soll in diesem Aufsatz sowohl in nationaler als auch in transnationaler Perspektive aufgezeigt werden. »Formen der Erinnerung« Von Strahlen und Grenzen © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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sind in dieser Hinsicht breit gefasst: Sowohl materielle Ausformungen als auch performative Praktiken werden in die Betrachtung einbezogen. Des Weiteren wird ein Fokus auf die Akteure in diesem Erinnerungsdiskurs gelegt. Bevor auf diese Aspekte im Einzelnen eingegangen wird, soll aber zuerst eine kurze Einführung in das Thema gegeben werden.

Das »Ereignis« Tschernobyl und seine Evaluierung In der Nacht vom 25. auf den 26. April 1986 ereignete sich im Reaktorblock 4 des ca. 100 km nördlich von Kiew gelegenen Kernkraftwerks »Lenin« ein Unfall, der unter dem Namen des benachbarten Ortes Tschernobyl in die Geschichte eingehen sollte. Die Anlage, bestehend aus 4 Reaktoren des Typs RBMK mit einer Gesamtleistung von 4000 Megawatt, war in den 70er- und 80er-Jahren gebaut worden, zwei weitere Reaktorblöcke befanden sich 1986 im Bau. In Verbindung mit der nahegelegenen Stadt Pripjat, die eigens als »Versorgungsstadt« für das Kraftwerk errichtet worden war, verkörperte dieser Industrie- und Wohnkomplex den technischen Fortschritt der UdSSR. In jener Nacht im April 1986 kam es während der Durchführung eines Belastungstests zu einer Kernschmelze und einer Reihe von Explosionen, die das Reaktorgebäude zerstörten und zur Freisetzung erheblicher Mengen radioaktiven Materials in die Umwelt führten. Die durch Brände verursachte starke Rauch- und Staubentwicklung trug diese Partikel in höhere Luftschichten und sorgte somit für ihre globale Ausbreitung. Welche Orte eine wie hohe Belastung mit Radionukliden erfahren sollten, hing nicht nur von den Bewegungen eben dieser Luftmassen ab, sondern besonders von lokalen Wetterkonstella­ tionen sowie geographischen Gegebenheiten. Nicht nur bezüglich des physikalischen Niederschlags, sondern auch hinsichtlich der medialen Verarbeitung stellte Tschernobyl ein transnationales Ereignis dar. Während in der Sowjetunion nach der TASS-Pressemeldung vom 28. April, der zufolge »in dem Kernkraftwerk Tschernobyl in der Ukraine sich eine Havarie ereignet hat«1, vorerst keine weitere Berichterstattung stattfand, wurde in den Medien in Westeuropa und den USA intensiv über die Situation in der Umgebung des Kraftwerkes und mögliche Opferzahlen spekuliert. Hinsichtlich der Medienberichter186

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stattung verlief die Grenze, mit Ausnahme von Polen, klar entlang des »Eisernen Vorhangs«, jedoch zeigte die Karte der von den verschiedenen europäischen Ländern ergriffenen Schutzmaßnahmen ein durchaus anderes Bild  – das wiederum keineswegs mit der regionalen Intensität des radioaktiven Fallouts übereinstimmen musste. Ein einheitliches Vorgehen auf EG-Ebene gab es nicht; EG-weit verbindliche Grenzwerte für die radioaktive Belastung von Lebensmitteln wurden erst in der Folge von Tschernobyl festgelegt. So kam es zu der Situation, dass auf der deutschen Rheinseite Blattsalate vom Markt genommen und der Sand auf Spielplätzen ausgetauscht wurden, während auf der französischen Seite die Strahlenschutzverantwortlichen verkündeten, wie absurd diese Maßnahmen seien. Obwohl Frankreich in seinen südöstlichen Landesteilen und auf Korsika durchaus erhebliche Raten radioaktiven Niederschlags verzeichnete, war man in Paris in erster Linie darum besorgt, dass sich die eigene Bevölkerung mit der deutschen »Atomangst« anstecken könnte. Man fürchtete von Regierungsseite die wirtschaftlichen und sozialen Folgen für die französische Gesellschaft, sollte es zu einem Vertrauensverlust in die Qualität landwirtschaftlicher Produkte aus Frankreich oder einer wachsenden Opposition gegenüber der französischen Atompolitik kommen.2 Während im Westen also bereits Atomkraft-Befürworter und Atomkraft-Gegner um die Deutungshoheit rangen, sah man sich im Kraftwerk »Lenin« und seiner Umgebung mit ganz anderen Problemen konfrontiert: Nachdem das brennende Graphit im Reaktor erst nach Tagen hatte gelöscht werden können, begannen die monatelangen Aufräumarbeiten und der Bau des Sarkophags, einer Schutzhülle, die das gesamte zerstörte Reaktorgebäude 4 einschließen sollte. Für diese Arbeiten wurden mehr als 600.000 Männer und Frauen aus der ganzen Sowjetunion nach Tschernobyl geholt, die so genannten »Liquidatoren«. Während die Stromerzeugung in den drei übrigen Reaktorblöcken Ende 1986 wieder normal aufgenommen wurde, erklärte man das Gebiet außerhalb des Kraftwerkgeländes in einem 30 km-Radius zu einer vom Militär kontrollierten verbotenen Zone. Da jedoch die radioaktive Belastung keineswegs dieser willkürlich festgelegten Linie entspricht, gingen in Belarus, dem Land, auf dem der Großteil des Fallouts niederging, die Umsiedlungsmaßnahmen auch in den Folgejahren weiter. Somit ist die Zahl der anfänglich 116.000 evakuierten MenVon Strahlen und Grenzen © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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schen, in erster Linie aus der Stadt Pripjat, heute auf etwa 350.000 angewachsen.3 Der Interpretationsrahmen der westlichen Atomkraft-Befürworter änderte sich auch nach der frühen Medienberichterstattung kaum. Schnell hatte man ein Narrativ gefunden, das – den Leit­ linien der Kalten-Krieg-Rhetorik folgend und unter Bemühung aller gängigen Klischees  – die sowjetische Atom- und Informationspolitik diskreditierte und gleichzeitig betonte, dass sich ein solcher Unfall niemals in einer westlichen Anlage ereignen könne. Dieses Narrativ, das – gestützt auf die Berichte von internen Kritikern des sowjetischen Nuklearsektors wie Grigori Medwedew4 – bis heute auch außerhalb der Pro-Atom-Kreise die meisten Darstellungen der Unfallursache dominiert, beschreibt den Unfall als Folge eines fehlerhaften Reaktorkonzepts und des laxen Umgangs des ungeschulten Personals mit dieser hochsensiblen Technik. Nachdrücklich wurde auch auf internationaler Ebene von Seiten der institutionellen Atomkraft-Befürworter Entwarnung gegeben: Die Lehren, die aus Tschernobyl zu ziehen seien, würden in erster Linie die RBMK-Reaktoren betreffen und nicht die Atomindus­trie an sich in Frage stellen. Der Kommentar von Morris Rosen, Direktor der Sicherheitsabteilung der IAEA, während der TschernobylKonferenz im August 1986 in Wien, dass »selbst wenn sich ein Unfall vom Typ in Tschernobyl einmal pro Jahr ereignen würde, diese Energiequelle noch immer interessant wäre«5, ist in dieser Hinsicht wohl eines der prominentesten Beispiele. Das Kernkraftwerk von Tschernobyl ist nie zu einem ver­lassenen Ort geworden. Auch nach der Abschaltung des letzten Reaktors im Jahr 2000 sind immer noch tausende Arbeiter und Arbeiterinnen mit der Instandhaltung und Kontrolle der dortigen Anlagen und, seit 2007, mit dem Neubau des inzwischen maroden Sarkophags beschäftigt. Ob dieser neue Sarkophag gebraucht wird, darüber gehen die Meinungen weit auseinander.6 Denn ebenso wie bis heute Fragen des Unfallablaufes umstritten sind, herrscht auch darüber Uneinigkeit, wie viel radioaktives Material sich überhaupt noch im Reaktor befindet – eine Frage, die wiederum auf die Debatte zurückverweist, wie viel radioaktives Material durch den Unfall überhaupt in die Umwelt freigesetzt wurde. Diesbezügliche Aussagen haben wiederum eine direkte Rückwirkung auf die in der öffentlichen Debatte besonders präsenten Fragen danach, 188

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welche Gebiete wie hoch belastet sind und damit einhergehend, welche negativen gesundheitlichen Auswirkungen sich für die dort lebenden Menschen ergeben können. Es gibt also im Fall Tschernobyl eine ganze Reihe von Un­ gewissheiten, die sich am Ende zu der großen Ungewissheit der Frage der Opferzahlen aufsummieren. Um diese Zahl zu ermitteln, braucht es, wie gerade ausgeführt, eine ganze Kette von Voran­nahmen zur Menge und Art des freigesetzten Materials, seiner atmo­sphärischen Ausbreitung, dem Verhalten der Radionuklide in unterschiedlichen Boden- und Wassersystemen usw., um schließlich zu einer Aussage darüber zu kommen, wie viel zusätzlicher Radioaktivität ein Mensch durch den Tschernobyl-Fallout ausgesetzt wurde. Bei jedem dieser Schritte wird auf Ausbreitungsmodelle zurückgegriffen, da eine Einzeldatenermittlung gar nicht möglich ist. Möchte man dann aus dieser Exposition darauf schließen, welche negativen gesundheitlichen Folgen sich für ein Individuum ergeben können, ist man komplett auf Wahrscheinlichkeitsmodelle angewiesen. Theoretisch kann zwar jedes radioaktive Isotop eine erbgutverändernde Wirkung haben und eine Krebs­ erkrankung hervorrufen. Da aber dieser Fall eben nicht zwangsläufig eintritt, und natürlich auch noch eine ganze Reihe anderer Faktoren eine Krebserkrankung auslösen können – ohne dass man am Ende unterscheiden kann, was nun genau der Auslöser war –, sprechen alle Berichte zu den Opferzahlen von Tschernobyl von »probabilistischen«, also statistisch möglichen, Neuerkrankungen bzw. Todesfällen. Neben den unterschiedlichen Annahmen, die den diversen Schritten der Modellrechnungen zugrunde gelegt werden, gibt es bei der Frage, wie viele Menschen durch Tschernobyl erkrankt oder ums Leben gekommen sind bzw. noch erkranken und sterben werden, noch eine weitere, ganz zentrale Ungewissheit: nämlich die Frage danach, welche Erkrankungen überhaupt durch die dauerhafte Belastung eines menschlichen Körpers durch niedrige Dosen radioaktiver Strahlung  – hier in erster Linie durch Aufnahme von kontaminierter Nahrung – hervorgerufen werden können. Die offiziellen internationalen Expertengruppen zur Evaluierung der Auswirkungen von Tschernobyl, das »International Chernobyl Project« und sein Nachfolger, das »Chernobyl Forum«, schätzen die gesundheitsschädigende Wirkung von NiedrigdosisStrahlung als quasi nicht-existent ein, wodurch sie in ihrem BeVon Strahlen und Grenzen © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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richt von 20067 die Zahl der Todesopfer im Vergleich zu anderen Studien8 als sehr niedrig ansetzen: Neben den wenigen an akutem Strahlensyndrom gestorbenen Feuerwehrleuten und an Schilddrüsenkrebs gestorbenen Kindern könne man lediglich 4000 probabilistische tödliche Krebserkrankungen innerhalb der Gruppe der Liquidatoren, Evakuierten und der Bevölkerung in den stark belasteten Gebieten als Tschernobylstrahlungs-Todesopfer rechnen. Für die 5 Millionen EinwohnerInnen der »other ›contamina­ ted‹ areas« (der Bericht setzt das Wort »contaminated« stets in Anführungszeichen) ist die gesundheitliche Auswirkung aus Sicht des Chernobyl Forums noch spekulativer und würde weniger als ein Prozent der generellen Krebssterblichkeit ausmachen.9 Der Annahme, dass die Strahlenexposition durch Tschernobyl schädigende Wirkung auf das Erbgut der folgenden Generation haben könnte, wird in dem Bericht eine klare Absage erteilt: Fehlbildungen bei Neugeborenen auf Grund von Tschernobyl gibt es aus Sicht dieser Expertengruppe nicht. Die in Belarus zu be­obachtende Zunahme von Fehlbildungen sei sehr wahrscheinlich auf eine vermehrte Registrierung dieser Fälle zurückzuführen.10 Jedoch weisen schon seit Jahren nicht nur die Verbände der Liquida­toren, sondern vor allem die in den besonders stark vom Fallout betroffenen Gebieten in Belarus praktizierenden Ärztinnen und Ärzte darauf hin, dass seit 1986 eine rapide Zunahme di­verser Erkrankungen  – vor allem des Herz-Kreislaufsystems bei Kindern – in den besonders stark belasteten Gebieten in Osteuropa zu beobachten ist. Für sie stehen diese Erkrankungen in einem direkten Zusammenhang mit der radioaktiven Strahlung, der diese Kinder täglich – und bereits im Mutterleib – ausgesetzt sind.11 Weder das »International Chernobyl Project« noch das »Chernobyl Forum« haben jemals abgestritten, dass man eine Zunahme von diversen Erkrankungen in diesen Gebieten verzeichnet, doch liegt für sie der Grund hierfür an den verbesserten Registrierungssystemen und der »Radiophobie« der Bevölkerung. Das Erklärungskonzept der »Radiophobie« wurde bereits in der ersten offiziellen Evaluierung der Situation in den besonders betroffenen Gebieten herangezogen: Nicht die radioaktive Strahlung, sondern die Angst vor ihr würde die Menschen nicht nur psychisch, sondern durch damit verbundenen Alkohol- und anderweitigen Drogenkonsum auch physisch krank machen.12 Ergänzt durch die so190

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zialen und ökonomischen Umbrüche, die mit den Umsiedlungen und der Auflösung der Sowjetunion einhergingen und den dadurch bedingten Stress, seien hier die wahren Tschernobyl-Folgen angesiedelt  – und keineswegs in der Strahlenbelastung.13 So wurde auch in dem Bericht des Chernobyl Forums von 2006 dafür plädiert, die Ende der 80er-Jahre geräumten Gebiete wieder zu besiedeln und die »Chernobyl-related benefits and privileges« zurückzuschrauben. Rückkehr zur »Normalität« sei das beste Mittel gegen Radiophobie. Dieser Interpretation von Tschernobyl als einem abgeschlossenen Ereignis steht die Deutung des Unfalls als ein andauerndes Ereignis gegenüber. Geht man davon aus, dass die radioaktive Strahlung in den besonders belasteten Gebieten diverse Erkrankungen hervorruft und das Erbgut der dort lebenden Menschen, Tiere, Pflanzen und anderer Organismen verändert, dann wird Tschernobyl nicht nur zu einem gegenwärtigen, sondern zu einem zukünftigen Ereignis in dem Sinne, dass sich seine wahren Auswirkungen erst noch zeigen werden.14 Genau auf diesen Aspekt fokussiert die aktive Erinnerungs­ arbeit, die in den 25 Jahren nach dem Unfall von diversen Akteuren betrieben wurde. Mit der Herausbildung dieses Erinnerungsortes geht also direkt eine Politisierung von Tschernobyl einher. Und durch die transnationale Medialisierung des Ereignisses und die grenzüberschreitende Erinnerungsarbeit der Akteure handelt es sich hier nicht nur um einen nationalen, sondern gleichzeitig auch um einen transnationalen Erinnerungsort.

Narrative als Erinnerungsträger Nach diesem Überblick zu den Implikationen, Unsicherheiten und Vorannahmen, die mit Aussagen zu den Auswirkungen von Tschernobyl einhergehen, soll nun im Folgenden näher dargestellt werden, wie diese Interpretationen des Ereignisses Tschernobyl sich in konkreten Narrativen widerspiegeln. Der Fokus wird hierbei auf Narrative gelegt, die Tschernobyl als »Apokalypse« sehen. Dieses Narrativ hat nicht nur in populären und einem breiten Publikum bekannten literarischen Werken, sondern auch in photographischen und filmischen Werken seinen Ausdruck gefunden – es ist zum Träger der Erinnerung an Tschernobyl geworVon Strahlen und Grenzen © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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den. Das Gegennarrativ, das die Auswirkungen von Tschernobyl in erster Linie in der Problematik der »Radiophobie« sieht, findet sich vor allem in den offiziellen Evaluierungen der internationalen Organisationen und ihren Expertengruppen. Im Gegensatz zum Narrativ der »Apokalypse« dient dieses Narrativ nicht als Erinnerungsträger, da in dieser Interpretation Tschernobyl keineswegs ein erinnerungswürdiges Ereignis ist, sondern es viel mehr endlich eines Vergessens bedarf, um das Problem der »Radiophobie« zu beseitigen. Nationale Narrative Die Erinnerung an Tschernobyl fand ihren Ausdruck unter anderem in der fiktiven Übertragung des Ereignisses und seiner Auswirkungen auf das eigene Land. Je ein Buch aus Deutschland und Frankreich, die beide unter dem unmittelbaren Eindruck des Unfalls geschrieben wurden und diesen in den eigenen nationalen Bezugsrahmen setzten, sollen im Nachfolgenden exemplarisch als »Wege der Erinnerung in Romanform« vorgestellt werden. Für Deutschland spielte das Buch Die Wolke von Gudrun Pause­ wang eine zentrale Rolle bei der interpretatorischen Verarbei­ tung von Tschernobyl. Es wurde zu einem der wichtigsten Erinnerungsträger. In diesem 1987 erschienenen Jugendroman steht das Schicksal des Mädchens Janna-Berta im Mittelpunkt der fik­ tiven Erzählung: Nach einem Unfall im nahe ihres Heimatortes gelegenen Kernkraftwerk Grafenrheinfeld flüchtet sie gemeinsam mit ihrem Bruder Ulli vor der radioaktiven Wolke. Diese Flucht wird als Massenpanik, als rücksichtsloser Kampf eines jeden gegen jeden beschrieben, die radioaktive Wolke als eine sichtbar herannahende Gewitterfront. Ulli stirbt auf der Flucht, JannaBerta bricht im radioaktiven Regen zusammen. Sie wacht in einem Notkrankenhaus auf und leidet unter akuter Strahlenkrankheit, um sie herum sterben die anderen Kinder. Sie überlebt, kommt zu ihrer Tante nach Hamburg, da auch ihre Eltern umgekommen sind, und kämpft gegen das sofort einsetzende Vergessen ihrer Mitmenschen an. Der Vergleich zu Tschernobyl wird ganz explizit gezogen, nicht nur dadurch, dass der Erzählung in Form eines Vorwortes eine am 23. Mai 1986 in der Zeit erschienene Anzeige, die den staat­lichen 192

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Umgang mit Tschernobyl thematisierte, vorangestellt wurde, sondern auch indem Tschernobyl als Verständniskategorie für die Geschehnisse herangezogen wird: Das Wissen um das, was geschieht, ziehen die Menschen in dieser Erzählung aus ihrer Erinnerung an Tschernobyl.15 Bezeichnend für die Rezeption dieses Buches ist die Tatsache, dass zwar die Geschichte als fiktiv, die beschriebenen Szenen der Massenpanik und das Massensterben durch akute Strahlenkrankheit jedoch als ein reales Szenario verstanden wurden. So spricht z. B. auch ein Begleitheft mit Unterrichtsmaterialien für Lehrerinnen und Lehrer von dem »realen Hintergrund des Buches«16. Es soll an dieser Stelle nicht weiter diskutiert werden, ob solch ein Szenario wirklich eintreten könnte, es gilt vielmehr die nachhaltige Wirkung dieser Erzählung zu betonen. Das 1988 – trotz intensiver Kritik aus konservativen Kreisen  – mit dem Deutschen Jugend­literaturpreis ausgezeichnete Buch erreichte im Jahr 2011 eine Auflagenhöhe von knapp 1,5 Millionen und ist nicht nur als Hörbuch und Graphic Novel, sondern 2006 (zum 20.  Jahrestag von Tschernobyl) auch als Film adaptiert worden. Zu den Standard-Schulbuchlektüren gehörend, hat die Erzählung von ­ Gudrun Pause­wang die Vorstellungswelt einer ganzen Generation geprägt – eine Vorstellungswelt, in der ein Atomunfall mit apokalyptischen Zuständen assoziiert wird. Auch in Frankreich nahm man Tschernobyl zum Anlass, um literarisch danach zu fragen, was passieren würde, wenn sich ein solcher Unfall im eigenen Land ereignen würde. Die Antwort darauf gab der ebenso im Jahr 1987 erschienene Roman von Hélène Crié und Yves Lenoir Tchernobyl-sur-Seine17. Die Hauptautorin Crié hatte sich schon vor Erscheinen des Buchs in der Tages­zeitung Libération in diversen Artikeln äußerst kritisch mit der französischen Atompolitik auseinandergesetzt und entwickelte nun ein Szenario für einen Unfall in der Anlage von Nogent-sur-Seine. Das Beispiel war keinesfalls zufällig gewählt: Dieses Atomkraftwerk befand sich 1987 in der letzten Bauphase. Es hatte bereits vor dem Unfall von Tschernobyl besondere Kritik der Atomkraft­gegner wegen seiner Nähe zu Paris (es befindet sich 120 km südöstlich der Hauptstadt) auf sich gezogen.18 Ziel der Erzählung war es in erster Linie, die Problematiken des französischen Nuklearsektors aufzuzeigen, die aus Sicht der Autoren durch die Reaktionen der Von Strahlen und Grenzen © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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offiziellen Stellen auf Tschernobyl besonders deutlich sichtbar geworden waren: die Abgeschlossenheit des »nukleokratischen Systems«19 und die damit einhergehende Desinformationspolitik zum Schutz dieses für Frankreich so wichtigen Industriesektors. Dazu ließen die Autoren die Akteure aus der Berichterstattung zum Unfall von Tschernobyl in ihren »alten Rollen« wieder auftreten: den Leiter der französischen Strahlenschutzbehörde, Pierre Pellerin (hier unter dem Namen Pierre Fouchon), der betonte, dass der Unfall keine negativen Auswirkungen außerhalb des Kraftwerksgeländes haben würde, die Sicherheitsexperten von EDF, der Betreiberfirma der französischen Anlagen, die die Lage zuerst völlig falsch einschätzten, die Medien, die versuchten an Zahlen zu kommen, die ihnen aber verweigert wurden und schließlich die Regierung, der die Verhinderung einer Panik wichtiger war als die Gesundheit der Bevölkerung. Mit Blick auf die Auswirkungen der freigesetzten Strahlung bewegt sich diese Erzählung in einer völlig anderen Vorstellungswelt als Die Wolke. Es kommt zu keinem unmittelbaren Massensterben. Die beiden Spaziergänger, zwei Hauptfiguren des Romans, die in einem dem Kraftwerk nahe gelegenen Wald ahnungslos der Radioaktivität ausgesetzt sind, während über die Gegend eine Ausgangssperre verhängt wird, werden zwar verstrahlt, aber anstatt dass sie bewusstlos zusammenbrechen und ihnen wie Janna-Berta die Haare ausfallen, werden sie von in Schutzanzügen gekleideten Rettungskräften aufgegriffen und in ein Pariser Krankenhaus gebracht. Aus diesem werden sie schon bald wieder entlassen, da sie keine Anzeichen einer akuten Strahlenkrankheit zeigen. Im Vergleich zu Die Wolke ist diese Erzählung somit weitaus weniger apokalyptisch: Es gibt kaum Strahlentote und keine Entvölkerung ganzer Regionen. Nur die direkte Umgebung des Kraftwerks wird zur verbotenen Zone erklärt. Doch auch in dieser Erzählungen sterben Menschen auf der panischen Flucht vor der heranziehenden radioaktiven Wolke und es bleibt die Ungewissheit, wie viele Tausende an den Folgen der Strahlung sterben werden. Betrachtet man schließlich das in dieser Erzählung beschriebene Unfall-Szenario, das in seiner Wortwahl direkt an die offiziellen französischen Beschreibungen der Geschehnisse in Tschernobyl angelehnt ist, so muss man diesen Roman aber durchaus in die Reihe der apokalyptischen Narrative einordnen, denn der Diskurs der französischen Atomexperten betonte stets an erster Stelle, dass ein Unfall wie in­ 194

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Tschernobyl in den Anlagen des eigenen Landes unmöglich auftreten könne. Abschließend bleibt noch anzumerken, dass Tchernobyl-surSeine in keiner Weise eine ähnliche Erfolgsgeschichte vorzuweisen hat wie Die Wolke. Dafür reiht es sich aber in Bezug auf seine Thematik, die Desinformationspolitik um Tschernobyl, in eine Vielzahl von in Frankreich erschienenen Publikationen ein.20 Das Thema Tschernobyl ist also in der Literatur keineswegs we­ niger präsent als in Deutschland, es verteilt sich nur auf mehr Erinnerungsträger. Die Gegenüberstellung dieser beiden Romane zeigt deutlich die unterschiedlichen Emotionen und thematischen Problematisierungen, die Tschernobyl in Deutschland und Frankreich hervorrief. In Deutschland überwog die Angst vor den direkten gesundheitlichen Auswirkungen der radioaktiven Strahlung, wohingegen in Frankreich in erster Linie die Strukturen des Nuklearsektors und damit einhergehend die Angst vor einer gezielten Desinformationspolitik der offiziellen Stellen im Mittelpunkt der Besorgnis stand. Transnationale Narrative Neben der Verarbeitungen des Themas Tschernobyl in einer natio­ nalen Perspektive, die ihren Wirkungs- und Rezipientenkreis auch in erster Linie in diesem nationalen Rahmen hatte, fand eine Repräsentation der Auswirkungen des Unfalls aber auch durch transnational verbreitete Erinnerungsträger statt. Hier muss, um zunächst noch bei den literarischen Ausformungen zu bleiben, an erster Stelle das in Deutschland unter dem Titel Tschernobyl  – eine Chronik der Zukunft publizierte Buch der belarussischen Autorin Swetlana Alexijewitsch genannt werden. Die russische Originalversion war 1997 erschienen und noch im gleichen Jahr ins Schwedische und Deutsche übersetzt worden. Weitere Übersetzungen u. a. ins Japanische, Englische, Chinesische und Spanische folgten und bis heute wird das Buch immer wieder neu aufgelegt. Der weltweite Erfolg erklärt sich nicht nur durch die Thematik, sondern vor allem durch die künstlerische Qualität dieser Erzählung. Was Alexijewitsch als reine Augenzeugenberichte ausgibt, sind in Wirklichkeit stark überarbeitete Interviews, die sie zu Von Strahlen und Grenzen © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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einer unglaublich dichten und intensiven Gesamterzählung zusammengeführt hat. In Tschernobyl  – eine Chronik der Zukunft gibt Alexijewitsch den »Opfern von Tschernobyl« aus den be­ sonders belasteten Gebieten Osteuropas das Wort  – Menschen, die 1986 evakuiert worden waren, Angehörige gestorbener Liquidatoren, Kranke und Angehörige von Kranken, Menschen, die in die evakuierten Dörfer zurückgekehrt waren, Menschen, die dorthin gezogen waren, weil dieser Platz aus ihrer Sicht sicherer war als ihre eigene Heimat. In Form von Monologen lässt Alexijewitsch sie ihre Geschichten erzählen  – ohne ein Hinzu­ fügen von Kommentaren. Mal erstrecken sich diese wörtlichen Reden in der ersten Person über neun bis zehn Seiten, mal ist es nur eine halbe Seite. Tschernobyl  – eine Chronik der Zukunft hat verschiedensten Künstlern als Inspiration gedient. Besonders von Theatergruppen wurden die Texte aufgegriffen und die Mono­loge auf der Bühne dargestellt.21 Meist wird jedoch Tscher­ nobyl – eine Chronik der Zukunft weniger als ein literarisches Werk wahrgenommen, sondern vielmehr als eine Tatsachendokumentation der Situation in den Gebieten um Tschernobyl verstanden. Dies führte dazu, dass häufig Zitate aus dem Buch als Bildunterschriften oder »Erläuterungstexte« in Büchern und Ausstellungen verwendet werden.22 Tschernobyl – eine Chronik der Zukunft, das als Inbegriff der apokalyptischen Sicht auf Tschernobyl betrachtet werden kann – in der französischen Übersetzung findet sie sich bereits im Titel La supplication. Tchernobyl, chroniques du monde après l’Apocalypse  – bildet quasi das Leitnarrativ für die Darstellung der »wahren« Auswirkungen des Unfalls, wie sie durch die internationalen Experten des »International Chernobyl Project«/»Chernobyl Forum« und ihres Konzepts der Radio­phobie verneint werden. Ebenso transnational und universal wie die Rezeption des Werkes von Alexijewitsch ist auch die Bilderwelt zur Illustrierung des Unfalls und seiner Folgen. Die weiteste Verbreitung haben sicher die Fotos von Igor Kostin erfahren. Kostin war mit seiner Kamera nicht nur vor Ort, als die Feuerwehrmänner in der Moskauer Klinik Nr. 6 der akuten Strahlenkrankheit erlagen, sondern auch auf dem Dach des zerstörten Reaktors, das von den Liquidatoren von Hand von Trümmern befreit werden musste, um den Bau des Sarkophags vorzubereiten. In den folgenden Jahren ist Kostin nicht nur immer wieder nach Tschernobyl zurückgekehrt, sondern 196

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auch in die Krankenhäuser in Belarus und der Ukraine und in die Wohn- und Krankenzimmer der Liquidatoren. Zum 20. Jahrestag wurde ein umfassender Bildband mit seinen Arbeiten herausge­ geben.23 Viele der Bilder sind bekannt, da sie nicht nur die mediale Berichterstattung zu Tschernobyl illustriert haben, sondern auch auf diversen Buch-Covern Verwendung fanden und in Ausstellungen gezeigt wurden.24 Kostins Interpretation der Auswirkungen des Unfalls, die in seinen Arbeiten deutlich zum Ausdruck kommt, stellt quasi die bildhafte Ergänzung zu Alexijewitschs Erzählungen dar: ein Unfall, der ein unvorstellbares Elend über die Menschheit gebracht hat – wobei sein wahres Ausmaß noch nicht einmal sichtbar geworden ist, da es sich durch die erbgutverändernde Wirkung der Strahlung erst in der Zukunft zeigen wird. Nicht nur Kostins eigene Arbeiten haben eine weite Verbreitung erfahren, auch hat sich eine Vielzahl anderer Fotografen von ihm inspirieren lassen. Die verlassene Stadt Pripjat mit ihrem still­stehenden Riesenrad und fluchtartig verlassenen Klassenzimmern, die traurigen Gesichter der frühzeitig gealterten Liquidatoren, die Narben am Hals der Kinder nach ihrer Schilddrüsenoperation  – diese Bildmotive sind inzwischen universal für die Darstellung der »Apokalypse Tschernobyl« geworden.25

Ein nationaler Erinnerungsort mit unterschiedlichen Implikationen Neben dieser im Hinblick auf Narrative und Bilderwelten zu beobachtenden Universalität der Tschernobyl-Rezeption gibt es viele Aspekte der Erinnerungsmodalitäten, die rein national geprägt sind. Dies resultiert zum einen aus den unterschiedlichen Betroffenheiten und Reaktionen im Jahr 1986, die dafür gesorgt haben, dass es andere »Ereignisse« zu erinnern gibt. Darüber hinaus finden aber auch unterschiedliche politische Instrumentalisierungen von Tschernobyl statt, die, wie im Folgenden besonders das Beispiel Belarus zeigt, nicht nur auf Fragen der Atomkraftnutzung abzielen. Die unterschiedlichen Implikationen von Tschernobyl als nationalem Erinnerungsort spiegeln gleichzeitig die divergierenden Prozesse der Verarbeitung des Ereignisses und seiner Aus­ wirkungen wider. Wie verschieden der Erinnerungsort Tschernobyl in nationaler Perspektive konnotiert sein kann, soll im Von Strahlen und Grenzen © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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Folgenden an den Länderbeispielen Deutschland, Frankreich und Belarus aufgezeigt werden.26 Deutschland Eine Unterscheidung zwischen West- und Ostdeutschland ist, zumindest in der Frühphase der Tschernobyl-Erinnerung, insofern notwendig, als die Reaktionen 1986 in der Bundesrepublik und in der Deutschen Demokratischen Republik stark divergierten und man insofern auch mit einem unterschiedlichen nationalen Ereignis konfrontiert war. Während in Westdeutschland das Ereignis Tschernobyl vor allem durch die intensive mediale Debatte über die potenziellen Gefahren der freigesetzten Strahlung geprägt war, fiel das Erleben von Tschernobyl in Ostdeutschland schon allein dadurch anders aus, dass hier die zentral gesteuerten Staatsmedien ein wenig dramatisches Bild der Situation vermittelten  – sofern überhaupt berichtet wurde. Wer nur Ost-Medien konsumierte, für den war Tschernobyl ein geographisch weit entfernt stattfindendes Ereignis. Durch eine gleichzeitige Rezeption von WestMedien, deren Bilderwelt in einem eklatanten Widerspruch zu den Ost-Medien stand, ergab sich jedoch, zusätzlich zu der erhöhten Sensibilisierung für die eventuell gesundheitsschädliche Wirkung der radioaktiven Partikel im eigenen Garten, die Konfrontation mit der unbehaglichen Situation, von der eigenen Regierung bezüglich einer akuten Gefahr belogen worden zu sein. Somit wurde Tschernobyl für einige Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtler der DDR – unter ihnen bis heute prominent hervorstechend Sebastian Pflugbeil – zu einem überaus wichtigen Bezugspunkt.27 Während die persönlichen Erinnerungen in Westdeutschland von Vorratskäufen und dem Austauschen von Sand auf Spielplätzen geprägt sind, ist es in Ostdeutschland eher das Überangebot an frischem Obst und Gemüse Anfang Mai 1986 – Produkte, die nicht mehr nach West-Berlin exportiert werden konnten und nun auf dem heimischen Markt angeboten wurden. Diese unterschiedlichen Erfahrungswelten spiegeln sich auch in den teilweise unterschiedlichen Motivationen in Ost und West in Bezug auf die bis heute andauernde Tschernobyl-Hilfe wider. Diese Hilfe, die sich vor allem in der Organisation von Erholungsaufenthalten für Kinder aus den besonders stark betroffenen Regionen in der Ukra198

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ine und Belarus sowie in der Versendung von Hilfsgütern wie Medikamenten, Kleidung etc. ausdrückt, wird in Westdeutschland vor allem von expliziten Atomkraftgegnern unterstützt. In Ostdeutschland spielt hingegen häufig das Motiv der »Hilfe für in Not geratene Freunde« eine zentrale Rolle.28 In der Umwelt- und Anti-AKW-Bewegung ist Tschernobyl jedoch sowohl in Ost- als auch in Westdeutschland zum Referenzpunkt für die Forderung nach einem Ausstieg aus der Nutzung der Atomenergie zur Strom­ erzeugung geworden – eine Forderung, die jedoch keineswegs erst 1986 entstand, sondern vielmehr in Deutschland in den 80er-Jahren schon eine derart weite Verbreitung genommen hatte, dass hier Tschernobyl und die Gefahren, die von der freigesetzten Strahlung ausgingen, eine besonders starke Aufmerksamkeit erfuhren. Doch nicht nur auf zivilgesellschaftlicher Seite wurden und werden in Deutschland mit dem Verweis auf und der Erinnerung an Tschernobyl Standpunkte und Handlungen begründet. Spätestens seit dem Eintritt der politisch institutionalisierten deutschen Umwelt- und Anti-AKW-Bewegung, in Form von Bündnis 90/Die Grünen, in die Bundesregierung im Jahr 1998 ist Tschernobyl auch ein Argument in der Bundespolitik. So wurde auch zum Jahrestag des Unfalls 2006 von der SPD, die inzwischen in einer Koalition mit der CDU auf Bundesebene regierte, und ihrem Umweltminister Sigmar Gabriel Tschernobyl als Argument zur Untermauerung der eigenen Energie- und Wirtschaftspolitik herangezogen: Mit einer großen Foto-Ausstellung der Arbeiten von Igor Kostin, Paul Fusco, Rüdiger Lubricht und anderen im Willy-Brandt-Haus29 in Berlin und einer Postwurfsendung mit dem Titel Tschernobyl  – Magazin zur Atompolitik30, die an ca. 1,5 Millionen Haushalte verteilt wurde, nutzte die SPD den Tschernobyl-Jahrestag, um den im Jahr 2000 in Koalition mit dem Bündnis 90/Die Grünen getroffenen Atomausstiegsbeschluss zu rechtfertigen, der im Rahmen der Klimadebatte immer stärker in Frage gestellt worden war und den es gegenüber der CDU zu verteidigen galt. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass heute der (gesamt-) deutsche Erinnerungsort Tschernobyl für eine kritische bis ab­ lehnende Haltung gegenüber der zivilen Nutzung der Atomenergie steht. Tschernobyl evoziert die von Atomkraftwerken ausgehenden Gefahren, die immerwährende Bedrohung durch einen möglichen Unfall und dessen geographisch uneinschränkbare Auswirkungen. Es ist ein Erinnerungsort, der am stärksten in der Von Strahlen und Grenzen © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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Anti-AKW-Bewegung verankert, jedoch längst – gemeinsam mit dieser Bewegung und ihrer Partei Bündnis 90/Die Grünen – in der politischen Mitte der Gesellschaft angekommen ist; ein wenig umstrittener Erinnerungsort, der sogar problemlos als offizielle Legitimierung von Bundespolitik herangezogen werden kann, da er sich auf ein fast gesamt-gesellschaftlich einheitliches, schichten-, klassen- und gesinnungsübergreifendes Interpretations- und Verständnisraster stützen kann. Frankreich Dass der nationale Erinnerungsort Tschernobyl auch mit anderen Implikationen als einer per se atomkritischen Haltung verbunden sein kann, zeigt bereits der Blick über den Rhein nach Frankreich. Hier treffen wir auf einen sehr lebendigen, umstrittenen Erinnerungsort, dem keineswegs ein schichten-, klassen- und gesinnungs­ übergreifendes Interpretations- und Verständnisraster zugrunde liegt. Schon gar nicht handelt es sich hier um einen Erinnerungsort, der von der Regierung zur Legitimierung der eigenen Energiepolitik genutzt wird – zumindest nicht im Sinne einer der Atomkraft kritisch gegenüberstehen Energiepolitik. Wenn Tschernobyl in Frankreich als politisches Argument herangezogen wird, dann von der Zivilgesellschaft zur Begründung von politischem Protest. Dabei haben der Verweis auf und die Erinnerung an Tschernobyl jedoch Implikationen, die über die Atomkraftfrage an sich hi­nausgehen. Tschernobyl steht in Frankreich für eine gezielte Desinformationspolitik der Regierung hinsichtlich der von Atom­ anlagen ausgehenden Gefahren. Tschernobyl als Schlagwort wird dabei ergänzt durch die Redewendung von der »Wolke, die an der Grenze Halt machte«. Dass sich dieses Narrativ herausbilden und gleichzeitig zum Interpretationsrahmen der Kommunikations­ politik der Regierung in Atomfragen im Allgemeinen werden konnte, erklärt sich nicht alleine aus der »Nicht-Reaktion« der offiziellen französischen Stellen im Frühjahr 1986. Viel wichtiger als die »Nicht-Reaktion« der offiziellen Stellen war die sehr nachdrückliche und breit in den Medien rezipierte Reaktion der nicht-offiziellen Stellen: nämlich die Gründung der ersten unabhängigen französischen Strahlenschutzinstitute, der Commission de recherche et d’information indépendantes sur la radio200

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activité (­CRIIRAD) und der Association pour le contrôle de la radio­ activité dans l’ouest (ACRO). Zweifel an der Darstellung der Auswirkungen von Tschernobyl hatten einige Skeptikerinnen und Skeptiker dazu veranlasst, auf eigene Faust Messungen durchzuführen. Es waren nicht nur die offiziellen Berichte über die Situation in der näheren Umgebung des Kraftwerkes, denen sie wenig Glauben schenkten, sondern vor allem die Aussagen über den radioaktiven Niederschlag in Frankreich selbst. Als Hauptverantwortlicher einer gezielten Desinformationspolitik wurde der Service central de protection contre les rayonnements ­ionisants (SCPRI) aus­gemacht, jenes Institut, das 1986 mit der Gesamtaufsicht über die radioaktive Belastung der französischen Bevölkerung betraut war. So wurde Tschernobyl in Frankreich zur Initialzündung für die Herausbildung einer institutionalisierten Gegenexpertise. Diese Gegenexpertise machte jedoch nicht wie bereits zuvor das Groupe­ment de scientifiques pour l’information sur l’énergie nucléaire (GSIEN)31 aus dem »Apparat« heraus (sprich: in Form von besorgten Mitarbeitern und Wissenschaftlerinnen aus dem Nuklearsektor) auf Gefahren aufmerksam, sondern es handelte sich nun um eine Gegenexpertise, die eigene Labore betrieb und Studien erstellte, die zum Ziel hatten, das »wahre Ausmaß« der Kontamination Frankreichs aufzudecken, um damit die offiziellen französischen Stellen der Lüge zu überführen. Besondere öffentliche Aufmerksamkeit kam diesem Ringen um die Deutungshoheit über die radioaktiven Niederschläge zwischen staatlicher Expertise und zivilgesellschaftlicher Gegenexpertise erneut nach 1996 zu, als, bedingt durch das Bekanntwerden noch immer vorhandener radioaktiver »hot spots« auf französischem Boden, Tschernobyl quasi zu einem Ort in Frankreich wurde. Es begann eine intensive Suche nach seinen französischen Opfern auf der einen32 und eine intensive Datensammlung zum Beweis, dass es diese Opfer nicht geben könne, auf der anderen Seite. Mehr und mehr Menschen führten ihre Schilddrüsenerkrankungen auf Tschernobyl zurück und einige unter ihnen versuchten nicht nur Pierre Pellerin, den Gründer und Leiter des SCPRI, sondern auch Mitglieder der Regierung von 1986 wegen vorsätzlicher Körperverletzung gerichtlich zu belangen. Der letzte diesbezügliche Prozess wurde, nach zehnjähriger Verhandlungsdauer, im September 2011 entschieden – die Klage wurde abgewiesen. Von Strahlen und Grenzen © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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Dieses tiefe Misstrauen einer Bevölkerungsmehrheit gegenüber der offiziellen Bewertung der Auswirkungen von Tschernobyl in Frankreich33 hat jedoch Gründe, die über die Erfahrung mit Tschernobyl hinausgehen. Frankreichs Nuklearprogramm ist ein Thema, das von Beginn an in entscheidenden Bereichen einer demo­k ratischen Entscheidungsfindung enthoben wurde:34 Weder der Bau der Atombombe noch der Beschluss über den massiven Ausbau des französischen Atomparks in den 70er- und 80er-Jahren, der sogenannte »Plan Messmer«, waren je Gegenstand einer parlamentarischen Debatte. Dies wird jedoch aus Sicht der politischen Eliten bis heute eher als ein Qualitätsmerkmal gesehen, da es sich um eine reine »Expertenentscheidung« handelte. Nukleartechnik und Strahlensicherheit werden in Frankreich von den wissenschaftlichen und politischen Eliten als Themen betrachtet, zu denen man ein Expertenwissen haben muss, um sich zu ihnen äußern zu dürfen. Das französische Bildungssystem, das mit seinen Grandes Écoles die Schlüsselposition bei der Elitenbildung einnimmt, ermöglicht aber de facto nur den Absolventen bestimmter Hochschulen, diese Anerkennung als Experte zu erlangen und sorgt somit für eine kontinuierliche Reproduktion einer Elite, die einer Nutzung von Atomenergie sehr positiv gegenüber steht – ein Kreis von Experten, der mit der im öffentlichen Sprachgebrauch durchaus negativ konnotierten Bezeichnung »Nukleokraten«35 betitelt wird. Wer wiederum nicht zu diesem Kreis gehört, für den ist es fast unmöglich, bei den politischen Eliten auf Gehör zu stoßen – eine Situation, mit der die französische AntiAtom-Bewegung seit ihrer Entstehung zu kämpfen hat, da über die Parteigrenzen hinweg (mit Ausnahme der Grünen) ein Konsens herrscht, der die Atomkraft nicht nur als den Weg in die Energiezukunft, sondern auch als eine großartige wirtschaftliche Chance für Frankreich sieht – sowohl was die eigene Infrastruktur der derzeit 58 in Betrieb befindlichen Reaktoren als auch den Export der Technik und der eigene Expertise durch die quasi staatlichen Konzerne Areva und EDF ins Ausland angeht. Die Kritik an bestimmten Funktionsweisen des französischen Nuklearsektors, in erster Linie an seiner Elitenkultur und der damit verbundenen Abschottung gegenüber einer breiten öffentlichen Diskussion und Einflussnahme, kristallisiert sich in Frankreich in der Debatte um die Auswirkungen von Tschernobyl. Hier liegt der Hauptgrund, warum das Thema Tschernobyl in Frank202

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reich eine so nachhaltige Polarisierung hervorgerufen und die Debatte mit wachsendem zeitlichen Abstand zum Unfall sogar an Heftigkeit zugenommen hat. So gab es zum 20. Jahrestag 2006 in Frankreich nicht nur unzählige Veranstaltungen, sondern auch eine ganze Publikationsflut zu Tschernobyl.36 Zur Erklärung dieses Phänomens muss der 20.  Jahrestag in den Kontext der (von vielen Seiten verkündeten) weltweiten Renaissance der Atomkraft gestellt werden – eine Renaissance, an der die französische Atompolitik mit ihrer Propagierung des »grünen Atoms« einen maßgeblichen Anteil hat.37 Die Erinnerung an Tschernobyl wird dabei eindeutig von Seiten der »Nukleokratie«-Kritiker forciert. Aus Sicht der französischen »Nukleokratie« selbst, die die Auswirkungen von Tschernobyl von Beginn an als sehr begrenzt beurteilt hat und Tschernobyl als einen Industrieunfall unter vielen einstuft, gibt es keinen Grund dieses Ereignis herauszustellen – insbesondere, weil man ja mit jeder Äußerung die »radiophobe« Debatte noch anheizen würde. Zwar gibt es in Frankreich auch Wissenschaftler wie Georges Charpak38  – einer der prominentesten Atomkraftbefürworter  –, die für eine Erinnerung an Tschernobyl plädieren, doch geschieht dies unter sehr expliziten Vorzeichen: Charpak hält eine aktive Erinnerung an die durch die Kraftwerksmitarbeiter in Tschernobyl gemachten Fehler für wichtig, um so einem laxen Umgang mit dieser Technik vorzubeugen. Nur so könne die Nutzung der Atomenergie das bleiben, was sie aus seiner Sicht ist: das sicherste und beste Mittel für eine nachhaltige Stromerzeugung. In erster Linie sind es aber dezidierte Atomkraftgegner, allen voran das Anti-Atomkraft-Netzwerk Réseau: »sortir du n ­ ucléaire«, Greenpeace France sowie die französische »Atom-Gegenexpertise«, CRIIRAD und ACRO, die den Erinnerungsort Tschernobyl in nationaler Hinsicht inhaltlich prägen.39 Für sie gilt Tscher­nobyl als »Fleck auf der weißen Weste« der französischen »Nukleokraten«. Die »an der Grenze gestoppte Wolke« bildet den idealen Angriffspunkt, um die »Abgründe« des nukleokratischen Systems aufzuzeigen: ein System, das aus ihrer Sicht verantwortungslos handelt und bereit ist, die eigene Bevölkerung zu gefährden, um sich selbst zu schützen. Im Wachhalten der Erinnerung an Tschernobyl wird von vielen Aktivisten die Chance zur Ausweitung des Protests gegen den »Atomstaat«40 gesehen. Tschernobyl, als nationaler französischer Erinnerungsort, steht also nicht nur für eine Von Strahlen und Grenzen © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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kritische bis ablehnende Haltung gegenüber der zivilen Nutzung der Atomenergie, sondern viel mehr für die Kritik am französischen Elitensystem und damit einhergehend an der politischen Kultur des Landes. Belarus Der Blick nach Belarus soll an dieser Stelle noch eine weitere nationale Lesart von Tschernobyl aufzeigen: die Erinnerung an den Unfall als Ort der Auseinandersetzung zwischen Opposition und Präsident in einem autoritär regierten Land. Wie Tatiana Kasperski in Ihrer Arbeit zeigt, weist der Ausdruck »umstrittener Erinnerungsort« hier Dimensionen auf, die weit über die im Kontext der lieux de mémoire gemeinten Streitigkeiten um Deutungshoheiten und gegensätzliche Vereinnahmungen hinausgehen.41 In Belarus sind wir mit einer Auseinandersetzung konfrontiert, die, wie im Falle von Juri Bandajewski42, für die Seite der Opposition in einer Inhaftierung enden kann. Seit 1989 steht der jährlich stattfindende »Tschernobyl-Marsch« (Tscharnobylskij schljach) in Belarus für eine offene Kritik am politischen System des Landes. Zwischen 1989 und 1991 (dem Jahr von Belarus Unabhängigkeit) richtete sich diese Kritik im Rahmen einer erstarkenden Nationalbewegung gegen die sowjetische Zentralregierung in Moskau und die kommunistischen Autori­ täten in Belarus selbst. Seit 1996 ist der »Tschernobyl-Marsch« jedoch zu einem Ritual derjenigen geworden, die das Regime Lukaschenkos in Frage stellen und offen den staatlichen Umgang mit den Folgen des Unfalls kritisieren. Der »Tschernobyl-Marsch« besteht aus einem Gottesdienst, einer Kundgebung und einem Demonstrationszug durch Minsk. Jedes Jahr wird die Veranstaltung erst in letzter Minute genehmigt und die Strecke geändert, wobei von offizieller Seite versucht wird, den Demonstrationszug möglichst von der Innenstadt fernzuhalten. Die Gründe, warum den belarussischen Autoritäten der oppositionell organisierte »Tschernobyl-Marsch« solch ein Dorn im Auge ist, sind zum einen in der Infragestellung der offiziellen Evaluierung der Auswirkungen des Unfalls zu sehen. Die Demonstranten sehen diese Folgen nämlich keineswegs wie ihre Regierung als beseitigt und überwunden an. Sie betonen vielmehr die nach wie vor von der radioaktiven Strah204

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lung ausgehenden Gefahren für die Menschen, besonders für jene, die in den stark belasteten Gebieten im Süd-Osten des Landes leben. Eben diese Regionen hat die Regierung jedoch teilweise zur Wiederbesiedlung freigegeben und investiert in die dortige (Land-)Wirtschaft. Neben der Infragestellung der TschernobylFolgen-Politik Lukaschenkos, die sich auf die Unterstützung der IAEA und des Chernobyl Forums berufen kann, die ebenfalls für eine »Normalisierung der Lebensumstände in den einst geräumten Gebieten« plädieren, rüttelt der oppositionelle »TschernobylMarsch« aber auch an der Selbstdarstellung Lukaschenkos. Dieser nutzt den Tschernobyl-Jahrestag nämlich seit 1996, um seine Rolle als »sorgender Landesvater« zu propagieren und dabei das nationale Symbol Tschernobyl für sich zu vereinnahmen. Dazu findet jährlich in Minsk eine offizielle Erinnerungszeremonie statt und in verschiedenen Städten der besonders belasteten Gebiete wird das Musikfestival »Tschernobyl Weg  – Die Straße zum Leben« veranstaltet. Der Titel der Veranstaltung spricht für sich selbst: Es soll der in die Zukunft weisende Charakter dieser Veranstaltung unterstrichen und damit gleichzeitig die »rückwärtsgewandte« opposi­tionelle Veranstaltung in Minsk diskreditiert werden. Darüber hinaus begibt sich Lukaschenko auch selbst in einer mehrtägigen Reise um den 26. April in die besonders belasteten Gebiete, um dort an Tschernobyl-Denkmälern Kränze niederzulegen, lokale Industrie- und Landwirtschaftsbetriebe zu besuchen und, im Rahmen der medialen Verbreitung besonders wichtig, um seine Rolle als »Präsident des Volkes« zu unterstreichen, die lokale Bevölkerung zu treffen und ihnen Geschenke zu bereiten. Der Verweis auf die Agitation der Opposition darf dabei nicht fehlen: Sie de­stabilisiere die belarussische Gesellschaft, indem sie deren Einheit aufbrechen will; eine Einheit, die – in der Lesart der Geschichte nach Lukaschenko – durch das gemeinsame Überwinden der Folgen des Unfalls mehr als deutlich zum Ausdruck kam, das Volk zusammen geschweißt hat und deren Früchte sich heute in den blühenden Landschaften der einst geräumten Gebiete widerspiegeln. Die nationale Symbolkraft, die Tschernobyl in Belarus – dem Land, auf das mit Abstand der größte Teil  des Fallouts nieder­ gegangen ist  – innewohnt, hebt somit hier die generelle Debatte um die (gesundheitlichen) Auswirkungen des Unfalls auf eine andere Stufe. Die eigene Position zu Tschernobyl prägt die nationale Von Strahlen und Grenzen © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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und politische Identität. Gleichzeitig ist die Bevölkerung mit dem Dilemma konfrontiert, das sich aus dem Widerspruch zwischen »Erinnern müssen um zu überleben« und »Vergessen müssen um weiterzuleben« ergibt: In den besonders kontaminierten Gebieten können die Menschen Tschernobyl nicht vergessen, da sie nur mit einem strengen Regelwerk aus Verhaltens- und Ernährungsvorschriften versuchen können, die Menge an radioaktiver Strahlung, der sie sich in ihrem Alltag aussetzen, zu beeinflussen.43 Für großflächige Umsiedlungen ist weder Geld noch der politische Wille vorhanden, für Wirtschaftsförderung in den einst geräumten Gebieten dank internationaler Finanzhilfe jedoch schon. Folgt man dem Interpretationsrahmen der »Radiophobie«, dann ist eine schnellstmögliche Normalisierung der Lebensbedingungen in diesen Gebieten der einzige Weg, um die Folgen von Tschernobyl zu überwinden. Nimmt man jedoch an, dass Tschernobyl mehr als die vom Chernobyl Forum errechneten Todesopfer gefordert und durchaus Mutationen des genetischen Erbguts bei Menschen, Tieren und Pflanzen hervorgerufen hat, dann ist die Verkündung der »Überwindung von Tschernobyl« und das Vorantreiben der »Normalisierung der Lebenssituationen« ein perfides Experiment, das in eine Zukunft führen kann, deren Realität sich heute niemand ausmalen möchte.

Ein transnationaler Erinnerungsort: 25 Jahre Tschernobyl im Jahr 2011 Neben dieser nationalen Ebene der Verarbeitung von und der Erinnerung an Tschernobyl hat dieser Erinnerungsort aber auch eine Dimension, die sich auf einer transnationalen Ebene bewegt.44 Auf dieser Ebene wird an die bereits aufgezeigten Narrative und Bilder von Tschernobyl als Apokalypse angeknüpft. Welche materielle und performative Ausprägung diese Form der Erinnerung erfährt, soll im Folgenden kurz am Beispiel des 25. Jahrestages aufgezeigt werden. An erster Stelle muss hier der (International) Chernobyl Day genannt werden. Bei dieser Initiative, die 2011 unter dem Motto »25th anniversary – 25 days of action« stattfand, handelt es sich um ein Netzwerk, das jährlich mit öffentlichen Aktionen an den Unfall von Tschernobyl erinnert. Das Konzept ist weniger als eine 206

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von einer zentralen Organisation koordinierte einheitliche Veranstaltung zu verstehen. Vielmehr handelt es sich hierbei um eine Plattform zum Austausch von Ideen und zur Vernetzung, auch zum Zweck der besseren Sichtbarkeit, einer Vielzahl von Einzelakteuren. Das französische Anti-Atom-Netzwerk Réseau: ›sortir du nucléaire‹ fungiert dabei insofern als Koordinationsinstanz, als es auf der website www.chernobyl-day.org die Einzelaktionen verzeichnet, die über die ganze Welt verteilten Partnerorganisationen zum Mitmachen aufruft und Material wie Poster etc. zur Verfügung stellt. Partnerorganisationen sind zum Beispiel die Regionalgruppen von Greenpeace, die, zum Teil wiederum koordiniert über Greenpeace International oder die Landesverbände, ihre Aktionen untereinander abstimmen.45 Zu den durchgeführten Aktionen (insgesamt wurden von dem Netzwerk 532 Aktionen in 27 Ländern verzeichnet) zählten Gedenkkundgebungen, Demonstrationen, Benefizkonzerte und Lichterketten, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Neben den transnational kooperierenden Anti-Atom-Netzwerken prägen aber auch die Aktionen der »Tschernobyl-Solidaritätsbewegung« die transnationale Dimension des Erinnerungsortes Tschernobyl. Mit »Tschernobyl-Solidaritäts­bewegung« wird die Gesamtheit der auf zivilgesellschaftlicher Ebene und meist auf Initiative von Einzelpersonen organisierte humanitäre Hilfe für die besonders belasteten Gebiete in Ost­europa bezeichnet, die vor allem durch die Organisation von Erholungsaufenthalten von Kindern aus dieser Region und das Sammeln von Hilfsgütern einer breiten Öffentlichkeit bekannt ist.46 Für die Vereine oder Einzelpersonen, die in dieser Hinsicht aktiv sind, ist der Jahrestag stets der Zeitpunkt gewesen, um an die problematische Situation der Menschen  – und insbesondere der Kinder  – in dieser Region zu erinnern und um Unterstützung zu werben. Zum 25.  Jahrestag sticht hier besonders eine Aktion des Internationalen Bildungs- und Begegnungswerks (IBB) heraus, das es sich zum Ziel gesetzt hatte, die verschiedenen Hilfs-Initiativen der »Tschernobyl-Solidaritätsbewegung« im Rahmen einer »internationalen Partnerschaftskonferenz« in Minsk zu vernetzen. Selbsterklärtes Ziel war es dabei, die Erinnerungskultur an Tschernobyl zum 25.  Jahrestag  – und darüber hinaus  – aktiv mitzugestalten.47 Dazu wurde bereits im November 2010 mit Vertreterinnen und Vertretern verschiedener Vereine das European CherVon Strahlen und Grenzen © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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nobyl Network gegründet, das Ideen für gemeinsame Aktio­nen der Vereine am 26. April entwickelte, u. a. eine gemeinsame Kerzenaktion.48 In Bezug auf eine über den 25.  Jahrestag hinausgehende Thematisierung von Tschernobyl wurde während der Konferenz auf dem Gelände des IBB in Minsk der Grundstein für eine »Zukunftswerkstatt« gelegt, einem Informationszentrum zu erneuerbaren Energien. Diese »Zukunftswerkstatt« stellt somit eine transnational vorangetriebene Verbindung von der Erinnerung an die Opfer von Tschernobyl mit der Forderung nach einem Energiewechsel her, die zusätzlich in den Kontext der im März 2011 von der belarussischen Regierung getroffenen Entscheidung zum Bau eines eigenen Atomkraftwerks eingeordnet werden muss.

Ausblick: Die Zukunft des Erinnerungsortes Tschernobyl Die Initiativen zur Vernetzung und Transnationalisierung der Erinnerung an Tschernobyl, wie der »Chernobyl Day« oder das »European Chernobyl Network«, rühren aus der Befürchtung der Akteure, dass Tschernobyl – und somit auch seine Opfer und die Gefahren der zivilen Nutzung der Atomkraft, für die diese Opfer stehen – mehr und mehr in Vergessenheit geraten. Sollte die Wiederbesiedlung der geräumten Gebiete vorangetrieben und darüber hinaus auch die Pläne für eine Umwandlung der verbotenen Zone in einen Naturerlebnis-Park49 umgesetzt werden, so würde Tschernobyl als geographischer Referenzpunkt quasi verschwinden und somit auch jegliche Erinnerungsarbeit sowohl der Anti-Atom-Netzwerke als auch der Tschernobyl-Solidaritätsbewegung völlig neu gedacht werden müssen. Auch wären dann entscheidende Elemente der Bilderwelt, mit der zur Zeit gearbeitet wird, um die Folgen der radioaktiven Strahlung zu visualisieren – die verlassenen Dörfer, die Geisterstadt Pripjat – nicht mehr verfügbar. Ob die transnationale Anti-Atom-Bewegung dann noch wirksam zur Untermauerung ihres Standpunktes auf Tschernobyl verweisen kann, ist mehr als fraglich. Und sollte die von dieser Seite betriebene Erinnerungsarbeit wegfallen, dann wäre Tschernobyl bald kein lebendiger Erinnerungsort mehr und würde aus dem kollektiven Gedächtnis verschwinden. In einer nationalen Perspektive wäre die Erinnerung vielleicht noch weiter verfügbar, doch wie gezeigt wurde, haben diese nationalen Erinnerun208

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gen sehr unterschiedliche Implikationen, wodurch es sowohl für die Anti-Atom-Bewegung als auch für die Tschernobyl-Solidaritätsbewegung äußerst schwierig werden würde, aus diesen Erinnerungen universale Handlungsmaximen abzuleiten. Das Kraftwerk und die Stadt Pripjat selbst würden vielleicht auch weiter an Attraktivität als touristisches Ausflugsziel gewinnen. Doch ob diese Orte den Besucherinnen und Besuchern dann mehr vermitteln würden als das Erlebnis einer Industrieruine und einer Geisterstadt ist ungewiss. Dass aber Tschernobyl auch aus anderen Gründen als dem Verschwinden des mahnenden geographischen Ortes selbst seine Rolle als richtungsweisender Erinnerungsort sehr schnell ver­lieren kann, hat im Frühjahr 2011 das Beispiel Fukushima gezeigt. Die Debatten um den 25.  Jahrestag von Tschernobyl waren von der Frage geprägt: Ersetzt Fukushima Tschernobyl? Diese Frage wurde vor allem dadurch angeregt, dass die Reaktionen in einigen Ländern ähnliche politische Tragweiten hatten und in durchaus vergleichbare Richtungen zielten wie 1986. Wo in Deutschland nach Tschernobyl das Bundes-Umweltministerium gegründet wurde, wurde nach Fukushima erstmals ein Politiker der Partei Bündnis 90/Die Grünen zum Ministerpräsidenten gewählt. In Italien sprach sich 1987 in Referenden eine absolute Mehrheit gegen den Betrieb von Atomkraftwerken im eigenen Land aus, im Juni 2011 tat sie dies erneut. Wo in Frankreich die Regierung und die Atomaufsicht im Frühjahr 1986 keinen Grund zur Beunruhigung sahen und die französischen Atom-Anlagen für absolut sicher erklärten, stuften sie auch den Unfall in der Atomanlage von Marcoule im September 2011 als »Industrieunfall« ein. In welche Kontinuität sich der durch den Guardian im Juli 2011 aufgedeckte Versuch der britischen Regierung zur gezielten Einflussnahme auf die Medienberichterstattung über Fukushima einreiht, sei dahingestellt. Bereits diese wenigen Beispiele geben durchaus Anlass zu der Annahme, dass Fukushima auf Grund seiner politischen Aus­ wirkungen, der Medienrezeption und der dem Unfall zukommenden öffentlichen Aufmerksamkeit durchaus das Potenzial hat, sich langfristig als »ökologischer Erinnerungsort« zu etablieren. Ob dies geschieht, wird in erster Linie davon abhängen, ob die Medien – besonders an den Jahrestagen – Interesse an einer Berichterstattung über die Situation vor Ort zeigen oder der SchwierigVon Strahlen und Grenzen © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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keit erliegen, ein Ereignis zu vermitteln, dem der Nachrichtenwert »neu« fehlt. Tschernobyl wird aber bis auf Weiteres seine besondere Stellung als erster von einer breiten Öffentlichkeit wahrgenommener Beweis des »Und-es-kann-doch-passieren« innebehalten. Dass dieser Erinnerungsort durch Fukushima eine Neubewertung erfährt, ist bereits jetzt deutlich: Das Tschernobyl von Beginn an innewohnende Narrativ des »sowjetischen Unfalls« wird langsam von dem Narrativ des »universalen Restrisikos« überlagert, da die Problematik des Kontrollverlusts über die Technik, der Durchführung der Evakuierungen und der Glaubwürdigkeit der Betreiber und ihrer Informationsweitergabe nicht mehr mittels einer Kalten-Krieg-Rhetorik erklärt werden können. Ob dieses »universale Restrisiko« als Erklärungsmoment akzeptiert oder vielmehr zu einer nachhaltigen Infragestellung der gesamten Atomindustrie führen wird, wird sich zeigen.

Anmerkungen 1 Wortlaut der übersetzen TASS-Meldung in »Neues Deutschland«, abgedruckt in: Melanie Arndt, Tschernobyl – Auswirkungen des Reaktorunfalls auf die Bundesrepublik Deutschland und die DDR, Erfurt 2011, S. 48. 2 Siehe zur Tschernobyl-Debatte in Frankreich: Karena Kalmbach, Tschernobyl und Frankreich. Die Debatte um die Auswirkungen des Unfalls im Kontext der französischen Atompolitik und Elitenkultur, Frankfurt a. M. 2011. 3 Siehe zu diesen Aspekten z. B. die Aufsätze in: Astrid Sahm, Manfred ­Sapper, Volker Weichsel (Hg.), Tschernobyl – Vermächtnis und Verpflichtung, Berlin 2006 (Osteuropa, Heft 56/4). 4 Der deutsche Titel seines Buches lautet: »Verbrannte Seelen – Die Katastrophe von Tschernobyl«; Englisch unter dem Titel »The Truth about Chernobyl«. 5 »Même s’il y avait un accident de ce type tous les ans,  – ce qui est loin d’être le cas – je considérerais le nucléaire comme une source d’énergie intéressante.«, in: Le Monde, La catastrophe de Tchernobyl pourrait être à l’origine de 24.000 décès par cancers, 28. August 1986, S. 20. 6 Die verschiedenen Standpunkte in dieser Debatte sind anschaulich zusammengefasst in dem Deutschlandfunk-Radiobeitrag von Nicolaus Schröder, »Der Tanz um das ›Goldene Grab‹ – Wem nützt der Sarkophag von Tschernobyl?«, Manuskript verfügbar unter: http://www.dradio.de/ download/148967/ (zuletzt aufgerufen am 30.6.2012). 7 The Chernobyl Forum, Chernobyl’s Legacy: Health, Environmental and Socio-Economic Impacts and Recommendations to the Governments of Belarus, the Russian Federation and Ukraine, Wien 2006.

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8 Vgl. hier vor allem den Torch-Report, der eine kritische Analyse der Studien der internationalen Organisationen darstellt und heute einer der Haupt-Referenz-Studien für Atomkraft-KritikerInnen ist: Ian ­Fairlie, David Summer, Angelina Nyagu, The Other Report on Chernobyl (TORCH). Greens and EFA in the European Parliament, Berlin u. a. 2006. Zu einer besonders hohen Zahl an Todesopfern, 899.600 bis 1.787.000, kommt die prominente nordamerikanische Anti-Atom-Aktivistin Rosalie Bertell in ihren Berechnungen: Chris Busby, Alexey Yablokov (Hg.), Chernobyl 20 years on: health effects of the Chernobyl accident. Published on behalf of the ECRR by Green Audit, Aberystwyth 2006, S. 247. 9 Vgl. The Chernobyl Forum, Chernobyl’s Legacy, S. 15 f. 10 The Chernobyl Forum, Chernobyl’s Legacy, S. 19 f: »These doses are also unlikely to have any major effect on the number of stillbirths, adverse pregnancy outcomes or delivery complications or the overall health of children. Birth rates may be lower in ›contaminated‹ areas because of concern about having children (this issue is obscured by the very high rate of medical abortions) and the fact that many younger people have moved away. No discernable increase in hereditary effects caused by radiation is expected based on the low risk coefficients estimated by UNSCEAR (2001) or in previous reports on Chernobyl health effects.« 11 Die international am prominentesten in Erscheinung getretenen Ärzte sind Juri Bandajewski und Wassili Nesterenko. In Deutschland hat sich vor allem Sebastian Pflugbeil für eine öffentliche Debatte über die gesundheitlichen Auswirkungen in Osteuropa stark gemacht, vgl. z. B.: Sebastian Pflugbeil, »Alle Folgen liquidiert? Die gesundheitlichen Aus­ wirkungen von Tschernobyl«, in: Sahm, Tschernobyl, S. 81–104. 12 The International Chernobyl Project, An Overview. Assessment of Radiological Consequences and Evaluation of Protective Measures. Report by an International Advisory Committee, Wien 1991, S. 32. Vgl. zur Entstehung dieses Erklärungskonzepts (der Begriff wurde das erste Mal in einem Bericht des nationalen Strahlenschutz-Kommittees der UdSSR verwendet) siehe: Tatiana Hlukhava-Kasperski, La politique de la mémoire d’une catastrophe nucléaire: les usages de l’accident de Tchernobyl en Biélorussie (1986–2008). Institut d’Études Politiques de Paris: Thèse de doctorat en science politique, spécialisation Russie et CEI, 2012, S. 393. 13 Vgl. The Chernobyl Forum, Chernobyl’s Legacy, S. 36. 14 In sozial-philosophischer Perspektive haben sich besonders Guillaume Grandazzi und Frédérick Lemarchand u. a. in ihrem Sammelband »Les silences de Tchernobyl – L’avenir contaminé« (Éditions Autrement, P ­ aris 2004, erweiterte Neuauflage 2006) dem Themenkomplex »Tschernobyl als zukünftiges Ereignis« gewidmet. 15 Gudrun Pausewang, Die Wolke. Rheda-Wiedenbrück, 2003, z. B. S.  16 und 23. 16 Brigitta Reddig-Korn (Hg.), Materialien zur Unterrichtspraxis  – Gudrun Pausewang, Die Wolke, erarbeitet von Dr. Gabriele Runge, Ravensburg, 2009, S. 3. Von Strahlen und Grenzen © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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17 Hélène Crié, Yves Lenoir, Tchernobyl-sur-Seine, Paris 1987. 18 Die Idee eines »Tchernobyl-sur-Seine« hatte vor der Buchveröffent­lichung 1987 bereits einen Vorläufer gehabt. In der Libération vom 22. Mai 1986 war unter dem Titel »Nogent, 7 décembre 1990, 20h 11: Catastrophefiction« der fiktive Ablauf eines Unfalls in diesem Kraftwerk mittels eines Comicstrips beschrieben worden. »Nous avons imaginé, minute par ­minute, le scénario des premières 24 heures d’une catastrophe à laquelle vous avez échappé.«, in: Libération, Nogent, 7 décembre 1990, 20h 11: Catastrophe-fiction, vom 22. Mai 1986. 19 Bei dem Begriff »Nukleokratie« handelt es sich um eine in Frankreich geläufige (negativ konnotierte) Redewendung zur Spezifizierung des auch in anderen Sprachen verwendeten Begriffs »Technokratie«. Bzgl. des Arguments einer Uniformität der französischen Nukleokraten in Bezug auf Herkunft und Ausbildung siehe vor allem: Philippe Simonnot, Les nucléo­crates, Grenoble 1978. 20 Neben einer bemerkenswerten Auseinandersetzung mit Tschernobyl in Form eines Comics (Chantal Montellier, Tchernobyl mon amour, Arles 2006) besteht die Tschernobyl-Literatur in Frankreich eher aus Sach­ büchern. Um nur einige der wichtigsten Titel zu nennen: Wladimir Tchertkoff, Le crime de Tchernobyl  – le goulag nucléaire, Arles 2006; CRIIRAD et André Paris, Contaminations radioactives  – atlas France et Europe, Barret-sur-Méouge 2002; Jean-Michel Jacquemin-Raffestin, Tchernobyl – aujourd’hui les Français malades, Monaco 2001. 21 Siehe für Frankreich: Virginie Symaniec, »Mettre en scène La Supplication: du déni de la réalité au rejet de la représentation«, in: Guillaume Grandazzi, Frédérick Lemarchand (Hg.), Les silences de Tchernobyl, ­Paris 2004, S. 178 f. 22 Siehe z. B. das Jugendbuch: Paul Dowswell, The Chernobyl disaster: 26th April 1986, London 2003, S. 27 u. 37; oder die Wanderausstellung des IBB »25 Jahre nach Tschernobyl«. 23 Igor Kostine, Tchernobyl: confessions d’un reporter (avec la collaboration de Thomas Johnson), Paris 2006. Das Buch ist auch auf Englisch (»Confessions of a Reporter«) und Deutsch (»Tschernobyl. Nahaufnahme«) erschienen. 24 So illustriert ein Kostin-Foto z. B. das Cover des Buches »Tschernobyl: Vermächtnis und Verpflichtung«. Eine große Ausstellung mit seinen Bildern fand im Frühjahr 2006 im Willy-Brandt-Haus in Berlin statt. 25 Siehe zu einer philosophisch-kunsthistorischen Auseinandersetzung mit Tschernobyl-Fotographien: Daniel Bürkner, »Eine vollkommen neue Realität. Transgression des Wahrnehmbaren in den Bildern Tschernobyls«, in: Ingeborg Reichle, Steffen Siegel, Achim Spelten (Hg.), Maßlose Bilder. Visuelle Ästhetik der Transgression, München 2009, S. 189–206. 26 Auch wenn im Rahmen dieses Aufsatzes das Fallbeispiel Ukraine nicht berücksichtigt werden konnte, so soll an dieser Stelle zumindest auf einige Spezifika von Tschernobyl als nationalem ukrainischen Erinne­rungsort verwiesen werden. An erster Stelle ist hier das »Helden­narrativ« zu nen-

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nen, in dem die Feuerwehrleute und Liquidatoren das Land vor einer Katastrophe gerettet und wie in einem Krieg über den Feind (in diesem Fall den brennende Reaktor) gesiegt haben. Diesen Helden wird in der Ukraine mit Denkmälern gedacht und gedankt. Gleichzeitig stellt aber der Kampf um die Anerkennung als Tschernobyl-Opfer ein zentrales Element der Alltagswelt vieler Menschen in diesem Land dar (Adriana Petryna: Life Exposed. Biological Citizens after Chernobyl, Princeton 2006); es gibt also quasi eine Helden-Opfer-Konkurrenz in der Erinnerungs­ arbeit. Des Weiteren ist die »Materialität« der Erinnerung an Tschernobyl in der Ukraine besonders präsent, sei es in Form der Ex­ponate im Tschernobyl-Museum in Kiew, als ethnologische Sammlung von kulturellen Relikten aus den geräumten und abgetragenen Orten in der »verbotenen Zone«, oder als der rot-weiße Schornstein, der zum Charakteristikum der Unfallschauplatz-Szenerie wurde und der für den Sarkophag-Neubau demontiert werden muss – ein Vorhaben das auf erhebliche Kritik stößt. Siehe als jüngste Arbeiten zur Erinnerung an Tschernobyl mit einem besonderen Schwerpunkt auf Osteuropa die von Melanie Arndt herausgegebene Sondernummer der Anthropology of East Europe Review, Special Issue: Memories, commemorations, and representations of Chernobyl, Vol 30, 1 (2012). Im Gegensatz zum Umgang mit Tschernobyl in der BRD liegen für die DDR kaum Studien vor. Siehe als zwei der wenigen Publikationen: Friedrich-Ebert-Stiftung, Landesbüro Sachsen-Anhalt, Tschernobyl und die DDR: Fakten und Verschleierungen – Auswirkungen bis heute?, Magdeburg 2003; Dorothee de Nève, Die Atomkatastrophe von Tschernobyl – Reaktionen in der DDR, Berlin 1995. Als eine der ganz wenigen Studien, die sowohl die BRD als auch die DDR berücksichtigt, siehe kürzlich erschienen: Arndt, Tschernobyl. Diese Beobachtung ergab sich durch eine Vielzahl von Gesprächen mit Aktiven der Tschernobyl-Solidaritätsbewegung im Rahmen der vom IBB organisierten »internationalen Partnerschaftskonferenz« vom 17. bis 20.  April 2011 in Minsk. Eine tiefere Analyse des Westdeutschen En­ gagements über das Motiv der Atomkraftgegnerschaft hinaus liefert: ­Melanie Arndt, »Verunsicherung vor und nach der Katastrophe. Von der Anti-AKW-Bewegung zum Engagement für die ›Tschernobyl-Kinder‹«, in: Zeithistorische Forschungen 7 (2010) 2, S. 240–258. Siehe zu dieser Ausstellung z. B. den Artikel auf Spiegel-Online: ­Daniel Haas, Tschernobyl-Ausstellung  – Nahaufnahmen des Leids, SpiegelOnline, 3. April 2006, http://www.spiegel.de/panorama/zeitgeschichte/0,1 518,druck-409586,00.html (zuletzt aufgerufen am 30.6.2012). Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Tschernobyl – Magazin zur Atompolitik, Berlin 2006. Siehe Näheres zum GSIEN, dem französischen »Äquivalent« zur Union of Concerned Scientists, bei: Sezin Topçu, »Confronting Nuclear Risks: Counter-Expertise as Politics Within the French Nuclear Energy D ­ ebate«, in: Nature and Culture 3 (2008), S. 225–245.

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32 Der prominenteste Vertreter dieser »Suche nach französischen Opfern« ist sicher Jean-Michel Jacquemin-Raffestin, der mit einer Vielzahl von Publikationen diesem Thema eine breite öffentliche Aufmerksamkeit verschafft hat: Jean-Michel Jacquemin-Raffestin, Ce fameux nuage… Tchernobyl, la France contaminée, Paris 1998; ders., Tchernobyl  – aujourd’hui les Français malades; ders.: Tchernobyl, conséquences en France. J’accuse…!, Paris 2002; ders.: Tchernobyl 20 ans après. Cachez ce nuage que je ne saurais pas voir, Paris 2006. 33 Vgl. hierzu die Ergebnisse der Meinungsumfrage IRSN, Baromètre IRSN 2006. La perception des situations à risques par les Français, Fontenayaux-Roses 2006, S. 40. 34 Vgl. zu den sozio-politischen Implikationen des französischen Atomprogramms der Nachkriegszeit: Gabrielle Hecht, Le rayonnement de la France. Énergie nucléaire et identité nationale après la seconde guerre mondiale (traduit de l’anglais par Guenièvre Callon), Paris 2004. 35 Zu den Begriffen »Nukleokratie« und »Nukleokrat« siehe Fußnote 19. 36 Nicht nur wurden mehrseitige Dossiers in fast allen Tageszeitungen veröffentlicht, sondern auch in Rundfunk- und Fernsehsendungen wurde dem Thema Tschernobyl ein überaus prominenter Platz eingeräumt. Einer genauen Analyse der Vielzahl an Publikationen widmet sich: Kalmbach, Tschernobyl und Frankreich, S. 131 ff. 37 Siehe zum französischen Engagement in der internationalen Lobby­ arbeit für eine »Vergrünung des Atoms«: Emmanuelle Mühlenhöver, L’environnement en politique étrangère: raisons et illusions. Une analyse de l’argument environnemental dans les diplomaties électronucléaires françaises et américaines, Paris 2002. 38 Georges Charpak, Richard L. Garwin, Venance Journé, De Tchernobyl en tchernobyls, Paris 2005. 39 Auf die Rolle von Guillaume Grandazzi, Frédérick Lemarchand, Galia Ackermann und Wladimir Tchertkoff, deren Publikationen und Thesen den Tschernobyl-Diskurs in Frankreich, besonders zum 20. Jahrestag, entscheidend beeinflusst haben, wird hier nicht weiter eingegangen, da sie eher dem transnationalen Tschenobyl-Diskurs im Sinne der universalen Alexijewitsch-Rezeption zuzuordnen sind und sich nicht auf Tschernobyl als nationalem französischen Erinnerungsort beziehen. 40 In Anlehnung an: Robert Jungk, Der Atomstaat. Vom Fortschritt in die Unmenschlichkeit, München 1977. 41 Die Ausführungen zu Belarus beruhen im Wesentlichen auf der Disser­ tation von: Tatiana Hlukhava-Kasperski, La politique de la mémoire. ­Kasperskis Ergebnisse sind teilweise veröffentlicht in: dies., »Chernobyl’s Aftermath in Political Symbols, Monuments and Rituals: Remembering the Disaster in Belarus«, in: Anthropology of East Europe Review, Special Issue Chernobyl, S. 82–99. Siehe außerdem zur Erinnerung an Tschernobyl in Belarus: Astrid Sahm, »Und der dritte Weltkrieg heißt Tschernobyl…«, in: Fred Dorn u. a. (Hg.), Erinnerungen gegen den Krieg, Minsk 1995, S.  202–227; Melanie Arndt, »Von der Todeszone zum Strahlen-

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Mekka? Die Erinnerung an die Katastrophe von Tschernobyl in Belarus, der Ukraine und Russland«, in: Zeitgeschichte-online, April 2006; Andrei Dudchik, Marharyta Fabrykant, »Ordinary Tragedy: ›­Perestroika‹ of Collective Memory about Chernobyl Disaster in Belarusian History Textbooks«, in: Anthropology of East Europe Review, Special Issue Chernobyl, S. 65–81. Bandajewski ist ein belarussischer Kinderarzt, der seine Arbeit in einer der am stärksten belasteten Regionen nutzte, um eigene Forschungen zum Zusammenhang der kontinuierlich von den Kindern mit ihrer Nahrung aufgenommenen Radionuklide und ihren diversen Erkrankungen (insbesondere des Atem-, Herz- und Kreislaufsystems) durchzuführen. Im Jahr 1999 wurde Bandajewski wegen angeblichen Korruptionsverdachts verhaftet. Es gab weltweiten Protest gegen diese Inhaftierung, sowohl von Menschenrechtsverbänden wie Amnesty International als auch von atomkraftkritischen Vereinigungen. 2005 wurde Bandajewski schließlich unter Auflagen freigelassen. Siehe zu diesen Verhaltens- und Ernährungsvorschriften z. B.: Alfredo Pena-Vega, »Leben in einer Welt der Verbote. Eine Vergangenheit, die nicht vergeht«, in: Sahm, Tschernobyl, S. 71–80. Obwohl die Akteure ihre Initiativen meist als »international« bezeichnen, halte ich hier an dem Begriff »transnational« fest, um deutlich zu machen, dass diese Kooperationen zivilgesellschaftlich verankert sind. Eine detaillierte Liste der Veranstaltungen und der beteiligten Organisationen findet sich unter: http://www.chernobyl-day.org/ (zuletzt abgerufen am 30.6.2012). Vgl. zur Geschichte der »Tschernobyl-Solidaritätsbewegung«: IBB (Hg.), Tschernobyl und die europäische Solidaritätsbewegung, Dortmund 2011. Zu einer Analyse des West-Deutschen Engagements für die »TschernobylKinder« siehe: Arndt, Verunsicherung. Zu Belarus siehe: Astrid Sahm, »Auf dem Weg in eine transnationale Gesellschaft? Belarus und die internationale Tschernobyl-Hilfe«, in: Sahm, Tschernobyl, S. 105–116. Vgl. in programmatischer Hinsicht hierzu: Astrid Sahm, »Die Katastrophe von Tschernobyl im Kontext einer europäischen Erinnerungskultur«, in: IBB, Tschernobyl, S. 16–32. Siehe zum European Chernobyl Network, seinen Mitgliedern und der initiierten Kerzenaktion die Website: http://www.ecnchernobyl.eu/ (zuletzt abgerufen am 30.6.2012). Dieser Vorschlag, »to explore the possiblities for promoting specialized ecological tourism«, wurde vom Chernobyl Forum in seinem Abschlussbericht unterbreitet: Chernobyl Forum, Chernobyl’s Legacy, S. 57. Hintergrund des Vorschlages ist, dass durch die inzwischen jahrelange, fast völlige Abwesenheit von Menschen in Teilen der »verbotenen Zone« sich dort seltene Tierarten wie Wildpferde und Wölfe gut entwickeln.

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Globale Erinnerungsorte

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Stefan Esselborn

Koloniale Landschaft und industrielle Landwirtschaft: Das »Groundnut Scheme«

Im Frühling des Jahres 1946 sah ein Mann aus dem Fenster eines Flugzeuges, das über Tanganjika, dem Festlandsteil der heutigen Republik Tansania schwebte. Da noch Regenzeit herrschte, war die Landschaft unter ihm wahrscheinlich in ein »sattes, dunkles Grün« getaucht, das den Eindruck von Fruchtbarkeit vermittelte.1 Doch anstelle von Feldern und Dörfern dehnte sich eine scheinbar endlose, »leere« Buschlandschaft unter ihm aus. Tanganjika galt als eines der ärmsten Territorien in ganz Afrika und weder deutsche noch britische Kolonialherren hatten es der Mühe wert befunden, mehr als das absolute Minimum in Infrastruktur zu investieren. Ganze Regionen waren Mitte der 1940er-Jahre noch ausschließlich zu Fuß erreichbar. Die Tsetsefliege, Überträger der tödlichen Schlafkrankheit, machte große Teile des Landes für Menschen und Nutztiere unbewohnbar.2 Während das Flugzeug seine Bahn zog, begann sich der Passagier zu fragen – folgt man Alan Woods dramatischer Schilderung der Ereignisse –, »ob man auf diesem Ödland nicht Ölpflanzen wachsen lassen könnte, zum Nutzen der Margarineration der britischen Hausfrau wie für den wohlverdienten Profit der United Africa Company.«3 Der besagte Passagier war Frank Samuel, Managing Director der United Africa Company (UAC). Er befand sich auf einer Tour durch Afrika, um neue Speiseölquellen für den gigantischen Mutterkonzern der UAC aufzutun. Die Unilever Corporation stellte zu diesem Zeitpunkt drei Viertel aller in Westeuropa konsumierten Margarine und zwei Drittel aller Seife her, mit der sich das britische Empire die Hände wusch. Kurz nach seiner Rückkehr nach London präsentierte Samuel dem britischen Ernährungsministerium einen Vorschlag: Der britische Staat sollte auf dem »leeren« Land Tanganjikas in großem Stil Arachis hypogea anbauen, gemeinhin Koloniale Landschaft und industrielle Landwirtschaft © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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bekannt als Erdnuss, auf Englisch »peanut« oder »groundnut«.4 Schon wenige Monate später schiffte sich ein wissenschaftliches Erkundungsteam unter der Leitung von John Wakefield, einem Agronomen mit 18 Jahren Tanganjika-Erfahrung, nach Ostafrika ein, um die Machbarkeit des Vorhabens zu überprüfen. Nach nur neun kurzen Wochen im Feld präsentierte die so genannte »Wake­ field Mission« im September 1946 ihren Bericht. Sie hatten die von Samuel bereits sehr ehrgeizig geplante Gesamtanbaufläche nochmals auf insgesamt 1,2 Millionen Hektar vergrößert, ein Gebiet etwas kleiner als Schleswig-Holstein oder mehr als ein Drittel der Niederlande.5 Auf dieser Fläche, im Wesentlichen verteilt auf drei verschiedene Standorte im Zentrum, im Süden und im Südwesten Tanganjikas, sollte der Busch gerodet und durch 107 gigantische Erdnussfelder zu je 11.000 Hektar ersetzt werden.6 Durch den massierten Einsatz von staatlichem Kapital, modernsten Maschinen und menschlicher Willenskraft würde sich die feindliche Umwelt Tanganjikas in kürzester Zeit in eine Erdnussmonokultur verwandeln. Von 1950/51 an rechnete man mit einer Produktion von 600.000 bis 800.000 Tonnen Erdnüssen im Jahr, so dass sich die enormen Investitionen für den britischen Staat schon nach wenigen Jahren rechnen würden.7 Um Zeit zu sparen verzichtete man bewusst auf die Durchführung eines Pilotprojektes, mit dem Argument, dass für eine Unternehmung dieser Größenordnung mit solch prosaischen Methoden nichts Wertvolles in Erfahrung gebracht werden könne.8 Das Kabinett gab im Januar 1947 offiziell grünes Licht; im Februar landeten die ersten Schiffe mit Arbeitern und Maschinen in Tanganjika. Es sollte der Auftakt zum berühmtesten landwirtschaftlichen Desaster der kolonialen Entwicklungspolitik werden. Nur vier Jahre später, Anfang 1951, räumten die Verantwortlichen ihre Niederlage ein und zogen sich aus Ostafrika zurück. Die damals gigantische Summe von fast 36 Millionen Pfund (um die 900 Millionen Pfund nach heutigem Wert) musste als Verlust abgeschrieben werden. Trotz all dieser Ausgaben waren nicht einmal sieben Prozent der ursprünglich vorgesehenen Fläche in Ackerland verwandelt worden und 90 Prozent davon erwiesen sich schon bald als derart ungeeignet für die Landwirtschaft, dass sie 1955 nicht mehr bepflanzt wurden. Als statistische Höchststrafe importierte das Projekt letztlich mehr Erdnüsse als Saatgut nach Tanganjika, als es jemals produzierte.9 220

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Karte 1: Geplante Standorte des Groundnut Scheme in Tanganyika. Quelle: D. J. Morgan, The Official History of Colonial Development, vol. 2 (1980), © Crown copyright. Licensed under the Open Government Licence v2.0.

Dank seines überdimensionierten Ehrgeizes, aber vor allem auch aufgrund seines spektakulären Misserfolgs machte das Groundnut Scheme international Schlagzeilen, im Gegensatz zur überwältigenden Mehrzahl landwirtschaftlicher Entwicklungsprojekte. Bis zum heutigen Tag taucht das Projekt  – oder zumindest einzelne Aspekte  – immer wieder in verschiedenen Kontexten auf. Verfolgt man diese Erinnerungsbruchstücke über die Zeit, geraten eine Reihe »großer« Themenfelder in den Blick: Die ökonomische Rolle des Staates, die »Entwicklung rückständiger Gesellschaften«, Koloniale Landschaft und industrielle Landwirtschaft © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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die Mechanisierung und Industrialisierung der Landwirtschaft, ja sogar ganz allgemein das Verhältnis von Mensch und Natur in der zweiten Hälfte des 20.  Jahrhunderts. Die sehr unterschiedlichen Perspektiven auf das Groundnut Scheme sollen im Folgenden in drei Hauptsträngen gebündelt werden, die im Wesentlichen die geographische wie machtpolitische Position der jeweiligen Akteure widerspiegeln.10 Welche Aspekte des Projektes jeweils erinnert wurden – und welche nicht –, welchen Sinn man dem Projekt zumaß und welche Konsequenzen daraus gezogen wurden, hing dabei vor allem vom jeweiligen Blickwinkel auf einen zentralen Akteur im Drama des Groundnut Scheme ab: Die ökologische und soziale Landschaft im Hinterlands Tanganyikas.

Vom heroischen Feldzug gegen die Natur zum Politskandal: Die »ölige Illias« Großbritanniens Das parlamentarische »White Paper«, das den Weg zum Groundnut Scheme freigab, räumte durchaus ein, dass der Plan »erhebliche Risiken« beinhalte, da nie zuvor eine landwirtschaftliche Operation dieser Größenordnung in solch »abgelegenen und unterentwickelten Gebieten« versucht worden sei.11 Eigentlich stand eine solch massive direkte Staatsintervention in den Kolonien der traditionellen Linie der britischen Kolonialpolitik in Theorie wie Praxis diametral entgegen und derselbe Vorschlag wäre wenige Jahre zuvor wohl kaum ernsthaft diskutiert worden. Doch mittlerweile hatten sich die Umstände geändert. Ein Zusammentreffen politischer, klimatischer und demographischer Faktoren führte unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer weltweiten Speiseöl- und Fettknappheit. Diese in der Nachkriegssituation an sich schon problematische »Ölkrise« wurde in Großbritannien als Vorbote einer weltweiten neo-malthusianischen Ernährungskrise interpretiert. Eine erhebliche und sofortige Steigerung der weltweiten landwirtschaftlichen Produktion schien dringend notwendig, nicht nur im Hinblick auf die sowieso schon mageren britischen Fettrationen, sondern auch um die Stabilität des Empires an sich zu gewährleisten.12 Die Wakefield-Mission entschied daher, dass die außergewöhnliche Situation nach außergewöhnlichen Mitteln verlangte: »Nur durch in höchstem Maße mechanisierte Methoden, in einer nie zuvor ins Auge gefassten Größenordnung, lässt 222

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sich eine merkliche Verbesserung der gegenwärtig desaströsen Ernährungslage erreichen.«13 Zusätzlich ging es auch um eine politische Demonstration: Clement Attlees frisch gewählte Labour-Regierung vertrat ein Verständnis von Kolonialentwicklung, das für eine aktivere Rolle des Staates in den Kolonien warb, sowohl in der Produktion von Rohstoffen als auch im Hinblick auf soziale Leistungen für die Kolonialbevölkerung.14 Mit Umweg über die staatliche Overseas Food Company (OFC), die eigens für den Betrieb des Groundnut Scheme ins Leben gerufen wurde, würde die öffentliche Hand nicht nur das Los der britischen Arbeiter erleichtern, sondern gleichzeitig auch dringend benötigte koloniale Investitionen tätigen, welche der Freie Markt offenbar nicht bereitstellen konnte oder wollte.15 Obwohl die Versorgung des Mutterlandes mit Lebensmitteln de facto klar Präzedenz hatte – die gesamte Ernte würde in Großbritannien konsumiert werden –, nahm sich das White Paper doch ausführlich Zeit, um all die Vorzüge aufzulisten, die das Projekt für Afrikaner nach sich ziehen würde: Neue Straßen und Eisenbahnlinien, bessere Gesundheitsversorgung, einen höheren Lebensstandard und sogar »richtige« Gewerkschaften.16 In den Augen der New York Times bedeutete das nichts weniger als die »Ausdehnung des britischen Sozialismus auf die Kolonien«.17 Obwohl ein Projekt dieser Größenordnung in Afrika Neuland betrat, wusste sich das Groundnut Scheme durchaus im Einklang mit den großen Entwicklungsprogrammen der Zeit und konnte auf große Vorbilder verweisen. »In der Breite seines Blickes und in dem Einfallsreichtum, mit dem es der Natur den Willen des Menschen aufzwingen will, fordert es den Vergleich mit der Tennessee Valley Authority und den weit ausgreifenden Programmen der Sowjetregierungen heraus«, betonte die Londoner Times.18 Noch unmittelbarer präsent waren die Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges, in dem das Potential zentral geplanter Großoperationen und schwerer Maschinen nur allzu deutlich geworden war. John Strachey, der als Minister of Food zum politischen »Gesicht« des Groundnut Schemes werden sollte, wurde nicht müde, das von ihm »Operation Erdnuss« getaufte Unternehmen als das fried­ liche Äquivalent der größten britischen Militärkampagnen zu präsentieren. Im Parlament las er aus seinem Tagebuch als Teilnehmer der alliierten Landung in Nordafrika vor, anlässlich derer er sich schon gefragt habe, was nicht alles erreicht werden könne, Koloniale Landschaft und industrielle Landwirtschaft © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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»wenn eine Expedition dieser Größenordnung ausgerüstet werden könnte, nicht wie hier, um zu entscheiden, wer das Recht haben sollte Afrika zu entwickeln, sondern um Afrika tatsächlich zu entwickeln?«19 Das Schwerter-zu-Pflugscharen-Motto war durchaus wörtlich zu nehmen: Da die benötigte Anzahl an Traktoren nicht so einfach zu beschaffen war, wurden Hunderte von Sherman-Panzern zu landwirtschaftlichem Gerät umgerüstet.20 Unterstützung für eine solch noble Sache beschränkte sich nicht auf die politische Linke. Der konservative Abgeordnete Charles Ponsonby erklärte die Unterstützung seiner Partei für diese große »Schlacht der mechanisierten Wissenschaft gegen die Kräfte der Natur«, die das Groundnut Scheme wagen wollte.21 Bewaffnet mit solch heroischem Pathos gestaltete sich die Mobilisierung für das Projekt äußerst erfolgreich. Wie Strachey behauptete, bewarben sich mehr als 100.000 Freiwillige für die maximal 1250 zu vergebenden Stellen für »Europäer«.22 Die Begeisterung erwies sich jedoch als kurzlebig. Von Anfang an wurde das Groundnut Scheme der britischen Öffentlichkeit vor allem als Zahlenspiel präsentiert – ein spektakuläres statistisches Versprechen folgte dem nächsten. Doch praktisch die einzigen Kennzahlen, die jemals erreicht und übertroffen wurden, waren diejenigen für Ausgaben. Ende 1947 akzeptierte das Parlament – im Gegensatz zu Teilen der Presse – noch relativ bereitwillig die erstaunlichen Schlussfolgerungen des ersten offiziellen Fortschrittsberichts, der »heute nicht mehr Grund als vor einem Jahr« sah, an der Machbarkeit des Projektes zu zweifeln. Dabei waren gerade einmal fünf Prozent der für diesen Zeitraum vorgesehenen Fläche gerodet worden, während sich die Kosten für das Jahr verdoppelt hatten.23 Im zweiten Jahr, in dem nach Plan fast 250.000 Hektar mit Erdnüssen bepflanzt sein sollten, waren nicht einmal 20.000 Hektar gerodet und saatfertig.24 Transportpro­bleme in das praktisch infrastrukturlose Hinterland Tanganjikas waren stark unterschätzt worden, wobei besonders der hoffnungslos überforderte Hafen von Dar-es-Salam schon bald im Chaos versank.25 Während die Arbeiter in Ostafrika noch vergeblich illusionären Rodungszielen hinterherjagten, blieben bei den ersten Ernten auch die Erträge pro Fläche weit hinter den Erwartungen zurück, was die ökonomischen Grundlagen des ganzen Projektes in Frage stellte und, wie ein Abgeordneter bemerkte, »allen Prognosen den Boden ausschlug«.26 Gefangen in einem selbst gespon224

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nenen Netz übersteigerter Erwartungen begannen Strachey und das OFC Management, sich weniger auf die Lage in Tanganjika zu konzentrieren als darauf, das volle Ausmaß der Probleme nicht an die Öffentlichkeit geraten zu lassen – zumindest bis zu den Parlamentswahlen im Februar 1950.27 Bis dahin war das Groundnut Scheme bereits zu einem ausgewachsenen politischen Skandal geworden. Strachey und Leslie Plummer, der Direktor der OFC, wurden für Labour zum politischen Ballast und bald nach den Wahlen von ihren Posten entfernt.28 Als im Sommer 1950 schließlich eine unabhängige Kommission nach Tanganyika entsendet wurde, konnte sie nur noch das Ableben des Groundnut Scheme in seiner ursprünglichen Form feststellen. Die Fachleute empfahlen, »dass das Projekt der großmaßstäblichen mechanisierten Produktion von Erdnüssen aufgegeben werden sollte.«29 Der Einsicht folgend, dass »die ursprünglichen Ziele des Programms sich als nicht erfüllbar erwiesen haben«, erteilte die OFC Anfang 1951 den Rückzugsbefehl an die Maschinenbataillone.30 In Großbritannien dominierte der Untergang des Groundnut Schemes einige Jahre lang die öffentliche Wahrnehmung der »Kolonialentwicklung« – zugegebenermaßen ein Thema, das von den meisten Menschen größtenteils ignoriert wurde. Wie eine Umfrage Mitte 1949 herausfand, war es 67 Prozent der Befragten ein Begriff.31 Doch auch wenn das Projekt der Atlee-Regierung mitunter den Vorwurf kolonialer Ausbeutung einbrachte,32 war die Situation in Afrika doch im besten Fall ein Seitenstrang in der Wahrnehmung des Projektes in Europa. Die teils giftige Debatte konzentrierte sich vor allem auf Wirtschaftspolitik und die Verschwendung öffentlicher Gelder. Im Wahlmanifest der Konservativen Partei von 1950 figurierte das Groundnut Scheme als Musterbeispiel »sozialistischer Misswirtschaft«. Wirtschaftsliberale machten mit Vorliebe den staatlichen Charakter der OFC für das Fiasko verantwortlich, wobei die Rolle Samuels und der privaten UAC stillschweigend übergangen wurde. In die politische Defensive gedrängt, beklagten Labour-Politiker eine »kleinkarierte Kampagne gegen dieses Projekt, seitdem es begonnen wurde«, die darauf abziele, »Ostafrika zu einem Schreckgespenst zu machen, um den Wählern Angst einzujagen.«33 Noch 1960 beschwerten sich Labour-Parlamentarier über »diese alternden Jungkonser­ vativen, die von einer Veranstaltung zur anderen laufen, um jedes Mal ›Erdnuss‹ zu schreien, wenn ein Labour-Kandidat den Koloniale Landschaft und industrielle Landwirtschaft © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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Wählern die Wichtigkeit der Ausweitung der Entwicklungsprogramme für unterentwickelte Gebiete darzulegen versuchte.«34 Nachdem sich jedoch zeigte, dass scheiternde Großprojekte nicht das Monopol einer einzigen Partei waren, wurde das vernichtende Urteil des »neuen Groundnut Schemes« schon bald über Fehlschläge aller Art verhängt. Von der abgebrochenen Entwicklung der »Blue Streak« Mittelstreckenrakete Ende der 1950er-Jahre über den fehlgeschlagenen Ansiedelungsversuch der DeLorean Motor Car Company in Nordirland in den späten 1970er- bis hin zur so genannten »Poll Tax« in den späten 1980er-Jahren oder dem »Millenium Dome« in Greenwich im Jahr 2000 traf es Projekte von Regierungen verschiedenster politischer Couleur.35 Das Groundnut Scheme wurde zu einem Kürzel für die Verschwendung öffentlicher Ressourcen durch überehrgeizige Großprojekte, auf halbem Weg zwischen Tragödie und Farce – Großbritanniens »ölige Illias«, wie es der französische Geograph Pierre Gourou 1955 mit einem gewissen Maß an Schadenfreude taufte.36 Seines geographischen und historischen Kontextes weitestgehend entkleidet, erhielt das Groundnut Scheme im kollektiven Gedächtnis der Briten einen Platz zugewiesen zwischen historischen Katastrophen wie »Dünkirchen und allen unseren anderen triumphalen Fehlschlägen, die wir so viel mehr wertschätzen als die Erfolge«.37

Vom technokratischen Musterprojekt zum Entwicklungsalptraum: Das Groundnut Scheme und die Experten Labour-Politiker waren allerdings nicht die Einzigen, die das Erdnuss-Desaster in Erklärungsnot brachte. Obwohl die Politik zweifellos eine wichtige Rolle gespielt hatte, waren doch einige der erfahrensten kolonialen Landwirtschaftsexperten eine treibende Kraft hinter der Konzeption des Projektes gewesen. Auch von der großen Gemeinde der Entwicklungsexperten war das Groundnut Scheme zudem anfangs weithin begrüßt worden.38 Nach jahrzehntelangem Kampf gegen Unterfinanzierung, Übervorsicht und Traditionalismus erschien vielen Planern die malthusianische Dringlichkeit, der massive Ressourceneinsatz und der militärische Schneid des Projektes als eine ungeheuer verlockende Perspektive. Bis in die 1940er-Jahre hinein mussten koloniale Entwicklungs­ initiativen aus dem Budget der einzelnen Kolonien finanziert wer226

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den, die selbst vor der Weltwirtschaftskrise der 1930er schon notorisch knapp bei Kasse gewesen waren. Die Begeisterung, endlich über adäquate Mittel zu verfügen, war umso größer, da zeitgenössische ökonomische Theorien fehlende Investitionen als Haupt­ ursache für die unbefriedigende »Entwicklung« der afrikanischen Kolonien ansahen.39 Die Wissenschaftler des Groundnut Scheme hatten ihre Arbeit mit der Begutachtung und Kategorisierung ihres »Roh­materials« begonnen. Sie teilten die in Frage kommenden Gebiete nach dem jeweils vorwiegenden Bodentyp in zwei Kategorien auf, »leichte Sandböden« und »roten Lehm«.40 Erstere bedeckten vor allem an den im Westen des Landes ausgewählten Standort um Urambo, sowie zwei Drittel der südlichen Region um Nachingwea und trugen vorwiegend so genannten »Miombo«, eine im südlichen Afrika weit verbreitete weitständige Trockenwaldsavannenlandschaft.41 Die Lehmböden waren im Süden mit einer dichteren Art von Miombo und auf dem trockenen Plateau um Kongwa in der Zentralprovinz mit Rhinocerosbusch, Akazien und Rhodesgras bewachsen.42 Von dieser Vegetation, die als Indikator für den Bodentyp noch recht nützlich schien, würde dank moderner Technik schon bald wenig übrig bleiben. Kaum mehr als tausend (weiße)  Männer und ihre Maschinen würden ganze Landstriche nach ihrem Belieben von Grund auf umgestalten und in eine gigantische Erdnussmonokultur verwandeln, inklusive Entwässerungssystemen, Erosionsbarrieren und Terrassierungen. Wasserversorgung, Straßen, Hospitäler und Siedlungen für Arbeiter und Verwaltung wurden ebenfalls geplant. Die verschiedensten wissenschaftlichen Disziplinen würden Hand in Hand arbeiten: Das British Medical Journal träumte davon, das Groundnut Scheme für die »Anwendung präventiver tropischer Medizin in einer nie zuvor in Afrika versuchten Größenordnung« zu nutzen. Dies umfasste nicht nur den Bau von Hospitälern und Krankenstationen, sondern  – mithilfe von Ethnologen  – auch die Beseitigung von »Stammesheilkunde« als Hindernis für ein modernes Gesundheitssystem. Die Ausrottung der Schlafkrankheit und ihres Überträgers, der Tsetsefliege, würde durch ein vorsichtiges und detailliertes Programm mithilfe botanischer Experten erreicht werden, die darüber bestimmen sollten, »welche Baumspezies gefällt werden müssen und welchen man erlauben kann zu bleiben.«43 Ein Leser derselben Zeitschrift begrüßte die Chance, endlich mit »UnKoloniale Landschaft und industrielle Landwirtschaft © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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geziefer« wie Elefanten und Nilpferden aufräumen zu können, um die ihrer Wirtstiere beraubte Tsetsefliege »auszuhungern«.44 Diese technokratische Perspektive ließ keinen Platz für konkurrierende Vorstellungen, wie etwa die älteren imperialen Konzeptionen der afrikanischen Landschaft als Jagdreservat.45 C. P. J. Ionides, ein ehemaliger britischer Offizier, Elefantenjäger, Schlangenenthusiast und lokaler Wildhüter, widersetzte sich der Rodung einer bestimmten Region bei Nachingwea, die von »tausenden Elefanten bewohnt« sei. Dass er »zu denken schien, dass es schade wäre, die Tiere zu vertreiben um Nahrung für die Leute in Europa anzubauen«, wie Alan Wood spöttisch berichtete, trug ihm die ungläubige Empörung des Chefs der OFC Leslie Plummer ein.46 Die Größenordnung dieser schönen neuen Welt war so atemberaubend, dass sogar der relativ kleine Teil, der letztlich realisiert wurde, einen bleibenden Eindruck bei den Spezialisten hinterließ. »Einer der führenden landwirtschaftlichen Experten Amerikas«, der sich von einem Hügel vier der insgesamt 107 geplanten »mechanised units« ansah, bekannte sich angeblich zum »größten Nervenkitzel seines Lebens«, da sich vor ihm die größte durch­ gängige Fläche mechanisch bebaubaren Ackerlands der Welt hinstreckte.«47 Selbst Experten, die dem Groundnut Scheme kritisch gegenüberstanden, äußerten ihre Zufriedenheit angesichts der Verwandlung des urtümlichen Chaos der afrikanischen Savanne in »riesige Flächen von Nutzpflanzen, gut bestellt und makellos«, arrangiert in einer visuellen Ordnung, die Modernität und Effizienz vermittelte.48 In ihrem akkuraten und ordent­ lichen Aussehen erinnerte die Modellsiedlung Urambo im Westen, neu gegründet zur Unterbringung der Erdnussarbeiter, einen Beobachter an ein »Pfadfinderlager unter einem extrem effizienten Zug­f ührer.«49 Doch die ostafrikanische Natur erwies sich als wehrhafter als gedacht. Generalmajor Harrison, der »Feldkommandeur« des Programms in Tanganjika, beschwerte sich ärgerlich über »viereinhalb Meter hohe Dornenbüsche«, so undurchdringlich, »dass man sie gesehen haben muss um sich das vorzustellen zu können«, durchsetzt mit »enormen Affenbrotbäumen, wahrscheinlich einem der nutzlosesten Bäume auf der ganzen Welt«. Der Boden darunter bestand aus »einer soliden Masse miteinander verflochtener, gummiartiger Wurzeln«, die fast unmöglich zu entfernen waren.50 Viele der Traktoren, die man größtenteils aus weltwei228

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ten Gebrauchtbeständen zusammenkaufte, schafften unter den schwierigen Umweltbedingungen in Ostafrika nicht einmal den Weg zur Einsatzstelle und von den tatsächlich angekommenen waren zu manchen Zeiten drei Viertel außer Betrieb. Die umgebauten Panzer erwiesen sich in dieser Umgebung als wenig geeignete und letztlich teurere Alternative zu den CaterpillarBull­dozern, die sie ersetzen sollten.51 Neue, eigens aus Amerika bestellte landwirtschaftliche Maschinen bissen sich ein ums andere Mal an Baumstümpfen, Wurzeln, Schakal- und Ameisen­ bärenbauten buchstäblich die Zähne aus. In der Trockenzeit buk die Sonne den Boden dank hohem Quarz- und Tonanteil zu einer betonharten Masse zusammen, die normale Pflugscharen in gerade einmal fünf Stunden abnutzte. Dadurch schrumpfte die Erntezeit auf ein schmales Zeitfenster zusammen. Waren die Erdnüsse nicht vor Beginn der Trockenzeit geerntet, waren sie mit »nichts außer Presslufthammern oder Dynamit« noch aus dem Boden zu bekommen.52 Es dauerte nicht lange, und das ultra-mechanisierte Groundnut Scheme sah sich gezwungen, dem Beispiel der angeblich »faulen« afrikanischen Kleinbauern zu folgen, die ausschließlich in der Regenzeit den Boden bestellten.53 In ihrer Verzweiflung über unzureichende Niederschläge und verdorrende Ernten versuchten sich die Wissenschaftler des Projekts sogar als künstliche Regenmacher – nur um festzustellen, dass ihre wissenschaftliche Magie auch nicht viel wirksamer war als die afrikanischen Äquivalente.54 Warnungen, dass ihre Planungen angesichts der Umweltbedingungen schlicht nicht umsetzbar waren, wurden von den Architekten des Groundnut Schemes wiederholt ignoriert. Eine der folgenreichsten Entscheidungen war die Wahl der Gegend um Kongwa als ersten Schwerpunkt der Operationen. Dabei setzte man sich nicht nur über lokales Wissen hinweg – im Volksmund galt die Gegend als »Land der ewigen Dürre« –, sowie über den ausdrücklichen Rat des Gouverneurs von Tanganjika, sondern auch über alle vorhandenen meteorologischen Daten, die die Region als eine der trockensten des Landes auswiesen, mit für Erdnüsse unzureichenden Niederschlägen.55 Stattdessen basierte die Einschätzung der Wakefield-Mission hinsichtlich der Produktivität Kongwas auf »Luftaufklärung« vom Flugzeug aus sowie das Umgraben »eines Vierzigstel-Morgen [etwa 100 Quadratmeter, S. E.] in einem von Eingeborenen bebauten Erdnussfeld«  – eine ungeKoloniale Landschaft und industrielle Landwirtschaft © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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wöhnliche statistische Stichprobe für ein gigantisches in­dustrielles Landwirtschaftsprojekt.56 In ihrem Enthusiasmus für großflächige, geordnete und gleichförmige Felder scheinen die Architekten des Groundnut Scheme die extreme Diversität der Böden und der klimatischen Bedingungen in Tanganjika nicht wahrgenommen zu haben. Als Agronomen des Kolonialministeriums warnten, sowohl Ostafrika im Besonderen als auch Erdnüsse als Feldfrucht im Allgemeinen seien für großflächigen, mechanisierten Anbau ungeeignet, wurde ihnen kein Gehör geschenkt.57 Dabei wussten die Wissenschaftler des Groundnut Scheme teilweise aus eigener Erfahrung, dass sogar im agrarindustriellen Musterland USA Erdnüsse meist mit Maultieren statt Traktoren und auf eher kleinteiligen Flächen kultiviert wurden.58 Der landwirtschaft­liche Dienst des Kolonialministeriums hatte 1946 ebenfalls darauf hingewiesen, dass eine riesige Erdnussmono­kultur höchst anfällig gegen eine spezielle Pflanzenkrankheit, den Rosette-Virus, sein würde. Rosette wurde tatsächlich nach kurzer Zeit in Urambo derart endemisch, dass der Erdnussanbau in dieser Provinz von 1953 an für mehrere Jahre offiziell verboten wurde.59 Es überrascht wenig, dass den technischen und wissenschaftlichen Mitarbeitern der katastrophale Zusammenbruch des Ground­ nut Scheme lange nachhing. Schon 1950 stellte sich Alan Wood, der vormalige Leiter der Informationsabteilung des Projektes, seine ehemaligen Kollegen »in nachdenklicher Stimmung am Lager­ feuer« vor, nicht mehr ganz sicher »if it really happened, or whether they merely dreamt in some idle moment, that a timber mill was sited before anyone had really counted the trees for the wood; that a pipeline costing ₤500,000 or more was built to take fuel, at a huge expense, to tanks set miles from anywhere in the African bush; that a railway was begun without anyone knowing exactly where it was going to in the end and that inspiring everything was  a faith that you could grow groundnuts when you had not even bothered to inspect the ground.«60

Auf der Suche nach Erklärungen deuteten viele mit dem Finger auf die Politik. Die Beschwerden einiger der beteiligten Wissenschaftler aufgreifend, dass sie »nie eine Chance bekamen ihre Arbeit vernünftig zu erledigen«, machten die technischen Experten im britischen Kolonialministerium rückblickend den »extremen minis­teriellen Druck« für das Fiasko verantwortlich.61 Auf der 230

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anderen Seite des Atlantiks zitierte die American Geographical ­Society 1952 das Groundnut Scheme als Musterbeispiel dessen, was passieren könne, »wenn Spezialistenwissen durch die Ignoranz von Politikern und Verwaltung verplempert wird.«62 Die Zweifel, die das Scheitern der »Operation Erdnuss« aufwarf  – untermauert durch ähnliche Erfahrungen in kleinerem Maßstab mit dem institutionellen Zwilling der OFC, der Colonial Development Corporation63  – veranlassten Mitte der 1950er die britische Agrarentwicklungspolitik zur Rückbesinnung auf kleine, wenig aufwändige Pilotprojekte. Auch die Überreste des Groundnut Scheme wurden schon bald ganz physisch in die landwirtschaftliche Entwicklungsorthodoxie wieder eingegliedert. Nach der Aufgabe der ursprünglichen Pläne 1951 begann man auf den gerodeten Flächen eine Serie von kleinen Experimental­projekten, die eine sinnvolle Nutzungsmöglichkeit für das neu entstandene Brachland finden sollten. Nach Ansicht der »Official History of Colonial Development«, dem publizierten Gedächtnis des Ko­lonialministeriums, wurde somit »der Versuch, die Natur zu hetzen, zugunsten des Versuches aufgegeben, ein praktikables Muster für die afrikanische Agrarentwicklung zu finden.«64 Von der britischen Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt übergab die OFC diese Pilotprojekte 1955 ihrem Nachfolger, der T ­ anganyika Agriculture Corporation (TAC), die sie 1961 schließlich an die unabhängige Republik Tansania weiterreichte. Die Weltbank, die nach der Unabhängigkeit vom Colonial Office die Rolle des wichtigsten Lieferanten landwirtschaftlicher Expertise für Tanganjika übernahm, beurteilte das Groundnut Scheme 1961 zurückhaltend als »teure aber langfristig segensreiche Demonstration der Notwendigkeit gründlicher Forschung und Versuchsdurchführung, bevor man radikale Innovationen in der tropischen Landwirtschaft versucht.«65 Die Erinnerung an das Groundnut Scheme dämpfte die allgemeine Begeisterung für große landwirtschaftliche Entwicklungsprojekte in den jetzt so genannten »Entwicklungsländern« jedoch allenfalls kurzzeitig.66 Im Kielwasser der afrikanischen Dekolonisierungswelle zu Beginn der 1960er und der Erfolgsgeschichte der »Grünen Revolution« von Indien bis Mexiko setzte sich das »amerikanische Modell« hochmechanisierter, industrieller Landwirtschaft global mehr denn je als Goldstandard in der Agrarentwicklung durch. In diesem Kontext präsentierten AgrarwissenKoloniale Landschaft und industrielle Landwirtschaft © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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schaftler das Groundnut Scheme gerne als »außergewöhnlichen Fall«, für den man nicht den ganzen Berufsstand verantwortlich machen könne.67 Noch 1986 beklagte Arthur Hugh Bunting, ehemaliger Chief Scientific Officer der OFC und ein namhafter britischer Agronom, dass die Erfahrungen in Kongwa die Entwicklungsplaner in Ostafrika in unnötigen Konservatismus getrieben hätten. Sein Plädoyer für mehr Wagemut und größere Projekte – »die alten Ansätze sind nicht genug; wir brauchen neue, in großem Stil«  – durchwehte ein fernes Echo des ursprünglichen Wakefield-Reports.68 Erst gegen Ende der 1970er nahmen einige Entwicklungs­ ökonomen die alte Debatte über die optimale Größe von Agrarbetrieben wieder auf und begannen, für den Globalen Süden eine Rückkehr zu kleinteiliger, arbeitsintensiver Kleinbauernwirtschaft als effizientere und sozial ausgewogenere Alternative zu landwirtschaftlichen Großprojekten zu propagieren.69 J. S. Hogedorn und K. M. Scott, die das Groundnut Scheme 1981 für das Welthungerprogramm der Vereinten Nationen untersuchten, sahen die Vernachlässigung der »nigerianischen Alternative« als Grundfehler des Projektes: Durch ökonomische Leistungsanreize für lokale Kleinbauern in Kombination mit relativ überschaubaren Infrastrukturinvestitionen sei es möglich gewesen, ohne unkalkulierbare Risiken und zu deutlich niedrigeren Kosten die erwünschte Menge an Erdnüssen zu produzieren.70 Ihre Analyse folgte weitgehend einer schon 1950 verfassten grundlegenden Kritik Herbert S.  Frankels, damals einer der bekanntesten Wirtschafts­experten für den afrikanischen Raum. Direkt nach seiner Rückkehr aus Kongwa, das er als Mitglied der erwähnten parlamentarischen Untersuchungskommission besucht hatte, analysierte Frankel die »theoretischen Überlegungen« hinter der Operation Erdnuss in einer Artikelserie für die Londoner Times.71 Er fand erstens den ausschließlichen Fokus auf maximale Größe insofern »überraschend«, als dies seiner Meinung nach dem »allgemein anerkannten Prinzip zuwiderlief, dass Landwirtschaft allgemein diejenige Form wirtschaftlicher Unternehmungen ist, in der nennenswerte Skalen­erträge am unwahrscheinlichsten sind.«72 Zweitens kritisierte er das Projekt für sein blindes Vertrauen in die totale Mechanisierung. Dass menschliche Arbeitskraft für gewisse Aufgaben die ökonomisch günstigere Lösung sein konnte, hatte man gar nicht erst in Betracht gezogen. Während industrielle Landwirt232

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schaft im großen Stil im Allgemeinen durchaus eine sinnvolle Idee sein mochte, so galt dies nicht zwingend auch für eine infrastrukturell so unterentwickelte Gegend wie Südtanganjika.73 Gleichzeitig warnten aber auch Hogedorn und Scott vor einer Generalisierung der Erfahrungen des Groundnut Scheme. Ist die grundlegende Frage nach Existenz und Umfang von Skalenerträgen in der tropischen Landwirtschaft bis heute unter Ökonomen umstritten, so wird doch das Groundnut Scheme in diesem Zusammenhang selten als einschlägiges Beispiel behandelt.74 Die meisten Wissenschaftler scheinen daran zu zweifeln, ob sich viele analytische Erkenntnisse aus einem Projekt gewinnen lassen, welches »so viele Schwachstellen hatte, dass es, wenn nicht aus einem Grund, dann immer noch aus mehreren anderen fehlgeschlagen wäre.«75 Diese Wahrnehmung erklärt wohl auch den etwas paradoxen Befund, dass das Groundnut Scheme erstaunlich wenig analytische Aufmerksamkeit erfahren hat, obwohl es »in Entwicklungskreisen zu der Handvoll von legendären Pleiten gehört, die als Beispiele zitiert werden, was man nicht machen sollte.«76 Die vorherrschende Deutung unter den heutigen Entwicklungsexperten scheint die »Operation Erdnuss« eher als einen planerischen Alptraum denn als nützliche Lektion zu betrachten. »Es lässt sich sagen«, schließen Hogedorn und Scott, »dass kein neues ökonomisches Prinzip aus dem Misserfolg erwuchs. Das ist die traurigste Erkenntnis von allen.«77

Die »Tage großen Wohlstandes«: Tansanier und das Groundnut Scheme Herbert Frankels Überlegungen lenken den Blick auf einen »Faktor«, der in den zeitgenössischen Diskussionen eher kursorische Aufmerksamkeit erfuhr: die Einwohner Ostafrikas. Tatsächlich hatten die Planer des Groundnut Scheme gerade deshalb mit Absicht diejenigen Regionen mit den schwierigsten Umweltbedingungen gewählt, da auf »leerem« Land die zeitaufwändigen und politisch heiklen Auseinandersetzungen mit bisherigen Landnutzern entfielen.78 Der örtlichen Bevölkerung war die Rolle des ehrfürchtigen Beobachters zugedacht. Wie das White Paper erklärte, sah man als »weitaus wichtigsten langfristigen Vorteil des Projektes aus afrikanischer Sicht« die »augenscheinliche DemonsKoloniale Landschaft und industrielle Landwirtschaft © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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tration der Vorteile moderner wissenschaftlicher Methoden.«79 Durch den Anblick der wohlgeordneten Erdnussreihen würden sich die afrikanischen Bauern endlich überzeugen lassen, ihre angeblich hoffnungslos rückständigen Methoden aufzugeben und »moderne« Landwirtschaft zu betreiben – schon seit langem ein Hauptanliegen kolonialer Landwirtschaftspolitik. Doch obwohl Frank Samuel versicherte, dass »keine Operation per Hand durchgeführt werden wird, für die mechanische Ausrüstung verfügbar ist«,80 sahen die ursprünglichen Pläne bis zu 57.100 »Afri­kaner« als Arbeitskräfte vor, die man aus den Reihen der »lokalen Bevölkerung« in der Umgebung der drei Standorte sowie aus r­egionalen Wanderarbeitern rekrutieren wollte.81 In den Augen des Groundnut Schemes wurden diese Individuen, viele von ihnen unabhängige Kleinbauern mit spezialisiertem Wissen und überlebenswichtigen Fähigkeiten, allesamt zu »ungelernten Arbeitern«. Für die relativ geringe Anzahl an qualifizierten und angelernten Arbeitskräften wurde ein spezielles Schulungscamp in Ifunda eingerichtet, das Grundkenntnisse in Englisch, Maschinenwartung und Traktorfahren vermitteln sollte.82 Obwohl dieses aus Wirtschaftlichkeitsgründen schon bald wieder geschlossen wurde, überraschten nicht wenige »Schüler« nach kurzer Eingewöhnungszeit ihre europäischen Instrukteure mit außergewöhnlichem Geschick beim Führen schwerer Maschinen. Überhaupt stellte sich die lokale Bevölkerung mit einer Geschwindigkeit und Flexibilität auf die neuen Bedingungen ein, die koloniale Vor­urteile über faule und rückständige Afrikaner Lügen strafte.83 Viele Tanganjiker scheinen das Groundnut Scheme eher als Chance denn als Störfaktor in ihrem Leben wahrgenommen zu haben. An manchen Orten führte der plötzliche Zustrom von Tausenden von Erdnussarbeitern und entsprechenden Mengen an Geld in zuvor fast unbewohnte Regionen zu einem regelrechten kleinen »Goldrausch«, mit allen positiven wie negativen Nebenwirkungen. Die plötzliche Entstehung von neuen Siedlungen in Gegenden, deren Population bisher überwiegend aus Elefanten, Löwen und anderen Wildtieren bestanden hatte, führte zu oft gefährlich engem Zusammenleben von Mensch und Tier.84 Obwohl die Furcht einiger Kolonialbeamter und Missionare vor einer »Auflösung mora­ lischer Standards« durch um sich greifenden Diebstahl, Alkoholismus und Prostitution wahrscheinlich etwas übertrieben war, erwarb sich doch vor allem Kongwa den Ruf einer regelrechten 234

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»frontier town«, in die afrikanische Arbeiter ihre Familien lieber nicht mitbrachten.85 Gleichzeitig bot das Groundnut Scheme neue Möglichkeiten in einer bisher an ökonomischen Chancen nicht gerade reich gesegneten Gegend. Mit der zunehmenden Nachfrage nach Arbeitskräften vergrößerten sich auch die Handlungsspielräume für Arbeiter. Die Bemühungen der Kolonialverwaltung, »Lohnkriege« zwischen Arbeitgebern zu verhindern, waren nur zum Teil erfolgreich. Verschiedene Auftragnehmer des Groundnut Scheme versuchten zudem, durch kürzere Arbeitszeiten und bessere Lebensbedingungen Arbeiter anzuziehen. Wie die Kolonialbehörden berichteten, wurde in die Kongwa Post Office Savings Bank noch am Tag ihrer Eröffnung die erstaunliche Summe von insgesamt 100 Britischen Pfund eingezahlt. Über direkte Lohnarbeit hinaus bedeutete das Groundnut Scheme vor allem für diejenigen ein gutes Geschäft, denen es gelang, aus den erheblichen Preisanstiegen für alltäg­ liche Waren wie Eiern oder Obst in den neuen Erdnussstädten Kapital zu schlagen.86 Eine lokale Zeitung, die Habari za Nachingwea katika Kiswahili (»Neuigkeiten aus Nachingwea in Swahili«) feierte 1952 »diese Tage großen Wohlstandes«, die mit dem Groundnut Scheme herangebrochen waren.87 Matteo Rizzo betont die Bedeutung dieser neuen Möglichkeiten für die Karriere der Kohorte »ländlicher Unternehmer«, deren Biographien er untersucht hat. Julius Mtenda zum Beispiel, über den am meisten Details zu erfahren sind, baute sich durch Lohnarbeit im Zusammenhang mit dem Groundnut Scheme eine Kapitalbasis auf, die es ihm erlaubte, von den Handelsmöglichkeiten im Umkreis der neuen »Erdnussstädte« zu profitieren. Die unintendierten Nebenfolgen des Projekts ermöglichten ihm, der Armut seiner Heimatgegend zu entkommen und den Grundstein für seine spätere Karriere zu legen.88 Nicht alle hatten so viel Glück. Gregory Maddox argumentiert, dass der Arbeitskräftebedarf des Groundnut Scheme den kolonialen Druck auf das im trockenen Hochland um Kongwa an­sässige Volk der Gogo verstärkte, ihre Felder zu Gunsten bezahlter Arbeit zu verlassen. Dies führte nicht nur zu innergesellschaftlichen Spannungen  – nicht zuletzt zwischen abwesenden männlichen Lohnarbeitern und ihren Ehefrauen, die in der Zwischenzeit die gesamte Feldarbeit übernehmen mussten  –, sondern beeinträchtigte auch die landwirtschaftliche Produktivität, was sich letztlich in den verheerenden Hungersnöten von 1947 und 1949/50 Koloniale Landschaft und industrielle Landwirtschaft © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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ausgewirkt habe.89 Während dieser Befund zu zeitgenössischen Bedenken der Kolonialbehörden gegenüber den Auswirkungen von Lohnarbeit passen würde, behauptet Matteo Rizzo für Südtanganyika genau das Gegenteil. Seiner Analyse nach integrierten viele Kleinbauern die neuen Verdienstmöglichkeiten als Notfallplan für schlechte Zeiten erfolgreich in ihren Lebensunterhalt. Bei Ernteausfällen verdingten sie sich als Lohnarbeiter, kehrten aber zu ihren Feldern zurück, sobald die Umstände es erlaubten – ein Grund für die extrem hohe Fluktuation unter den afrikanischen Arbeitern, die die OFC zur Verzweiflung trieb.90 Letztlich lässt sich der spezifische Einfluss des Groundnut Scheme auf größere sozioökonomische Transformationsprozesse nur schwer abschätzen, was nicht zuletzt an dessen kurzer Lebensspanne liegt. Vielen Bewohnern Tanganjikas muss das Projekt im Rückblick als kaum mehr als eine schnell verpuffte Fata Morgana erschienen sein. Als der britische Schriftsteller Evelyn Waugh 1958 Tanganjika als Tourist besuchte, waren die drei Anbaugebiete bereits kaum mehr wiederzuerkennen. Das ehemalige Hauptquartier in Kongwa, das einmal über 30.000 Mann beherbergt hatte, fand er verlassen und überwuchert vor, mit auseinanderbrechenden Straßen und einer demontierten Eisenbahnlinie.91 Nur im Süden um Nachingwea wurden überhaupt noch Erdnüsse angebaut, allerdings in eher kleinem Maßstab. Fast die gesamte gerodete Fläche um Kongwa war zu Weideland für Rinder geworden, da der Niederschlag nicht für Ackerbau ausreichte. In Urambo, dem dritten Zentrum, widmete man sich in erster Linie dem Tabakanbau.92 Statt für mechanisierte Monokulturen wurde ein zunehmender Teil des gerodeten Landes für so genannte »African tenant schemes« genutzt. Afrikaner konnten hier kleine Flächen von etwa 5 bis 20 Hektar erhalten, inklusive Haus und Garten. Eine begrenzte Anzahl an mechanisierten Arbeitsprozessen wie etwa Pflügen sowie Saat, Dünger und Insektizide wurden gegen Entgelt zentral zur Verfügung gestellt. Im Gegenzug musste der Pächter selbst pflanzen, jäten und ernten, wobei einem detaillierten Programm zu folgen war, das die Projektleitung entworfen hatte und dessen Umsetzung streng kontrolliert wurde. Diese enge Kontrolle hatte nicht zuletzt auch soziopolitische Gründe: Ausdrückliches Ziel des Projekts war es, eine neue Klasse »afrikanischer Freibauern« zu schaffen, die das neue soziale Rückgrat der kolonialen Gesellschaft bilden sollte.93 236

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In Wirklichkeit machten magere Gewinnspannen, drückende Kosten und aufdringliche Kontrolleure das Programm bei potentiellen wie tatsächlichen Pächtern höchst unbeliebt. So gaben in Nachingwea durchschnittlich mehr als die Hälfte der Pächter nach nur einem Jahr auf.94 Trotzdem wurden die Pachtprogramme zum direkten Vorgänger der »Villagization« (»Verdorfung«), einem der programmatischen Eckpfeiler des Staatssozialismus im unabhängigen Tansania. Durch die Zusammenfassung der ländlichen Bevölkerung in so genannten »Ujamaa-Dörfern«  – sozialistische Koope­rativen, geplant, gebaut und überwacht vom Staat – wollten Präsident Julius Nyerere und seine Einheitspartei, die Tanzanian African National Union (TANU), die landwirtschaftliche Produktivität erhöhen und zugleich die weit verstreute Mehrheit der Bevölkerung in Reichweite der staatlichen Bürokratie bringen. Dafür machte sich die TANU in ihrem ersten Fünfjahresplan von 1964 den »Transformationsansatz« der Weltbank zu Eigen. Dieser schlug eine »Schockmodernisierung« der Landwirtschaft durch Umsiedlungsprogramme vor und berief sich explizit auf die Pachtprogramme der OFC/TAC. Tatsächlich wurden sieben der 23 Siedlungsprojekte, die die Tanzanian Village Settlement Agency 1966 kontrollierte, direkt von der TAC übernommen und lagen auf ehemaligem Groundnut-Scheme-Land.95 Das »Villagization«-Programm wurde letztlich 1976 für beendet erklärt, nachdem es die landwirtschaftliche Produktivität des Landes in gefährlichem Maße verschlechtert und Tansania zu erheblichen Nahrungsmittelimporten gezwungen hatte. Das größte Umsiedlungsunternehmen in der Geschichte Afrikas hatte bis dahin mit zunehmend gewaltsamen Methoden fünf bis neun Millionen Menschen entwurzelt – in manchen Fällen wurden ganze Dörfer niedergebrannt, um die Bewohner von einer Rückkehr abzuhalten.96 Widerstand gegen das Umsiedlungsprogramm war weit verbreitet und die traumatischen Erlebnisse sind im ländlichen Raum Tansanias bis heute als Erinnerungen und Erzählungen präsent.97 Obwohl »Villagization« – mit Fokus auf kleinflächigem Anbau und manueller Arbeit – in gewisser Weise das genaue Gegenteil des Groundnut Scheme war, lässt sich doch eine gewisse Kontinuität in der Mentalität erkennen, die beide Projekte durchzieht.98 Beide gründeten auf der Überzeugung, dass die dringend notwendige »Modernisierung« der tansanischen Landwirtschaft nur durch radikale, groß angelegte und zentral gesteuerte Maßnahmen mögKoloniale Landschaft und industrielle Landwirtschaft © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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lich sei. Gemeinsamer Feind waren die angeblich »primitiven Methoden des afrikanischen Kleinbauern«, die man für ineffizient, verschwenderisch und schädlich für den Boden ansah.99 Während das Groundnut Scheme versucht hatte, einen riesigen industriellen Landwirtschaftskomplex direkt aus den Industrieländern nach Afrika zu verpflanzen, so war die grundlegende Idee der Pachtprogramme und der »Villagization«, die tansanischen Kleinbauern aus ihrem gewohnten Umfeld zu reißen und sie so in eine Position zu bringen, in der sie sich dem Rat von außen hinzugezogener »Experten« nicht mehr widersetzen konnten. Beide Ansätze zielten darauf ab, die Landschaft Tansanias gleichzeitig in ökologischer, landwirtschaftlicher und soziopolitischer Hinsicht umzuformen. Wie schon das Groundnut Scheme scheiterte das »Villagization«Programm letztlich auch deswegen, weil es die Möglichkeiten moderner Planung überschätzte und sich weigerte, ökologische Grenzen in Betracht zu ziehen.100 Ein Hauptgrund für diese folgenreichen Fehleinschätzungen findet sich im grundlegenden Missverständnis der historischen Beziehung zwischen den einheimischen Bevölkerungsgruppen und dem Land, auf dem sie lebten.101 Der Historiker John Iliffe beschrieb die Auseinandersetzung der Tanganyiker mit ihren »Feinden in der Natur« in der präkolonialen Zeit  – schlechte Böden, wilde Tiere, Krankheiten – in fast ebenso martialischen Begriffen wie John Strachey das Groundnut Scheme, und in der Tat sollte man sich vor einer Romantisierung angeblicher »urtümlicher Naturverbundenheit« tunlichst hüten.102 Dennoch war der menschliche Einfluss auf die ostafrikanischen Ökosysteme historisch gesehen bedeutender, als sich dies die Kolonialbehörden vorstellten. Scheinbar »primitive« Methoden wie Wanderfeldbau, Mischkulturen und Zwischenfruchtbau waren oft Ergebnis langer Anpassungsprozesse und intimer Vertrautheit mit spezifischen lokalen Verhältnissen – und daher letztlich höchst effiziente Formen der Bewirtschaftung.103 Die »leeren Wildnisse«, die man als Beleg für die technologische Unzulänglichkeit »der Afrikaner« anführte, waren nach Helge Kjekshus oft selbst Produkte des Kolonialismus: Der Grad an Kontrolle, den lokale Bevölkerungsgruppen durch Siedlung, Bewirtschaftung und Feuerrodung über ihre Umwelt erlangt hatten, brach Ende des 19. Jahrhunderts bedingt durch den demographischen Niedergang in Folge von Eroberungskriegen, Ausbeutung und eingeschleppter Krankheiten vielerorts zusam238

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men, so dass große Gebiete von »Schweinen, Löwen, Busch und Tsetse« »zurückerobert« wurden.104 Auch die abgelegensten Regionen waren zudem für ihre Bewohner keineswegs bedeutungsleer. Für die westliche Serengeti im Norden Tanganyikas hat Jan Shetler eindrucksvoll gezeigt, wie eng eine von Europäern als unberührte Wildnis verstandene Landschaft mit dem kollektivem Gedächtnis und der Identität derjenigen verwoben ist, die seit Generationen in ihr gelebt haben. Landschaft wird hier selbst zum »Geschichtsbuch«, in dessen Räumlichkeit mündlich überlieferte Traditionen eingeschrieben sind und das zu Fuß »gelesen« werden muss.105 Die Auswirkungen der radikalen Umgestaltung einer solchen »Erinnerungslandschaft« durch ein Projekt wie das Groundnut Scheme lassen sich unschwer vorstellen. Obwohl die Behauptung des Wakefield-Plans, dass »in keinem Fall Eingeborenenrechte und andere Interessen durch den Standort des Projektes verletzt«106 würden, im rechtlichen Sinne korrekt gewesen sein mag, scheint doch die Vertreibung einer erheblichen Anzahl von Menschen letztlich nur durch das schnelle Ende des Projektes vermieden worden zu sein. Wie sich ein lokaler Kolonialbeamter später erinnerte, war die Gegend, die der Wildhüter Ionides für seine Elefanten retten wollte, durchaus nicht nur von Tieren bewohnt: »[T]o many of us, there was great relief that the fold-up of the Scheme meant the abandonment of the greedily sought new land in the Liwale District, north of Nachingwea and known as ›Block B‹, particularly the fairly populous Kipule chiefdom. The specious argument that the Scheme would by its occupation eradicate the tsetse fly and thereby the endemic sleeping sickness in the area was no answer to the sturdy Wagindo who complained that the Angoni (spearhead of the Zulu advance northward) had destroyed many of them and their homes, that the Germans had then decimated them after the Maji Maji rebellion, and that the British were about to finish them off altogether.«107

Dass es zur Entwicklung von »Block B« nicht mehr kam, lag letztlich weder an ökologischen Bedenken noch am Protest der ­Wagogo, sondern an logistischen Schwierigkeiten.108

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Was bleibt vom Groundnut Scheme? Dank der heutigen Informationstechnologie ist es einfach ge­ worden, zumindest einen kursorischen Blick auf einige der privaten Erinnerungskulturen rund um die »Operation Erdnuss« zu erhaschen. Die Fotografien ehemaliger »europäischer« Angestellter, die mittlerweile von Familien und Angehörigen online geteilt und diskutiert werden, zeigen vorwiegend glückliche Familien, moderne Technik (Automobile, Züge, Traktoren, neue Häuser und sogar Swimming Pools) und bemerkenswert wenige Afrikaner.109 Wo diese »weißen« Erinnerungen Teil professioneller und persönlicher Biographien und Familien­traditionen geworden sind, laufen sie gewissermaßen parallel zu den von Matteo Rizzo gesammelten »schwarzen« Erinnerungen an das Projekt: Beide betonen persönliche Chancen gegenüber den offensichtlichen Defiziten des Groundnut Scheme. Aber auch wenn die Zeit in Tanganyika im Kontext von Familiengeschichten oft positiv konnotiert ist, hat die relativ kleine Gruppe an »Veteranen« die Wahrnehmung des Projektes in der Öffentlichkeit nie prägen können oder wollen.110 Was das kollektive Gedächtnis angeht, so hat das Groundnut Scheme in der britischen Gegenwartskultur durchaus einen bleibenden Eindruck hinterlassen – sogar in einer von Ian Flemings James Bond Geschichten findet es eine nicht besonders schmeichelhafte Erwähnung.111 Dabei hat es sich jedoch von seiner phy­ sischen Basis wie seinem historischen Kontext fast komplett gelöst. Um den 50. Jahrestag der Aufgabe des Projektes 2001 zu würdigen, schlug die Londoner Sunday Business die Errichtung eines Denkmals auf dem Gelände des »Millenium Dome« in Greenwich vor, mit dem Argument, das Groundnut Scheme  – würde man sich nur besser daran erinnern – hätte den Bau dieser defizitären und zu groß geratenen Hallenkonstruktion vielleicht verhindern können.112 Wenig überraschend wurde ein solches Denkmal nie gebaut, und das Groundnut Scheme bleibt folglich weiter ein lieu de mémoire ohne institutionalisierte Orte oder Rituale der Er­ innerung. Dazu passt der fast mythische Status, den sich das Projekt in der weltweiten Expertengemeinde zur Frage der ländlichen Entwicklung erworben hat. Obwohl die Liste von Agrarentwicklungsflops in der Zwischenzeit bedeutend länger geworden ist, liegt dennoch, in den Worten von Hogedorn und Scott, »irgendwo 240

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im kollektiven Gedächtnis aller Lebensmittel- und Agrarwissenschaftler irgendeine Erinnerung, sei sie noch so schwammig, an das größte aller Projekte, das schlecht durchdachte, schlecht gemachte und unglückliche ostafrikanische Groundnut Scheme.«113 Im Hinblick auf die Tansanier konnten jenseits individueller Erinnerungen kaum Hinweise auf eine kollektive Erinnerung gefunden werden. Es darf vermutet werden, dass Ereignisse wie die »Villagization« oder Orte wie der Nationalpark Serengeti einen größeren Eindruck im kollektiven Gedächtnis hinterlassen haben. Es scheint verlockend, das Groundnut Scheme in der Umkehrung eines Gedankens Aleida Assmanns daher als einen Fall von »history not taking place« zu beschreiben – die Geschichte nicht ausgeführter Pläne, eines nicht zum Erinnerungsspeicher gewordenen Ortes.114 John Iliffe scheint etwas Ähnliches anzudeuten, wenn er die »wirkliche Bedeutung« des Projektes in seinem Fehlschlagen verortet, weil ein Erfolg die Dekolonisierung Tanzanias bedeutend erschwert hätte.115 Eine solche kontrafak­tische Lesart vernachlässigt jedoch die sehr realen Spuren, die das Groundnut Scheme in der Landschaft hinterlassen hat. Wie eine Studie der Universität Dar es Salaam von 1992 feststellte, wurde das vom Groundnut Scheme gerodete Gebiet um Kongwa immer noch als Weideland genutzt, während in Urambo Kleinbauern übernommen hatten.116 Im Vergleich zu Frank Samuels Blick aus dem Flugzeugfenster hatte sich der Charakter der Landschaft also nachhaltig geändert  – wenn auch nicht unbedingt so, wie sich dies die Wakefield-Mission vorgestellt hatte. Die Ausnahme bilden wohl die »ungenutzten« Teile des Standortes um Nachingwea, der an das weltweit größte geschützte Miombo-Ökosystem angrenzt. Zumindest Teile des ursprünglich für Erdnussanbau vorgesehenen Gebietes sind im 1994 geschaffenen Msanji Wildpark aufgegangen.117 Allerdings sollte die quantitative Bedeutung des Groundnut Scheme nicht überschätzt werden. Seit den 1950ern hat die landwirtschaftlich genutzte Fläche Tanzanias stetig zugenommen, angetrieben in erster Linie von einer Bevölkerungsexplosion von etwa 7,5 Millionen Einwohnern im Jahr 1950 auf 44 Millionen für 2011.118 Trotzdem verfügt Tansania immer noch über genügend nicht bebautes Land, um ins Visier des so genannten »new land grab« zu geraten. Emporschnellende Nahrungsmittel- und Energiepreise lösten 2007/8 einen globalen Wettlauf auf fruchtbares Land aus, an Koloniale Landschaft und industrielle Landwirtschaft © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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dem sich Industrieländer von China bis Schweden sowie einer ganzen Reihe multinationaler Konzerne beteiligten.119 In diesem Kontext scheint dem Modell des Groundnut Scheme eine erstaunliche Rückkehr zu gelingen: Internationale landwirtschaftliche Unternehmen haben in Tansania  – mit wechselhaftem Erfolg  – Millionen von Dollar in riesige, mechanisierte Plantagen zum Anbau von Jatropha investiert, einem ölhaltiges Strauchgewächs, das zu Treibstoff für die industrialisierte Welt verarbeitet werden kann.120 Dies ist nicht nur im Hinblick auf Implikationen für Ernährungssicherheit und nationale Souveränität über landwirtschaftliche Ressourcen in einem der immer noch ärmsten Teile der Welt eine potentiell problematische Entwicklung. Vor dem Hintergrund der Anstrengungen zur Begrenzung globaler Kohlendioxidemissionen und zunehmender Besorgnis über Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen stellt sich auch die grundlegende Frage nach der (Energie-)Effizienz industrieller Landwirtschaft noch einmal neu  – speziell in der Erzeugung von Biokraftstoffen.121 Dabei könnte es hilfreich sein, sich daran zu erinnern, dass es schon einmal eine schnelle, »grüne« Lösung einer globalen Ölkrise gab – die letztlich mehr Erdnüsse importierte als sie produzierte.

Anmerkungen 1 So zumindest die Annahme des Agronomen Alan Wild (ders., Soils, Land and Food: Managing the Land during the Twenty-First Century, Cambridge 2003, S. 141.). Alle nicht deutschsprachigen Zitate, soweit nicht anders angegeben, vom Verfasser übersetzt. 2 Die herausragende Darstellung der Kolonialgeschichte Tanganjikas – inklusive seiner Umweltgeschichte – ist immer noch John Iliffe, A modern history of Tanganyika, Cambridge 1979. 3 Alan Wood, The groundnut affair, London 1950, S. 27. 4 Eine Zusammenfassung von Samuels Vorschlag findet sich bei D. J. Morgan, Developing British Colonial Resources, 1945–1951 (= The official history of colonial development, Bd. 2), London 1980, S. 226–228. Samuel basierte seinerseits seinen Plan auf einem Entwurf, den er von R. W.R Miller, Tanganjikas Director of Agriculture, eingeholt hatte; er übersetzte diesen allerdings in eine völlig andere Größenordnung. 5 Vgl. Command Paper 7030, »A Plan for the Mechanized Production of Groundnuts in East and Central Africa« (= Cmd. 7030), 1947. 27 der 107 »units« waren in den benachbarten Kolonien Kenia und Nordrhodesien geplant; noch bevor hier mit der Arbeit begonnen werden konnte, wurden

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diese Pläne 1949 allerdings aufgrund der Schwierigkeiten in Tanganjika aufgegeben; vgl. Overseas Food Corporation, Annual Report and Statement of Accounts for 1949/50, S. 1. Britische Maße wurden generell vom Verfasser auf metrische Einheiten umgerechnet. Ein einziges Feld hätte also beispielsweise eine Länge von elf Kilometern und eine Breite von zehn Kilometern haben können. Cmd. 7030 rechnete mit jährlichen Einsparungen von 10 Millionen britischen Pfund, verglichen mit geplanten Gesamtausgaben von 24 Mil­ lionen Pfund. Wie der Labour-Politiker Ian Mikardo 1950 formulierte: »one can learn nothing very valuable about farming 100.000 acres by digging up a ­single cabbage patch«, Hansard’s 1950, July 18, Sp.  2099. Vgl. auch Wakefields Reaktion auf einen Kollegen, der in Nature den Verzicht auf ein Pilotprojekt kritisierte (Letters to the Editors, in: Nature 165 (1950), S. 234.). Vgl. Cmd. 7030; Cmd. 8125; OFC Annual Report 1950/51; Matteo Rizzo, What Was Left of the Groundnut Scheme? Development Disaster and Labour Market in Southern Tanganyika 1946–1952, in: Journal of Agrarian Change 6; 2 (2006), S. 205–238; S. 208. Vgl. zur »zersplitterten« Natur kolonialer Erinnerungskulturen Indra Sengupta (Hg.), Memory, History, and Colonialism. Engaging with Pierre Nora in Colonial and Postcolonial Contexts, German Historical Institute London Bulletin Supplement No.1, London 2009. Cmd. 7030, S. 4. Schon Anfang 1946 hatte die britische Regierung eine Reihe dringender Treffen auf ministerieller Ebene angesetzt, um die gefährliche Erschöpfung der Speisefettreserven zu diskutieren. Großbritannien war zu diesem Zeitpunkt für 90 Prozent seines Fettverbrauchs auf Importe angewiesen; vgl. Cmd. 6785, »The World Food Shortage«; D. J. Morgan, Changes in British Aid Policy, 1951–70, (= The official history of colonial development Bd. 4), Atlantic Highland, N. J., 1980, S. 177–200. Cmd. 7030, S. 18. Paul Kelemen, Planning for Africa: The British Labour Party’s Colonial Development Policy, 1920–1964, in: Journal of Agrarian Change 7; 1 (2007), S. 76–98. Man hatte es so eilig mit dem Groundnut Scheme, dass zunächst die UAC als Betreibergesellschaft agierte, während gleichzeitig die Gründung der staatlichen OFC vorbereitet wurde. Letztere wurde mit der Overseas Resources Development Bill im Februar 1948 geschaffen und übernahm offiziell am 1.  April 1948 die Verantwortung. Dass die OFC und das gesamte Projekt unter die Aufsicht des Ministry of Food (und nicht des Kolonialministeriums) gestellt wurde, bestätigt zum einen das Primat der britischen Eigeninteressen über die Kolonialentwicklung, muss aber auch als bewusster Versuch gewertet werden, mit bisherigen administrativen Traditionen zu brechen. Ebenso wie die Kolonialregierung Tanganjikas wurde das Kolonialministerium absichtlich übergangen, da man die

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dortige Bürokratie für zu konservativ und »too slow to move« hielt (Wood, The groundnut affair, S. 49 f.). Die meisten dieser Versprechungen wurden nie eingelöst, und als die afrikanischen Arbeiter die Gewerkschaftsrhetorik ernst genug nahmen um 1947 einen Streik zu versuchen, wurde dieser gewaltsam unterdrückt (Wood, The groundnut affair, S. 81 f.). Der Fokus auf Großbritannien war im Rückblick so eindeutig, dass Michael Havinden und David M ­ eredith das Groundnut Scheme als späten »Triumph of the [Joseph] Chamberlain view« des späten 19. Jahrhunderts betrachten, der Kolonien ausschließlich als Rohstofflieferanten wahrnahm (dies., Colonialism and development: Britain and its tropical colonies, 1850–1960, London, New York 1993, S. 307.). O. V., »Nut Farming«, The New York Times, 6.2.1947. O. V., »A plan for East Africa«, The Times, 6.2.1947, S. 5. House of Commons Debate (HC Deb), 6.11.1947, Hansard’s Bd.  443, Sp. 2034. J. S. Hogendorn, K. M. Scott, The East African Groundnut Scheme: Lessons of a Large-Scale Agricultural Failure, in: African Economic History 10 (1981), S. 81–115; S. 96.; Vgl. also Cmd. 7314, S. 5. Da die Umrüstung vom Rüstungskonzern Vickers vorgenommen wurde, erwarben die Fahrzeuge bald den Spitznamen »Shervicks«. HC Deb 29.7.1947, Hansard’s Bd. 441, Sp. 355. HC Deb 12.7.1948, Hansard’s Bd.  453, Sp.  877; Wood, The groundnut affair, S. 44. Cmd. 7314, S. 9. Von diesen 20.000 Hektar waren zudem kaum mehr als ein Viertel tatsächlich wie vorgesehen gerodetes Buschland; der Rest war entweder noch nicht entwurzelt (einer der schwierigsten und zeitraubendsten Arbeitsschritte), oder ehemaliges Grasland, das einfach umgepflügt werden konnte; Wood, The groundnut affair, S. 155 f. Hogendorn, Scott: East African Groundnut Scheme, S. 90–92. So der Abgeordnete Crookshank (HC Deb 14.3.1949, Hansard’s Bd. 462, Sp. 1751.) auf die Meldung der UAC, statt der 740 Pfund pro Morgen, auf der der Wakefield-Plan aufbaute, 1948 durchschnittlich nur 540 geerntet zu haben. Wie Wood, The groundnut affair, S. 199 f., berichtet, beschwerten sich die Angestellten in Tanganjika über die Zunahme des Kontingents an »politischen Sonnenblumen«, d. h. dem Anbau dieser Feldfrucht mit dem hauptsächlichen Ziel, die Statistik bepflanzter Fläche zu beschönigen. In einer Wendung, deren Ironie schon den Zeitgenossen nicht entging, übernahm Strachey nach den Wahlen von 1950 das Verteidigungsministerium. So formulierte es eines der prominentesten Mitglieder der Working Party, der Ökonom S. H. Frankel (ders., The Economic Impact on UnderDeveloped Societies, Oxford 1953, S. 143.). Cmd. 8125, S. 10. Die endgültige Entscheidung zur Aufgabe des Projektes wurde letztlich von dem technisch-legalen Problem ausgelöst, dass

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die OFC das in ihren Statuten rechtlich festgeschriebenes Kreditlimit von 55 Millionen Pfund zu überschreiten drohte. Dadurch war es »fast der einzige Aspekt kolonialer Entwicklungs­politik war, der irgendein Interesse hervorrief«: über die Hälfte der Befragten waren nicht in der Lage, eine einzige Kolonie namentlich zu nennen; o.V, .»Public ignorance about colonies«, The Times, 22.6.1949. Die in den Wahlen von 1951 geäußerten Ausbeutungsvorwürfe von Seiten der Konservativen trugen zu einer Wende des linken Flügels der Labour Party und der gesamten Labour Party hin zu einer Pro-Unabhängig­ keitsposition Mitte der 1950er bei; vgl. Kelemen, Planning for Africa, S. 91. So die Abgeordneten Hynd und Woods; HC Deb. 14.3.1949, Hansard’s Bd. 462, Sp. 1747–866. HC Deb. 27.4.1960, Hansard’s Bd.  622, Sp.  323. Noch 1992 wurde das Groundnut Scheme in Parlamentsdebatten als schlagender Beweis für die wirtschaftliche Inkompetenz von Labour angeführt, s. HC Deb 27.10. 1992, Hansard’s Bd. 212, Sp. 850–852. HC Deb 27.4.1960, Hansard’s Bd.  622, Sp.  211–345; HC Deb 19.2.1991, Hansard’s Bd.  186, Sp.  222 f.; HC Deb 24.6.1992, Hansard’s Bd.  210, Sp. 299; o.V., »The Dome: A Chamber of Spending Horrors«, Sunday Business (London), 7.1.2001. Eine lange Liste weiterer Beispiele ließe sich zusammenstellen, bis hinein in die allerjüngste Zeit (Julian Glover, »The switch to digital radio is folly«, The Guardian, 24.5.2010). Pierre Gourou, Le »Plan des Arachides«. Une expérience d’agriculture mécanisée en Afrique orientale, in: Cahiers d’Outre-Mer 30 (1955), S. 105–118. Richard Boston, »Video: It’s Eldoradogate«, The Guardian, 29.7.1993. S. stellvertretend die Reaktion in Nature (o.V.»British Colonial Development«, Nature 160/4058, 9.8.1947, S. 171–173.). Besonders im so genannten »Harrod-Domar« Modell, das in den 1940ern und 1950ern dominierte, galt das Fehlen von Wachstum in erster Linie als Konsequenz eines »investment gaps«; vgl. William Easterly, The elusive quest for growth. Economists’ adventures and misadventures in the tropics, Cambridge (Mass.), 2001, S. 25–46. Cmd. 7030, S. 40–44. Ein dritter in dem Papier beschriebener Bodentyp (»Chipya«) fand sich nur in Nordrhodesien. Bruce Campbell, The Miombo in Transition: Woodlands and Welfare in Africa, CIFOR, Bogor 1996 Cmd. 7030, S. 40–44. O. V., Groundnuts In East Africa, in: The British Medical Journal 1; 4496 (1947), S. 301 f. J. M. H. McMurray, »The game must be destroyed«; Correspondence, in: The British Medical Journal 1; 4498 (1947), S. 388. Vgl. John MacKenzie, The Empire of Nature: Hunting, Conservation, and British Imperialism, Manchester University Press, Manchester 1988; William Beinart, Environment and Empire, Oxford University Press, Oxford 2009, S. 58–75.

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46 Wood, The groundnut affair, S.145. Ionides selbst war entsetzt über diese »gigantische Torheit der britischen Regierung«, die ungebeten in seine Domäne eindrang, wie er später schrieb: »Traktoren mit Ketten rodeten den Busch. Es gab Zeltlager und zahllose Reihen von Betonblockhäusern. Nachingwea schäumte über vor Menschen, inklusive 2000 Europäer. Es was furchtbar«; Constantine John Philip Ionides, A Hunter’s Story, London, 1965, S.113; vgl. Margaret Lane, The Snake Man: Life of C. J. P. Ionides, London 1988. 47 Frankel, The Economic Impact on Under-Developed Societies, S. 144. 48 Zitiert nach Morgan, Changes, S. 54 f. Das blinde Vertrauen in »visuelle Ordnung« – oder die »visuelle Repräsentation von Effizienz« – ist eines der zentralen Merkmale »hochmoderner« Projekte im Sinne von James Scott, Seeing Like a State. How Certain Schemes to Improve the Human Condition Have Failed, New Haven u. a. 1998. 49 Wood, The groundnut affair, S. 124. 50 Harrison, Civil Engineering Problems of the East African Groundnuts Scheme, in: The Engineer, 30.7.1948, 121; Wood, The groundnut affair, S. 177 f. 51 Hogendorn, Scott, East African Groundnut Scheme, S. 96; S. 89 f. 52 Ebd.; Wood, The groundnut affair, S. 179–182; S. 235. 53 Auf die Ironie dieser Tatsache weist schon Wood, The groundnut affair, S. 182, hin. 54 Vgl. die Serie von Artikeln in Nature, D. A. Davies, »Artificial Stimulation of Rain at Kongwa«, in: Nature 174 (1953), S. 829 f.; Nature 174 (1954), S. 256–8; Nature 167 (1951), S. 614; Nature 169 (1952), S. 1001 f. 55 Morgan, Developing, S.  228; Iliffe, A modern history of Tanganyika, S.  443. Man könnte sogar noch eine vierte, historische Warnung hinzufügen: Alan Wood weiß von den Aufzeichnungen eines Missionars, der Ende des 19. Jahrhunderts vergeblich versuchte, in der Region Landwirtschaft zu betreiben und von Trockenheit zum Aufgeben gezwungen wurde; Wood, The groundnut affair, S. 38. 56 Cmd. 7030, S. 18 f.; John Wakefield, Note on Agricultural Soundness of the Scheme, zitiert aus Morgan, Developing, S. 248. Ein weiteres Beispiel für diese Art von Datensammlung bietet die vorläufige Niederschlagserhebung für Urambo, die fast 100 km vom eigentlichen Ort entfernt durchgeführt wurde, s. Hogendorn, Scott, East African Groundnut Scheme, S. 94. 57 Morgan, Developing, S. 248 f. zitiert insbesondere die so genannte »Clay Mission«, die 1946 vom Kolonialministerium nach Westafrika ausgesendet worden war, um dort die Möglichkeiten großangelegten Erdnussanbaus auszukundschaften. Die Mitglieder der Mission lasen den Wakefield-Report auf ihrem Weg nach Afrika und fügten ihren Einspruch dem eigenen Bericht an. Sie kamen zu dem Schluss, dass »die Erdnuss in der Tat überhaupt nicht gut für Mechanisierung geeignet ist« (Ebd., S. 210.) – wie das OFC 1951 ebenfalls feststellen musste (Cmd. 8125, S. 10.). 58 1946 wurde eigens eine Delegation nach Nordamerika entsandt, um den dortigen Erdnussanbau zu untersuchen, vgl. Morgan, Developing, S. 253 f.

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59 Ebd., S.  228 f.; Hogendorn, Scott, East African Groundnut Scheme, S. 101. 60 Wood, The groundnut affair, S. 151. Das populär geschriebene Buch des ehemaligen Informationsoffiziers des Groundnut Scheme, Alan Wood, erhielt nach seinem Erscheinen 1950 viel Aufmerksamkeit, wurde mehrfach als Quelle in Parlamentsdebatten zitiert und bildet einen Ausgangspunkt für die meisten späteren Studien. Strachey und Plummer versuchten scheinbar noch, die Veröffentlichung zu verhindern, letztlich aber ohne Erfolg; HC Deb 20.3.1950, Hansard’s Bd. 472, Sp. 1535–1537. 61 O. V.»Groundnut Scheme ›Disappointment‹«, The Times, 1.1.1949, S.  4; Morgan, Developing, S. 306–308. 62 O. V., »Changing Trend in Geography«, The Times, 5.8.1952, S. 3. 63 Die Colonial Development Corporation (CDC) wurde in demselben Rechtsakt wie die OFC gegründet. Nach einigen teuren Fehlschlägen in frühen Projekten (von denen das so genannte »Gambian Egg Scheme« am bekanntesten wurde), sah die CDC zunehmend von direkter Produktion ab und verlegte sich auf weniger riskante Unternehmungen – meist in Form von Krediten; vgl. Havinden, Meredith, Colonialism, S. 283–298. 64 Morgan, Changes, S. 247 f. 65 World Bank: The Economic Development of Tanganyika; Report of  a Mission Organized by the International Bank for Reconstruction and Development at the Request of the Governments of Tanganyika and the United Kingdom, Baltimore 1961, S. 23. Eine ähnliche Deutung als teures aber letztlich nützliches Experiment findet sich bei einigen der beteiligten Wissenschaftler; vgl. Hugh Bunting, Methods of Land-Clearance for Agriculture, in: Nature 174 (1954), S. 68 f.; Kenneth Mellanby, PostMortem on Groundnuts?, in: Nature 185 (1960), S. 564. 66 Für einen Überblick zu ähnlichen Großprojekten, die kurz nach dem Groundnut Scheme begonnen wurden, s. Sarah Potts Voll, A plough in field arable. Western agribusiness in third world agriculture, Hanover, London 1980, S. 85. 67 So Hans Ruthenberg, Agricultural development in Tanganyika, Berlin 1964, S. 47. 68 A. H. Bunting, »The Groundnut Scheme«, Tanzanian Affairs, 1.9.1986; online auf http://www.tzaffairs.org/1986/09/the-groundnut-scheme/ (zuletzt aufgerufen am 28.7.2013). Bunting musste 1951 von seiner Position in der OFC zurücktreten, nachdem er John Strachey der Lüge bezichtigt hatte. Er hatte von 1956 bis 1982 den Lehrstuhl für Landwirtschaftliche Pflanzenkunde an der University of Reading inne, einem der wichtigsten Forschungszentren für Agronomie in Großbritannien. 69 Vgl. M. Lipton, Why poor people stay poor, London 1977; R. Berry, W. Cline, Agrarian Structure and Productivity in Developing Countries, Baltimore 1979. 70 Hogedorn, Scott, East African Groundnut Scheme, S. 104–107. 71 Die zwei Artikel erschienen in der Times vom 4.  und 5.  Oktober 1950; mit einer neuen Einleitung versehen wurden sie später neu veröffentlicht Koloniale Landschaft und industrielle Landwirtschaft © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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in Frankel, The Economic Impact on Under-Developed Societies, Cambridge, Mass., 1959. Ebd., S. 145. Ebd., S. 145 f. Ökonomisch formuliert missachteten die Planer die spezi­ fischen Preisrelationen von Produktionsfaktoren in Tanganjika. Eine Ausnahme sind Nancy Johnson, Vernon Ruttan, Why are farms so small?, in: World Development 22; 5 (1994), S.  691–706, die das Projekt in ihre Fallstudien zu den Problemen landwirtschaftlicher Großprojekte in den Tropen aufnehmen »because it is generally viewed as the classic example of an ill-fated large-scale project«. Ein sehr kurzer, neuerer Überblick über die Diskussion zu Skalenerträgen in der tropischen Landwirtschaft findet sich etwa bei Philip Woodhouse, Beyond Industrial Agriculture? Some Questions about Farm Size, Productivity and Susainability, in: Journal of Agrarian Change 10 (2010) 3, S. 441–443. Andrew Coulson, Agricultural Policies in Mainland Tanzania, in: Review of African Political Economy 10 (1977), S. 74–100; 76. Scott, Seeing Like  a State, S.  228. Seit Hogendorn und Scott 1981 eine »surprising paucity of analytical studies« diagnostizierten (Hogendorn, Scott, East African Groundnut Scheme, S.  82.), scheint eigentlich nur die unveröffentlichte, 2004 verfasste Dissertation von Matteo Rizzo hinzugekommen zu sein: Ders., The groundnut scheme revisited. Colonial disaster and African accumulation in Nachingwea district, Dissertation an der School of Oriental and African Studies (SOAS), University of London, London 2004. Hogedorn, Scott, East African Groundnut Scheme, S. 108. »Areas of sparse population, unencumbered by native or other rights, are necessary if operations are to be started quickly. Uninhabited, tsetseinfected and waterless areas therefore offer special attraction to the project« (Cmd. 7030, S. 20). Die Furcht vor der Destabilisierung »traditioneller« afrikanischer Gesellschaften (und damit der kolonialen Herrschaft) durch »zu schnelle« Entwicklung war ein ständiges Thema in der britischen Kolonialentwicklung; für den spezifischen Kontext siehe etwa Kelemen, Planning for Africa, S. 85 f. Cmd. 7030, S. 6 f. Zitiert nach Johnson, Ruttan: Why are farms so small?, S. 694. Davon sollten 32.000 Arbeitskräfte permanent beschäftigt werden; Cmd. 7030, S. 5. Dazu kamen Arbeitskräfte, die für den Bau von Hafen, Eisen­ bahn, Straßen etc. benötigt wurden. Arbeitsmigranten vor allem aus Mosambik überquerten regelmäßig die Grenze nach Südtanganyika, um auf den dortigen Sisalplantagen zu arbeiten, siehe Rizzo, What Was Left. Wood, The groundnut affair, S. 126–128. Ein zeitgenössischer Bericht dieser Erkenntnis findet sich bei Wood, The groundnut affair, S. 77 f.; S. 126–128. Matteo Rizzo, Becoming wealthy: the life-history of a rural entrepreneur in Tanzania, 1922–80s, in: Journal of Eastern African Studies 3; 2 (2009), S. 221–239; 225.

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85 Wood, The groundnut affair, S. 166–173. Nach Woods Darstellung hing der schlechte Ruf Kongwas in erster Linie mit dem »schlechten Vorbild« zusammen, das die im Projekt beschäftigten Europäer abgaben. 86 Wood, The groundnut affair, S. 76 f.; Rizzo, What was left, S. 229; zitiert den Bericht eines kolonialen Labor Officer über die »large numbers of labourers […] who do not wish to be employed for the simple reason that they can make quite a good living by selling their own produce i. e. chicken, eggs, fruit etc.« 87 Zitiert nach Rizzo, What was left, S. 212. 88 Rizzo, Groundnut Scheme Revisited, S.202–258. Alles in allem fand Rizzo »etwa achtzig« Personen in Nachingwea, die dank des Groundnut Scheme ein nennenswertes Kapital erwirtschaften konnten. (ibid., p.149). Da die Interviewten nach ihrem wirtschaftlichen Erfolg ausgesucht wurden, lassen sich diese Ergebnisse allerdings kaum generalisieren. Alle Interviewten waren männlich. 89 Gregory H. Maddox, »Leave, Wagogo! You Have No Food!«: Famine and Survival in Ugogo, Central Tanzania 1916–1961 (Doktorarbeit an der Northwestern University), 1988, bes. S..322–325; ders., »Famine, Im­ poverishment and the Creation of a Labor Reserve in Central Tanzania«, in: Disasters 15 (1991) 1, S. 35–42. 90 Vgl. Rizzo, What was left, S. 231–235. Die Fluktuation afrikanischer Arbeitskräfte betrug teilweise über 60 Prozent pro Monat, so dass ständig neue Arbeiter angelernt werden mussten; Hogendorn, Scott, East African Groundnut Scheme, S. 92. 91 Evelyn Waugh, A Tourist in Africa, London 1960, S. 84 f. 92 Vgl. OFC 1954/55, S. 12; International Bank for Reconstruction and Development (IBRD), The Economic development of Tanganyika, Baltimore 1961, Annex IV. Den 14 staatlichen Farmen in Nachingwea – mit einer Durchschnittsgröße von weniger als 1000 Morgen winzig im Vergleich mit den gigantischen 30.000 Morgen »units« des Wakefield-Plans – gelangen teilweise recht zufriedenstellende Erdnussernten. Sie machten trotzdem Verluste. 93 OFC 1954–55, S. 163. 94 Sogar in Urambo, wo mit Tabak ein einträgliche Feldfrucht gefunden wurde, bleiben die Erträge für die Pächter trotz Zuschüssen zu Managementkosten gering; Ruthenberg, Tanganyika, S. 80–89; IBRD, Development of Tanganyika, S. 402–407; Jannik Boesen, The »success story« of peasant tobacco production in Tanzania, Uppsala 1979. 95 IBRD, Development of Tanganyika, S.  129–140; Coulson, Agricultural Policies, S. 89. 96 Goran Hyden, Beyond Ujamaa in Tanzania: Underdevelopment and an Uncaptured Peasantry, Berkeley 1980; Scott, Seeing Like  a State, S. 223–247. 97 Jan Bender Shetler, Imagining Serengeti: a history of landscape memory in Tanzania from earliest times to the present, Athens, OH 2007, S. 218.

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98 Scott, Seeing Like a State, S. 228; nennt das Groundnut Scheme sogar ein »dress rehearsal for massive villagization«. 99 Die Vorurteile gegen »traditionelle« Landwirtschaft gingen so weit, dass einige Experten die Tsetsefliege als den »wahren Treuhänder« betrachteten, der die ostafrikanischen Böden zumindest so lange vor Erosion durch »primitive« Kleinbauern schützen würde, bis sie mit aufgeklärteren Methoden fruchtbar gemacht werden konnten. Diese Idee findet sich noch 1962 in Pamphleten der UN Food and Agricultural Organization (FAO), s. Helge Kjekshus, Ecology Control and Economic Development in East African History: The Case of Tanganyika, 1850–1950, Berkeley 1977, S. 175. 100 Helge Kjekshus, »The Tanzanian Villagization Policy: Implementational Lessons and Ecological Dimensions,« in: Canadian Journal of African Studies (1977), 269–282; John Shao, The Villagization Program and the Disruption of the Ecological Balance in Tanzania, in: Canadian Journal of African Studies/Revue Canadienne des Études Africaines 20; 2 (1986), S. 219–239. 101 Eine Reihe sehr unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen waren vom Groundnut Scheme betroffen. Für eine Übersicht siehe zu Urambo R. G. Abrahams, The Peoples of Greater Unyamwezi, Tanzania (Nyamwezi, Sukuma, Sumbwa, Kimbu, Konongo, London, 1967; für die Kongwa-Region Gregory Maddox, »Environment and Population Growth in Ugogo, Central Tanzania,« in: ders., James Giblin, Isaria Kimambo, Custodians of the Land. Ecology and Culture in the History of Tanzania, Athens, OH 1996, S. 43–65; zu Nachingwea Rizzo, Groundnut Scheme Re­v isited, S. 10–15. 102 Iliffe, Tanganyika, S. 4; 6–21. 103 Vgl. ebd.; Kjekshus, Ecology Control. 104 Iliffe, Tanganyika, S. 163. Vgl. Kjekshus, Ecology Control; eine Diskussion von Kjekshus’ Thesen findet sich bei Beinart, Environment and Empire, S. 189–199. 105 Shetler, Imagining Serengeti. 106 Cmd. 7030, S. 44. 107 Peter Johnston, »The Groundnut Scheme  –  a Personal Memoir«, in: ­Habitat International, 7 (1983) 1–2, S. 16. Nach Johnston waren betrafen die einzigen Umsiedlungen im Rahmen des Groundnut Scheme zwei Dörfer in Mtwara, die dem dort gebauten neuen Hafen weichen mussten. 108 Wood, The groundnut affair, S. 145. 109 Kinder und Enkel von Teilnehmern haben über elektronische Bildportale mittlerweile eine Reihe von Familienfotos öffentlich verfügbar gemacht; vgl. beispielsweise die Sammlung »Urambo« des Users »ART NAHPRO« auf http://www.flickr.com/photos/92943860@N00/ sets/72157605607627022/ (zuletzt aufgerufen am 28.7.2013). 110 Ein Weltkriegsveteran und späterer »Groundnutter«, den das Oral History Project des Imperial War Museum im Jahr 2001 fragte, ob er irgendwelche Erinnerung an das Groundnut scheme habe, antwortete mit

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»only complete chaos« (IWM, interview with Kenneth Norman Thomson Lee, Catalogue number 21063, online unter http://www.iwm.org.uk/ collections/item/object/80020095 (Stand November 2012). Ian Fleming, James Bond. Quantum of Solace, London 2008 [1960], S. 98. O. V., »The Dome: A Chamber of Spending Horrors«, Sunday Business (London), 7.1.2001. Hogendorn, Scott, The East African Groundnut Scheme, S. 81. Aleida Assmann, »How History Takes Place«, German Historical Institute London Bulletin, 1 (2009), S. 151–165. Iliffe, Tanganyika, S. 442. A. S.  Kauzeni u. a., »Land Use Planning and Resource Assessment in Tanzania: A Case Study«, IIED Environmental Planning Issue, no. 3 (1993), S. 32. R. D. Baldus u. a., »The Selous-Niassa Wildlife Corridor,« Tanzania Wildlife Discusion Paper No. 34 (2003), http://www.wildlife-baldus. com/download/nr_34.pdf; R. Hahn, »Environmental Baseline Study for the Ruvuma Interface,« Gtz Paper (2004), http://www.selous-niassacorridor.org/fileadmin/publications/Ruvuma_Interface_ Study_Institu tional_Report.pdf (zuletzt aufgerufen im Oktober 2012). World Bank, Tanzania Country Brief, Washington 2009, S. 10. Lorenzo Cotula u. a., Land grab or development opportunity?: Agricultural investment and international land deals in Africa, London, Rom 2009; Saturnino M. Borras u. a.; Towards  a better understanding of global land grabbing: an editorial introduction, in: Journal of Peasant Studies 38 (2011), S. 209–216; Annelies Zoomers, Globalisation and the foreignisation of space: seven processes driving the current global land grab, in: Journal of Peasant Studies 37 (2010), S. 429–447. »Tanzania’s biofuel project’s promise proves barren«, 10.3.2011, Mail & Guardian Online (http://mg.co.za/article/2011–03–10-tanzanias-biofuel-projects-promise-proves-barren (zuletzt aufgerufen am 28.7.2013). Der Anbau von Jatropha bleibt dabei umstritten, nicht zuletzt aufgrund seines hohen Wasserverbrauchs; vgl. »African Jatropha Boom Raises Concerns«, http://green.blogs.nytimes.com/2009/10/08/african-jatrophaindustry-raises-concerns (zuletzt aufgerufen am 15.6.2011). Tony Weis, The Accelerating Biophysical Contradictions of Indus­ trial Capitalist Agriculture, in: Journal of Agrarian Change 10 (2010), S. ­315–341.

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Ewald Blocher

Pyramiden der Lebenden Der Assuan-Hochdamm als Erinnerungsort im Zeitalter technischer Großplanung

Wie eine »Pyramide«1 der Neuzeit erhebt sich der Assuan-Hochdamm als 111 Meter hohe und annähernd drei Kilometer lange Wand aus der kargen Landschaft im Süden Ägyptens empor. Massiv und unverrückbar steht er am Nil als Symbol für die Moderne und die Beherrschbarkeit der Natur. Der Assuan-Hochdamm verkörpert Streben nach Sicherheit und Hoffnung auf eine bessere Zukunft zugleich; der Damm soll vor den Gewalten der Natur schützen und das Leben in der Wüste erleichtern. Schon die alten Ägypter rangen damit, die jährlich wiederkehrenden Wogen des Nil mit Dämmen und Kanälen zu steuern und zu kontrollieren. Das Bestreben, den Nil zu beherrschen, zieht sich wie ein roter Faden durch die Jahrhunderte und Jahrtausende der ägyptischen Geschichte. Trotz immer neuer Dämme, die sie errichteten und die von den Fluten wieder darnieder gerissen wurden, blieben die Ägypter den »Launen« der Natur ausgeliefert. Erst die moderne Technik des 20.  Jahrhunderts verlieh den Menschen den Glauben und das Vermögen, den Kreislauf des Nils dauerhaft nach ihren Vorstellungen zu verändern. Im Assuan-Hochdamm, der in den 1960er-Jahren errichtet wurde und als Höhepunkt des wasserbaulichen Schaffens in Ägypten galt, manifestierte sich dieses Vorhaben wie niemals zuvor in der ägyptischen Geschichte. Mehr als bei allen früher gebauten Dämmen spiegelte sich im Falle des Hochdamms der Wunsch wider, mit einer einzelnen gewaltigen Anstrengung den Nil zu bändigen und das natürliche Nilsystem den modernen Vorstellungen anzupassen. Die Absicht, die Wüste in blühende Gärten zu verwandeln, bedeutete nicht nur eine Beeinflussung der Natur, sondern auch und gerade einen Eingriff in die Lebenswelten der Menschen am Nil. Wie diese sich selbst und die Veränderungen um sich herum 252

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wahrnahmen, ist Gegenstand dieses Beitrags. Er verortet das Großprojekt des Assuan-Damms im Rahmen von Erinnerungskulturen, indem es in den Kontext von Modernisierungsdiskursen gestellt wird. Dabei werden die Blickwinkel nachgezeichnet, durch die der Hochdamm aus globaler, nationaler und lokaler Perspektive gesehen wurde und wird. Als Ausgangspunkte für diese Perspektiven dienen die Idee einer universell gültigen Modernisierung, Ägypten als aufstrebender Nationalstaat sowie Sichtweisen lokaler Gruppierungen, um den Erinnerungen an den Hochdamm auf die Spur zu kommen. Die Perspektive der universellen Modernisierungsidee fungiert in dieser Hinsicht als Verklammerung und möchte aufzeigen, wie sie als zugrunde liegendes Wahrnehmungsmuster auf die jeweils anderen beiden Perspektiven wirken konnte. Die Globalität des Modernisierungskonzepts reichte also zu einem hohen Grad in die beiden Sphären des Nationalen und Lokalen hinein. Dabei wird der Assuan-Hochdamm beispielhaft nicht nur als ein nationaler, sondern auch als ein globaler Erinnerungsort diskutiert. Es wird deutlich werden, in welchem besonderen Spannungsverhältnis sich die jeweils aufgezeigten Perspektiven zu einander befinden. Wahrnehmung und Erinnerung treten hier als dynamische und resistente Prozesse zugleich auf. Bevor aber der Assuan-Hochdamm selbst im Mittelpunkt steht, soll in einem ersten Schritt das Konzept der Modernisierung als universelle Idee knapp skizziert werden.

Der Mythos der technokratischen Großplanung Das Projekt des Assuan-Hochdamms, das zur Mitte des 20. Jahrhunderts eines der größten seiner Art war, kann geradezu als symp­ tomatisch für jene Jahrzehnte gesehen werden, in denen Ideen von Modernisierung und Planung den Zeitgeist bestimmten. Moderne Technik und planbare Abläufe schienen nach den Erfahrungen des wirtschaftlichen Zusammenbruchs der 1930er-Jahre und des Zweiten Weltkrieges nur wenige Jahre später ein geeignetes Mittel zu sein, zukünftige Entwicklungen zu steuern und ein erneutes Abdriften in erlebte Katastrophen zu verhindern. Besonders umfassend geplante großtechnische Projekte galten als Wegbereiter einer besseren Zukunft, indem sie ganze Nationen auf einmal auf den Pfad der Moderne und des gesellschaftlichen Wohlstandes Pyramiden der Lebenden © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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bringen würden. Wasserbaugroßprojekte wie die Tennessee Valley Authority (TVA), das Wahrzeichen des amerikanischen New Deals, waren ein wichtiger Orientierungspunkt. Im Grunde repräsentierte der New Deal nichts anderes als eine nationale Koalition, die aus einer heterogenen Zusammensetzung von wirtschaftlichen und politischen Akteuren einen liberalen Konsens über Interessensschranken hinweg bildete und der es im Nachhinein gesehen gelungen war, den Weg heraus aus der ökonomischen Misere zu planen. Die TVA war ein überregionales ökonomisches Entwicklungsprogramm im Süden der USA, das ein bis dahin ungenutztes industrielles und energetisches Potenzial verschiedener Flüsse nutzte. Es schuf Arbeitsplätze und trug in hohem Maße dazu bei, die Wirtschaft wieder anzukurbeln. Die Idee solcher hydrologischer Infrastrukturprojekte übte eine große Anziehungskraft auf politische Entscheidungsträger aus. Vor allem dort, wo sich zahlreiche junge Staaten in der Dritten Welt am Anfang eines Entwicklungsprozesses glaubten, erschien das US-Vorbild als ein verheißungsvolles Abbild der eigenen Zukunft. Nicht umsonst galt vielen Politikern die TVA als »Großvater« aller regionalen Modernisierungsprojekte.2 Entwicklungshilfe und groß angelegte Wasserbauvorhaben wie die TVA dienten gleichzeitig als politische Strategie im Kalten Krieg, um »unterentwickelte« Staaten zu modernisieren. Symptomatisch für jene Denkweise ist der folgende Auszug aus der Antrittsrede des amerikanischen Präsidenten Harry S. Truman aus dem Jahr 1949: »I see immense undeveloped rivers and valleys all over the world that would make TVAs […] the best mechanism to transfer American technology and develop local capacities to press modernization forward«.3

In diesem Zitat spiegelt sich bereits plastisch die Vorstellung der Planung und Abschöpfung »brach liegender« Naturressourcen zum Wohle der Menschheit wider, die nur darauf warten, dass sich der Mensch mittels moderner Technik ihrer annimmt. Institutionalisiert wurde das Konzept der Entwicklungshilfe und gesteuerten Modernisierung bereits im Zuge der Bretton Woods Konferenz 1944, als die internationale Gemeinschaft im Zuge der Planungen für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg globale Organisationen wie die Weltbank, den Internationalen Währungsfonds, die Weltgesundheitsorganisation oder auch die UNESCO gründete. Ihnen sollten in den Folgejahren noch viele 254

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Behörden und Einrichtungen in zahllosen Nationalstaaten folgen. Diese Internationalisierungsprozesse trugen wesentlich zur weltweiten Akzeptanz des Konzepts der nachgeholten Entwicklung bei und machten Ideen von Planung und Modernisierungssteuerung nicht nur salonfähig, sondern auch anschlussfähig für konkrete politische und ökonomische Programme. Die internationale und institutionelle Verankerung der Entwicklungs- und Planungsagenturen sowie die Überzeugungskraft und der Wille zur Adaption trugen zudem dazu bei, das Konzept der kontrollierbaren Modernisierung als universell gültige Idee, als allgemein akzeptiertes Wissen zu manifestieren. Dieser Abstraktionsgrad hin zu einer systemunabhängigen Gültigkeit im Rahmen des Kalten Krieges hatte bis zur Mitte der 1960er-Jahre seinen Höhepunkt erreicht und baute auf das Vertrauen in das »System Modernisierung«.4

Der Assuan-Hochdamm: Nationales Symbol für die Zukunft Dieses Vertrauen verspürte auch die Führung Ägyptens, als sie sich 1954 für den Bau des Hochdamms an die Weltbank bzw. die USA wandte. In Kairo wollte die Militärregierung sichergehen, dass dieses für Ägypten so wichtige Projekt als Motor für die Modernisierung auf jeden Fall Realität wird. Dazu reichten die eigenen finanziellen Möglichkeiten nicht aus, und deshalb hofften die Militärs auf internationale Gelder. Als eines der ersten und größten Entwicklungsprojekte der Weltbank geriet es jedoch bald nach Abschluss der Planungsphase zum strategischen Spielball der beiden Supermächte. Die USA als wichtigster Kreditgeber der Weltbank erkannten schnell das Potenzial des Hochdamms und die Gelegenheit, ihn im politisch-ideologischen Wettstreit mit den Sowjets in Stellung zu bringen. Der Präsident Ägyptens, Oberst Gamal Abdel Nasser, 1952 durch Putsch an die Macht gelangt, verfolgte eine zwischen den beiden Machtblöcken lavierende Strategie und beabsichtigte, sich weder der einen noch der anderen Seite eindeutig anzuschließen. Als aufgrund dieses Taktierens die Vereinigten Staaten ihr Finanzierungsangebot zum Bau des Hochdamms im Sommer 1956 zurückzogen, verstaatlichte Präsident Nasser den Suez-Kanal, eine Aktion, die noch im selben Jahr eine internationale Krise auslöste. An deren Ende stand ein gefeiPyramiden der Lebenden © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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erter ägyptischer Präsident, der trotzig dem Westen die Stirn geboten hatte sowie das für Ägypten so wichtige Großprojekt des Hochdamms, das nun gänzlich von Moskau finanziert und gebaut werden sollte. Der Westen hatte im Wettstreit um das Prestigeprojekt das Feld räumen müssen und der Damm avancierte zum Symbol für Ägyptens Streben nach Eigenständigkeit und Unabhängigkeit. In diesem Zusammenhang ist auch seine Bedeutung für die ägyptische Innenpolitik zu sehen. Der Staudamm war mehr als nur ein imposantes technisches Vorhaben, er war ein Symbol und eine Metapher für den Bruch mit der korrupten Vergangenheit Ägyptens und der Vormundschaft durch die Kolonialmacht Großbritannien, beides beendet durch die Revolution 1952. Die Männer um Nasser waren bemüht, neue Symbole und Werte zu schaffen, die mit der Revolution assoziiert werden konnten, standen sie doch unter großem Druck, ihre den Ägyptern gegebenen Versprechen auf Wohlstand und Fortschritt einzulösen. Der Assuan-Hochdamm wurde damit zu einer wichtigen Legitimationssäule des Regimes. Er stand für den Aufbruch in eine bessere und moderne Zukunft, ein Bild, das die neue ägyptische Führung mit beträchtlichem Propagandaaufwand zu malen suchte. Zahllose offizielle Schriften, Straßen- und Plätzenamen, Briefmarken, Postkarten und Schulbücher demonstrierten und priesen den Hochdamm als rosige Zukunftsvision eines neuen Ägypten und verstärkten die ehedem schon starken Hoffnungen innerhalb der Bevölkerung. Die Revolutionäre konsolidierten das Projekt in der öffentlichen Wahrnehmung erfolgreich als Symbol der Revolution. Selbst auf Verfassungsebene erhielt der Staudamm eine entsprechende Würdigung, als er im Jahr 1964 in der neu verfassten Nationalcharta explizit Erwähnung fand: »This Dam has become the symbol of the will and determination of the people to fashion its life.«5 Es war jedoch nicht nur die offizielle Rhetorik, die den AssuanHochdamm zu einem prominenten Thema machte. Auch in der Sphäre von vom Regime geduldeter Kunst und Kultur spielte er eine wichtige Rolle. Als Symbol nationaler Souveränität und Modernisierungsleistung fand der Damm Eingang in Literatur, Popmusik, Film und Theater. Ein populäres Volkslied der bekannten ägyptischen Künstlerin Umm Kulthum verdeutlicht dies auf besondere Art und illustriert zudem die eingangs beschriebene Idee 256

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Abb. 1: Ein wichtiger Aspekt des Assuan-Staudamms als Ort nationaler Erin­ nerung war seine häufige Rückbindung an die Identifikationsfigur Nassers als Geburtshelfer eines neuen Ägypten, so etwa auf dieser Bildkarte, die einer Broschüre anlässlich der Eröffnung des Staudamms 1971 beigelegt war (abge­ druckt aus Rushdi Said: The River Nile. Geology, Hydrology and Utilization, Ox­ ford u. a. 1993, S. 234).

von Fortschritts- und Planungseuphorie auch jenseits der politischen Rhetorik. Es trägt den bezeichnenden Titel Tahwil al-Nil (Die Verwandlung des Nil) und soll hier auszugsweise wieder­ gegeben werden: Wer, wer hätte jemals geglaubt, dass der Fluss in seinem Millionenjahre währenden Lauf, sein freier Drang nach links und rechts sich unserem eigenen Willen beugt und sich von uns lenken lässt. Der Damm ist nun keine Fantasie mehr, sondern eine noch nie da gewesene Wirklichkeit Ich blicke mit überwältigter Freude in eine hell erleuchtete Zukunft, auf erstrahlende Fabriken und auf ein in Grün getauchtes ehemals dürres Land. Ein Leben in Ruhe für alle Menschen und eine erfreuliche Reise in eine blühende Zukunft.6 Pyramiden der Lebenden © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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Die idealistische und nostalgische Sprache des Liedtextes verweist dabei deutlich auf den Zusammenhang von Vergangenheit und Zukunft, von Bändigung der Natur und technischem Fortschritt. Aus ihm spricht die Verbindung eines bestimmten Ortes mit dem Gedächtnis, mit der Erinnerung an die Vergangenheit. Es ist ein besonderer Augenblick in der Geschichte, der hier beschrieben wird. Man weiß, man steht an der Schwelle zu etwas Neuem. Der Zusammenhang zwischen Staudamm und Suezkrieg als historischem Wendepunkt in der ägyptischen Geschichte wird dabei offensichtlich. Die Ereignisse um die Revolution und die nationale Selbstbehauptung durch das beharrliche Festhalten am Hochdammbau wurden gleichsam als Wandel und Erneuerung wahrgenommen, die man als Gemeinschaft, als ägyptisches Volk, gerade durchlebte. Die gezielte und gesteuerte Propagandaaktivität der ägyptischen Führung in den Folgejahren trug ihrerseits dazu bei, zum einen der Besonderheit des historischen Augenblicks eine klare Konturenschärfe zu verleihen und ihn zum anderen mit dem Symbol des Assuan-Damms zu verbinden und beides gemeinsam als mentalen »Ort« der nationalen Erinnerung zu etablieren. Nicht wenige Offizielle und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens in Ägypten verbanden die aktuellen Ereignisse um den Staudamm und die mit ihm verbundenen Zukunftsvorstellungen mit einem Rückgriff auf die eigene Vergangenheit, auf die pharaonische Geschichte, und zogen z. B. Vergleiche mit den Pyramiden heran. So kommentierte beispielsweise Präsident Nasser anlässlich der Fertigstellung der ersten Baustufe des Hochdamms 1964: »In alten Zeiten errichteten wir den Toten Pyramiden. Heute bauen wir Pyramiden für die Lebenden.«7 Trotz dieses konstruierten Gegensatzes handelte es sich dabei um ein Erinnerungsmuster, das entgegen der islamischen Prägung Ägyptens im kulturellen Selbstverständnis verankert ist. Der Hochdamm als materieller Ort und sozialer Projektionsrahmen wurde damit ein aktiver Träger von Erinnerung und gleichzeitig kollektiver Identität, durch die beschriebene Propaganda zusätzlich politisch aufgeladen und damit bereits vor seiner Fertigstellung zu einem nationalen Erinnerungsort.

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Widerstände von unten: Erinnerungen an die Vergangenheit Neben der Hoffnung auf eine bessere Zukunft, spielte die Vergangenheit im Zusammenhang mit dem Hochdamm auch im Lokalen eine wesentliche Rolle. Die Sicht einfacher Leute aus dem ländlichen Ägypten war jedoch voller Sehnsucht und Wehmut. Ihre Perspektive auf die Vergangenheit war nämlich oftmals geprägt von Ängsten hinsichtlich der zu erwartenden Zukunft, vom Widerstand gegen Veränderung sowie dem Verlust der eigenen Identität und Kultur. Neben der offiziellen politischen Rhetorik sollen deshalb anhand dreier Beispiele auch diejenigen Stimmen berücksichtigt werden, die mit dem Assuan-Hochdamm bzw. der sich im Wandel befindlichen Wasserwirtschaft ihre eigenen Empfindungen und Wahrnehmungen verbanden. Die beiden ersten Fälle stammen aus dem literarischen Bereich und stehen für persönliche bzw. fiktive Erinnerungen und Empfindungen, können aber als stellvertretende Stimme für viele Ägypter gelten, deren eigene Erfahrungen und Erlebnisse mit dem Hochdamm in ähnlicher Weise ein verbindendes Element darstellten. Als dritter Fall soll das Beispiel der Nubier dienen, die aufgrund des Hochdammbaus ihr angestammtes Siedlungsgebiet verlassen mussten. In ihren Memoiren A Border Passage schildert die in die USA emigrierte Ägypterin Leila Ahmed unter anderem den Kampf ihres Vaters, eines angesehenen Ingenieurs, gegen das Hochdammprojekt.8 Die politische Führung um Nasser war in ihren Glorifizierungsbemühungen stets darum bemüht, kein negatives Licht auf den Hochdamm fallen zu lassen. Es gab jedoch nicht wenige Stimmen, die vor den ökologischen und ökonomischen Auswirkungen des Projekts warnten und ein düsteres Bild für die Zukunft malten, sollte der Staudamm in geplanter Form errichtet werden. Die Umstellung auf ganzjährige Bewässerung erforderte im Falle Ägyptens die Installation eines weit verzweigten Drainage­systems zur Vermeidung von Wasserablagerungen auf dem Bewässerungsland. Da dies tatsächlich von den ägyptischen Ingenieuren versäumt wurde (zum Teil  wurde es von der Regierung auch aus finanziellen Gründen bewusst vernachlässigt), kam es vielerorts zu Versalzungen der Böden und damit zu ihrer langfristigen Degeneration. Als die Folgen dieses Versäumnisses nicht Pyramiden der Lebenden © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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mehr tragbar waren, musste nachgerüstet werden. Die Kosten für die nachträgliche Installation waren immens, hinzu kam der Verlust durch den Rückgang der Erträge. Ein anderes Beispiel ist der Nilschlamm. Früher, ohne die gewaltige Staumauer südlich von Assuan, gelangte der aus dem äthiopischen Hochland mit der Nil­ flut angeschwemmte Schlamm als natürlicher Dünger auf die Felder der ägyptischen Fellachen. Heute muss Ägypten kostspieligen Kunstdünger aus dem Ausland importieren, da der Nilschlamm sich hinter dem Hochdamm im Stausee ablagert. Zur Gegenfinanzierung muss die Regierung daher große Teile der neu gewonnenen Anbauflächen für den Reisexport nutzen, was wiederum dazu führt, dass Grundnahrungsmittel wie Getreide ebenfalls teuer importiert werden müssen, um die stetig wachsende Bevölkerung zu ernähren. Leila Ahmeds Vater war eine dieser Stimmen und konnte es sich selbst und den Ägyptern gegenüber nicht verantworten, still zu halten und den Dingen ihren Lauf zu lassen. Er widersetzte sich dem Regime und ließ sich nicht mundtot machen. Ein von ihm mit akkuraten Details über Planungsfehler im Hochdammkonzept veröffentlichtes Buch  – ein wissenschaftlich fundiertes Manifest gegen den Assuan-Damm – wurde auf staatliche Anweisung nicht publiziert und aus dem Verkehr gezogen. Versuche, sich über ausländische unabhängige Ingenieursorganisa­ tionen Gehör zu verschaffen, wurden im öffentlichen Ägypten ignoriert und von der Regierung mit Schikanen und Repressalien gegenüber der Familie Ahmed beantwortet. In diesem persönlichen Schicksal spiegelt sich nicht nur der intellektuelle Widerstand gegen den Hochdamm wider, sondern gerade auch die alltäglichen Probleme zahlloser Fellachen überall in Ägypten, die mit den Spätfolgen des Vorzeigeprojekts bis heute konfrontiert sind. Wenn Leila Ahmed beschreibt, wie sich ihr Vater für den Erhalt des Umgangs mit dem Nil »seit Anbeginn der Zeit ihrer Zivilisation« einsetzte, repräsentiert dies den Wunsch nach einem verträglicheren und ökologisch nachhaltigeren Umgang mit der Natur und dem Nil sowie die Sehnsucht, zu einem vergangenen Gleichgewicht zurückzukehren.9 Dass dies ein verzerrtes Bild, eine romantisierte Erinnerung an eine so nie ge­wesene Vergangenheit ist, bedarf keiner ausführlichen Begründung. Es handelt sich dabei um ein unter vielen Betroffenen verbreitetes Wahrnehmungsmuster, in der Vergangenheit sei man am Nil harmonischer mit der natürlichen Umwelt umgegangen. 260

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Den Wert dieser Wahrnehmung als verbreitetem Erinnerungsmuster zeigt auch das nächste Beispiel der Darstellung eines ägyptischen Dorfes und des Umgangs der Bewohner in ihrer Konfrontation mit einer sich wandelnden wasserbaulichen Umgebung. Es handelt sich dabei zwar um eine fiktive Geschichte, aber sie kann als ein Versuch gedeutet werden, dem gesellschaftlich spürbaren Wandel ein Gesicht zu geben, ihn festzumachen und zu verarbeiten. Es handelt sich bei dem Buch Egyptian Earth von Abdel Rahman al-Sharqawi jedoch nicht um eine ökologische Perspektive auf den technischen Wandel des Nil, sondern um eine soziale.10 Al-Sharkawi schrieb das Buch 1954 und schildert die Geschichte eines Dorfes in den frühen 1930er-Jahren. Es besteht damit zwar kein direkter Bezug zum Hochdamm, das Buch illustriert aber, wie Veränderungen im sozialen Dorfgefüge, ausgelöst durch wasserbauliche Maßnahmen, ein typisches Wahrnehmungsmuster fördern. Zugleich zeigt es den Trugschluss aus Leila Ahmeds späterer Perspektive: Die Vergangenheit war vor dem Hochdamm nicht einfach besser. Bereits seit dem ausgehenden 19.  Jahrhundert und den wasserbaulichen Eingriffen durch die britischen Besatzer Ägyptens, die immer neue Staudämme am Nil errichteten und das komplette Bewässerungssystem des Landes umstellten, erfuhren der Nil und damit die zahlreichen Dorfgemeinschaften einen spürbaren Wandel in ihrer natürlichen Umwelt und ihrem Sozialgefüge. Die enorme Ausweitung der Wasserbauten am Nil in dieser Zeit erforderte eine intrusivere Bürokratie sowie einen höheren Grad an Kontrolle des richtigen Umgangs mit den neu errichteten Anlagen. Damit brachen offizielle Beamte und Kontrolleure von außen in das traditionelle Dorfgefüge ein und forderten fest etablierte soziale Hierarchien innerhalb der Gemeinschaft heraus. Egyptian Earth beschreibt eine Episode in der Geschichte eines ägyptischen Dorfes, in dem Streit zwischen den Bewohnern ausbricht, als ein städtischer Beamter ihnen gemäß einer neuen Vorschrift diktiert, sie dürften nur noch an fünf anstatt der traditionellen zehn Tage pro Saison ihre Felder bewässern (eine behördliche Anordnung mit Gesetzesrang, die eine einseitige Wasserverteilung in Jahren geringerer Wasserverfügbarkeit verhindern sollte). Diese Anweisung von außen bricht die komplexen traditionellen Hierarchien innerhalb der Gemeinschaft auf und endet in einer heftigen längeren Auseinandersetzung, die zu eskalieren droht. Erst als ein Büffel in einen der Dorfbrunnen fällt, gelingt Pyramiden der Lebenden © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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es der Dorfschaft über die gemeinsame Rettung des Tieres wieder zueinander zu finden. Dies und das Bewusstsein einer ökologischen Verantwortung lassen die Bewohner gemeinsam das Bewässerungsproblem lösen, ohne mit den Behörden in Konflikt zu geraten. Beide Beispiele, obwohl subjektiv bzw. fiktiv, übermitteln jeweils eine starke und weitreichende Botschaft. Das Wissen um die Natur und eine enge Verbindung zu ihr ermöglichen es, sie besser zu verstehen, um zukünftige ökologische Schäden zu erkennen (ausgelöst durch den Hochdamm) und äußere Widerstände zu umgehen, die den inneren Frieden stören. Beide Darstellungen verdeutlichen, jede auf ihre Weise, indirekt eine Perspektive auf den Assuan-Hochdamm, ein Wahrnehmungs- und Erinnerungsmuster, das eine Flucht vor Eingriffen in die Natur selbst und vor staatlichen Eingriffen und Kontrollfantasien des Nasser-Regimes darstellt. Anders als in der öffentlichen nationalen Erinnerung an den Hochdamm, innerhalb derer die Technik vom Regime als eine Art »Kultur der Zukunft«11 stilisiert wurde, nimmt im Lokalen gerade nicht die Zukunft, sondern die Vergangenheit die verheißungsvolle und erstrebenswerte Rolle ein. Dies zeigt sich auch in einem anderen Aspekt, der das AssuanHochdammprojekt jedoch direkt begleitete und abseits nationalistischer und literarischer Perspektiven stand, sich aber ebenfalls in den Rahmen der Modernisierungs- und Planungsthematik einordnen lässt und eine Rückbindung des Lokalen an das Globale erlaubt. Es geht dabei um das Volk der Nubier und deren kulturelles Erbe. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Frage, wie der nubische Siedlungsraum, ein wenige hundert Quadratkilometer großer Fleck in der ägyptischen Wüste, die internationale Staatengemeinschaft in Bewegung zu setzen vermochte. Planungskonzepte von Infrastrukturprojekten mit dem Ausmaß des Assuan-Hochdamms neigen dazu, lokale Gegebenheiten zu ignorieren, in der Hoffnung und dem Glauben, mit im wahrsten Sinne des Wortes großer Technik viele Probleme gleichzeitig lösen zu können. Jedoch geht diese Ignoranz über ökologische Nebenfolgen hinaus, nämlich dann, wenn ethnische Gruppen oder Minderheiten, die in den meisten Kosten-Nutzen-Analysen und Durchführbarkeitsstudien gar nicht erst auftauchen, großen Planungsideen im Weg stehen. Die Nubier sind ein solches Beispiel und stehen eindrücklich dafür, wie im Namen von Modernisie262

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rung und Fortschritt eine ganze Kultur geopfert wurde. Um die Meinungsbildung der Mehrheit der Ägypter hatte sich das Regime in Kairo intensiv gekümmert und dem Dammbau propagandistisch starken Rückhalt verschafft. Die Ansichten und Vorstellungen der Nubier, einer rund 120.000 Mitglieder umfassenden ethnischen Minderheit, die im Grenzgebiet zwischen Ägypten und dem Sudan traditionell bereits seit tausenden von Jahren am Nil lebte, fanden dabei in beiden Staaten keine größere Beachtung. Jene Wüstenbewohner wurden 1964/65, als die Fluten begannen, sich hinter dem bereits errichteten Hauptdamm zu sammeln, aus ihrer angestammten Umwelt umgesiedelt. Ihnen war wenig anderes übrig geblieben, als sich diesem Schicksal zu fügen. Zwar gab es für die Nubier in den Hauptstädten Ägyptens und des Sudan entworfene und geplante Umsiedlungsprogramme (der Stausee erstreckt sich zu knapp einem Drittel auf sudanesisches Territorium, sodass auch der dort siedelnde Teil  des nubischen Volkes seine Heimat verlassen musste), auf die man mit großem Stolz blickte, da sie bis dahin die umfassendsten und ehrgeizigsten in der Geschichte Afrikas waren. Jedoch wiesen auch diese »Projekte«, wie der Hochdamm im großen Maßstab, eklatante Einschnitte und unerwartete Probleme im Kleinen auf. Immer wieder behaupteten Ethnologen und Soziologen, erst durch ihre Umsiedlung hätten die ägyptischen Nubier so etwas wie ein Zusammengehörigkeitsgefühl, eine nubische Identität, entwickelt. Das ist zwar insoweit richtig als die nubische Diaspora ein verstärktes Interesse am Schicksal der in der Heimat verbliebenen Volksgenossen zeigte, jedoch zerstörten die modernen und nach stadtplanerischer Rationalität gestalteten neuen Siedlungsräume die nubische Kultur des nach dem Clanprinzip organisierten Miteinanders und ihre typische Lebenspraktiken. In ihrer neuen Umgebung waren diese nicht mehr praktizierbar, waren die traditionellen nubischen Dörfer doch ein Abbild der sozialen Strukturen innerhalb ihrer jeweiligen Clangemeinschaft, symbolisierten und repräsentierten gesellschaftlichen Status und soziale Hierarchien. Die neu errichteten Dorf- und Häuseranlagen waren alle nach demselben Muster gestaltet und spiegelten Zweckmäßigkeit und durchgeplante moderne Lebensstrukturen wieder. Von Bedeutung ist auch der geographische Aspekt der Umsiedlung. Die traditionelle nubische Kultur und Lebenswelt bildete über unzählige Generationen eine untrennbare Einheit mit dem Nil und stand bis Pyramiden der Lebenden © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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zu den Umsiedlungsmaßnahmen in der Tradition altägyptischer Nilkulturen. Die neuen Siedlungsgebiete lagen hingegen weit abseits des Flusses und die kulturelle Beschaffenheit der alten nubischen Dörfer fand in den Planungen im Rahmen des Umzugs keine Berücksichtigung. Die ägyptische Führung ordnete der von oben gelenkten Modernisierung alles andere unter und opferte die Interessen und das Schicksal der Nubier zugunsten der übrigen Bevölkerung stromabwärts. Heute, über 40 Jahre nach diesen Ereignissen, muss man feststellen, dass die Kultur und die Identität der Nubier in ihrer Fülle und Vielfalt weitestgehend zerstört und verloren ist. Beides lebt heute nur noch fort in den überlieferten kulturellen Praktiken der Nubier und in der Erinnerung an ihr »gelobtes Land«.12 Da half es auch nur wenig, dass ägyptische und amerikanische Ethnologen und Archäologen in einer großen staatlich finanzierten Studie Anfang der 1960er-Jahre Kultur, Gesellschaft und Lebenspraktiken des nubischen Volkes in ihrem traditionellen und angestammten Umfeld erfassen und konservieren wollten. Wissenschaftlich ist dies nicht zu beanstanden, schließlich verdankt man einen Großteil des heutigen Wissens über die Nubier dieser Studie. Vom planerischen und politischen Standpunkt her ge­ sehen, ist dies jedoch eine höchst fragwürdige Angelegenheit, denn einerseits flossen die gesammelten Erkenntnisse nicht in die Umsiedlungspläne mit ein und andererseits erscheint dies aus politischer Perspektive eher als ein Vorwand, um über das eigene Desinteresse an einer echten Bewahrung des kulturellen Erbes der Nubier hinwegzutäuschen. Hinsichtlich der Folgen ihrer Umsiedlung, fällt die ethno­ graphische Studie über die Nubier geradezu kläglich aus, stellt man ihr die großangelegte Rettung der altägyptischen Denk­ mäler und Tempel durch die UNESCO gegenüber. Diese international viel beachtete Kampagne sprengte alle bis dahin bekannten nicht-politisch begründeten Ambitionen der Staatengemeinschaft. Angefangen im Sommer 1960 wurden insgesamt 24 Tempel und Denkmäler über einen Zeitraum von fast 20 Jahren hinweg mit höchstem technischen Aufwand und größter Akribie zersägt und an möglichst nahe gelegenen Stellen, wo sie vor den Fluten des Stausees sicher waren, wieder aufgebaut. Diese Maßnahmen verschlangen insgesamt über 70 Millionen US-Dollar – übrigens ein Vielfaches dessen, was die Umsiedlung der 120.000 Nubier kos264

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Abb. 2: Arbeiten an der Versetzung der Tempelanlage von Abu Simbel durch internationale Experten. Während das steingewordene Erbe der Menschheits­ geschichte gerettet werden konnte, versank der Großteil der Kultur der Nubier in den Fluten des Nasser-Sees (© UNESCO/Nenadovic).

tete – wovon eine Hälfte von Ägypten und die andere von internationalen Beiträgen geleistet wurde. Insgesamt beteiligten sich über 70 Staaten an der Aktion. 1980 jährte sich der Aufruf zur Rettung der Tempel zum 20. Mal und im gleichen Jahr fand die Kampagne ihren Abschluss, sodass die UNESCO diesem Ereignis sogleich eine Doppelnummer der hauseigenen Zeitschrift UNESCO Kurier widmete. Der Titel der Sonderausgabe »Sieg in Nubien – 4000 Jahre Geschichte vor dem Wasser gerettet« ist dabei bezeichnend für die weltweite Sicht auf die ambitionierte Kampagne in Ägypten und im Sudan.13 So wird dieser »Sieg« der UNESCO und der »Gemeinschaft der Welt in der größten archäologischen Rettungskampagne aller Zeiten« als Triumph der Technik stilisiert und als Bewahrung eines Weltkulturerbes.14 UNESCO-Generalsekretär Amadou-Mahtar M’Bow leitete damals bedeutungsvoll in die Sonderausgabe mit den Worten ein: »Menschheits-geschichte fängt dort an, wo ihre Erinnerungen […] sich in Stein festigen. Wodurch sich die Nationen […] mit ihrer gemeinsamen Eigenart verewigen«. Weiter heißt es: »Die Gesamtheit dieser Werke (gemeint sind die geretteten Tempel, E. B.) Pyramiden der Lebenden © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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[ist] als integrierter Teil des gleichen kulturellen Erbes zu begreifen. Die internationale Kampagne zur Rettung der Denkmäler in Nubien gibt ein hervorragendes Zeugnis dieser Bewusstseinshaltung«.15 Man konzentrierte sich dabei allerdings eher auf die Kulturschätze und schenkte den Menschen selbst weniger Aufmerksamkeit. Zwar konnte so schließlich das steinerne Kulturerbe gerettet werden, doch die noch lebendige Kultur der Nubier ging im wahrsten Sinne des Wortes in den Fluten des Stausees unter. Der berühmteste der geretteten Tempel, jener von Abu Simbel, und die weitaus weniger beachteten Schicksale der Nubier stehen hierbei symptomatisch für Modernisierungs- und Fortschrittsdenken. Auf der einen Seite befinden sich die ägyptisch/nubischen Tempel als übergreifendes kulturelles Welterbe, das es mit größtem Aufwand zu retten gilt, und auf der anderen Seite die ignorierbare und verschwindend kleine Gruppe der Nubier und deren Mikrokosmos. Dieses Beispiel verdeutlicht, wie sich Modernisierungsdenken und der Glaube technischer Machbarkeit mit der Vernachlässigbarkeit des Lokalspezifischen verbinden. Es steht bezeichnend für den »großen Plan« und seine »kleinen« Hindernisse. Hier verbinden sich Modernisierungsdenken und der Glaube technischer Machbarkeit mit der Vernachlässigbarkeit des Lokalspezifischen, stehen bezeichnend für den »großen Plan« und seine kleinen Hindernisse. Doch darüber entschieden, was als Weltkulturerbe gelten darf und damit bewahrungswürdig ist und was nicht, wurde weit ab Nubiens und der Nubier in Kairo und anderen Orts. Die Arbeit und das Bemühen der UNESCO einschließlich der beteiligten Staaten an der Rettungskampagne soll hier keineswegs geschmälert werden. Schließlich ist ihnen die Bewahrung dieser einmaligen Kulturschätze geschuldet. Jedoch ist die Einseitigkeit erstaunlich, mit der damals zwischen bewahrungswürdigem und weniger bewahrungswürdigem Erbe unterschieden wurde. Technik und Planbarkeit stehen auch hier wieder im Mittelpunkt. Und möglicherweise ist auch in ihnen die Ursache für jene einseitige Auslegung der Kampagne zu suchen, die das Schicksal der Nubier so sehr vernachlässigte. Denn die moderne Wissenschaft und Technik erlaubten es – aus dem Blickwinkel der Verantwortlichen der Kampagne – scheinbar eine gefährdete Kultur und gleichzeitig auch ein Volk zu bewahren, indem einerseits die Tempel abgetragen und neu errichtet wurden und andererseits, indem mittels eines rational gesteuerten Umsiedlungs­programms 266

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und effizienter Stadtplanung eine vermeintlich überholte und zweckfremde Lebenswelt einfach an anderer Stelle neu konstruiert, reproduziert und modernen Gegebenheiten angepasst werden könnte. So ging im internationalen und globalen Zusammenhang die geschilderte Rettungskampagne, deren Auslöser der Hochdamm war, als positives Beispiel für die Möglichkeiten moderner Technik in das kollektive Gedächtnis ein. Der Hochdamm und seine Folgen wurden zwar international vereinzelt von Experten als Problem wahrgenommen, die breitere Öffentlichkeit konnotierte ihn jedoch nicht negativ wie die UNESCO-Zeitschrift deutlich macht, sondern assoziierte das Projekt gerade mit dem positiven Ausgang der Rettung der Kulturschätze und der Nubier selbst. Der Staudamm erschien als ein Großprojekt, dessen Nebenwirkungen erfolgreich abgefedert werden konnten, als ein Projekt, das weiterhin seine Symbolkraft für ein fortschrittliches Ägypten behielt – ein Ägypten, das in der Zukunft lag. Die Erinnerungsprojektion der Nubier hingegen richtete sich, vergleichbar mit den oben be­schriebenen Beispielen, in eine verlorene und romantisierte Vergangenheit.

Dynamik und Resistenz: Erinnerungen an den Hochdamm Die aufgeführten Beispiele von Erinnerungen an den Hochdamm – im staatlich diktierten öffentlichen Diskurs im nationalen Rahmen wie auch die Gegenstimmen einzelner mit Hinweisen auf ökologische und soziale Nebenfolgen und natürlich die Verluste einer vernachlässigten Minderheit auf lokaler Ebene – sprechen für den Assuan-Hochdamm als differenzierte Projektionsfläche, als heterogen wahrgenommen Ort der Erinnerung. Blickt man auf die globale Ebene des eingangs skizzierten Mythos der technokratischen Großplanung, so ist ebenfalls eine differenzierte Wahrnehmung und Erinnerung an den Hochdamm erkennbar. Die Idee der Modernisierung, die Vorstellung der Gestaltbarkeit von Gesellschaft und Natur und mit ihr die technokratische Utopie universeller Planbarkeit, die zahlreiche politische Agenden seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs wesentlich mitbestimmt hatte, begann im weiteren Verlauf des 20.  Jahrhunderts erste Risse zu erhalten. Technische Großprojekte wie der Assuan-Hochdamm Pyramiden der Lebenden © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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verloren allmählich ihren Glanz. Nachdem bereits seit Ende der 1950er erste Kritik an den gigantischen Staudammprojekten in aller Welt aufgekommen war, gingen die »dam decades« spätestens in den 1990er-Jahren zu Ende: die Zahl der neu errichteten großen Dämme nahm rapide ab. Wasserkraft als »weiße Kohle« zählte lange zu den erfolgversprechenden Strategien, verhieß sie doch eine saubere und unerschöpfliche Energiequelle zu sein bei der Gestaltung von Gesellschaft, Umwelt und der »umsichtigen Vorausplanung der Zukunft«.16 Aber gerade die vermeintliche Sauberkeit der Hydroenergie erwies sich, je mehr Großdämme errichtet worden waren, als Trugschluss. Oftmals erst Jahre später auftretende ökologische und soziale Nebenfolgen wie im Falle des AssuanHochdammes wiesen immer deutlicher auf die illusorische Vorstellung einer folgenlosen Energiequelle hin. Besonders hinsichtlich der Zukunft änderte sich die Wahrnehmung. Sie behielt zwar im Rahmen von Planung und Steuerung ihre Projektionsstellung, jedoch »begann« die Zukunft nun bereits in der Gegenwart und verkörperte nicht nur die positiven Aspekte von Technik und Wissenschaft, sondern berücksichtigte auch die negativen Seiten und deren Auswirkungen auf die natürliche Umwelt. Zeugnisse für diese zumindest in Ansätzen sich wandelnde Wahrnehmung sind beispielsweise der Bericht des »Club of Rome« (1972), der auf die »Grenzen des Wachstums« aufmerksam machte und die von den Vereinten Nationen eingesetzte »Brundtland-Kommission« (1987), die vehement ein Umdenken hin zu »nachhaltiger Entwicklung« einforderte. Hatten diese öffentlichkeitswirksamen Warnungen auch nur bedingt politische Auswirkungen, fanden sie zivilgesellschaftlich doch erhebliche Zustimmung und trugen nicht unwesentlich zu einem Hinterfragen des Technik- und Fortschrittsoptimismus vergangener Tage bei. Als in Ägypten jedoch Ende der 1950er-Jahre klar war, dass der Hochdamm gebaut werden würde, spielten Überlegungen und zivilgesellschaftliche Entwicklungen wie die eben beschriebenen noch keine Rolle. Die in das Assuan-Projekt gesetzten Hoffnungen und die erstrebte Modernisierung war eine staatlich verordnete Glaubenspflicht. Jegliche öffentliche Kritik – wie berechtigt ­ hmeds sie auch sein mochte – wurde sofort wie im Falle von Leila A Vater geschildert im Keim erstickt. Selbst Anwar al-Sadat, Nachfolger Nassers im Präsidentenamt seit 1970, wagte es nicht, offene Kritik am Staudamm zuzulassen, zu groß war die Angst vor einer 268

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Desillusionierung der Ägypter und vor dem Verlust ihres Vertrauens in die Modernisierungskraft des Staates. Zwar gab es in den 1970er-Jahren bereits Studien über die Nebenfolgen des Dammbaus, sie wurden jedoch größtenteils zurückgehalten. Die verheerende Wirkung einer Dürreperiode, die Ostafrika von 1979 bis 1984 in Atem hielt, fiel für Ägypten nur geringfügig aus, da das ausbleibende Wasser aus dem riesigen Stausee des Hochdamms zusätzlich abgeschöpft werden konnte. Die politische Propaganda nutzte diese Tatsache ausgiebig und verwies auf große historische Dürren in lange zurückliegender Vergangenheit und deren katastrophale Auswirkungen auf Ägypten. In diesem öffentlichen Klima hatten es alle Kritiker des Hochdammprojekts schwer, Gehör zu finden. Die Idee eines universell gültigen Modernisierungsweges blieb in Ägypten in der offiziellen Wahrnehmung mit Blick auf den Hochdamm weitestgehend erhalten. Damit steht die ägyptische Wahrnehmung recht unvermittelt neben der transnationalen Kritik. Auf globaler Ebene war das Planungsparadigma in die Kritik geraten und die Erfahrungen und Erinnerungen an eine Vergangenheit, in der man sich gesellschaftliche und ökonomische Probleme allein durch Technik und Wissenschaft zu lösen im Stande sah, wendeten sich angesichts immer deutlich hervortretender Nebenfolgen ins Negative. So gesehen steht der AssuanHochdamm auch in dieser Hinsicht im globalen Rahmen für einen Ort der Erinnerung, jedoch diesmal gewandelt in eine negative Wahrnehmungszuschreibung, denn er symbolisierte beispielhaft einen rücksichtlosen Eingriff in die Natur aus vergangenen Zeiten, dem jede Sensibilität für Ökologie und Nachhaltigkeit fehlte. Blickt man aus heutiger Perspektive auf den Assuan-Hochdamm als Erinnerungsort, so erscheint er in seiner Wahrnehmung in einem Spannungsverhältnis zwischen globaler, nationaler und lokaler Ebene und verdeutlicht dabei die Dynamik und Resistenz der verschiedenen Erinnerungsmuster. Die differenzierten Diskurse, die dieses Bewässerungsprojekt über die Jahrzehnte hinweg bestimmt haben, illustrieren, auf welche unterschiedliche Weise Orte wie der Hochdamm wahrgenommen werden und wie diese im kollektiven Bewusstsein verankert sind. Die unterschiedlichen Perspektiven auf den Assuan-Hochdamm sind jedoch eng mit der Ambivalenz des globalen Phänomens der Planung und Modernisierung verknüpft. In ihm vereinen sich Hoffnungen auf die Kraft der technischen Lösung und damit verbunden auf eine Pyramiden der Lebenden © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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bessere Zukunft und gleichzeitig die Bereitschaft dazu, diesem Ziel sehr viel unterzuordnen und in Kauf zu nehmen. In der Eupho­rie des »großen Plans« übersahen die Planer oft Nebenfolgen, wie im Falle des Hochdamms die negativen Auswirkungen auf die Umwelt und das soziale Gefüge direkt betroffener Dorfgemeinschaften, oder das Vergessen einer gelebten Kultur im Eifer der Rettung eines steingewordenen Menschheitserbes. Oder die Planer wollten sie nicht sehen. All diese Nebenfolgen waren und sind Kehrseiten des technischen Fortschrittsoptimismus, die eng mit dem AssuanHochdamm in Verbindung stehen. Gerade die Kehrseiten haben dazu beigetragen, den Damm als Ort der Erinnerung im Bewusstsein, in Handlungs- und Denkweisen festzuschreiben. Speziell lokal gibt es immer wieder Stimmen, die sich das traditionelle Bewässerungssystem Ägyptens zurückwünschen und sich nach der jährlichen Nilflut und dem fruchtbaren Schlamm zur Düngung ihrer Felder sehnen, da die Kosten für Kunstdünger von den Fellachen mitgetragen werden müssen. Ebenso gibt es Versuche der Nubier, zumindest in die Nähe ihres angestammten Siedlungsgebietes zurückzukehren, indem sie sich beim Staat für eine Unterstützung zur Wiederansiedlung an den Ufern des Stausees einsetzen. Auch der umgekehrte Fall hat jedoch Spuren hinterlassen. Die verklärte Symbolkraft des Hochdamms als Abbild der Identität einer modernen Nation führt in Ägypten heute noch dazu, das energetische Potenzial des Nil in erster Linie im nationalen Rahmen wahrzunehmen. Es wurden und werden ägyptische Bewässerungsprojekte erdacht und geplant, die die drohende Wasserknappheit im Niltal absehbar verschärfen werden. Allein die Vorstellung mit dem Hochdamm als ägyptischem Projekt die ausreichende Kontrolle über die Wasserressourcen erreicht zu haben, veranlasst die Regierung in Kairo weiterhin, an national konzipierten Projekten festzuhalten, anstatt das hydrologische Potenzial des gesamten Niltals mit den Anrainerstaaten gemeinsam und auf nachhaltigere Weise zu nutzen. Der Assuan-Hochdamm reiht sich global gesehen mit zahlreichen anderen Großprojekten und besonders ihrem Scheitern als Beispiel für die Krise des »großen Plans« ein. Die von Groß­ projekten ausgehenden und immer deutlicher werdenden Nebenfolgen sowohl ökologischer als auch humanitärer Art erschütterten den Glauben an den Segen der Technik. Jedoch muss man trotz allem konstatieren, dass der Plan nicht tot ist. Und er war es auch 270

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nie. Seine Utopie liegt heute weniger in der Zukunft als in der Gegenwart und dem Streben, den Status quo zu wahren, etwa mit Blick auf den westlichen Lebensstandard und den Klimawandel. Gerade angesichts der als immer bedrohlicher wahrgenommenen Klimakrise und seit kurzem verstärkt durch die Erschütterungen der globalen Finanzmärkte könnte der »große Plan« als Heilmittel ein mit Hoffnungen erfülltes Comeback erleben. Die Gegenwärtigkeit einer großen Krise – wie einst die Weltwirtschaftskrise – spielt großen Planungsideen in die Hände. Erinnerungen an die Vergangenheit und die Hoffnung, erneut mit großen Anstrengungen und planerischer Weitsicht den Weg aus einer schwierigen Situation zu finden, sind im kollektiven Bewusstsein weiterhin vorhanden und politisch aktivierbar. US-Präsident Barack Obama war einer der ersten, der von einem »Green New Deal« sprach, einer konzertierten Aktion von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft, der groß angelegte Investitionen in innovative und grüne Technologien folgen müssten, um den gegenwärtigen Krisen – dem Klimawandel und der vor dem Einsturz bedrohten Finanzwelt – Herr werden zu können. Dabei wird die Forderung nach der »Rückkehr des Staates« als starker aktiver Planer und Lenker der Volkswirtschaft immer wieder laut.17 Darin spiegeln sich Projekte wie der Assuan-Hochdamm jedoch schemenhaft als verschwommene Hoffnung  – als ein vager Schatten der Vergangenheit  – wider, mit technischem Fortschritt genug gestalterische Kraft in Händen zu halten, um die Komplexität der Wirklichkeit doch steuern zu können.

Anmerkungen 1 Nach dem Tod des ägyptischen Präsidenten Gamal Abdel Nasser bezeichneten Gegner den Assuan-Hochdamm gerne etwas spöttisch als »­Nassers Pyramide«, womit auf seinen ungebrochenen Ehrgeiz und das Engagement im Rahmen des Baus des Hochdamms angespielt wurde, mit dem Nasser seiner Präsidentschaft (1952–1970) und der Modernität Ägyptens ein Symbol verleihen und gleichzeitig ein Denkmal setzten wollte. 2 David Ekbladh, »Mr. TVA«: Grass-Roots Development, David Lilienthal, and the Rise and Fall of the Tennessee Valley Authority as a Symbol for U. S. Overseas Development, 1933–1973, in: Diplomatic History 26 (2002), S. 335–374; S. 336. 3 Vgl. ebd., S. 337, S. 349. Pyramiden der Lebenden © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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4 Anthony Giddens, Konsequenzen der Moderne, Frankfurt a. M. 1997, S. 108. 5 Yoram Meital, The Aswan High Dam and Revolutionary Symbolism in Egypt, in: Haggai Erlich, Israel Gershoni (Hg.), The Nile. Histories, Cultures, Myths, London u. a. 2000, S. 219–226; S. 223. 6 Ebd., S. 224. 7 John R. McNeill, Blue Planet. Die Geschichte der Umwelt im 20. Jahrhundert, Bonn 2005, S. 185. 8 Leila Ahmed, A Border Passage: From Cairo to America – A Woman’s Journey, New York 1999; der hier relevante Bezug zum Hochdamm findet sich auf den Seiten 16 bis 20. 9 Vgl. ebd., S. 20. 10 Abdel Rahman Al-Sharqawi, Egyptian Earth, London 1990. 11 Vgl. Klaus Gestwa, Die Stalinschen Großbauten des Kommunismus. Sowjetische Technik- und Umweltgeschichte, 1948–1967, München 2010, S. 15. 12 Tatsächlich nennen die Nubier selbst in nostalgischer Erinnerung das Alte Nubien »gelobtes Land«, vgl. Robert A. Fernea, Aleya Rouchdy, Contemporary Egyptian Nubians, in: Elisabeth Fernea Warnock, Robert A. Fernea (Hg.), Nubian Ethnographies, Prospect Heights 1991, S. 183–203; S. 188. 13 Vgl. UNESCO Kurier (2/3) 1980, Titelblatt. 14 Vgl. ebd., S. 5. 15 Vgl. ebd., S. 4. 16 Gestwa, S. 22. 17 So z. B. Anthony Giddens, Recession, Climate Change and the Return of Planning, in: New Perspectives Quarterly (NPQ) 26, 2 (2009), S. ­51–53; S. 51 f.

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Globale Erschütterungen: Tambora und Krakatau

Eine große Hungersnot bricht über Europa und die USA herein. In Stuttgart erheitert ein Volksfest die Gemüter. Am Genfer See entsteht ein legendärer Horrorroman. Der Vorgänger des Fahrrads erobert die Straßen. Die Geschichte der Nachrichtenagentur nimmt seinen Anfang. Was hat all dies mit zwei Vulkanen in Indonesien zu tun? Der Gründer einer der bedeutendsten wissenschaftlichen Einrichtungen der USA, der Smithsonian Institution, James Smithson, sagte schon 1813: »[Volcanoes] cease to be local phenomena [and] become principal elements in the history of the globe.«1 Der Ausbruch des isländischen Vulkans Eyjafjallajökull im Frühjahr 2010, der den europäischen Flugverkehr teilweise lahm legte und damit beträchtlichen Schaden anrichtete, ist ein aktuelles Beispiel, das besonders eindringlich zeigt, was Smithson meinte. Doch im Gegensatz zu heute wussten Smithson und seine Zeitgenossen globale Auswirkungen eines Vulkanausbruchs noch nicht einzuordnen. Heute aber kann man dank fortgeschrittener Wissenschaft und Technik auch die globalen Auswirkungen der weltweit in vielerlei Hinsicht vielleicht folgenreichsten Ausbrüche, nämlich jene der indonesischen Vulkane Tambora und Krakatau, sogar fast 200 Jahre später erfassen. Damit wachsen diese gewaltigen Vulkane über ihre geographische Existenz als unmittelbare Erinnerungsorte einer Tragödie, deren Spektakularität zu beliebtem Filmmaterial und touristischen Zwecken benutzt wurde, hinaus zu Erinnerungsorten globaler Dimension. Zwei indonesische Vulkane, die sich selbst durch ihre Ausbrüche größtenteils zerstörten, haben weltweit Veränderungen mit großer Wirkung hervor­ gerufen – so mittlerweile »klein« und doch so groß, so fern und doch so nah: Welche Konsequenzen hatten diese Ausbrüche nun tatsächlich auf globaler Ebene, beispielsweise in der Wissenschaft Globale Erschütterungen © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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und der Kunst im weit entfernten Europa? Und warum ist der eigentlich sehr viel gewaltigere Ausbruch des Tambora weniger berühmt als jener des Krakatau? Es mutet zunächst erstaunlich an, dass das kalte Klima im Europa des Jahres 1816, das als das Jahr ohne Sommer in das kollektive Gedächtnis einging, von diesem Vulkan Tambora verursacht wurde. Hier soll gezeigt werden, wie weitreichend Katastrophen Geschichte machen können und auf welch mannigfache Art und Weise an sie erinnert wird. Die Vulkanausbrüche in Indonesien hatten auch Auswirkungen auf die europäische Wissenschaft und Kunst und lieferten insofern einen Beitrag zur europäischen Kulturgeschichte. Dies wurde womöglich aufgrund der geographischen Positionierung Europas in recht moderaten Wetterverhältnissen lange ignoriert und wirft daher ein neues Licht auf das europäische Geschichtsgefühl, das klimadeterministische Aspekte vernachlässigt. 1981 stellte der Historiker Arno Borst die These auf, dass es »dem modernen europäischen Selbstgefühl« widerstrebe, Naturkatastrophen »als dauernde Erfahrung der Gesellschaft und der Geschichte anzunehmen«.2 Exemplarisch diskutiert dieser Aufsatz, wie die durch die Vulkanausbrüche bedingten Klimaveränderungen und die Hungersnot, die auf das Jahr ohne Sommer 1816 folgte, nicht nur ihren Weg in das europäische Gedächtnis, sondern auch in die europäische Geschichte gefunden haben und sich durch diese Erkenntnis parallel zur Entdeckung des anthropogenen Klimawandels auch das Geschichtsgefühl der Europäer neu formen könnte.

Die Gewalten des Tambora Als der isländische Forscher Haraldur Sigurdsson in Indonesien 2004 archäologischen Spuren nachging, unternahm er eine Zeitreise in das Indonesien des frühen 19.  Jahrhunderts. Er wurde Zeuge des gewaltigsten Vulkanausbruchs in der jüngeren Menschheitsgeschichte: Das indonesische Königreich Tambora wurde am 10.  April 1815 durch den Ausbruch des gleichnamigen Vulkans vollständig verschüttet. Schätzungen zufolge kostete diese Katastrophe etwa 100.000 Menschen das Leben  – sei es direkt durch den Ausbruch oder indirekt durch die nachfolgenden Tsunamis, 274

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Karte 1: Meyers Geographischer Handatlas. Bibliographisches Institut A. G., Leipzig 1928, Karte 65.

Hungersnöte und Krankheiten. Die archäologischen Entdeckungen, deren Ergebnisse in naher Zukunft veröffentlicht werden, geben zusammen mit diesen Dimensionen menschlichen Schreckens Anlass zu neuen Denkansätzen und Auseinandersetzungen mit diesem Vulkan. Diese erstrecken sich im Folgenden nicht nur auf den Vulkan selbst, sondern auf Erinnerungsorte im regionalen, insbesondere deutschen und schweizerischen Umweltbewusstsein, im Rahmen dessen historische Dimensionen von religiösen, politischen, wissenschaftlichen und kulturellen Gegebenheiten frei­ gelegt werden können. Der Tambora, oder Tamboro, wie er in früheren Quellen auch genannt wird, bildet die Halbinsel Sangaar der Insel Sumbawa in Indonesien und entstand vor ca. 57.000 Jahren. Der vor seinem großen Ausbruch 4300 m hohe Berg sowie das gesamte indone­ sische Inselarchipel sind Teil des sogenannten »Ring of Fire«, eines den gesamten Pazifischen Ozean umgebenden Gürtels aus Vul­ Globale Erschütterungen © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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kanen3; sie zählen zu den aktivsten Vulkanen der Erde. Die ozeanische Platte der Erdkruste stößt hier auf die kontinentale Platte und schiebt sich unter diese, so dass eine Subduktionszone entsteht. Dabei entsteht eine Reibungsfläche von bis zu 700 km Tiefe, die Hitze erzeugt. Die Gesteine vermischen sich, es entsteht zähflüssiges Magma, das den Vulkanschlot verstopft, Druck erzeugt und letztlich zu einem sogenannten explosiven Vulkanausbruch führt. Schon 1812 begann die aktive Phase dieses Respekt einflößenden Bergs, die ihren Höhepunkt im Frühjahr 1815 erreichte und bis 1819 andauerte. Zuvor gab es bereits drei bedeutende Ausbrüche, wie Radiokohlenstoff-Messungen zeigen, und bis heute zählt er zu den aktiven Vulkanen Indonesiens; der letzte Ausbruch wurde 1967 registriert. Mit einer Energie, die der von Hunderttausenden Hiroshima-Bomben gleicht, wurden im Rahmen eines plinianischen Vulkanausbruchs der Stärke 7 (von 8 mög­ lichen) auf dem Vulkanexplosivitätsindex am 10. April 1815 an die 170 km3 Bimssteine und Asche ausgestoßen, die eine ca. 43 km hohe Rauchsäule verursachten.4 Es entstanden Bimssteininseln von einigen Kilometern Durchmesser; der Großteil der Insel Sumbawa war von einer dicken Asche- und Schlammschicht bedeckt; die pyroklastischen Ströme sowie der eingebrochene Gipfel lösten Tsunamis aus, die eine weitreichende Verwüstung verursachten. Die Explosionen konnten noch auf der 2000 km entfernten Insel Sumatra gehört werden. Von schwerem Ascheregen wurde auf Borneo, Sulawesi, Java und den Molukken berichtet. Die 500 km entfernte Insel Madura war drei Tage in völlige Dunkelheit getaucht. Während die holländischen Priester die Rückkehr Jesu verkündeten und die holländische Kolonialregierung bewaffnete Segelboote losschickte, da man hinter dem Donnern Piratenangriffe vermutete, waren die realistischer denkenden, sogenannten primitiven Eingeborenen der Meinung, dass es sich um den Ausbruch einer der größten Vulkane Indonesiens handelte – und tatsächlich gilt der Ausbruch des Tambora als der größte in der überlieferten Geschichte. Nach Richard B. Stothers handelt es sich sogar um die größte Asche-Eruption seit der letzten Eiszeit.5

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Fluch der Götter? Kein Wunder, dass sich ein Ereignis dieser Dimension in Berichten, Sagen und Legenden kolonialistischer sowie einheimischer Herkunft niederschlägt, die die folgenden Generationen an die Katastrophe erinnern sollten. Eine interessante Quelle bildet der erst 1855 von Heinrich Zollinger veröffentlichte Bericht unter dem Titel Besteigung des Vulkanes Tambora auf der Insel Sumbawa und Schilderung der Erupzion desselben im Jahre 1815.6 Der anonyme Berichterstatter, der den Berg als erster Mensch nach der Katastrophe bestieg, beschreibt sowohl den Anblick des Schreckens, der sich ihm vor Ort bot, als auch die Reaktionen seiner einheimischen Begleiter: »Ich läugne nicht, dass auch mich ein erhebendes Gefühl beseligte, als ich […] den Fuss auf den Scheitel des Berges setzte, der in der Geschichte eine so traurige Berühmtheit erlangt hatte.«7 Weiter berichtet er von seinen verängstigten Begleitern, die ihn anflehten, die Berggeister nicht zu wecken. Die Tragödie wurde als ein Strafgericht des Himmels infolge eines Fehlverhaltens des Königs von Tambora gedeutet, der einen angeblich von Mohammed abstammenden Araber töten ließ. Die Einwohner Balis hielten hingegen einen tödlichen Streit zwischen zwei Brüdern für die Ursache des Ausbruchs. Eingeborene Priester im östlichen Java deuteten den Vulkanausbruch als Indiz dafür, »daß die Götter die Insel bald von der Herrschaft der Europäer befreien würden.«8 Die wenigen lokalen Berichte, die über den gewaltigen Ausbruch des Tambora vorliegen, wurden 1826 von einem holländischen Kolonialisten zusammengefasst9 und können mit den Worten des oben schon zitierten Berichterstatters als ein »dauerndes Denkmal von Thatsachen [sic] […], die eine entsetzliche Naturrevoluzion [sic] der Vergessenheit entreissen können« aufgefasst werden.10

Das Jahr ohne Sommer Die Auswirkungen des Ausbruchs vor Ort waren zwar am plakativsten, aber auch auf globaler Ebene hatte der Vulkanausbruch weitreichende Folgen: Man schreibt ihm die globalen Klima­ anomalien zu, die im darauf folgenden Jahr 1816 – dem Jahr ohne Globale Erschütterungen © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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Sommer  – weltweit die Ernten ausfallen ließen und zur größten Hungersnot des 19.  Jahrhunderts führten. Es sei dahingestellt, ob auch die Ausbreitung der Cholera mit dem Vulkanausbruch in Verbindung gebracht werden kann, wie Sanders und Zeilinga de Boer – allerdings mit gebotener Vorsicht – behaupten.11 Auch wird die auf den Ausbruch folgende Kälteperiode bisweilen für das Ausmaß der Typhusepidemie in Südosteuropa verantwortlich gemacht. Das Jahr ohne Sommer brachte aber nicht nur Düsternis und Tod, sondern auch interessante Naturphänomene mit sich. Durch die vom Winde verwehten Staub- und Aschepartikelchen wurden weltweit besonders farbenreiche Sonnenuntergänge und Dämmerungslichter wahrgenommen und geschildert. Im Nordosten der USA wurde in diesem Jahr Trockennebel beobachtet, der das Sonnenlicht dämmte und rot erscheinen ließ und der weder durch Wind noch durch Regen aufgelöst wurde. Diese sogenannten Aerosol-Schleier entstehen durch die große Menge an schwefligen Gasen, die durch den Ausbruch in die Atmosphäre geschleudert werden und dort durch die Sonneneinstrahlung mit Wasserdampf reagieren; dies führt zur Bildung von winzigen SchwefelsäureTröpfchen, die Aerosole, die für die Aufnahme des Sonnenlichts sorgen. Feine Aschepartikel, Aerosole und Gasmoleküle können in der Stratosphäre Monate oder sogar Jahre verweilen und werden von Winden um den Globus transportiert. Die Sonne wurde durch den Trockennebel so gerötet und verdunkelt, dass Berichten zufolge Sonnenflecken mit dem bloßen Auge wahrnehmbar wurden. Mittlerweile wurde errechnet, dass die Aerosol-Schleier des Tambora-Ausbruchs die Durchschnittstemperaturen in einigen Regionen um 1 bis 5 °C herabgesetzt haben; global sanken sie um 0.4–0.7 °C, was im Juni 1816 Frost in Connecticut und Schneefall in New York zur Folge hatte. Dieser Zustand dauerte fast drei Monate an und zerstörte den Großteil der Ernten in Nordamerika. Auch im Süden und Osten Europas wunderte man sich im Sommer über Schnee mit gelblicher Färbung und schweren Hagel, der die Ernte vernichtete. Somit war das Jahr 1816 das zweitkälteste in der Nordhemisphäre seit 1400.12 Die Schuld am Kälteeinbruch darf jedoch nicht nur den Folgen des Vulkanausbruchs zugewiesen werden; ein natürlicher globaler Abkühlungseffekt hatte bereits seit 1812 eingesetzt.13 Daher waren die Jahre 1812 bis 1817 die günstigsten für das Wachstum der alpinen Gletscher seit 1500.14 278

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Der Tambora erfüllte dennoch drei Bedingungen, die einen Vulkan das Wetter weltweit beeinflussen lassen. Durch seine äquatornahe Lage wurden seine Aerosol-Schleier sowohl über die Süd- als auch über die Nordhalbkugel geschickt, trotz der eigentlich getrennten Windsysteme. Besonders schwefelhaltige Gase tragen ihrerseits zu Wetterveränderungen bei und dies umso mehr, je höher sie durch die Wucht der Eruption in die Atmosphäre geschleudert werden – beides war beim Tamboraausbruch in hohem Maße der Fall. Damals aber konnten sich nicht einmal die Wissenschaftler die Zusammenhänge der neuen klimatischen Bedingungen in einer aus den Fugen geratenden Welt erklären. Ein amerikanisches Multitalent, Benjamin Franklin, kam dem Zusammenhang allerdings schon drei Jahrzehnte vor dem Ausbruch des Tambora auf die Schliche: Er sah die Ursache für den harten Winter 1784 im Trockennebel, der ihm – dem damaligen amerikanischen Botschafter am französischen Hof – die Augen brennen ließ. Der Naturwissenschaftler vermutete, dass dieser vom Ausbruch des isländischen Vulkans Laki 1783 ausgelöst worden war, womit er auch richtig lag.15 Der mit der Kälte einhergehende Ausfall der Ernten und der Tod von Vieh in Nordamerika sowie in Europa ließ die Lebens­ mittelpreise stark ansteigen; die mangelhafte Nahrungsmittellage bildete wiederum den Nährboden für Demonstrationen, Aufstände und Kriminalität: »[D]ie Moral hat bei leerem Magen keine Chancen mehr. […] Die leidvollen Erfahrungen verursachten ein geistiges Beben und […] Moral und Weltanschauung wurde [sic] der härtesten Bewährungsprobe unterzogen.«16

Der Trost Gottes und … in der Not frisst der Teufel Schnecken Da sich den Sinn der Geschehnisse und der damit verbundenen Hungersnot keiner so recht erklären konnte, suchte man ihn in der Religion. Insbesondere in der Ostschweiz waren die Er­weckung der Religiosität und des Neopietismus als Antwort auf die Industrialisierung und den dadurch herbeigeführten lasterhaften Lebenswandel von lang anhaltender Wirkung. Der Autor Louis Specker ist der Ansicht, dass diese neu gefundene tiefe Religiosität Globale Erschütterungen © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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eine Rebellion gegen die Regierung in den Zeiten des Hungers verhinderte.17 In der Gazette de Lausanne reagierte man auf die Hungersnot mit apokalyptischen Vorhersagen, gab das Ende der Welt für den 18.  Juli 1816 bekannt und brachte eine Schrift mit dem Titel Détails sur la fin du monde heraus. Doch ausgerechnet der 18. Juli brachte zum ersten Mal seit langem wieder Sonnenschein und klarblauen Himmel.18 Der Züricher Historiker Johann Jakob Hottinger wiederum, ein Kritiker der Aufklärung sowie des aufkommenden Industrialismus, machte »ausländische Torheiten« wie die französische Revolution, die von Gott bestraft würden, für die Katastrophe verantwortlich.19 Und obwohl Gott mit den Menschen so hart ins Gericht ging, suchten sie Trost bei ihm und zeigten Dankbarkeit für das Wenige, was ihnen noch blieb. Der Hunger sollte sie mahnen und ein Denkmal setzen, um den Menschen zu vermitteln, dass Essen aus Dankbarkeit zu Gott verdient werden müsse. Durch die volkstümlichen Hungerandenken »sollte das Unerhörte und so schwer Fassbare für alle Zeiten aufbewahrt werden.«20 Diese Andenken wurden in den unterschiedlichsten Formen und einfallsreichen Varianten erstellt: Neben Hungertalern und Gedenkmünzen waren auch Schachteln oder Schaukästen mit Hungerbrötchen und beigefügten Zeitungsausschnitten oder Bibelsprüchen verbreitet; das Psalmenwort »Wer weise ist, behalte dieses und lerne daraus, den Ernst und die Güte Gottes verstehen« (Psalm 107, Vers 43) war ein besonders beliebtes Zitat. Doch auch die Erinnerung an vergangenes Unheil verblasst mit der Zeit oder die Andenken werden bewusst beseitigt, was uns in einer Szene im 1854/55 von Gottfried Keller verfassten Roman Der grüne Heinrich vor Augen geführt wird: Eine Gedächtnistafel der Teuerung von 1817 wird feierlich zugunsten eines selbst gemalten Bildes von der Wand genommen: »Es ist endlich Zeit, dass wir dies traurige Denkmal von der Wand nehmen […]. Wir wollen es zu anderen verschollenen und verborgenen Denkzeichen legen.«21 In der Realität dauerte es sogar bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts, als das Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit die Leute die schlechten Zeiten vergessen ließ, dass die Hungerandenken aus den Haushalten verschwanden. Obwohl das 19. Jahrhundert allgemein als vom Fortschrittsgedanken und der Abkehr von der Religion geprägt beschrieben werden kann22, führte die Hungerkatastrophe also zunächst wieder zum Aufflammen eines verblassenden religiösen Weltbilds. 280

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Abb. 1: Herisauer Hungertäfeli 1817. Quelle: Kantonsbibliothek Appenzell Ausser­rhoden, KB-015012/123

Doch auch andere Zeugnisse, weniger religiöser als praktischer Natur, lassen an die Hungersnot erinnern. Es wurden Anleitungen zur Brotzubereitung aus Holz verteilt und Behörden wie die Naturforschende Gesellschaft in Zürich veröffentlichten Anleitungen für weitere Notnahrung: Brunnen- und Steinkresse sowie Sauerampfer und wilde Rüben seien bedenkenlos essbar; es folgten Rezepte zur Zubereitung von Schnecken, Fröschen und Katzen.23 Trotz dieser wohlmeinenden Ratschläge löste die Hungersnot Flüchtlingsströme aus europäischen Ländern in Richtung Amerika und Russland aus, insbesondere aus der Schweiz und aus Deutschland, die von der Hungersnot besonders hart getroffen wurden. Wegen überfüllter Überseeschiffe kamen jedoch viele nicht bis nach Amerika, und die Flucht nach Russland versuchte der russische Zar Alexander I. durch großzügige Geld- und Getreidespenden zu verhindern. Doch wer es über den großen Teich schaffte, stellte schnell fest, dass sich auch jenseits des Atlantiks, im Osten der USA, wo das Jahr 1816 den Spitznamen »Eighteen hundred and frozen to death« erhielt, der Hunger breit machte Globale Erschütterungen © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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und den Zug der Menschen in westlichere Gebiete wie Ohio beschleunigte.24

Aus der Not geboren Die Krisenjahre riefen nicht nur religiöse, wirtschaftliche und gesellschaftspolitische Bewegungen hervor, sondern auch neues soziales Engagement, aus dem bis heute bestehende Einrichtungen entstanden, die man jedoch in der Regel nicht mehr mit der Hungerkatastrophe in Verbindung bringt. Nicht selten waren es adelige Frauen, die durch ihr Engagement bisweilen nicht unerheblich an lokal- oder gar weltpolitischem Einfluss gewannen. Die Gründung der landwirtschaftlichen Unterrichtsanstalt beispielsweise, die Centralstelle des landwirtschaftlichen Vereins, aus der die Universität Hohenheim entstand, die bis heute einen weltweit hervorragenden Ruf im Bereich der Agrarwissenschaften inne hat, ist der Gattin des württembergischen Königs Wilhelm I., Katharina, zu verdanken. Die Institution begründete mit dem Ankauf von Vieh aus dem Ausland eine neue Viehzucht und sollte die nach den napoleonischen Kriegen und der Hungersnot geschädigte Wirtschaft wieder ankurbeln – ein gelungener Versuch, wie auch das bis auf den heutigen Tag in Stuttgart gefeierte Cannstatter Volksfest zeigt, das auf das Gründungsfest der neuen Einrichtung 1818 zurückgeht. Königin Katharinas soziales Engagement erstreckte sich weiterhin auf die Gründung des Katharinenhospitals und der Württembergischen Landessparkasse im Jahr 1818 sowie auf die Einrichtung von Wohltätigkeitsvereinen, die teilweise sogar aus dem Privatvermögen des Königspaars finanziert wurden, und fand ihren Höhepunkt in der Einrichtung einer Armenkommission des Innenministeriums. Aus der Armut des Hungerjahres 1816 resultierten auch zahlreiche Erfindungen. Für den damals 13-jährigen Chemiker Justus von Liebig bedeutete das Krisenjahr den Anstoß für seine Beschäftigung mit der Mineraldüngung, die die Ernte sehr viel ertrag­ reicher machen sollte. Seine These, dass entgegen den herkömmlichen Stoffen wie Mist oder Gülle auch anorganische Stoffe den Pflanzen Nährstoffe liefern können, ermöglichte die industrielle Herstellung von Düngemitteln. Diese Neuerung wurde allerdings erst in den 1840er-Jahren in seinem Werk Die organische Chemie 282

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in ihrer Anwendung auf Agricultur und Physiologie schriftlich niedergelegt.25 Karl Drais wiederum erfand eine »zweirädrige Laufmaschine«, die Draisine, oder auch Veloziped genannt, den Vorläufer des heutigen Fahrrads. Aufgrund der Praktikabilität und der billigen Herstellung – billiger als Pferde (die oft in der Not geschlachtet werden mussten) und Kutschen – eroberte sie schnell die Herzen des einfachen Volkes. Doch kaum jemand erinnert sich noch an den »apokalyptischen« Ursprung des Drahtesels, es sei denn, man hat den Artikel mit dem Titel »Die apokalyptischen Draisinenreiter« in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom April 2010 gelesen, denn auch wenn die Erfindung zwischenzeitlich an Popularität einbüßte, als sich die Wirtschaftslage im Herbst 1817 besserte, so »[fuhr] in Form des Fahrrads Drais’ Erfindung dann trotzdem um die Welt  – und bahnte Motorrad, Automobil und Aeroplan den Weg.«26

Der unsterbliche Staub des Tambora Neben dem Erfindungsgeist profitierten auch Kunst und Literatur von der Krise – sofern man in dieser Zeit von Profit sprechen kann. So wird vermutet, dass der britische Maler William Turner, dessen Bilder vielfach dramatische Szenen aus der Natur zum Thema haben, von den durch den Tambora-Staub verursachten farbenreichen Sonnenuntergängen inspiriert wurde.27 Sicherlich waren es auch seine Reisen in den Süden, besonders die nach Italien, die seine Wahrnehmung und Wiedergabe des Lichts in seiner Malerei beeinflusst haben.28 Turners große Begeisterung für Licht und Wetter wie auch die Menge der entstandenen Sonnenuntergangsbilder aus der Zeit nach dem Tambora-Ausbruch lassen darauf schließen, dass er tatsächlich auch von den daraus resultierenden Änderungen der Atmosphäre zu seinen Werken angeregt wurde.29 Das starke Gewicht, das Turners Stil in der Kunstgeschichte zugemessen wird, macht daher indirekt die Geschichtsträchtigkeit von Klimakatastrophen deutlich, wenn man denn tatsächlich den Tambora als Ursache von Turners Darstellungen des Lichts betrachten möchte: »Seine Lichtmalerei erscheint nun als Vorbote des Impressionismus, die außergewöhnlichen Farben als Inspiration für die Symbolisten, und die zunehmende Lösung von der Globale Erschütterungen © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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Materie lässt ihn gar an den Rand der Abstraktion vorrücken.«30 Seine Gemälde schaffen es bis heute in die Ausstellungsräume renommierter Museen und machen diese so zu Erinnerungsräumen. Kaum einer würde heute Frankenstein mit dem Krisenjahr 1816 in Verbindung bringen. Und doch: »Was Mary Shelley damals schrieb, inspiriert von der allgegenwärtigen Tristesse von Tamboras Staub, das war die unsterbliche Geistergeschichte ›Frankenstein‹.«31 Die Autorin selbst beschrieb die Inspiration zu diesem Buch als Ergebnis eines kalten, verregneten Urlaubs am Genfer See, in dem im Kreise von Freunden am Kamin alte Bücher, da­ runter Geistergeschichten, vorgelesen wurden. Überhaupt war der am Kamin versammelte Freundeskreis eine ergiebige Quelle literarischen und dichterischen Reichtums: Während der Arzt John Polidori für seine Erzählung Der Vampyr bekannt wurde, ließ sich der Dichter Lord Byron von dem trüben Wetter zu seinem Gedicht Darkness inspirieren: I had a dream, which was not all a dream The bright sun was extinguish’d, and the stars Did wander darkling in the eternal space, Rayless, and pathless, and the icy earth Swung blind and blackening in the moonless air […].32

Und wüsste man es nicht besser, so könnte man meinen, dass auch Friedrich Schiller vom Anblick des Tambora-Ausbruchs zu seinem berühmten Gedicht Das Lied von der Glocke inspiriert wurde, das allerdings bereits 16 Jahre vor dem Tambora-Ausbruch entstand: »Roth [sic], wie Blut, ist der Himmel […] Flackernd steigt die Feuersäule, […] kochend, wie aus Ofens Rachen, Glühn [sic] die Lüfte […].«33

»Das Pompeij des Ostens« Der Zeitreise des eingangs erwähnten isländischen Forschers entstieg ein verloren geglaubtes Königreich wie Phönix aus einer drei Meter dicken Ascheschicht. Ausgrabungsfunde wie Haus- oder Knochenreste sowie Bronzeschalen, Keramiktöpfe und Werkzeug lassen auf eine Dorfgemeinschaft schließen, die dem Königreich Tambora angehörte. »Es gibt Hinweise, dass Tambora das Pompeij des Ostens sein könnte«, sich also unter der Ascheschicht 284

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ein gut erhaltenes, kulturell vielfältiges System befindet.34 Die versunkene Tambora-Kultur wird mit den heutigen Grabungs­arbeiten wieder zu einem lokalen Erinnerungsort, dessen Fund­stücke wie die vermutlich der Mon-Khmer-Sprachengruppe zuzuordnenden Schriftzeichen oder die noch unter der Asche vermuteten Paläste zu lokalen Symbolen und Denkmälern werden, die Neugierige und Forscher anlocken werden. Für Indonesien bedeutet ein solcher Erinnerungsort heutzutage auch einen Aufschwung in der Tourismusbranche und gewinnt damit andere Konnotationen als noch im frühen 19. Jahrhundert, als der Ort respektvoll gemieden wurde bis man endlich »das Land von seinem Fluch erlöst, die bösen Geister gebannt [glaubte]. Das Unglück von 1815 werde nie wiederkehren, hoffte man.«35 Diese Hoffnung wurde leider 68 Jahre später mit dem gewaltigen Ausbruch des Krakatau zunichte gemacht. Das Land wurde wieder von einer folgenreichen Naturkatastrophe heimgesucht.

Entfesselter Krakatau Der Ausbruch des Krakatau, gelegen auf der gleichnamigen Insel in der Sundastraße zwischen Java und Sumatra, war in seiner Intensität und seinen Auswirkungen weitaus unbedeutender als die zuvor geschilderte zweitgrößte Eruption der Geschichte, jene des Tambora. Dennoch ist der Krakatau – ebenfalls ein Glied im gefährlichen pazifischen Feuergürtel – nach dem Mount Toba (Sumatra), dem Tambora, dem Taupo (Neuseeland)  und dem Katmai (Alaska) immerhin der fünft-explosivste Vulkan der Erde. Es gibt Spekulationen, denen zufolge er schon im Jahre 535/36 durch einen Ausbruch für globale Umwälzungen gesorgt haben soll und neben Hungersnot und Völkerwanderung sogar das Ende des alten Persiens und der alten südarabischen Kultur herbeigeführt haben soll.36 Dieser extremen Form des Klimadeterminismus sollte man kritisch begegnen, es gibt jedoch angesichts der Folgen des Krakatau-Ausbruchs 1883 Grund zur Annahme, dass ein noch gewaltigerer früherer Ausbruch dieses Vulkans gravierende globale Veränderungen nach sich gezogen haben könnte. Der Hauptberg der aus zwei weiteren Vulkaninseln bestehenden Inselgruppe wurde als Pulo Carcata (»pulau« (malaiisch) = Insel) in der Karte des Kartographen Lucas Janszoon W ­ aghenaer Globale Erschütterungen © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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1602 erstmals namentlich erwähnt. Sein Vorgänger war der als »Proto-Krakatau« bezeichnete Berg, der durch seinen Ausbruch im 6.  Jahrhundert einen Ring kleinerer Vulkane, darunter eben der Krakatau, hinterlassen haben soll.37 Der letzte Ausbruch in der Geschichte des Berges wurde 1680 überliefert, doch geriet er als Vulkan mehr und mehr in Vergessenheit und die Insel wurde eine Zeit lang als Strafkolonie genutzt. Nach seinem 203 Jahre währenden Schlummer begann seine Aktivität erst wieder am 20. Mai 1883 und fand seinen Höhepunkt in der großen Katastrophe im August desselben Jahres. Die Eruptionen kulminierten in der plinianischen Phase am 26. August mit enormen Bimssteinund Ascheablagerungen pyroklastischer Ströme, die mit 160 km/h über das Meer bis in die Küstengebiete Sumatras vorpreschten. Die Unwirklichkeit der Ereignisse wird im Bericht eines holländischen Überlebenden deutlich, der an der Küste Sumatras lebte: »No human tongue could tell what happened. I think hell is the only word applicable […].«38 Wie beim Tambora endete der Ausbruch auch hier mit dem Zusammenbruch der Caldera39 am 27. August 1883; der Großteil der vorher 2000 Meter in die Höhe ragenden Insel war nach der Ex­ plosion verschwunden. Noch auf der nahe Mauritius gelegenen Insel Rodriguez (4700 km von Krakatau entfernt) war der Knall dieser Explosion zu hören, die auf dem Volcanic Explosivity Index (VEI) die Stärke 6 erreichte. Mit der Energie einer Explosion, die die Hiroshima-Bombe etwa 5000-mal übertraf, wurde eine Gesteins- und Feuersäule ca. 80 km in die Höhe geschleudert. Der Kapitän des Schiffs Gouverneurgeneral Loudon, das sich in dieser Zeit der Küste Javas näherte, sprach von einer »Szene wie aus dem Jüngsten Gericht.«40 Der vulkanische Staub umkreiste die Erde noch weitere drei Jahre in der Stratosphäre, was zur Absorption von 13 % des Sonnenlichts und damit zu einer um 0,5 bis 0,8 Grad kälteren Jahresdurchschnittstemperatur führte. Die entstandenen Bimssteininseln, die zum Teil bis an die Küsten Südafrikas getrieben worden waren, bildeten eine »Art Arche Noah« und trugen indonesische Pflanzen- und Tierarten an ferne Ufer.41 Die globalen Folgen waren also ähnlich wie beim Ausbruch des Tambora unübersehbar und direkt fühlbar. Die meisten der 36.000 Todesopfer gehen zurück auf die insgesamt neun Tsunamis, die zum Teil eine Höhe von 40 Metern erreichten und im Umkreis von 80 km an die 300 Küstenorte zer286

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störten. Nur wenige Menschen konnten sich noch in höhere Lagen in Sicherheit bringen; einer dieser wenigen berichtet: »As I clung to the palm-tree, […] there floated past the dead bodies of many a friend and neighbour. […] Unless you go yourself to see the ruin you will never believe how completely the place has been swept away.«42 Die durch den Vulkanausbruch entstandenen Flutwellen setzten sich über den gesamten Erdball fort und waren in Mauritius, den Seychellen, an der Küste Südafrikas sowie auf den Pazifischen Inseln noch am selben Tag spürbar. Diese Flutwellen, an die man sich nach den Tsunamikatastrophen 2004 an den Küsten Indonesiens und Thailands und 2011 in Japan besonders erinnerte (in beiden Fällen waren starke Erdbeben die Ursache), unterscheidet den Ausbruch des Krakatau von fast allen Vulkanausbrüchen der Erde. Der Vulkan, der nach seinem Ausbruch  – wie man glaubte  – nicht mehr existierte, wurde nicht aus dem Gedächtnis der Menschen gelöscht. Nachdem der Krakatau sich 1883 zu einem großen Teil selbst zerstört hatte und man sich zunächst von einer von ihm ausgehenden Gefahr befreit glaubte, bedeutete das Ende des alten Vulkans den Beginn eines Neuen: Anak Krakatau (malaiisch = Kind des Krakatau) machte sich zunächst 1927 mit einer Eruption unter der Wasseroberfläche bemerkbar. Seitdem wächst er jährlich um mehrere Meter und hat inzwischen eine Höhe von 450 Metern erreicht. Der Berg, der seitdem schon vier signifikante Ausbrüche hinter sich hat, steht unter ständiger Beobachtung durch den Vulcanological Survey of Indonesia.43 Man kann annehmen, dass die Lebenszeit dieses Vulkans unsere Erinnerung an seine Ausbrüche bei weitem überschreiten wird.

Der Medienvulkan Der große Unterschied zum Ausbruch des Tambora 1815 ist die Rezeption des Krakatau-Ausbruchs auf globaler Ebene, durch die der Eruption des Krakatau trotz geringerer Intensität größere Berühmtheit zuteil wurde. Bereits im Mai 1883 werden die Leser der Londoner Times von einem Vulkanausbruch im fernen Niederländisch-Ostindien unterrichtet. Seit 1870 funktionierte die Kabelverbindung der in Vorder- bzw. Hinterindien eingeführten elek­trischen (Untersee-)Telegrafie nahezu lückenlos. Diese TechGlobale Erschütterungen © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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nologie machte es den Menschen möglich, über ihren bisher begrenzten Horizont hinauszublicken und die Welt erschien durch die Medien in einem anderen Licht. Bestsellerautor Simon Winchester, der die Umstände und Folgen des Vulkanausbruchs in seinem Buch Krakatau spannend schildert, schreibt: »Es wäre nicht übertrieben zu behaupten, dass das global village [sic] in dem Augenblick entstand, als die ganze Welt mit Spannung wahrnahm und begriff, was im Sommer 1883 in Java vonstatten gegangen war.«44 Der Begriff global village wurde erst in den 60er-Jahren vom Medientheoretiker Marshall McLuhan geprägt. Diese Bedeutung der Medien ist heute besonders bei Katastrophen wie dem Terroranschlag am 11.  September 2001 oder den Tsunamis in Thailand/Indonesien und Japan zu beobachten, von denen der Fernsehzuschauer live Zeuge wurde und entsprechend mit den Menschen mitfühlte. Erst nach der Einführung der elektrischen Untersee-Telegrafie fand man Antworten auf die Umweltveränderungen von 1815 und setzte sie mit dem Ausbruch des Tambora in Beziehung. Mit der Erfindung der Telegrafie entstanden auch die ersten Nachrichtenagenturen, die für eine schnelle und günstigere Übermittlung von Nachrichten sorgten und so wuchs die Welt zu einer neuen »Bruderschaft der Wissenden« zusammen, was die Wahrnehmung und die Erinnerung von Naturkatastrophen auf dem gesamten Erdball veränderte.45 Aus dieser Medienentwicklung entstand ein kollektives Gedächtnis, das »nicht von der Geschichtswissenschaft, sondern von der erlebten Geschichte gespeist« wird.46 Die globale Aufmerksamkeit, die der Medienvulkan sofort innehatte, machte ihn zum berühmtesten Vulkan der Geschichte. Ähnlich hohes Medieninteresse errang erst wieder der Ausbruch des Mount St. Helens 1980 im US-Bundesstaat Washington. Die schnelle Verbreitung der Schreckensnachricht führte zu Hilfsaktionen, die erstmals globales Ausmaß annahmen. Der König der Niederlande, Wilhelm III., der sich um das Wohl seiner Landsleute in der holländischen Kolonie sorgte, veranlasste eine Sammlung von Lebensmitteln, Decken und Zelten; Hilfsfonds wurden ins Leben gerufen und freiwillige Helfer und Sanitäter machten sich sowohl aus ganz Südostasien als auch aus Europa auf den Weg in die Katastrophenregion. Vor Ort gab der berühmte amerikanische Great World Circus, der gerade im damaligen Batavia (heute Jakarta) gastierte, Benefizvorstellungen zugunsten der Opfer in der Region. 288

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Das Aufleben des Islam und der Anfang vom Ende der Kolonialherrschaft Die humanitäre Hilfe ging zum Teil mit religiöser Unterstützung einher. Aus dem damaligen Osmanischen Reich und der arabischen Halbinsel kamen Prediger, um den Angehörigen der Opfer und den Bewohnern zerstörter Dörfer beizustehen. Dies führte zu einer durchschlagenden Auswirkung des Vulkanausbruchs auf die religiösen Gefühle der Menschen in Indonesien: Das Wiederaufleben und die Ausbreitung des orthodoxen islamischen Glaubens, der bereits im 13. Jahrhundert von arabischen Händlern über Indien nach Sumatra gebracht worden war. Die Katastrophe ließ jetzt noch mehr Menschen von ihrem Glauben an javanische Gottheiten abkommen, was islamischen Predigern Tür und Tor öffnete, um die Herzen und Gemüter der Menschen für sich zu gewinnen; so ging der Blick vieler traumatisierter Menschen gen Mekka, um Trost im islamischen Glauben zu finden. Man heftete seine Hoffnung unter anderem an einen damals besonders populären islamischen Gelehrten, Abdul Karim, der apokalyptische Vorstellungen mit messianischen Gedanken und dem alten javanischen Volksglauben verknüpfte. Nach letzterem, der sich aus den Mythen und den Legenden der Ahnen speist und der das Natur­ereignis für die Javaner wie das des Tambora-Ausbruchs vorhersehbar erscheinen ließ, bläst der javanische Gott und Berggeist Orang Alijeh Schwefel aus seinen Nüstern in Richtung Osten, »wenn in seinem Reich nicht alles zum Besten steht.«47 Im islamischen Volksglauben hingegen kämpft der von Allah auserwählte Mahdi vor dem Jüngsten Gericht gegen Ungläubigkeit und Unrecht. Er führt die islamische Gemeinschaft bis zum Anbruch der Endzeit, die von Naturkatastrophen und Seuchen begleitet wird. Diese Mischung aus dem javanischen Glauben, demgemäß Naturkatastrophen die Folge schlechter Herrschaftsführung sind, und dem traditionell islamischen Volksglauben an die messianische Figur des Mahdi führte letztlich zu politischen Konsequenzen gegen Fremdherrschaft und Unrecht: Die Auflehnung gegen die holländische Kolonialherrschaft, die 1888 im blutigen Bauernaufstand von Banten einen Höhepunkt erfuhr, auch wenn dieser von den Holländern recht schnell gewaltsam niedergeschlagen wurde. Dieses Ereignis wird von einem Augenzeugen, R. A. van Sandick, in einem Globale Erschütterungen © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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kleinen Buch Leed en Lief uit Bantam (Leid und Leben in Banten) festgehalten.48 Ein weiterer Auslöser für die Unruhen setzte schon 20 Jahre zuvor aus den eigenen Reihen der Kolonialherren den Grundstein für die Auflehnung gegen die Regierung: Ein holländischer Statthalter namens Eduard Douwes Dekker deckte unter dem Pseudonym Multatuli in einem Buch, das 1860 als Novelle mit dem Titel Max Havelaar erschien, Misswirtschaft, Korruption, Morde und Misshandlung seitens der holländischen Kolonialregierung auf.49 Aber erst der Vulkanausbruch löste eine kurzlebige Bewegung aus, die »die politische Ordnung in Ostindien für alle Zeiten prägte.«50 Kann dem Vulkan daher eine politische Rolle zugeschrieben werden? Ist dieses Ereignis der Anfang vom Ende der Kolonialherrschaft und der Anfang der Erfolgsgeschichte des Islam in Indonesien? Dass der Ausbruch des Krakatau maßgeblich zum Ende der Kolonialherrschaft beigetragen hat, davon ist zumindest Simon Winchester überzeugt. Abdul Karim bot sich als charismatischer Führer der antikolonialistischen Bewegung an und verfügte über eine große islamische Anhängerschaft. Er nutzte die Situation nach dem Vulkanausbruch für seine Zwecke und wusste, den Islam für sich zu instrumentalisieren. Die vorhergesagten Ereignisse, die die Endzeit einläuten sollten, waren eingetreten: Überschwemmungen, Ascheregen, der Tod von Mensch und Vieh. Warum also sollte man nicht gegen diese Zustände kämpfen? Doch der Unmut gegen die holländische Regierung hatte auch andere Wurzeln und die Auslöser für den Aufstand in Banten 1888 waren hauptsächlich die neu eingeführten Steuer- und Dienstpflichterhöhungen durch die Verwaltung.51 Die Umstände boten also beste Voraussetzungen für einen Religionsführer, der seine Beliebtheit beim indigenen Volk gegen die weiße Kolonialregierung einzusetzen versuchte. Zur Erfolgsgeschichte des Islam bleibt festzustellen: Trotz der schnellen Ausbreitung dieser Religion in Indonesien setzen sich bis heute traditionelle oder hinduistische Riten und Bräuche durch, insbesondere den Umgang mit der ständig lauernden Gefahr der vielen Vulkane auf dem Inselstaat betreffend. Noch heute bringen javanische Stämme Opfergaben wie Früchte und Gemüse, aber auch lebende Tiere an den Kraterrand ihrer Vulkane, um die Berggötter zu besänftigen. Diesem Brauch folgt beispielsweise das jährliche, auf das 15. Jahrhundert zurückgehende hinduistische Yadnya Kasada Festival auf dem nach wie vor aktiven Vulkan Bromo auf Java. 290

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Neben den politischen und religiösen Auswirkungen des gewaltigen Vulkanausbruchs auf Krakatau sind auch diejenigen auf die Wissenschaft und die Kunst nicht zu vernachlässigen.

Wissenschaftliches Neuland Durch neue Erkenntnisse über die physikalischen und geologischen Vorgänge während eines Vulkanausbruchs brachte der Krakatau-Ausbruch zum ersten Mal ein Bewusstsein für die globalen Ausmaße eines solchen Naturereignisses sowie für das Zusammenspiel von Erde, Meer und Atmosphäre mit sich. Daraus entstanden erste wichtige Schriftzeugnisse der Vulkanologie. In einer der wohl ausführlichsten Dokumentationen eines Vulkanausbruchs werden über die geologischen Vorgänge hinaus auch persön­liche Erfahrungen von Augenzeugen erstmals systematisch erfasst: 1884 veranlasste die Royal Society die Einberufung eines Komitees zur Dokumentation der globalen Auswirkungen des Krakatau-Ausbruchs. Aus dieser bedeutenden Sammlung entstand ein an die 500 Seiten umfassendes Werk mit kunstvollen Graphiken und Zeichnungen, das Winchester als »Meisterwerk des Forschergeistes, des Stils und des viktorianischen Elans« bezeichnet.52 Ein weiterer Meilenstein in der Geschichte der Vulkanologie ist Rogier Diederik Marius Verbeek’s Journal Krakatau, das 1884/85 herausgegeben wurde und die einzige aus erster Hand überlieferte wissenschaftliche Quelle über den Ausbruch des Krakatau ist. Dieses Werk stellt eine 546-seitige Studie dar, die die globale Dimension des Ausbruchs sowie seine Bedeutung für diverse wissenschaftliche Disziplinen betont. Die Erkenntnisse des international anerkannten niederländischen Geologen (ursprünglich Bergbauingenieur) trugen wesentlich zum Kenntnisstand der Vulkanologie bei und er gilt daher auch als »pioneer of modern [sic] volcanology«.53 In der Einleitung zu seiner Monografie bezeichnet Verbeek den Ausbruch des Krakatau als »l’évènement, sinon le plus grand, au moins le plus intéressant de notre siècle, et même l’éruption la plus remarquable dont l’humanité ait été ­témoin jusqu’à ce jour.«54 Er räumt zwar dem Ausbruch des Tambora eine ähnliche Bedeutung ein, aber aufgrund der damals noch nicht vorhandenen Messinstrumente spielte jener für neue wissenschaftliche Erkenntnisse eine geringere Rolle. Verbeek betrachtete den Globale Erschütterungen © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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Ausbruch des Krakatau im engeren Kontext mit globaler Plattentektonik und setzte die sich im gleichen Jahr ereignenden Erdbeben in Australien, in Ecuador und El Salvador sowie den Ausbruch des Mount St. Augustine in Alaska mit dem des Krakatau in Verbindung. Des Weiteren hat man nicht nur tektonische Bewegungen auf der Erde, sondern auch Veränderungen im Kosmos wie die Verfärbungen des Himmels, der Sonne und des Mondes erstmals mit vulkanischen Eruptionen in Zusammenhang gebracht; eine weitere neue Erkenntnis war, dass sich mit Hilfe der Geschwindigkeit der Tsunamis, die schon seit den 1860er-Jahren wissenschaftlich untersucht worden waren, die Tiefe des Meeres berechnen ließ. Das Phänomen der Verschmelzung der ozeanischen und kontinentalen Materialien in der Subduktionszone verstand man allerdings erst ein Jahrhundert später. Auch zur Bestätigung einer späteren Theorie über die Beziehung zwischen Vulkanismus und Klima, die der Direktor des Astrophysischen Observatoriums der Smithsonian Institution, C. G. Abbot, Anfang des 20.  Jahrhunderts vertrat, trug der Ausbruch des Krakatau maßgeblich bei.55 In der Biologie wiederum interessierte jetzt die Frage, wie auf einer völlig verbrannten, verwüsteten Insel, einer »Art biologischer Tabula rasa« wieder Leben entstehen konnte, die sogenannte ­Krakatau-Frage.56 Was das Ende für viele Menschen und Tiere bedeutete, gestaltete sich für die Wissenschaft als Beginn eines neuen Blickwinkels auf die Erde. Das Leben auf Krakatau kehrte rasch zurück: Bereits nach sechs Monaten wurde eine winzige Spinne entdeckt. 40 Jahre nach der Eruption zählte man 621 Tierarten, darunter 100 Spinnenarten, auf Krakatau.57 Überlebten sie das Inferno oder waren es Zugereiste? Angeheizt wurde die internationale Diskussion von dem Wissenschaftler M. Treub, der in seinem Paper von 1888 Notice sur la nouvelle flore de Krakatau überzeugt war, dass unter der Ascheschicht von bis zu 60 Metern Dicke kein Lebewesen überlebensfähig war.58 Obwohl sich zahlreiche Studien bis in die 1980er-Jahre mit der Frage auseinandersetzen, ist die Antwort bis heute nicht klar. Die meisten Wissenschaftler geben Treub Recht und gehen davon aus, dass die Insel von eingewanderten Arten bevölkert wird. Die spätere Entstehung des Anak ­Krakatau bot den Biologen die Möglichkeit, den Aufbau eines neuen Ökosystems zu beobachten. So lieferten der Krakatau und sein spektakulärer Ausbruch im wahrsten Sinne des Wortes wissenschaftliches Neuland. 292

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Die Metamorphose: Wie die Katastrophe zum Kunstwerk wurde Nicht nur Wissenschaftler verfolgten die Auswirkungen des Krakatau-Ausbruchs und gewannen hieraus neue Kenntnisse, ja ihnen ging förmlich ein Licht auf in vielen naturwissenschaftlichen Fragen. Ähnlich reagierte auf das Naturereignis die Kunst: Die durch den Ausbruch hervorgerufenen Änderungen der Lichtverhältnisse wurden in zeitgenössischen Gemälden festgehalten – hier ging das Licht allerdings meist in Form von spektakulären Sonnenauf- oder Sonnenuntergängen auf. Die Metamorphose der dunklen Aschewolke zu einem Himmelsspektakel, das zu unvergesslichen Kunstwerken inspirierte, beschrieb der amerikanische Geologe Nathaniel Shaler als »the most remarkable and picturesque accident to the earth’s physical life that has been known with the limits of recorded history.«59 Obwohl die Auswirkungen auf die Himmelsbeleuchtung nach dem Ausbruch des Tambora sehr viel kräftiger gewesen sein müssten, sorgte unter anderem der zinnober- und kaminrot verfärbte Himmel nach dem Krakatau-Ausbruch für dessen Berühmtheit. Oft wurden die Analogien des Feuers oder der Feuersbrunst verwendet und so manches Mal wurde tatsächlich die Feuerwehr fälschlich alarmiert, da man am Horizont einen großen Brand vermutete. Sowohl der amerikanische Maler Frederic Edwin Church, ein Mitglied der Hudson River School, wurde durch solch feuerbrunstartige Phänomene inspiriert als auch der englische Maler William Ashcroft an der Themse. Ersterer legte als Ergebnis sein Meisterwerk Sunset over the Ice on Chaumont Bay, Lake Ontario vor; letzterer dokumentierte in mehr als 500 Werken die besonders eindringlichen Lichteffekte in London, die von farbenfrohen Sonnenuntergängen, blau-grünen Verfärbungen des Mondes bis hin zu weißen Sonnenkronen kurz vor dem Sonnenuntergang reichten; heute schlummern diese Bilder allerdings vergessen im Keller des Natural History Museum in London. Mehr Glück hat der amerikanische Aquarellmaler Charles Parsons, dem 1990 sogar eine Ausstellung mit dem Titel Charles Parsons: Krakatoa im international renommierten Mont­ clair Art Museum in New Jersey gewidmet wurde. Das wohl berühmteste Gemälde, das oft – womöglich übertriebener Weise  – auf die Himmelsverfärbungen nach dem August Globale Erschütterungen © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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1883 im damaligen Christiania, heute Oslo, zurückgeführt wird, ist Der Schrei von Edvard Munch; in seinem Tagebuch beschreibt er erst 1892 im Zusammenhang mit dem Gemälde einen Spaziergang, den er schon 1883/4 gemacht haben soll: »[C]louds like blood and tongues of fire hung above the blue-black fjord and the city. […] I felt a great, unending scream piercing through nature.«60 Die Theorie, dass Der Schrei, der auch als Symbol des Existentialismus und des frühen Expressionismus gilt, von den durch den Krakatau verursachten Dämmerungslichtern inspiriert wurde, ist wissenschaftlich jedoch höchst umstritten. Auch in der Literatur wurden dem Ausbruch des Krakatau Denkmäler gesetzt. Der amerikanische Autor William Pène Du Bois schildert in seiner 1947 veröffentlichten Kindernovelle The Twenty-One Balloons Krakatau als eine utopische Gemeinschaft von 20 Familien, die von einer Diamantenmine leben.61 In diese Gemeinschaft wird der auf Krakatau gestrandete Protagonist aufgenommen, bis es schließlich zu der Katastrophe kommt. Der Explosion des Vulkans wollen die Anwohner mit einem von Ballons getragenen Floß entfliehen. Die Novelle geht unter anderem der Frage nach, wie man an einem Ort, der ständigen Naturgewalten ausgesetzt ist, glücklich werden kann bzw. wie man Naturgewalten entkommen kann. In seinem Dialog Krakatau, beschreibt der deutsche Schriftsteller Arno Schmidt die Geschehnisse des 27. August 1883, den er als einen Tag empfindet, »wohl wert, daß die Menschheit seiner gedenke […].«62 Auch in dem Band Batting Against Castro des amerikanischen Autors Jim Shepard spielt der Krakatau in der gleichnamigen Kurzgeschichte eine Rolle.63

Denkmal oder Sensationslust? Neben der Kunst und der Literatur spielt der Film im heutigen Medienzeitalter eine fast bedeutendere Rolle für die Erinnerung an ein Ereignis; möglicherweise wird das kollektive Gedächtnis durch »die Macht der Bilder«64 inzwischen sogar »gänzlich von Medien beherrscht«65. Die zunehmende Bedeutung der visuellen Medien im 20. Jahrhundert zog zweifellos einen starken Wandel der Katastrophenerinnerung nach sich. In Erinnerungsstätten ›moderner Katastrophen‹ wie dem Anschlag auf das World Trade Center oder dem Ausbruch des Mount St. Helens im Staat Washington 294

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1980 darf eine filmische Darstellung nicht mehr fehlen. Das ist eine Form des intensiven Erinnerns, für die die Sensationslust der Menschen jedoch auch eine Motivation ist. Die pure Sensationslust hingegen wurde in Vergnügungsparks der Jahrhundertwende wie dem auf Coney Island 1902 in New York geschürt, wo Katastrophen zur allgemeinen Unterhaltung nachgebildet wurden: Dort konnte man beispielsweise Zeuge der historischen Johnstown Flut von 1889 in den USA werden oder den verheerenden Ausbruch des Mont Pelé auf der westindischen Insel Martinique von 1902 miterleben. Das Erleben lebensbedrohlicher Situationen in einer sicheren Umgebung ermöglichte plötzlich eine neue Dimension der Anteilnahme. Durch die bildliche Auseinandersetzung mit Tod und Desaster verarbeiten wir das Wissen um unsere Sterblichkeit, durch die sowohl das Gedächtnis als auch die Werte der heutigen Gesellschaft geprägt werden. Die Dramatik des Krakatau-Ausbruchs bot sich für Verfilmungen geradezu an. Schon 1934 gewann Joe Rock mit seinem Dokumentarkurzfilm Krakatoa den Academy Award für die Kategorie Best Short Subject.66 1969 folgte dann der von Bernard Kowalski gedrehte Spielfilm Krakatoa: East of Java.67 Im BBC Dokudrama Krakatoa: The Last Days von 2006 wird die Katastrophe auf der Grundlage von Augenzeugenberichten und historischen Dokumenten geschildert; man kann sagen, dass das Ereignis mit Blick auf die persönliche Geschichte eines niederländischen Aufsehers, eines Leuchtturmwärters sowie eines Schiffskapitäns recht geschichtstreu dargestellt wird.68 In einem weiteren Dokudrama aus dem Jahr 2005 mit dem Titel Krakatoa rekonstruiert Jeremy Hall mit Hilfe von Computersimulationen den verheerenden Ausbruch und zeigt Parallelen zur Tsunamikatastrophe von 2004 auf.69 Die filmische Darstellung von Katastrophen verkörpert für die einen die Sensationslust der postmodernen Kultur, für die anderen erfüllt sie die moralische Pflicht, sich zu erinnern; ist der Film nun in der Lage, ein wahrhaftes, aufrichtiges Denkmal an den Ausbruch des Krakatau darzustellen oder dient er lediglich dazu, die Sensationsgier und den Katastrophendurst der Menschen zu stillen und die Kassen der Produktionsfirmen zu füllen? Es ist wohl eine Kombination aus beidem. Der Ort der Katastrophe ist mir nämlich aus persönlicher Anschauung vertraut. Während eines dreimonatigen Arbeitsaufenthalts in Jakarta fühlte auch ich mich von diesem historischen Ort magisch angezogen Globale Erschütterungen © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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und blickte von der Küste Javas zum rauchenden Schlot des Anak Krakatau. Der mächtige Berg faszinierte und beängstigte mich zugleich. Wenn man in dem von tausenden Menschen erlittenen Schicksal nach einem Sinn suchen will, dann ist es vielleicht gerade die mentale Wiederbelebung der Ereignisse durch Bücher und Filme. Indem wir die Erinnerung wach halten, können wir aus dem Erfahrenen lernen und uns durch entsprechende vorbeugende Maßnahmen vor weiteren Katastrophen schützen. Doch dies ist nicht die einzige Motivation. Der kommerzielle Aspekt spielte beim Krakatau-Ausbruch von Anfang an eine viel größere Rolle als beim Ausbruch des Tambora. Schon zur Zeit seines fatalen Ausbruchs 1883 fühlten sich die Menschen von der Gefahr des Krakatau angezogen und für die Netherlands Indies Steamship Company wurde dies zur Grundlage eines lukrativen Geschäfts. Das Angebot, mit einem Ausflugsschiff für 25 Gulden die mit Bimssteinen übersähte Insel zu betreten, stieß auf großes Interesse und so fuhren schon wenige Tage nach der ersten Eruption im Mai 1883 Dutzende von Passagieren mit dem Schiff zum dampfenden Krakatau und sanken an dessen Fuß in Asche ein.70 Bis heute spielt die Kommerzialisierung des Vulkans eine wichtige Rolle für den Tourismus in West Java. Es werden Touren angeboten, die bis an den Kraterrand des Anak Krakatau führen und die Geschäftsstrategie vieler Hotels konzentriert sich auf den Vulkantourismus. Die Insel ist Teil  des Schutzgebiets und Naturdenkmals des Ujung Kulon Nationalparks, der im Jahr seiner Gründung 1991 zugleich in die Liste des UNESCO Weltnaturerbes aufgenommen wurde. Ein Denkmal vor Ort wurde den beiden Katastrophen in Indonesien aber nicht gesetzt; das mag an der spezifischen Risikokultur der Indonesier liegen, die Naturkatastrophen nicht immer als Ausnahmesituation betrachten, da sie ihren Alltag prägen.71 Das einzige Mahnmal, das unwillentlich an die Katastrophe von Krakatau erinnert, sind die rostigen Überreste eines holländischen Dampfers mit dem bezeichnenden Namen Berouw (holländisch = Reue) sowie die steinernen Überreste des Leuchtturms in Anyer, dessen Wärter seine Familie im Sturm der Flutwellen verlor. Trotzdem erinnert man sich auch heute noch an die schrecklichen Ereignisse im Indonesien des 19. Jahrhunderts. Neben den filmischen Darstellungen spielen dabei die Printmedien eine zentrale Rolle. Im Zuge des Ausbruchs des indonesischen Vulkans 296

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Merapi im Oktober 2010 richteten die Medien ihr Augenmerk wieder auf den rauchenden Anak Krakatau, dessen »Schönheit und zugleich Bedrohlichkeit […] unvergesslich [sind]«.72 Eine der einschneidendsten Auswirkungen, die die Vulkane Krakatau und Tambora mit sich brachten, ist vielleicht unsere veränderte Perspektive auf die Umwelt und ihre Gewalten. Die globalen Wirkungen, die durch die Medienaufmerksamkeit, die insbesondere der Krakatau-Ausbruch genoss, noch verstärkt hervorgehoben wurden, führten u. a. auch zu jenen Diskussionen über ökologische Wechselwirkungen, die unsere Medien bis heute beherrschen und durch Ereignisse wie den Tsunami vor der Insel Sumatra 200473, den Ausbruch des isländischen Eyjafjallajökull 2010 und das große Beben in Japan 2011 erneut angekurbelt werden. Nach solch einschneidenden Ereignissen wie dem Erdbeben in Japan erinnert man sich zurück an jenen Tag des Krakatau­ ausbruchs im August 1883. Dass es sich um einen der geschichtsträchtigsten Vulkanausbrüche aller Zeiten handelt, zeigt ein Artikel vom 17.  März 2011 in Die Zeit mit folgendem Titel: »Vor Publikum. Der Ausbruch des Vulkans Krakatau am 27.  August 1883 gilt als erste Naturkatastrophe, die zu einem globalen Medienereignis wurde«.74 Wieder ist es auch in diesem Artikel nur der Krakatau, an den man sich erinnert; der Vulkan Tambora wird, obgleich ihm so viele Menschen zum Opfer fielen, nicht erwähnt. Durch die sinnvolle Eingliederung in die Geschichte würde der Sinnlosigkeit dieser willkürlich auftretenden Naturkatastrophen wieder ein gewisser Sinn verliehen. Vielleicht wird es dem eingangs erwähnten Professor Sigurdsson gelingen, seine Ausgrabungen am Tambora zu einem Erinnerungsort zu machen und dem Tambora dadurch die notwendige Aufmerksamkeit zuteil werden zu lassen. Vielleicht übernimmt aber auch ein weiterer Ausbruch diese Rolle.

Anmerkungen 1 Tom Simkin, Richard S. Fiske, Krakatau 1883. The Volcanic Eruption and its Effects, Washington, D. C. 1983, S. 9. 2 Arno Borst, Das Erdbeben von 1348. Ein historischer Beitrag zur Katastrophenforschung, in: Historische Zeitschrift 233 (1981), S.  529–569; S. 532. Globale Erschütterungen © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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3 Der Ursprung des Wortes Vulkan kommt aus dem antiken Rom, in dem der Gott des Feuers den Namen Vulcanus trug, der schon von den Etruskern übernommen worden war. 4 Unter einer plinianischen Eruption – benannt nach dem Beobachter des Vesuvausbruchs, Plinius dem Älteren  – versteht man außerordentlich explosive Vulkanausbrüche, die einen gewaltigen Ascheregen nach sich ziehen. 5 Richard B. Stothers, The Great Tambora Eruption in 1815 and Its Aftermath, in: Science 224, Nr. 4654 (1984), S. 1191. 6 Heinrich Zollinger, Besteigung des Vulkanes Tambora auf der Insel Sumbawa u. Schilderung der Erupzion desselben im J. 1815, Winterthur 1855. 7 Ebd., S. 8. 8 Donald Theodore Sanders, Jelle Zeilinga de Boer, Das Jahr ohne Sommer. Die großen Vulkanausbrüche der Menschheitsgeschichte und ihre Folgen, Essen 2004, S. 123. 9 J. T. Ross, Narrative of the Effects of the Eruption from the Tomboro Mountain in the Island of Sumbawa on the 11th and 12th of April 1815, in: Verhandelingen van het Bataviaasch Genootschap VIII (1816), S. 1–25. 10 Zollinger, Besteigung des Vulkanes Tambora, S. 13. 11 Vgl. Sanders, Das Jahr ohne Sommer, S. 131. 12 Ein erstmaliger Kälteeinbruch im Jahre 1601 wird mit dem Ausbruch des peruanischen Vulkans Huaynaputina im Jahre 1600 erklärt. 13 Vgl. Christian Pfister, Wetternachhersage. 500 Jahre Klimavariationen und Naturkatastrophen, Wien 1999, S. 155. 14 Vgl. Tobias Krüger, Die Entdeckung der Eiszeiten  – Internationale Rezeption und Konsequenzen für das Verständnis der Klimageschichte, Basel 2008, S. 117. 15 Vgl. Wolfgang Behringer, Kulturgeschichte des Klimas. Von der Eiszeit bis zur globalen Erwärmung, München 2007, S. 214. 16 Louis Specker, Die grosse Heimsuchung. Das Hungerjahr 1816/17 in der Ostschweiz, Rorschach 1995, S. 36. 17 Ebd., S.  40. Die Hungerunruhen blieben jedoch nicht aus; der Klima­ historiker Wolfgang Behringer bringt sie sogar mit der Einführung des sogenannten Frühkonstitutionalismus zwischen 1818 und 1820 in Kleinstaaten wie Baden, Bayern oder Württemberg in Zusammenhang. (Vgl. Behringer, Kulturgeschichte des Klimas, S. 218.). 18 Vgl. Hans Peter Treichler, Die bewegliche Wildnis. Biedermeier und ferner Westen, Zürich 1990, S. 35. 19 Specker, Die grosse Heimsuchung, S. 38. 20 Ebd., S. 44. 21 Gottfried Keller, Der grüne Heinrich, Stuttgart 1906, S. 253. 22 Beiträge wie der Olaf Blaschkes, »Das 19.  Jahrhundert: Ein Zweites Konfessionelles Zeitalter?«, in: Geschichte und Gesellschaft 26 (2000), S. 38–75; werden hier außer Acht gelassen. 23 Vgl. Treichler, Die bewegliche Wildnis, S. 33. 24 Sanders, Das Jahr ohne Sommer, S. 122.

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25 Justus von Liebig, Die organische Chemie in ihrer Anwendung auf Agricultur und Physiologie, Braunschweig 1840. 26 Hans-Erhard Lessing, Die apokalyptischen Draisinenreiter, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.4.2010, S. 9. 27 Vgl. Ian Thornton, Krakatau. The Destruction and Reassembly of an Island Ecosystem, Cambridge, Mass. 1996, S. 3. 28 Vgl. Katja Blomberg, Stefanie Stadel, William Turner  – Erfinder von Farbklängen und Bildräumen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (15.9. 2001), online verfügbar unter http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/aus stellung-william-turner-erfinder-von-farbklaengen-und-bildraeumen132188.html (zuletzt aufgerufen am 7.11.2011). 29 Über seine Begabung, das Wetter mit seinen Lichtverhältnissen auf der Leinwand wiederzugeben, sagte William Turner selbst »Atmosphäre ist mein Stil.« (Monika Wagner, William Turner, München 2011, S. 51). 30 Blomberg, William Turner, online verfügbar unter http://www.faz.net/ aktuell/feuilleton/ausstellung-william-turner-erfinder-von-farbklaengenund-bildraeumen-132188.html. 31 Sanders, Das Jahr ohne Sommer, S. 135. 32 François Walter, Katastrophen. Eine Kulturgeschichte vom 16.  bis ins 21. Jahrhundert, Stuttgart 2010, S. 95. 33 Friedrich Schiller, Das Lied von der Glocke, Marbach a.N. 1949, S. 16. 34 Prof. Sigurdsson, zitiert nach Forscher finden Pompeij des Ostens, in: Spiegel Online Wissenschaft (28.2.2006), online verfügbar unter http:// www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/0,1518,403491,00.html (zuletzt aufgerufen am 6.6.2010). 35 Zollinger, Besteigung des Vulkanes Tambora, S. 10. 36 Vgl. David Keys, Als die Sonne erlosch. 535 n. Chr.: Eine Naturkatastrophe verändert die Welt, München 1999, S. 15. 37 Vgl. Axel Tilemans, Das dunkle Zeitalter. Hat ein gewaltiger Vulkanausbruch die Kälteperiode im 6. Jahrhundert verursacht?, in: Bild der Wissenschaft (9.1.2001), online verfügbar unter http://www.wissenschaft.de/ wissenschaft/news/155579 (zuletzt aufgerufen am 22.6.2010). 38 Simkin, Krakatau 1883, S. 81. 39 Die Caldera (spanisch für Kessel) ist die Bezeichnung für den Krater eines Vulkans. Dabei wird zwischen den verschiedenen Ursachen, die eine Caldera entstehen lassen, unterschieden: Es gibt Calderen, die durch explosive Ausbrüche entstehen und Calderen, die durch den durch einen Ausbruch verursachten Einsturz oberflächennaher Magmakammern eines Zentralvulkans entstehen. 40 Bernhard Mackowiak, Naturkatastrophen. Die entfesselten Gewalten der Erde, Stuttgart 1997, S. 14. 41 Simon Winchester, Krakatau. Der Tag an dem die Welt zerbrach. 27. August 1883, München 2003, S. 162. 42 Simkin, Krakatau 1883, S. 73. 43 Das Volcanological Survey of Indonesia (VSI) wurde 1920 etabliert; ein Jahr nach dem Ausbruch des Mount Kelud in Indonesien, der mehr als Globale Erschütterungen © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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5000 Menschen das Leben kostete. Das VSI ist heute dem Ministerium für Energie und Bergbau untergeordnet. Winchester, Krakatau, S. 171 f. Ebd., S. 15. Christoph Vatter, Gedächtnismedium Film. Holocaust und Kollaboration in deutschen und französischen Spielfilmen seit 1945, Würzburg 2009, S. 21. Winchester, Krakatau, S. 52. R. A. van Sandick, Leed en Lief uit Bantam, Zutphen 1893. Eduard Douwes Dekker, Max Havelaar of de koffij-veilingen der Nederlandsche Handel-Maatschappij door Multatuli, Amsterdam 1860. Winchester, Krakatau, S. 302. Vgl. Steven Wedema, »Ethiek« und Macht. Die niederländisch-indische Kolonialverwaltung und indonesische Emanzipationsbestrebungen 1901–1927, Stuttgart 1998, S. 89. Winchester, Krakatau, S. 245. Vgl. Thornton, Krakatau, S. 4. Rogier Diederik Marius Verbeek, Krakatau. Batavia 1886, S. II. »Volcanoes affect Climate«, in: New York Times (26.12.1913), S.  4, online verfügbar unter http://query.nytimes.com/mem/archive-free/pdf?res =F30A15FD345F13738DDDAF0A94DA415B838DF1D3 (zuletzt aufgerufen am 3.4.2011). Sanders, Das Jahr ohne Sommer, S. 157. Vgl. Winchester, Krakatau, S. 318. M. Treub, Notice sur la nouvelle flore de Krakatau, in: Annales du Jardin Botanique de Buitenzorg 7 (1888), S. 213–223. The Red Sunsets, in: The Atlantic Monthly 53, Nr.  318 (April 1884), S.  475–482, online verfügbar unter http://www.theatlantic.com/past/ docs/issues/1884sep/sturdy.htm (zuletzt aufgerufen am 26.6.2010). Donald W. Olson, Russell L. Doescher, Marilynn S.  Olson, The BloodRed Sky of the Scream, in: APS News (American Physical Society) 13, Nr.  5 (2004), online verfügbar unter http://www.aps.org/publications/ apsnews/200405/backpage.cfm (zuletzt aufgerufen am 14.3.2011). William Pène Du Bois, The Twenty-One Balloons, New York 1947. Arno Schmidt, Krakatau, in: Bargfelder Ausgabe/2,2,1 Dialoge, Zürich 1990, S. 97. Jim Shepard, Krakatau, in: Batting Against Castro, New York 1996. Klaus Brill, Tragische Erinnerungsorte, in: Süddeutsche Zeitung 125 (4.6.2010), S. 12. Patrick Schmidt, »Zwischen Medien und Topoï: Die Lieux de mémoire und die Medialität des kulturellen Gedächtnisses.«, in: Astrid Erll, Ansgar Nünning (Hg.), Medien des kollektiven Gedächtnisses. Konstruktivität  – Historizität  – Kulturspezifität, Berlin und New York 2004, S. 33. Joe Rock (Regie), Krakatoa (Film), USA 1933. Bernard L. Kowalski (Regie), Krakatoa. East of Java (Film), USA 1969.

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68 Sam Miller (Regie), Krakatoa. The Last Days (Film), Großbritannien 2006. 69 Jeremy Hall (Regie), Krakatoa (Film), USA 2005. 70 Ein Gulden entsprach damals dem Wert von 1,69 deutschen Mark. 71 Diese Einstellung ist keineswegs zwangsläufig ein Defizit. Zur spezifischen Risikokultur auf den benachbarten Philippinen siehe Greg Bankoff, Cultures of Disaster. Society and Natural Hazard in the Philippines, London, New York 2003. 72 Winchester, Krakatau, S. 328. 73 Hier stand Thailand aufgrund des dortigen Massentourismus im Zentrum der Medienaufmerksamkeit, obwohl Indonesien sehr viel mehr Todesopfer zu beklagen hatte. 74 Stefan Schmitt, »Vor Publikum. Der Ausbruch des Vulkans Krakatau am 27.  August 1883 gilt als erste Naturkatastrophe, die zu einem globalen Medienereignis wurde«, in: Die Zeit, 17.3.2011, S. 38.

Globale Erschütterungen © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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Frank Uekötter, Sarah Waltenberger

Erinnerungsorte im Internet Ein Erfahrungsbericht

Der vorliegende Band ist nicht das einzige Produkt, das aus dem Forschungsprojekt »Umwelt und Erinnerung« des Rachel C ­ arson Centers hervorgegangen ist. Neben Vorträgen und weiteren Veröffentlichungen1 ist vor allem das Online-Angebot »Ökologische Erinnerungsorte« hervorzuheben, das unter http://www.umwelt underinnerung.de/ jedem Internetbesucher zur Verfügung steht. Diese Website ging nach intensiven Vorbereitungen im November 2011 online und umfasst zum Zeitpunkt der Drucklegung 42 Beiträge. Im Folgenden werden die Leitthesen des Projekts zur Diskussion gestellt und die gewonnenen Erfahrungen resümiert.2 Schon zu Beginn des Projekts waren im Internet bereits einige Erinnerungsort-Projekte präsent, und die Vielfalt der digitalen Möglichkeiten soll hier zumindest kurz angerissen werden. Ein prominentes Beispiel ist das digitale Projekt »Erinnerungsorte für die Opfer des Nationalsozialismus« der Bundeszentrale für poli­tische Bildung.3 Es handelt sich um eine Online-Datenbank mit Informationen zu Gedenkstätten, Museen, Mahnmalen, Bildungsstätten und Initiativen. Suchergebnisse werden auf einer Karte lokalisiert und mit kurzen Texten vorgestellt. Grundlage der Datenbank ist das von der Bundeszentrale für politische Bildung initiierte Buch Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus, das erstmals 1987 erschien und in den 1990er-Jahren in überarbeiteter und erweiterter Form neu aufgelegt wurde.4 Ausdrücklich werden Nutzer der Website aufgefordert, weitere Vorschläge einzureichen. Das Angebot will durch die Sammlung konkreter Orte »Anregungen für die historisch-politische Bildungsarbeit« vermitteln.5 Eine App ermöglicht es, von unterwegs Erinnerungsorte in der Umgebung zu entdecken. Tatsächlich eröffnen mobile Anwendungen Wege der Geschichtsvermittlung, auf die die Ökologischen Erinnerungsorte bislang aus verschieErinnerungsorte im Internet © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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denen Erwägungen verzichtet haben. Erwähnt sei das von Michaela Melián realisierte Audiokunstwerk Memory Loops, das mit 300 deutschen und 175 englischen Tonspuren ein virtuelles Denkmal für die Opfer des Nationalsozialismus in München darstellt. Verschiedene technische Optionen erlauben es, im Stadtraum auf diese Tonspuren zuzugreifen.6 Auch das seit 2005 bestehende digitale Projekt »erinnerungsort wien«, das Bestände der Stiftung Bruno Kreisky Archiv der Öffentlichkeit zugänglich machen und entlang dieser Quellen die österreichische Zeitgeschichte nachzeichnen will, bleibt letztlich einem geographischen Verständnis von Erinnerungsorten verhaftet. Als Einstieg dient eine Karte von Wien mit neun Straßenschildern, die je einen Themenschwerpunkt des Projekts symbolisieren. Die einzelnen Überpunkte sind wiederum in Kapitel mit Erläuterungstexten untergliedert. Eine Auswahlbibliographie, eine Linksammlung, zentrale Schriftstücke und die Wiedergabe zahlreicher Bilder, Plakate, Fotografien und Zeitungsausschnitte ergänzen die Ausführungen.7 Die größte Affinität zu den Ökologischen Erinnerungsorten hat ein Projekt der Friedrich-Ebert-Stiftung zum 150-jährigen Geburtstag der SPD im Mai 2013. Neben einer Monographie zu den Orten der Sozialdemokratie8 und einer Wanderausstellung wurde ein Internetportal »Erinnerungsorte der deutschen Sozialdemokratie« online geschaltet.9 Ausgehend von Pierre Noras Konzept der »lieux de mémoire« werden hier nicht nur geographische Orte, sondern auch Symbole, Ereignisse, programmatische Texte und Personen als Erinnerungsorte gedeutet. Erschlossen werden diese Beiträge über eine Landkarte und einen Zeitstrahl. Ein Menüpunkt »Mein Erinnerungsort« ermöglicht es Besuchern, eigene Erinnerungen und Materialien zur Verfügung zu stellen, was teilweise zu sehr subjektiven und überdurchschnittlich langen Texten führt. Ein Quiz bietet eine zusätzliche Möglichkeit, die Er­ ubrik innerungsorte der Sozialdemokratie zu entdecken. In der R »Das Konzept« werden die methodischen Vorüberlegungen des Projekts expliziert. Schon der Kontext des Jubiläums lässt erahnen, dass das Projekt im Dienste der Identitätspflege steht. Letztlich zielen die sozialdemokratischen Erinnerungsorte darauf ab, 150 Jahre Parteigeschichte ins Gedächtnis zu rufen und dessen Relevanz für die Gegenwart herauszuarbeiten. Eine solche Ausrichtung hat im Rah304

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men einer Internetpräsentation einen nicht unerheblichen Vorteil, indem sich damit eine klar umgrenzte Zielgruppe für das Projekt ergibt, nämlich die Parteimitglieder: Deren Gedächtnis soll durch möglichst prägnante Erinnerungsorte aufgefrischt und fokussiert werden. Eine solche Klarheit über den Adressatenkreis hat einen hohen Wert, desto mehr, als über die Nutzer historischer Angebote im World Wide Web trotz einer wachsenden Zahl von Veröffentlichungen und Untersuchungen noch verblüffend wenig gesichertes Wissen existiert.10 Die Ökologischen Erinnerungsorte verzichten auf eine ähnliche Segmentierung der Zielgruppe und wenden sich an die Gesamtheit aller Personen, die sich in deutscher Sprache über ökologische Themen informieren möchten. Ausdrücklich richten sie sich also nicht nur an jene Menschen, die sich selbst als Mitglieder der ökologischen Bewegung begreifen. Eine solche Insider-Sicht wäre nicht nur analytisch unbefriedigend, sie ignorierte auch leichtfertig die Chance, auf dem Umweg über die Geschichte mit jenen Personen ins Gespräch zu kommen, die Umweltbewegung und Umweltpolitik skeptisch gegenüberstehen. Außerdem war es uns von Beginn an ein Anliegen, die Grenzen zwischen Experten und Laien sowie zwischen Wissensproduzenten und Rezipienten durchlässiger zu gestalten. Damit sollte der häufig geäußerten Kritik an bestehenden digitalen Projekten begegnet werden, dass hier wiederum nur Wissenschaftler für andere Wissenschaftler schreiben. Einige Maximen der Geschichtsvermittlung im Internet bedürfen keiner langen Erklärung. Eine klare Sprache und eine behutsame Verwendung von Fachbegriffen sind seit jeher Grundlagen jeder Fachdidaktik. Um Schwellenängste zu minimieren, wurde durchweg von einem geringen Vorwissen ausgegangen. Das Projekt nimmt zwar eine grundsätzliche Vertrautheit mit der deutschen Geschichte an  – alles andere würde auf eine arg bevormundende Präsentation hinauslaufen  –, der weiterhin defizitäre Bekanntheitsgrad der umwelthistorischen Forschung ließ es jedoch ratsam erscheinen, auch Grundlagenwissen nicht einfach als bekannt vorauszusetzen. Methodisch-theoretische Überlegungen wurden in einen eigenen Menüpunkt »Methodisches« ausgelagert und dort möglichst konzise behandelt. Maßgebend war schließlich die Einsicht, dass eine solche Internet-Präsentation im Rahmen des Gesamtprojekts nicht bloßes Spin-Off oder gar eine Art Schrumpfversion für den digitalen Erinnerungsorte im Internet © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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Hausgebrauch darstellen sollte. Vielmehr ging es darum, die spezifischen Möglichkeiten des Internets zu nutzen und dabei auszuloten, wo Online-Projekte Vorteile gegenüber etablierten Wegen der Geschichtspopularisierung bieten. Damit war zugleich klar, dass die digitalen Erinnerungsorte mit dem Rest des Gesamtprojekts »Umwelt und Erinnerung« im fachwissenschaftlichen Anspruch auf Augenhöhe stehen. Eine Hierarchie der Publika­ tionsformen, nach der für Buchveröffentlichungen grundsätzlich höhere Standards anzulegen seien als für Online-Projekte, wäre für ein geschichtswissenschaftliches Projekt ein geradezu klassisches Eigentor. Sie stünde zudem im Widerspruch zur Tradition der Erinnerungsorte, deren Reiz ja auch darin besteht, dass hier Geschichtspopularisierung als Teil  eines fachwissenschaftlichen Programms betrieben und nicht  – wie so oft  – als nachrangiges Aufgabenfeld an didaktisch versierte Spezialkräfte delegiert wird. Was aber sind nun die spezifischen Möglichkeiten einer Internet-Präsentation? Der offenkundigste Vorzug gegenüber klassischen Druckerzeugnissen, die Möglichkeit laufender Veränderungen, erwies sich zugleich als eine besonders heikle Option. Die ständigen Aktualisierungen, die der heutige Online-Nutzer von Blogs und Nachrichtenangeboten gewohnt ist, kann ein historisches Projekt schon aufgrund des damit verbundenen Betreuungsaufwands kaum leisten. Zudem gibt es ein legitimes Interesse wissenschaftlicher Autoren, dass Beiträge auch über längere Zeiträume verfügbar bleiben. Sofern es sich nicht um eklatante Fehler handelt, zeigen sich vielbeschäftigte Wissenschaftler gegenüber Modifikationen an einmal abgeschlossenen Beiträgen erfahrungsgemäß wenig interessiert. Auch geschichtswissenschaftliche Großprojekte wie Docupedia11 und Europäische Geschichte Online12 setzen eher auf die Akkumulation immer neuer Beiträge denn auf ständige Überarbeitungen. So betonen die Herausgeber von Docupedia zwar die Dynamik ihres Nachschlagewerks und die Besonderheit der Artikel, die »durch Autor/innen laufend aktualisiert sowie durch registrierte Leser/innen kommentiert und durch Hinweise ergänzt werden«, allerdings ist dieser Anspruch aufgrund des damit verbundenen Arbeitsaufwands in der Praxis augenscheinlich nur schwer umsetzbar.13 Zum Zeitpunkt der Drucklegung dieses Beitrags waren jedenfalls nur wenige Artikel verändert worden. Vergleicht man dies mit dem Online-Lexikon Wikipedia, dessen deutsche Fassung derzeit täglich um 338 Ar306

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tikel wächst und monatlich 1,1 Millionen Edits verzeichnet, zeigt sich ein gänzlich anderes Verständnis von Dynamik.14 Im Moment scheinen geisteswissenschaftliche Online-Angebote vor allem dort eine Chance zu haben, wo sie sich als Referenzpunkte mit quasi enzyklopädischem Anspruch profilieren können. Der negative Effekt auf die Zugriffszahlen, der sich mit dem Verzicht auf täg­ liche Aktualisierungen verbindet, wird insofern mit einem Autoritätsgewinn erkauft, der sich quantitativ freilich nur schwer messen lässt. Ein solcher Referenzanspruch verpflichtet in besonderem Maße zu fachwissenschaftlicher Sorgfalt. Das sei umso nachdrücklicher betont, als sich hier mit der Fluidität des Mediums Internet eine nicht unbeträchtliche Versuchung verbindet. Der Erfolg von Plattformen wie Wikipedia und Internet-Mythen wie die »wisdom of the crowd« verleiten dazu, online gestellte Texte als etwas Vorläufiges zu betrachten, die idealiter durch die Kommentare der Besucher ständig verbessert werden. Für manche Online-Projekte hat das »quick and dirty« fast schon den Status einer Kardinaltugend. In dieser Hinsicht verfolgte das hiesige Projekt eine klare Linie: Der Feedback-Button darf nicht als Entschuldigung für eine nachlässige Qualitätssicherung dienen. Gerade das Medium Internet verlangt nach akademischer Rigorosität, wenn Fachwissenschaft im Gewirr der online publizierten Meinungen und Mutmaßungen noch Gewicht besitzen soll.15 Nach innen dokumentierte sich dieser Anspruch in einem mehrstufigen Verfahren der Qualitätskontrolle, nach außen in einem wissenschaftlichen Belegverfahren, das Zitate und wichtige Informationen per Fußnote dokumentiert und zudem die wichtigsten Arbeiten zum jeweiligen Erinnerungsort aufführt. Die Autoren der Einzelartikel behalten daher auch ihre zentrale Rolle im Publikationsprozess und sind klar als Urheber erkennbar. Dies garantiert eine höhere Qualität der Artikel und steigert den Anreiz, am Projekt mitzuwirken. Als ein Belegverfahren im weiteren Sinne ist auch der Erinnerungsort-Blog zu erwähnen, der in die Website integriert wurde. Darin wurde nämlich nicht nur die Entwicklung des Projekts im Laufe der Zeit dokumentiert, hier konnten auch Überlegungen präsentiert werden, die in klassischen wissenschaftlichen Veröffentlichungen keinen Platz haben. So wurden zum Beispiel die wachsende Länge der Beiträge, die Zahl der notwendigen und sinnvollen Fußnoten oder auch der spürbare bajuwarische EinErinnerungsorte im Internet © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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schlag des Projekts diskutiert, der sich in der Ballung von Beiträgen über den Biergarten, den Nationalpark Bayerischer Wald, Wackersdorf, die Zugspitze und den Englischen Garten in München dokumentiert. Getroffene Entscheidungen wurden im Rahmen des Blogs expliziert und begründet und zugleich verdeutlicht, wo und in welcher Hinsicht die Projektverantwortlichen unsicher waren. Selbstverständlich handelt es sich bei den im Blog diskutierten Fragen nur um einen Ausschnitt der tatsächlich im Rahmen des Projekts geführten Debatten. Es empfiehlt sich zudem, einen solchen Blog erst dann zu beginnen, wenn das Projekt eine gewisse feste Form angenommen hat. Da es anfangs vor allem auf einen freimütigen Gedankenaustausch ankommt, ist eine Verschrift­ lichung laufender Überlegungen in dieser Phase leicht kontra­ produktiv. Im Übrigen ist Diskretion im Umgang mit Mitarbeitern auch beim Verfassen eines Blogs ratsam. Ein weiterer wichtiger Vorzug des Mediums Internet ist ein Zwang zur Konzentration auf das Wesentliche. Astrid Schwabe spricht von einem »Paradoxon des Platzbudgets«: Der Entgrenzung des Mediums, das theoretisch eine Expansion der Website bis ins Unendliche erlaubt, steht die enge Limitierung des Bildschirms gegenüber.16 Hinzu kommt die bekannte Ungeduld des gemeinen Internetkonsumenten, der ein Angebot jederzeit per Mausklick verlassen kann. Zwar erwies sich die ursprüngliche Absicht, alle Informationen zu einem Erinnerungsort auf maximal einer Bildschirmseite zu konzentrieren, als letztlich unrealisierbar. Mit einem Umfang zwischen 1000 und 3000 Worten bewegen sich die meisten Einträge jedoch deutlich unterhalb der Länge eines gewöhnlichen Fachaufsatzes. Der konzise Stil war freilich von den Autoren leichter zu fordern als einzulösen, und im Verlauf des Projekts war ein signifikanter Anstieg der Textlängen zu beobachten. Diese Erfahrung, die übrigens auch die Herausgeber der ­Docupedia machten, ist jedoch weniger dramatisch als zunächst angenommen wurde. Mittlerweile zeigen Untersuchungen, »dass – sicher abhängig vom jeweiligen Zielpublikum – auch längere Texte im Internet rezipiert werden«.17 Es sei auch erwähnt, dass die Begrenzung von manchen Autoren rückblickend als wertvolle Erfahrung bezeichnet wurde. Die Zugänglichkeit der Texte wurde nicht nur durch einen schnörkellosen Stil, sondern auch durch eine Gliederung in mehrere 308

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Unterkapitel erhöht. Jeder einzelne Abschnitt diskutierte einen spezifischen Strang der Erinnerung und damit eine Dimension des jeweiligen Erinnerungsorts. Dabei wurde vor allem darauf geachtet, dass diese Abschnitte sowohl für sich genommen wie auch als Teil  des Gesamttextes verständlich sind. Ein prominent platziertes Inhaltsverzeichnis mit Verlinkung ermöglicht es dem Benutzer, direkt zu einem Aspekt der Erinnerung zu springen, der ihn speziell interessiert. Bei den Titeln der einzelnen Abschnitte wurde besonderer Wert auf farbige Formulierungen gelegt, auch um einen Kontrast zu den Obertiteln zu schaffen, die – der Tradition der Erinnerungsorte folgend – nur aus einem Wort oder einer ein­schlägigen Formulierung bestehen. Auch mit kurzen Texten ergab sich ein beeindruckender Textkorpus, der sich zum Zeitpunkt der Drucklegung in der Größenordnung von 100.000 Worten befand. Das lag freilich auch an dem inhärenten Zwang zur enzyklopädischen Breite, der einem Internet-Projekt dieser Art innewohnt. Während ein Buchprojekt sich ohne Weiteres auf ein Dutzend Beiträge beschränken kann, wirkt eine Online-Präsentation mit einer ähnlichen Zahl von Einträgen leicht wie ein Torso.18 Selbst als die Website schon über 30 Einträge aufwies, erklärte ein freundlich gesinnter Besucher, das Projekt stecke offenbar noch »in den Kinderschuhen«.19 Ist es die Lust am Klicken – oder die Üppigkeit des weltweiten Netzes, das nach einem unerschöpflichen Füllhorn von Inhalten verlangt? Wie auch immer: Anders als der vorliegende Band versuchte die Website, die ökologische Erinnerungslandschaft Deutschlands in ihrer gesamten Vielfalt zu erfassen. Das erforderte nicht nur eine deutlich größere Zahl von Einzelbeiträgen, sondern auch eine intensive Diskussion über die Auswahl der einzelnen Erinnerungsorte. Mehrfach wurde in unterschiedlicher Besetzung über Listen mit möglichen Orten diskutiert, Vorschläge gestrichen und neue hinzugefügt, so dass die Entscheidung des Projektleiters sich zumindest in erheblichen Teilen auf einen Konsens innerhalb der Arbeitsgruppe stützen konnte. Als wichtigste Kriterien kristal­ lisierten sich im Laufe der Zeit Bekanntheitsgrad, historische Signifikanz, überregionale Bedeutung sowie geographische, chronologische und thematische Ausgewogenheit heraus. Ziel war dabei nicht eine ohnehin illusionäre Vollständigkeit, sondern vielmehr die Erfassung aller wichtigen Facetten der kollek­tiven Imagination der Deutschen durch zumindest einen exErinnerungsorte im Internet © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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Abb. 1: Eine typische Seite zu einem Erinnerungsort. Die unterschiedlichen »Wege der Erinnerung«, die jeweils einzelne Dimensionen des kollektiven Ge­ dächtnisses erschließen, sind durch Anklicken direkt zugänglich und erlauben damit den Ausbruch aus der Linearität der historischen Narration.

emplarischen Erinnerungsort. Auch damit ergab sich jedoch ein weites Feld möglicher Erinnerungsorte mit vielen Entscheidungszwängen, die sich einer eindeutigen Lösung entzogen. Beispielhaft sei hier nur die Entscheidung genannt, dass das Projekt zunächst auf Beiträge über Naturkatastrophen verzichtet, da das deutsche ökologische Gedächtnis im Vergleich mit anderen Ländern vergleichsweise schwach von katastrophischen Naturereignissen geprägt zu sein scheint. Bei der Strukturierung dieser Diskussion erwiesen sich die Kapitelüberschriften als eine wertvolle Hilfe. Jedes Kapitel beschreibt eine Dimension der deutschen ökologischen Erinnerung, die dann mit einzelnen Erinnerungsorten möglichst vielfältig und spannungsreich ausgeleuchtet wird. Als Inspiration dienten dabei die Deutschen Erinnerungsorte, die im Unterschied zum französischen Original solche Zwischenüberschriften nutzten, um das Großprojekt greifbarer zu machen. Während die Deutschen Er­ innerungsorte jedoch vorzugsweise Begriffe wie Volk, Leistung und Gemüt wählten, die sich nicht oder nur schwer in andere Sprachen übersetzen lassen, wurde bei den Ökologischen Erinnerungsorten Wert auf transnationale Übertragbarkeit gelegt. 310

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Die Konzentration auf den deutschen Sprach- und Erinnerungsraum war nämlich im Rahmen des Projekts stets auch perspektivisch als Weg zu einem internationalen Projekt gedacht. Schon der eminent grenzüberschreitende Charakter der natür­ lichen Umwelt ließ eine dauerhafte Begrenzung auf einen einzelnen Nationalstaat wenig befriedigend erscheinen. Es ging mithin um einen ersten Schritt, in dem ökologische Erinnerungen im Rahmen der deutschen Diskurs- und Erinnerungsgemeinschaft analysiert werden, um danach die Frage nach nationalen Spezifika zu stellen. Transnational offene Kapitelüberschriften wie »Verehrte Natur«, »Verschmutzte Natur« und »Ökologische Zeiten« liefern dabei Ansatzpunkte für den Vergleich. Wie viele europäische Länder hat auch Deutschland die Natur geschützt, die Umwelt verschmutzt und einen Aufschwung ökologischer Bewegungen nach 1970 erlebt. Aber vielleicht war die Naturliebe in Deutschland heftiger, die Verschmutzung extremer und die ökologische Wende dramatischer als anderswo? Diese internationalen Perspektiven sind im Moment noch Vision, wirken aber schon jetzt auf das Projekt zurück, indem sie zu einer kritischen Reflexion des spezifischen »ökologischen Patriotismus« führen, der sich seit einigen Jahren in der Bundesrepublik etabliert: ein weit verbreiteter Stolz auf die Vorreiterrolle Deutschlands in Umweltfragen. Dieses »grüne Deutschland« wird im Rahmen der Online-Präsentation konsequent hinterfragt: durch antiökologische Erinnerungsorte wie das Tempolimit, durch Blicke auf autoritäre Traditionen etwa beim Reichsnaturschutzgesetz und durch eine multiperspektivische Darstellung, die nicht nur nach den ökologischen Errungenschaften fragt, sondern auch nach dem Preis und danach, wer ihn bezahlte. So ermuntert die Präsentation zum Nachdenken über einen grünen Patriotismus, der bislang eher Stimmung als Diskursergebnis ist. Mit diesen Bemerkungen soll freilich nicht der Eindruck erweckt werden, das aktuelle Panorama der online stehenden Erinnerungsorte sei ein stringentes Diskursprodukt. Schon die Tatsache, dass die Autoren aus der jeweils aktuellen Liste der Erinnerungsorte frei wählen konnten, implizierte ein subjektives Element. Eine allzu rigorose Orchestrierung schien auch deshalb entbehrlich zu sein, weil alle Beiträge letztlich dem Votum der Internet-Konsumenten unterliegen. Am Ende eines jeden Beitrags findet sich ein Link zu einer Online-Abstimmung, die den BeErinnerungsorte im Internet © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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sucher um seine persönliche Einschätzung bittet: Handelt es sich wirklich um einen ökologischen Erinnerungsort? Durch die Konzeption als Forced-Choice-Frage besitzt der Besucher nur die Möglichkeit, mit Ja oder Nein zu antworten. Er kann in diesem Fenster zusätzlich einen Link anklicken, der den aktuellen Stand der Abstimmung sichtbar macht, was nicht als Meinungsäußerung registriert wird. Da die Letztentscheidung über die aktiven Erinnerungsorte (in Unterscheidung von latenten, im kollektiven Bewusstsein nicht präsenten Erinnerungsorten) somit den Besuchern überlassen wird, war es auch möglich, offen auf Themenvorschläge von externen Autoren zu reagieren. Mehrfach fragten nämlich Nachwuchswissenschaftler an, ob sie ihr aktuelles Forschungsthema im Rahmen des Erinnerungsort-Projekts dokumentieren könnten. Dem offenkundigen Eigeninteresse steht hier die Aussicht gegenüber, laufende Forschungen bereits zu einem frühen Zeitpunkt im Rahmen des Projekts zu dokumentieren, zudem erwiesen sich die so entstandenen Beiträge meist als besonders kenntnisreich. Es versteht sich, dass die spezielle Genese eines solchen Eintrags im Erinnerungsort-Blog offengelegt wurde; falls solche Anfragen häufiger werden, ist eine besondere Kennzeichnung zu erwägen. Im Moment ist noch nicht zu erkennen, ob bei diesen Beiträgen ein abweichendes Abstimmungsverhalten vorliegt. Selbstverständlich ist das Ergebnis einer solchen Befragung nicht repräsentativ. Auch Mehrfachvoten von Einzelpersonen sind nicht ausgeschlossen, wenngleich die wiederholte Stimmabgabe vom gleichen Computer aus elektronisch unterbunden wurde. Dennoch sind schon jetzt einige bemerkenswerte Ergebnisse festzuhalten. Interessant ist etwa, dass die Ost-Berliner Umweltbibliothek, die einen zentralen Platz in der Umweltgeschichte der DDR einnimmt, von der Mehrzahl der Besucher nicht als Erinnerungsort akzeptiert wird. Das ist umso auffallender, als vergleichsweise junge Erinnerungsorte wie z. B. Die Grenzen des Wachstums ansonsten recht gut abschnitten. Anscheinend spiegeln sich hier die starke Verankerung der Umweltbewegung in der alten Bundesrepublik und die Marginalisierung ostdeutscher Traditionen im Zuge der Wiedervereinigung jedenfalls dort, wo Ostdeutschland nicht nur als negativer Ort ökologischer Katastrophen firmiert. Bitterfeld als Inbegriff der DDR-Umweltverschmutzung erzielte bezeichnenderweise einen hervorragenden Wert.20 312

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Frappierend ist weiterhin das schwache Abschneiden von Erinnerungsorten, die auf die Natur im Gemütshaushalt der Deutschen zielen. Der romantische Rhein, die Lüneburger Heide und die Künstlerkolonie Worpswede erzielten allesamt Negativvoten. Ein Indiz, dass die Romantik im ökologischen Denken an Prägekraft verliert? Dass die Erinnerungsorte »Naturdenkmal« und »Trinkwasser« am schwächsten abschnitten, könnte allerdings auch darin begründet liegen, dass sie als örtlich und zeitlich undefinierte Erinnerungsorte einfach zu blass blieben. Andererseits hat dies das Vollkornbrot nicht daran gehindert, mit mehr als 70 Prozent Zustimmung einen Spitzenwert zu erzielen. Einige Erinnerungsorte beziehen sich auf Konflikte, die die Entwicklung der deutschen Umweltbewegungen beeinflusst haben. Unter diesen schnitten die Schornsteinbesetzer von Greenpeace mit deutlichem Abstand am besten ab. Ältere Konflikte wie die Laufenburger Stromschnellen, der Knechtsand und der Freiberger Hüttenrauch landeten im Mittelfeld, was wohl auch mit der größeren zeitlichen Distanz zusammenhängt. Angenommen wurden auch Erinnerungsorte, die auf die Lebenswelt zielten wie etwa der Biergarten, Sebastian Kneipp oder das schon erwähnte Vollkornbrot. Die Befürchtung, dass solche Orte als »unpolitisch« durchfallen würden, bestätigte sich nicht. Ganz im Gegenteil erreichten die »Lebensweisen« bei einer nach Kapiteln aggregierten Auswertung einen Spitzenwert. Bezeichnend ist, dass Erinnerungsorte, die das grüne Musterland angreifen wie etwa das Tempolimit, relativ schwach abschneiden. Mit Blick auf die allgemeine Akzeptanz unseres Deutungsangebots ergab sich schließlich ein ermutigendes Gesamtbild, indem zuletzt etwa drei von vier Erinnerungsorten auf ein positives Votum kamen. Der aggregierte Anteil der Ja-Stimmen lag bei knapp 60 Prozent. Besucher können auch über Vorschläge für weitere Erinnerungsorte abstimmen. Das hat neben der zusätzlichen Interaktivität den Vorteil, dass dadurch alle in den internen Diskussionen identifizierten Erinnerungsorte entweder als Beitrag oder als Vorschlag online präsent sind. Dazu wurden die jeweiligen Stichworte mit kurzen, möglichst neutral formulierten Erläuterungen ver­ sehen, ein Link öffnet ein Fenster mit fünf möglichen Antworten: – Ja, das ist für mich persönlich ein wichtiges Thema. Bitte unbedingt aufnehmen. Erinnerungsorte im Internet © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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Abb. 2: Die Eröffnungsseite kombiniert einen einführenden Text mit aussage­ kräftigen Bildern, die per Mausklick direkt zu einzelnen Erinnerungsorten führen.

– Ich habe zwar keinen persönlichen Bezug, finde das Thema aber wichtig. Bitte aufnehmen. – Ich finde das Thema ganz interessant, aber nicht zwingend er­ forderlich. Vielleicht kümmert Ihr Euch erst mal um andere Themen. – Ich kann mich für das Thema nicht begeistern. Lasst es draußen. – Das Thema hat nichts mit Umwelt zu tun.

Die dadurch geschaffene Möglichkeit einer differenzierten Bewertung macht allerdings die Auswertung besonders knifflig. Soll man die Wertungen mit unterschiedlichen Skalenwerten versehen, oder ist es besser, sich an jene Stimmen zu halten, die stark oder besonders stark auf die Berücksichtigung drängen? Die letzte Antwort fällt außerdem aus dem Rahmen, indem nicht die relative Bedeutung, sondern die thematische Zugehörigkeit abgefragt wird. Wer differenzierte Antwortmöglichkeiten ermöglicht, riskiert ein unschlüssiges Ergebnis. Zum Zeitpunkt der Drucklegung war jedenfalls noch kein Meinungsbild erkennbar, das eine befriedigende Grundlage für die Weiterentwicklung der Website bieten würde. Bei der ersten Antwort (»Bitte unbedingt aufnehmen«) liegen der höchste und der niedrige Stimmenanteil lediglich zwölf Prozentpunkte auseinander. Verbindet man die ersten beiden Ant314

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Abb. 3: Weiter unten bietet die Eröffnungsseite unterschiedliche Einstiege in das Projekt.

worten, beträgt der Abstand von Maximal- und Minimalwert nur 17 Prozentpunkte  – bei insgesamt nur 25 Vorschlägen mit auswertbaren Zahlen.21 Beim Votum über die thematische Zugehörigkeit liegt die Kluft bei 15 Prozentpunkten, zudem gibt das Abstimmungsverhalten hier im Moment besondere Rätsel auf. Wieso findet sich der Drachenfels an der Spitze, aber die Wutachschlucht am Ende der Liste, indem nur ein anderer Begriff (Risikotechnologie) für thematisch noch unpassender gehalten wird? In beiden Fällen handelt es sich schließlich um Gebirgsformationen, die unter Naturschutz stehen. Und wieso glaubt mehr als jeder Fünfte, dass das Öko-Institut nichts mit Umwelt zu tun hat? Interessanterweise kommen die Vorschläge für neue Erinnerungsorte auf höhere Stimmenzahlen als die Frage nach der Akzeptanz der von uns diskutierten Erinnerungsorte, obwohl die Abstimmung über diese zu einem früheren Zeitpunkt begann. Das mag designtechnische Gründe haben, liegt aber vielleicht auch daran, dass die Möglichkeit, an der Weiterentwicklung des Projekts mitzuwirken, für den Benutzer attraktiver ist als die Ratifikation einer bereits getroffenen Entscheidung. Insgesamt waren zum Zeitpunkt der Drucklegung mehr als 7000 Stimmen ab­gegeben worden. Interaktivität ist bekanntlich ein Internet-Mythos. Der größte Vorzug des Internets liegt jedoch u. E. an anderer Stelle: OnlineErinnerungsorte im Internet © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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Texte ermöglichen einen Ausbruch aus dem linearen Modus der historischen Erzählung. Während Leser eines Buches notgedrungen einer festen Abfolge von Sätzen verhaftet bleiben, kann der Besucher einer Website per Mausklick zu anderen Textstellen springen. Die interne Verlinkung erlaubt somit einen Lesestil, bei dem der Benutzer seinen ganz persönlichen Weg durch das Angebot und damit durch die ökologische Erinnerungslandschaft finden kann. Gerade für erinnerungsgeschichtliche Projekte erscheint diese Möglichkeit reizvoll, denn die Internetpräsentation spiegelt damit die Struktur des menschlichen Gedächtnisses, das ebenfalls nicht linear, sondern durch Assoziationen funktioniert. Der Gedankensprung ist gewissermaßen das neuronale Äquivalent zur digitalen Verlinkung. Für das Design eines Online-Projekts entsteht dadurch die Herausforderung, möglichst vielfältige Wege für die Imagination der Besucher zu eröffnen. Bei den Ökologischen Erinnerungs­orten beginnt dies bereits auf der Eröffnungsseite, die verschiedene Einstiege in das Angebot offeriert. In den Texten wurden inhaltliche Bezüge mit Verlinkungen versehen, zudem bieten verlinkte Kapitelüberschriften sowie eine Auswahl thematisch affiner Erinnerungsorte Alternativen zur Linearität der Narration. Stets galt es dabei eine Balance zu finden zwischen einer möglichst intensiven Vernetzung und inhaltlich sinnvollen Bezügen. Verlinkung ist kein Selbstzweck und produziert bei exzessivem Gebrauch leicht ein Gefühl der Zusammenhanglosigkeit. Links sollen keine Aufforderung zum Themenwechsel sein, sondern zur Fortführung der Gedanken in eine neue Richtung animieren, und zwar in einer Weise, die schon vor dem Anklicken zumindest in groben Umrissen erkennbar sein sollte. Mediendidaktiker sprechen von einem »Serendipity-Effekt«: Links legen eine Fährte, der der Benutzer nachspüren kann und die zur eigenständigen Erschließung von Zusammenhängen und neuen, eigenen Fragestellungen ermuntert.22 Selbstverständlich lässt sich das Online-Angebot auch ganz klassisch als Abfolge von Einzelkapiteln lesen. Allerdings sei nicht unerwähnt, dass es zeitweise durchaus Überlegungen gab, den Gesamttext zunächst zu verbergen und den Besucher damit zu zwingen, Texte per Anklicken zu aktivieren, mithin also die Definitionsmacht der Anbieter über den korrekten Weg der Lektüre noch weiter zu brechen. Es ist schließlich durchaus erwünscht, 316

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dass die digitalen Erinnerungsorte durch ihren quasi fuchsbauartigen Aufbau ein Gefühl des Uneinheitlichen und Fragmentarischen evozieren, denn darin spiegelt sich ein Kernanliegen der intellektuellen Tradition der Erinnerungsort-Forschung: der Abschied von der klassischen Meistererzählung. Bewusst verzichtete das Projekt deshalb auf die Option, Inhalte über einen Zeitstrahl zu erschließen. Darin unterscheiden sich die Ökologischen Erinnerungsorte von den Erinnerungsorten der Sozialdemokratie, die – wie erwähnt – einer chronologischen Grundstruktur folgen. Die Chronologie gehört bekanntlich zu den eingängigsten und populärsten Formen der Geschichtsvermittlung; in ihren konzeptionellen Überlegungen sprechen die Autoren der sozialdemokratischen Erinnerungsorte in prononciert heimeliger Diktion von einer »Zeitreise«.23 Allerdings sei die Vermutung geäußert, dass sich dahinter auch ein Aufstiegsnarrativ verbirgt, wie es anlässlich eines 150-jährigen Jubiläums naheliegt. Aus eben diesem Grund verbat sich ein Zeitstrahl bei den Ökologischen Erinnerungsorten. Allzu leicht suggeriert die chronologische Abfolge eine Stringenz, wenn nicht gar eine Fortschrittsgeschichte, die letztlich alle Bemühungen um Nuancen und Perspektivierungen zunichte macht. Auch eine Karte wurde nach einigen Überlegungen nicht als Medium der Orientierung verwendet. Hier ging es vor allem darum, das gängige Missverständnis von Erinnerungsorten als zwangsläufig geographisch festgelegten Orten zu vermeiden. Gerade ein Fach wie die Umweltgeschichte, das sich immer noch im Prozess der akademischen Etablierung befindet, sollte um Distanz gegenüber solchen Trivialisierungen bemüht sein. Hier wog methodische Konsequenz letztlich schwerer als die Nutzung eines graphisch ansprechenden und leicht zu generierenden Design­ elements. Das Internet bietet somit neue Möglichkeiten, die gängige Kritik an der affirmativen Wirkung von Erinnerungsort-Projekten zu unterlaufen. Gerade mit Blick auf das in der Einleitung diskutierte Bestreben von Umweltbewegten, Erinnerungsorte als Mahnungen an die Nachlebenden für alle Zeiten festzuschreiben, erscheint es ratsam, dem Verdacht der Mythenpflege auch durch die Gestaltung der Internetseite entgegenzuarbeiten. In ihrer elektronischen Form wirken die Ökologischen Erinnerungsorte nicht wie ein festgefügter Kanon, sondern vielmehr wie ein Gesprächsangebot, das Erinnerungsorte im Internet © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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den Besucher aktiviert und in das Projekt einbindet. Die Form der digitalen Aufbereitung ratifiziert mithin die stetigen Beteuerungen der Projektverantwortlichen, es handele sich um eine erste, ergänzungsfähige und ergänzungsbedürftige Bestandsaufnahme. Zugleich ergibt sich mit einem solchen »Work-in-Progress«-Konzept ein scharfer Kontrast zu den gängigen Aufsatzbänden, die allenfalls um den Preis einer Neuauflage zu modifizieren sind.24 Eher zurückhaltend war das Projekt bei der Nutzung visueller Elemente, in deren Gebrauch manche Autoren bereits »eine tiefgreifende Veränderung in der Repräsentation von Geschichte« zu wittern glauben.25 Jedem Erinnerungsort wurde ein ikonisches Bild zugewiesen (in einzelnen Fällen, wo die Entscheidung schwerfiel, auch zwei oder drei), darüber hinaus wurde jedoch auf das Medium der Schriftlichkeit gesetzt. Das verleiht der Website eine gewisse Textlastigkeit, die wir bewusst nicht durch Design­ elemente zu kompensieren suchten. Für dieses Vorgehen sprach nicht nur die bekannte Kritik an einem illustrierenden Bildgebrauch in der Geschichtswissenschaft, sondern vor allem die grundsätzliche Ansicht, dass jeder andere Weg letztlich auf eine fachwissenschaftliche Kapitulation ersten Ranges hinausgelaufen wäre. Schrift ist und bleibt das entscheidende Medium geisteswissenschaftlicher Expertise: ohne Wort kein Geist. Im Übrigen stehen geisteswissenschaftliche Projekte in der Konkurrenz mit bild- und designstarken Online-Projekte nicht nur aus finanziellen Gründen sehr bald auf verlorenem Posten. Diese Linie prägte auch die Bildauswahl. So nutzten wir zum Beispiel zur Illustrierung des Chemieunfalls von Seveso bewusst keines der berühmten Fotos von Kindern, die an Chlorakne erkrankt waren, sondern vielmehr den Umschlag des Buchs Seveso ist überall von Egmont Koch und Fritz Vahrenholt. Entscheidendes Kriterium war stets die inhaltliche Prägnanz: Abbildungen sollten klar und möglichst unverwechselbar sein, jedoch nicht durch die Eigenmacht des Visuellen eine bestimmte Lesart vorgeben und damit in Konkurrenz zu den Texten als dem entscheidenden Medium der Popularisierung treten. Auch auf eine quellenkritische Würdigung der Bilder wurde bewusst verzichtet, um Spannungen zwischen narrativer und piktoraler Imagination zu vermeiden. Allerdings darf das Vertrauen auf das Wort keinesfalls zu einer Entschuldigung für Nachlässigkeit in Designfragen avancieren. 318

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Ein visueller Analphabetismus würde nicht nur einschlägige Vorbehalte gegenüber den Geisteswissenschaften befeuern, sondern auch den geraden Weg in das virtuelle Abseits bedeuten. »Ein überaus ansehnlicher wissenschaftlicher Gehalt in einer schlecht gemachten Seite ist […] chancenlos«, mahnt Wolfgang Schmale und erklärt das World Wide Web in dieser Hinsicht zum »Spiegel der Gesellschaft«: »Ohne Styling geht nichts.«26 Der Historiker findet sich damit in der ungewohnten Rolle des Designers wieder, die im historiographischen Alltag sonst den Mitarbeitern der Buch- und Zeitschriftenverlage überlassen bleibt. Die Arbeit im Team war deshalb auch von ausführlichen Diskussionen über designtechnische Fragen geprägt, die sich mit computertechnischen teilweise überlappten, da manche Entwürfe bei der Verwendung unterschiedlicher Browser nicht korrekt wiedergegeben wurden. Am Ende stand ein funktionales Design, das weder dominiert noch dramatisiert und damit – bei allem Risiko einer solchen Aussage in einem atemlosen Medium – einer zeitlosen Gestaltung zumindest recht nahe kommen könnte. Die Offenheit des Mediums impliziert auch Herausforderungen für die aktuell anstehende Frage nach möglichen Weiterentwicklungen. Anders als bei Buchprojekten gibt es im Internet keinen natürlichen Schlusspunkt: Es fehlt ein Äquivalent zur abschließenden Deponierung eines Bandes im Bücherregal. Die Abstimmung über neue Erinnerungsorte impliziert eine moralische Verpflichtung zur Fortentwicklung und ständigen Ergänzung des Angebots; zugleich gilt es, Wege für den Umgang mit Erinnerungsorten zu finden, die nicht als solche angenommen wurden. Als wichtigstes Desiderat hat jedoch die Übersetzung ins Englische als erster Schritt auf dem Weg zu einer Internationalisierung des Projekts zu gelten. In einem globalen Medium ist die Beschränkung auf einen nationalen Diskurskontext unbefriedigender denn je. Abschließend bleibt die allgemeine Frage nach dem Mehrwert, den das Internet für die Geschichtspopularisierung und die Geschichtswissenschaft birgt. Es fehlt nicht an schwärmerischen Autoren, die forsch verkünden: »Der digitale Wandel hat erst begonnen.«27 Der Computerbereich hat eine besondere Anfälligkeit für Revolutions-Metaphern, die in den vergangenen Jahrzehnten in durchaus inflationärer Weise bemüht wurden. Tatsächlich bietet das Internet neue Möglichkeiten, insbesondere die Chance zum Ausbruch aus der Linearität der historischen Erzählung. Das Erinnerungsorte im Internet © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

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scheint jedoch eher auf eine Erweiterung des narrativen Instrumentenkoffers hinauszulaufen. Es sei noch einmal daran erinnert, dass das hiesige Online-Projekt bewusst als Teil eines größeren Projekts geplant wurde und seine Kraft und Glaubwürdigkeit gerade auch der synergistischen Verbindung mit den klassischen Medien der Geschichtswissenschaft verdankt. Im Vokabular der Branche könnte man deshalb vielleicht besser von einem Upgrade sprechen: Hilfreich ist das Internet in der Geschichte nur dann, wenn bisherige Stärken erhalten bleiben.

Anhang Liste der online stehenden Erinnerungsorte (Stand: Mai 2013) Vormoderne Umwelten

Geschützte Natur

Verehrte Natur

Lebensweisen

Die Grote Mandrenke Die Kleine Eiszeit Nachhaltige Waldwirtschaft Das Oderbruch Der Rammelsberg Das Mühlrad

Der romantische Rhein Sebastian Kneipp Die Blaue Blume Der Englische Garten in München Die Zugspitze Worpswede

Verschmutzte Natur

Der Freiberger Hüttenrauch Die WaBoLu Trinkwasser Seveso ist überall Die SAG/SDAG Wismut Bitterfeld

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Tierquälerei Die Lüneburger Heide Das Naturdenkmal Das Reichsnaturschutzgesetz Die Laufenburger Stromschnellen

Vegetarismus Vollkornbrot Mineralwasser Der Biergarten Das Jugendtreffen auf dem Hohen Meißner Vom Reformhaus zum Bioladen Biologisch-Dynamische Landwirtschaft

Aufbrüche

Knechtsand Der Nationalpark Bayerischer Wald Blauer Himmel über der Ruhr Frank Uekötter, Sarah Waltenberger

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Der GAU Das Tempolimit Die autofreien Sonntage Bernhard Grzimek

Das Grüne Band Die Schornsteinbesetzer von Greenpeace Mülltrennung

Ökologische Zeiten

Entgrenzungen

Das Waldsterben Wackersdorf Die Grünen Die Ost-Berliner Umwelt­ bibliothek Das Windrad

Die Drushba-Pipeline Tschernobyl Reiseweltmeister Grenzen des Wachstums Der Regenwald Entgrenzungen des Holzhandels

Liste der zur Abstimmung stehenden Erinnerungsorte (Stand: Mai 2013) Vormoderne Umwelten

Georg Agricola: De Re Metallica Bußwallfahrt zur Mutter Gottes auf dem Bogenberg Die Leonardi-Segnung

Verehrte Natur

Lebensweisen

Die Obstbaukolonie Eden FKK Der Monte Verità Die Autobahn Der Trimm-Dich-Pfad

Der Badeort Heimat Wintersport Der Kleingarten

Aufbrüche

Verschmutzte Natur

Ökologische Zeiten

Geschützte Natur

Entgrenzungen

Der schmutzige Rhein Der Elektrofilter Das Ruhrgebiet Rieselfelder

Hagenbecks Tierpark Schützt die Vögel! Der Drachenfels

Die Wutachschlucht Rekultivierung Das Umweltprogramm

Das Öko-Institut Der Spiegel Klaus Töpfer im Rhein Garzweiler

Alexander von Humboldt Der russische Winter Der Erdgipfel von Rio de Janeiro Kein Blut für Öl Risikotechnologien

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Anmerkungen 1 Frank Uekötter, Claas Kirchhelle, Wie Seveso nach Deutschland kam. Umweltskandale und ökologische Debatte von 1976 bis 1986, in: Archiv für Sozialgeschichte 52 (2012), S. 317–334; Uekötter, Recollections of Rubber, in: Frank Müller, Dominik Geppert (Hg.), Imperial Sites of Memory (erscheint bei Manchester University Press); Sarah Waltenberger, Sebastian Kneipp. Die Genese eines Erinnerungsorts (Umwelt und Erinnerung Bd.  1), München 2013; Thomas Ebert, Gedächtnisgrate. Die Zugspitze als ökologischer Erinnerungsort (Umwelt und Erinnerung Bd.  2), München 2013; Uekötter, Simulierter Untergang. 40 Jahre nach dem Bericht »Die Grenzen des Wachstums«  – was haben wir für den Umgang mit Prognosen gelernt? in: Die Zeit, 22.11.2012, S. 46; Uekötter, Remembering Rachel Carson. Remarks on the Fiftieth Anniversary of the Publication of Silent Spring, verfügbar unter http://www.abim.ch/file admin/documents-abim/Presentations_2012/ABIM_2012_0_Uekoetter_ Frank.pdf. 2 Die folgenden Bemerkungen konzentrieren sich auf Themen der Geschichtswissenschaft und der Erinnerungsforschung. Eine Diskussion von design- und programmiertechnischen Aspekten scheint umso entbehrlicher, als das Projekt in dieser Hinsicht keinerlei Innovations­ anspruch reklamiert. Es sei jedoch angemerkt, dass wir auf Wunsch gerne bereit sind, vergleichbare Projekte mit Ratschlägen auch zu diesen Aspekten zu unterstützen. 3 http://www.bpb.de/geschichte/nationalsozialismus/erinnerungsorte/ (zuletzt aufgerufen am 19.3.2013). 4 Ulrike Puvogel, Martin Stankowski, Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus. Eine Dokumentation. Band I, Bonn 1995; Stefanie Endlich u. a., Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus. Eine Dokumentation. Band II, Bonn 1999. 5 http://www.bpb.de/geschichte/nationalsozialismus/erinnerungsorte/ 125694/faqs (zuletzt aufgerufen am 19.3.2013). 6 http://www.memoryloops.net (zuletzt aufgerufen am 24.4.2013). 7 http://www.erinnerungsort.at/ (zuletzt aufgerufen am 18.3.2013). 8 Klaus Wettig, Orte der Sozialdemokratie. Ein Reisebuch, Berlin 2012. 9 http://erinnerungsorte.fes.de/ (zuletzt aufgerufen am 24.4.2013). Frank Uekötter ist als Autor eines Beitrags über den »blauen Himmel an der Ruhr« an diesem Projekt beteiligt. 10 Astrid Schwabe, Historisches Lernen im World Wide Web: Suchen, flanieren oder forschen? Fachdidaktisch-mediale Konzeption, Praktische Umsetzung und Empirische Evaluation der regionalhistorischen Website Vimu.info, Göttingen 2012, S. 125. 11 www.docupedia.de/. 12 www.ieg-ego.eu/. 13 http://docupedia.de/zg/Docupedia:%C3 %9Cber_Docupedia (zuletzt aufgerufen am 3.4.2013).

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14 Zahlen beziehen sich auf März 2013. http://stats.wikimedia.org/DE/ TablesRecentTrends.htm (zuletzt aufgerufen am 3.5.2013). 15 Ähnlich Wolfgang Schmale, Digitale Geschichtswissenschaft, Wien u. a. 2010, S. 52. 16 Schwabe, Historisches Lernen, S. 151. 17 Vgl. Christine Bartlitz, Achim Saupe, Docupedia-Zeitgeschichte: Geschichtswissenschaft 2.0?, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 9 (2012), H.  2, 3.  http://www. zeithistorische-forschungen.de/16126041-Bartlitz-Saupe-2–2012 (zuletzt aufgerufen am 20.3.2013). 18 Rezensenten dieses Buches werden hiermit freundlich gebeten, diesen Satz nicht als Steilvorlage zu missbrauchen. 19 http://bambisyndrom.wordpress.com/2012/11/02/umwelt-und-erinne rung-von-blauen-blumen-bioladen-und-der-angst-vor-dem-gau/ (zuletzt aufgerufen am 17.2.2013). 20 Alle Angaben beziehen sich auf den Stand der Abstimmung Mitte A ­ pril 2013. 21 Zum Vergleich: Bei der Akzeptanz online stehender Erinnerungsorte lagen die Extremwerte mehr als 40 Prozentpunkte auseinander. 22 Schwabe, Historisches Lernen, S. 132. 23 http://erinnerungsorte.fes.de/konzept/ (zuletzt aufgerufen am 24.4.2013). 24 Das gilt umso mehr, als neuere Erinnerungsort-Projekte zumeist auf das Erscheinen »in einem Wurf« abzielen, während Pierre Nora sein siebenbändiges Werk bekanntlich in drei Schüben veröffentlichte. Die Chance einer konzeptionellen Weiterentwicklung und produktiver Spannungen zwischen verschiedenen Projektphasen wird mit einem solchen Vor­gehen leichtfertig verspielt. 25 Peter Haber, Digital Past. Geschichtswissenschaft im digitalen Zeitalter, München 2011, S. 137. 26 Schmale, Digitale Geschichtswissenschaft, S. 40. 27 Haber, Digital Past, S. 152. Ähnlich Schmale, Digitale Geschichtswissenschaft, S. 19.

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Nachwort

Dieses Buch erscheint fast drei Jahrzehnte nach dem ersten Band Pierre Noras, mit dem die transnationale Tradition der lieux de mémoire begann. Das macht es schwer, mit ein paar wohlgesetzten Worten die eigenen intellektuellen Schulden zu begleichen. Das Konzept der Erinnerungsorte besitzt nach wie vor eine ganz eigene Magie, die nicht nur mich in den Bann schlug und das Forschungsprojekt »Environment and Memory«, aus dem diese Aufsatzsammlung hervorging, zu einem besonderen Erlebnis machte. Anstelle eines ohnehin vergeblichen Strebens nach einer vollständigen Auflistung all jener Forscherinnen und Forscher, denen ich für Beiträge und Hinweise zu Dank verpflichtet bin, sei hier jene Personengruppe in den Mittelpunkt gerückt, deren Wirken tatsächlich unverzichtbar war: meine Studenten. Thomas Ebert, Sebastian Eigen, Martin Geilhufe, Judith Heidl, Johanna Kaineder, Claas Kirchhelle, Claudia Köpfer, Christoffer Leber, Veronika Schäfer, Verena Schardinger, Amelie Tautor, Sarah Waltenberger, Amir Zelinger und die Teilnehmer meines Hauptseminars im Wintersemester 2009/10 haben dieses Projekt mit maximalem Enthusiasmus bei minimaler Bezahlung (if at all) begleitet und freimütig kommentiert. Ihren Hinweisen auf zahllose Details, aber auch der bisweilen brachialen Kritik an Entwürfen und Konzeptpapieren hat das Projekt unendlich viel zu verdanken, und gemeinsam schufen sie jene Art von harschem Gegenwind, auf den der Projektleiter bei seiner Arbeit nun einmal angewiesen ist. Es war hart mit Euch, und das meine ich als Kompliment. Danke! München, im Frühjahr 2013

Frank Uekötter

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Register

Personen Abbot, Charles Greeley  292 Ackermann, Galia  214 Adenauer, Konrad  30 f., 164 Ahmed, Leila  259–261, 268 Alexander I. von Russland  281 Alexijewitsch, Swetlana  195–197, 214 Asal, Karl  89, 92 Ashcroft, William  293 Assmann, Aleida  241 Ast, Jürgen  174 Attlee, Clement  223, 225 Bachmann, Klaus  12 Bandajewski, Juri  204, 211, 215 Baumann, Oscar  141 Baumgarten, Alfred  103 Beck, Clifford  52 Benedikt XVI. (Papst)  59 Bergmann, Burckhard  161 Biedenkopf, Kurt  171 Böhm, Gottfried  117 Borst, Arno  18, 274 Boxberger, Leo von  92 Bramwell, Anna  12 Brougier, Adolf  109 Bunting, Arthur Hugh  232, 247 Byron, George Gordon Noel  284 Carson, Rachel  12 Carter, James Earl  58 Charpak, George  203 Chodorkowskij, Michail  163 Church, Frederic Edwin  293 Crié, Hélène  193 Crookshank, Harry  244 Dekker, Eduard Douwes  290

Dinkel, Pankratius von  122 Dobson, Andrew  134 Drais, Karl  283 Erz, Wolfgang  93 Fendrich, Anton  66 Finckh, Ludwig  90 Fischer, Joschka  12 Fleming, Ian  240 Flitner, Michael  149 François, Etienne  8, 185 Frankel, S. Herbert  232 f., 244 Franklin, Benjamin  279 Franz Joseph I. von Österreich  106 Freemann, Bernhard  32–36, 38, 47 f. Fricke, Hans  39 Fusco, Paul  199 Gabriel, Sigmar  199 Genscher, Hans-Dietrich  7 f., 1­ 1–14, 25 Göring, Hermann  86–88, 90, 92 Gornig, Hans-Joachim  172 Gourou, Pierre  226 Grandazzi, Guillaume  211, 214 Grebmer, Fritz  106 Grzimek, Bernhard  20, 133–150, 153–155 Grzimek, Michael  133–136, 138, 140, 147 Halbwachs, Maurice  16 Hall, Jeremy  295 Harrison, Desmond  228 Hemingway, Ernest  145

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Personen © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

Himmler, Heinrich  90 Hitler, Adolf  88 Hogedorn, J. S.  232 f., 240 Holst, Klaus-Ewald  175 Honecker, Erich  174 Hottinger, Johann Jakob  280 Iliffe, John  238, 241

Lollobrigida, Gina  148 Lubricht, Rüdiger  199 Ludwig III. von Bayern  107 Lübke, Wilhelmine  148 Luft, Friedrich  146 Lukaschenko, Alexander  205 Luther, Carl Joseph  66

Ionides, Constantine John Philip  228, 239, 246

M’Bow, Amadou-Mahtar  265 Maahn, Wolf  58 Maddox, Gregory  235 Mandel, Heinrich  52 f. Marsh, George Perkins  11 McLuhan, Marshall  288 Medwedew, Grigori  188 Medwedjew, Dmitri  174 Meißner, Otto  143 f. Melián, Michaela  304 Mendes, Chico  12 Mercker, Moritz  141 Merkel, Angela  167, 171, 173 Merkle, Matthias  102, 121 Merz, Ludwig  57 Messmer, Pierre  202 Michel, G. A.  62 Michels, Robert  18 Mikardo, Ian  243 Miller, Alexej  176 Mrass, Walter  94 Mtenda, Julius  235 Muir, John  11 Mumelter, Hubert  70 Munch, Edvard  294

Jacquemin-Raffestin, Jean-Michel  214 Jeanne d’Arc  19 Karim, Abdul  289 f. Karl der Große  21 Kasperski, Tatiana  204 Katharina Pawlowna von Württemberg 282 Keller, Gottfried  280 Kelly, Petra  12 Kinz, Franziska  155 Kjekshus, Helge  238 Klose, Hans  87, 90 f. Kneipp, Sebastian  10, 15–17, 20, 101–124, 126–128, 313 Koch, Egmont  318 Kostin, Igor  196 f., 199 Kotenev, Wladimir  171 Kowalski, Bernhard  295 Kulthum, Umm  256 Lemarchand, Frédérick  211, 214 Lenoir, Yves  193 Lenz, Jürgen  179 Leo VIII. (Papst)  104 Leonhardt, Rudolf Walter  148 Lettow-Vorbeck, Paul von  140 Leußer, Luitpold  109 Liebeneiner, Wolfgang  122 Liebig, Justus von  282 Lienenkämper, Wilhelm  91 Litvinenko, Vladimir Stefanovich  167 Livingstone, David  141

Nash, Roderick  11 Nasser, Gamal Abdel  255 f., 259, 268, 271 Nesterenko, Wassili  211 Nora, Pierre  8, 18, 20, 24–26, 304 Nyerere, Julius  150, 237 Obama, Barack  271 Oberhäußer, Leonhard  109 Obuchhoff, Hajo  174 Oelke, Hans  40 Okrent, David  51, 55

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Register © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

Parsons, Charles  293 Patolitschew, Nikolai S.  163 Paulcke, Wilhelm  66 Pausewang, Gudrun  192 Pellerin, Pierre  194, 201 Pène, William  294 Perrow, Charles  58 Pflugbeil, Sebastian  211 Plummer, Leslie  225, 228, 247 Polidori, John  284 Ponsonby, Charles  224 Prießnitz, Vincenz  113 Proust, Marcel  19 Putin, Vladimir  161, 167 Reise, Karsten  45 Ritz, Josef  61 Rizzo, Matteo  235 f., 240 Rock, Joe  295 Rosen, Morris  188 Rust, Bernhard  87 al-Sadat, Anwar  268 Samuel, Frank  219, 225, 234, 242 Sandick, Rudolf Adriaan van  289 Schifferdecker, H.  71 Schiller, Friedrich  284 Schmidt, Arno  294 Schmidt, Helmut  164 Schoenichen, Walther  88 Schröder, Gerhard  158, 162, 167 Schweitzer, Albert  141 Schwenkel, Hans  92 Scott, K. M.  232 f., 240 Shaler, Nathaniel  293 al-Sharqawi, Abdel Rahman  261 Shelley, Mary  284 Shepard, Jim  294 Shetler, Jan  239 Siebold, Klaus  169 Siedentopf, Adolph  141

Siedentopf, Friedrich  141 Siedentopf, Wilhelm  141 Sigurdsson, Haraldur  274, 297 Smithson, James  273 Specker, Louis  279 Speer, Albert  90 Springer, Axel  35 Stanley, Henry Morton  141 Stothers, Richard B.  276 Strachey, John  223–225, 244, 247 Strohm, Holger  56 Tchertkoff, Wladimir  214 Tiefensee, Wolfgang  171 Todt, Peter  43 Treub, M.  292 Truman, Harry S.  254 Turner, William  283, 299 Unland, Georg  167 Vahrenholt, Fritz  318 Verbeek, Rogier Diederik Marius  291 Wakefield, John  220 Waugh, Evelyn  236 Wiepking-Jürgensmann, Heinrich  12, 94 Wild, Alan  242 Wilhelm I. von Württemberg  282 Wilhelm III. von Oranien-Nassau  288 Winchester, Simon  288, 290 f. Wirtz, Karl  54 Wood, Alan  219, 228, 230, 244, 247, 249 Zimen, Karl Erik  53 Zollinger, Heinrich  277

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Personen © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

Orte Abu Simbel  265 Ägypten  252 f., 255–262, 265, ­267–271 Afghanistan 164 Alaska  285, 292 Algerien 163 Arlberg 63 Ascona 59 Assuan  10, 15, 17, 19 f., 23 f., 252 f., 256–260, 262, 267–271 Augsburg  102 f., 122 Australien 292 Axamer Lizum (Österreich)  78 Bad Wörishofen  15, 101, 103–107, 115–117, 119–121, 124 Baden  95, 298 Bali 277 Banten  289 f. Batavia (heute Jakarta)  288 Bayern  73, 298 Belarus  10, 22, 178 f., 187, 190, ­197–199, 204 f., 214 f. Belgisch-Kongo 135 Berensch 29 Berlin  53, 69, 176 f., 198 f., 312 Biberach 103 Biblis 53 Bonn  31, 37 Boos  103, 114 Borneo 276 Bozen 73 Britisch-Ostafrika 133 Cannstatt 282 Cappel 31 Chaumont Bay (Lake Ontario)  293 Chemnitz 174 China 242 Christiania (heute Oslo)  294 Coney Island  295 Cuxhaven  29, 31

Dänemark  32, 35 Dar-es-Salam  224, 241 Davos  68 f. Deutsche Demokratische ­Republik (DDR)  157 f., 160, 168–170, ­172–177, 181, 198 f., 312 Deutschland  10 f., 21 f., 35, 50, 54 f., 57, 61, 63, 67 f., 89, 93, 134, ­140–142, 147, 149, 157–159, 162 f., 167–169, 174 f., 177–181, 192, 195, 198 f., 209, 211, 213, 281 Deutsch-Ostafrika  140 f. Dillingen 102 Dorum  41, 43 Dünkirchen 226 Ecuador 292 El Alamein  20 El Salvador  292 England  30, 54, 141, 153 Englischer Garten München  308 Erzgebirge 73 Eyjafjallajökull  273, 297 Feldberg 67 Fort Ikoma  140, 142 Frankfurt  136, 138, 143 Frankreich  8, 10, 16 f., 22, 26, 32, 58, 61–63, 141, 153, 187, 192–195, 198, 200–203, 210, 212 Französisch-Westafrika 135 Freiberg  167, 313 Freiburg im Breisgau  67 Fukushima  8, 55, 57, 209 f. Garmisch-Partenkirchen  61, 77 Glarus (Schweizer Kanton)  67 Gorleben 57 Grafenrheinfeld 192 Greenwich  226, 240 Großbritannien  30, 32, 35, 220, 222 f., 225 f., 243 f., 256

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Hamburg  63, 192 Hannover 94 Harrisburg 56–58 Helgoland  30 f., 36, 41 Hiroshima 286 Hoechst 53 Hohenheim 282 Hohenstoffeln 90 Indien  231, 287 Indonesien  11, 274–276, 285, ­287–290, 296, 301 Innsbruck 78 Iran 163 Italien  8, 63, 153 Ituri-Wald  136, 153 Jakarta (siehe auch Batavia)  295 Jamburg 169 Japan  153, 287 f., 297 Java  276, 285 f., 288, 290, 296 Johnstown (USA)  295 Kairo  255, 266, 270 Kanada 155 Karlsruhe  54, 57 Katmai (Alaska)  285 Kenia  133, 136 Kiew  186, 213 Kitzbühel 61 Knechtsand  9, 15, 17, 19, 29–32, 36–48, 313 Königswinter 43 Kongwa  227, 229, 232, 234–236, 241 Kopenhagen 13 Korsika 187 Krakatau  11, 18, 273, 285–288, 290–297 Laki 279 Laufenburg 313 Lausanne 280 Les Arcs  61 Leverkusen 53 Lissabon 18 Liwale District  239

London  69, 219, 240, 293 Ludwigshafen 53 Lüneburg 42 Lüneburger Heide  92, 313 Martinique 295 Matterhorn 75 Mauritius  286 f. Merapi 297 Mexiko 231 Minsk  204 f., 207 f., 213 Molukken 276 Mont Pelé  295 Monte Verità  59 Mosambik 248 Moskau  165, 204, 256 Mount Kelud (Indonesien)  299 Mount St. Augustine (Alaska)  292 Mount St. Helens (Washington)  288, 294 Mount Toba (Sumatra)  285 München  22, 64, 67, 73, 82, 84, 102, 117, 308 Münster 22 Mürren 61 Msanji Wildpark  19, 241 Nachingwea  227 f., 235–237, 239, 241, 246, 249 Nagoya 97 Nationalpark Bayerischer Wald  155, 308 Nationalpark Wattenmeer  9, 29, 42 Neuseeland 285 New Jersey  293 New York  295 Ngorongoro-Krater 149 Niederländisch-Ostindien 287 Niederlande  8, 32, 35, 153, 158, 276 f., 286, 288–290, 296 Niedersachsen  37, 44 Nogent-sur-Seine 193 Norderoog 30 Nordirland 226 Norwegen  158, 220 Nubien  265 f., 272

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Orte © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300510 — ISBN E-Book: 9783647300511

Österreich  61, 67 Österreich-Ungarn  68, 106, 121 Ohio 282 Oldenburg 172 Orenburg  168, 173 Oslo 294 Osmanisches Reich  289 Ottobeuren 103

Stalingrad 22 Stephansried (Unterallgäu)  102 Straßburg 21 Stuttgart  93, 282 Sudan  136, 263, 265 Sulawesi 276 Sumatra  276, 285 f., 289, 297 Sumbawa 275–277

Paris  144, 187, 193 f. Petersburg 167 Polen  158, 187 Pompeij 284 Princeton 134 Pripjat  186, 188, 197, 208 f.

Tambora  11, 18, 273–277, 283–289, 291, 293, 296 f. Tanganjika siehe Tansania Tannenberg 21 Tansania  10, 23, 133 f., 136, 138 f., 149 f., 219–222, 224 f., 228–231, 233, 236–243, 248 Taupo (Neuseeland)  285 Thailand  287 f., 301 Trischen 43 Tschernobyl  7 f., 10, 13, 15, 17, 20, 22, 56–58, 185–208, 210, 212–215

Rapallo 21 Rio de Janeiro  14, 17 Rodriguez 286 Rom  21, 52, 104, 298 Russland  159, 162 f., 165–168, 177, 215, 281 Saas Fee (Schweiz)  76 Sachsen  171, 174 Sahlenburg 29 Sangaar 275 Sayda (Sachsen)  173 Schleswig-Holstein 220 Schwarzwald  63, 67, 79 Schweden  153, 242 Schweiz  30, 61, 67 f., 279 Serengeti  10, 14, 20, 133–135, 138 f., 146–151, 239, 241 Seveso  7, 13, 318 Seychellen 287 Shippingport 51 Sibirien 164 Sowjetunion (UdSSR)  31, 157 f., 162–165, 168, 171 f., 174 f., 181, 186 f., 191 Spanien 153 Srebrenica 22 St. Moritz  68 f., 77 St. Petersburg  167 Stade 37

Uganda  133, 136 Ujung Kulon Nationalpark  296 Ukraine  58, 167, 169, 178, 186, ­197–199, 212 f., 215 Urambo  227 f., 230, 236, 241, 246, 249 Urengoi  157, 169 USA  11, 52, 54 f., 145 f., 153, 164, 186, 228–230, 254 f., 259, 273, 281, 295 Val Thorens  61 Vatikan 16 Verdun 20 Versailles 21 Viruga-Nationalpark 135 Wackersdorf 308 Waidhaus (Bayern)  173 Wallis 73 Washington  288, 294 Weißrussland siehe Belarus Wien  21 f., 67, 73, 188, 304 Wienerwald 67

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Wilhelmshaven 41 Worpswede 313 Wremen 38 Württemberg  95, 298 Wursten  31, 36 Wutachschlucht  90, 315

Yé 144 Zermatt (Schweiz)  76 Zürich  280 f. Zugspitze  75, 308

Institutionen Alpenverein  64, 76 American Geographical Society  231 Areva 202 Association pour le contrôle de la radioactivité dans l’ouest (ACRO)  201, 203 Atomic Energy Commission (AEC)  51 f. BASF 158, 161, 171–173 Brundtland-Kommission 268 Bund für Vogelschutz  32 Bund Naturschutz in Bayern  86 Bundesamt für Naturschutz  96 Bundesanstalt für Naturschutz und Landschaftspflege 93 Bundesatomministerium 53 Bundesforschungsanstalt für Naturschutz und Landschaftsökologie  94 Bundesforschungsministerium  52 f. Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie  159 Bundesumweltministerium  95, 209 Bundesverfassungsgericht 93 Bundeswehr  40, 43 Bundeswirtschaftsministerium 172 Bundeszentrale für Politische ­Bildung  174, 303 Caterpillar 165 Chernobyl Forum  189–191, 196, 206, 215 Club of Rome  268

Colonial Development Corporation (CDC)  231, 247 Colonial Office  231 Commission de recherche et d’information indépendantes sur la radioactivité (CRIIRAD)  200 f., 203 DeLorean Motor Car Company  226 Deutsche Atomkommission (DAtK)  51, 53 Deutsche Bank  163 Deutscher Skiverband  73 Électricité de France (EDF)  194, 202 Enquete-Kommission »Zukünftige Kernenergie-Politik« 57 E.ON Ruhrgas AG 157 f., 161–163, 166–169, 171–173, 176–179 Erdgas Südsachsen  174 Erdgas und Erdöl GmbH (BEB)  161, 172 EU-Kommission 179 Europäischer Rat  161 Europäisches Parlament  161 European Chernobyl Network  207 f., 215 EWE Oldenburg (ehemals Energieversorgung Weser-Ems AG)  172 Fédération Internationale de Ski  73 Frankfurter Zoologische Gesellschaft  150 f. Freie Deutsche Jugend  169–171, 174 f.

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Friedrich-Ebert-Stiftung 304 Friends of the Earth  56 Gazprom  157 f., 161 f., 166, 171 f., 178 f., 181 Greenpeace  13, 203, 207, 313 Groupement de scientifiques pour l’information sur l’énergie nucléaire (GSIEN)  201, 213 Hahn-Meitner-Institut 53 Informationszentrum Niedersäch­ sisches Wattenmeer  43 Institut de Radioprotection et de Sûreté Nucléaire (IRSN)  214 International Atomic Energy Agency (IAEA)  188 International Chernobyl Project  189 f., 196 Internationaler Rat für Vogelschutz  35 Internationaler Verein Kneipp’scher Ärzte  104, 111, 116, 119 Internationaler Währungsfonds  254 Internationales Bildungs- und Begegnungswerk (IBB)  207 f., 213 Kneipp-Bund 113 Kneipp-Verein  104, 117, 122 Kneipp-Werke  15, 101, 108–110, 123 f., 126 Kraft durch Freude (KdF)  107 Leipziger Verbundnetz Gas AG (VNG)  167, 171–173, 175–178 Mannesmann AG 163 Mitteleuropäischer Skiverband  73 Montclair Art Museum (New Jersey)  293 Nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV)  107 Natural History Museum (London)  293

Netherlands Indies Steamship Company 296 Nord Stream  157, 159 f., 162, 166 f., 173 f., 179, 181 OAO Gazprom  157, 167, 176 Öko-Institut  179, 315 Österreichische Armee  77 f. Österreichischer Alpenverein  64 Österreichischer Skiverband  73 Ost-Berliner Umweltbibliothek  312 Overseas Food Company (OFC)  223, 225, 228, 231 f., 236 f., 243, 245–247 Paul Hartmann AG 109 Prießnitz-Kneipp-Vereine 113 Prießnitz-Vereine 113 Rat Gegenseitiger Wirtschaftshilfe (RGW)  168, 171 Reaktorsicherheitskommission 57 Reichsarbeitsgemeinschaft der Verbände für naturgemäße Heilund Lebensweise  113 Reichsernährungsministerium 143 Reichserziehungsministerium 87 Reichsforstamt 87 Reichsjustizministerium 87 Réseau: »sortir du nucléaire« 203, 207 Royal Air Force  31, 35 Royal Society  291 RWE AG  52 Sandoz 13 Schneeschuhverein München (SVM)  67 Schutz- und Forschungsgemeinschaft Knechtsand  34, 38 Schutzgemeinschaft Deutsches Wild 30 Schweizer Skiverband  62, 73 Service central de protection contre les rayonnements ionisants (SCPRI) 201

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Sierra Club  56 Smithsonian Institution  273, 292 Staatliches Bergbauinstitut St.  Peters­burg  167 Stadtwerke Chemnitz  174 Stiftung Bruno Kreisky Archiv  304 Tanganyika Agriculture Corporation (TAC)  231, 237 Tanzanian African National Union (TANU) 237 Tanzanian Village Settlement Agency 237 Technisches Hilfswerk  40 Tennessee Valley Authority (TVA)  11, 223, 254 Trassenvereine 173 Tschernobyl-Hilfe 198 Tschernobyl-Museum (Kiew)  213 TU Bergakademie Freiberg  167 UNESCO 30, 254, 264–267, 296 Unilever Corporation  219 Union of Concerned Scientists  213 United Africa Company (UAC)  219, 225, 243 f. Universität Dar es Salaam  241 Universität Hannover  12 Universität Hohenheim  282

University of California-Los Angeles  51 U. S. Air Force  30 VEB Verbundnetz Gas  169, 172 Verein Jordsand  30 Verein zur Förderung des Fremdenverkehrs (München)  64 Vereinte Nationen  232 Verkehrsverein des Berner Oberlandes 62 Verkehrsverein Dorum  41 VNG-Verbundnetzgas AG 161, ­171–173, 175–178 Vogelwarte Helgoland  41 Volcanological Survey of Indonesia (VSI)  299 f. Wehrmacht 143 Weltbank  254 f. Weltgesundheitsorganisation 254 Willy-Brandt-Haus  199, 212 Wintershall Erdgashandelshaus GmbH (WIEH)  172 f. Wintershall Holding GmbH 171 f. Württembergische Landessparkasse  282 Yale University  58 Yukos-Konzern 163

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Autorinnen und Autoren

Ewald Blocher ist Doktorand im Promotionsprogramm »Environment and Society« der Ludwig-Maximilians-Universität München. Andrew Denning ist Postdoctoral Fellow im Department of History der University of British Columbia in Vancouver. Stefan Esselborn ist Doktorand im Promotionsprogramm »Environment and Society« der Ludwig-Maximilians-Universität München. Karena Kalmbach ist Doktorandin am European University Institute in Florenz. Jeannette Prochnow ist Lehrkraft für besondere Aufgaben an der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld. Joachim Radkau ist Professor an der Fakultät für Geschichts­ wissenschaft der Universität Bielefeld. Franziska Torma ist Assistentin am Lehrstuhl für Europäische Kulturgeschichte der Universität Augsburg. Frank Uekötter ist Reader in Environmental Humanities an der University of Birmingham. Sarah Waltenberger ist Doktorandin am Forschungsinstitut des Deutschen Museums in München. Sonja Weinbuch ist Research Fellow am Rachel Carson Center. Anna-Katharina Wöbse arbeitet als freie Historikerin in Bremen.

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