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German Pages 206 [208] Year 2015
Kollision und Devianz
Diskursivierung von Wissen in der Frühen Neuzeit Band 3
Herausgegeben von Thorsten Burkard, Markus Hundt, Steffen Martus, Steffen Ohlendorf, Claus-Michael Ort
Yvonne Al-Taie, Bernd Auerochs, Anna-Margaretha Horatschek (Hg.)
Kollision und Devianz Diskursivierungen von Moral in der Frühen Neuzeit
De Gruyter Oldenbourg
ISBN 978-3-11-036470-5 e-ISBN (PDF) 978-3-11-036486-6 e-ISBN 978-3-11-039580-8 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2015 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/München/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Inhalt
Einleitung........................................................................................................ 7
Philosophie, Wissenschaft, Theologie Richard Nate (Eichstätt) „For the Benefit of Mankind“. Zur Erlösungsrhetorik in der frühneuzeitlichen Wissenschaft und ihren Nachwirkungen ......................... 15 Andreas Mahler (Berlin) „Search, examine, trie and seeke“. Zur diskursiven Umkodierung von ‚Glaubenswissen‘ in ‚Erfahrungswissen‘ in Englands Früher Neuzeit (am Beispiel von John Donnes früher und später Lyrik).............................. 33 Stephanie Wodianka (Rostock) Soldat und Honigbiene. Zum Devianzpotential geistlicher Übung bei Lorenzo Scupoli und François de Sales ........................................................ 47 Raimund Weinczyk (Bonn) Pietro Pomponazzi und die Unsterblichkeit der Tugend. Pomponazzis Traktat über die Unsterblichkeit der Seele und das Lob auf die Philosophie ................................................................................ 63 Gideon Stiening (München) Des Ritters freier Wille und der Zwang des Königs. Miguel de Cervantes’ kritische Reflexion auf die Rechts- und Moralbegründung der Spanischen Spätscholastik ...................................................................... 77
Theater, Literatur, Zeitschriften Martin Disselkamp (Berlin) Magnifizenz und Luxus. Zur Ästhetisierung und Dynamisierung ethischer Kategorien in der Frühen Neuzeit ............................................... 103
Bianca Hufnagel (Tübingen) „Ein Tyrann in teutzschen landen“ als Catilina in der Unterwelt. Fünf Reden und ein Totengespräch als verdoppeltes Kampfmittel und als Begründer des (literarischen) Diskurses über Tyrannei bei Ulrich von Hutten ....................................................................................... 121 Ulrike Wels (Potsdam) Deviante Sexualmoral? Der Amadís von Gallien und seine Bearbeitungen ............................................................................................. 145 Thomas Althaus (Bremen) Topik und Komödie. Andreas Gryphius� Horribilicribrifax Teutsch ........ 165 Yvonne Al-Taie (Kiel) Medienwechsel als Diskurswechsel? Johann Christoph Gottscheds Sittenlehre und die Moralischen Wochenschriften ..................................... 189
Einleitung
Prekäres Wissen. Eine andere Ideengeschichte der Frühen Neuzeit heißt ein 2012 erschienenes Buch des Erfurter Ideenhistorikers Martin Mulsow.1 Nicht erst dieses Buch lenkte die Aufmerksamkeit der Frühneuzeitforschung darauf, wie fragil, bei allem immer noch dominanten ordo-Denken, viele vermeintlich gesicherte Wissensbestände im 16., 17. und 18. Jahrhundert waren, wie riskant der Transfer von Wissen sein konnte, und wie prekär häufig die Existenzen jener waren, die diesen Transfer zu bewerkstelligen hatten. Dass nicht nur das „clandestine Prekariat“ der Frühen Neuzeit, mit dem sich Mulsows Buch vorrangig befasste,2 fragil war, sondern die Verunsicherung weitere Kreise bis ins Establishment zog, ist die Ausgangshypothese des vorliegenden Sammelbandes, der die Geschichte der Funktionalisierung, Legitimierung und Delegitimierung moralischen Wissens von der europäischen Renaissance bis zur Aufklärung in den Blick nimmt. Wie moralische Gewissheiten miteinander in Konflikt geraten, unterwandert werden und man sich Freiräume zu verschaffen versteht, innerhalb derer sie suspendiert sind, wird an den vorrangigen Reflexionsmedien der frühneuzeitlichen Gesellschaft Philosophie, Wissenschaft und Theologie sowie an Theater, Literatur und dem Zeitschriftenwesen untersucht.
Philosophie, Wissenschaft, Theologie Die nova scientia und die sie rechtfertigende neue Philosophie, die traditionelle Wissensbestände und Methoden in Zweifel zogen, mussten ihre Ansprüche auf Deutungshoheit von Wissen und Wirklichkeit im 16. und 17. Jahrhundert legitimieren. RICHARD NATE wendet sich in seinem Beitrag For the Benefit of Mankind dem britischen Kontext der neuen Experimentalwissenschaft zu. An der Rhetorik von Mitgliedern der Royal Society zeigt er, wie massiv die formidablen Umgestaltungspläne der Welt, die in diesem Milieu gediehen, auf religiöse, eschatologische Erlösungsrhetorik zurückgreifen mussten, um überhaupt Akzeptanz finden zu können. Nate beschreibt aber auch die kritische Umdeutung dieser Utopien in der Dystopie, die mit Swifts Gulliver’s Travels im
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Martin Mulsow: Prekäres Wissen. Eine andere Ideengeschichte der Frühen Neuzeit. Frankfurt am Main 2012. Zur Terminologie vgl. Mulsow: Prekäres Wissen (vgl. Anm. 1), S. 44-57.
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Die Herausgeber
frühen 18. Jahrhundert einsetzt und ihre Fortsetzung etwa in Walter Besants spätviktorianisch-dystopischer Erzählung The Inner House (1888) findet. Handelt Nate von der Gewinnung eines säkularen Freiraums durch Benutzung etablierter Deutungsfiguren der Religion, so geht es ANDREAS MAHLER in Search, examine, trie and seeke um einen Prozess der „Umkodierung“, in dessen Verlauf im reformatorischen England die Methodologie der Wissensgenerierung in den neuen Experimentalwissenschaften selbst Eingang in die religiöse Sprache fand und so zur Krise theologischer Autorität beitrug. Am lyrischen Werk von John Donne veranschaulicht Mahler die Prozesse der Temporalisierung bzw. Linearisierung, Subjektivierung bzw. Individualisierung und Pluralisierung bzw. Differenzierung, die feste, vorgegebene Autorität untergraben und Weg und Suche nach dem „eigenen“ Glauben tendenziell privilegieren. In verwandtem Sinne untersucht STEPHANIE WODIANKA in Soldat und Honigbiene das „Devianzpotential“ zweier klassischer Texte der mystischen Meditationsliteratur der Frühen Neuzeit aus Italien und Frankreich: Lorenzo Scupolis Combattimento spirituale und François de Sales‘ Introduction à la vie dévote. Paradoxerweise ist es gerade das Interesse dieser Texte an Verhaltensnormierung, was das Devianzpotential hervortreibt. Bei Scupoli werden in den Meditationsanleitungen die Schwierigkeiten, nicht vom rechten Weg abzuweichen, so groß, dass der Meditierende in immer komplexere Schleifen des spirituellen Kampfes und der kritischen Selbstbeobachtung hineingeführt wird, während die größere Toleranz des François de Sales, die Verschiedenheit der spirituellen Wege betreffend, in Gefahr ist, in Liberalität und Beliebigkeit zu münden. Mit dem italienischen Platonismus der Renaissance und der spanischen Spätscholastik nehmen RAIMUND WEINCZYK und GIDEON STIENING zwei einflussreiche philosophische Bewegungen Südeuropas in den Blick. Weinczyk liest in Pietro Pomponazzi und die Unsterblichkeit der Tugend Pomponazzis Unsterblichkeitslehre (mit ihrem vorsichtig angedeuteten Verzicht auf individuelle Unsterblichkeit) als Exempel eines von averroistischen Lehren inspirierten „Spinozismus ante Spinozam“. Stiening weist in Des Ritters freier Wille und der Zwang des Königs Cervantes als Kenner und ironischen Kritiker der Naturrechtslehre des Francisco Suárez und der Schule von Salamanca aus. Der Aufsatz deutet das berühmte zweiundzwanzigste Kapitel des ersten Teils von Don Quijote (die Befreiung der Galeerensträflinge durch den Ritter) als spielerisch-indirekte, imaginative Abhandlung über die theonome Rechtsbegründung Suárez’ und die ihr eigenen Aporien zwischen der postulierten angeborenen Freiheit des Menschen und der Notwendigkeit, die Zwangsgewalt legitimer Herrschaft zu rechtfertigen.
Einleitung
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Theater, Literatur, Zeitschriften Die Sektion unseres Sammelbandes zu Theater, Zeitschriften und Literatur eröffnet MARTIN DISSELKAMP mit seinem Beitrag Magnifizenz und Luxus. Mit dem Begriff der Magnifizenz verhandelt er ein Schlüsselkonzept, das in der Frühen Neuzeit für alle Künste, die im weiteren Sinn mit herrschaftlicher Repräsentation zu tun hatten, die Rechtfertigung lieferte. In der aristotelischen Tradition, ausgehend von der Nikomachischen Ethik, war Magnifizenz die selbstverständliche Tugend der maßgebenden Mitglieder einer Gesellschaft; sie regelte die dem Gemeinwesen dienliche Verwendung von Reichtümern. Die Legitimität der Gesellschaftsordnung wurde dabei immer schon selbstverständlich vorausgesetzt. An Giovanni Pontano und Justus Lipsius gelingt es Disselkamp nun zu zeigen, wie die großartige ästhetische Prachtentfaltung in der Frühen Neuzeit allererst Stabilität und Legitimität generieren soll. Die vermisste Ordnung zeigt sich auch darin, dass der Luxusvorwurf das Magnifizenz-Konzept in der Frühen Neuzeit wie ein Schatten begleitet. BIANCA HUFNAGEL widmet sich in „Ein Tyrann in teutzschen Landen“ als Catilina in der Unterwelt der Gattung des Totengesprächs. Diese Gattung, die in ihrem Ursprung, bei Lukian von Samosata, das Vehikel einer kultiviert-urbanen ironischen Distanz war, wandelt sich unter den gröberen Händen Ulrichs von Hutten in den Typus einer aggressiven politischen Kampfschrift. Indem in Huttens Totengespräch Phalarismus die Tyrannen in der Unterwelt – der antike Phalaris und der zeitgenössische Herzog Ulrich von Württemberg – sich zynisch über die beste Praxis der Tyrannei untereinander austauschen, intendiert Hutten die existentielle Vernichtung des Gegners und erwartet sie unverhohlen von Kaiser und Volk, den primären Adressaten seiner Schrift. Mit dieser Geisteshaltung kündigen sich bereits die Bürgerkriege des späteren 16. und 17. Jahrhunderts an. Mit zwei anrüchigen und umstrittenen literarischen Gattungen befassen sich ULRIKE WELS und THOMAS ALTHAUS in ihren Beiträgen: dem Amadis-Roman und der derben Komödie. Wels behandelt in Deviante Sexualmoral? die Geschichte des AmadisStoffes. Die sexuellen Eskapaden in den Amadis-Romanen verletzten offensichtlich den frühneuzeitlichen Moralkodex und erfreuten sich dennoch – oder deshalb – bei der zeitgenössischen Leserschaft großer Beliebtheit. Die apologetischen Stellungnahmen in Vorworten von Romanautoren und Rezensionen liest Wels als eine Art taktischen Begleitschutz für die unmoralischen Romane in einer Welt, in der einflussreiche Theologen die Gattung Roman überhaupt, insbesondere aber die Amadis-Romane massiv verdammen. Althaus bietet in Topik und Komödie ein close reading von Andreas Gryphius’ Horribilicribrifax Teutsch. Er führt vor, wie im Freiraum der Komödie gerade feste Schemata der Rhetorik von Gryphius dazu benutzt werden, kodifiziertes moralisches Wissen hin und her zu wenden und in einen Strudel relativierender Bewegung zu versetzen – so dass selbst die constantia, die Tugend, der vielleicht die höchste barocke Wertschätzung gilt, von Zweideutigkeit bedroht erscheint.
Die Herausgeber
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Mit dem Beitrag von YVONNE AL-TAIE Medienwechsel als Diskurswechsel? erreicht der Sammelband die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts. An Johann Christoph Gottsched und den Moralischen Wochenschriften zeigt Al-Taie, wie das neue Medium, in dem sich tastend die neue Form der vielfach verzweigten und kritischen bürgerlichen Öffentlichkeit aufbaut, dazu genutzt wird, die bisher ausschließlich in gelehrten Kreisen zirkulierenden rationalistisch-philosophischen Morallehren einem breiteren, bürgerlichen Publikum zu erschließen. Die mediale Neuerung scheint den Verfassern eine gewisse Scheu vor einem allzu offensichtlichen Diskurswechsel aufzuerlegen, die sie veranlasst, ihre moralischen Thesen im theologisch-konservativen Gewand zu präsentieren. * Mit seiner methodischen Pluralität und seiner historisch-sachlichen Spannweite möchte der vorliegende Sammelband einige Schlaglichter auf die konfliktreiche Geschichte der Unterwanderung moralischer Gewissheiten in der Frühen Neuzeit werfen und Anlass zu deren weiterer Erforschung geben. Ein Ergebnis im Hinblick auf frühneuzeitliche Kollision und Devianz im Feld moralischen Wissens lässt sich schon festhalten: Die vielfach in den Beiträgen dieses Bandes konstatierte Indirektheit und Verstecktheit der Unterwanderungstendenzen legt den Gedanken nahe, dass von einer Sehnsucht nach der totalen Revolution, wie sie Bernard Yack erstmals bei Rousseau für die europäische Ideengeschichte diagnostizierte,3 in der Frühen Neuzeit noch keine Rede sein kann. Auch wo Stabilität kaum mehr vorausgesetzt werden kann, wird sie vielfach noch selbstverständlich in Anspruch genommen. Dennoch ist die schleichende Erosion des etablierten moralischen Wissens unverkennbar da, und sie verstärkt sich im Zeitalter der Bürgerkriege mit der leidenschaftlichen Insistenz, mit der die Parteien auf ihren eigenen Werten beharren. Kollision und Devianz bieten sich in den Moraldiskursen der Frühen Neuzeit somit vornehmlich als subkutanes, subversives Moment dar, das die herrschenden Moraldiskurse sukzessive unterminiert. So wird man wohl schließen können, dass die vieldiskutierte These von Reinhart Koselleck, in den „indirekten Gewalten“ der oberflächlich „unpolitischen“ bürgerlichen Geselligkeit würde sich die Französische Revolution anbahnen,4 eine umfassende Vorgeschichte in der Frühen Neuzeit hat. In das Feld dieser Vorgeschichte haben die Beiträger dieses Bandes einige Expeditionen unternommen. *
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Bernard Yack: The Longing for Total Revolution. Philosophic Sources of Social Discontent from Rousseau to Marx and Nietzsche. Princeton/NJ 1986. Reinhart Koselleck: Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt. Freiburg/München 1959.
Einleitung
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Der vorliegende Band präsentiert die überarbeiteten Fassungen von Vorträgen eines interdisziplinären Symposiums, das das Kieler Forschungszentrum „Diskursivierung von Wissen in der Frühen Neuzeit“ am 26. und 27. Oktober 2012 in Kiel veranstaltete. Das 2008 gegründete Forschungszentrum hat sich zur Aufgabe gesetzt, Generierung, Verwaltung, Popularisierung, Tradierung und Entwertung von Wissen in der Frühen Neuzeit interdisziplinär zu erforschen. Ein besonderes Augenmerk gilt dabei den diskursgeschichtlich zu erfassenden Verwandlungen und Umkodierungen von Wissenskonzepten und Wissensformaten. Der Band schließt thematisch an zwei Veröffentlichungen der gleichnamigen Publikationsreihe des Forschungszentrums an, die 2011 und 2013 zu den Themenbereichen „Politik – Ethik – Poetik“ und „Natur – Religion – Medien“ erschienen sind.5 Die Herausgeber danken sehr herzlich all denen, deren Hilfe das Symposium und den Sammelband allererst ermöglicht haben: der Fritz-Thyssen-Stiftung (www.fritzthyssen-stiftung.de) für ihre großzügige finanzielle Unterstützung der Tagung; der Schleswig-Holsteinischen Landesbibliothek für die kostenlose Überlassung eines Tagungsraums mit Fördeblick; Steffen Ohlendorf, Julius Förster, Lea Gundlach, Frederike Köpke und Dicle Yasan für tatkräftige Hilfe bei der Organisation des Symposiums und der Betreuung der Teilnehmer; Frederike Köpke, Sarah Dost, Julius Förster, Hanna Stapelfeldt, Yorck Beese, Lea Gundlach und Laura Hübner für ihre Unterstützung bei Einrichtung und Korrektur der Manuskripte; nicht zuletzt schließlich Frau Bettina Neuhoff für ihr kompetentes Lektorat und die verlegerische Betreuung des Bandes. Yvonne Al-Taie Bernd Auerochs Anna-Margaretha Horatschek
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Thorsten Burkard, Markus Hundt, Steffen Martus, Claus-Michael Ort (Hgg.): Politik – Ethik – Poetik. Diskurse und Medien frühneuzeitlichen Wissens. Berlin 2011; Thorsten Burkard, Markus Hundt, Steffen Martus, Steffen Ohlendorf, Claus-Michael Ort (Hgg.): Natur – Religion – Medien. Transformationen frühneuzeitlichen Wissens. Berlin 2013.
Philosophie, Wissenschaft, Theologie
Richard Nate (Eichstätt) „For the Benefit of Mankind“. Zur Erlösungsrhetorik in der frühneuzeitlichen Wissenschaft und ihren Nachwirkungen
1. Wissenschaft als religiöser Akt In seiner 1667 erschienenen History of the Royal Society bemerkte Thomas Sprat, die Mitglieder der wenige Jahre zuvor gegründeten gleichnamigen Wissenschaftsgesellschaft unterschieden sich von den „bookish wise men“ früherer Jahrhunderte vor allem durch das selbstgesteckte Ziel, wissenschaftliche Erkenntnisse in einen Anwendungsbezug zu stellen. Eine wichtige Aufgabe der Wissenschaft sei es, „to direct the actions, and supply the wants of human life“.1 Nach Sprats Ansicht sollte sich die Royal Society nicht mit spekulativen Fragen herumschlagen, sondern mit den Dingen der Welt beschäftigen, diese in den Dienst des Menschen stellen und dadurch sein Los auf Erden verbessern. Bezeichnend ist, dass der erste Historiograph der Royal Society den genannten Praxisbezug nicht nur in einen utilitaristischen, sondern auch in einen religiösen Zusammenhang brachte.2 Seinem Vorbild Francis Bacon folgend, charakterisierte er die anwendungsbezogene Wissenschaft als eine Verwirklichung christlicher Gebote, wenn er schrieb: „It will give us more opportunities of Charity, Affability, Friendship, and Generosity, which are all of them divine Graces, as well as Faith, and Repentance.”3 Dass die frühneuzeitliche Naturwissenschaft ihre Legitimation erst allmählich erringen musste, ist bekannt. Giordano Brunos Ende auf dem Scheiterhaufen und Galileis erzwungener Widerruf sind Beispiele dafür, dass wissenschaftliche Theorien und Erkenntnisse ihre Verfasser leicht in einen Konflikt mit religiösen Dogmen bringen konnten. Hierin mag eine Erklärung dafür liegen, dass Francis Bacon in den Erläuterungen zu seiner wissenschaftlichen „Instauratio Magna“ (1620) nicht nur deren Nutzen hervorhob, sondern sein Vorhaben auch als ein religiöses Programm inszenierte. Im Vor-
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Thomas Sprat: The History Of The Royal-Society Of London For the Improving of Natural Knowledge. London 1667. Hg. von Jackson I. Cope and Harold W. Jones. St. Louis, Mo./London r 1958, S. 337, 342. Dieser Zusammenhang wird auch von Joanna Picciotto ausführlich herausgearbeitet: Labors of Innocence in Early Modern England. Cambridge, Mass. 2010. Sprat: History (wie Anm. 1), S. 366.
Richard Nate
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wort erklärte er, die von ihm projektierte Forschung könne gar nicht gegen die Prinzipien der Religion verstoßen, denn die Ursache von Adams Sündenfall sei schließlich nicht dessen Drang nach Naturerkenntnis gewesen, sondern nur das Bestreben, zwischen Gut und Böse unterscheiden zu wollen. Die Naturforschung war dagegen eine Aufgabe, die Gott dem Menschen selbst aufgetragen hatte. Der Schöpfer hatte, wie Bacon es formulierte, den Menschen gleichsam zu seinem Partner in einem Rätselspiel erkoren: „Even as though the divine nature took pleasure in the innocent and kindly sport of children playing at hide and seek, and vouchsafed of his kindness and goodness to admit the human spirit for his playfellow at that game.“4 Der göttliche Auftrag an den Menschen bestand darin, der Rätselhaftigkeit des Universums auf die Spur zu kommen. Wie Hans Blumenberg gezeigt hat, wandelte sich die zuvor als Ausdruck der Sündhaftigkeit des Menschen erachtete curiositas im Laufe der Frühen Neuzeit zu einer gesellschaftlichen Tugend.5 Damit diese allerdings angemessen praktiziert werden konnte – und hierin liegt eine Parallele zum religiösen Diskurs –, musste ihr ein Akt der Befreiung oder Reinigung vorausgehen. In Bacons Novum Organum zeigt sich dieser Gedanke deutlich. Erst wenn die jahrhundertelang tradierten Vorurteile, die Bacon bezeichnenderweise als „Idole“ oder Götzenbilder des Geistes beschrieb, überwunden waren, sollten dem Forscher die Pforten zum Paradies der Wissenschaft offenstehen.6 Es dürfte kein Zufall sein, dass Bacon dabei auch auf die neutestamentliche Idee kindlicher Unschuld verwies: „The kingdom of man, founded on the sciences, is not much other than the entrance into the kingdom of heaven, whereunto none may enter except as a little child.“7 In seiner Wissenschaftsrhetorik stilisierte Bacon aber nicht nur das Studium der Natur zu einem religiösen Akt, sondern auch die Anwendung der gewonnenen Erkenntnisse. Wenn der Wissenschaftler sich nicht um seinen eigenen Ruhm kümmerte, sondern sich ganz und gar dem Prinzip des „benefit and use of life“ verpflichtete, seine Forschung also in den Dienst des Menschen stellte, dann setzte er der Sündhaftigkeit der Welt das Prinzip der Nächstenliebe entgegen. Über die Männer der Wissenschaft ist bei Bacon zu lesen: Lastly, I would address one general admonition to all; that they consider what are the true ends of knowledge, and that they seek it not either for pleasure of the mind, or for contention, or for superiority to others, or for profit, or fame, or power, or any of these inferior things; but for the benefit and use of life; and that they perfect and govern it in charity. For it was from lust of
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Francis Bacon: The Works of Francis Bacon. Hg. von James Spedding, Robert L. Ellis und Douglas D. Heath. 14 Bde. London 1858-1874. Stuttgart/Bad Cannstatt r1961-1963, Bd. 4, S. 20. Vgl. Hans Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit. Frankfurt a.M. 1996, S. 401ff. Vgl. Bacon: Works (wie Anm. 4), Bd. 4, S. 53-55. Bacon: Works (wie Anm. 4), Bd. 4, S. 69.
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power that the angels fell, from lust of knowledge that man fell; but of charity there can be no excess, neither did angel or man ever come in danger by it.8
Eine solche Stilisierung der wissenschaftlichen Forschung zur angewandten Theologie war freilich nicht unproblematisch, denn während Bacon die Wissenschaft aufwertete, indem er sie von dem möglichen Vorwurf der sündhaften Selbsterhebung des Menschen befreite, sprach er der Religion zugleich ihre bisherige Funktion ab, den alleinigen Weg zur Erlösung zu repräsentieren. Es fügt sich in dieses Bild, dass es in Bacons Utopie New Atlantis (1627) Wissenschaftler sind, die den Status von Priestern besitzen und der Menge den Segen erteilen. Darüber hinaus spielt die Religion hier kaum noch eine Rolle.9 Noch in einer weiteren Hinsicht zeigt sich Bacons Inszenierung der Wissenschaft als quasireligiöser Akt. Nach seiner Ansicht war die angestrebte „große Erneuerung“ nämlich bereits Bestandteil eines göttlichen Heilsplans. Im alttestamentlichen Buch Daniel meinte Bacon einen Beleg dafür zu finden, dass mit der Erschließung der Neuen Welt auch ein neues Zeitalter des Wissens angebrochen sei. Im Novum Organum schrieb er: Nor should the prophecy of Daniel be forgotten, touching the last ages of the world: - ‚Many shall go to and fro, and knowledge shall be increased;‘ clearly intimating that the thorough passage of the world (which now by so many distant voyages seems to be accomplished, or in course of accomplishment), and the advancement of the sciences, are destined by fate, that is, by Divine Providence, to meet in the same age.10
Es wäre sicherlich übertrieben, Bacon zu unterstellen, er habe eine vollständige Ablösung der Theologie durch die Naturwissenschaft im Sinn gehabt, dennoch finden sich in seiner Wissenschaftsrhetorik durchaus Hinweise auf das, was Karl Löwith einmal die „Verweltlichung christlicher Begriffe und Vorstellungen“ nannte.11 Dass Bacon von den Vertretern der Royal Society zu einem neuen Moses verklärt wurde, der den Wissenschaftlern den Weg in das Gelobte Land gewiesen habe, ohne dass ihm selbst der Zutritt noch vergönnt war, bekräftigt eine solche Lesart. „Bacon led us forth at last, through the barren wilderness he passed, did on the very borders stand, of that blessed promised land“, dichtete Abraham Cowley in seiner Ode to the Royal Society, die Thomas Sprats History vorangestellt war,12 und verklärte damit die wissenschafts-
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Bacon: Works (wie Anm. 4), Bd. 4, S. 20f. Vgl. hierzu ausführlicher Richard Nate: Wissenschaft und Literatur im England der frühen Neuzeit. München 2001, S. 74ff. Bacon: Works (wie Anm. 4), Bd. 4, S. 92. Karl Löwith: Weltgeschichte und Heilsgeschehen: Zur Kritik der Geschichtsphilosophie. Stuttgart 1983, S. 274. Aus soziologischer Perspektive hat Thomas Luckmann die Resultate solcher Prozesse als „unsichtbare Religionen“ charakterisiert: Die unsichtbare Religion. Frankfurt a.M. 1991. Bereits in den dreißiger Jahren hatte Eric Voegelin auf ähnliche Prozesse bei der Herausbildung moderner „politischer Religionen“ verwiesen, Die politischen Religionen. Hg. von Peter J. Opitz. München 1993. Cowley in Sprat: History (wie Anm. 1), o.S.
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freundliche Kultur der Restaurationszeit zu jenem „New Israel“, um dessen Errichtung sich die puritanischen Revolutionäre wenige Jahre zuvor vergeblich bemüht hatten. Das verheißene Land, welches Bacon nur aus der Ferne betrachten konnte, so suggeriert Cowleys panegyrisches Gedicht, ist mit der wissenschaftlichen Forschung der Royal Society Realität geworden. Und so verwundert es nicht, dass Sprat am Ende seiner History gar die Vision einer Zukunft entwickelte, in der alle religiösen Streitigkeiten beigelegt sein sollten, weil man dann nur noch im Dienste des Menschen tätig sein werde. Sprats biblische Diktion, die er dem Propheten Jesaja entnahm, lässt erkennen, dass die Royal Society nach seiner Auffassung nicht weniger anstrebte als die Schaffung eines irdischen Paradieses: There [i.e. in the Royal Society] the Soldier, the Tradesman, the Merchant, the Scholar, the Gentleman, the Courtier, the Divine, the Presbyterian, the Papist, the Independent, and those of Orthodox Judgement, have laid aside their names of distinction, and calmly conspir’d in a mutual agreement of labors and desires: A blessing which seems even to have exceeded that Evangelical Promise, That the Lion and the Lamb shall ly down together.13
Noch drastischer gestaltete sich die Rhetorik Joseph Glanvills, der in seinem Traktat Plus Ultra (1668) feststellte, durch wissenschaftliche Instrumente wie das Teleskop, das Mikroskop und den Kompass seien der Menschheit „ein neuer Himmel und eine neue Erde“ („a New Heaven and a New Earth“) offenbart worden.14 Zwar erschien eine solche Einschätzung, wenn man sie denn wörtlich nehmen wollte, durchaus nachvollziehbar, denn schließlich hatten diese Instrumente das Erfahrungsspektrum der Zeitgenossen ja tatsächlich erheblich erweitert, doch dürfen wir angesichts der Tatsache, dass Glanvill anglikanischer Geistlicher war, auch annehmen, dass die wörtliche Übereinstimmung mit der Darstellung des himmlischen Jerusalem in der Offenbarung des Johannes kein Zufall war.15 Auch bei Glanvill wurde die Wissenschaft damit in einen eschatologischen Zusammenhang gestellt.
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Sprat: History (wie Anm. 1), S. 427. Vgl. hierzu Jes 11,6 und 65,25. Joseph Glanvill: Plus Ultra: Or, The Progress and Advancement Of Knowledge Since the Days of Aristotle. London 1668. Hg. von Bernhard Fabian. Hildesheim/New York r1979, S. 113. Vgl. Apk 21,4. Weitere einschlägige Bibelstellen sind Jes 65,17 und 2Petr 3,13. Siehe zu Glanvills Leben und Werk die Darstellungen von Bernhard Fabian: Ein Apologet der Royal Society: Joseph Glanvill. In: Die Philosophie des 17. Jahrhunderts. Bd. 3: England. Hg. von Jean-Pierre Schobinger. Basel 1988, S. 435-441 und Uwe Pauschert: Joseph Glanvill und die Neue Wissenschaft des 17. Jahrhunderts. Frankfurt a.M. 1993.
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2. Grenzüberschreitungen Schaut man sich einige der Projekte, die Bacon und seine Nachfolger betrieben, etwas genauer an, so gewinnt man den Eindruck, dass der Versuch einer Nobilitierung der wissenschaftlichen Neugier tatsächlich geboten schien. Durch Bacons Koppelung der wissenschaftlichen Erkenntnis an das Prinzip des allgemeinen Nutzens und die damit einhergehende Verklärung der Wissenschaft zu einer caritas waren der Forschung theoretisch kaum noch Grenzen gesetzt. Auch das, was nach traditionellen Vorstellungen eigentlich als fragwürdig galt, ließ sich in ihrem Namen nun propagieren. Immerhin verletzten einige wissenschaftliche Unternehmungen aber nicht nur das Dekorum des zeitgenössischen öffentlichen Diskurses, sondern verstießen auch gegen religiöse Dogmen. Der Verstoß gegen das zeitgenössische Dekorum ergab sich aus dem pragmatischen Anspruch der Neuen Wissenschaft. Im Rückgriff auf das Bacon’sche Erneuerungsprogramm überschritt die Rhetorik, mit der Autoren wie Glanvill und Sprat für die Royal Society warben, die Grenzen des wissenschaftlichen Bereichs und erfasste auch die breitere Öffentlichkeit der Restaurationsgesellschaft. Folgte man Sprats Charakterisierungen, dann war die von der Royal Society betriebene, experimentelle Wissenschaft ein Unternehmen von nationaler Bedeutung. England sollte demnach geradezu prädestiniert sein, ein Land der Wissenschaft zu werden. „Even the position of our climate, the air, the influence of the heaven, the composition of the English blood; as well as the embraces of the Ocean“, schrieb Sprat, „seem to joyn with the labours of the Royal Society, to render our Country, a Land of Experimental Knowledge.“16 Gestützt durch solche Propaganda verwundert es nicht, dass die Figur des Wissenschaftlers bald als neuer Heros gefeiert wurde und auch mancher Laie sich zur Durchführung eigener Experimente aufgerufen fühlte.17 Dass sich aber gerade der Experimentator, der sich nach traditioneller Auffassung eigentlich mit den niederen Dingen des Lebens beschäftigte, nun anschickte, zu einer kulturellen Leitfigur zu werden, musste Zeitgenossen, die sich noch immer den traditionellen Konventionen des öffentlichen Diskurses verpflichtet fühlten, grundsätzlich widerstreben. Von den Apologeten der Wissenschaft wurde das, was nach traditionellen Dekorum-Begriffen eigentlich als diskursive Grenzüberschreitung zu verstehen war, zumeist mit Verweisen auf die Möglichkeit praktischer Anwendungen gerechtfertigt. „Mischief and tru Dishonour fall on those“, dichtete Abraham Cowley in seiner schon erwähnten Ode to the Royal Society, mögliche Kritik antizipierend, „Who would to laughter or to scorn expose So Virtuous and so Noble a Design, So Human for its Use,
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Sprat: History (wie Anm. 1), S. 114. Vgl. hierzu ausführlicher Richard Nate: Wissenschaft, Rhetorik und Literatur: Historische Perspektiven. Würzburg 2009, S. 151ff.
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for Knowledge so Divine.“18 Gerade in den vermeintlich niederen Dingen der Natur seien die Geheimnisse der göttlichen Schöpfung verborgen. Tatsächlich belegen zeitgenössische Veröffentlichungen, dass die Grenzen des gesellschaftlich Vertretbaren in der angewandten Wissenschaft oftmals weniger eng gezogen waren als in anderen Bereichen. Nicht immer ging es dabei so extrem zu wie in John Schroder’s Zoologia (1658), wo zur Behandlung epileptischer Anfälle die Anwendung eines Extrakts aus der Gehirnmasse eines jungen Mannes empfohlen wurde. Um die Wirksamkeit des Präparats zu erhöhen, empfahl der Autor, man sollte darauf achten, dass der Mann eines plötzlichen, gewaltsamen Todes gestorben war.19 Abgesehen von solchen extrem anmutenden Beispielen setzten aber auch Robert Hookes und Robert Boyles Beschreibungen von mikroskopischen Objekten, Tierversuchen und Vivisektionen, wollten sie denn gesellschaftlich akzeptabel erscheinen, beim Leser das voraus, was Thomas Hobbes im achten Kapitel seines Leviathan (1651) als „discretion“ beschrieb.20 Damit bezog sich Hobbes auf die Fähigkeit, zwischen der relativen Angemessenheit von Äußerungen oder Handlungen in unterschiedlichen Handlungskontexten differenzieren zu können. Explizit hatte Hobbes dabei auf den gesonderten Status des medizinischen Diskurses verwiesen: An anatomist, or a physician may speak, or write his judgment of unclean things; because it is not to please, but profit: but for another man to write his extravagant, and pleasant fancies of the same, is as if a man, from being tumbled into the dirt, should come and present himself before good company. And it is the want of discretion that makes the difference.21
Einige der in Sprats History angeführten Experimente belegen die Notwendigkeit der von Hobbes geforderten Differenzierung. So mutete Sprat seinen Lesern etwa zu, sich Experimente vorzustellen „of keeping Creatures many hours alive, by blowing into the Lungs with Bellows, after that all the Thorax, and Abdomen were open’d and cut away, and all the Intrails save Heart, and Lungs remov’d“. Den legitimierenden Anwendungsbezug ließ der Autor unmittelbar folgen. Solche Verfahren, schrieb er, könnten zum
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Cowley in Sprat: History (wie Anm. 1), o.S. „Take the brain of a young man (not 24. years old) healthfull, kild by a violent death, with all the membrains, arteries, veins, and sinews, with all the marrow of the back bone […]. It is accounted a notable Antepileptick.” John Schroder: Zoologia: Or The History of Animals as They Are Useful in Physick and Chirurgery. London 1658, S. 60. Zum frühneuzeitlichen Wandel von einer auf bloße Wissensvermehrung ausgerichteten philosophischen Anatomie zu Vivisektionen mit medizinischem Anwendungsbezug siehe Roger French: Dissection and Vivisection in the European Renaissance. Aldershot 1999. Zu kontroversen Einschätzungen der Vivisektion im siebzehnten Jahrhundert siehe Andreas-Holger Maehle/Ulrich Tröhler: Animal Experimentation from Antiquity to the End of the Eighteenth Century: Attitudes and Arguments. In: Vivisection in Historical Perspective. Hg. von Nicolaas A. Rupke. London/ New York 1987, S. 14-47, hier: S. 14ff. Thomas Hobbes: The English Works of Thomas Hobbes. Hg. von W. Molesworth. 13 Bde. London 1839-1845. Aalen r1966, Bd. 3, S. 59.
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Beispiel dazu beitragen, herauszufinden „how long a man can live, by expiring, and inspiring again the same Air [...]“.22 Doch nicht nur Verstöße gegen das Dekorum bedurften einer apologetischen Rechtfertigung, auch theologisch relevante Grenzüberschreitungen galt es zu verteidigen. Theologisch problematisch erscheinen konnten etwa die in Francis Bacons utopischer Erzählung New Atlantis (1627) angesprochenen Projekte einer Überschreitung der von Gott gesetzten biologischen Gattungsgrenzen durch eine Manipulation pflanzlicher und tierischer Organismen. Nicht nur habe man gelernt, lässt Bacon einen Wissenschaftler der Akademie Solomon’s House erklären, eine Pflanzenart in eine andere zu verwandeln; man sei auch in der Lage, systematisch neue und sogar fortpflanzungsfähige Gattungen hervorzubringen: We find means to make commixtures and copulations of different kinds; which have produced many new kinds, and them not barren, as the general opinion is. We make a number of kinds of serpents, worms, flies, fishes, of putrefaction; whereof some are advanced (in effect) to be perfect creatures, like beasts or birds; and have sexes, and do propagate. Neither do we this by chance, but we know beforehand of what matter and commixture what kind of those creatures will arise.23
Eine Lektüre von Bacons Schriften lässt erkennen, dass in der Frühen Neuzeit auch das Projekt einer systematischen Verlängerung des menschlichen Lebens verfolgt wurde. Bereits in De Sapientia Veterum hatte Bacon in seiner Auslegung des Orpheus-Mythos dargelegt, das edelste Ziel der Naturphilosophie sei „nothing less than the restitution and renovation of things corruptible, and […] the conservation of bodies in the state in which they are, and the retardation of dissolution and putrefaction“.24 Auch wenn Naturphilosophen sich angesichts dieses unerreichbar erscheinenden Ziels in aller Regel damit begnügten, Unsterblichkeit lediglich durch den Ruhm der Nachwelt zu erlangen, bleibe die Überwindung des leiblichen Todes doch ein wesentliches Antriebsmoment der Wissenschaft.25 Eine Verlängerung des Lebens, die über die herkömmliche Heilung von Krankheiten hinausging, erschien insofern problematisch, als sie sich nicht mehr im Sinne der christlichen Caritas auf den Einzelnen bezog, sondern auf die menschliche Gattung insgesamt. Damit lag ein unbotmäßiger Eingriff in den göttlichen Schöpfungsplan vor, der von Bacon wiederum dahingehend verteidigt wurde, dass der Mensch von Gott dazu ausersehen sei, an der Überwindung des adamitischen Sündenfalls und dessen negativen Auswirkungen mitzuwirken. Immerhin war ja im Buch Genesis nachzulesen, dass noch die ersten Menschengenerationen sich einer wesentlich längeren Lebenszeit hatten er-
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Sprat: History (wie Anm. 1), S. 218. Bacon: Works (wie Anm. 4), Bd. 3, S. 159. Bacon: Works (wie Anm. 4), Bd. 6, S. 721. Vgl. Bacon: Works (wie Anm. 4), Bd. 6, S. 722.
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freuen können. Den Prozess einer stetigen Verschlechterung der körperlichen Konstitution, der mit dem Sündenfall Adams eingesetzt hatte, galt es nun zu revidieren.26
3. Utopische Perspektiven Der Anspruch, dass man durch die Anwendung wissenschaftlicher Forschungsergebnisse irgendwann einmal die Folgen des Sündenfalls aufheben könne, belegt nicht nur den utopischen Charakter der Bacon’schen Instauratio Magna, sondern auch den pragmatischen Charakter seiner utopischen New-Atlantis-Erzählung. Tatsächlich war Bacons New Atlantis mehr als nur eine Darstellung idealer Wirklichkeit im Sinne der von Thomas Morus wiederbelebten Utopie, sie war auch der Versuch einer textlichen Antizipation von möglichen Ergebnissen der Instauratio Magna.27 Ein Vergleich der NewAtlantis-Erzählung mit Bacons programmatischen Schriften legt nahe, die Verzeitlichung der Utopie, die von Reinhart Koselleck allgemein im 18. Jahrhundert verortet worden ist, schon früher zu veranschlagen.28 Bacons Vergleich des utopischen Staates mit dem himmlischen Jerusalem – „It seemed to us that we had before us a picture of our salvation in heaven“29 – gewinnt vor diesem Hintergrund eine besondere Brisanz. Zu erinnern ist daran, dass zwischen religiösem Heilsversprechen und wissenschaftlichen Utopien im 17. Jahrhundert keine scharfe Grenze verlief.30 Der insbesondere in puritanischen Gruppierungen verbreitete Millenarismus beruhte nicht nur auf der passiven Erwartung, dass sich die biblischen Prophezeiungen irgendwann einmal erfüllen würden, sondern sah spätestens mit dem Beginn des puritanischen Interregnums auch den Menschen in einer verantwortlichen Rolle.31 Nach dieser Vorstellung war die reformierte Christenheit dazu aufgerufen, sich an der Gestaltung einer besseren Zukunft aktiv zu beteiligen. Bezeichnenderweise wurde diese Rhetorik einer innerweltlichen Erlösung auch dann noch beibehalten, als nach der Restauration von 1660 die Reformprogramme der Puri-
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Zu den frühneuzeitlichen Dekadenztheorien vgl. Victor Harris: All Coherence Gone: A Study of the Seventeenth Century Controversy over Disorder and Decay in the Universe. Chicago 1949. Zu zeitgenössischen Exegesen des Buches Genesis Arnold Williams: The Common Expositor: An Account of the Commentaries of Genesis 1527-1633. Chapel Hill 1948. Hierzu ausführlicher Nate: Wissenschaft und Literatur (wie Anm. 9), S. 82f. Vgl. Reinhart Koselleck: Die Verzeitlichung der Utopie. In: Utopieforschung. 3 Bde. Hg. von Wilhelm Voßkamp. Bd. 3. Frankfurt a.M. 1985, S. 5. Bacon: Works (wie Anm. 4), Bd. 3, S. 136. Zu den heilsgeschichtlichen Hintergründen der Neuen Wissenschaft in England siehe Charles Webster: The Great Instauration: Science, Medicine and Reform 1626-1660. London 1975. Vgl. Keith Thomas: The Utopian Impulse in Seventeenth-Century England. In: Between Dream and Nature: Essays on Utopia and Dystopia. Hg. von Dominic Smith und C. C. Barfoot. Amsterdam 1987, S. 20-46, hier: S. 33f.
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taner in Misskredit gerieten. Nicht mehr einer gesamtgesellschaftlichen Erneuerung wurde jetzt das Wort geredet, sondern einer Verbesserung der menschlichen Verhältnisse durch die von der Monarchie mit königlichen Privilegien ausgestattete experimentelle Forschung. Deutlich zeigt sich eine solche Rhetorik in Joseph Glanvills Fortschreibung von Bacons New-Atlantis-Fragment, die 1676 unter dem Titel AntiFanatical Religion erschien. Während hier vor einem puritanischen Millenarismus unmissverständlich gewarnt wird, erscheint die gegenwärtige gesellschaftliche Ordnung bereits als eine verwirklichte Utopie im Sinne Francis Bacons.32 Die Grenzen eines politisch korrekten Utopismus werden von Glanvill dabei sehr genau gezogen. Wissenschaftliche Forschung, so erfährt der Leser, müsse einer gesellschaftlichen Elite vorbehalten bleiben. Weder im wissenschaftlichen noch im religiösen Bereich dürften sich Experten mit dem einfachen Volk gemein machen.33 Der heilsgeschichtliche Hintergrund, auf den sich die Rhetorik der Neuen Wissenschaft trotz solcher Einschränkungen nach wie vor bezog, erklärt, warum gerade die auf artifizielle Methoden gegründete, experimentelle Naturwissenschaft Vorstellungen paradiesischer Unschuld heraufbeschwören konnte, um für ihr Anliegen zu werben. In seiner History operierte Sprat mit der Vorstellung des wieder gewonnenen Paradiesgartens: „The Beautiful Bosom of Nature will be Expos’d to our view: we shall enter into its Garden, and tast [!] of its Fruits, and satisfy our selves with its plenty.“34 Auch Sprats berühmt gewordene Darstellung des wissenschaftlichen plain style ist in diesem heilsgeschichtlichen Kontext zu sehen. Hieraus erklärt sich, dass Sprat den neuen Wissenschaftsstil weniger als eine innovative denn als eine restaurative Leistung charakterisierte. Tatsächlich inszenierte er die von der Royal Society angestrebte Sprache als eine Rückkehr in die Zeit vor dem Sündenfall, als Adam die Dinge der Welt nach ihren wirklichen Eigenschaften benannt hatte. In diesem Sinne schrieb Sprat von einer „primitive purity, and shortness, when men deliver’d so many things, almost in an equal number of words“.35 Was solche Bilder freilich verdecken, ist die Tatsache, dass das Bild des Gartens, welches sie evozieren, in gewisser Hinsicht trügerisch war. Denn schließlich war das, was die Vertreter der Royal Society im Sinn hatten, weniger die Rückkehr in einen vorgeschichtlichen Zustand als vielmehr eine technologische Umgestaltung der menschlichen Lebenswirklichkeit, die man jedoch dadurch zu legitimieren versuchte, dass man sie in einen Zusammenhang mit der millenaristischen Idee einer Aufhebung der Folgen des Sündenfalls stellte.36
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Näheres hierzu in Nate: Wissenschaft und Literatur (wie Anm. 9), S. 133ff. Vgl. z. B. Joseph Glanvill: Anti-fanatical Religion, And Free Philosophy. In a Continuation of the New Atlantis. In: Ders.: Essays on Several Important Subjects in Philosophy and Religion. London 1676. Hg. von Bernhard Fabian. Hildesheim r1979, S. 14f. Sprat: History (wie Anm. 1), S. 327. Sprat: History (wie Anm. 1), S. 113. Vgl. zu diesem Gedanken auch die Darstellung in Picciotto: Labors of Innocence (wie Anm. 2).
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Für den utopischen Charakter des frühneuzeitlichen Wissenschaftsprogramms spricht schließlich auch die Tatsache, dass die Forschung von Bacon vor allem als ein kollektives Unternehmen konzipiert wurde, welches die Lebensspanne des Individuums überschritt. Wie aus dem Vorwort der Instauratio Magna hervorgeht, war sich Bacon seiner eigenen Sterblichkeit sehr deutlich bewusst. So wie er es in seiner Auslegung des Orpheus-Mythos beschrieben hatte, sollte auch sein Werk darauf ausgelegt sein, den Tod seines Urhebers zu überdauern. Er selbst, so beteuerte er, habe lediglich den Grundstein für das Werk nachfolgender Generationen legen wollen.37 Ähnlich wie in Shakespeares achtzehntem Sonett, das die poetische Dichtung als eine Überwindung des Todes inszeniert,38 findet sich auch bei Bacon der Gedanke, die traumatische Erfahrung der eigenen Sterblichkeit durch schöpferische Leistungen kompensieren zu können: „Philosophy finding that her great work [i.e. the restitution and renovation of things corruptible] is too much for her, in sorrowful mood, as well becomes her, turns to human affairs […] as subsequent to the diligent trial and final frustration of the experiment of restoring the dead body to life“.39 Damit geriet die Instauratio Magna aber noch in einem anderen Sinn zu einer innerweltlichen Heilserwartung. Denn während es dem einzelnen Menschen nicht vergönnt war, für alle Zeiten von den „experiments of light“ und den „experiments of fruit“ zu profitieren, konnte dies für die Gesellschaft im Ganzen durchaus gelten. Als Bacon sich 1626 eine tödliche Lungenentzündung zuzog, weil er testen wollte, inwieweit sich der körperliche Verfallsprozess eines getöteten Huhns durch eine Konservierung in Eis aufhalten ließ,40 durfte er immerhin die berechtigte Hoffnung hegen, dass nachfolgende Generationen seine Arbeit weiterführen würden. Es erscheint in diesem Zusammenhang nicht abwegig, auf eine ähnlich geartete Rhetorik in Thomas Hobbes‘ Leviathan von 1651 hinzuweisen. Auch bei Hobbes wird das durch den Staatsvertrag zu schaffende Kollektiv als Möglichkeit einer Überwindung des Todes inszeniert. Obwohl der Autor der Royal Society nicht angehörte, liest sich seine Staatslehre in mancher Hinsicht wie ein politisches Pendant zu den Wissenschaftsutopien dieser Zeit. In dem von ihm mitkonzipierten Titelblatt geht der einzelne Mensch auf in einem höheren Ganzen, das kaum zufällig als „artificial man“ tituliert wird.41 Dass das Antlitz dieser Kreation auch noch die Züge des Verfassers trägt, stellt eine zusätzliche Pointe dar. Der performative Gründungsakt des allein Vernunftprinzipien gehorchenden Staates erfolgt nach Hobbes in bewusster Anlehnung an das göttliche fiat des Buches
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Vgl. Bacon: Works (wie Anm. 4), Bd. 4, S. 21. „Nor shall Death brag thou wander’st in his shade, / When in eternal lines to time thou growest.“ William Shakespeare: Complete Sonnets. New York 1991, S. 9. Bacon: Works (wie Anm. 4), Bd. 6, S. 722. Vgl. Wolfgang Krohn: Francis Bacon. München 1987, S. 59. Vgl. hierzu die ausführliche Analyse von Horst Bredekamp: Thomas Hobbes: Der Leviathan. Das Urbild des modernen Staates und seine Gegenbilder. Berlin 32006.
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Genesis.42 Obwohl aber das von ihm gewählte Motto – „Non est potestas super terram quae comparetur ei“ („There is no worldy power comparable to him“) – noch immer auf ein biblisches Vorbild, nämlich das im Buch Hiob erwähnte Meeresungeheuer, verweist, besteht der entscheidende Unterschied darin, dass als Schöpfer des neuen Leviathan nicht mehr Gott, sondern der Mensch in Erscheinung tritt. Die Lebensdauer des mit einem künstlichen Menschen gleichgesetzten Staatswesens, so macht Hobbes deutlich, beträgt so lang, wie die Vernunft waltet, die es geschaffen hat. Prinzipiell mit Unsterblichkeit gesegnet, kann nur innere Zerrissenheit diese Schöpfung gefährden und ihren Tod herbeiführen. „Concord [is] health“, heißt es entsprechend im Vorwort, „sedition [is] sickness; and civil war, death.“43 Obwohl Hobbes’ politische Theorie noch deutlich einem statisch-mechanistischen Weltbild verpflichtet war, kündigen sich in seiner Beschreibung des neuen „body politic“ bereits jene organizistischen Gesellschaftsmodelle des 19. Jahrhunderts an, in denen das Gemeinwesen dann auch biologisch zu einem kollektiven Subjekt metaphorisiert werden sollte.44
4. Dystopische Perspektiven Sowohl bei Bacon als auch bei Hobbes fällt eine Einschätzung der Funktion religiöser Bezüge nicht leicht. Einerseits zeigt die Rhetorik der Texte noch immer eine feste Verankerung in heilsgeschichtlichen Paradigmen; andererseits scheinen die biblischen Verweise im Kontext innerweltlicher Verheißungen bisweilen nicht mehr als eine ornamentale Funktion zu besitzen. Gerade der Zweifel an der Aufrichtigkeit religiöser Beteuerungen war es, der Satiriker dazu veranlasste, die Diskrepanzen herauszustellen, welche zwischen wissenschaftlicher Heilsrhetorik und der moralischen Verfassung ihrer Verkünder bestehen konnten.45 Dass die individuellen und kollektiven Versprechungen, die sich mit der Neuen Wissenschaft verbanden, schon früh zum Gegenstand satirischer Darstellungen wurden, verwundert kaum. In seinem Roman Gulliver’s Travels (1726) thematisierte Jonathan Swift sowohl den Gedanken einer unbegrenzten Lebensverlängerung als auch die Idee der Wiederherstellung eines innerweltlichen Paradieses.46 Dass
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Vgl. Hobbes: Works (wie Anm. 21), Bd. 3, S. x. Hobbes: Works (wie Anm. 21), Bd. 3, S. x. So beispielsweise in Herbert Spencers The Social Organism von 1860, vgl. ders.: Essays: Scientific, Political, and Speculative. Osnabrück 1966, Bd. 1, S. 265ff. Ein frühes Beispiel ist Thomas Shadwells Komödie The Virtuoso von 1676, vgl. Thomas Shadwell: The Complete Works of Thomas Shadwell. Hg. von Montague Summers. 5 Bde. Bd. 3. London 1927. Obwohl sich das Interesse von Interpreten, angefangen mit der Studie von Marjorie Nicolson/Nora M. Mohler: The Scientific Background to Swift’s “Voyage to Laputa“. In: Fair Liberty Was all His Cry: A Tercentenary Tribute to Jonathan Swift, 1667-1745. Hg. von Alexander N. Jeffares. London u.a. 1967, S. 226-269, lange Zeit auf Swifts Karikatur der Royal Society im drit-
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Swift den Bericht Gullivers über unsterbliche Kreaturen mit dem Namen „Struldbruggs“ ausgerechnet im Anschluss an seine Satire auf die Royal Society platzierte, dürfte kein Zufall sein. Tatsächlich stellen ja die mit ewigem Leben ausgestatteten Wesen das logische Endziel des Programms einer „prolongation of life“ dar, wie es im 17. und frühen 18. Jahrhundert verfolgt worden war.47 Gulliver, dem die unsterblichen Wesen zunächst wie die Erfüllung all seiner Fortschrittsträume erscheinen, muss jedoch bald erkennen, dass ein ewig währendes irdisches Dasein für die Betroffenen eher einen Fluch als einen Segen bedeutet. Nach ihrem achtzigsten Lebensjahr bewegen sich die Struldbruggs wie lebende Anachronismen unter ihren jüngeren Mitmenschen; angesichts einer ständig in Wandlung begriffenen Sprache werden sie nach einer gewissen Zeit von ihren sterblichen Zeitgenossen nicht mehr verstanden. Am Ende bekennt Gulliver: „[F]rom what I had heard and seen, my keen appetite for perpetuity of life was much abated. I grew heartily ashamed of the pleasing visions I had formed.“48 Im vierten Buch seines Romans setzte Swift sich dann mit der Vorstellung eines innerweltlichen Paradieses auseinander. Die vernunftbegabten Pferde, denen Gulliver auf seiner letzten Reise begegnet, leben in einem scheinbar perfekt organisierten Gemeinwesen, in dem der Einzelne sich dem Kollektiv so sehr verbunden fühlt, dass er auch die Angst vor dem Tod überwunden hat.49 Was sich den Lesern angesichts der oberflächlichen Panegyrik Gullivers auf den Vernunftstaat allerdings erst allmählich erschließt, ist die Tatsache, dass die vernunftfixierte Pferdegesellschaft die Gegenwart von unvollkommenen Existenzen offensichtlich nicht ertragen kann. Hierzu zählen in erster Linie die ebenfalls im Lande lebenden, menschenähnlichen Yahoos, über deren Vernichtung die Pferde bereits seit längerem nachdenken. Gulliver berichtet: „The question to be debated, was, Whether the Yahoos should be exterminated from the face of the earth.“50 Da auch Gulliver dem Vollkommenheitsideal der Pferde nicht gerecht werden kann, wird er schließlich aus der Gesellschaft seiner Träume ausgewiesen und beendet sein Leben als geistig Umnachteter, der sich lieber im Pferdestall aufhält, als
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ten Buch konzentrierte, erscheint die im Roman zum Ausdruck gebrachte Skepsis gegenüber den individuellen und kollektiven Hoffnungen der Neuen Wissenschaft nicht weniger interessant. Zu Beispielen siehe Hermann J. Real: The “keen Appetite for Perpetuity of Life” Abated: The Struldbruggs, Again. In: Fiktion und Geschichte in der anglo-amerikanischen Literatur. Festschrift für Heinz-Joachim Müllenbrock zum 60. Geburtstag. Hg. von Rüdiger Ahrens und FritzWilhelm Neumann. Heidelberg 1998, S. 117-135, hier S. 123ff. Jonathan Swift: Gulliver’s Travels. Hg. von Peter Dixon und John Chalker. Harmondsworth 1967, S. 259. Vgl. Swift: Gulliver’s Travels (wie Anm. 48), S. 322: „If they can avoid casualties, they die only of old age, […] their friends and relations expressing neither joy nor grief at their departure; nor does the dying person discover the least regret that he is leaving the world, any more than if he were upon returning home from a visit to one of his neighbours.“ Swift: Gulliver’s Travels (wie Anm. 48), S. 318f.
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sich mit den Menschen seiner näheren Umgebung abzugeben.51 Indem Swift seinen Protagonisten an seinen eigenen Idealen zugrunde gehen lässt, betont er die Unmenschlichkeit eines utopischen Gemeinwesens, das unter Berufung auf allgemeine Vernunftprinzipien eine auf das unvollkommene Individuum gerichtete Caritas immer schon als subversive Handlung verwerfen muss.
5. Nachwirkungen Um zu zeigen, dass die hier skizzierte Erlösungsrhetorik auch für die säkularisierten Kontexte späterer Jahrhunderte eine Relevanz besaß, ließen sich zahlreiche Beispiele anführen. Selbst ein erklärter Agnostiker wie der Ernst-Haeckel-Schüler Wilhelm Ostwald wollte in seinem Plädoyer für eine ausschließlich naturwissenschaftlichen Prinzipien gehorchende Weltanschauung offensichtlich nicht auf religiöse Topoi verzichten. In einer seiner „monistischen Sonntagspredigten“ schrieb Ostwald: „Was keine von den vielen Religionen vermocht hat, die sich nach- und nebeneinander der Menschheit für diesen Zweck angeboten haben, nämlich dem Menschen Hilfe in seinem Leiden und Verbesserung seines Lebens zu bringen, das hat die Wissenschaft in immer steigendem Maße ausgeführt.“52 Interessant ist hier weniger die Tatsache, dass Ostwald eine kritische Haltung gegenüber der orthodoxen Religion einnahm, als vielmehr der Umstand, dass er die Naturwissenschaft dadurch zu adeln versuchte, dass er sie mit der Aura des Religiösen umgab. Andere Rückbezüge gestalteten sich weniger positiv. In der englischen Literatur wurde die bereits von Swift zum Ausdruck gebrachte Skepsis gegenüber den wissenschaftlichen Erlösungsphantasien weiter fortgeführt. Auch Mary Shelley beschrieb in ihrem Roman Frankenstein (1818) die Verzweiflung eines Forschers angesichts der Erfahrung der Endlichkeit des Lebens. Frankensteins Wunsch, „[to] banish disease from the human frame and render man invulnerable to any but a violent death“,53 wird durch den plötzlichen Tod der Mutter noch zusätzlich verstärkt. Mit der Erschaffung eines künstlichen Menschen glaubt er endlich befriedigen zu können, was er als „[the] desire of the wisest men since the creation of the world“ bezeichnet.54 Das künstliche Wesen, mit dem er den Tod, „that most irreparable evil“,55 überwinden will, erweist sich am Ende jedoch als ein nicht kontrollierbares, monströses Geschöpf.
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Vgl. Swift: Gulliver’s Travels (wie Anm. 48), S. 339. Wilhelm Ostwald: Monistische Sonntagspredigten. Erste Reihe. Leipzig 1911, S. 2. Mary Shelley: Frankenstein: Or, The Modern Prometheus. Hg. von Maurice Hindle. Harmondsworth 1992, S. 40. Shelley: Frankenstein (wie Anm. 53), S. 51. Shelley: Frankenstein (wie Anm. 53), S. 43.
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Ähnlich pessimistisch schilderte am Ende des 19. Jahrhunderts Walter Besant die sozialen Auswirkungen einer unbegrenzten Lebensverlängerung in seiner dystopischen Erzählung The Inner House (1890). Auch bei Besant führt die Entdeckung eines Unsterblichkeitselixiers nicht in das ersehnte innerweltliche Paradies. Um eine Bevölkerungsexplosion zu vermeiden, sieht man sich bald gezwungen, auf die Zeugung von Nachkommen zu verzichten. Alte und Kranke, welche die Gemeinschaft als Last empfindet, werden Opfer einer großen „Säuberungsaktion“.56 Das Wegfallen der Todesangst beraubt die Menschen jeglichen kreativen Impulses. „We are no longer tortured by the feverish anxiety to do something – anything – by which we may be remembered when the short span of life is past“,57 erklärt ein Repräsentant der neuen Gesellschaft und lässt zugleich erkennen, dass die Menschen sich zu lebenden Toten entwickelt haben: „The new creature is immortal; it is free from disease or the possibility of disease; it has no emotions, no desires, and no intellectual restlessness. It breathes, eats, sleeps.“58 Nicht auszuschließen ist, dass Besant sich mit seiner Erzählung kritisch auf zeitgenössische Publikationen bezog, in denen wissenschaftliche Forschung tatsächlich mit der Aussicht auf eine Überwindung des Todes verknüpft wurde. So hatte sich in Winwood Reades The Martyrdom of Man (1872) der viktorianische Fortschrittsenthusiasmus, der die menschliche Evolution mit einer permanenten Vervollkommnung körperlicher und geistiger Kräfte gleichsetzte,59 tatsächlich zu einer Vision unsterblicher und gottgleicher Menschen verstiegen: These bodies which now we wear belong to the lower animals; our minds have already outgrown them; already we look upon them with contempt. A time will come when Science will transform them […]. Disease will be extirpated; the causes of decay will be removed; immortality will be invented. […] The earth will become a Holy Land which will be visited by pilgrims from all quarters of the universe. Finally, men will master the forces of Nature; they will become themselves architects of systems, manufacturers of worlds. Man then will be perfect; he will then be a creator; he will therefore be what the vulgar worship as a god.60
Unschwer erkennbar verbinden sich in diesem Zitat zwei Vorstellungen, die bereits aus den frühneuzeitlichen Beispielen geläufig sind: eine unbegrenzte Ausdehnung des indi-
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Walter Besant: The Inner House. In: Ders.: The Holy Rose etc. London 1890, S. 142-278, hier: S. 157. Besant: The Inner House (wie Anm. 56), S. 159. Besant: The Inner House (wie Anm. 56), S. 214. Dies gilt im Wesentlichen für die frühe Darwin-Rezeption; ab ca. 1880 bestimmten zunehmend Degenerationsängste den öffentlichen Diskurs, vgl. Sally Ledger: In Darkest England: The Terror of Degeneration in Fin-de-Siècle Britain. In: Literature and History 4 (1995), S. 71-86, und Paul Weindling: „Our Racial Friends“: Disease, Poverty and Social Darwinism, 1860-1940. In: The Evolution of Literature: Legacies of Darwin in European Cultures. Hg. von Nicholas Saul und Simon J. James. Amsterdam / New York 2011, S. 35-49, hier S. 42. Winwood Reade: The Martyrdom of Man. Hg. von Michael Foot. London 1968, S. 413f.
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viduellen Lebens und die Errichtung eines innerweltlichen Paradieses auf wissenschaftlich-technologischer Grundlage. Im frühen 20. Jahrhundert sollten beide Vorstellungen in den Projekten der frühen Sowjetunion, unter anderem bei Leo Trotskij und den so genannten „Biokosmisten“, noch einmal wiederkehren.61 Auch der Gedanke der Errichtung eines innerweltlichen Paradieses lebte in späteren Projekten fort. Wenn bereits die frühneuzeitliche Wissenschaft den Paradiesgarten als etwas beschrieben hatte, das der Mensch sich selbst erarbeiten müsse, gerieten damit auch die vormals einer göttlichen Instanz vorbehaltenen Zugangsbestimmungen in dessen Verfügungsgewalt. Bereits Swift hatte dieses im vierten Buch von Gulliver’s Travels thematisiert, wenn er dafür sorgte, dass die vernunftbegabten Pferde Gulliver aus ihrem Land jagten, weil er ihren Vorstellungen eines perfekten Wesens nicht entsprach. Während bei Swift der Gedanke einer biologisch motivierten Ausgrenzung aber lediglich angedeutet wird, ist er in Walter Besants The Inner House bereits deutlich präsent. Das Unsterblichkeitselixier, so erfährt der Leser hier, sei selbstverständlich nicht für jene bestimmt, die sich selbst und der Gesellschaft nur zur Last fielen, genauer: „the crippled, the criminal, the poor, the imbecile, the incompetent, the stupid and the frivolous“.62 Es ist kein Zufall, dass die hier genannten Bevölkerungsgruppen in etwa jenen entsprechen, für deren Mitglieder zeitgenössische Eugeniker bereits Zwangssterilisationen empfahlen.63 Im Kontext des Biologismus erhielt die seit langem gepflegte Metaphorik des Gartens eine neue Brisanz. Zahlreichen im 19. Jahrhundert entwickelten Konzepten eines innerweltlichen Paradieses liegt eine hortikulturelle Metaphorik zugrunde, die vor allem exklusiven Charakter besitzt. Mit dem Programm einer Kultivierung der Welt verband sich stets die Frage, was mit jenen Elementen geschehen sollte, die der offiziellen Idealvorstellung nicht entsprachen. Ein prägnantes Beispiel hierfür bietet Thomas H. Huxleys Spätschrift Evolution and Ethics (1894), die zwar gegen die sozialdarwinistische Vorstellung eines „survival of the fittest“ gerichtet war, aber dafür eine vom Menschen gestaltete, zivilisatorische Ordnung beschwor. Bezeichnenderweise griff Huxley dafür auf die Vorstellung zurück, dass in einem gut bestellten Garten der natür-
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Siehe zu den Projekten der frühen Sowjetunion Michael Hagemeister: „Unser Körper muss unser Werk sein“: Beherrschung der Natur und Überwindung des Todes in russischen Projekten des frühen 20. Jahrhunderts. In: Die Neue Menschheit: Biopolitische Utopien in Russland zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Hg. von Boris Groys und Michael Hagemeister. Frankfurt a.M. 2005, S. 1967. Eine eher personenbezogene Darstellung findet sich in John Gray: The Immortalization Commission: Science and the Strange Quest to Cheat Death. London 2011. Besant: The Inner House (wie Anm. 56), S. 149. Vgl. stellvertretend für zahlreiche andere zeitgenössische Vertreter der Eugenik Harry H. Laughlin: Report of the Committee to Study and to Report on the Best Practical Means of Cutting Off the Defective Germ-Plasm in the American Population. Bd. 1: The Scope of the Committee’s Work. Cold Spring Harbor 1914, S. 17.
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liche Wildwuchs durch die gestaltende Hand des Gärtners eingedämmt werde. Das Prinzip der natürlichen Auslese, so meinte Huxley, werde dabei durch das einer künstlichen Auslese ersetzt. Der mit einem Gärtner verglichene Souverän sollte die Selektion, welche sich in der Natur völlig unsystematisch vollziehe, gemäß der von ihm festgelegten Kriterien vornehmen: „Our administrator would select his human agents, with a view to his ideal of a successful colony, just as the gardener selects his plants with a view to his ideal of useful or beautiful products“.64 Die Bedenken, die Huxley hinsichtlich einer einfachen Übertragung dieses Modells auf die europäischen Gesellschaften äußerte, waren in erster Linie praktischer Natur. In hoch entwickelten Zivilisationen sei es schwer zu entscheiden, wer als Objekt einer Ausmerzung überhaupt in Frage käme. „I doubt“, schrieb Huxley, „whether even the keenest judge of character, if he had before him a hundred boys and girls under fourteen, could pick out, with the least chance of success, those who should be kept […] and those who should be chloroformed“.65 Dass Huxley bei aller Skepsis gegenüber dem Modell des Züchters aber prinzipiell an der Leitmetapher des Gartens festhielt, zeigt sich in seiner Abgrenzung der europäischen Zivilisation gegenüber den so genannten „wilden“ Völkern, in denen noch immer das bloße Prinzip des Rechts des Stärkeren herrsche.66 Das, was Huxley als einen der Natur entgegengesetzten, „ethischen Prozess“ bezeichnete, implizierte Entscheidungen darüber, welche Elemente zu den geduldeten und welche zu den „unerwünschten“ gehörten.67 Tatsächlich erweist sich die bereits in der frühneuzeitlichen Wissenschaftsrhetorik anzutreffende Metapher des kultivierten Gartens als eine äußerst ambivalente Figur, die nicht nur auf innerweltliche Erwartungen und Hoffnungen verweist, sondern auch auf den Gedanken einer Ausgrenzung all dessen, was diesen Idealen nicht entspricht. Wo der Garten als eine vom Menschen geschaffene Ordnung zelebriert wird, da ist die Konstruktion von „Unkraut“ und „Schädlingen“ niemals weit.68 Wie Zygmunt Bauman be-
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Thomas Henry Huxley: Evolution and Ethics and Other Essays. London 1894. Hildesheim/New York r1970, S. 18. Huxley griff dabei zusätzlich auf das Modell der europäischen Kolonisation zurück, auf das hier nicht näher eingegangen werden kann, vgl. hierzu Patrick Brantlinger: Thomas Henry Huxley and the Imperial Archive. In: Thomas Henry Huxley’s Place in Science and Letters: Centenary Essays. Hg. von Alan P. Barr. Athens/London 1997, S. 259-276. Huxley: Evolution and Ethics, (wie Anm. 64), S. 23. Brantlinger:Thomas Henry Huxley (wie Anm. 64), S. 263. Zu Inkonsistenzen in Huxleys Argumentation hinsichtlich der Notwendigkeit selektionistischer Maßnahmen vgl. John R. Reed: Thomas Henry Huxley and the Question of Morality. In: Thomas Henry Huxley’s Place in Science and Letters: Centenary Essays. Hg. von Alan P. Barr. Athens/ London 1997, S. 31-50, hier S. 41, und Bruce Sommerville/Michael Shortland: Thomas Henry Huxley, H. G. Wells, and the Method of Zadig. In: Thomas Henry Huxley’s Place in Science and Letters: Centenary Essays. Hg. von Alan P. Barr. Athens/London 1997, S. 296-322, hier S. 312. Vgl. Sarah Jansen: „Schädlinge“: Geschichte eines wissenschaftlichen und politischen Konstrukts 1840-1920. Frankfurt/New York 2003.
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tont hat, verbindet sich mit der Vorstellung eines kultivierten Gartens immer auch der Gedanke einer Ausmerzung des nicht Gewünschten.69 Die tatsächliche Ursache für die im 20. Jahrhundert begangenen Völkermorde sei deshalb auch weniger in Aggressionen oder blinder Zerstörungswut zu suchen als vielmehr in einem übersteigerten Streben nach Perfektion, dem eine „grand vision of a better, and radically different society“ zugrunde liege.70 Auch wenn es unsinnig wäre, anzunehmen, dass Visionen einer besseren Welt unweigerlich in humanitäre Katastrophen münden, illustriert eine solche Analyse doch die Janusgesichtigkeit, welche die wissenschaftliche Erlösungsrhetorik von Anfang an begleitete. Diese hatte, wie hier dargelegt wurde, schon früh Anlässe nicht nur für utopische Hoffnungen, sondern auch für dystopische Befürchtungen gegeben. Die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts haben gezeigt, dass solche Befürchtungen berechtigt sind.
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Vgl. Zygmunt Bauman: Modernity and the Holocaust. Cambridge 2003, S. 70. Bauman: Modernity (wie Anm. 69), S. 91.
Andreas Mahler (Berlin) „Search, examine, trie and seeke“. Zur diskursiven Umkodierung von ‚Glaubenswissen‘ in ‚Erfahrungswissen‘ in Englands Früher Neuzeit (am Beispiel von John Donnes früher und später Lyrik) 1. Suchen, Untersuchen, Versuchen Es ist der 9. Februar 1588. In der Londoner St. Paul’s-Kathedrale predigt der anglikanische Geistliche Richard Bancroft, ein Vertrauter von Erzbischof Whitgift. Sein Thema ist der aktuelle Umgang mit dem Glauben. Auf der einen Seite stehen die Katholiken als – für ihn eindeutig erkennbar – ‚falsche Propheten‘: The Popish fals prophets will suffer the people to trie nothing, but do teach them wholie to depende upon them [...] they forbid them the reading of the scripture [...] they labor with all their might to bind us to the fathers, to the councils, and to the church of Rome, protesting verie deeply, that we must admit of no other sence of any place of the scriptures, than the Romish 1 church shall be pleased to deliver unto us.
Dem stehen auf der anderen Seite – in Bancrofts Sicht gleichermaßen verwerflich – gegenüber die neuen ‚radikalen‘ Puritaner: Another sort of prophets there are (you may in mine opinion call them false prophets) who would have the people to be alwaies seeking and searching: and those men (as well themselves as their followers) can never finde whereupon to rest. Now they are carried hither, now thither. They are alwaies learning (as the apostle saith) but do never attaine to the truth [...] They wring and wrest the Scriptures according as they fancie [...] that it hath ever been noted as a right property of heretikes and schismatikes, alwaies to be beating this into their followers heads: 2 search, examine, trie and seek: bringing them thereby into great uncertainty [...].
Der weithin bekannte DDR-Anglist Robert Weimann hat diesen, den Anglikaner Bancroft verstörenden Gegensatz in seinen umfangreichen Untersuchungen zu Autorität und Repräsentation in Englands Früher Neuzeit im Rahmen möglicher literarästhetischer ‚Macht der Mimesis‘ suggestiv und einlässlich beschrieben als eine „kulturpoliti-
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Richard Bancroft: A Sermon Preached at Paules Crosse the 9. of Februarie, Anno 1588. London 1588, S. 33f. Ich zitiere Bancroft nach Robert Weimann: Shakespeare und die Macht der Mimesis. Autorität und Repräsentation im elisabethanischen Theater. Berlin/Weimar 1988, S. 78f. Bancroft: Sermon (wie Anm. 1), S. 38f. (Hervorh. von R. B.)
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sche Formel antagonistischer Diskursverhältnisse“.3 Der eine Pol steht im Zeichen einer unhinterfragbaren, fixierten doctrina, der andere im Zeichen nie mit dem Fragen aufhörender, stets in Bewegung befindlicher experientia: was in Bancrofts Sicht Katholiken ewig zurückbindet an altkirchliche Autorität, führt Puritaner auf eine ewig in die Zukunft weisende Spur; was den einen immer schon gewusstes und geglaubtes und lediglich stets erneut zu rekodierendes Resultat, ist den anderen stets ungewisser, unabschließbarer, nie endgültig kodierbarer Prozess. Im Rahmen frühneuzeitlicher Öffnungen erscheint ein solcher Diskursumbruch – solchermaßen diskursive Devianz und Kollision – als Signum unbestreitbarer Pluralisierung.4 Im diskursiven Feld religiösen bzw. theologischen ‚Denkens und Argumentierens‘ entstehen so weithin inkompatible Standpunkte und Positionen.5 Deren Artikulation führt zu Zusammenprall und heftigster Debatte: theologisches Wissen wird mithin in postreformatorischer Zeit in weiten Bereichen umkodiert. Am orthodox-katholischen Pol herrscht aus Bancrofts Sicht nichts als Statik und die reine ‚Wahrheit‘: der Gläubige hat keinen Raum. Ihm gewährt ist „to trie nothing“; ihm obliegt ein autoritätsgläubiges „to depende“, das Meiden eigener Lektüre wie eigener Meinung („they forbid them the reading of the scripture“), die absolute ‚Bindung‘ an kirchliche Autorität („to the fathers, to the councils, and to the church of Rome“) sowie die Einsinnigkeit aller Auslegung („no other sence“), welche den Gläubigen in Gefälligkeit geliefert wird („shall be pleased to deliver unto us“). Diesem „trie nothing“ steht am radikal-puritanischen Pol gegenüber das beständige „search, examine, trie and seeke“, ein „alwaies seeking and searching“, rastloses Hinund Herhasten („now [...] hither, now thither“); der Gläubige hat nichts als Raum, nichts als Dynamik; und er hat keine ‚Wahrheit‘, keinen Halt: vielmehr Sinnvielfalt und Orientierungslosigkeit („They [...] do never attaine to the truth [...], bringing them thereby into great uncertainty“). Auf diese Weise tritt religiöse Praxis ins offene Feld. Die bekannten, von Foucault formulierten diskursiven Mechanismen von Kontrolle und Verbot, von Selektion und
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Siehe Weimann: Macht der Mimesis (wie Anm. 1), S. 77. Zur Signatur einer frühneuzeitlichen Pluralisierung mit dem Resultat einer „Pluralität der Welten“ siehe die Studien Blumenbergs, insbesondere Hans Blumenberg: Säkularisierung und Selbstbehauptung. Erweiterte und überarbeitete Neuausgabe von „Die Legitimität der Neuzeit“, erster und zweiter Teil. 2. Aufl. Frankfurt a.M. 1983, das Zitat S. 180 (Hervorhebung von H. B.). Zum Versuch einer einlässlichen Vereindeutigung des Diskursbegriffs auf jeweils wissens- bzw. themenbezogenes und damit weithin semantisch bestimmtes Denken und Argumentieren wie etwa politisches, ökonomisches oder eben auch religiöses Denken/Argumentieren, aus dem heraus sich die Rede von einem ‚politischen‘, ‚ökonomischen‘, ‚religiösen Diskurs‘ überhaupt erst sinnvoll zu rechtfertigen scheint, siehe Michael Titzmann: Kulturelles Wissen – Diskurs – Denksystem. Zu einigen Grundbegriffen der Literaturgeschichtsschreibung. In: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 99 (1989), S. 47-61; vgl. hierzu näherhin auch Andreas Mahler: Diskurs. Versuch einer Entwirrung. In: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 120 (2010), S. 153-173.
Zur diskursiven Umkodierung von ‚Glaubenswissen‘ in ‚Erfahrungswissen‘
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Kommentar, der Einschränkung wie der Verknappung der Subjekte, greifen im postreformatorisch autoritätskritischen England nicht mehr recht.6 Losgetreten scheint die Suche eines jeden Einzelnen. Statt einer Vorgabe erscheint der Glaube nun als erst sich einzustellen habendes, allerdings immer schon auch aufgeschobenes Resultat: Damit ist [– so des Marxisten Weimanns Fazit seiner Lektüre –] das Moment der größeren Unbestimmtheit (indeterminacy), der Unvorherbestimmtheit in der Auslegung und Autorisation des Wortes auf die prägnante Formel des Suchens, Untersuchens und Versuchens gebracht: Die altkirchliche Vorgabe einer festgelegten Bedeutung wird ersetzt durch das höhergradig selbstbestimmte Prinzip der Aneignung des Textes durch das eigene unablässige 7 Suchen und Forschen nach der rechten, gottgefälligen Bedeutung.
Selbst im Bereich der Religion scheint mithin Sinn und Bedeutung nicht mehr gegeben, sondern wird allererst gemacht.8 Dies ist Befreiung und Verunsicherung zugleich. Entsprechend zieht der common sense-bewusste Brite Bancroft mit aller vernünftiger Macht alsbald in seinem Text die Notbremse und propagiert im weiteren Verlauf die – späterhin noch sehr bewährte – insulare via media, wo nicht die Mittelmäßigkeit: „The meane therefore betwixt both these extremities of trieng nothing and curious trieng of all things, [– so Bancroft –] I hold to be the best“.9
2. Umkodierungen: ‚Glaubenswissen‘/‚Erfahrungswissen‘ Diesen Umbruch von gegebener Sinnfülle zu einer zu erlangenden Sinnsuche meint die im Titel vorgeschlagene Rede von der ‚diskursiven Umkodierung‘: vorgängiges, gottgegebenes, garantiertes ‚Glaubenswissen‘ kippt im frühneuzeitlich reformationsbestimmten England – und nicht nur dort – in zu erarbeitendes, anzueignendes, erst zu
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Zumindest reichen sie nicht mehr zu einer einvernehmlichen autoritativen Remonologisierung; zu den einschlägigen Mechanismen siehe Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses. Inauguralvorlesung am Collège de France – 2. Dezember 1970. Übers. von Walter Seitter. Frankfurt a.M./Berlin/Wien 1982, S. 7-31. Weimann: Macht der Mimesis (wie Anm. 1), S. 79. Hierin läge eine in der Frühen Neuzeit sich abzeichnende Grundumstellung von einer rückwärts auf einen ‚Ursprung‘ gerichteten, die gegebene Autorität im Wiederholungsakt wiedereinholenden ‚Mimesis‘ zu einer vorwärts auf ein zukünftiges ‚Ziel‘ gerichteten, im Sinne einer (nicht ganz unmarxistisch verstandenen) Aneignung selbstautorisierten, Autorität mithin erst eigenmächtig herstellenden, ‚Performanz‘; zum Begriffspaar ‚Mimesis‘/‚Performanz‘ siehe Wolfgang Iser: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie. Frankfurt a.M. 1993, S. 481-515, zu einer auf diese Perspektivierung beziehbaren einlässlichen Skizze eines ideengeschichtlichen Epochenprofils vgl. Wolfgang Iser: Shakespeares Historien. Genesis und Geltung. Konstanz 1988, S. 33-59. Bancroft: Sermon (wie Anm. 1), S. 41; zu einer späten Feier des ‚Mäßigen‘ als Signatur womöglich nicht ganz unproblematischer Englishness vgl. etwa den Band Radikalität und Mäßigung. Der englische Roman seit 1960. Hg. von Annegret Maack und Rüdiger Imhof. Darmstadt 1993.
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realisierendes ‚Erfahrungswissen‘.10 Das System theologischen Denkens und Argumentierens ruht nicht mehr auf einer autoritativ stets abstützbaren, abgesicherten, vorgegebenen, rekodierbaren Setzung, sondern strebt stets erst noch zu einem Aneignungsergebnis hin: aus dem geschlossenen Spiel des reinen Glaubens wird das offene der Suche. Gewissermaßen wird eine (anfangsgerichtete) ‚Motivation von vorn‘ überlagert von einer (vermeintlichen, endpunktbewussten, teleologisch ausgerichteten, gleichwohl offenen) ‚Motivation von hinten‘.11 Dies geht einher mit einer Reihe typische frühneuzeitliche Entwicklungen kennzeichnender Prozesse:12 – Dem einer Temporalisierung bzw. Linearisierung: die Zyklik steter Rückkehr zu einem geglaubten Ordnungspunkt wird zunehmend überlagert von einer Semantik des Wegs; aus der Wiedergewinnung fester Verankerung wird die Erarbeitung eines eigenen – mobilen – Standpunkts; aus der autoritätsgestützten Verpflichtung auf den ‚einen‘ Glauben wird die lineare Abfolge erfahrungsgeprägter Aneignungsschritte zum ‚eigenen‘ Glauben. – Damit verbunden ist ein Prozess der Subjektivierung bzw. Individualisierung: wo das zu Glaubende nicht mehr glaubhaft vorgegeben, ist es vom Einzelnen zu finden; es ist nicht mehr gebunden an die Kirche, an die Institution, an vorgegebene Autorität, vielmehr ist es freigegeben ans einzelne Subjekt: es ist Ergebnis individueller Suche. – Schließlich zeigt sich darin zudem der bereits erwähnte Prozess der Pluralisierung bzw. Differenzierung; statt autoritativer Rückverpflichtung auf die eine Wahrheit der Doktrin stellen sich nebeneinander individuelle Wege der Erfahrung; und deren Ergebnisse bleiben – bis hin zum Punkte der Erlösung – nicht nur stets vorläufig, sondern kommen vor allem untereinander kaum mehr einlässlich und befriedigend zur Deckung.
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Das Konzept diskursiver Umkodierung meint also einen Umbau in einem System des Denkens und Argumentierens. Trotz der eingestandenermaßen nicht ganz glücklichen Fügung vom ‚Glaubenswissen‘ ziehe ich sie im vorliegenden Fall dem alleinigen Begriff des ‚Glaubens‘ vor, da es mir nicht so sehr um den Umbau des Glaubens selbst als um dessen Aneignungsformen geht, also um das, was man über den Glauben zu wissen glaubt, weil man es über den Vertrauensakt einer Setzung übernommen und angenommen hat oder weil man es über einen individuellen Erfahrungsweg sich angeeignet und erfahren hat. Letzteres wäre dann das ‚Erfahrungswissen‘. Zur Unterscheidung zwischen einer ursprungsbetonten, kausal orientierten ‚Motivation von vorn‘ und einer zielgerichteten, final orientierten ‚Motivation von hinten‘ siehe Clemens Lugowski: Die Form der Individualität im Roman. Hg. von Heinz Schlaffer. Frankfurt a.M. 1976, insbes, S. 6680; zu ihrer Überlagerung vor allem in Zeiten des Umbruchs bzw. der Umkodierung wie etwa, in diesem Falle, von ‚Linearität‘, vgl., mit Bezug auf Lugowski, Matías Martínez: Doppelte Welten. Struktur und Sinn zweideutigen Erzählens. Göttingen 1996, S. 13-36. Ich fasse im gegebenen Rahmen lediglich grob zusammen. Für weitere Hinweise verweise ich stellvertretend auf die bereits genannten Darstellungen bei Blumenberg: Säkularisierung und Selbstbehauptung (wie Anm. 4), Weimann: Macht der Mimesis (wie Anm. 1) und Iser: Shakespeares Historien (wie Anm. 8). Es versteht sich von selbst, dass es sich hierbei um hybride Prozesse einer longue durée handelt, nicht um schlagartige Umstellungen vom einen aufs andere.
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3. John Donne, coterie poet Solche Entwicklungen sind unter anderem paradigmatisch beobachtbar und ablesbar in den Gedichten und Predigten des einflussreichen frühneuzeitlichen englischen Autors John Donne (1572-1631). Als Spross einer mütterlicherseits katholischstämmigen Familie nach kurzem Studium in Cambridge (ca. 1588/89) – und aufgrund seines Glaubens dort notwendigem Abgang – unter anderem ausgebildet auf dem Kontinent bei den Jesuiten in Douai, kommt er in den frühen 1590er Jahren an die Rechtsschulen der Londoner Inns of Court.13 Diese lassen sich darstellen als vielsprachige humanistische Enklaven, als intellektuelle Freiräume der Lizenz, des Ausprobierens, wo nicht gar näherhin genau eines solchen beschriebenen beständigen ‚Suchens, Untersuchens, Versuchens‘.14 Es sind Orte der, wenn auch zumeist im Spielerischen verbleibenden, ‚Devianz‘, Orte der – zuweilen über die dort instituierte kasuistische Streitkultur gar explizit, und nicht nur karnevalesk, inszenierten – ‚Kollision‘ unterschiedlichster Standpunkte und Auffassungen, einer ungeahnten Offenheit und Toleranz.15 Angesichts etwa des zeitgleichen Wirkens des anglikanischen Konformisten Richard Hooker und des calvinistischen Nonkonformisten Walter Travers als geistliche Masters im Middle Temple im Jahre 1585 formuliert ein verblüffter Beobachter: „Here the pulpit spake
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Zum biographischen Hintergrund siehe nach wie vor Robert C. Bald: John Donne. A Life. Oxford 1970; für eine kontextuelle Einbettung von Donnes Lyrik vgl. Volker Deubel: Tradierte Bauformen und lyrische Struktur. Die Veränderung elisabethanischer Gedichtschemata bei John Donne. Stuttgart u. a. 1971 sowie Arthur F. Marotti: John Donne, Coterie Poet. Madison, WI 1986. Für eine sozialgeschichtlich orientierte Darstellung der Inns of Court und ihrer Rolle im frühneuzeitlichen England siehe Philip J. Finkelpearl: John Marston of the Middle Temple. An Elizabethan Dramatist in His Social Setting. Cambridge, MA 1969, S. 1-80; zu ihrem anarchischen Charakter vgl. auch Andreas Mahler: Beginning in the middle. Strategie und Taktik an den Inns of Court. In: Zeitsprünge. Forschungen zur Frühen Neuzeit 13 (2009), S. 1-22. Zum insbesondere in früher Neuzeit beobachtbaren Phänomen eines Kippens des Karnevals in sozialen Ernst und „nackte Publizistik“, siehe den seine Karnevalssicht knapp zusammenfassenden Exkurs bei Michail Bachtin: Probleme der Poetik Dostoevskijs. Übers. von Adelheid Schramm. Frankfurt a.M./Berlin/Wien 1985, S. 113-154, das Zitat S. 141; vgl. in diesem Zusammenhang auch die aufschlussreichen Bemerkungen zu frühneuzeitlicher ‚Umkodierung‘ bei Peter Burke: Helden, Schurken und Narren. Europäische Volkskultur in der frühen Neuzeit. Hg. von Rudolf Schenda. Übers. von Susanne Schenda. München 1985, S. 217: „[I]n Europa existierten [...] zwischen 1500 und 1800 gleichzeitig Rituale des Aufruhrs und ein ernsthaftes Infragestellen der sozialen, politischen und religiösen Ordnung, und ein Phänomen schlug oft in das andere um. Oftmals wurde der Protest in brauchtümlicher Form ausgedrückt, manchmal aber war das Ritual nicht in der Lage, den Protest einzudämmen. Dann explodierte das Weinfass eben. [...] Die übliche Hochstimmung bei Festen und der starke Genuss von Alkohol hatten zur Folge, dass die Hemmungen, Feindseliges über die Obrigkeit oder einzelne zu äußern, abgebaut wurden. Kam dann eine schlechte Ernte, eine Steuererhöhung oder der Versuch hinzu, die Reformation einzuführen oder zu verhindern, so war eine explosive Stimmung erreicht. Das konnte dazu führen, dass der Code ‚gewechselt‘ wurde und die Sprache des Brauchtums umschlug in die der Rebellion.“
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pure Canterbury in the morning, and Geneva in the afternoon.“16 Die Inns of Court stellen sich mithin aus religiöser Sicht dar als Orte des Zusammenpralls verschiedenster – katholischer, puritanischer, anderweitig dissidenter, vielfach häretischer, ja sogar ‚atheistischer‘ – ‚Peripherien‘, aus deren ‚Unvorhersagbarkeiten‘ sich das noch recht prekäre kulturelle anglikanische ‚Zentrum‘, wie dies Jurij Lotman kulturtheoretisch einlässlich verbildlicht hat, in einer ungeahnten ‚Explosion‘ potentiell mit einem Schlag zu ändern vermag.17 In diesem Milieu entstehen John Donnes frühe Schriften: neben hochgradig intertextuell-experimenteller Liebeslyrik vor allem auch seine Satiren. In der Dritten Satire – fast einer den erst gerade angeeigneten Gattungsrahmen gänzlich austarierenden AntiSatire18 – des ca. 20-jährigen Donne hebt der in gespielter Resignation seiner angestammten Aggressivität abschwörende fiktive Sprecher an zu einer Überlegung, wie ‚Wahrheit‘ zu erkennen sei, und kommt dabei auf das Bild eines hohen Berges:19 On a huge hill, Cragged and steep, Truth stands, and he that will Reach her, about must, and about must go; And what the hill’s suddenness resists, win so; Yet strive so, that before age, death’s twilight, Thy soul rest, for none can work in that night, To will, implies delay, therefore now do. (V. 79-85)
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Finkelpearl: John Marston of the Middle Temple (wie Anm. 14), S. 62.; der Name des Beobachters ist Thomas Fuller. Zum kulturtypologischen Modell von ständig in Bewegung begriffenem, sich ständig gegenseitig definierendem Wechselspiel von ‚Zentrum‘ und ‚Peripherie‘ siehe, im Rahmen seiner Überlegungen zur Semiosphäre, Jurij M. Lotman: Die Innenwelt des Denkens. Eine semiotische Theorie der Kultur. Hg. von Susi K. Frank, Cornelia Ruhe und Alexander Schmitz. Berlin 2010, S. 161-290; zum – bereits bei Peter Burke (vgl. Anm. 15) zitierten – Gedanken einer unvorhersagbaren kulturellen ‚Explosion‘ vgl. ders: Kultur und Explosion. Hg. von Susi K. Frank, Cornelia Ruhe und Alexander Schmitz. Berlin 2010, S. 147-168. Zu einem Versuch einer darauf aufbauenden Beschreibung für das England der Frühen Neuzeit siehe Andreas Mahler: Urbane Raumpraxis und kulturelle Explosion. Netzwerkkonstellationen im frühneuzeitlichen London. In: Shakespeare Jahrbuch 147 (2011), S. 11-34. Zum Gattungsprofil frühneuzeitlicher Verssatire siehe Andreas Mahler: Moderne Satireforschung und elisabethanische Verssatire. Texttheorie – Epistemologie – Gattungspoetik. München 1992. Alle Zitate folgen unter Angabe der Verszahlen der Ausgabe John Donne: The Complete English Poems. Hg. von A. J. Smith. Harmondsworth 1976, hier S. 161-164; für eine deutsche Übertragung siehe John Donne: Zwar ist auch Dichtung Sünde. Gedichte englisch und deutsch. Hg. von Maik Hamburger. Übers. von Maik Hamburger und Christa Schuenke. Leipzig 1982, S. 108-113. Für eigenständige Interpretationen der Dritten Satire John Donnes siehe Arnold Stein: Donne and the Satiric Spirit. In: English Literary History 11 (1944), S. 266-282; Thomas O. Sloan: The Persona as Rhetor. An Interpretation of Donne’s Satyre III. In: Essential Articles for the Study of John Donne’s Poetry. Hg. von John R. Roberts. Hamden, CO 1975, S. 424-438; Richard Strier: Radical Donne: „Satire III“. In: English Literary History 60 (1993), S. 283-322.
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Der Sprecher der Third Satyre ist trotz aller Resignation hochemotional erregt. Der Passus beginnt satyretypisch20 mit einer allgemeinen Sentenz in der dritten Person (V. 7981), wechselt sodann in ermahnende Imperative (möglicherweise schon das „win so“, in jedem Falle, dort im Sinne einer selbstadressierten ‚Ich-Ich-Kommunikation‘21 und womöglich auch schon selbstexhortativ, sodann das „strive so“) und kippt auf diese Weise in die zweite Person „Thy“ (V. 84), bevor er nochmals in eine allgemeine Sentenz zurückfällt („To will, implies delay“) und abschließend zu unmittelbarem individuellen Handeln auffordert: „therefore now do“ (V. 85). Dabei verweist der Sprecher auf den Erwerb von ‚Wahrheit‘ ganz im Sinne der erwähnten Formel von search, examine, trie and seeke als beschwerliche, langwierige, unablässige lineare Suche. Diese Wahrheit befindet sich laut Argument auf einem hohen Berggipfel („On a huge hill, / Cragged and steep, Truth stands“), und die Aufgabe des Gläubigen besteht in einem mühseligen individuellen Aneignungsprozess („and he that will / Reach her, about must, and about must go“), einem langen und unbequemen Weg mit scheinbar kontingent – gegen allen abweisenden Widerstand – abgetrotztem Gewinn („And what the hill’s suddenness resists, win so“), welcher gleichwohl rechtzeitig abgerungen werden muss, da die Schwäche des Alters, so der Sprecher in weiser Vorausahnung, hierfür nicht mehr taugt. Die so beschriebene, mühselige Suche führt zu einem den einzelnen kennzeichnenden, individuellen Resultat, das am Jüngsten Tag allein überzeugend rechtfertigender Verteidigung dient: Keep the truth which thou hast found; men do not stand In so ill case here, that God hath with his hand Signed kings blank-charters to kill whom they hate, Nor are they vicars, but hangmen to Fate. Fool and wretch, wilt thou let thy soul be tied To man’s laws, by which she shall not be tried At the last day? Or will it then boot thee To say a Philip, or a Gregory, A Harry, or a Martin taught thee this? (V. 89-97)
Wohl nicht ganz zu Unrecht gilt Donnes Satyre III – in einer das literarische Spiel der Verssatire ein wenig vernachlässigenden, dominant diskursorientierten, also auf das darin artikulierte theologische System des Denkens und Argumentierens abhebenden Lek-
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Zur Vermeidung vorschneller heutiger Erwartungen unterscheide ich zwischen der frühneuzeitlichen Gattung einer fiktiv-aggressiven Verssatire (‚satyre‘) und späteren Formen implikationsreich wirklichkeitsbezogener satirischer Rede (‚satire‘). Zur ‚Ich-Ich-Kommunikation‘ als einem wesentlichen kulturbestimmenden Kommunikationstyp siehe Lotman: Die Innenwelt des Denkens (wie Anm. 17), S. 31-52.
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türe – als „a remarkable doctrine in the history of religious tolerance“.22 Der satyrisch ‚wahrheitsliebende‘ Sprecher mahnt nach erfolgter gründlicher, gewissenhafter Suche zur Konstanz („Keep the truth which thou hast found“); er wägt Gottesmacht gegen weltliche Macht, welche er für leicht befindet, da weltliche Herrscher gegen alle Meinung weder über Freibriefe zur Willkür verfügen („blank-charters to kill whom they hate“) noch das Schicksal vikarisch-stellvertretend leiten, sondern ihm, wie jeder andere eben auch, unterworfen sind („Nor are they vicars, but hangmen to Fate“). Entsprechend wichtig ist dem satyrischen Ich folgerecht der eigene Weg; nicht der vermeintlich autoritativ abgesichert nachgeplapperte eines anderen (Auch-Nur-)Menschen, sondern der individuelle Weg als Ergebnis des eigenen prozessualen Werdegangs. Nicht gilt die weltliche Autorität eines ‚Philipp‘ II. von Spanien als Inbegriff des Katholizismus oder eines ‚Gregor‘ VII. als Begründer des Dogmas von der Unfehlbarkeit und des Primats kirchlicher Herrschaft, nicht diejenige eines ‚Harry‘/Heinrich VIII. als Begründer der Church of England und des Anglikanismus oder eines ‚Martin‘ Luther als Kirchenspalter und Stammvater des Protestantismus, sondern allein zählt, so das Argument, die Berufung auf sich selbst, aufs Ich, auf das eigene Leben, auf individuell gewonnenen Glauben und Erkenntnis.
4. Die Linearisierung der Welt Der Philosoph Hans Blumenberg hat diese sich hierin abzeichnende epistemische Verschiebung einlässlich beschrieben als Übergang zwischen zwei grundlegenden, die europäischen Kulturen prägenden Vorstellungen von Wirklichkeit, wobei dieser Übergang nicht gedacht werden darf als linear-teleologisch aufzufassende, wenn nicht gar unumkehrbare Errungenschaft in einer Fortschritts- bzw. ‚Modernisierungs‘geschichte der Menschheit, sondern vielmehr als plausibilitätsbedachte Umgewichtung innerhalb eines Kräfte- und Dominanzverhältnisses grundsätzlich möglicher Weltzugriffe.23 Diese ‚früh‘neuzeitliche Verschiebung betrifft in Blumenbergschen Begriffen einen langsamen, langfristigen, unmerklichen Wandel von einem Konzept von Wirklichkeit als ei-
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Stein: Donne and the Satiric Spirit (wie Anm. 19), S. 268; eine solche vornehmlich ideengeschichtlich interessierte Lektüre vernachlässigt natürlich den literarischen Anspruch der rhetorischen Gestaltung fiktiver erregter Rede im Rahmen des gewählten Gattungsspiels. Siehe hierzu und im folgenden Hans Blumenberg: Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans (1964). In: Ders.: Ästhetische und metaphorologische Schriften. Hg. von Anselm Haverkamp. Frankfurt a.M. 2011, S. 47-73; zur Betonung der Koexistenz solcher Wirklichkeitsbegriffe und gegen das Missverständnis ihres vermeintlich historisch einander ablösenden Nacheinanders siehe v. a. S. 51f., Anm. 5.
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nem in Gott verbürgten „garantierten“ zu einem, das Wirklichkeit subkutan zu fassen sucht als das jeweilige individuelle „Resultat einer Realisierung“24. Es ist dies der die Frühe Neuzeit maßgeblich kennzeichnende Prozess der Verzeitlichung, der Linearisierung. Statt eines Raums der ‚Wahrheit‘ ist Wahrheit nunmehr – im Sinne eben eines search, examine, trie and seeke oder auch eines „about must, and about must go“ – eine in der Zeit zu erarbeitende; statt der Vorstellung von Gott als „verantwortliche[m] Bürge[n]“, „absolute[m] Zeugen“, „dritte[r] Instanz“, als dem ‚Garanten‘ einer ein für allemal bestehenden, wenn auch unbegreifbaren, Weltenordnung, einer – scholastisch geprägten – „veritas ontologica“25, regiert die Vorstellung einer beständig notwendigen – und individuell bestimmten – „Realisierung eines in sich stimmigen Kontextes“, eines unabschließbaren Prozesses, eben einer, um nochmals Blumenberg ein wenig ausführlicher zu zitieren: Realität als Resultat einer Realisierung, als sukzessiv sich konstituierende Verlässlichkeit, als niemals endgültig und absolut zugestandene Konsistenz, die immer noch auf jede Zukunft angewiesen ist, in der Elemente auftreten können, die die bisherige Konsistenz zersprengen und 26 das bis dahin als wirklich Anerkannte in die Irrealität verweisen könnten.
Statt eines verbindlichen Anfangs, einer ‚Ur-‘Schöpfung, eines ‚Abrollens‘ der Welt ‚von vorne‘, statt des Vorrangs von ‚Herkunft‘, ergibt sich nunmehr, daneben und zunehmend ersetzend, die Gewichtigkeit des ‚Ziels‘, eines Fluchtpunkts, ein Gehaltensein ‚von hinten‘, der Primat eines Vorentwurfs auf ‚Zukunft‘. Ethisch-moralisch bedeutet dies die Abkehr von einer Verhaltensregelung über das fixierte, absolute Gebot und Verbot als verbürgten, ‚garantierten‘ – katechetischen – Glaubenssatz hin zur relativistischen, ‚vernünftig‘ einvernehmlichen Verhandlung individueller, divergierender, kollidierender Standpunkte als erarbeiteter bzw. gefundener ‚Realisate‘. Dies ist der Weg von einem unbedingten, trotz aller möglichen zeitweiligen Zweifel stets wieder zu sich kommenden ‚einen‘ Glauben zum beständig selbst- und glaubensprüfenden, in unabschließbare Prozesse geratenden protestantischen ‚Gewissen‘.27
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Zu diesen beiden Konzepten siehe Blumenberg: Wirklichkeitsbegriff (wie Anm. 23), S. 50-52; daneben führt er einen antiken Wirklichkeitsbegriff der sich unmittelbar zu erkennen gebenden ‚Evidenz‘ und einen für die Neuzeit bzw. die Moderne maßgeblichen des ‚Widerstands‘, in dem sich Realität erweist „als das dem Subjekt nicht Gefügige“ (S. 53, Hervorh. von H. B.). Für alle Zitate siehe Blumenberg: Wirklichkeitsbegriff (wie Anm. 23), S. 51 und 52 (Hervorh. wiederum H. B.). Blumenberg: Wirklichkeitsbegriff (wie Anm. 23), S. 52 (Hervorh. H. B.). Zu den frühneuzeitlich kursierenden Diskursen über das Gewissen siehe John S. Wilks: The Idea of Conscience in Renaissance Tragedy. London 1990, insbes. S. 9-43.
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5. Dr Donne, Dean of St. Paul’s Wohl eines der berühmtesten frühneuzeitlichen Zitate für die Artikulation von solcher allgegenwärtiger Angst vor unheimlicher, verunsichernder ‚uncertainty‘, ‚indeterminacy‘, ‚mutability‘28: davor, dass – um nochmal mit Blumenberg zu sprechen – „Elemente auftreten können, die die bisherige Konsistenz zersprengen und das bis dahin als wirklich Anerkannte in die Irrealität verweisen könnten“29, stammt gleichermaßen von John Donne. In den im Partikulären auf den unfassbaren Tod der jungen Elizabeth Drury verfassten Gedicht An Anatomy of the World: The First Anniversary30, aus dem Jahre 1611, heißt es in bekannter Manier: And new philosophy calls all in doubt, The element of fire is quite put out; The sun is lost, and th’earth, and no man’s wit Can well direct him where to look for it. And freely men confess that this world’s spent, When in the planets, and the firmament They seek so many new; they see that this Is crumbled out again to his atomies. ’Tis all in pieces, all coherence gone; All just supply, and all relation: Prince, subject, father, son, are things forgot, For every man alone thinks he hath got To be a phoenix, and that then can be None of that kind, of which he is, but he. (V. 205-18)
Der Passus beklagt einen Verlust. Der Verlust ist vorderhand die junge Tote. Mehr noch aber ist er der einer ganzen Welt: eines Wirklichkeitskonzepts. Dieses ist in eindringlicher Synonymenfülle „in doubt“, „put out“, „lost“, „spent“, „crumbled out“, „forgot“: eindeutig vergangen und vorbei. Es kennzeichnet nichts als nurmehr allgegenwärtiger Geltungsverlust: „’Tis all in pieces, all coherence gone“. Das ‚Glaubenswissen‘ eines geordneten, ‚garantierten‘, in Gott verbürgten Kosmos, in dem sich alles hält und wägt („All just supply, and all relation“), in welchem alles makrokosmisch – politisch – wie mikrokosmisch – familiär – seinen festen Ort und seine feste Beziehung wie auch Bindung zueinander hat („Prince, subject, father, son“) – all dies scheint abgedankt und wirkt passé. Und dem steht gegenüber – dies wäre nun die Lotmansche ‚Explosion‘ – die Überhebung – Last und Bürde – des einzelnen, auf dessen Schultern individuell nunmehr die
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Zum Gedanken, die Elisabethaner seien „obsessed by the fear of chaos and the fact of mutability“, siehe, trotz aller rezenten Relativierungen, die klassischen Bemerkungen bei E. M. W. Tillyard: The Elizabethan World Picture (1943). Harmondsworth 1976, S. 24. Blumenberg: Wirklichkeitsbegriff (wie Anm. 23), S. 52. Donne: The Complete English Poems (wie Anm. 19), S. 270-283.
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ganze Last der Welt zu ruhen scheint: „For every man alone thinks he hath got / To be a phoenix, and that then can be / None of that kind, of which he is, but he“. Statt kollektiver Gehaltenheit ergibt sich das Bild des einsamen Wegs; statt einer Aufgehobenheit in der Gattung („kind“) die im Phönixbild aufgerufene Vereinzelung des Individuums („None of that kind, of which he is, but he“). Die Welt ist keine gegebene mehr, allenfalls eben noch Ergebnis einzeln realisierenden Handelns. Dies gilt sodann aber auch gleichermaßen für das zu Glaubende, für theologisches ‚Wissen‘. Bei Donne wird sich dies – in Konversion und Aufnahme seelsorgerischer Tätigkeit am Lincoln’s Inn um etwa 1616 und späterhin als stürmisch predigender Dean of St. Paul’s – äußern in einer Wendung hin zum dezidiert religiösen – privaten – Gedicht.31 Nicht mehr geht es dort um die rekodierende Artikulation von Glaubenswissen, sondern um die notierende Spur einer – zuweilen gar erst noch im Verlauf begriffenen – Erfahrung. Es sind dies tentative Findungstexte: Texte der Suche. Religiöses Wissen wird dort nicht wiederholt, wiedergegeben; vielmehr wird es erspürt, erschrieben, textuell bzw. ‚poetisch‘ ‚gemacht‘32: es wird im wahrsten Sinne erst im Schreiben – nicht mimetisch darstellend, sondern performativ herstellend33 – ‚diskursiviert‘34 hin zu einem jeweils monumenthaft ‚einmaligen‘ Ergebnis, zu individuell in der Schrift gefundenem und privat im Text niedergelegtem ‚Erfahrungswissen‘. Es sind dies mithin Texte einer aus protestantisch-anglikanischer Selbstsorge entspringenden ‚Theopoetik‘.35 John Donnes Holy Sonnets – Texte der Spätzeit – sind me-
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Zu diesem Rückzug ins Private, in den meditativen Ich-Ich-Text, gerade auch bei Donne, siehe Andreas Mahler: Profanierung des Sakralen – Sakralisierung des Profanen. Beobachtungen zur Entsubstantialisierung des religiösen Diskurses in der Frühen Neuzeit. In: Shakespeare Jahrbuch West (1991), S. 24-45; zur – auch und vor allem sprachlich-rhetorisch wie literarisch – eindrucksvollen Dokumentation von Donnes Predigertätigkeit siehe die zehn stattlichen Bände von John Donne: The Sermons. Hg. von George R. Potter und Evelyn M. Simpson. 10 Bde. Berkeley, CA 1953-1962. Dies verweist auf den im frühneuzeitlichen England emphatischen Gebrauch des Wortes ‚poein‘ als eines aktiven, performativen ‚Machens‘, wie es sich nicht zuletzt in der persistenten Selbstbezeichnung von Donnes Kollegen und Dramenautor Ben Jonson als ‚maker‘, nicht als ‚playwright‘ oder auch als ‚poet‘, bezeugt. Zur bereits erwähnten frühneuzeitlichen Umstellung von ‚Mimesis‘ auf ‚Performanz‘ siehe nochmals Iser: Das Fiktive und das Imaginäre (wie Anm. 8). ‚Diskursivierung‘ meint in diesem weiteren Sinne im Rahmen der Rede von den für den Band relevanten ‚Diskursivierungen von Moral‘ zunächst nichts anderes als Vertextung, Umsetzung in kohärente Schrift. Dabei handelt es sich im vorliegenden Fall weniger um Diskursivierung ‚von Wissen‘ als um die In-Schrift-Setzung einer Ahnung. Zum ansonsten in diesem Beitrag verwendeten, ideologisch-semantisch definierten wissensbezogenen Diskursbegriff siehe oben Anm. 5. Zum Konzept einer an sich Unsagbares hereinholenden, Entzogenes, Absentes gleichwohl ‚allegorisch‘ in die Rede bzw. in die Schrift holenden oder vielmehr erst über Schrift herstellenden ‚Theopoetik‘ siehe Bernhard Teuber: Sacrificium litterae. Allegorische Rede und mystische Erfahrung in der Dichtung des heiligen Johannes vom Kreuz. München 2003, v. a. die knappen
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ditative Kleinode: Texte einer langen Wegstrecke und der gefundenen – prekären – Wahrheit, des jeweiligen „truth [...] found [and kept]“. Es sind gebrochene, suchende, untersuchende, versuchende Texte der Ich-Aussprache, der Demut, selbstzugeschriebener Hoffnung und der Verzweiflung: einer zunehmend als unhintergehbar empfundenen, sich aber gerade im Text zeitweilig selbstaufhebenden, Devianz und Kollision. Dies zeigt etwa das sechste der Holy Sonnets:36 This is my play’s last scene, here heavens appoint My pilgrimage’s last mile; and my race Idly, yet quickly run, hath this last pace, My span’s last inch, my minute’s latest point, And gluttonous death, will instantly unjoint My body, and soul, and I shall sleep a space, But my’ever-waking part shall see that face, Whose fear already shakes my every joint: Then, as my soul, to heaven her first seat, takes flight, And earth-born body, in the earth shall dwell, So, fall my sins, that all may have their right, To where they are bred, and would press me, to hell. Impute me righteous, thus purged of evil, For thus I leave the world, the flesh, and devil.
Das Ich wird hier, seiner selbst bewusst, inszeniert als Spieler seines letzten Auftritts („my play’s last scene“): nach langem, zunehmend hastigerem Wege („my pilgrimage’s last mile“; „my race“) ankommend, die Trennung von Leib und Seele gewahrend und in aller bescheiden bittender Überhebung („Impute me righteous“) die eigene Erlösung imaginierend. Textuell hat sich fundamental etwas geändert. Dies ist kein diskursiver Bericht, keine Artikulation einer Doktrin, keine Mitteilung eines Theologumenon. Es ist die Konstruktion einer Möglichkeit: eine – vielleicht perfide, freche, häretische, vielleicht auch nur inständig herbeisehnende, unratifiziert herbeischreibende – Fiktion, ein Traum, ein Wunsch; es ist keine Repräsentation, sondern Präsentation.37 Der Text folgt keiner Wahrheitslogik. Er stellt lediglich vor, er stellt sich etwas vor: so kann es, so möge es sein. Er artikuliert keinen theologischen Diskurs, kein religiös geprägtes, theologisch
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grundsätzlichen Überlegungen S. 23-31; zum Konzept der Selbstsorge vgl. Michel Foucault: Die Sorge um sich. Sexualität und Wahrheit 3. Übers. von Ulrich Raulff und Walter Seitter. Frankfurt a.M. 1989. Donne: The Complete English Poems (wie Anm. 19), S. 311. Zum Oszillieren zwischen auf Vorgängiges bezogener darstellender ‚Nachahmung‘ und Nachgängiges textuell herstellender ‚Vorahmung‘ siehe Iser: Das Fiktive und das Imaginäre (wie Anm. 8), S. 426-480; zum Begriff der ‚Vorahmung‘ selbst siehe Hans Blumenberg: ‚Nachahmung der Natur‘. Zur Vorgeschichte der Idee des schöpferischen Menschen (1957). In: Ders.: Ästhetische und metaphorologische Schriften (wie Anm. 23), S. 9-46, insbes. S. 45.
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abgestütztes System des Denkens und Argumentierens; er ist a-diskursives Spiel, jenseits von Devianz und Kollision Freiraum der Konstruktion von Auch-Möglichem, von Alterität; in aller Skepsis: Hoffnung; vor aller Offenheit der Welt: fiktiver Schluss. Es ist ein (theo-)poetischer, ein literarischer, konterdiskursiver Text, welcher als solcher „grundsätzlich in einem Spannungsverhältnis steht zu diskursiv organisiertem Wissen, also zur ‚Ordnung des Diskurses‘, [...] als Freiraum neben und außerhalb von Machtdispositiven“38. Und dort lässt sich denn auch, im fiktiven Raum der ‚Literatur‘, zusätzlich der Verlust garantierter Wirklichkeit nochmals kontrafaktisch rückgewinnen: etwa in bewusst ziselierter poetischer Rekonstruktion gelingender Zyklik wie im Sonettenkranz von Donnes Corona39 oder aber auch in einem bewusst konstruierten und auf fiktive Schließung bedachten Figurengedicht wie George Herberts Easter-Wings oder entsprechenden Texten anderer sogenannter ‚metaphysicals‘.40
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Rainer Warning: Poetische Konterdiskursivität. Zum literaturwissenschaftlichen Umgang mit Foucault. In: Ders.: Die Phantasie der Realisten. München 1999, S. 313-345, hier S. 317. Zum Gedanken eines Systeme des Denkens und Argumentierens dekonstruktiv umgehenden A-Diskursiven bzw. Konterdiskursiven, in umsichtig differenzierender Anlehnung an Foucault, siehe ebendort; zu einer mit Warning argumentierenden Betonung, wonach möglicherweise bereits in früher Neuzeit die als solche noch gar nicht bezeichnete ‚Literatur‘ der „systematische Ort aller Dekonstruktionsarbeit“ sei, vgl. auch Teuber: Sacrificium Litterae (wie Anm. 35), S. 26, insbes. Anm. 16. Siehe Donne: The Complete English Poems (wie Anm. 19), S. 306-309. Das sogenannte Metaphysische ist bekanntlich ein nachträglich herangetragenes Schimpfwort des Klassizisten Dryden; was es aber bezeichnet, ist genau ein solcher beobachtbarer, dezidierter literarischer Gestaltungswille am hartnäckig und eingängig bearbeiteten schriftlichen Text.
Stephanie Wodianka (Rostock) Soldat und Honigbiene. Zum Devianzpotential geistlicher Übung bei Lorenzo Scupoli und François de Sales
1. Abwege der Betrachtung Achtzehn Jahre lang soll der Heilige François de Sales ein Erbauungswerk stets bei sich getragen und genutzt haben, das er als seinen ‚Seelenführer‘ bezeichnete und das sein Verfasser ihm persönlich in Padua überreicht hatte: Lorenzo Scupolis Combattimento spirituale, der zunächst anonym 1589, dann postum im Jahr 1610 auch unter dem Namen seines Verfassers veröffentlicht wurde. Der Combattimento spirituale, der ‚Geistliche Kampf‘, erschien erstmals 1589 in Venedig und wurde noch zu Lebzeiten Scupolis fast sechzig Mal neu aufgelegt.1 Er wurde kurz nach seinem Erscheinen ins Deutsche (1590), Lateinische (1591), Französische (1595) und Englische (1598) übersetzt, noch im 17. Jahrhundert ins Spanische, Flämische und Portugiesische, Polnische und Kroatische, im 18. Jahrhundert ins Armenische und Arabische, später ins Griechische, Russische, Bretonische, Chinesische, Japanische, Ungarische, Rumänische und Lettische2 – bis heute erschien das Werk in mehr als 600 Auflagen. Lorenzo Scupoli wurde um 1530 in der Gegend von Neapel geboren, im Jahr 1569, also mit 39 Jahren, wurde er in den Orden der Theatiner aufgenommen. 1577 wurde er in Piacenza zum Priester geweiht, pflegte ab 1581 in Mailand Pestkranke zu deren Vorbereitung auf den christlichen Tod, bis er 1585 aus nach heutiger Forschungslage ungeklärten Gründen seines Priesteramtes enthoben und zu einem Jahr Gefängnis verurteilt
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„Der Geistliche Kampf gehört somit zum Allgemeingut christlicher Bildung, zumindest im 17. und 18. Jahrhundert, dem Zeitraum seiner größten Verbreitung.“ (Marianne Sammer: Zur Volksläufigkeit aszetischer Literatur im 17. und 18. Jahrhundert. Lorenzo Scupolis ‚Geistlicher Kampf‘ und sein literarischer Nachhall. In: Aedificatio: Erbauung im interkulturellen Kontext in der Frühen Neuzeit. Hg. von Andreas Solbach.Tübingen 2005, S. 319-332, hier S. 320f.). Auch für einen literarischen Einfluss von Scupolis Geistlicher Kampf auf Grimmelshausens Simplicius Simplicissimus und auf Sternes Yoricks empfindsame Reise durch Frankreich und Italien gibt es Argumente (Sammer spricht von Einflüssen im Sinne der „Erzählgebärde“ – Sammer: Zur Volksläufigkeit aszetischer Literatur im 17. und 18. Jahrhundert [wie Anm. 1], S. 329-331).
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wurde.3 Er lebte dann in Genua, Rom und Venedig. Scupoli starb 1610 in Neapel, sieben Monate nach seiner Rehabilitierung als Priester. Als Lorenzo Scupoli etwa im Jahr 1590 sein Werk an François de Sales übergab, war dieser weder Bischof noch Heiliger und noch ein gutes Stück von jener Bekanntheit entfernt, die er später erreichen sollte. Der erst 1567 geborene und somit im Vergleich mit Scupoli 37 Jahre jüngere François de Sales hatte in Paris Recht und Theologie studiert und wurde erst 1594 Priester. Er erreichte dann mit großem Engagement die Rekatholisierung des Gebietes Chablais südlich des Genfer Sees, wurde 1602 Bischof von Genf und gründete im Jahr 1610 in Annecy eine Frauenkongregation. François de Sales hinterließ eine große Zahl von Werken, Abhandlungen und geistlicher Korrespondenz, zu den wichtigsten zählt die Introduction à la vie dévote (1609). Sowohl Lorenzo Scupolis Combattimento spirituale als auch François de Sales’ Introduction à la vie dévote sind Teil der Produktions- und Rezeptionswelle von Meditations- und Erbauungsliteratur, die im letzten Drittel des 16. Jahrhunderts beginnt, ihren Höhepunkt im 17. Jahrhundert erreicht und spätestens zu Beginn des 18. Jahrhunderts deutlich abflaut. Die Meditation entwickelt sich in den nachreformatorischen Jahrzehnten vom monastischen Privileg zu einer religiösen, in vielen Aspekten interkonfessionellen Massenbewegung und wird im Rahmen einer frömmigkeitsgeschichtlichen Wandlung Ausdruck gelebter Frömmigkeit mit dem Ziel der Verinnerlichung von Glaubensinhalten4 und der Gotteserfahrung.5 Da die Meditation eine geistliche Übung ist, die stark von Planung und Systematisierung bestimmt wird, bedeutet sie in ihrer schriftlich niedergelegten Form häufig eine in Prosa abgefasste Meditationsanleitung,
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„Das Generalkapitel verhängte über ihn die Zwangslaisierung und ein Jahr Gefängnis, doch ist bis zum heutigen Tage unbekannt, was Lorenzo Scupoli vorgeworfen wurde. Vermutlich hat man seine Prozeßakten nach der Vollstreckung des Strafurteils verbrannt, wie es seit den Beschlüssen der Generalkapitel von 1572 und 1578 Usus war. Unklar ist auch, warum Lorenzo am 29. April 1610 [...] wieder zum Priesteramt zugelassen und vom Generalkapitel in Rom vollständig rehabilitiert wurde. Hinter seinem Geistlichen Kampf stehen [...] offensichtlich auch Selbsterfahrungen in der asketischen Praxis, denn Scupoli soll, wie es die asketische Tradition fordert, seine Strafe in stillem Gehorsam und mit größter Demut akzeptiert und seine Tage im vielstündigen Gebet und mit niedrigsten und schwersten Arbeiten für die Ordensgemeinschaft zugebracht haben. Dies berichtet Giuseppe Silos […], dem allerdings [...] am Nachweis einer heiligmäßigen Lebensführung Scupolis gelegen war.“ (Sammer: Zur Volksläufigkeit aszetischer Literatur im 17. und 18. Jahrhundert [wie Anm. 1], S. 319). Vgl. Paul Rabbow: Seelenführung. Methodik der Exerzitien in der Antike. München 1954, S. 23. Veranschaulicht wird die meditative Verinnerlichung im Begriff der ruminatio – vgl. dazu Lev11, 3 und Dtn 14, 6 sowie Fidelis Ruppert: Meditatio – Ruminatio. Zu einem Grundbegriff christlicher Meditation. In: Erbe und Auftrag. Benediktinische Monatsschrift 53 (1977), S. 83-93. „‚Meditation‘ meint ein methodisches, den Menschen ganzheitlich einbeziehendes, selbst noch nicht notwendig in der Anrede des Gebets gestaltetes Nachsinnen des Einzelnen mit dem Ziel erfahrungsmäßiger Gottesbegegnung.“ (Meditation [Art.]. In: Theologische Realenzyklopädie. Hg. von Gerard Müller und Gerhard Krause. Bd. 22. Berlin 1977, S. 338).
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die mehr oder weniger geprägt sein kann von einer exemplarischen meditativen Haltung des Autors bzw. des im Text aufscheinenden Ich. Die Grenzen zwischen religiösem Traktat und religiöser Literatur sind in dieser Zeit fließend: Die Machart der Meditation wird auch zum bedeutungstragenden Strukturelement der Machart und Performativität literarischer Texte in Lyrik und Prosa.6 Die folgende Untersuchung soll einen Vergleich anstellen zwischen Lorenzo Scupolis Combattimento spirituale7 und dem Hauptwerk des später heilig gesprochenen François de Sales, der Introduction à la vie dévote. Der Vergleich soll dabei auf bestimmte Aspekte zielen: Ich möchte die beiden Meditationswerke weniger im Hinblick auf ihre Funktion der Verhaltensnormierung im Sinne christlicher Tugendlehre betrachten (was natürlich auch möglich wäre), sondern stärker im Hinblick darauf untersuchen, inwiefern sie das Devianzpotential der Meditation thematisieren bzw. wie sie mit diesem Devianzpotential literarisch und programmatisch umgehen. Dass François de Sales Scupolis Combattimento spirituale gut kannte und als seinen ‚Seelenführer‘ über alle Maßen schätzte, ist bekannt. Ob und inwiefern sich seine Introduction à la vie dévote von jenem zwanzig Jahre älteren italienischen Werk unterscheidet, und zwar im Umgang mit den möglichen Abweichungen vom richtigen Weg der Meditation, ist mein komparatistisches Untersuchungsinteresse: Wo verlaufen bei Lorenzo Scupoli und bei François de Sales jeweils die Grenzen ‚richtiger‘ Meditation? Wo besteht für die Meditierenden bei ihrem über Selbsterkenntnis zur Gotteserkenntnis verlaufenden Weg Kollisionsgefahr mit genau jenen Normen, die über die Meditation verinnerlicht und angeeignet werden sollen? Die Meditation ist in unserem Fragekontext nicht nur als Methode der Verinnerlichung der Ansprüche an christliche Tugend und Moral zu sehen, sondern auch die Meditation selbst birgt ein Devianzpotential, das im 16. und 17. Jahrhundert diskursiv verhandelt und behandelt wird.
2. Lorenzo Scupoli: Meditations-Soldat im Zirkeltraining Scupoli beginnt seinen Traktat mit Grundsätzlichem, das er selbst in der ersten Kapitelüberschrift resümiert: „Worin die christliche Vollkommenheit besteht; zur Erlangung derselben ist es notwendig, dass wir kämpfen; vier Dinge sind in diesem Kampf erforderlich“ (Übersetzung S.W.)8. Dabei stellt er einen Irrtum klar: Vor allem, aber nicht
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Vgl. dazu Stephanie Wodianka: Betrachtungen des Todes. Formen und Funktionen der meditatio mortis in der europäischen Literatur des 17. Jahrhunderts. Tübingen 2004. Zu Scupoli vgl. auch den einschlägigen Artikel des Dictionnaire de Spiritualité. Bd. XIV. Paris 1937-1988, S. 467-484; zum ‚combat spirituel‘ ebd. Bd. II, S. 1135-1142. Lorenzo Scupoli: Combattimento spirituale, Capitolo I. Zitiert nach http://www.teologiaspirituale.it/testi.html (letzter Zugriff 22.02.2013). Es handelt sich
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ausschließlich Frauen „glauben zu einem hohen Grade der Vollkommenheit gelangt zu sein, wenn sie die Gewohnheit haben, viele mündliche Gebete herzusagen, viele heilige Messen anzuhören, oft die Kirchen zu besuchen und zu den heiligen Sakramenten hinzuzutreten. [...] So verhält es sich jedoch nicht.“ (Übersetzung S.W.)9 Diese sich über Quantität definierenden Verhaltensweisen seien zwar Mittel und Früchte der Vollkommenheit, aber machten das Wesen des geistlichen Lebens nicht aus. Im Gegenteil, sie bergen für die christliche Seele sogar die Gefahr besonderer Sündhaftigkeit in sich: Der fehlerhafte Gebrauch dieser äußeren Werke könne den Gläubigen zuweilen mehr noch als die offenbaren Sünden Gelegenheit zum Falle geben, denn „sie wähnen, Gottes Gegenwart zu fühlen, indem sie zuweilen, über gewisse erhabene, ungewöhnliche und annehmliche Dinge in Betrachtung vertieft, Welt und Geschöpfe vergessen und bis in den dritten Himmel vertieft zu sein glauben. [...] Daher ist es sicher, dass solche Leute in großer Gefahr schweben.“ (Übersetzung S.W.)10 Doch was macht dann nach Scupoli tatsächlich die Vollkommenheit und das wahrhaft geistliche Leben aus? Sie bestehen darin, so erklärt er noch im ersten Kapitel, dass wir die Güte und Größe Gottes einerseits, unser Nichts und unsere Neigung andererseits erkennen; daß wir Gott lieben und uns selbst hassen; [...] dass wir uns unsres eignen Willens entäußern und uns gänzlich in Gottes Wohlgefallen ergeben, und zwar so, dass wir alles dies nur wollen und tun zur Ehre Gottes und um ihm zu gefallen und weil er verlangt und verdient, von uns geliebt und verehrt zu werden. (Übersetzung S.W.)11
Zu leisten ist folglich nicht ein Werk, sondern die Aneignung eines Habitus. Und genau deshalb ist der Weg zur geistlichen Vollkommenheit keine punktuelle Herausforderung, sondern ein permanenter ‚Kampf‘. Dieser ‚combattimento spirituale‘ bestehe folglich
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hierbei um die Version von 1589. Leider fehlen Seitenangaben, weshalb hier auf die Kapitel zur Referenz zurückgegriffen werden muss. „In che consista la perfezione cristiana. Per acquistarla bisogna combattere. Quattro cose necessarie per questa battaglia. […] Molti altri (tra cui talvolta se ne ritrova qualcuno che, vestito dell’abito religioso, vive nei chiostri) si sono persuasi che la perfezione dipenda del tutto dal frequentare il coro, dal silenzio, dalla solitudine e dalla regolata disciplina […] Il che però non è così!“ (Scupoli: Combattimento spirituale [wie Anm. 8], Capitolo I). „[…] dove si persuadono di essere sollevati tra i cori angelici e di sentire Dio dentro di sé. Questi si trovano talora tutti assorti in certe meditazioni piene di alti, curiosi e dilettevoli punti e, quasi dimentichi del mondo e delle creature, par loro di essere rapiti al terzo cielo. […] Perciò è cosa certa che questi tali sono posti in grave pericolo.“ (Scupoli: Combattimento spirituale [wie Anm. 8], Capitolo I). „Devi sapere che essa non consiste in altro che nella conoscenza della bontà e della grandezza di Dio, e della nostra nullità e inclinazione a ogni male; nell’amore suo e nell’odio di noi stessi; [...] inoltre essa consiste nel volere e nel fare tutto questo semplicemente per la gloria di Dio, per il solo desiderio di piacere a lui, e perché così egli vuole e merita di essere amato e servito.“ (Scupoli: Combattimento spirituale [wie Anm. 8], Capitolo I).
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darin, sich selbst zu überwältigen: „Dieser Kampf ist aber der schwierigste von allen, denn da wir gegen uns selbst kämpfen, werden wir auch von uns selbst bekämpft.“ (Übersetzung S.W.)12 Die Waffen in diesem ‚Krieg‘, wie er wörtlich von Scupoli bezeichnet wird, seien folgende: „Das Misstrauen gegen uns selbst, das Vertrauen auf Gott, die Übung und das Gebet.“ (Übersetzung S.W.)13 Übung und Gebet zielen auf die Aneignung eines Habitus gegenüber sich selbst und gegenüber Gott. Lorenzo Scupolis Traktat hat vor diesem Hintergrund ein Hauptinteresse: Die Anleitung zu einer Übung und einem Gebet, die dies erfüllen können und kein gefährlicher Selbstzweck sind. Sein Rezept ist dabei grundsätzlich: geregelte Progression und Ordnung. Diese Ordnungshaftigkeit seiner Gebets- und Betrachtungsanleitung möchte ich im Folgenden in ihrer frömmigkeitspraktischen Programmatik, aber auch in ihrer textuellen Ästhetik vorführen, weil sie insbesondere im Vergleich mit der zehn Jahre darauf erscheinenden Introduction à la vie dévote von François de Sales Aufschlüsse über den Verlauf eines frühneuzeitlichen christlich-katholischen Devianzdiskurses gibt. Ein großes Einfallstor für den Teufel, der Wille und Verstand vom rechten Wege abzubringen versuche, sei – neben den Affekten – die Erkenntnis. „Halte daher dein Erkenntnisvermögen innerhalb gewisser Schranken [...], schränke in geistlichen Dingen die ungeregelte Erkenntnis ein“ (Übersetzung S.W.)14, rät Scupoli seinen Lesern. Ein auffälliges Charakteristikum des Combattimento ist die Komplexität jener Handlungsund Betrachtungsanweisungen, die Scupoli seinen Lesern zur erfolgreichen Einschränkung und Gefahrminimierung gibt. Im zehnten Kapitel des Combattimento spirituale handelt Scupoli von der Schwierigkeit, gerade die guten Werke nicht dem eigenen Willen und Gefallen, sondern dem Willen Gottes entspringen zu lassen: Gerade hier erweise sich die geistliche Seele als ein Gefäß mit doppeltem Boden: Die Natur ist so sehr geneigt, ihren eigenen Willen zu befriedigen, dass sie in allen und zuweilen noch mehr in den guten und geistlichen Dingen, als in den andern, ihren eigenen Vorteil und Genuß sucht und sich, ohne dass wir den geringsten Verdacht schöpfen, mit diesem unterhält und nährt. (Übersetzung S.W.)15
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„Siccome tale battaglia è più di ogni altra difficile (poiché combattendo contro di noi, siamo insieme combattuti da noi stessi) […].“ (Scupoli: Combattimento spirituale [wie Anm. 8], Capitolo I). „Queste sono: la diffidenza di noi stessi, la confidenza in Dio, l'esercizio e l'orazione.“ (Scupoli: Combattimento spirituale [wie Anm. 8], Capitolo I). „Restringi sempre il tuo intelletto quanto puoi […]. Rintuzza l’acutezza del tuo intelletto.“ (Scupoli: Combattimento spirituale [wie Anm. 8], Capitolo IX). „[…] essa [la Natura] è talmente inclinata verso se stessa che in tutte le cose, anche nelle buone e nelle spirituali (talora più che nelle altre) cerca il proprio comodo e diletto. In questi si va trattenendo e di quelle, come di cibo per niente sospetto, si va avidamente pascendo.“ (Scupoli: Combattimento spirituale [wie Anm. 8], Capitolo X).
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Aufgabe des Gläubigen ist es, zu unterscheiden, ob er wirklich aus dem Antrieb Gottes handelt, oder aber „aus der Zufriedenheit, welche ihm daraus entsteht, wenn wir das wollen, was Gott will.“16 Die diffizile Entdeckung der Selbsttäuschung, die zudem bei besonders guten Werken besonders häufig sei, wird bei Scupoli dem Leser durch eine ebenso diffizile Anleitung zu deren Vermeidung nähergebracht. „Um dich vor solchen Fallstricken [...] zu behüten, verfahre auf folgende Weise“ (Übersetzung S.W.)17, rät der Verfasser des Combattimento spirituale. Bevor man den Willen sich zu etwas hinneigen lasse (d.h. der Gläubige muss zuallererst einen solchen Willen bei sich diagnostizieren), solle man prüfend betrachten, ob es Gottes Wille sei und ob man es wolle, weil es Gottes Wille ist. Aber genau hier wird es umso komplizierter: Wisse aber wohl, dass es nicht leicht ist, die fein gewonnenen Kunstgriffe der trügerischen Natur zu erkennen; denn obgleich sie heimlich immer sich selbst sucht, so will sie uns doch mit Scheingründen überzeugen, als sei in uns der besorgte Grund und die Absicht, Gott zu gefallen, und es ist dem doch nicht so. Daher kommt es oft, dass, während wir aus unserm eigenen Interesse etwas wollen oder nicht wollen, es uns scheint, als wollen wir es oder wollten es nicht, um Gott zu gefallen oder ihm nicht zu missfallen. (Übersetzung S.W.)18
Das eigentlich angemessene Mittel zur Vermeidung dieser Gefahr sei die Reinheit des Herzens, eigentliches Kampfziel des Combattimento spirituale. Das heißt, das Mittel zur Erreichung des Zieles setzt dessen Erreichung eigentlich zirkelhaft voraus. Zur Erlernung dieser Kunst solle die geistliche Seele ihre Eigenliebe ausmerzen. Sollte dies jedoch nicht möglich sein – schließlich befindet sich der Leser ja gerade erst bei der Lektüre des Combattimento und hat ihn noch nicht zu Ende gekämpft –, „so begnüge er sich damit, ihn [den Willen Gottes als Beweggrund] bei jeder [Handlung] wenigstens virtuell zu besitzen, indem die vorher gefasste Meinung, Gott allein in allen Dingen gefallen zu wollen, in ihrer Kraft fortdauert.“ (Übersetzung S.W.)19 Als sei es damit noch nicht genug, führt Scupoli eine weitere Differenzierung ein: Bei nicht punktuellen, sondern andauernden Handlungen müsse der Beweggrund nicht nur zu Anfang, sondern fortwährend wachgerufen und wachgehalten werden, damit sich der Wille nicht von
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„[…] alla volontà di Dio, il quale per sua sola gloria si compiace e vuole da noi essere amato, desiderato e obbedito.“ (Scupoli: Combattimento spirituale. [wie Anm. 8] Capitolo X.) „Per guardarti da quest’insidia, che ti impedirebbe il cammino della perfezione […]“ (Scupoli: Combattimento spirituale [wie Anm. 8], Capitolo X). „Ma devi sapere che le frodi della sottile natura sono poco conosciute: essa, cercando sempre occultamente se medesima, molte volte fa sembrare che in noi vi siano il detto motivo e il fine di piacere a Dio, e non è così. Onde spesso avviene che quello che si vuole o non si vuole per nostro interesse, pare a noi di volerlo o non volerlo per piacere o non piacere a Dio.“ (Scupoli: Combattimento spirituale [wie Anm. 8], Capitolo X). „Se in tutte le azioni, e particolarmente in quelle interiori dell’anima e in quelle esteriori che passano presto, non potrai così sempre in atto sentire questo motivo, contentati di averlo virtualmente in ciascuna, tenendo sempre vera intenzione di piacere in tutto al tuo solo Dio.“ (Scupoli: Combattimento spirituale [wie Anm. 8], Capitolo X).
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Gott wieder zurückbiege zum eigenen Ich. Zu überprüfen sei der Erfolg des Unternehmens in der Indifferenz gegenüber dem Erlangen oder Nichterlangen des willentlich Angestrebten. War das Motiv Gotteswille, nicht Eigenwille, beeinflusst der „Erfolg“ des Bestrebens Ruhe und Zufriedenheitsstatus nicht – auch hier hat der Gläubige sich zu überprüfen. Das Procedere solle bei allen Handlungen Beachtung finden, so Scupoli. „Diese Übung“, so gibt er selbst zu, „wird Anfangs ungemächlich scheinen, nachher wird sie leicht werden aus Gewohnheit“. Umso mehr rät Scupoli zu Wiederholung und quantitativer und qualitativer Steigerung: „Je öfter und je inniger diese Betrachtung seines unendlichen Verdienstes sein wird, [...] so werden wir mit größerer Leichtigkeit und Schnelligkeit uns die Gewohnheit aneignen, jede Handlung in Rücksicht auf den Herrn [...] zu verrichten.“ (Übersetzung S.W.)20 Noch bevor sich beim Leser der Eindruck verfestigt hat, damit sei nun alles bis in jede Doppelbödigkeit berücksichtigt, wird weiter angeraten, außerdem den göttlichen Willen als Beweggrund eines jeden Aktes von Gott unermüdlich im Gebet zu erbitten und außerdem beständig die Wohltaten Gottes zu betrachten. Der Leser steht vor einer mehrfachen Herausforderung, die der Text evoziert: Er muss den Textinhalt verstehen, er muss die temporalen und kausalen Abfolgen, die dieser vorgibt, erfassen, er muss diese aber auch performativ umsetzen (aus dem Gedächtnis? während des Lesens?) – ganz zu schweigen von der Leistung, die beschriebenen Doppelböden zu prüfen, zu erfassen, zu bewerten und gegebenenfalls zu bekämpfen – und das alles auf Wiederholung und Dauer zu stellen, zum Habitus zu machen. Dass hier keine Laxheit erlaubt ist, betont Scupoli wenige Seiten später: „Es kommt viel darauf an, dass man die Ordnung kenne, welche man beobachten soll, um auf die rechte Weise, nicht aufs Geradewohl oder maschinenmäßig, wie manche es zu ihrem großen Schaden tun, zu kämpfen.“ (Übersetzung S.W.)21 Dennoch ist das Ordnunghalten im Sinne Scupolis nicht mit einer entlastenden Routine zu verwechseln, wie er selbst klarstellt: „Wenn du dir die Tugenden aneignen willst, so verteile die Übungen der Tugenden nicht, wie man zu sagen pflegt, oberflächlich auf die verschiedenen Tage der Woche [...].“ (Übersetzung S.W.)22 Vielmehr liegt es in der Verantwortung des Einzelnen, sich daraufhin zu prüfen, welchen Leidenschaf-
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„Quanto più profondamente e più spesso sarà fatta la considerazione dell’infinito merito di Dio, tanto più ferventi e frequenti saranno gli atti suddetti della volontà; e così con maggior facilità e più presto acquisteremo l’abitudine di fare ogni azione in segno di rispetto e di amore per quel Signore che solo ne è degno.“ (Scupoli: Combattimento spirituale [wie Anm. 8], Capitolo X). „E molto importante sapere l'ordine da osservare per combattere come si deve e non a caso e con superficialità, come fanno molti non senza loro danno.“ (Scupoli: Combattimento spirituale [wie Anm. 8], Capitolo XVII). „Volendo acquistare delle virtù, non lasciarti mai convincere a preferire quegli esercizi spirituali ai quali con superficialità sono assegnati i giorni della settimana, uno per una virtù e gli altri per le altre.“ (Scupoli: Combattimento spirituale [wie Anm. 8], Capitolo XXXIII).
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ten zuerst der Krieg zu erklären sei, weil sie vornehmlich angreifen und quälen. Auch solle man sich kein Zeitlimit zur Erreichung einer Tugend setzen, „sondern kämpfe stets wie ein junger Soldat, der den Feind noch nicht gesehen hat, und schreite voran zur Höhe ihrer Vollkommenheit.“ (Übersetzung S.W.)23 Außerdem sei darauf zu achten, dass man nicht mehrere oder alle Tugenden auf einmal zu erringen trachte, sondern in temporaler und hierarchischer Ordnung eine nach der anderen suche und umso tiefer mit Hilfe des Gedächtnisses einpräge, damit sich der Wille (zu überprüfen ist, ob es der eigene oder der Gottes ist, versteht sich) umso intensiver zu jeder einzelnen neige. Das von Scupoli als vierte Waffe angefügte Gebet erweist sich als nicht minder komplex in der Ausführung als das Misstrauen gegen sich selbst, das Vertrauen auf Gott und die entsprechende betrachtende Übung, wie die Kapitel 44-48 dem Leser zeigen. Unter Erstens, Zweitens, Drittens, Viertens, Fünftens werden jeweils mehrere Voraussetzungen für das Gebet erklärt, die zum Teil zirkelhaft an die vorangehenden Kapitel anschließen – z.B. ist eine Voraussetzung für das Gebet die gefestigte Meinung, nur das zu wollen, was Gott will, und nicht was man selbst will. „Denn die Übung des Gebetes muss so mit der Übung der Selbstüberwindung verbunden sein, dass die eine der andern geordnet nachfolgt“ (Übersetzung S.W.)24 Eine besondere performative Herausforderung dürften diejenigen Passagen für die interessierte christliche Seele gewesen sein, die wörtliche Rede zur Auswahl stellen. Textverständnis und dessen performative Umsetzung müssen hier ineinander greifen, etwa im Kapitel über das – vom normalen Gebet zu differenzierende – innere Gebet. Das innere Gebet ist eine Ergebung des Geistes zu Gott mit ausdrücklichem oder stillschweigendem Begehren dessen, was man verlangt. Man stellt dabei ein ausdrückliches Begehren, wenn man mit den Worten des Geistes um die Gnade bittet auf diese oder ähnliche Weise: „O mein Gott! Gewähre mir diese Gnade zur Ehre deines heiligen Namens. Oder auch [...]. (Übersetzung S.W.)25
Es folgen Differenzierungen mit Formulierungsvorschlägen für den Augenblick des feindlichen Angriffs sowie für den Fall andauernden inneren Kampfes, bevor dann mit ebenso großer Unterscheidungsvielfalt das stillschweigende Begehren vorgeführt wird und schließlich – bevor weitere Betrachtungsarten erläutert werden – ein Verweis auf
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„Non determinare mai il tempo per l’acquisto delle virtù, né giorni, né settimane, né anni; ma sempre, quasi fossi allora nata e come novello soldato“ (Scupoli: Combattimento spirituale [wie Anm. 8], Capitolo XXXIII). „Infatti l'esercizio dell'orazione dev'essere talmente accompagnato dall'esercizio di superare noi stessi, che l'uno segua con ordine l'altro.“ (Scupoli: Combattimento spirituale [wie Anm. 8], Capitolo XLI). „L’orazione mentale è un’elevazione della mente a Dio con attuale o virtuale domanda di quello che si desidera. La domanda attuale si fa quando con parole mentali si chiede la grazia in questo modo o in uno simile: Signore Dio mio, concedimi questa grazia a onore tuo. Ovvero così: […]“ (Scupoli: Combattimento spirituale [wie Anm. 8], Capitolo XLV).
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die Möglichkeit des inneren Gebets in Kurzform erfolgt, die nach aller Erfahrung eine äußerst nützliche und jederzeit einsetzbare Waffe sei: Diese besteht darin, „dass man den Blick des Geistes nur einfach auf Gott hinlenkt in der Absicht, dass er uns helfe“. (Übersetzung S.W.)26 Der Leser des Combattimento spirituale wird bei seinem Weg durch das Betrachtungsdickicht immer wieder vor die Entscheidung gestellt, welche der möglichen Alternativen er wählen möchte. Seine Entscheidung muss nicht nur davon abhängen, welche er in ihrer Komplexität verstanden hat, sondern auch davon, welche die für ihn individuell nötigste ist. Außerdem muss sich der Leser grundsätzlich und individuell um die Angemessenheit der Betrachtungsweise bemühen und sich in dieser Hinsicht selbst erkennen und einordnen: Beim Combattimento spirituale sei eine „gewisse Mäßigung“ zu üben, „die der Beschaffenheit und der Natur eines Jeden angemessen sein muss“ und die nicht nur die äußerlichen Abtötungen, sondern auch die „Übungen innerlicher Tugenden“27 betreffe. Trotz des hohen Grades an existentieller Relevanz, Komplexität, Ordnungsbewusstsein und Doppelbödigkeit darf der Kämpfer im Combattimento spirituale vor allem eines nicht: die innere Ruhe verlieren. Sonst fruchten alle unsere Übungen wenig oder gar nichts, denn außerdem, dass unser Herz, wenn es unruhig ist, stets den vielfältigen Schlägen der Feinde ausgesetzt ist, können wir auch in einem solchen Zustande den geraden Weg und sichern Pfad der Tugend nicht recht erkennen. (Übersetzung S.W.)28
Diese grundsätzliche Anforderung stellt den geistlich Kämpfenden vor das Problem, dass er im Falle festgestellten Scheiterns oder Ungenügens seiner Betrachtung seine daraus resultierende Unruhe als zusätzliches Scheitern und Ungenügen verstehen muss – auch hier deutet sich eine potentielle Zirkelstruktur seines Kampfes an.
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„[…] che si fa con un semplice sguardo della mente a Dio perché ci soccorra.“ (Scupoli: Combattimento spirituale [wie Anm. 8], Capitolo XLV). „[…] ha bisogno di misura conforme alla qualità e alla natura di ciascuno [...] ma anche [...] le virtù interiori.” (Scupoli: Combattimento spirituale [wie Anm. 8], Capitolo XLII). „[…] altrimenti ogni nostro esercizio riesce poco o per niente fruttuoso. C’è da dire inoltre che mentre il cuore è inquieto, è sempre esposto ai diversi colpi dei nemici; e per giunta non possiamo noi in tale stato scorgere bene il diritto sentiero e la via sicura della virtù.“ (Scupoli: Combattimento spirituale [wie Anm. 8], Capitolo XXV).
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3. François de Sales: von Blüte zu Blüte auf der Betrachtungs-Wiese François de Sales stellt sein Konzept einer Introduction à la vie dévote29 deutlich auf das Fundament, das er von Lorenzo Scupoli kannte und schätzte. Gemeinsam ist auch beiden Werken, dass sie die Bedeutung eines geistlichen Führers betonen: „Voulezvous à bon escient vous acheminer à la dévotion? Cherchez quelque homme de bien qui vous guide et conduise ; C’est ici l’avertissement des avertissements.“30 Philothée wird gleichsam auf ihrem Weg zur „vie dévote“ bei der Hand genommen – die Führung des sich immer wieder einschaltenden Mentors ist durchaus auch als Kontrollinstanz zu sehen, die Philothée ein Abweichen auf selbständigere Pfade unmöglich machen soll. Nur für kurze Zeit werden die väterlich-didaktisierenden Passagen des anleitenden „vous“ durch Textteile unterbrochen, die die meditierende Selbstversenkung in das gelesene Wort erlauben und weniger als Meditationsanleitung, als vielmehr als Meditation zu verstehen sind. Auch formal unterscheiden sich diese Passagen durch die Verwendung des Personalpronomens der ersten Person Singular, Exklamationen und rhetorische Fragen von den übrigen Textteilen: O mon Dieu, comment ose-je comparoistre devant vos yeux? Helas, je ne suis qu'un apostheme du monde et un esgoust d'ingratitude et d'iniquité. Est il possible que j'aye esté si desloyale, que je n'aye laissé pas un seul de mes sens, pas une des puissances de mon ame, que je n'aye gasté, violé et sou�llé, et que pas un jour de ma vie ne soit escoulé auquel je n'aye produit de si mauvais effectz? Est-ce ainsy que je devois contrechanger les benefices de mon Createur et le sang de mon Redempteur?31
Die Leserin soll sich mit der „stummen“ Dialogpartnerin Philothée identifizieren können und sich individuell angesprochen fühlen. Philothée ist der Inbegriff, der ‚nom
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François de Sales’ Introduction à la vie dévote verweist auf einen mit Meditation und Erbauung in enger Verbindung stehenden Begriff: die dévotion. Dévotion bedeutet grundsätzlich im christlichen französischen Sprachgebrauch den unbedingten Dienst für Gott im Sinne eines „être au service d'un autre entièrement, sans réserve, profondément, jusqu'au tréfonds de soi“ und ist Grundlage aller Religiosität. Die Unterscheidung zwischen der dévotion als religiösem Ritual („dévotion extérieure“) und der „dévotion“ als innerlicher Haltung bzw. innerlichem Vorgang gewinnt bereits im Mittelalter und verstärkt im Zuge der wachsenden Verbreitung von Meditations- und Erbauungsliteratur im späten 16. und 17. Jahrhundert an Bedeutung. Die innerliche dévotion steht in engem Zusammenhang mit der meditativen Haltung als geistlicher Übung und auch als Disposition; Meditation ist Voraussetzung und Ausdruck innerlicher und äußerlicher dévotion und wird in der Erbauungsliteratur der Zeit eindringlich propagiert. Im Verlauf des 17. Jahrhunderts werden die französischen Begriffe dévotion und dévot zunehmend pejorativ im Sinne von „fausse dévotion“ und „hypocrisie“ gebraucht – lediglich in der geistlichen Literatur, die sich an der religiösen Tradition verbundene Leser richtet, wird der Terminus wie bei François de Sales eindeutig positiv und unzweideutig bzw. in Abgrenzung zu den „faux dévots“ verwendet (Dévotion [Art.]. In: Dictionnaire de Spiritualité [wie Anm. 7], Bd. III, S. 710-716). François de Sales: Introduction à la vie dévote. Traité de l'amour de Dieu. Paris 1930, Bd. 1, S. 23. de Sales: Introduction à la vie dévote (wie Anm. 30), Bd. 1, S. 42.
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commun‘ der nach Frömmigkeit strebenden, seelsorgerischer Führung bedürfenden und meditativ zu belehrenden „Gottesliebhaberin“, die einem Programm zur Hinführung an die Praxis der Meditation und zur „vie dévote“ unterworfen wird: Regardant donq en tout ceci une ame qui, par le desir de la devotion, aspire a l'amour de Dieu, j'ay fait cette Introduction de cinq Parties, en la premiere desquelles je m'essaye, par quelques remonstrances et exercices, de convertir le simple desir de Philothee en une entiere resolution, qu'elle fait a la parfin apres sa confession generale par une solide protestation, suivie de la tressainte Communion, en laquelle, se donnant a son Sauveur et le recevant, elle entre heureusement en son saint amour. Cela fait, pour la conduire plus avant, je luy monstre deux grans moyens de s'unir de plus en plus a sa divine Majesté: l'usage des Sacrements par lesquelz ce bon Dieu vient a nous, et la sainte oraison par laquelle il nous tire a soy; et en ceci j'employe la seconde Partie. En la troisiesme, je luy fay voir comme elle se doit exercer en plusieurs vertus plus propres a son avancement, ne m'amusant pas sinon a certains advis particuliers qu'elle n'eust pas sceu aysement prendre ailleurs ni d'elle mesme. En la quatriesme, je luy fay descouvrir quelques embusches de ses ennemis, et luy monstre comme elle s'en doit demesler et passer outre. Et finalement, en la cinquiesme Partie, je la fay un peu retirer a part soy pour se refraischir, reprendre haleine et reparer ses forces, affin qu'elle puisse par apres plus heureusement gaigner païs et s'avancer en la vie devote.32
Die Punkte jedoch, in denen François de Sales sich trotz aller Ähnlichkeiten im systematischen Aufbau seines Werkes von Scupolis Combattimento spirituale unterscheidet, treten besonders deutlich dann hervor, wenn man beide Traktate vergleichend als Devianz-Vermeidungs-Strategien für die Meditierenden liest. Die Introduction à la vie dévote ist – so meine hier vertretene These – der Überzeugung geschuldet, dass gerade die von Scupoli betonte Ordnung, Komplexität und Regelhaftigkeit der praxis pietatis Gefahren birgt, und er stellt bei allem Respekt seinem Vorläufer und Vorbild ein Werk entgegen, das den zirkelhaften Verlauf des Weges zur Vollkommenheit zu verhindern trachtet. Wollte man das von François de Sales entwickelte Programm zur Einführung in die vie dévote beschreiben, so wäre vor allem die Vorsichtigkeit und Sanftheit in der meditativen Beschäftigung mit sich selbst hervorzuheben sowie eine betonte Freiheit im Umgang mit der Abfolge und Durchführung der Meditationsschritte: Selbsterforschung und Selbstzerknirschung ja − aber bitte nicht zu heftig,33 Orientierung an einer be-
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de Sales: Introduction à la vie dévote (wie Anm. 30), Bd. 1, S. 9-10. Besonders deutlich wird das ‚sanfte‘ Vorgehen de Sales’ in seinem Kapitel mit der bezeichnenden Überschrift De la douceur envers nous mesmes: „L'une des bonnes prattiques que nous sçaurions faire de la douceur, c'est celle de laquelle le sujet est en nous mesmes, ne despitant jamais contre nous mesmes ni contre nos imperfections; car encor que la rayson veut que quand nous faysons des fautes nous en soyons desplaisans et marris, si faut il neanmoins que nous nous empeschions d'en avoir une deplaisance aigre et chagrine, despiteuse et cholere.“ (de Sales: Introduction à la vie devote [wie Anm. 30], Bd. 2, S. 12).
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stimmten meditativen Vorgehensweise ja − aber bitte nicht zu rigoros, imaginative Vergegenwärtigung ja − aber nicht im Sinne eines krampfhaften Insistierens.34 Dieser Befund könnte einerseits als programmatische Abgrenzung von Ignatius von Loyolas Exercitia spiritualia (1548) zu verstehen sein,35 die mit der Tatsache in Zusammenhang steht, dass Loyola sich beim Papst um ein Verbot der Zulassung weiblicher Jesuiten eingesetzt hatte,36 während de Sales sich bekanntlich sehr für die religiöse Bildung der Frauen engagierte und auch eine Frauenkongregation gründete. Auch seine Introduction à la vie dévote ist vordergründig nur an Frauen bzw. an Philothée als abstrahierte Weiblichkeit gerichtet und – glaubt man dem Vorwort des Verfassers – hervorgegangen aus seinem seelsorgerischen Verhältnis zu Mme de Charmoisy, die seiner „particuliere assistance“ bedurft hatte: „[...] je me rendis fort soigneux de la bien instruire, et l’ayant conduitte par tous les exercices convenables a son desir et sa condition, je luy en laissay des memoires par escrit, affin qu’elle y eust recours a son besoin.“37 Andererseits sind die Ähnlichkeiten mit dem von François de Sales so geschätzten Combattimento spirituale so groß, dass es wahrscheinlicher scheint, dass weniger Loyolas, sondern eher Scupolis Betrachtungsanleitung die Folie darstellt, vor deren Hintergrund die Betonung nicht überreglementierter und sanfter Meditation zu sehen ist.38 De Sales rät seinen Philothées dazu, sich nicht zu streng an Vorgaben und Abfolgen der einzelnen Meditationsschritte zu halten. Vor allem ist den meditativ evozierten Affekten ausreichend Raum zu geben – ihnen ist nachzugehen, auch wenn dadurch die Ordnung der Meditation gestört wird.
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Parish betont zudem die optimistische Weltzugewandtheit bei François de Sales (Richard Parish: „Une vie douce, heureuse et amiable“: a Christian joie de vivre in Saint François de Sales. In: Joie de vivre in French Literature and Culture. Essays in Honour of Michael Freeman. Hg. von Susan Harrow und Timothy Unwin. Amsterdam 2009, S. 129-140, hier S. 130). Ähnlich James F. Gaines: Socio-Spiritual Suasion: François de Sales and the Bees. In: Biblio 17, 166 (2006), S. 143-152, hier S. 146. Zu den aszetischen Parallelen zwischen den Werken von Francois de Sales und Ignatius von Loyola s. auch Sammer (wie Anm. 1). Vgl. dazu Thomas Schueller: La femme et le Saint. La femme et ses problèmes d′après S. François de Sales. Paris 1970, S. 10. de Sales: Introduction à la vie dévote (wie Anm. 30), S. 9. „Toute une littérature s‘est efforcée de conseiller et d‘apaiser les âmes inquiètes en leur indiquant les meilleurs remèdes contre la paralysie du scrupule: éviter les excès de mortifications, [...] savoir distinguer les péchés mortels des péchés véniels et la tentation du consentement, ne pas ressasser le passé, ne pas recommencer des confessions faites d′un cœur sincère, ne pas répéter des prières où des distractions se sont glissées [...], ne pas avoir une idée orgueilleuse de soi et savoir regarder sans trouble ses imperfections [...].“ (Jean Delumeau: Le péché et la peur. La culpabilisation en Occident. Paris 1983, S. 356).
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Il vous arrivera quelquefois qu′incontinent apres la preparation, vostre affection se treuvera toute esmeuë en Dieu: alhors, Philothée, il luy faut lascher la bride, sans vouloir suivre la methode que je vous ay donnee; car bien que pour l′ordinaire, la consideration doit preceder les affections et resolutions, si est-ce que le Saint Esprit vous donnant les affections avant la consideration, vous ne deves pas rechercher la consideration, puisqu′elle ne se fait que pour esmouvoir l′affection.39
Wenn der Heilige Geist ungeachtet der üblichen Abfolge die „affections“ vor den „considerations“ eingibt, so ist an dieser Regelmissachtung also nichts auszusetzen. Die verstandesmäßigen Überlegungen sind nur Mittel zum Zweck der Erregung der Affekte – kommen diese ‚von selbst’, so ist dies kein Grund zu akribischem Erzwingen der richtigen Abfolge. „Bref, tous-jours quand les affections se presenteront a vous, il les faut recevoir et leur faire place [...] car au demeurant, c′est une regle generale qu′il ne faut jamais retenir les affections, ains les laisser tous-jours sortir quand elles se presentent.“40 Gleiches gilt auch auf der Mikroebene der verstandesmäßigen Überlegungen. Auch hier ist nicht starres Befolgen und chronologisches Erledigen der zu betrachtenden und zu erwägenden Punkte gefordert, sondern diese sind vielmehr als Angebot zu verstehen, aus dem nach den persönlichen meditativen Bedürfnissen ausgewählt werden kann. Die individuelle Entscheidung darüber, was dem meditierenden Ich für seine Betrachtung zuträglich ist, macht den Erfolg der Meditation aus. Philothée wird dazu aufgefordert − im Rahmen der Anweisung ihres Mentors, versteht sich − autonom über den Verlauf der eigenen individuellen Meditation zu bestimmen und den eigenen Bedürfnissen und Gefühlsregungen „tout bellement et simplement“ zu folgen, ‚wie eine Biene‘41 von Blüte zu Blüte zu fliegen und den ‚meditativen Nektar‘ zu trinken, bis eine andere Blüte mehr Süße verspricht: Que si vostre esprit treuve asses de goust, de lumiere et de fruit sur l′une des considerations, vous vous y arresteres sans passer plus outre, faysant comme les abeilles qui ne quittent point la fleur tandis qu′elles y treuvent du miel a recueillir. Mais si vous ne rencontres pas selon vostre souhait en l′une des considerations, apres avoir un peu marchandé et essayé, vous passeres a une autre; mais alles tout bellement et simplement en cette besoigne, sans vous y empresser.42
François de Sales verzichtet auch weitgehend auf die Vorformulierung wörtlicher Rede, entbindet von der bei Scupoli gepflegten ständigen Pflicht zur Entscheidung, meidet
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de Sales: Introduction à la vie dévote (wie Anm. 30), Bd. 1, S. 83f. de Sales: Introduction à la vie dévote (wie Anm. 30), Bd. 1, S. 84. Zum Symbolpotential der Biene bei de Sales vgl. James F. Gaines: Socio-Spiritual Suasion: François de Sales and the Bees, In: Biblio 17, 166 (2006), S. 143-152. de Sales: Introduction à la vie dévote (wie Anm. 30), Bd. 1, S. 79.
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komplexe Konstruktionen eines Vorher/Nachher bzw. Entweder/Oder und Wenn/Dann. Stattdessen heißt es bei ihm bestimmend: „faites ce que je vous diray“43. Auch vor allzu selbstkritischer Vertiefung in sich selbst ist nach Ansicht de Sales’ nur zu warnen – Ungeduld und übertriebene Wissbegierde in Bezug auf die Selbsterkenntnis soll Philothée vermeiden. Immer wieder betont François de Sales auch, dass das Erkennen des Übels bereits die halbe Heilung bedeutet und deshalb im Rahmen der Selbsterforschung kein Anlass zur Verzweiflung gegeben ist: examinons donq nostre conscience si nous remarquerons en nous quelques […] defautz. Mais notés, Philothée, qu'il ne faut pas faire cet examen avec inquietude et trop de curiosité; ains apres avoir fidelement consideré nos deportemens pour ce regard, si nous treuvons la cause du mal en nous, il en faut remercier Dieu, car le mal est a moitié gueri quand on a descouvert sa cause. Si, au contraire, vous ne voyes rien en particulier qui vous semble avoir causé cette secheresse, ne vous amuses point a une plus curieuse recherche, mais avec toute simplicité, sans plus examiner aucune particularité.44
Die den Philothées zugeschriebene Einfalt soll durchaus bewahrt bleiben, und so ist alle „plus curieuse recherche“ zu vermeiden und stattdessen „avec toute simplicité, sans plus examiner aucune particularité“ vorzugehen. Zu den Strategien der Devianzvermeidung gehört bei François de Sales auch die Lenkung der Imagination. Grundsätzlich räumt er der imaginativen Vergegenwärtigung eine bedeutende Rolle ein: „Dés la Préface, le ‚narrateur-guide‘ assigne donc à son projet didactique un caractère éminemment visuel“, konstatiert auch Teyssandier in seiner einschlägigen und aufschlussreichen Untersuchung.45 Die Strategie besteht bei François de Sales jedoch nicht nur in der häufigen Nutzung der Anschaulichkeit in der Betrachtung, sondern insbesondere in der Lenkung des Blicks seiner Philothée: Die Ekphrasis als (literarische) Technik der detaillierten Beschreibung vermag die Imagination nicht nur zu beflügeln, sondern versteht es auch, sie zu beeinflussen und zu binden. Das scheint den Kirchenvätern des Mittelalters46 und den geistlichen Führern der Frühen Neuzeit deshalb nötig, weil die Einbildungskraft im Verdacht stand, im Verbund mit der memoria, die die Bilder zur Vergegenwärtigung von Konkretem und Abstraktem zur Verfügung stellt, ein Potential zur Devianz in Richtung gottvergessener Selbstbetrachtung in sich zu tragen und von der Gotteserkenntnis weg zu führen.47 Das betrach-
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de Sales: Introduction à la vie dévote (wie Anm. 30), Bd. 2, S. 163. de Sales: Introduction à la vie dévote (wie Anm. 30), Bd. 2, S. 163. Bernard Teyssandier: L’exhortation au „combat spirituel“ et sa mise en images dans „L’instruction à la vie dévote“. In: Entre Èpicure et Vauvenargues: principes et formes de la pensée morale. Hg. von Jean Dagen. Paris 1999, S. 241-266, hier S. 255-257. Vgl. dazu Mary Carruthers: The Craft of Thought: Meditation, Rhetoric, and the Making of Images. 400-1200. Cambridge MA 1998, S. 130f. Vgl. zur meditativen Selbstbetrachtung als Gefahr: Stephanie Wodianka: Betrachtungen des Todes (wie Anm. 6), S. 351-364. Zum Devianzpotential imaginativer Vergegenwärtigung in der Me-
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tete Bild darf weder zum Spektakel noch zum Idol werden.48 Die ekphrastische Umschreibung bei François de Sales zeichnet deshalb gleichsam die Pinselstriche und Farben vor, mit denen das innere Auge das „tableau“ der Einbildungskraft malt. Exemplarisch sei hier eine Paradiesbetrachtung aus der Introduction à la vie dévote angeführt: Du costé droit, voyes Jesus-Christ crucifié, qui, avec un amour cordial, prie pour ces pauvres endiablés, affin qu’ilz sortent de cette tyrannie, et qui les appelle a soi ; voyes une grande troupe de devotz qui sont autour de luy avec leurs Anges. Contemplés la beauté de ce royaume de dévotion. Qu’il fait beau voir cette troupe de vierges, hommes et femmes, plus blanche que le lys ; cette assemblee de vefves, pleines d’une sacree mortification et humilité ! Voyes le rang de plusieurs personnes mariées qui vivent si doucement ensemble avec respect mutuel, qui ne peut estre sans une grande charité : voyes comme ces devotes ames marient le soin de leur maison exterieure avec le soin de l’interieure, l’amour du mari avec celui de l’Epoux celeste. Regardes generalement par tout, vous les verres tous en une contenance sainte, douce, amiable, qu’ilz escoutent Nostre Seigneur, et tous le voudroyent planter au milieu de leur cœur. Ilz se resjouissent, mais d’une joye gracieuse, charitable et bien reglee ; ilz s’entr’ayment, mais d’un amour sacré et tres pur.49 (Hervorhebungen S.W.)
Philothée läuft auch bei der imaginatio nicht Gefahr, vom rechten Weg der Betrachtung abzukommen. Ihr geistlicher Führer zeichnet mit seiner ekphrastischen Beschreibung das paradiesische Bild vor, das sie sich vor Augen stellt, und auch die Bewertung des Vorgestellten wird ihr in Teilen abgenommen („Qu’il fait beau voir“). Selbst die Blickrichtung, d.h. die Betrachtungsposition Philothées, wird festgelegt, sie steht rechts vom Bild („du coté droit“) und die Bewegung ihres inneren Auges wechselt vom Überblick zur Detailperspektive und wieder hin zum Überblick: „Contemplez la beauté de ce royaume“ – „Voyez le rang de plusieurs personnes mariées“ – „Regardez généralement partout“. Francois de Sales beschreibt die vorgestellte Szene im Sinne eines auktorialen Erzählers, der den allwissenden Gesamtüberblick innehat, die Figuren von außen, aber auch aus deren Innensicht kennt, und der dadurch die Identitätsgrenzen zwischen seiner Betrachtungsschülerin und dem Betrachteten zu verwischen weiß: Philothée soll rechts
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ditation s. auch John D. Lyons: Self-Cultivation and Religious Meditation. In: Before imagination: embodied thought from Montaigne to Rousseau. Stanford 2005, S. 61-93, hier S. 71. Teyssandier verweist ebenfalls auf den ambigen Status des Bildes in der Betrachtung: „Pourtant, dès qu’il y a ‚image’ et a fortiori ‚images’, se pose naturellement la question du spectacle, que l’on pourrait simplement définir comme un arrêt sur images. Le combat spirituel, en tant que stratégie structurelle ad majorem Dei gloriam court alors le risque d’être détourné de son but initial. Soit l’image se constitue en spectacle, auquel cas elle divertit et comble l’œil. Utilisée dans un combat spirituel pour vaincre et convaincre, elle fascine, telle une idole. Soit l’image est capable d’emporter l’adhésion et de conduire à une élévation spirituelle. Véritable tremplin, elle est le véhicule qui transmet l’idéal, le fait entrevoir, le rend proche, presque palpable. Le statut de l’image, dans sa capacité à représenter le mystère divin, reste donc fondamentalement ambigu.“ (Teyssandier: L’exhortation au „combat spirituel“ et sa mise en images dans „L’instruction à la vie dévote“ [wie Anm. 45], S. 265). de Sales: Introduction à la vie dévote (wie Anm. 30), Bd. 1, S. 55f.
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vor dem oder noch besser rechts im Bild stehen, denn sie soll durch meditative Aneignung in es hineintreten und sich mit dem Vorgestellten identifizieren. Philothée soll Teil der vorgestellten „troupe de dévots“ sein, sich als eine der betrachteten „vierges“ begreifen und sich den „mariées qui vivent doucement ensemble avec respect mutuel“ zugehörig fühlen. Die Grenzen zwischen Paradiesbetrachtung und Selbstbetrachtung sollen verschwimmen, aber der geistliche Führer gibt vor, was von wo betrachtet wird und wie es zu bewerten ist:50 Philothée wird sicher und bestimmt an der Hand geführt und geht auf ihrem devotionalen Weg kaum ein Stück allein. Aus den Warnungen der Introduction à la vie dévote zu schließen, das Devianzpotential der Meditation sei von François de Sales nur für die weiblichen Gläubigen als Gefahr thematisiert worden, wäre verfehlt. Wie Scupoli plädiert er für eine nicht nur den Klöstern vorbehaltene Meditationspraxis und deutlich benutzt er das geschlechtsneutrale Demonstrativpronomen ceux, nicht celles, wenn er von der Zielgruppe seiner Introduction à la vie dévote spricht: „Mon intention est d’instruire ceux qui vivent es villes, es mesnages, en la cour, et qui par leur condition sont obligés de faire une vie commune quant’a l’exterieur.“51 – Wie der Absatzerfolg seines Werkes zeigt, sah sich die Mehrzahl der amateurs ou amoureux de Dieu durch die intendierte Weiblichkeit der Introduction auch nicht ausgeschlossen. Im Gegenteil: Der Erfolg dieser Einführung in die ‚vie dévote‘ spricht dafür, dass der Ausweg aus dem komplexen, entscheidungsintensiven, zirkulären ‚combattimento spirituale‘ bei weiblichen und männlichen Meditierenden ein devotionales Bedürfnis darstellte. François de Sales sah wie Scupoli ein Devianzpotential der Meditation. Doch ihre Strategien zur Kollisionsverhinderung waren unterschiedlich, der Status von Ordnung, Reglementierung und Tiefgründigkeit wird von François de Sales neu bestimmt: Er setzt Scupolis kämpferischem Zirkeltraining den Anspruch entgegen, einer Biene gleich fleißig und ertragreich am süßen Betrachtungs-Nektar zu nippen, statt der Unergründlichkeit der Einzelblüte die erbauliche Vielfalt der Wiese zu sehen und sich meditierend zu versenken, ohne in den Blütenkelch zu fallen.
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„L’ekphrasis, qui procède par description et énumération de détails, est ici renforcée par l’energaia (du grec argos, brillant, lumineux). Le mot désigne une technique descriptive qui a pour fonction de donner à voir ce qui est dit, de rendre visible ce qui est déclaré, toujours afin d’émouvoir le destinataire. Le présent de l’indicatif, dit d’hypotypose, et les modalités jussives convoquent en quelque sorte la scène dès le moment où ils la nomment. Les marques exclamatives soulignent l’émotion de l’émetteur qui, en invitant à voir, dit de facto qu’il voit lui-même.“ (Teyssandier: L’exhortation au „combat spirituel“ et sa mise en images dans „L’instruction à la vie dévote“ [wie Anm. 45], S. 257).
Raimund J. Weinczyk (Bonn) Pietro Pomponazzi und die Unsterblichkeit der Tugend. Pomponazzis Traktat über die Unsterblichkeit der Seele und das Lob auf die Philosophie
Wer ist Pietro Pomponazzi? Die Frage ist allzu berechtigt, denn heutzutage verweist nur wenig auf diesen Denker der Renaissance. Möchten wir jedoch Philosophie-Geschichte einmal im Detail und Zusammenhang Revue passieren lassen, so ist eine Würdigung von Pomponazzis „Mittelstellung zwischen Antike und Neuzeit“1 ebenso nützlich wie aufschlussreich. Pomponazzi ist Philosoph und Mediziner. Geboren 1462 in Mantua, stirbt er 1525 in Bologna. Ein paar biografische Daten können sein Profil schärfen. 1487 promoviert Pomponazzi in den artes liberales. 1488 lehrt er Naturphilosophie in Padua und übernimmt dort auch in der Folgezeit ein Ordinariat für Philosophie. 1495 promoviert er in Medizin. Von 1496 bis 1499 betreibt Pomponazzi private Studien am Hof von Ferrara. Danach lehrt er in Padua, in Ferrara und wieder in Padua. Von 1511 bis zu seinem Tod 1525 lebt und lehrt er schließlich in Bologna. Als Philosoph ist Pietro Pomponazzi ein Aristoteliker. Aristotelisch ist die Struktur des Kosmos, aristotelisch sind Aufbau und Binnenstruktur der Naturphänomene, aristotelisch ist die Strukturierung der Sinnesdaten zu Gegenständen der Realität und aristotelisch ist auch und vor allem die methodische Annäherung an die Naturphänomene über die Erfahrung.2
Das heißt: Er grenzt sich zuerst mit Aristoteles gegen Platon und seine Anhänger bzw. Überlieferer ab. Im 1. Buch seiner Metaphysik kritisiert Aristoteles die Ideenlehre Platons. Die Ideen nämlich tragen zur Erkenntnis wie zum Sein der Dinge nichts bei, weil sie nicht in den an ihnen teilhabenden Dingen enthalten sind.3 Pomponazzi wendet sich damit gegen den platonischen Dualismus von Idee einerseits und Gegenstand andererseits. Dies aber um sich im Gegenzug für den aristotelischen Dualismus von Materie und Form auszusprechen. Pomponazzi stellt sich ganz hinter Aristoteles, wenn dieser
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Jürgen Wonde: Subjekt und Unsterblichkeit bei Pietro Pomponazzi. Stuttgart/Leipzig 1994, S. 19. Eckhard Kessler: Pietro Pomponazzi. Zur Einheit seines philosophischen Lebenswerkes. In: Verum et Factum. Beiträge zur Geistesgeschichte und Philosophie der Renaissance zum 60. Geburtstag von Stephan Otto. Hg. von Tamara Albertini. Frankfurt a.M. u. a. 1993, S. 397-419, hier: S. 408. Vgl. Aristoteles: Metaphysik 1. Buch (A) 991a.
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sinngemäß sagt: Das Wesen der Dinge sind die Dinge selbst. Es besteht nicht in einer transzendenten Idee von ihnen, sondern realisiert sich in Form der Stufen ihrer Erscheinung und Entwicklung. „L’essenzialismo platonico [...] non riesce a rendere ragione della concreta esperienza e dei fenomeni naturali connessi alla generazione delle forme“.4 Pomponazzi grenzt sich außerdem mit Aristoteles gegen Thomas von Aquin ab. Er macht die Seele zur Form des Körpers/Leibes, insofern sie erkennt, insofern sie Erkenntnisvermögen besitzt (qua intellectiva). Auch bei Thomas ist die Seele Form des Körpers (anima forma corporis). Hier aber qua vegetativa et qua sensitiva. Die Seele kann nach Thomas für sich existieren, insofern sie direkt aus dem Schöpfungsakt Gottes hervorgeht. Dieser Akt geht jedem lebenschaffenden Formprinzip voraus. Sensitiver und vegetativer Seelenteil entspringen diesem Formprinzip. Der intellektive Seelenteil geht auf Gott zurück und übersteigt damit die beiden anderen Teile, obwohl er sie gleichzeitig umfasst und sich mit ihnen definitiv verbindet. Andrew Halliday Douglas konstatierte diesen Zusammenhang der Loslösung Pomponazzis von Thomas bereits vor 100 Jahren. „But Pomponazzi made soul the form of body qua intellectiva; and in this he left St Thomas and returned to Aristotle“. Worin der Schritt des Thomas über Aristoteles hinaus besteht, formuliert Josef Malik deutlich. Thomas geht also einen Schritt über Aristoteles hinaus und sichert seine Lehre von der anima forma corporis gegen alle Bedenken der traditionellen platonisch-augustinischen Theologen dadurch ab, dass er unterscheidet zwischen Wesensformen, die ihr Existenzrecht gleichsam in sich tragen, die in sich subsistieren, und solchen, die nicht in sich subsistieren.5
Pomponazzi macht den Schritt des Thomas also gleichsam rückgängig. Aus Pomponazzis naturphilosophischer Perspektive heraus gibt es eine solche Unterscheidung der ‚Wesensformen‘ nicht. Naturphilosophisch kann nur von dem gesprochen werden, was manifest wurde und ist. Alles andere ist an den Glauben und die Theologie zu delegieren. Doch fragen wir weiter. Was ist nun die Folge dieser Akzentuierung des Aristoteles durch Pomponazzi? Was ist die Folge dieser Rückkehr zu Aristoteles? Wenn das Wesen des Dinges im Ding selbst liegt, dann werden ‚Wahrnehmung‘ und ‚Erfahrung‘ zu Zentralbegriffen. Wahrnehmung, Erfahrung und Erkenntnis von Wirklichkeit bzw. Natur geschehen dann aber
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Valeria Sorge: Tra contingenza e necessità. L’ordine delle cause in Pietro Pomponazzi. Milano/Udine 2010, S. 42. Zu Aristoteles vgl. ders.: Metaphysik 1. Buch (A) 993a. Josef Malik: Der Mensch aus der philosophischen Sicht des Thomas von Aquin. In: Theologie und Glaube 72 (1982), S. 345-383, hier: S. 374. Andrew Halliday Douglas: The philosophy and psychology of Pietro Pomponazzi. Hg. von Charles M. Douglas, Robert P. Hardie. Hildesheim 1962 (Nachdruck der Ausgabe Cambridge 1910), S. 54 (Hervorhebung im Original). Zu Thomas von Aquin vgl. Summa Theologiae I 80, 1; 76, 1 ad 5; 78, 1; 90, 2-4; 104, 1 ad 1. Es handelt sich dabei um Stellen, in denen systematisch der analytische Schritt gegangen wird von der umfassend in sich existierenden, menschlichen Seele (realiter als Seele qua vegetativa, sensitiva und intellectiva) hin zur anima intellectiva, die in ihrer von Gott geschaffenen Art diesem am meisten entspricht.
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auch konsequent im Rahmen der Natur, geschehen somit „pure intra limites naturales“,6 wie es Pomponazzi im Vorwort zu seinem Traktat über die Unsterblichkeit der Seele formuliert. Er legt sich eine Selbstbeschränkung auf, der zufolge er streng logischnaturphilosophisch in der Frage nach der Unsterblichkeit der Seele argumentieren will. Er versteht sich als radikaler Naturphilosoph. Während Thomas von Aquin sowohl philosophisch als auch theologisch einen Ausgleich zwischen Vernunft und Glaube, Philosophie und Theologie avisiert, beharrt Pomponazzi auf einer unüberwindlichen philosophischen Kluft, die es dem Menschen aus eigenen Kräften nicht ermöglicht, erkennend über seine natürlichen Anlagen hinaus zu gelangen. Die Natur ist „natura agens“, ist „motor universalis“.7 Unter ‚Natur‘ versteht Pomponazzi all das, was ist und wird, was sich entwickelt und besteht. „Recte autem et ordinate sic procedit natura, ut a primis ad extrema per media deveniat“.8 Natura ist für den Mantuaner der Bezugspunkt schlechthin. Sie bildet das Substrat für jedwede aristotelische Entelechie. Es kann gemäß bzw. im Einklang mit der Natur (secundum naturam) gedacht werden, was eben nach Pomponazzis Überzeugung die Aufgabe der Philosophie ist. Es kann aber auch gegen die Natur gedacht werden (contra naturam), was eben jede Nicht-Philosophie praktiziert. Als Philosoph ist es jedoch nicht möglich, über die Natur hinweg zu denken (supra naturam9). Pomponazzi folgt hier ganz seinem Lehrmeister Aristoteles, für den allein das Unbewegte außerhalb der Vielheit des natürlich Bewegten verankert werden musste. Auch Theologen wie Albertus Magnus, Thomas von Aquin, Johannes Duns Scotus oder Wilhelm von Ockham formulieren Kompetenzbereiche dieser Art. Albert unterscheidet klar zwischen den mit Vernunft lösbaren Fragen und Fragen, die sich auf die Offenbarung gründen. So ist z. B. die Frage nach der Ewigkeit der Welt philosophisch nicht zu entscheiden. Nach Thomas unterscheiden sich Philosophie und Theologie dadurch voneinander, dass sie unterschiedlichen Methoden (= Wegen zu etwas hin) der Erkenntnis den Vorzug geben: Die Philosophie gelangt von den Dingen ausgehend zu Gott, die Theologie hat ihren Ansatzpunkt bei Gott (s. u.). Für Johannes Duns Scotus steht fest, dass mittels sinnlicher Wahrnehmung und natürlicher Vernunft ein natürliches Wissen erworben werden kann. Daneben gibt es jedoch auch eine Art der Erkenntnis, die von der göttlichen Offenbarung ausgeht und die Dimensionen der menschlichen Vernunft übersteigt. Wilhelm von Ockham differenziert ebenso zwischen den Erkenntnissen. Es gibt einmal eine Erkenntnis, die sich aus Wahrnehmung und Erfahrung speist. Zum anderen gibt es eine Erkenntnis, die den abstrakten Begriff unabhängig vom konkreten Gegenstand erfasst. Nach der Unsterblichkeit der Seele zu fragen, hieße für Wilhelm al-
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Pietro Pomponazzi: Abhandlung über die Unsterblichkeit der Seele/Tractatus de immortalitate animae. Übersetzt und mit einer Einleitung hg. von Burkhard Mojsisch (Lateinisch-Deutsch). Hamburg 1990, S. 4. Pomponazzi: Abhandlung über die Unsterblichkeit (wie Anm. 6), S. 132. Pomponazzi. Abhandlung über die Unsterblichkeit (wie Anm. 6), S. 92. Burkhard Mojsisch: Einleitung (wie Anm. 6), S. XXVII.
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so, vernunftwidrig nach etwas zu fragen, was keinerlei Halt in Wahrnehmung und Erfahrung besitzt. Natur, Leben und Erkenntnis lassen sich für Pomponazzi in einer doppelten Trias wiedergeben, die sich im Menschen und seiner Seele widerspiegelt. „Nihil enim est in mundo, quod ex aliqua proprietate non possit convenire ipsi homini; quapropter non immerito homo dictus est microcosmus sive parvus mundus“.10 Das Zitat geht in seinem zweiten Teil zurück auf Aristoteles und Thomas von Aquin. Wie ist nun aber die menschliche Natur als dieser ‚Mikrokosmos‘, wie sind der Erkenntnisapparat und das Leben insgesamt strukturiert? Es gibt für Pomponazzi drei Arten von Lebewesen und drei Arten der Erkenntnis (tres modi animalium, tres modi cognoscendi).11 Es gibt zum einen die corpora caelestia, also himmlische Körper, Mächte oder Wesen, die überhaupt nicht in ihrer Erkenntnis vom Körperlichen abhängen (dependent nullo modo in cognoscendo a corpore). Diese befinden sich nahe der Existenzweise Gottes. Sie sind schon nahezu dort, wo Sein und Denken, Möglichkeit und Wirklichkeit zusammen fallen. Sie sind bei Gott, beim Können-Sein bzw. possest (Nikolaus von Kues) in persona, weil Gott eben alles das ist, was er sein kann. Zum anderen gibt es die bestiae, die Tiere, deren Lebensweise ganz auf das Gegenständliche ausgerichtet und ganz im materiellen Fundament verwurzelt ist (dependent ut subiecto et ut obiecto a corpore). Schließlich gelangt Pomponazzi zu den Menschen, die lediglich intentional von der körperlichen wie gegenständlichen Welt abhängen (dependent ut obiecto a corpore). Sie vermögen es, sich kraft ihrer Reflexivität zu sich selbst verhalten zu können und ihre Positionalität12 in der Welt zu erkennen. Im nächsten Schritt vermag folgerichtig allein der Mensch, aus seiner Erkenntnis Schlüsse zu ziehen und seine Position zu verändern. Blicken wir jetzt noch einmal konkreter und psychologischer auf den Menschen. Auch hier begegnet uns eine Trias. Der Mensch formt sich aus Körper und Seele. Letztere ist für Pomponazzi „in consideratione naturali“13 dreigeteilt. Es gibt einen vegetativen oder nährenden, einen sensitiven oder wahrnehmenden, einen reflexiven oder erkennenden Seelenteil. Und gerade Letzterer ist für Pomponazzis Philosophie und Ethik
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Pomponazzi: Abhandlung über die Unsterblichkeit (wie Anm. 6), S. 226. Mojsisch übersetzt: „Es gibt nämlich nichts in der Welt, was aufgrund einer bestimmten Eigentümlichkeit dem Menschen als solchen nicht zukommen könnte; deswegen ist der Mensch nicht ohne guten Grund ‚Mikrokosmos’ oder ‚Welt im kleinen’ genannt worden“ (S. 227). Zum Begriff ‚Mikrokosmos‘ vgl. Aristoteles: Physica VIII 2, 252b 25f, wo von der Befähigung des Lebewesens zur Eigenbewegung die Rede ist, und Thomas von Aquin: Summa Theologiae I 91, 1; 96, 2. Zum Folgenden vgl. Pomponazzi. Abhandlung über die Unsterblichkeit (wie Anm. 6), S. 110. „Die Positionalität ist eine typische Kategorie des Lebewesens, und zwar die grundsätzliche Seinsweise eines Körpers, der seine eigenen Grenzen überschreitet: das Lebewesen ist fähig sich zu transzendieren, außer sich zu gehen und sich auf sich selbst zu beziehen“ Oreste Tolone: Gott in Plessners Anthropologie. In: Jahrbuch für Religionsphilosophie 10 (2011), S. 71-90, hier S. 71, Anm. 1. Pomponazzi: Abhandlung über die Unsterblichkeit (wie Anm. 6), S. 104, 106.
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von außerordentlicher Bedeutung. Analog zu anderen Denkern können wir nämlich bei ihm so etwas wie eine Erkenntnistheorie identifizieren. Sein erkennender Seelenteil ist daher auch nichts anderes als der menschliche Intellekt selbst. Dieser erkennende Teil oder menschliche Intellekt erkennt nach Pomponazzi niemals ohne einen dazugehörigen Gegenstand und ist zu einem entscheidenden Teil maßgeblich für moralisches Handeln. Er besitzt darüber hinaus noch die markante Eigenschaft, ein mixtum compositum zu sein. In dieser Weise wohnt ihm gleichsam immer schon der eigene Überschuss oder Mehrwert inne. „Intellectus enim humanus habet et quod sit intellectus et humanus. Qua enim intellectus est, universale cognoscit; sed qua humanus, universale nisi in singulari perspicere nequit“.14 Der menschliche Intellekt, das menschliche Erkenntnisvermögen besteht aus diesem menschlichen Intellekt sowie dem Intellekt schlechthin. Die scheinbar widersprüchliche Formulierung basiert auf dem platonischen Gedanken der Teilhabe sowie auf der bekannten aristotelischen Erkenntnis, dass das Ganze mehr als die Summe seiner Teile ist. Dieser Intellekt (also: menschlicher Intellekt = menschlicher Intellekt plus Intellekt schlechthin) hat im Denken Pomponazzis eine klare Ordnung und Struktur. Sofern er rein menschlicher Intellekt ist (also: menschlicher Intellekt = menschlicher Intellekt minus Intellekt schlechthin), nimmt er das Einzelne in seiner Isoliertheit wahr, ohne abstrahierend und umfassend denken zu können. Sofern der menschliche Intellekt teilhat am Intellekt schlechthin, erreicht das menschliche Leben und Erkennen seinen maximalen Wert. In diesem Intellekt schlechthin findet Pomponazzi die himmlischen Kräfte der Natur, das Göttliche, die Gottheit, Gott.15 Dieser Intellekt besitzt für Pomponazzi eine besondere Eigenschaft: Er wirkt umfassend. Er umfasst genauso den menschlichen Intellekt, wie der menschliche Intellekt im Gegenzug an ihm teilhat. Die Erkenntnis dieser Zusammenhänge verschafft dem weisen Menschen Einblicke in die letzte und doppelte Wahrheit. Einmal wird Wahrheit bemessen am VorBild des göttlichen Geistes in Entsprechung zum göttlichen Geist. Das andere Mal bemisst sich Wahrheit an der Wirklichkeit im Sinne einer Ausrichtung des menschlichen Geistes an der ihm gegebenen, objektiven Wirklichkeit (veritas est adaequatio rei et intellectus). Ganz in diesem Geiste lehrt bereits Nikolaus von Kues, dass der menschliche
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Pomponazzi: Abhandlung über die Unsterblichkeit (wie Anm. 6), S. 122, 124. Mojsisch übersetzt: „Dem menschlichen Intellekt eignen nämlich zwei Momente: Er ist Intellekt, und er ist menschlicher Intellekt. Sofern er nämlich Intellekt ist, erkennt er das Allgemeine; sofern er aber menschlicher Intellekt ist, vermag er das Allgemeine nur im Einzelnen zu betrachten“ (S. 123, 125, Hervorhebung im Original). Wie erfahrungsbedingte Natur und himmlische Zeichen im Denken Pomponazzis zusammenwirken, geht aus Douglas’ Kommentierung von Pomponazzis De incantationibus hervor. „All events, all phenomena, were included within the sway of the astral influences. The astral order was the other side of nature“. Vgl. Douglas: Pomponazzi (wie Anm. 5), S. 272 (Hervorhebung im Original).
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Geist sich die Welt als zu erkennende erschafft, indem er sie nach seinen eigenen Mustern und Maßstäben ausmisst.16 Während im Intellekt schlechthin also alle Erkenntnis und Abstraktion enthalten sind, muss sich der Mensch letzte Erkenntnisse erst mühsam erarbeiten. Er tut dies zuerst dadurch, dass er im Denken die einzelnen Dinge wahrnimmt. Danach erkennt der menschliche Intellekt das Allgemeine, die Idee, welche diesem Einzelnen verborgen zu Grunde liegt und kehrt auf diese Weise zum einzelnen Ding wieder zurück. Es zeichnet sich ein vollkommener Kreis von Denken, Wahrnehmen und Erkennen ab. Verum cum anima humana per cogitativam comprehendat singulare primo, deinde eadem per intellectum universale comprehendat, quod tamen in eodem singulari speculatur, quod per phantasiam cognitum est, vere reditum facit et per consequens conversionem; quoniam ex singulari per phantasiam cognito eadem anima per intellectum ad idem redit.17
Pomponazzi entwickelt ausgehend vom und abschließend beim Menschen und seinen geistigen Vermögen ein im naturphilosophischen Rahmen stringentes Erklärungsmuster der menschlichen Natur. Burkhard Mojsisch benennt in seinem Kommentar diese Argumentationskette. Der Intellekt erkennt primär das Allgemeine, sekundär das Allgemeine im Einzelnen, dieses Allgemeine jedoch nie ohne das Einzelne, da der Intellekt unter naturphilosophischer – nicht logischer oder metaphysischer – Perspektive stets auf den Vorstellungsinhalt als auf seinen Gegenstand bezogen ist.18
Darum geht es Pomponazzi: um Erkenntnis aus naturphilosophischer Perspektive. Aus dieser Perspektive heraus nach dem sich auszustrecken, was die Welt im Innersten zusammenhält, bedeutet, auf den großen Wurf in der allumfassenden Erklärung der Wirklichkeit zu verzichten. Naturphilosophie hat darum auch von vornherein Husserls phänomenologischen Reduktionismus in Betracht zu ziehen. Erkenntnis aus naturphilosophischer ist immer schon eine Erkenntnis aus phänomenologischer Perspektive. Die Erkenntnis, ob nun theoretischer oder praktischer Provenienz, hat sich an der Natur auszurichten. Grundlagenwissenschaft genauso wie Ethik haben sich an der Natur auszurichten. Dabei ist eine Kollision unterschiedlicher Perspektiven oft unvermeidbar. Dies kann im Gegenteil sehr produktiv sein. Der Versuch des Thomas von Aquin, Theologie und Philosophie, Christentum und Aristoteles, Glaube und Vernunft miteinander zu
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Vgl. dazu den Vergleich des menschlichen Geistes mit einem akribischen Kosmographen, der auf seiner Karte die Welt formt in: Nikolaus von Kues: Compendium, Kap. 8, S. 22-24. Pomponazzi: Abhandlung über die Unsterblichkeit (wie Anm. 6), S. 148, 150. Mojsisch übersetzt: „Da aber die menschliche Seele zuerst durch die Denkkraft das Einzelne erfasst, dann durch den Intellekt das Allgemeine erfasst, das sie gleichwohl in eben dem Einzelnen betrachtet, welches durch die Vorstellung erkannt ist, vollzieht sie wahrhaft eine Rückkehr und folglich eine Umwendung; denn ausgehend vom Einzelnen, das durch die Vorstellung erkannt wird, kehrt eben die Seele durch den Intellekt wieder zu eben dem Einzelnen zurück“ (S. 149, 151). Mojsisch: Einleitung (wie Anm. 6), S. 248, Anm. 217 zu Kap. XI.
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versöhnen, ist zwar nach Meinung Pomponazzis gescheitert, jedoch zollt dieser der denkerischen Leistung des Aquinaten große Anerkennung. Der unterschiedlichen Erkenntniskompetenz von Theologen und Philosophen ist sich Thomas vollauf bewusst. In seinem Kommentar zur Schrift De consolatione philosophiae des Boethius weist er Theologen und Philosophen jeweils verschiedene methodische Vorgehensweisen zu. Die Philosophen setzen andere Prioritäten. Ihnen als Philosophen geht es zuerst um die Natur und den Menschen. Für die Theologen dagegen ist einer wissenschaftlichen Behandlung der Gottesfrage nichts vorzuziehen.19 Wenn also Thomas davon spricht, dass die menschliche Seele schlechthin (simpliciter) unsterblich und nur in gewisser Weise (secundum quid) sterblich ist,20 so argumentiert er aus der Warte des Theologen. Die immer schon vorhandene Beziehung Gottes zum Menschen garantiert die Ewigkeit seines Lebens. Joseph Ratzinger (Benedikt XVI.) prägte den Begriff der ‚dialogischen Unsterblichkeit‘ und meinte damit das rettende Wort und Beispiel Christi, aus dem die Menschen nicht herausfallen und innerhalb dessen sie Unsterblichkeit erlangen können.21 Wenn Pomponazzi den Sachverhalt umkehrt und die
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Mehr zu diesen Hintergründen und Zusammenhängen findet sich bei Rolf Darge: Der Anfang der Interdisziplinarität zwischen Philosophie und Theologie im 13. Jahrhundert. In: Salzburger Jahrbuch für Philosophie. 55 (2012), S. 47-65. Vgl. Pomponazzi: Abhandlung über die Unsterblichkeit (wie Anm. 6), Kap. VII. Wie unverzichtbar diese Position des Thomas für die Theoriebildung Pomponazzis gewesen ist, hält Antonio Petagine fest. Thomas’ Aussage bildet sozusagen ein Scharnier, welches von der Entweder-OderArgumentation des Platon und Averroes direkt zu Pomponazzi selbst hinführt. „Ponendo l’anima immortale simpliciter e mortale secundum quid, Tommaso ha piuttosto riconosciuto, come non avevano fatto né Averroè, né Platone, la coesistenza nell’anima umana di materialità e immaterialità, di ciò che è mortale e di ciò che non sembra esserlo“ (Antonio Petagine: Come una donna di rara saggezza. Il De immortalitate animae di Pietro Pomponazzi e la psicologia di Tommaso d’Aquino. In: Pietro Pomponazzi. Tradizione e dissenso. Atti del Congresso internazionale di studi su Pietro Pomponazzi Mantova 23-24 ottobre 2008. Hg. von Marco Sgarbi. Firenze 2010, S. 41-74, hier: S. 58, Hervorhebung im Original). Vgl. auch ders.: „Giustamente quindi – ad avviso di Pomponazzi – Tommaso ha fatto valere una logica dell’ et-et (l’anima è e materiale e immateriale, e mortale e immortale), contro l’averroistico e platonizzante aut-aut di mortalità e immortalità” (ebd., S. 66f). Vgl. Joseph Ratzinger: Eschatologie – Tod und ewiges Leben. Kleine katholische Dogmatik 9. Regensburg 21977, S. 127-129. Vgl. auch Joseph Ratzinger: Einführung in das Christentum. Vorlesungen über das Apostolische Glaubensbekenntnis. München 41968, S. 292: „Es handelt sich um eine ‚dialogische’ Unsterblichkeit [...]; das heißt, Unsterblichkeit ergibt sich nicht einfach aus der Selbstverständlichkeit des Nicht-sterben-Könnens des Unteilbaren, sondern aus der rettenden Tat des Liebenden, der die Macht dazu hat: Der Mensch kann deshalb nicht mehr total untergehen, weil er von Gott gekannt und geliebt ist [im Geiste des Thomas von Aquin: weil er von Gott geschaffen ist – R. W.]“. Vgl. auch ebd., S. 296f.: „Wenn wir also sagen, dass des Menschen Unsterblichkeit in seiner dialogischen Verwiesenheit auf Gott hin gründet, dessen Liebe allein Ewigkeit gibt, so ist darin [...] die wesentliche Unsterblichkeit des Menschen als Menschen herausgestellt“.
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Sterblichkeit der menschlichen Seele schlechthin (simpliciter) sowie ihre Unsterblichkeit nur in gewisser Weise (secundum quid) postuliert, tut er dieses aus der naturphilosophischen Warte. Die Selbstbegrenzung des Naturphilosophen auf Wahrnehmung, Erfahrung und Logik macht es erforderlich, von einer umfassenden Sterblichkeit des Menschen auszugehen und einen schonungslosen materialismo pomponazziano (Valeria Sorge) einzugestehen. Das Element der Unsterblichkeit geht dabei aber keineswegs komplett verloren. Pomponazzi positioniert sich uneingeschränkt als Philosoph, um über Mensch und Welt zu reflektieren. Insofern hat er zweifellos Bedeutung für das glaubensferne Geistesklima der Moderne, Postmoderne etc. Thomas von Aquin seinerseits philosophiert als Theologe, auch wenn er der Philosophie eine eigene Identität zugesteht. Pomponazzi übt ausdrücklich Schulterschluss mit Aristoteles. Seine Interpretation des Aristoteles soll den wahren Aristoteles unter den vielen historischen wie aktuellen Interpretamenten zu Tage fördern. De facto weicht er jedoch von Aristoteles dort ab, wo er Platons Teilhabe-Gedanken nicht preisgeben möchte. Den latenten Platonismus im Denken Pomponazzis diagnostiziert Mojsisch, ohne ihn expressis verbis so zu benennen. Gemäß Aristoteles ist der tätige Intellekt aber nicht nur Ursache und Prinzip aller Gegenstände des Erkennens, sondern zugleich auch ewig und unsterblich; ist dieser Intellekt aber unsterblich, dann auch der Mensch. Pomponazzi war aber der Ansicht, dass der tätige Intellekt in der Tat unsterblich und ewig, deshalb aber der göttliche Intellekt selbst sei. Der Aristoteliker Pomponazzi folgte auf diese Weise jedenfalls nicht seiner Autorität Aristoteles, der lehrte, auch der tätige Intellekt sei in der Seele.22
Indem der menschliche tätige Intellekt an den göttlichen Ideen der Unsterblichkeit und Ewigkeit partizipiert, partizipiert er am Göttlichen selbst. Im Folgeschluss ermöglicht dann diese Partizipation auch Identifikation. Ohne Teilhabe gibt es weder Unsterblichkeit noch Ewigkeit. Dabei dürfte von vornherein klar sein, dass unsterblich und ewig für Pomponazzi einzig der wahre und nicht-menschliche Intellekt ist. Es ist dann eben nicht die platonische Überidee des Guten. Dieses Etwas an Unsterblichkeit (secundum quid), das Pomponazzi der menschlichen Seele zubilligt, ist der menschlichen Erkenntnis entzogen und hat – von Pomponazzi ganz antiaristotelisch gedacht – seinen Dreh- und Angelpunkt außerhalb des Menschen in den Sternen des Himmels und Sphären des Alls. „Thus, it [die menschliche Seele] shares in the intellectual nature, intrinsically immaterial and immortal, which is manifested in the intelligences of the spheres“.23 Im Rekurs auf den platonischen und dann auch augustinischen Gedanken der geschenkten Teilhabe
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Burkhard Mojsisch: Epistemologie im Humanismus. Marsilio Ficino, Pietro Pomponazzi und Nikolaus von Kues. In: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 42 (1995), S. 152-171, hier: 163 (Hervorhebung im Original). Stephen Menn: The intellectual setting. In: The Cambridge history of seventeenth century philosophy. Bd. I. Hg. von Daniel Garber und Michael Ayers. Cambridge 1998, S. 33-86, hier S. 52.
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eines Seelenteils an der göttlichen Unsterblichkeit entwickelt Pomponazzi „more platonico“24 den Gedanken einer Unsterblichkeit der Seele als Ausdruck ihrer Tugend im Leben unter naturphilosophischem Gesichtspunkt. Der menschliche Intellekt ist nun dreifach untergliedert. Es gibt einen spekulativen bzw. theoretischen Intellekt, einen handlungsorientierten bzw. praktischen und einen herstellenden bzw. technischen Intellekt. Auf der Basis des zweiten Intellekts erfüllt sich Pomponazzi zufolge die Bestimmung jedes einzelnen Menschen und der Menschheit insgesamt. „Quare universalis finis generis humani est secundum quid de speculativo et factivo participare, perfecte autem de practico. Universum enim perfectissime conservaretur, si omnes homines essent studiosi et optimi, sed non, si omnes essent philosophi vel fabri vel domificatores“.25 Während die beiden anderen Intellekte gewisse Begabungen oder Talente voraussetzen, eignet die Befähigung zur Tugend, zum GutSein, zum Gut-Handeln jedem Menschen, der guten Willens ist und wird so von Generation zu Generation, von Jahrhundert zu Jahrhundert, von Jahrtausend zu Jahrtausend tradiert. Nicht die materielle Profession ist entscheidend im Hinblick auf das Geschick der Menschheit. Ob jemand Handwerker oder Philosoph ist, wirft nicht die alles entscheidende Frage auf. Menschen sind so verschieden wie ihre Berufe und Berufungen. Was zählt, ist die Qualität des menschlichen Lebens. Ist der betreffende Mensch als Philosoph oder Handwerker auch ein guter Mensch? Wenn er nur eifrig, strebsam und je der beste aller Menschen ist, haben Mensch und Welt Bestand. Woher stammt dieses grenzenlose Vertrauen Pomponazzis in die Tugendhaftigkeit des Menschen? Zwei Dinge sind zu nennen. Erstens, „quia solus homo multae divinitatis est particeps“.26 Durch seinen erkennenden Seelenteil und Intellekt hat der Mensch unwiderruflichen Anteil am Göttlichen und Guten. Zweitens, aufgrund der Selbstevidenz von Tugend, die als jeweilige Manifestation des Guten und Göttlichen um ihrer selbst willen gewollt wird. Dass der Mensch gut handelt, indem er einer Tugend folgt, die durch sich selbst einleuchtet,
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Luigi Olivieri: Filosofia e teologia in Pietro Pomponazzi tra Padova e Bologna. In: Sapere e/è potere. Discipline, Dispute e Professioni Nell’Università Medievale e Moderna. Il caso bolognese a confronto. Atti del 4° Convegno (Bologna 13-15 aprile 1989). Verso un nuovo sistema del sapere vol. II. Hg. von A. Cristiani. Bologna 1990, S. 65-84, hier: S. 69 (Hervorhebung im Original). Olivieri sieht im Anschluss an Paul Oskar Kristeller den Anfang von Pomponazzis Traktat über die Unsterblichkeit der Seele in der Dialogstruktur der Schriften Platons vorgebildet. Die Beschäftigung Pomponazzis mit Platon in diesem Traktat geht allerdings in der Qualität ihrer Auseinandersetzung weit über die platonische Art und Weise eines formalen Auftakts hinaus. Pomponazzi: Abhandlung über die Unsterblichkeit (wie Anm. 6), S. 176. Mojsisch übersetzt: „Deshalb ist es das allgemeine Ziel des Menschengeschlechts, in gewisser Weise am theoretischen und am auf das Herstellen ausgerichteten Intellekt teilzuhaben, in vollkommener Weise aber am praktischen. Die ganze Welt würde nämlich in vollkommenster Weise erhalten, wenn alle Menschen tugendsam und von trefflichem Charakter wären, nicht aber, wenn alle Philosophen, Schmiede oder Architekten wären“ (S. 177). Pomponazzi: Abhandlung über die Unsterblichkeit (wie Anm. 6), S. 106.
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ist Pomponazzis äußerste naturphilosophische Überzeugung. „Praemium essentiale virtutis est ipsamet virtus, quae hominem felicem facit“.27 Wenn jemand tugendhaft und gut handelt, handelt er in Übereinstimmung mit dem Göttlichen und Guten. „La vertu pomponazienne est le consentement actif à la nécessité du bien“.28 Durch das tugendhafte und gute Handeln bringt der Mensch seine Bereitschaft zum Ausdruck, sich in den Lauf der Dinge einzufügen und am Werk des guten Göttlichen und göttlich Guten mitzuschreiben. Sitz im Leben der Tugend ist der praktische Intellekt. Mittels dieses Intellekts erfasse ich, was es heißt, moralisch zu handeln. Das heißt, ich folge der Tugend und meide das Laster. Warum soll ich das tun? Nach Pomponazzi ergeben sich klare Zusammenhänge. Leben wird durch Tugenden wie Wissbegier (studium), Weisheit (sapientia), Gottesverehrung (cultus dei), also durch das Gute (bonum, bonitas) erhalten und durch Laster wie Diebstahl (furtum), Raub (rapina), Mord (homicidia), Ausschweifung (voluptas), also durch das Schlechte (malum) zerstört. Der Mensch entsteht aus der Natur und vergeht in die Natur. „Gratias Deo et naturae aget, semperque erit paratus mori [...]“.29 Darum ist es nach Pomponazzi nur recht und billig, das der Natur an Erkenntnis, Tugend und Leben zurückzugeben, was man unverdient bekommen hat. Dass dies so ist, dass Tugend Leben begründet und fördert, geschieht naturgemäß, naturaliter. Naturgemäß strebt der Mensch nach Glück; dies wird er aber nur auf dem Weg der Tugend erreichen. Sie allein, so Pomponazzi an einer wichtigen Stelle seines Traktates, lässt ihn in Ruhe und Sicherheit leben. „Nihil enim maius natura humana habere potest ipsa virtute, quandoquidem ipsa sola hominem securum facit et remotum ab omni perturbatione“.30 Sie allein schafft es, dass der Mensch mit sich ins Reine kommt. Ebenso naturgemäß strebt der Mensch danach, das Unglück, die eigene Unruhe und Angst zu meiden. Dies wird er wiederum nur dann schaffen, wenn er sich vom Laster fernhält. Im Begreifen der Tugend und ihrer Rolle im Kosmos des menschlichen Lebens verwirklicht sich bereits in wichtigen Ansätzen Kants aufklärerischer Anspruch. Der Ausgang des Menschen aus selbstverschuldeter Unmündigkeit mittels des eigenen Vernunftgebrauchs wurzelt nicht zuletzt im Denken der Renaissance. ‚Ruhe‘ und ‚Sicherheit‘ basieren auf subjektivem Empfinden. Dennoch sind beide Termini intersub-
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Pomponazzi: Abhandlung über die Unsterblichkeit (wie Anm. 6), S. 190. Mojsisch übersetzt: „Die wesentliche Belohnung für die Tugend ist die Tugend selbst; sie macht den Menschen glücklich“ (S. 191, vgl. dort auch unter Anm. 317 den Bezug auf Senecas De beneficiis). Rita Ramberti: La fondation de l’autonomie morale dans le De immortalitate animae et dans le De fato de Pietro Pomponazzi. In: Pietro Pomponazzi entre traditions et innovations. Hg. von Joël Biard und Thierry Gontier. Amsterdam/Philadelphia 2009, S. 135-152, hier: S. 151. Pomponazzi: Abhandlung über die Unsterblichkeit (wie Anm. 6), S. 184. Pomponazzi: Abhandlung über die Unsterblichkeit (wie Anm. 6), S. 190. Mojsisch übersetzt: „Denn das Höchste, was die menschliche Natur besitzen kann, ist die Tugend selbst, da sie allein den Menschen von Sorgen befreit und jede Beunruhigung von ihm fernhält“ (S. 191).
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jektiv feststellbar. Das einzelne Individuum und Subjekt entledigt sich der äußeren Zwänge und weltanschaulichen Vorgaben, indem es sich eigene Grenzen der Erkenntnis setzt. Pietro Pomponazzi ist ein markantes Rad innerhalb dieser Entwicklungskette, weil er den Menschen und seine Erkenntnis zurückbindet an die eigene Natur, von welcher dieser sich zunehmend gelöst hat. Pomponazzi belebt die Idee des eigenen Bewusstseins und Gewissens, des eigenen Selbst-Bewusstseins, indem er ihm eine Tür aus dem geschlossenen Raum der eigenen, fest gewordenen Überzeugungen öffnet, „en libérant la conscience de toute préoccupation d’ordre métaphysique“.31 Wenn dem Menschen dann noch so etwas wie die eigene Unsterblichkeit in den Sinn kommen sollte, dann muss er sich darüber im Klaren sein, dass er sich in naturphilosophischer Perspektive eine Unsterblichkeit im Denken und Erinnern der Nachwelt – Pomponazzi gebraucht im Anschluss an Aristoteles die Bezeichnung existimatio32 – auf der Grundlage des eigenen moralischen Handelns und Verhaltens vorzustellen hat. Spielarten dieser Kunst des Überlebens und Überdauerns sind durchaus bekannt. So deklamiert schon Ovid in seinen Klageliedern über Unsterblichkeit und Ruhm, die ihm das eigene dichterische Werk in der Nachwelt sichern. Und hundert Jahre nach Pomponazzi wünscht Francis Bacon, dass sein philosophisches Werk ihn überdauern und ihm Unsterblichkeit schenken möge.33 In Bezug auf die Tugend schreibt Pomponazzi gegen einen großen Traditionsstrom an. Nämlich gegen eine Tradition, die die Unsterblichkeit der Seele schlechthin (simpliciter) feststellt. Deren Argumentation: Erst die Idee einer unsterblichen Seele garantiere, dass der Mensch als Mensch erkannt wird. Pomponazzi argumentiert genau anders herum: Erst die Idee einer sterblichen Seele garantiere, dass der Mensch als Mensch erkannt wird. Der Mensch ist Mensch zuallererst auf der Basis seiner Tugend. Tugend leuchtet durch sich selbst ein. „It is an end in itself, to be pursued for its own sake“.34 Mittels des praktischen oder operativen Intellekts erkennt der Mensch den absoluten Wert der Tugend und folgt ihm. Die Tugend ist immer schon da, insofern die Natur immer schon etwas ist, das der Mensch vorfindet. Wer der Tugend gemäß handelt, kann dies unter keinen Umständen um einer nachträglich eingelösten Siegesprämie willen
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Jean Seidengart: La théorie de l’âme de Pomponazzi et sa signification historique selon Ernst Cassirer et Éric Weil. In: Pietro Pomponazzi entre traditions et innovations. Hg. von Joël Biard und Thierry Gontier. Amsterdam/Philadelphia 2009, S. 153-167, hier: S. 166 (Hervorhebung im Original). = Einschätzung, Meinung, Urteil. Vgl. Pomponazzi: Abhandlung über die Unsterblichkeit (wie Anm. 6), S. 218, der eine aristotelische Unsterblichkeit im Gedächtnis der anderen avisiert: „[...] cum nihil sint, sed tantum existimationi, quae de eis habetur“ und „ [...] intelligitur hoc quantum ad existimationem, quae habetur de eis [...]“. Vgl. den Beitrag von Richard Nate in diesem Band. Dominick A. Iorio: The Aristotelians of Renaissance Italy. A Philosophical Exposition (Studies in the History of Philosophy vol. 24). Lewiston/Queenston/Lampeter 1991, S. 134.
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tun. „[...] le prix n’est pas le résultat de l’effort, mais l’effort même et l’intention consciente qui l’accompagne“.35 Die Siegesprämie kann allein darin bestehen, dass tugendmäßig gehandelt wird. Der Weg ist gleichsam das Ziel. Auf dem Weg meines Lebens verwirklicht und vollendet sich die Tugend. Kommt der weise Mensch an das Ziel seines Lebens, hatte er niemals die Tugend selbst als dieses Ziel im Auge. Die Tugend war sein steter Wegbegleiter, sein zweites Ich und seine menschliche Natur. Der Tod erfasst nach Überzeugung Pomponazzis den ganzen Menschen mit Leib und Seele. Über diesen Tod hinaus zu denken, ist nicht die Sache des Philosophen. Die Macht des Faktischen fordert hier ihren Tribut. Wird ein Mensch mit all seinen Anlagen und Fähigkeiten in das Geflecht aus Raum, Zeit und Existenz hineingeboren, sind ihm bestimmte Anschauungsformen unverrückbar vorgegeben. „Der Philosoph […], der die Wahrheit der philosophischen Beweisführung internalisiert, schätzt die Tugend als objektive Norm und als diesseitige Vollendung seines praktischen Intellektes. Sie genügt sich selbst, und die Verheißung einer jenseitigen Welt wird ihn nicht mehr interessieren“.36 Der Philosoph gibt sich zufrieden mit Erkenntnissen über das Diesseits, weil er die Grenzen seines Menschseins kennt. Legt man menschliche Maßstäbe in Bezug auf Wahrnehmung und Erkenntnis an – und nur um diese kann es gehen, wenn sich Menschen wissenschaftlich betätigen –, gelingt sowohl theoretischer als auch praktischer Wissenserwerb secundum naturam. Der Philosoph erkennt das Unvermeidliche, indem er sein eigenes Interesse zu kanalisieren weiß. „Eine Erfüllung im Intellekt, die über den Tod hinausgreift, ist für den Philosophen nicht vorgesehen“.37 Der Philosoph hat sich dem Recht und der Größe des Schicksals, den Weltenlauf zu bestimmen, in stoischer Einsicht sowie Gelassenheit zu überlassen. Höhere astrale Mächte wirken Leben und Tod, Tod und Leben in ständigem Kreislauf. Der Philosoph vermag dies zu erkennen. Indes ist ihm eine aktive Einflussnahme verwehrt. Die Erkenntnis darüber zu gewinnen und darin ohne äußere Stütze oder mildernde Abschweifung zu verweilen, ist die Lebenskunst des stoischen Philosophen und ausgezeichneten Menschen in der Lesart Pomponazzis. „For the Stoics fate ruled all, which explains why there are good men and evil men, sheep and wolves, poor and rich. So it has always been and so it will always be“.38 Wie lässt sich Pomponazzis Hinwendung zur Stoa konkret fixieren? Eine Untersuchung seines postum erschienenen Werks De fato antwortet darauf. Wird der Akzent von der finalen auf die wirkende Ursache in Raum und Zeit gelegt, ist Pomponazzis Schritt weg von Aristoteles vollzogen. Er „folgt notwendig aus der Ausschaltung der
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Ramberti: La fondation de l’autonomie morale (wie Anm. 28), S. 142. Bernd Roling: Glaube, Imagination und leibliche Auferstehung: Pietro Pomponazzi zwischen Avicenna, Averroes und jüdischem Averroismus. In: Wissen über Grenzen. Arabisches Wissen und lateinisches Mittelalter. Hg. von Andreas Speer und Lydia Wegener. Berlin/New York 2006, S. 677-699, hier: S. 690. Roling: Glaube, Imagination und leibliche Auferstehung (wie Anm. 36), S. 691. Iorio: Aristotelians (wie Anm. 34), S. 114.
Pietro Pomponazzi und die Unsterblichkeit der Tugend
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causa finalis und der Vorherrschaft der causa efficiens, aus dem Begriffe der Menschheit als Organismus und aus der Bedeutungslosigkeit des Individuums“.39 Der finale unbewegte Beweger macht Platz für die Wirkzusammenhänge des Ganzen und Göttlichen. Es ist kein Zufall […], daß Pomponazzi mit Aristoteles anfängt und mit der Stoa schließt. Was ihn dazu bringt, ist das innerste Prinzip seines Systems: der Gedanke der durchgängigen und notwendigen Verknüpfung alles Naturgeschehens, der Begriff der Natur als des rationalen Systems notwendiger Wirkungen allgemeiner Ursachen.40
Pomponazzis Idee einer Unsterblichkeit der Tugend reiht sich nahtlos ein in dieses System prästabilierter Harmonie. Sie stellt als Idee einen platonischen Reflex dar. Eine sich diesseitig selbst begründende Tugend unterliegt nämlich nichtsdestoweniger dem Gesetz der Abstraktion. Ebenso unterliegt jedes Nachdenken über die wechselseitigen Zusammenhänge des Naturganzen dem menschlichen Abstraktionsvermögen. Pomponazzis „Stoical Aristotelianism“41 trifft daher a priori und merklich auf eine platonische Note, die sich ihm nachhaltig einprägt. Wenn die Menschheit in ihrer Generationenabfolge einen Wertepool in und an sich bildet, kann menschliche Tugend niemals aus diesem Universum herausfallen. „For Pomponazzi the end and ultimate good of man reside in virtuous moral action in human society“.42 Stoisch im Denken Pomponazzis ist die Wahrheit dieser Tatsache an sich. Tugend überdauert in der menschlichen Familie und Gemeinschaft, im Kollektiv der Menschheit insgesamt, und nicht im einzelnen Individuum. „Eterno è quindi non l’uomo, ma l’umanità“.43 Die Tugend sorgt für sich selbst und der Mensch kann unbesorgt und – sagen wir es – glücklich loslassen. Die menschliche Gesellschaft und menschliche Gattung konserviert in ihrem kollektiven Gedächtnis jede tugendhafte Handlung und brandmarkt das Gegenteil. Aristotelisch im Denken Pomponazzis ist die systematische Erdung der Wirklichkeit in dem, was empirisch fassbar wird. Letzte Ziele gründen in der Gesellschaftsfähigkeit des Menschen. Letztere macht ein tugendhaftes Handeln und Leben erforderlich. „Man is an animal sociale ra-
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Erich Weil: Die Philosophie des Pietro Pomponazzi. In: Archiv für Geschichte der Philosophie 41 (1932), S. 127-176, hier S. 167. Weil: Philosophie des Pomponazzi (wie Anm. 39), S. 173f. Charles Trinkaus: In our Image and Likeness. Humanity and Divinity in Italian Humanist Thought, vol. 2. London 1970, S. 540. Jan R. Veenstra: Self-Fashioning and Pragmatic Introspection. Reconsidering the Soul in the Renaissance (Some Remarks on Pico, Pomponazzi and Machiavelli). In: Self-Fashioning. Personen(selbst)darstellung. Hg. von Rudolf Suntrup und Jan R. Veenstra. Frankfurt a.M. u. a. 2003, S. 285-308, hier S. 300. Nebenbei sei an den komplexen wie komplizierten Film Cloud Atlas von Tom Tykwer, Andrew und Lana Wachowski erinnert. Über Jahrhunderte und Jahrtausende hinweg pflanzt sich darin das Gute über gute Taten und das Böse über böse Taten fort, bis es schließlich entweder in einem umfassenden Untergang des Bösen oder Neuanfang des Guten mündet. Franco Graiff: Aspetti del pensiero di Pietro Pomponazzi nelle opere e nei corsi del periodo bolognese. In: Annali dell’Istituto di Filosofia 1. Firenze 1979, S. 69-130, hier S. 90.
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ther than an animal rationale and comes to full self-realisation within a community“.44 Platonisch im Denken Pomponazzis ist die Hintergründigkeit von Ideen des Ganzen (natürlicher Ganzheit) und Tugendhaften (der Tugend). Die menschliche Gemeinschaft lebt aus ihrem eigenen ideellen Pool an Tradition und Tugend, der gleichsam wie ein auszuschöpfendes pädagogisch-politisches Programm arrangiert ist.45 Die menschliche Gesellschaft streckt sich aus nach dem Horizont ihrer Zukunft und greift nach einer Tugend, die nicht vergeht. Eine Affinität des Menschen zum Guten leistet ihr dabei willkommene Dienste. Die Tugend des philosophischen und moralischen Menschen, der sich einvernehmlich den Naturkräften wie der Moral unterstellt, überlebt in diesem Pool in gewisser Weise (secundum quid), aufgrund ihrer guten wie göttlichen Beschaffenheit. „Solo nel filosofo dunque si realizza la pienezza dell’umanità“.46 Im Licht der Sterblichkeit leuchtet die Tugend umso klarer auf und wird nicht länger verschattet von der Aussicht auf eine Belohnung im Jenseits. Tugend wird wieder um ihrer selbst willen gewollt. Nichts geht über den tugendhaften Philosophen.
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Veenstra: Self-Fashioning (wie Anm. 42), S. 300 (Hervorhebung im Original). Vgl. Graiff: Aspetti del pensiero (wie Anm. 43), S. 101: „ […] offriva la chiave di interpretazione del platonismo, che si configurava non come dottrina filosofica, ma piuttosto come programma pedagogico-politico. A questo programma corrispondevano un linguaggio e un metodo, intesi non a dimostrare, bensì a convincere, a rendere gli uomini non sapienti, ma buoni cittadini“. Graiff: Aspetti del pensiero (wie Anm. 43), S. 96.
Gideon Stiening (München) Des Ritters freier Wille und der Zwang des Königs. Miguel de Cervantes’ kritische Reflexion auf die Rechtsund Moralbegründung der Spanischen Spätscholastik
1. Einführung: Der Steinhagel des Verdrusses Das Ende der im Folgenden zu betrachtenden Episode aus dem Don Quijote wird – wie so häufig in der Geschichte des ‚Ritters von der traurigen Gestalt‘ – von Betrübnis, Nachdenklichkeit und Verdruss beherrscht: Solos quedaron jumento y Rocinante, Sancho y don Quijote; el jumento, cabizbajo y pensativo, sacudiendo de cuando en cuando las orejas, pensando que aún no había cesado la borrasca de las piedras que le perseguían los oídos; Rocinante, tendido junto a su amo, que también vino al suelo de otra pedrada; Sancho, en pelota y temeroso de la Santa Hermandad; don Quijote, mohinísimo de verse tan malparado por los mismos a quien tanto bien había hecho.1
Diese gewalttätige Kollision mit einem Hagel aus Steinen markiert das Ende einer Episode, die für el Caballero de la Triste Figura einmal mehr in ein Fiasko mündet, wobei seine Reaktion durchaus eine merkwürdige Abweichung vom Erwartbaren enthält: Während der Esel Sancho Panzas nachdenklich ob des Erlebten scheint, obwohl auch er in jenem Steinhagel stand und damit seinen Herren schützte, werden Rocinante und Don Quijote schwer zu Boden gestreckt; und doch ist der Ritter nicht verängstigt, wie Sancho Panza, oder nachdenklich, wie der Esel, sondern vor allem verdrossen und das heißt ebenso verärgert wie verwundert über den Ausbruch von Gewalt, dem er und seine Ge-
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Don Quijote wird im Folgenden zitiert nach Miguel de Cervantes: Don Quijote de la Mancha I. In: Cervantes completo. 17 Bde. Hg. von Carlos Alvar. Madrid 1996-1998, hier: Bd. 4. Edición, introducción y notas de Florencio Sevilla Arroyo y Antonio Rey Hazas. Madrid 1996, S. 270f.; die deutsche Übersetzung wird – wenn nicht ausdrücklich als Abweichung erwähnt – zitiert nach: Miguel de Cervantes Saavedra: Der geistvolle Hidalgo Don Quijote von der Mancha. 2 Bde. Hg. u. übersetzt von Susanne Lange. München 2008, hier Bd. I, S. 221: „Zurück blieben nur der Esel und Rocinante, Sancho und Don Quijote. Der Esel mit gesenktem Haupt und nachdenklich, wobei er ab und an mit den Ohren wackelte, als rauschte ihm darin noch immer der Steinregen, Rocinante am Boden neben seinem Herrn, da auch ihn ein Steinwurf niedergestreckt hatte, Sancho im Hemd und voller Angst vor der Heiligen Bruderschaft, Don Quijote tief verdrossen, weil er sich von denen so böse zugerichtet sah, denen er so viel Gutes erwiesen hatte.“
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fährten hilflos ausgesetzt waren. Der Grund für diesen Verdruss liegt darin, dass die Urheber dieser Gewalt Personen waren, denen der Ritter nach eigenem Verständnis ausschließlich Gutes getan hatte. Wie ist dieser Kontrast zwischen der guten Tat des Ritters und der gewalttätigen Reaktion jener Personen, denen er half, zu erklären? Und warum ist Don Quijote nicht etwa verzweifelt, ängstlich oder nachdenklich, sondern verdrossen? Ein Rekurs auf spezifische philosophische Wissensbestände um 1600 kann in diesem Zusammenhang einige Aufklärung ermöglichen: Denn die oben zitierte Passage bildet das Ende des berühmten Kapitels I, 22 des Don Quijote, in dem der Protagonist einem Sträflingszug auf dem Weg in die Galeerenstrafe begegnet und jene Gefangenen befreit, die ihn hernach mit dem erwähnten Steinhagel niederstrecken. Es lässt sich nun zeigen, dass Cervantes mit dieser Episode um Strafe, Freiheit und Gewalt eine poetische Reflexion auf die allgemeine Rechts- sowie die besondere Strafrechtstheorie der Spanischen Spätscholastik gestaltete. Unter Aufnahme gewichtiger Erkenntnisse dieser Escuela de Salamanca entwickelt er in seinem Roman nicht allein eine kritische Perspektive auf die eigentümliche Vermittlung von Recht und Moral in diesem philosophischen Kosmos, sondern er erörtert darüber hinaus die letztlich theonome Begründungstheorie dieser Rechtslehre kritisch. Dabei zeigt schon der Steinhagel auf Don Quijote und sein Gefolge an, dass Cervantes auf innertheoretisch nur schwer lösbare Problemlagen und Widersprüche stieß, die sich also in jener praktischen Gewalt entluden. Zum Behuf dieser wissensgeschichtlichen Kontextualisierung2 des literarischen Textes werde ich mich sowohl auf philosophische Texte Francisco Suárez’ (1548–1617) beziehen,3 des philosophiegeschichtlich bedeutendsten Vertreters der ‚Schule von Salamanca‘, als auch auf Arbeiten Francisco de Vitorias (1483–1546),4 des Gründungsvaters dieser vor allem rechtstheologischen Gruppierung.5 Die im 16. und 17. Jahrhundert
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Zu den verschiedenen Formen wissensgeschichtlicher Kontextualisierungen von Literatur vgl. den instruktiven Überblick von Olaf Krämer: Intention, Korrelation, Zirkulation. Zu verschiedenen Konzeptionen der Beziehung zwischen Literatur, Wissenschaft und Wissen. In: Tilmann Köppe (Hg.): Literatur und Wissen. Theoretisch-methodische Zugänge. Berlin/New York 2010, S. 77-115. Zu Francisco Suárez vgl. jetzt Benjamin Hill/Henrik Lagerlund (Hgg.): The Philosophy of Francisco Suárez. Oxford 2012. Zu Vitoria vgl. u.a. Norbert Brieskorn: Spanische Spätscholastik: Francisco de Vitoria. In: Christoph Horn/Ada Neschke-Hentschke (Hgg.): Politischer Aristotelismus. Die Rezeption der aristotelischen Politik von der Antike bis zum 19. Jahrhundert. Stuttgart/Weimar 2008, S. 134-172, sowie Norbert Campagna: Francisco de Vitoria: Leben und Werk. Zur Kompetenz der Theologie in politischen und juridischen Fragen. Zürich 2010. Vgl. hierzu einführend Luciano Pereña: Die spanische Eroberung Amerikas und das europäische Denken. Die Schule von Salamanca. In: Renate Mate/Friedrich Niewöhner (Hgg.): Spaniens Beitrag zum politischen Denken in Europa um 1600. Wiesbaden 1994, S. 69-79; Frank Grunert/Kurt Seelmann (Hgg.): Die Ordnung der Praxis. Neue Studien zur Spanischen Spätscholastik. Tübingen 2001 sowie Ernst-Wolfgang Böckenförde: Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie. Antike und Mittelalter. Tübingen 22006, S. 339-398.
Rechts- und Moralbegründung der Spanischen Spätscholastik
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weit über den akademischen Bereich hinaus wirksame Schule von Salamanca6 zeichnete vor allem aus, dass sie sich dem außerordentlichen Säkularisierungsdruck, der durch die moralische und theologische Indifferenz der machiavellistischen Theorie des Staates und der politischen Herrschaft ausgelöst wurde, energisch widersetzte. Machiavellis prudentielle Staatsräsonlehre, 7 die in der Sorge um eine möglichst umfassende Stabilität und Befriedung des staatlichen Gemeinwesens durch den Herrscher ihr Telos hatte, ebenso wie die ganz säkulare Souveränitätslehre Jean Bodins schufen im Feld der Politik eine grundlegend „neue […] Welt der Profanität“.8 Diesen Tendenzen suchten die philosophischen und theologischen Wissenschaften im Spanien des 16. und frühen 17. Jahrhunderts mit substanziellen und durchaus erfolgreichen Resakralisierungen zu entgegnen, wobei sie neuere Tendenzen in politischer Theorie und Realpolitik produktiv aufnahmen: Zu Recht hat Ernst-Wolfgang Böckenförde die vor allem durch Suárez geleistete „Begründung der Freiheit als ursprünglichem Zustand und Recht des Menschen“ als ideengeschichtliche „Großtat“ bezeichnet,9die konstitutiven Elementen der allererst von Thomas Hobbes vollständig geleisteten Grundlegung staatlicher Herrschaft auf die äußere Freiheit des Individuums präludierte.10 Auf diese ‚Großtat‘, die politische „Motive des beginnenden Freiheitsdenkens seiner Zeit“ in den philosophischen Gedanken fasste,11 und deren theoretische und praktische Konsequenzen wird Cervantes allerdings seinen Protagonisten kritisch reagieren lassen. Bei ihrer grundlagentheoretischen Arbeit am Rechts- und Staatsbegriff kam den politischen Theologen aus Salamanca entgegen, dass die rein pragmatische Regierungslehre Niccolò Machiavellis begründungs- und legitimationstheoretische Leerstellen zurück-
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Vgl. hierzu die Darstellung der Rolle Vitorias durch seine öffentlichen Relectiones bei Ulrich Horst: Leben und Werke Francisco de Vitorias. In: Francisco de Vitoria: Vorlesungen (Relectiones). Völkerrecht – Politik – Kirche. 2 Bde. Hg. von Ulrich Horst, Heinz-Gerhard Justenhoven und Joachim Stüben. Köln 1995/97, hier Bd. I, S. 42ff. sowie Campagna: Francisco de Vitoria (wie Anm. 4), S. 28ff. Zur Auswirkung dieser staatsräsonablen Perspektive auf Staatszwecke bis weit ins 17. Jahrhundert vgl. Michael Stolleis: Arcana Imperii und Ratio Status. Bemerkungen zur politischen Theorie des frühen 17. Jahrhunderts. In: ders.: Staat und Staatsräson in der frühen Neuzeit. Studien zur Geschichte des öffentlichen Rechts. Frankfurt a.M. 1990, S. 37-72. So Kurt Flasch: Das philosophische Denken im Mittelalter. Von Augustin zu Machiavelli. Stuttgart 1986, S. 575. Böckenförde: Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie (wie Anm. 5), S. 396. Zu Suárez’ Freiheitsbegriff und dessen Stellung in seiner politischen Philosophie vgl. Gideon Stiening: Libertas et potestas. Zur Staatsphilosophie in De Legibus (DL III). In: Oliver Bach/Norbert Brieskorn/Gideon Stiening (Hgg.): „Auctoritas omnium legum“. Francisco Suárez’ De Legibus zwischen Theologie, Philosophie und Jurisprudenz. Stuttgart-Bad Cannstatt 2013, S. 195-230. So Norbert Brieskorn: Lex und ius bei Francisco Suárez. In: Alexander Fidora/Matthias LutzBachmann/Andreas Wagner (Hgg.): Lex und Ius / Lex and Ius. Stuttgart-Bad Cannstatt 2010, S. 429-463, hier S. 441.
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ließ, die es im Zeitalter sich entwickelnder absolutistischer Staatengebilde und ihres Zuwachses an zentralisierter Autorität sowie der diesen Prozess befördernden konfessionellen Pluralisierung zu füllen galt: Was garantierte die objektive Geltung von juridischen und moralischen Normen, was ihre subjektive Verbindlichkeit? Hatte – wie Hans Blumenberg nachwies – der „Plural seiner konfessionellen Ausprägungen“ dem „absolute[n] Anspruch des Christentums in seiner politisch fassbaren Realität“12 deutlich Abbruch getan und somit Tendenzen einer Trennung zwischen Religion und Staat befördert, so verschärfte sich innerhalb der Konfessionen die theonome Legitimation staatlicher Ordnung, und zwar sowohl in der Theorie als auch in der Praxis.13 Dem Herrschaftspragmatismus Machiavellis antworteten sowohl der Protestantismus als auch die Gegenreformation mit einer Legitimationstheorie, die das neuzeitliche Verständnis der und das politische Bedürfnis nach Freiheit zu berücksichtigen verstand. Dass Miguel de Cervantes die Wissensbestände der im 16. und 17. Jahrhundert außerordentlich wirksamen ‚Schule von Salamanca‘ bekannt waren, ist mittlerweile communis opinio der Forschung;14 immerhin hatte der Autor dort zwischen 1567 und 1568 vermutlich einige Zeit studiert;15 in der Novelle El licenciado Vidriera schildert er zudem anschaulich das zeitgenössische Studentenleben in und die Attraktivität der Stadt Salamanca.16 Trotz der Fülle dieser empirischen Informationen zu den äußeren Bedin-
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Vgl. Hans Blumenberg: Legitimität der Neuzeit. Erneuerte Ausgabe. Frankfurt a.M. 21988, S. 100. Vgl. hierzu einerseits Marie-Luise Schorn-Schütte: Glaube und weltliche Obrigkeit bei Luther und im Luthertum. In: Manfred Walther (Hg.): Religion und Politik. Zu Theorie und Praxis des theologisch-politischen Komplexes. Baden-Baden 2004, S. 87-104. Vgl. hierzu u. a. Harald Mainhold: „Wenn das Haupt schmerzt, dann schmerzen alle Glieder.“ Die Strafe für fremde Schuld in Cervantes „Don Quijote“. In: Verein junger RechtshistorikerInnen Zürich (Hg.): Rechtsgeschichte(n)? Histoire(s) du droit? Storia/storie del diretto? Legal Histori(es)? Europäisches Forum Junger Rechtshistorikerinnen und Rechtshistoriker Zürich 28.-30. Mai 1999. Bern u.a. 2000, S. 189-207; Bernhard Teuber: Der naturrechtliche Diskurs im Don Quijote und die Episode von den Galeerensträflingen (I, 22). In: Christoph Strosetzki (Hg.): Miguel de Cervantes’ Don Quijote. Explizite und implizite Diskurse im Don Quijote. Stuttgart 2004, S. 365-385 sowie Christoph Strosetzki: Diskurse des Feudalismus und des gerechten Krieges im Don Quijote. In: ebd., S. 251-271, spez. S. 262ff. Vgl. hierzu Christoph Strosetzki: Miguel de Cervantes. Epoche – Werk – Wirkung. München 1991. Miguel de Cervantes: El licenciado Vidriera. In: Cervantes completo (wie Anm. 1), Bd. 8, S. 67107. / Miguel de Cervantes: Der Lizentiat Vidriera. In: ders.: Exemplarische Novellen. Die Mühen und Leiden des Persiles und der Sigismunda. Hg. und neu übersetzt von Anton Maria Rothbauer. Stuttgart 1963, S. 332-363; auch in dieser Novelle steht der freie Wille des Menschen im Zentrum der poetischen Reflexionen; und wie im Don Quijote wird er auch in dieser Novelle als an sich unbegrenzbar vorgestellt; gestaltet der Roman, dass die äußere Freiheit nur in illegitimer Weise durch Recht und Strafrecht begrenzt werden kann, so betont die Novelle die Unfähigkeit von Natur und Magie gegenüber der Subsistenz der inneren Freiheit; das Verabreichen von Liebeszauber wird nachgerade abgekanzelt mit dem herablassenden Hinweis, „als gäbe es je Kräuter,
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gungsfaktoren einer Beschäftigung Cervantes’ mit der Escuela de Salamanca besteht durchaus Dissens über die Frage, auf welche Theoriebestände genau und in welcher Weise sich Cervantes auf die Rechtsphilosophie dieser Schule bezog.17 Vor dem Hintergrund neuerer Forschungen zur Rechtslehre der Spanischen Spätscholastik18 sollen zu dieser Frage im Hinblick auf das Kapitel I, 22 des Don Quijote sowie einiger weiterer Passagen, in denen zeitgenössische Rechtsfragen reflektiert werden, modifizierende Vorschläge gemacht werden, um die spezifische Form der poetischen Reflexion des Romans auf diese rechtsphilosophischen Wissensbestände zu betrachten. Dabei geht es nicht um philologische Nachweise der empirischen Rezeptionswege, sondern um das Aufspannen eines ideengeschichtlichen Kontextes, der die komplexen Problemlagen des literarischen Textes entweder allererst erkennen lässt oder gar einer Lösung zuführen kann; nicht nur die Gewalt der Sträflinge im Anschluss an die gute Tat ihrer Befreiung, sondern auch die Gründe für beide Handlungen können vor dem Hintergrund jener Rechtslehre und ihrer philosophisch-theologischen Problemlagen plausibilisiert werden.
2. Naturrecht und Privilegium im Don Quijote Don Quijote und sein Gefolge begegnen zu Beginn des eingangs zitierten Kapitels I, 22 auf freiem Feld einer Sträflingskolonne, mithin einem Dutzend Männer, „ensartados, como cuentas, en una gran cadena de hierro por los cuellos, y todos con esposas a las manos“.19 Diese werden begleitet von einem insgesamt vierköpfigen Wachpersonal, das den Transport zu gewährleisten und zu verantworten hat. Sancho Panza erklärt seinem
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Beschwörungen und Zauberworte, die ausreichten, den freien Willen zu unterjochen“ (ebd., S. 340). Vgl. hierzu die im Hinblick auf die politische Theorie unpräzise bleibenden neueren Studien von Michel Amstrong-Roche: Cervantes’ Epic Novels. Empire, Religion, and the Dream Life of Heroes in Persiles. London/Toronto 2009, S. 39ff.; Antony J. Cascardy: Cervantes, Literature, and the Discourse of Politics. London/Toronto 2012, spez. S. 44ff. sowie Susan Byrne: Law and History in Cervantes’ Don Quixote. Toronto 2012. Vgl. hierzu u. a. Kerstin Bunge u.a. (Hgg): Kontroversen um das Recht. Contending for Law. Beiträge zur Rechtsbegründung von Vitoria bis Suárez. Arguments about the Foundation of Law from Vitoria to Suárez. Stuttgart-Bad Cannstatt 2012 sowie Oliver Bach/Norbert Brieskorn/Gideon Stiening (Hgg.): „Auctoritas omnium legum“. Francisco Suárez’ ‚De legibus‘ zwischen Theologie, Philosophie und Jurisprudenz. Francisco Suárez’ ‘De legibus‘ Between Theology, Philosophy and Jurisprudence. Stuttgart-Bad Cannstatt 2013. Cervantes: Don Quijote de la Mancha (wie Anm. 1), S. 257 / Der geistvolle Hidalgo (wie Anm. 1), Bd. I, S. 209: „deren Hälse an einer langen Eisenkette wie Perlen am Rosenkranz aufgereiht waren, während ihre Hände in Handschellen steckten.“
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Herren diese eigentümliche Erscheinung: „Ésta es cadena de galeotes, gente forzada del rey, que va a las galeras.“20 Der Ritter hat jedoch mit dieser Erklärung seines Knechtes grundsätzliche Schwierigkeiten, und zwar zunächst Verständnisschwierigkeiten, weil es für ihn eine Unmöglichkeit bedeutet – und d. h. einen Widerspruch enthält –, dass ein König Zwang ausübe: „¿Cómo gente forzada? –preguntó don Quijote–. ¿Es posible que el rey haga fuerza a ninguna gente?“21 Weil nämlich ein königlicher Herrscher im Rahmen seines Vorstellungs- und Wertesystems nur durch Liebe, Weisheit und – wie sich zeigen soll – Klugheit regiert, ist es für den Ritter schwer verständlich, dass der spanische König überhaupt Mittel staatlicher Zwangsgewalt anwendet. Den Maßstab für diese – scheinbar nur der wahnhaften Romanwelt des Ritters entstammende, tatsächlich vielmehr voraussetzungsreiche – Annahme über den ‚zwanglosen Zwang‘ politischer Herrschaft bilden seine Ausführungen zum Goldenen Zeitalter, zu dem es in I, 11 u. a. heißt: Entonces se decoraban los conceptos amorosos del alma simple y sencillamente, del mesmo modo y manera que ella los concebía, sin buscar artificioso rodeo de palabras para encarecerlos. No había la fraude, el engaño ni la malicia mezcládose con la verdad y llaneza. La justicia se estaba en sus proprios términos, sin que la osasen turbar ni ofender los del favor y los del interese, que tanto ahora la menoscaban, turban y persiguen. La ley del encaje aún no se había sentado en el entendimiento del juez, porque entonces no había qué juzgar, ni quién fuese juzgado.22
Erkennbar kommt auch in diesem idealen Gemeinwesen dem Recht substanzielle Geltung zu – es ist also keineswegs paradiesisch verfasst23 –, allerdings dergestalt, dass es innerhalb der Grenzen der Gerechtigkeit uneingeschränkte Wirksamkeit hat und daher einer zwangsgewaltbewährten Garantieinstanz seiner Einhaltung nicht bedarf. Rechtsprechung und damit Strafverhängung und -ausübung ist in diesem sozialen Gefüge
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Cervantes: Don Quijote de la Mancha (wie Anm. 1), S. 199 / Der geistvolle Hidalgo (wie Anm. 1), Bd. I, S. 209: „Das ist eine Kette von Sträflingen, Leute, die man im Namen des Königs auf die Galeeren zwingt.“ Cervantes: Don Quijote de la Mancha (wie Anm. 1), S. 257 / Der geistvolle Hidalgo (wie Anm. 1), Bd. I, S. 209: „‚Wie denn zwingt?‘ fragte Don Quijote. ‚Wie ist es möglich, dass der König jemanden zwingt?‘“ Cervantes: Don Quijote de la Mancha (wie Anm. 1), S. 131 / Der geistvolle Hidalgo (wie Anm. 1), Bd. I, S. 99f.: „Damals erklärte sich das liebende Herz mit schlichter Einfachheit, ganz so, wie es empfand, ohne den Wert der Liebe mit gekünstelt gewundenen Worten erhöhen zu wollen. Lug und Trug und Bosheit hatten sich noch nicht zu Offenherzigkeit und Wahrheit gesellt. Das Recht war Recht, und Gunst und Eigennutz wagten es nicht, ihm in den Arm zu fallen oder es zu beugen, wie man es heute verdreht und beugt und peinigt. Noch hatte sich der Willkür Gesetz nicht im Geist des Richters eingenistet, denn damals gab es nichts und niemanden zu richten.“ Weshalb von einem naturzuständlichen Modell zu sprechen, hier unangemessen ist; siehe aber Teuber: Der naturrechtliche Diskurs (wie Anm. 14), S. 381; vgl. hierzu auch Howard Mancing: Cervantes’ Don Quixote. A Reference Guide. Westport/London 2006, S. 98ff.
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überflüssig, weil sich der Einzelne je schon an die Bestimmungen des allgemeinen Rechts hält. Es ist diese vorausgesetzte ideale Identität von individuellem Wollen und staatlich verordnetem Sollen, die Don Quijote zu seiner Replik auf Sancho Panzas Erläuterung zum Gefangenenzug veranlasst. Sancho Panza lässt sich allerdings von den Einwänden seines Herrn nicht beirren und erklärt daraufhin nachdrücklicher, dass jene Häftlinge nach Maßgabe des geltenden Gesetzes – somit rechtmäßig – verurteilt seien und daher zwangsweise auf den Galeeren des Königs zu dienen hätten. Diese Erläuterung veranlasst seinen Herrn zu folgendem allgemeinen Urteil: –En resolución –replicó don Quijote–, comoquiera que ello sea, esta gente, aunque los llevan, van de por fuerza, y no de su voluntad. […] Pues, de sa manera […] aquí encaja la ejecución de mi oficio: desfacer fuerzas y socorrer y acudir a los miserables.24
Die nur auf den ersten Blick sich einstellende Komik entsteht ersichtlich aufgrund der Überzeugung Don Quijotes, gegen die geltende Rechtsordnung dem Leiden der in Eisen Gefangenen, d. h. ihrer Freiheitsberaubung, ein Ende bereiten zu können, ja auf der Grundlage der Pflichten seiner vormodernen Ritterethik ein Ende bereiten zu müssen. Kontrastiert wird also scheinbar eine moderne Rechtsauffassung, nach der der Staat ein Monopol auf die Rechtssetzung, die Überprüfung der Einhaltung und die Sanktionierung bei Übertreten der Rechtsbestimmungen innehat, d. h. die Verhängung und Durchführung von Strafe einerseits und des Ritters Annahme andererseits, gemäß seinen Tugendpflichten als Beschützer der durch Gewaltzwang Leidenden den Zustand der Gefangenen aufheben zu können, bzw. verbessern zu müssen. Es prallen unterschiedliche Normverständnisse aufeinander, dasjenige des absolutistischen Zentralstaates mit seiner allgemeinen Rechtsordnung auf der einen und diejenige Normenauffassung eines durch Privilegien organisierten und konstituierten, vormodernen Tugendideals auf der anderen Seite. Eine Vermittlung dieser kontroversen Problemlage – was nach dem staatlichen Recht ein Verbrechen bedeutet, ist nach des Ritters Auffassung ein Gebot seines Handelns – leistet ausgerechnet Don Quijote selbst. Denn der Ritter nimmt späterhin für sich in Anspruch, einen Status supra legem (positivam) einnehmen zu können und gemäß seiner Pflichten auch zu müssen. In I, 45 heißt es hierzu im Angesicht seiner Gefangennahme durch Häscher des Königs, die ihn aufgrund jener in I, 22 geschilderten Befreiungsaktion gemäß einem Haftbrief festsetzen wollen: –Venid acá, gente soez y mal nacida: ¿saltear de caminos llamáis al dar libertad a los encadenados, soltar los presos, acorrer a los miserables, alzar los caídos, remediar los menes-
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Cervantes: Don Quijote de la Mancha (wie Anm. 1), S. 258 / Der geistvolle Hidalgo (wie Anm. 1), Bd. I, S. 210: „‚Kurz und gut‘, erwiderte Don Quijote, ‚wie man es dreht und wendet, die Leute, die man da vorantreibt, gehen nur aus Zwang und nicht aus freiem Willen. […] Somit […] fällt das unter die Pflichten meines Amtes: den Zwang zu brechen und den Elenden Schutz und Schirm zu gewähren.‘“
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terosos? ¡Ah gente infame, digna por vuestro bajo y vil entendimiento que el cielo no os comunique el valor que se encierra en la caballería andante, ni os dé a entender el pecado e ignorancia en que estáis en no reverenciar la sombra, cuanto más la asistencia, de cualquier caballero andante! Venid acá, ladrones en cuadrilla, que no cuadrilleros, salteadores de caminos con licencia de la Santa Hermandad; decidme: ¿quién fue el ignorante que firmó mandamiento de prisión contra un tal caballero como yo soy? ¿Quién el que ignoró que son esentos de todo judicial fuero los caballeros andantes, y que su ley es su espada, sus fueros, sus bríos; sus premáticas, su voluntad? ¿Quién fue el mentecato, vuelvo a decir, que no sabe que no hay secutoria de hidalgo con tantas preeminencias, ni esenciones, como la que adquiere un caballero andante el día que se arma caballero y se entrega al duro ejercicio de la caballería? ¿Qué caballero andante pagó pecho, alcabala, chapín de la reina, moneda forera, portazgo ni barca? ¿Qué sastre le llevó hechura de vestido que le hiciese? ¿Qué castellano le acogió en su castillo que le hiciese pagar el escote? ¿Qué rey no le asentó a su mesa? ¿Qué doncella no se le aficionó y se le entregó rendida, a todo su talante y voluntad? Y, finalmente, ¿qué caballero andante ha habido, hay ni habrá en el mundo, que no tenga bríos para dar él solo cuatrocientos palos a cuatrocientos cuadrilleros que se le pongan delante?25
Don Quijote nimmt also für sich und seinen Stand der fahrenden Ritter einen rechtlichen Sonderstatus in Anspruch, der seit der Spätantike im Begriff des Privilegs gebündelt wurde und den rechtstheoretischen und -praktischen Bedingungen auch der Frühen Neuzeit in grundlegenden Elementen entsprach.26 Im oben schon zitierten Kapitel I, 11
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Cervantes: Don Quijote de la Mancha (wie Anm. 1), S. 563f. [Herv. G. S.] / Der geistvolle Hidalgo (wie Anm. 1), Bd. I, S. 520f.: „Was denn, schändliches, gemeines Volk, Strauchdieb nennt ihr den, der den Geketteten erlöst, den Gefangenen befreit, dem Bedürftigen beisteht, den Gefallenen aufhebt, dem Notleidenden Trost bringt? Ach, schnödes Pack, so niedrig und gemein ist euer Geist, dass euch der Himmel niemals der Erhabenheit teilhaftig, welche die fahrende Ritterschaft birgt, noch der Sünde und Ahnungslosigkeit gewahr werden lässt, in der ihr weilt, wenn ihr nicht allein schon den Schatten eines jeden fahrenden Ritters verehrt, wie nicht erst seinen, der wahrhaftig vor euch steht! Ha, Diebeshäscher wollt ihr sein und seid nur Beutehascher, ihr Schnapphähne mit Freibrief der Heiligen Bruderschaft, sagt mir, welch Schwachkopf unterzeichnete den Haftbrief gegen einen Ritter, wie ich einer bin? Wer wusste nicht, dass ein fahrender Ritter über dem Gesetz steht, dass sein Schwert ihm Gesetz ist, sein Privileg der Wagemut und nur sein Wille ihm Gebot? Welch Stocknarr, sage ich, wusste nicht, dass kein Adelsbrief so viele Vorrechte und Freiheiten verleiht wie der, den ein fahrender Ritter an dem Tage erhält, da er zum Ritter geschlagen wird und sich dem harten Ritteramte weiht? Welcher fahrende Ritter hätte je Kopfsteuer, Warenzoll, Kronsteuer, Vasallenzins, Maut oder Fährgeld entrichtet? Welcher Schneider hätte je Lohn für das Gewand verlangt, das er ihm anfertigte? Welcher Burgvogt hätte ihn in seiner Burg empfangen und die Zeche bezahlen lassen? Welcher König hätte ihn nicht an seine Tafel gebeten? Welche Jungfer sich nicht in ihn verliebt und seiner Lust und Laune hingegeben? Kurzum, welchen fahrenden Ritter gab, gibt und wird es je auf Erden geben, der nicht den Wagemut besäße, ganz allein vierhundert Häscher, die sich ihm entgegenstellen, mit vierhundert Hieben abzufertigen?“ Vgl. hierzu Heinz Mohnhaupt: Erteilung und Widerruf von Privilegien nach der gemeinrechtlichen Lehre vom 16. bis 19. Jahrhundert. In: Barbara Dölemeyer (Hg.): Das Privileg im europäischen Vergleich. 2 Bde. Frankfurt a.M. 1997ff., Bd. 1, S. 92-121.
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hatte Don Quijote im Zusammenhang seiner Ausführungen zum Goldenen Zeitalter sowie der sittlichen Abweichung der Gegenwart gegenüber dessen normativen Idealen die Notwendigkeit der Entstehung einer solchen Gruppe fahrender Ritter abgeleitet und deren Privilegien als Regeln des Naturrechts legitimiert, weil „por ley natural están todos los que viven obligados a favorecer a los caballeros andantes“.27 Diese Argumentationsbewegung trifft ins Zentrum der Cervantesschen Reflexionen auf Rechtsfragen im Roman: Ist seine Existenz als fahrender Ritter dem historischen Modell des Abfalls vom Goldenen Zeitalter zu verdanken, so dessen rechtlicher Sonderstatus der transhistorischen Geltung des Naturrechts. Gleichwohl ist der Geltungsumfang, in dem Don Quijote eine juridische Sonderrolle für sich und seinen Stand in Anspruch nimmt, zeitgenössisch ohne juristisches bzw. konventionelles Substrat, so dass des Ritters Ausführungen den Umstehenden unmittelbar im Anschluss nur als Ausfluss einer Psyche erklärt werden können, die falto de juicio, nicht bei Verstand, sei. Allein an diesem Sachverhalt ist die Komplexität der Reflexionen des Cervantes auf geschichts- und rechtstheoretische Problemlagen zu erahnen: Ist nämlich einerseits die Referenz Don Quijotes auf den Ritterstand und dessen historische Bedeutung von Beginn an als psychische Devianz gekennzeichnet, weil dieser ‚Stand‘ historisch überlebt war und als solcher zu gelten hatte, so erweist sich seine Berufung auf das Naturrecht als Quelle für die normative Geltung seiner Privilegien als zeitgenössisch ausnehmend aktuell: Es ist die Rechtslehre seines Altersgenossen Francisco Suárez, die nicht allein entscheidende Grundlegungen für ein neuzeitliches Naturrecht lieferte,28 sondern auch eine der bedeutendsten rechtsphilosophischen Konzeptionen des Privilegs vorlegte.29 Dabei gilt das Naturrecht nach Suárez als eine mit der Schöpfung gleichursprünglich geschaffene und damit bis zum jüngsten Tag wirksame Gesetzestafel, die mithin nicht überzeitliche, wohl aber transhistorische Geltung beansprucht. Die lex naturalis hat somit gleichsam den Status einer lex divina: „Ex dictis ergo concludo et dico tertio legem naturalem esse veram ac propriam legem divinam, cuius legislator est Deus.“30 Don
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Cervantes: Don Quijote de la Mancha (wie Anm. 1), S. 132 / Der geistvolle Hidalgo (wie Anm. 1), Bd. I, S. 100: Weil „das Naturrecht einen jeden auf Erden verpflichte[t], den fahrenden Rittern Gunst zu erweisen“. Vgl. hierzu u.a. Pauline C. Westerman: The Desintegration of Natural Law. Aquinas to Finnis. Leiden/New York/Köln 1997, S. 105-128; Erik Åkerlund: Suárez’s Ideas on Natural Law in the Light of His Philosophical Anthropology and Moral Psychology. In: Virpi Mäkinen (Hg.): The Nature of Rights: Moral and Political Aspects of Rights in Late Medieval and Early Modern Philosophy. Helsinki 2010, S. 165-196. Vgl. hierzu Merio Scattola: Das Privileg des Gesetzes – Francisco Suárez und die alte Lehre des Vorrechts. In: Bach u.a. (Hgg.): „Auctoritas omnium legum“ (wie Anm. 18), S. 333-368. Francisco Suárez: De legibus ac Deo legislatore. Edición critica bilingüe. Ed. par Luciano Pereña, Pedro Súñer, Vidal Abril, César Villanueva y. Eleuterio Elorduy, 8 Bde., Madrid 1971-2010, hier Bd. II, S. 95 [II. 6. 13]; „Aus dem Gesagten ziehe ich den Schluss und stelle die dritte These auf, dass es sich beim Naturgesetz um ein wahres und im eigentlichen Sinn göttliches Gesetz handelt,
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Quijotes Berufung auf das Naturrecht zeigt mithin nicht nur seine Gelehrsamkeit in den aktuellen Debatten der Salmantiner Rechtslehre, sondern auch den enormen Geltungsstatus sowie den durchaus neuzeitlichen Rechtsanspruch, den er seinen Privilegien als fahrender Ritter beimisst. Zugleich eröffnet ein Blick in die umfassende Lehre vom Privileg, die Francisco Suárez vorlegte, dass Cervantes auch eine subtile Kritik an beiden Feldern dieser Rechtslehre entwickelte. Denn für Suárez ist das in seiner rechtspraktischen Notwendigkeit unhinterfragte Privilegium keineswegs im Naturrecht verankert, sondern vielmehr in der historisch veränderbaren lex humana: „His positis, privilegium definiri potest, ut sit privata lex aliquid specialem concedens.”31 In der Abweichung von diesem suárezischen Modell scheint Cervantes’ Interesse an einer poetischen Reflexion auf das Verhältnis von allgemeinem Naturrecht und besonderem Privileg zu liegen; denn es gehört zu den großen Leistungen der Rechtslehre des Francisco Suárez, dass er die schon bei Thomas von Aquin entwickelten leges-Arten systematisierte und im Hinblick auf eine streng theonome Auslegung der Rechts interpretierte.32 Die besonderen Arten des lex in commune differenzieren sich nämlich in lex aeterna, lex divina, lex naturalis und lex humana aus.33 Dabei ist nach Suárez ausschließlich die lex humana der historischen Veränderbarkeit unterworfen, weil sie zwar in ihrer Obligationsmacht mittelbar von der göttlichen Instanz dependiert, in ihren Inhalten jedoch ausschließlich vom Menschen gemacht wird. Wenn sich Don Quijote im Hinblick auf die Geltung der Privilegien des fahrenden Ritters auf das Naturrecht bezieht, dann weicht er nicht nur signifikant von Suárez als einem der bedeutenden zeitgenössischen Theoretiker des Naturrechts und des Privilegiums ab, er dokumentiert damit schon zu Beginn des großen Zeitalters des Naturrechts34 dessen politische Instrumentalisierbarkeit. Denn als Naturrecht wäre das Privilegium sowohl in formaler als auch in materialer Hinsicht gottgewollt und insofern unveränderbar; der rechtliche Sonderstatus des (Raub-)Ritters erhielte damit aufgrund der Bindung des Naturrechts an den Schöpfungsgedanken gleichsam theonome Legitimität. Suárez hat zu diesen Gefahren pragmatisch Abstand gehalten, indem er das Privi-
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dessen Gesetzgeber Gott ist.“ Die Übersetzung der Bücher I und II erfolgt nach Francisco Suárez: Abhandlung über die Gesetze und Gott den Gesetzgeber. Übers., hg. u. mit einem Anhang vers. von Norbert Brieskorn. Freiburg 2002, hier S. 440. Francisco Suárez: Tractatus de legibus ac Deo legislatore in decem libros distributus. Operum tomus quintus. Venetiis 1740, S. 452b [DL VIII. 1. 3]: „Nach diesen Voraussetzungen kann man das Privileg als ein privates Gesetz definieren, das etwas Besonderes einräumt.“ (Übers. G. S.). Vgl. hierzu u.a. Gideon Stiening: Der hohe Rang der Theologie? Theologie und praktische Metaphysik bei Suárez. In: Bach u.a. (Hgg.): Auctoritas omnium legum (wie Anm. 18), S. 97-133. Vgl. hierzu die analytische Darstellung bei Norbert Brieskorn: Lex Aeterna. Zu Francisco Suárez’ Tractatus de legibus ac Deo legislatore. In: Grunert/Seelemann (Hgg.): Die Ordnung der Praxis (wie Anm. 5), S. 49-73. Vgl. hierzu Merio Scattola: Das Naturrecht vor dem Naturrecht. Zur Geschichte des „ius naturae“ im 16. Jahrhundert. Tübingen 1999.
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legium zur lex humana erklärte; Cervantes zeigt dagegen, wie sich durch eine scheinbar marginale Modifikation, die Berufung auf das Naturrecht, der Missbrauch politischer Theorie vollzieht.
3. Freiheit und Herrschaft Vor diesem Hintergrund erscheint Don Quijotes Entschluss zur Befreiung der Gefangenen nur auf den ersten Blick komisch, weil die Sachlage deutlich komplexer ist: Der Ritter referiert nämlich bei seinen legitimierenden Überlegungen auf eine philosophische Problemlage, die im Rahmen der Rechts- und Strafrechtstheorie der Spanischen Spätscholastik, insbesondere derjenigen Variante seines Altersgenossen Francisco Suárez, ein wesentlicher Ausgangspunkt für dessen rechtslogische Deduktionen darstellte: die Distinktion zwischen Zwang und Freiheit.35 Hatte er schon in seiner Antwort gegenüber Sancho auf den Mangel an freiem Willen der Sträflinge hingewiesen, so hält der Ritter kurz vor der Lösung der Ketten noch einmal mit Nachdruck fest, „porque me parece duro caso hacer esclavos a los que Dios y naturaleza hizo libres“.36 Damit gibt er den entscheidenden Grund für seine Befreiung der Gefangenen an – die natürliche und geschöpfliche Freiheit des Menschen –, der aufgrund seiner begründungstheoretischen Allgemeinheit im Bezug auf Gott und die Natur deutlich auf Francisco Suárez verweist. Der Conimbricenser Theologe und Philosoph hatte nämlich schon 1597 in seinen Disputationes metaphysicae, dem metaphysischen Standardwerk auf den europäischen Universitäten des 17. Jahrhunderts,37 die komplexe Relation von Freiheit und Notwendigkeit systematisch analysiert und war in diesem Zusammenhang zu dem wohlbegründeten Schluss gekommen: Dico ergo primo, evidens esse naturali ratione et ipso rerum experimento hominem in multis actibus suis non ferri ex necessitate, sed ex voluntate sua et libertate.38
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Vgl. hierzu Diego de Covarrubias: De iustuitia belli adversos Indos. / Über die Gerechtigkeit des Krieges gegen die Indianer. In: Kann Krieg erlaubt sein? Eine Quellensammlung zur politischen Ethik der Spanischen Spätscholastik. Hg. von Heinz Justenhoven und Joachim Stüben. Stuttgart 2006, S. 174-211, spez. S. 178/179: „Est sane praemittendum omnes homines natura liberos esse, non servos. / Man muß in der Tat vorausschicken, daß alle Menschen von Natur aus Freie und keine Sklaven sind.“ Cervantes: Don Quijote de la Mancha (wie Anm. 1), S. 267 / Der geistvolle Hidalgo (wie Anm. 1), Bd. I, S. 218: „,mir jedoch erscheint es grausam, wenn man die zu Sklaven macht, die Gott und die Natur frei schuf“. Vgl. Kurt Eschweiler: Die Philosophie der spanischen Spätscholastik auf den Universitäten des 17. Jahrhunderts. In: Spanische Forschungen der Görres-Gesellschaft 1 (1928), S. 251-335. Francisco Suárez: Disputationes metaphysicae. 2 Bde. Paris 1866 [ND Hildesheim 2009]; XIX. 2. 12: „Ich sage also erstens, dass es sowohl aus natürlichen Gründen als auch aus der Erfahrung der
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Im Unterschied also zu Vitoria oder Covarrubias setzt Suárez den Begriff der Freiheit (des Willens und der Handlungen) nicht einfach voraus, sondern er begründet dessen intensionale und extensionale Geltung ausführlich. In seiner rechtstheoretischen Summe, De legibus ac Deo legislatore, erscheint diese metaphysische Erkenntnis in ihrer rechtslogischen Funktion und lautet im systematischen Zentrum wie folgt: Itaque quaestio est an homines, ex sola rei natura loquendo possint imperare hominibus per proprias leges eos obligando. Ratio autem dubitandi esse potest, quia homo natura sua liber est et nulli subiectus nisi creatori tantum. Ergo principatus humanus contra naturae ordinem est et tyrannidem includit.39
Suárez arbeitet präzise heraus, dass eine anthropologisch fundierte, unbegrenzt äußere Freiheit des Menschen nicht ohne weiteres eingeschränkt werden darf und dass damit das Legitimitätsproblem politischer Herrschaft über den Menschen allererst entsteht.40 Das klingt zwar schon ein bisschen nach Rousseau („L’homme est né libre, et par-tout il est dans les fers“41), ist jedoch noch weit davon entfernt, weil Suárez – wie Don Quijote – auf den Grundlagen einer theologischen Anthropologie argumentiert. Suárez löst das sachliche Problem einer legitimen Herrschaft des Menschen über den freien Menschen, indem er zwei Gründe für deren Notwendigkeit anführt: Ratio sumenda est ex Philosopho eamque explicit divus Thomas et elegantissime divus Chrysostomus nititurque duobus principiis. Primum est hominem esse animal sociale et naturaliter recteque appetere in communitate vivere. […] Secundum principium est in communitate perfecta necessariam esse potestatem ad quam spectet gubernatio communitatis, quod etiam ex terminis videtur per se notum. Nam, ut ait sapiens: ‚Ubi non est gubernator, corruet populus.‘ Natura autem non deficit in necessariis. Ergo sicut communitas perfecta est rationi et naturali
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Dinge evident ist, dass der Mensch viele seiner Handlungen nicht aus Notwendigkeit, sondern aus einem eigenen Willen und aus Freiheit begeht.“ Suárez: De legibus (wie Anm. 30), Bd. V, S. 6 (DL III. 1. 1) „Daher lautet unsere Frage, ob Menschen, allein unter Rücksicht der Eigenart der menschlichen Beziehungen, anderen Menschen befehlen dürfen, und zwar indem sie ihnen durch von ihnen selbst angefertigte Gesetze eine Verpflichtung auferlegen. Zweifel daran können aufkommen, weil der Mensch von seiner Natur aus frei und niemandem außer seinem Schöpfer allein unterworfen ist. Also widerspricht doch eine Vorherrschaft von Menschen über Menschen der Ordnung der Natur und trägt tyrannische Züge.“ Hier und im Folgenden sind die Übersetzungen aus DL III von mir. Zu Recht weist Ernst-Wolfgang Böckenförde mit Bezug auf Defensio fidei darauf hin, dass diese Freiheit für Suárez zwar angeboren und damit für alle praktischen Fragen zu berücksichtigen ist, nicht aber als unveräußerlich bestimmt wird (vgl. auch DL III. 3. 7), womit die Grenze zu neuzeitlichen Freiheitsbestimmungen präzise markiert wird. Vgl. Böckenförde: Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie (wie Anm. 5), S. 386. Jean-Jacques Rousseau: Du contrat social / Vom Gesellschaftsvertrag. Französisch/Deutsch. In Zusammenarbeit mit Eva Pietzcker übersetzt und hg. von Hans Brockard. Stuttgart 2010, S. 8.
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iuri consentanea, ita et potestas gubernandi illam, sine qua esset summa confusio in tali communitate.42
Der Mensch ist also durch Geburt nicht nur frei, sondern in seiner anthropologischen Grundausstattung ebenso auf ein Leben in der Gemeinschaft bezogen,43 die selbst notwendig, nämlich gemäß dem Naturrecht so organisiert ist, dass ihr eine mit Zwangsgewalt ausgestattete oberste Herrschaftsinstanz zukommt.44 Der Mensch ist nach Suárez durch diese beiden Eigenschaften ausgezeichnet, durch seine uneingeschränkte Freiheit und seinen Drang zur Vergemeinschaftung, seinen appetitus societatis, in einer vollkommenen, d. h. politischen Gemeinschaft zu leben.45 Diese doppelte anthropologische Ausstattung – und ihre tendenziell antinomische Relation46 – wird in ihrer Verursachung von Suárez nicht eigens reflektiert; klar ist jedoch, dass es nicht allein des Menschen Vernunft ist, die ihn „subjektiv [nötigt], eine Zwangsgewalt zu wollen“, wie dies für die Tradition der politischen Theorie seit Platon und Aristoteles – vor allem für Cicero – galt,47 sondern dass der freie Wille des Menschen beides wollen muss: Freiheit und Herrschaft.
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Suarez: De legibus (wie Anm. 30), Bd. V, S. 8-10 [DL III. 1. 3 u. 4]: „Dieser Grund stützt sich auf zwei Prinzipien. Das erste lautet, der Mensch sei ein gesellschaftliches Wesen und strebe von Natur aus und um seiner Wesenheit willen danach, in Gemeinschaft zu leben. […] Der zweite Grundsatz besagt, dass in einer vollkommenen, also politischen Gemeinschaft eine politische Gewalt nötig ist, welcher die Lenkung der Gemeinschaft zusteht. Das geht aus den Begriffen bereits deutlich hervor; denn, wie der Weise sagt: »Wo kein Lenker ist, verdirbt das Volk«. Die Natur lässt es aber am Notwendigen nicht fehlen. Wie also die vollkommene Gemeinschaft von der Vernunft und dem Naturrecht her berechtigt ist, so ist es auch die Gewalt, die Gemeinschaft zu lenken, denn ohne sie würde innerhalb der Gemeinschaft die höchste Verwirrung herrschen.“ Vgl. hierzu auch Heinrich Rommen: Die Staatslehre des Franz Suárez SJ. Mönchengladbach 1926, S. 96ff. Vgl. Suárez: De legibus (wie Anm. 30), Bd. V, S. 16 [DL III. 1. 11]: „Immo est consentaneum rationi naturali, ut humana respublica habeat aliquem cui subiciatur, quamvis ipsum naturale ius per se non effecerit subiectionem politicam sine interventu humanae voluntatis […].“ / „Es entspricht der natürlichen Vernunft, dass es in der politischen Gesellschaft jemanden gibt, dem sie sich unterstellt, auch wenn das Naturrecht von sich aus nicht unmittelbar die politische Unterwerfung bewirkt hat, es zu ihr vielmehr des Eingriffs menschlichen Willens bedarf. […].“ Zur spezifisch neuzeitlichen Variante des aristotelischen Arguments vom animal sociale vgl. Gideon Stiening: Appetitus Societatis. Anthropologische Grundlagen der Naturrechtslehre des Hugo Grotius. In: Dieter Hüning (Hg.): Die Naturrechtslehre des Hugo Grotius. Berlin 2013, [i.D.]. Sichtbar liegt mit der gleichursprünglichen und gleichwirksamen Parallelität von Freiheit und Vergemeinschaftung eine – unausgegorene – Vorform der ‚ungeselligen Geselligkeit‘ Kants vor; Suárez reflektiert allerdings auf die tendenzielle Gegensätzlichkeit dieser beiden anthropologischen Konstanten nicht. So zutreffend und anschaulich Julius Ebbinghaus: Die Idee des Rechtes. In: ders.: Gesammelte Werke. Hg. von Georg Geismann und Hariolf Oberer. Bonn 1988, Bd. 2, S. 141-198, hier S. 146.
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Dass diese beiden praktischen Postulate aber nur schwer zusammenstimmen wollen, wenn das Recht nicht – wie erst bei Hobbes – als Realisation, sondern als Begrenzung der Freiheit interpretiert wird,48 reflektiert der Don Quijote deutlich: der substanziell freie Mensch verunmöglicht an sich zwangsgewaltbewehrte Herrschaft der Menschen gegeneinander; die Ketten der Gefangenen sind mithin das Symbol des internen Widerspruchs zwischen einer anthropologisch begründeten äußeren Freiheit und der ebenso in der Natur des Menschen angelegt sein sollenden Zwangsgewalt des Gemeinwesens; Don Quijote hat diesen Widerspruch nicht erkannt, wohl aber offenkundig sein Autor, denn er lässt seinen Protagonisten sich nur auf dessen eine Seite, die Freiheit, schlagen. Dabei löst Cervantes zugleich einen weiteren Widerspruch der politischen Theologie des Suárez: War nämlich für den Theologen die Gleichursprünglichkeit von Freiheit und Herrschaft durch die Gottes- als Schöpfungsinstanz garantiert, was deren widersprüchliche Korrelation in diese Instanz verlängerte, obwohl Suárez immer wieder betonte, dass Gott sich nicht selber widersprechen könne,49 so löst Cervantes diese nicht nur wissenschaftstheoretische, sondern theologische Problemlage, indem er die Gottesinstanz nur als Garantin der Freiheit aufführt, die Zwangsgewalt aber als menschliche Verfehlung interpretiert, welcher der Ritter Einhalt zu gebieten habe. Nur en passant sei erwähnt, dass sich Cervantes auf genau die oben zitierten Theoriebestände mit großer Wahrscheinlichkeit bezieht, weil es vor allem Francisco Suárez ist, der in vorsichtiger Distanzierung von Thomas von Aquin und dem diesem noch stärker verpflichteten Vitoria die Freiheit insbesondere mit der Willensinstanz verbindet,50 der eine relative Eigenständigkeit gegen die Vernunft eingeräumt wird und damit jenem Voluntarismus das Wort redet, den auch Don Quijote vertritt, wenn er sich auf den freien Willen, „voluntad“, der Sträflinge bezieht.51 Damit aber liegt der komische Konflikt nicht in der Kollision zwischen einem älteren, vormodernen Ethikverständnis bzw. einem christlichen Naturrechtsverständnis einerseits und einer neuzeitlichen Rechtsordnung andererseits, sondern vielmehr wird unter dem Deckmantel dieser Kollision zwischen Alt und Neu der interne Widerspruch eines zugleich neuzeitlichen und theologischen Rechts- und Herrschaftsverständnisses
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Vgl. hierzu u. a. Dieter Hüning: Freiheit und Herrschaft in der Rechtsphilosophie des Thomas Hobbes. Berlin 1998. Vgl. u. a. Suárez: De legibus (wie Anm. 30) Bd, III, S. 21 [DL II. 2. 7]: „Respondeo Deum non posse facere contra suum decretum, non propter prohibitionem quam decretum inducat sed propter repugnantiam ipsius rei.“ / „Darauf antworte ich, Gott kann seinem eigenen Beschluss nicht entgegenhandeln, doch nicht wegen des Verbotes, welches der Beschluss mit sich führt, sondern wegen des Widerspruchs in der Sache selbst.“ (Brieskorn: Übersetzung [wie Anm. 30], S. 363). Vgl. hierzu u.a. Tilmann Altwicker: Gesetz und Verpflichtung in Suárez’ De Legibus. In: Manfred Walther/Norbert Brieskorn/Kay Waechter (Hgg.): Transformation des Gesetzesbegriffs im Übergang zur Moderne? Von Thomas von Aquin zu Francisco Suárez. Stuttgart 2008, S. 125-133. Vgl. erneut Cervantes: Don Quijote de la Mancha (wie Anm. 1), S. 258 / Der geistvolle Hidalgo (wie Anm. 1), Bd. I, S. 210.
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freigelegt.52 Indem sich Don Quijote nur auf die eine Seite der politisch-anthropologischen Maximen der neuen Rechtstheorie bezieht, löst er die tendenzielle Antinomie zwischen Freiheit und Herrschaftszwang auf, die Suárez mehr verdeckte als bewältigte. Das führt jedoch zu dem devianten und damit strafrechtlich relevanten Verhalten, die rechtmäßig Verurteilten von ihren Ketten zu befreien. Dass diese Befreiung jedoch zu einer neuen Kollision führt, bedarf einer weiteren Verschärfung der Problemlage. Bevor jedoch zu jenem Steinhagel und den Gründen für sein Auftreten zurückzukommen ist, muss zunächst der weitere Verlauf der Episode rekonstruiert werden, weil an ihm erneut deutlich wird, dass in diesem Kapitel tatsächlich Grundsatzfragen der politischen Theologie bzw. Philosophie des frühen 17. Jahrhunderts reflektiert werden.
4. Strafe zwischen Staatsraison und Rechtszwecken Bevor nämlich Don Quijote die Gefangenen befreit, lässt er sich zuvor von jedem einzelnen die Gründe für seine Verhaftung erläutern und es wird bei allen komischen Verzerrungen in den Darstellungen der Gefangenen, die sich ihrer Verwendung der Gaunersprache verdanken,53 deutlich, dass sie im Rahmen der gültigen Rechtsordnungen vollkommen zu Recht verurteilt wurden. So meint der erste Befragte, er sei aus Liebe zum Verbrecher geworden, wobei sich herausstellt, dass es die Liebe zu einem gestohlenen Gegenstand war. Der zweite hat unter der Folter, dem Zwangssaufen („el ansia“),54 ein Geständnis abgelegt, was innerhalb der zeitgenössisch geltenden Rechtsordnung eine adäquate Verurteilung darstellt und im Text keineswegs aufgrund dieser Verhörpraxis einer Kritik verfällt. Besonders auffällig, weil ausführlich und grundsätzlich reagiert Don Quijote auf den Bericht eines Kupplers, der zudem der Hexerei beschuldigt wird; auf diesen Bericht repliziert der Ritter mit allgemeinen Überlegungen nun wie folgt: Por solamente el alcahuete limpio, no merecía él ir a bogar en las galeras, sino a mandallas y a ser general dellas; porque no es así como quiera el oficio de alcahuete, que es oficio de discretos y necesarísimo en la república bien ordenada, y que no le debía ejercer sino gente muy bien nacida.55
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Vgl. hierzu auch Heinz-Peter Endress: Don Quijotes Ideale im Umbruch vom Mittelalter zum Barock. Tübingen 1991. Vgl. hierzu die Hinweise bei Teuber: Der naturrechtliche Diskurs (wie Anm. 14), S. 377f. Cervantes: Don Quijote de la Mancha (wie Anm. 1), S. 259. Cervantes: Don Quijote de la Mancha (wie Anm. 1), S. 261f. / Der geistvolle Hidalgo (wie Anm. 1), Bd. I, S. 213: „Als redlicher Kuppler allein hätte er es nicht verdient, auf den Galeeren zu rudern, im Gegenteil, zum Befehlshaber, zum General hätte er ernannt werden müssen. Denn der Beruf des Kupplers ist kein Allerweltsberuf, sondern einer für helle Köpfe und zudem ganz uner-
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Unverkennbar arbeitet diese Passage mit der vordergründigen Komik der Verbindung des scheinbar Unvereinbaren aller heterogenen Fügungen: der hohen Herkunft und der guten Veranlagung der Organisatoren mit dem moralisch und theologisch tabuisierten Geschäft der Prostitution. Und doch steht im Hintergrund dieser Thesen erneut eine grundlagentheoretische Problemlage der politischen Theologie der Zeit, die jene komische Devianz in anderem Licht erscheinen lässt: Denn es ist Francisco de Vitoria, der in seiner berühmten Relectio de Indis an ebenjenem Beispiel der an sich verbotenen Prostitution die folgende Überlegung anstellt: Unde quamvis rex habeat auctoritatem condendi legem, quod meretrices et scorta non maneant in civitatibus, tamen quia non expedit – nam illa posita omnia turbarentur libidinibus –, ideo male faceret, qui talem legem poneret.56
Auf das für Vitoria im Zusammenhang seiner Vorlesung relevante Konversionsproblem der Indianer in der neuen Welt angewandt, bedeutet dieses Argument, dass jeder christliche Herrscher in der neuen Welt zwar das Recht hat, die Indianer zur Annahme des Glaubens zu zwingen, weil er die Pflicht mit seiner politischen Herrschaft übernommen hat, für das Wohl – und zwar das hiesige wie das jenseitige – zu sorgen; dass es aber äußerst unklug wäre, jenes Recht auch anzuwenden, weil solcherart Gewalt zu Verstellung und Heuchelei führe, mithin als falsches Mittel den anvisierten Zweck nicht nur verfehle, sondern konterkariere.57 Prinzipientheoretische Überlegungen können und müssen mithin nach Vitoria durch prudentielle Staatsraisonlehren ergänzt werden. Dass auch Don Quijote an dieser Stelle seine apriorischen Freiheitsgrundsätze durch eine aposteriorische Staatsraisonlehre ergänzt, wird spätestens deutlich, wenn es zu Beginn des 2. Bandes heißt: Y en el discurso de su plática vinieron a tratar en esto que llaman razón de estado y modos de gobierno, enmendando este abuso y condenando aquél, reformando una costumbre y desterrando otra, haciéndose cada uno de los tres un nuevo legislador, un Licurgo moderno o un Solón flamante; y de tal manera renovaron la república, que no pareció sino que la habían puesto en una fragua, y sacado otra de la que pusieron.58
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lässlich für ein geordnetes Gemeinwesen, deshalb sollten ihn auch nur Leute mit guter Veranlagung und Herkunft ausüben dürfen.“ Francisco de Vitoria: De Indis. In: ders.: Relectiones (wie Anm. 6), Bd. II, S. 371-541, hier S. 520f.: „Daher hat ein König zwar die Befugnis, das Gesetz zu schaffen, daß Huren und Dirnen nicht in seinen Stadtgemeinden bleiben dürfen, aber weil eine solche Maßnahme nicht förderlich ist – denn nach Erlaß jenes Gesetzes würde alles durch die Leidenschaften in Unordnung geraten –, würde derjenige schlecht handeln, der ein solches Gesetz erließe.“ Vgl. hierzu Gideon Stiening: Sind die ‚Indier‘ Häretiker? Francisco de Vitoria zur Konversion in der Neuen Welt. In: Wulf Oesterreicher/Roland Schmidt-Riese (Hgg.): Universos semióticos, textualidad y legitimación de saberes en la América colonial. Berlin/Boston 2013, [i.D.]. Cervantes: Don Quijote de la Mancha II (wie Anm. 1), Bd. 5, S. 654. / Der geistvolle Hidalgo (wie Anm. 1), Bd. II, S. 15f.: „Während ihres Gespräches [zwischen Don Quijote sowie Pfarrer
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Reflexionen über eine kluge Gestaltung des Gemeinwesens befördern mithin die vernünftigen Befähigungen des an sich psychopathologischen Ritters; es zeigt sich hierin Cervantes’ hohe Wertschätzung der Staatsraisonlehren, die nach Machiavelli fast ein Jahrhundert benötigen, um als legitime politische Perspektive auftreten zu können.59 Dabei kann solcherart politische Klugheit nach Vitoria und Cervantes so weit gehen, dass sie objektive Straftatbestände aufhebt, d. h. Handlungen, die gemäß geltenden positiven Gesetzen als Rechtsbruch zu bewerten und mit Strafe zu belegen sind, zu Geboten staatlichen Handelns – wenigstens aber zu Inhalten staatlicher Erlaubnis – erhebt. Ganz im Sinne Machiavellis werden damit dem Telos staatlicher Stabilität Konventionen, Moral und Recht untergeordnet. Die Freisetzung des Kupplers ist damit sowohl gemäß dem allgemeinen Prinzip der Freiheit als auch nach Maßgabe politischer Klugheit legitimiert. Für eine kontextualisierende Interpretation dieser Passage des Don Quijote ist es allerdings wichtig zu berücksichtigen, dass die gesamte Schule von Salamanca – neben ihrer Funktion im interkonfessionellen Kampfe – nichts so sehr zu widerlegen sich bemühte, wie die ganz säkulare Staatsraisonlehre in der Nachfolge Machiavellis; ausdrücklich wird dieser insbesondere von Francisco Suárez in einem Atemzug mit Luther widerlegt und dessen Regierungslehre als gottlose und politisch unangemessene Lehre zurückgewiesen.60 Politische Klugheit durfte und sollte ausschließlich als in eine allgemeine theonome Rechts-, Staats- und Regierungslehre eingebunden positiv vertreten werden. Deshalb verfielen Vitorias Ausführungen zu einer klugen Prostitutionspolitik, wie seine gesamte Relectio de Indis, einer nachdrücklichen Kritik.61 Tatsächlich kann man diese Thesen auch nur als unabgeleitete und der uneingeschränkten Geltung der Heiligen Schrift zuwiderlaufende Überlegungen bezeichnen. So sehr die Spanische Spätscholastik den Machiavellismus bekämpfte und nach ihren Prämissen bekämpfen musste, so sehr scheinen ihre Vertreter dessen Lockungen bisweilen erlegen zu sein.
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und Barbier] ging es auch um die sogenannte Staatsräson und die verschiedenen Regierungsformen, und so halfen sie mal diesem Übelstand ab, mal verdammten sie jenen, besserten hier einen Brauch, verbannten dort einen andern, und jeder der drei schwang sich zu einem Gesetzgeber auf, zu einem zweiten Lykurg oder einem neuen Solon, und so sehr bearbeiteten sie das Gemeinwesen, dass man hätte meinen können, sie hätten es ins Schmiedefeuer geworfen und ein anderes herausgezogen. Don Quijote redete so vernünftig über alles, was sie erörterten, dass die beiden Kundschafter keinerlei Zweifel hatten und ihn für gänzlich genesen und bei vollem Verstande hielten.“ Zum breiten Kontext der anti-machiavellistischen Staatstheorie noch des 17. Jahrhunderts vgl. Michael Stolleis: Machiavellismus und Staatsräson. Ein Beitrag zu Conrings politischem Denken. In: ders.: Staat und Staatsräson in der frühen Neuzeit. Studien zur Geschichte des öffentlichen Rechts. Frankfurt a.M. 1990, S. 73-105 sowie Otfried Höffe: Zu Machiavellis Wirkung. In: ders. (Hg.): Niccolò Machiavelli: Der Fürst. Berlin 2012, S. 179-199. Vgl. hierzu Suárez: De legibus (wie Anm. 30), Bd. V, S. 161ff. [DL III. 12. 2ff.] Vgl. hierzu u.a. Horst: Vitoria (wie Anm. 6), S. 96ff.
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Don Quijote allerdings kann solche politische Klugheitslehre sehr wohl mit seinen prinzipientheoretischen Ausführungen zur Freiheit des Menschen verbinden, weil er neben diesem anthropologischen Argument eine Theorie der Rechts- und Staatszwecke ausführt, die in der Aufnahme aristotelischer Vorstellungen die weitgehend säkulare Kontur dieser politischen Theorie verstärkt. Hatten nämlich Vitoria und Suárez in der Tradition des Thomas von Aquin das Gemeinwohl zum Staatszweck und damit zur Zweckursache der Gesetze erklärt, dieses bonum commune jedoch mit der ewigen Seligkeit identifiziert,62 so lässt Cervantes seinen Protagonisten auf die aristotelische Bestimmung der iustitia distributiva als eigentliches Telos der Gesetze zurückgreifen; in expliziter Abgrenzung von der Theologie und deren Gegenständen, den leges divinae, führt Don Quijote in I, 37 aus: Es el fin y paradero de las letras…, y no hablo ahora de las divinas, que tienen por blanco llevar y encaminar las almas al cielo, que a un fin tan sin fin como éste ninguno otro se le puede igualar; hablo de las letras humanas, que es su fin poner en su punto la justicia distributiva y dar a cada uno lo que es suyo, entender y hacer que las buenas leyes se guarden.63
Gesetze garantieren nach Don Quijote mithin die Verteilungsgerechtigkeit und damit das Prinzip des suum cuique tribuere; sie erfüllen insofern eine ausschließlich säkulare Funktion. Nicht nur die konsequente Berücksichtigung der Freiheit des Menschen, sondern auch diese ganz säkulare Bestimmung der Rechtszwecke ermöglichen es Don Quijote daher, seine politische Prinzipienlehre mit den Erfordernissen einer Klugheitslehre widerspruchsfrei zu verbinden und damit gar Machiavellis rein herrschaftstechnischen Ausführungen eine Begründungstheorie zu verschaffen. Zielen die Zwecke der Gesetze auf distributive Gerechtigkeit, dann sind sie auf diese ihre Zwecke und deren Bedingungen hin zu formulieren; ist die Stabilität des Gemeinwesens und damit die Erfüllung der Rechtszwecke durch eine Legalisierung der Prostitution und ihrer Organisation zu gewährleisten, so stehen dem weder soziale noch religiöse Normen entgegen – so die Argumentation im Don Quijote.
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Vgl. hierzu Suárez: De legibus (wie Anm. 30), Bd. I, S. 131 [DL I. 7. 3]: „Quia leges divinae praesertim referuntur ad felicitatem aeternam, quae secundum se commune bonum est per se et propter se intenta etiam sine ordine ad aliam comunitatem. / Die göttlichen Gesetze [beziehen] sich vornehmlich auf die ewige Seeligkeit […], welche für sich genommen das Gemeinwohl ist und in einem jeden Individuum mit ihrer Kraft und rein um ihrer selbst willen angestrebt wird“. (Brieskorn: Übersetzung [wie Amn. 30], S. 154; Herv. G. S.). Cervantes: Don Quijote de la Mancha (wie Anm. 1), S. 476 / Der geistvolle Hidalgo (wie Anm. 1), Bd. I, S. 430: „Zweck und Ziel der Wissenschaften (und ich meine hier nicht die, welche sich mit dem göttlichen Recht befasst und die Seelen dem Himmel entgegen führen will, ein Ziel, das im Unendlichen liegt, dem sich nichts je vergleichen kann; nein, ich meine die, welche sich mit dem menschlichen Recht befasst und deren Ziel es ist, die verteilende Gerechtigkeit zu lenken und jedem das Seine zu geben), ihr Ziel ist also, ersichtlich zu machen und zu bewirken, dass die rechten Gesetze eingehalten werden.“
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Natürlich ist es immer komisch, wenn es um die angebliche ‚Vernünftigkeit der Prostitution‘ und damit die Straffreiheit ihrer Organisatoren gehen soll, aber in der Form, die Cervantes dieser Debatte gibt, zeigt sich eine hochkomplexe Problemlage, die den Schein von Devianz schnell abzulegen vermag, um die letztlich theologischen Kollisionspunkte jener politischen Theologie der Schule von Salamanca freizulegen.
5. „Donosa majadería“64 – Strafrechtstheorie bei Cervantes und Suárez Nachdem Don Quijote sich also jede einzelne der (Lügen-)Geschichten der Gefangenen angehört hat, kommt er zu der Schlussfolgerung, dass alle Delinquenten in Freiheit zu setzen seien; dies wird von ihm folgendermaßen begründet: De todo cuanto me habéis dicho, hermanos carísimos, he sacado en limpio que, aunque os han castigado por vuestras culpas, las penas que vais a padecer no os dan mucho gusto y que vais a ellas muy de mala gana y muy contra vuestra voluntad. […] Pero, porque sé que una de las partes de la prudencia es que lo que se puede hacer por bien no se haga por mal, quiero rogar a estos señores guardianes y comisario sean servidos de desataros y dejaros ir en paz, que no faltarán otros que sirvan al rey en mejores ocasiones; porque me parece duro caso hacer esclavos a los que Dios y naturaleza hizo libres. Cuanto más, señores guardas –añadió don Quijote–, que estos pobres no han cometido nada contra vosotros. Allá se lo haya cada uno con su pecado. 65
Mit dieser strengen Individualisierung der Strafe durch Überführung in ein ausschließlich religiöses Sündenbewusstsein wird allerdings jede allgemeine Strafrechtstheorie verunmöglicht; der Mensch ist von Natur und durch Gottes Schöpfung frei und darf durch den Menschen nicht in dieser Freiheit eingeschränkt werden. Es ist ausschließlich Aufgabe der Gottesinstanz, die als Sünde interpretierten Rechtsvergehen zu bestrafen und so liefert noch diese religiöse Strafrechtstheorie ein Argument für die Befreiung der Gefangenen. Bemerkenswerterweise konvergieren gerade in diesem Zusammenhang der Straftheorie Don Quijotes Ausführungen mit denen der Spanischen Spätscholastik. Denn auch
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Cervantes: Don Quijote de la Mancha (wie Anm. 1), S. 267 / Der geistvolle Hidalgo (wie Anm. 1), Bd. I, S. 218: „Welch hirnwütiger Blödsinn“. Cervantes: Don Quijote de la Mancha (wie Anm. 1), S. 267 / Der geistvolle Hidalgo (wie Anm. 1), Bd. I, S. 217f.: „Aus all dem, was ihr mir berichtet habt, teure Brüder, schließe ich, dass man euch zwar um euer Fehler willen straft, doch ist die Buße, die euch erwartet, nicht nach eurem Sinn und ihr zieht ihr höchst ungern und widerwillig entgegen. […] Aber da ich weiß, dass es den Klugen eigen ist, niemals im Bösen zu tun, was man im Guten klären kann, möchte ich nun die Herrn Wächter und den Herrn Kommissarius bitten, sie mögen so gut sein, Euch loszuketten und in Frieden ziehen zu lassen, andere werden gewiss bei besserer Gelegenheit dem König dienen können, mir jedoch scheint es grausam, wenn man die zu Sklaven macht, die Gott und die Natur frei schuf. Umso mehr ihr Herren Wächter […] als die armen Leute hier nichts gegen euch verbrochen haben. Jeder trage an den eigenen Sünden.“ [Herv. G. S.].
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Francisco Suárez hatte erhebliche Probleme, eine eigenständige und tragfähige Strafund Strafrechtstheorie zu entwickeln. Weil die eigentliche Instanz des Schuldbewusstseins das Gewissen ist, das als göttliche Instanz im Menschen den Tatbestand der Strafwürdigkeit und das Strafmaß bemisst, kann die Strafrechtstheorie in einem weitgehend pragmatischen Status verbleiben.66 Daher ist sich Suárez über eines völlig im Klaren: Die eigentliche Schuld ist die Sünde vor Gott und es ist eben nur sie, die eine disziplinierende Funktion ausüben kann. Auf diese Tendenzen der substanziellen Unterminierung jeder weltlichen Strafrechtstheorie durch religiöses Sündenbewusstsein weist Cervantes an dieser Stelle mit drastischen Mitteln hin; der Ausruf des Kommissars: „Donosa majadería“67 gilt sowohl für Don Quijotes als auch für Suárez’ theonome Strafrechtstheorie. Dass allerdings die Gefangenen, obwohl Don Quijote ihre Befreiung an dieser Stelle prinzipientheoretisch begründet, ihn für wahnsinnig halten, hat weniger mit der systematisch und pragmatisch fragilen Straftheorie zu tun als vielmehr mit der begrenzten Reflexionsfähigkeit des gesunden Menschenverstandes, dem das je Gegebene als Unhinterfragbares gilt. Des Ritters Versuch der Legitimierung seines Rechtsbruchs durch die Einbindung der unrechtmäßig Befreiten in seine Werteordnung wird von ihnen mit einem Hagel Steinen beantwortet; mit der physischen Gewalt von Steinwürfen pressen sie Don Quijote in die von ihnen unreflektiert akzeptierte positive Rechtsordnung und weisen damit nicht nur seiner Tat, sondern auch deren Begründung durch Freiheitsanthropologie und Herrschaftspragmatismus den Status der Ver-Rückung, des Wahnhaften zu. Es ist die normative Kraft des Faktischen, mithin die entscheidende Maxime des common sense, die den Befreier pathologisiert.
6. Der Steinhagel der Freiheit Mehr zufällig als aufgrund einer tatsächlichen Stärke befreit Don Quijote dann die Gefangenen, erwartet für diese gute Tat jedoch im Rahmen seines tugendethischen Wertekanons eine spezifische Gegenleistung der Befreiten: De gente bien nacida es agradecer los beneficios que reciben, y uno de los pecados que más a Dios ofende es la ingratitud. Dígolo porque ya habéis visto, señores, con manifiesta experiencia, el que de mí habéis recibido; en pago del cual querría y es mi voluntad, que, cargados de esa cadena que quité de vuestros cuellos, luego os pongáis en camino y vais a la ciudad del
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Vgl. hierzu Frank Grunert: Strafe als Pflicht – Zur Strafrechtslehre von Francisco Suárez (DL V). In: Bach u.a. (Hgg.): „Auctoritas omnium legum“ (wie Anm. 18), S. 255-266. Vgl. Anm. 64.
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Toboso, y allí os presentéis ante la señora Dulcinea del Toboso y le digáis que su caballero, el de la Triste Figura, se le envía a ecomendar.68
Der Ritter verlangt mithin, dass die befreiten Gefangenen ihre Ketten freiwillig wieder aufnehmen und damit aus Freiheit auf Freiheit verzichten, um im Rahmen einer Bußeund Dankeshandlung, die keinerlei Rechtscharakter hat, Dienste innerhalb der Werteordnung des Ritters zu erfüllen. Wie für die Freiheitstheorie des Suárez,69 so zeigt sich auch an der Befreiungspraxis des Don Quijote deren letztlich vormoderne Kontur, weil die Freiheit zwar als der Natur des Menschen entstammend und damit angeboren zu gelten hat, gleichwohl nicht als unveräußerlich bestimmt wird. Erst die Aufklärung – namentlich Immanuel Kant – erkannte und begründete die Unveräußerlichkeit der menschlichen Freiheit.70 Die Figur des Don Quijote handelt dagegen bei allem Freiheitspathos gemäß einer Auffassung der voraufklärerischen Frühen Neuzeit, weil sich nach des Ritters Annahme der Mensch seiner Freiheit entledigen kann und in bestimmten Situationen (u. a. des Dankes oder der Selbsterhaltung) auch muss. Diese Auffassung aber wird mit einem Hagel Steinen belegt und die befreiten Sträflinge suchen einzeln das Weite. Ohne Bewusstsein erwehren sich die Häftlinge als Agenten des common sense mit den Mitteln der physischen Gewalt dieses vormodernen Momentes frühneuzeitlicher Freiheitskonzeption und dokumentieren so dessen Haltlosigkeit; verbleibt Don Quijote weitgehend im Reich der Vormoderne, so zeichnet sich im Handlungsgefüge des Don Quijote deren Ende ab. Denn auf seine Freiheit verzichtet der freie bzw. der befreite Mensch nicht freiwillig.
7. Romandichtung als kritische Reflexion auf politisches Wissen Im Kapitel II, 16 begegnet Don Quijote einem gelehrten Edelmann, mit dem er eine anregende Unterhaltung über die Dichtkunst führt. Diese Kunst umschreibt der Ritter in jenem Diskurs wie folgt: La poesía, señor hidalgo, a mi parecer es como una doncella tierna y de poca edad y en todo estremo hermosa, a quien tienen cuidado de enriquecer, pulir y adornar otras muchas doncel-
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Cervantes: Don Quijote de la Mancha (wie Anm. 1), S. 269 / Der geistvolle Hidalgo (wie Anm. 1), Bd. I, S. 219f.: „Den edlen Geist ziert allezeit, dass er sich für empfangene Wohltat dankbar zeigt, und eine der Sünden, die Gott am meisten kränken, ist die des Undanks. Das sage ich, Herrschaften, weil ihr am eigenen Leib von mir ein Wohl empfangen habt. Als Lohn dafür ist es mein Wunsch und Wille, dass ihr die Kette wieder aufnehmt, die ich euch vom Hals gelöst, euch damit zu der Stadt Toboso begebt, bei der werten Frau Dulcinea von Toboso vorsprecht und ihr sagt, die schicke ihr der Ritter, der ihr angehört, der von der traurigen Gestalt“. Vgl. erneut Anm. 40. Vgl. hierzu insbesondere Diethelm Klippel: Politische Freiheit und Freiheitsrechte im deutschen Naturrecht des 18. Jahrhunderts. Paderborn 1976, S. 120ff.
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las, que son todas las otras ciencias, y ella se ha de servir de todas, y todas se han de autorizar con ella.71
Im Hinblick auf das oben behandelte Thema eröffnet diese Passage den hohen Grad an Selbstreflexion des Textes, denn sie verrät das Wissen von und damit das bewusste Realisieren eines strengen Dependenzcharakters zwischen Literatur und Wissen. Weil sich – wie hier versucht – zeigen lässt, dass der Roman selbst komplexe Theorie auf ihre Kohärenz reflektiert, kann er als herausragende Realisation des vom Ritter vorgestellten, d. h. seines eigenen Dichtungsbegriffs gelten. Auch wenn die politische Theologie der Spanischen Spätscholastik durch die kritischen Reflexionen dieser Romandichtung nicht durchgehend ‚geadelt‘ wird, so lässt sich doch feststellen, dass zum Verständnis prägender Passagen des Romans ein Rückgriff auf die Wissensbestände der Schule von Salamanca unerlässlich ist. In I, 22 reflektiert Cervantes teils kritisch, teils affirmativ auf die politische Theologie der Escuela de Salamanca, wobei die subtile Komik allererst bei einer angemessenen Berücksichtigung dieser Kontexte sichtbar wird. Umgekehrt aber ermöglicht die poetische Gestaltung theoretischer Problemlagen – hier des Verhältnisses von Freiheit und Herrschaft, Naturrecht und Privilegium, Strafe und Staatraison – in einer, wenngleich fingierten, empirischen Praxis die Prüfung der Wahrheitsfähigkeit und Kohärenz jener Theorie. Als Theorie der Praxis hatte die politische Theologie der Spanischen Spätscholastik den Hiatus zwischen Theorie und Praxis im Selbstanspruch je schon hinter sich gelassen; politische Theologie – so schon Vitoria – ist als Theorie immer schon praktisch virulent, weil im genus demonstrativum handlungsanweisend.72 Diesen Anspruch der politischen Theologie setzt Cervantes einem Praxistest aus – den sie allerdings nur bedingt besteht: Nicht nur dokumentiert der Ritter die Widersprüche zwischen Freiheit und Herrschaft; auch die Annahme einer widerspruchsfreien Vermittlung von Naturrecht und Privileg oder auch Staatsraison und Strafrecht erweisen sich als brüchig. Wenn das Postulat der Praxisrelevanz philosophischer Spekulation in der politischen Theorie selbst noch begrifflich bleiben muss, so zeigt erst die Dichtung eines Cervantes, wie solcherart Praxis aussehen könnte, die polittheologisch auf den Begriff gebracht wurde, bzw. wie eine auf Praxis ausgerichtete Theorie tatsächlich praktisch wird. Dabei
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Cervantes: Don Quijote de la Mancha (wie Anm. 1), Bd. 5, S. 792f. / Der geistvolle Hidalgo (wie Anm. 1), Bd. II, S. 140: „Die Dichtung, Herr Hidalgo, ist meiner Meinung nach wie eine zarte Jungfer, noch arm an Jahren und reich an Schönheit, zu deren Zierde, Putz und Schmuck eine Vielzahl anderer Jungfern bereitstehen, das heißt, die anderen Wissenschaften, und sie muss sich ihrer aller bedienen, und alle werden erst durch sie geadelt.“ Zu diesem Verständnis des spezifisch theologischen Verhältnisses von Theorie und Praxis bei Vitoria vgl. Gideon Stiening: Nach göttlichen oder menschlichen Gesetzen? Zum Verhältnis von Theologie und Philosophie in De Indis. In: Norbert Brieskorn/Gideon Stiening (Hgg.): Francisco de Vitorias ‚De Indis‘ in interdisziplinärer Perspektive. Stuttgart-Bad Cannstatt 2011, S. 123-151, spez. S. 124f.
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geht es in solcher Dichtung nicht um eine Erhöhung der Anschaulichkeit von Theorie, sondern vielmehr um die Ermöglichung eines kritischen – wenngleich fiktiven – Praxistests der auf solche Praxis ausgerichteten politischen Theorie. Angemessen komplexe poetische Reflexionen auf Theorien der Praxis, wie diejenige Miguel de Cervantes’, ‚diskursivieren‘ jene Theorie nicht einfach, sie können sie in einer an die Empirie des sinnlich Konkreten gebundenen Reflexionsform auf ihre Kohärenz und Wirklichkeitsadäquanz prüfen, und sie tun dies mit der Wucht der Anschaulichkeit und – in diesem Falle – der Drastik eines Sarkasmus, der selbst einen Ritter von trauriger Gestalt verdrossen macht. Dabei fungiert der unverkennbare Humor, der sich am devianten Verhalten des Ritters realisiert, weniger als Funktion denn als Verhüllung der zutiefst theologiekritischen Invektiven Miguel de Cervantes’. Am Verdruss des körperlich schwer verletzten Ritters eröffnen sich aber durchaus auch die eher melancholischen Grenzen eines Humors über eine politische Theorie, deren Widersprüche sich im gewaltsamen Steinhagel manifestieren. Dass aber, wie Erich Auerbach meinte, im Don Quijote vor allem dargestellte Wirklichkeit prägend sei, die in letztlich heiterer Stimmung noch die erschütterndsten Sachverhalte vorstellt,73 ist für die hier betrachteten Passagen nur schwer zu erkennen; I, 22 des Don Quijote ist nicht zunächst und zumeist dargestellte Wirklichkeit, sondern poetisch reflektiertes Wissen. Die Auseinandersetzung mit diesem polittheologischen Wissen findet denn auch kein ‚heiteres Ende‘, sondern eine archaische Gewaltsamkeit, die selbst Esel nachdenklich stimmt.
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Vgl. hierzu Erich Auerbach: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur. Tübingen/Basel 102001, S. 319-342, spez. S. 330ff.
Theater, Literatur, Zeitschriften
Martin Disselkamp (Berlin) Magnifizenz und Luxus. Zur Ästhetisierung und Dynamisierung ethischer Kategorien in der Frühen Neuzeit
1. Fragestellungen Was die Frühe Neuzeit an bis heute sichtbaren Spuren hinterlassen hat, verdankt sich nicht zuletzt dem hohen Wert, den Zeitgenossen dem Äußeren beimaßen, den Erscheinungsweisen und Oberflächen, dem wertvollen Material und seiner effektvollen Präsentation, überhaupt dem visuell Eindrucksvollen.1 Für den Umgang mit sichtbarer Pracht, für das rechte Maß in ihrem Gebrauch und für die Beurteilung von Gelegenheit, Ort und Zeit stand ihnen das Konzept der Magnifizenz zur Verfügung. Gegenstand meiner Überlegungen sind Versuche, dieses Begriffs habhaft zu werden und den Nutzen der Großartigkeit zu bestimmen. Im Rahmen des ethischen Grundkurses wird Magnifizenz dem Exerzitium der Definition nach den aristotelischen Regeln der Kunst unterworfen2 – doch die Kategorie des Großartigen spielt ihre Rolle auch in Abhandlungen zur Politik, in Traktaten zur Fürstenerziehung, in Fest- und Architekturbeschreibungen und in Architekturtraktaten. Ein Blick auf den historischen Kontext gibt allerdings der Vermutung Nahrung, dass das Magnifizenz-Konzept sich nicht der puren Freude an Glanz und Pracht verdankt; eher waren Krisenerfahrungen sein primäres Bezugsfeld. Es scheint, dass Zusammen-
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Vgl. Lisa Jardine: Der Glanz der Renaissance. Ein Zeitalter wird entdeckt. München 1999. Vgl. z.B. Valentin Crüger: Collegium ethicum. Frankfurt 1655. Darin die Disputatio decima quarta, v. a. § IV (unpaginiert). Bloße Zusammenstellungen der Topik finden sich in den folgenden Dissertationen: Michael O. Wexionius: Collegium ethicum praecipuas quaestiones & notabiliores controversias, in generali philosophiae practicae parte occurrentes; tredecim disputationibus discußas & enodatas exhibens. In Regiâ Fennorum Universitate Aboënsi, a selectioribus quibusdam ingenijs & indefeßis virtutum sectatoribus, juvenibus studiosissimis, institutum, ductore Michaele O. Wexionio. Abo 1649 (darin: Collegii ethici disputatio VIII. De liberalitate et magnificentia, unpaginiert). Christian Liebenthal: Collegium Ethicum, in qvo de summo hominis bono, principiis actionum humanarum mente ac voluntate, item de affectibvs sev appetitibvs: Ut et de virtutibus intellectualibus et moralibus tam imperfectis, quam perfectis & perfectissimis, unà cum virtutum moralium effectis, amicitiâ videlicet & voluptate, methodicè & perspicuè tractatur. Gießen 1655 (darin: Exercitatio IX. De liberalitate et magnificentia, S. 86-90).
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hänge zwischen dem Interesse am Großartigen und der Auflösung traditioneller Verhältnisse, frühmodernen Komplexitätserscheinungen und der Suche nach angemessenen Handlungsstrategien bestehen. Als ein Indiz für die Herausforderungen, mit denen sich die Zeitgenossen auseinandersetzen mussten, bewerte ich den Umstand, dass Magnifizenz ein Nachbarschaftsverhältnis zum Luxus pflegt. Zwar – so, wie Magnifizenz ein Leitbild abgibt, steht ‚Luxus‘ als Verfallssymptom da. Dennoch kommen beide Konzepte einander so nahe, dass es nicht möglich zu sein scheint, Tugend und Laster scharf zu trennen. Als Beispiele wähle ich, zu Lasten der Systematik, vor allem, aber nicht nur die Abhandlungen über die ‚geselligen Tugenden‘, unter ihnen die magnificentia, die Giovanni Pontano (1429-1503) im Neapel des ausgehenden 15. Jahrhunderts verfasste, und den Traktat Admiranda, sive de magnitudine romana von Justus Lipsius (1547-1606), dessen Erstfassung 1598 erschien – wenn man so möchte: zu Beginn des Barockjahrhunderts. Auf Kosten der historischen Differenzierung verzichte ich für die Frühe Neuzeit darauf, Entwicklungsperspektiven zu rekonstruieren.
2. Aristotelische Wurzeln Zeitgenossen scheinen angenommen zu haben, dass Magnifizenz dazu beitragen könne, Ordnung im Meer divergierender Positionen und Interessen zu schaffen. Eine ideengeschichtliche Wurzel dieser Überzeugung liegt in dem Umstand, dass die Großartigkeit Anspruch auf die Würde einer Tugend erhob. Ein Blick in Aristoteles’ Nikomachische Ethik, auf die sich spätere Autoren immer wieder berufen, ist hilfreich, wenn es gilt, Grundlagen des Begriffs zu erläutern und einen Vergleichspunkt für frühneuzeitliche Verhältnisse zu gewinnen. Unter dem Stichwort der magnificentia – der ������������� (megaloprépeia) – umreißt die Nikomachische Ethik eine moralische Norm, die bis zum Ausgang der Frühen Neuzeit die Mentalität des europäischen Adels mitbestimmte.3 Die magnificentia betrifft die Verwendung von Reichtümern; sie ist dafür zuständig, die Haltung des großzügigen Stiftens, Schenkens, Förderns und Darstellens zu steuern. Der magnificus soll, wie man in frühneuzeitlichen Quellen liest, „lieber überlegen, wie und was er am schönsten und geziemendsten tun kann, als für wie viel Geld und wie mit dem geringsten Aufwand.“4
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Einen guten Überblick gibt Guido Guerzoni: Liberalitas, Magnificentia, Splendor: The Classic Origins of Italian Renaissance Lifestyles. In: Economic Engagements with Art. Hg. von Neil de Marchi und Craufurd D. W. Goodwin. Durham/London 1999, S. 332-378. Guerzoni ist für die folgenden Überlegungen durchweg zu vergleichen. Johannes Caselius: Magnificentia et magnanimitas. Rostock 1587, S. 20.
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Auch die liberalitas hat den „Gebrauch des Vermögens“ zum Gegenstand,5 doch betrifft sie die Ethik des Einnehmens und Ausgebens überhaupt. Hingegen entspricht die magnificentia dem ������ (prépon) großer und vermögender Personen und wird in der Frühen Neuzeit auch im Detail unter dem Aspekt des Decorum großer Herren beurteilt.6 „Denn was in einer Privatperson Liberalitas oder auch Parsimonia ist“, schreibt ein Hofmeister des 17. Jahrhunderts über das fürstliche Decorum, „muß in einem Herrn Largitio und Magnificentia seyn“.7 Fürstenerzieher legen ihren Zöglingen nahe, Großartigkeit zu zeigen.8 Johannes Caselius, der die magnificentia als exklusive Fürstentugend rühmt, als „die erste und schlechthin königliche unter den Tugenden“, widmet seine Abhandlung Magnificentia et magnanimitas von 1587 dem König Friedrich II. von Dänemark und Norwegen.9 Magnifizenz im höchsten Maß gehört zu den heroischen Tugenden, die in panegyrischen Zusammenhängen Fürsten zugeschrieben werden.10 Gelegentlich stößt
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Aristoteles: Die Nikomachische Ethik. Übersetzt und mit einer Einführung und Erklärungen versehen von Olof Gigon. München 1991, S. 178. Die folgenden Ausführungen über den Magnifizenz-Begriff beziehen sich auf S. 183-186. Vgl. z.B. Giovanni Pontano: De Magnificentia. In: I libri delle virtù sociali. Hg. von Francesco Tateo. Rom 1999, S. 211 und passim. Caselius: Magnificentia et magnanimitas (wie Anm. 4), S. 15 und passim. Georg Engelhard von Löhneyss: Hof- Staats- und Regierkunst / bestehend in dreyen Büchern / deren erstes handelt von Erziehung und Information junger Herren / [...] Das Andre Vom Ambt / Tugenden und Qualitäten Regierender Fürsten / [...] Das Dritte Von verschiednen Rahts-Collegiis [...]. Frankfurt a.M. 1679, S. 23. Vgl. aber auch Johannes Chokier: Thesaurus Politicus; Oder / SchatzKammer Politischer Aphorismorum oder Lehrsprüche. Nürnberg 1652, S. 306-322, der sich mit der Tugend der Liberalitas unter dem Gesichtspunkt des fürstlichen Decorum beschäftigt. Ferner die Formulierung aus einem Brief Heinrichs III. von Frankreich: „la libéralité et magnificence est le propre d'un grand prince.“ (Lettres de Henri III. Hg. von Michel François, 6 Bde., Paris 1959-2006, Bd. 2, S. 133, zit. nach Nicolas Le Roux: Luxus, Freigebigkeit und Macht in Krisenzeiten: die Politik der Prachtentfaltung am Hof der letzten Valois. In: Luxus und Integration. Materielle Hofkultur Westeuropas vom 12. bis zum 18. Jahrhundert. Hg. von Werner Paravicini, München 2010, S. 235-250, hier: S. 241). Vgl. Ioannis Iouiani Pontani ad Alfonsum Calabriae Ducem: De Principe Liber. In: Ioannis Iouiani Pontani Opera, Venedig 1501. Alessandro Piccolomini: De la institvtione di tvtta la vita de l'hvomo nato nobile, e in citta libera, libri IX in lingva Toscana […]. O.O. 1543, S. 102v. Francesco Patrizio: Il sacro regno del gran patritio, de'l vero reggimento, e de la vera felicità de'l principe, e beatitvdine hvmana. Venedig 1553, S. 280r-283v. Johannes Caselius: Magnificentia et magnanimitas (wie Anm. 4), S. 9: „Magnificentiae, virtutum primariae planéque regiae explicatio“. Vgl. aber die einschränkenden bzw. ausweitenden Hinweise S. 25. Francesco Piccolomini: Vniversa philosophia de moribvs. Frankfurt 1627, S. 659f. (zu den heroischen Tugenden der Medici).
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man stattdessen auf eine graduelle Differenzierung der liberalitas: „je edler jemand ist, desto mehr ist er bestrebt zu geben.“11 Seit der Aufklärung scheint kein Zweifel daran zu bestehen, dass von moralischer Untadeligkeit nur die Rede sein dürfe, insofern eine von eigennützigen Zwecken freie Motivation festgestellt werden könne. Aristoteles’ Ausführungen über die Magnifizenz stehen hingegen im Kontext einer Ethik, derzufolge Tugenden in erster Linie in sozialen Bezügen existieren. In diesem Sinn wurde die Nikomachische Ethik in der Frühen Neuzeit aufgenommen. Hören wir Johann Heinrich Boecler: „Denn diejenigen irren, […] die glauben, Aristoteles hätte den Privatmann und nicht eine Person von öffentlicher Bedeutung belehren wollen.“12 Der magnificus erscheint geradezu als Musterfall einer öffentlichen Person – oder umgekehrt die Magnifizenz als sein obligatorisches Decorum. „Wer großartig sein will,“ so Caselius, „muss nicht allein Überfluss an Reichtümern besitzen, sondern entweder von vornehmer Abstammung sein oder berühmt durch Tugend und herausragende Taten, soweit solche vorhanden sind, sodass ihm die vornehmsten Ehren im Staat zukommen.“13 Als gesellschaftliche Tatbestände sind Tugenden an ihre sinnfällige Erscheinung gebunden. Bei Aristoteles gilt in besonderem Maß von der magnificentia, dass sie vorhanden ist, wenn wahrnehmbare, vor allem sichtbare Zeichen auf sie verweisen. Bereits die Nikomachische Ethik ordnet Zeugnissen, in denen sich Magnifizenz dokumentiert, ästhetische Werte zu, ohne allerdings solche genauer zu bestimmen. Erst recht ist in frühneuzeitlichen Zusammenhängen der Maßstab für Magnifizenz das Äußere; Großartigkeit stellt sich in Gestalt von Erscheinungen und Oberflächen dar. Magnificentia geht so vollständig in äußeren Bildern auf, dass der Begriff des Großartigen ebenso auf den Urheber wie auf seine Werke zutrifft. Aristoteles bezieht nicht zu der Frage Stellung, ob eine Stiftung, die für sich genommen die Anforderungen der Magnifizenz erfüllt, von Absichten gesteuert sein könnte, die der Tugendnorm zuwiderlaufen. Mit der Möglichkeit, dass sich hinter der Fassade des Großartigen andere Interessen verbergen möchten, setzt sich der Philosoph nicht auseinander. Die Nikomachische Ethik beschreibt Werte, die im Gemeinwesen anerkannt sind; für den Verfasser erübrigt es sich deshalb, die Relation zwischen Innerem
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Wilhelm Ferdinand von Efferen: Manvale Politicvm christianvm de ratione statvs, sev, idolo principvm [...]. Passau 1634, S. 196: „Est etiam naturae quasi congenita, quia quò quisque nobilior, eò magis dare contendit”. Johann Heinrich Boecler: Institutiones Politicae. Accesserunt Dissertationes Politicae ad selecta vetervm historicvm loca. Et Libellvs Memorialis ethicvs. Straßburg 1674, S. 220f.: „Falluntur enim, vt alias dictum est, qui putant, Aristoteli propositum fuisse, hominem priuatum, non ciuem ibi informare.“ Caselius: Magnificentia et magnanimitas (wie Anm. 4), S. 25: „Nec satis est diuitijs circumfluere, qui magnifici esse velint, sed oportet eosdem vel gente nobiles esse, vel virtute et praestantibus factis claros, aut si qua sunt huiusmodi: vt si honores in ciuitate praecipuos gerant.“
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und Äußerem zum Thema zu machen. Für Cicero, dessen De officiis sich auf ein komplexeres Erfahrungsfeld bezieht – auf die Krisenzeit der römischen Republik im ersten Jahrhundert vor Christus – , ist das Zusammenspiel des Sichtbaren mit der Tugend nicht mehr im selben Maß selbstverständlich.14 Da in der Nikomachischen Ethik das Verhältnis zwischen der Magnifizenz und ihrem Ausdruck unproblematisch bleibt, braucht Aristoteles die Erscheinungsweisen der Tugend nicht eigens zu erörtern. Die Medien, in denen Magnifizenz an das Licht treten kann, sind nicht Gegenstand seiner Ausführungen. Wenige Beispiele, die sich auf Stichworte beschränken, genügen dem Philosophen, um zu verdeutlichen, dass magnificentia sich in großen Werken äußert – unter ihnen „Weihgeschenke, Zurüstungen, Opfer“, die Veranstaltung einer „glänzende[n] Theateraufführung“ oder die Ausrüstung eines Kriegsschiffs, aber auch Privatausgaben, „an denen die ganze Stadt interessiert ist“. Aristoteles darf offenbar voraussetzen, dass über die Beurteilung ‚großartiger‘ Errungenschaften allgemeines Einvernehmen besteht.
3. Krisenerfahrungen Aus der Perspektive der Nikomachischen Ethik bezeichnet Magnifizenz einen moralischen Höchstwert, der Verbindlichkeit für die maßgebenden Mitglieder der Gesellschaft beanspruchen konnte. Das Vorhandensein eines Gemeinwesens, auf das sich die Tugendpraxis bezieht, ist bereits vorausgesetzt. Magnifizenz-Konzepte der Frühen Neuzeit bewegen sich hingegen in einem unruhigeren Fahrwasser, denn sie treffen auf Situationen von hohem Normierungsbedarf, die von vielen Zeitgenossen als verwirrend und angstbesetzt15 wahrgenommen wurden – zudem auf Konstellationen, die in ihrer Komplexität und Widersprüchlichkeit nicht ohne weiteres visualisiert werden konnten. Frühneuzeitliche Magnifizenz-Konzeptionen sind kontrafaktisch angelegt. Die Fälle von Giovanni Pontano und Justus Lipsius mögen exemplarisch das Zusammenspiel zwischen der Magnifizenz-Programmatik und irregulären Umständen verdeutlichen, in denen Interessendivergenzen und Perspektivenvielfalt regierten. Loyalitäten, Identitäten und Handlungsnormen waren im Bezugsfeld der Abhandlungen weniger
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Für die Zweckmäßigkeitsaspekte, die bei Cicero in höherem Maß ins Spiel kommen, vergleiche man etwa De officiis, II, 9-20 (De officiis. Vom pflichtgemäßen Handeln. Lateinisch und deutsch. Übersetzt, kommentiert und herausgegeben von Heinz Gunermann. Durchgesehene und bibliographisch ergänzte Ausgabe. Stuttgart 1992, S. 168-207). Einen ausführlichen Überblick über die römische Geschichte des Liberalitas-Konzepts und verwandter Begriffe, unter Einschluss von Ausführungen über Cicero, gibt – mit detaillierten Literaturhinweisen – Guerzoni: Liberalitas, Magnificentia, Splendor (wie Anm. 3), S. 346-352. Vgl. William J. Bouwsma: Anxiety and the Formation of Early Modern Culture. In ders.: A Usable Past. Essays in European Cultural History. Berkeley/Los Angeles/Oxford 1990, S. 157-189.
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klar definiert als für Aristoteles. Der historische Rahmen von Pontanos Traktaten steht den Bedingungen nahe, unter denen Machiavelli nur zehn Jahre nach Pontanos Tod seinen Fürstenspiegel Il principe verfasste. Es ist eine Nebenbemerkung wert, dass sich frühe Beispiele zum praktischen Einsatz des Magnifizenz-Konzepts im Florentiner Kontext finden.16 In der Abhandlung über die liberalitas klagt Pontano jedenfalls, „dass einige Herren, einige Staatsbedienstete sich so weit vom rechten Weg der Freigebigkeit entfernen, dass sie ihr ganzes Interesse dem Raub zuwenden und wie verzaubert angesichts der Reichtümer ihrer Mitbürger, angesichts der Betrügereien der Minister dastehen.“17 Ob für die schwer überschaubaren Verwicklungen eine höhere Intelligenz als Sinngebungsinstanz in Anspruch genommen werden könne, stand in Frage.18 Die Traktate über die „sozialen Tugenden“ entstanden vor dem Hintergrund der aragonesischen Epoche in Neapel, wo Alfons, der den Beinamen Il Magnifico führt, 1442 die Herrschaft an sich gebracht hatte. Als Sekretär und Minister aragonesischer Fürsten zwischen Alfons I. und Ferdinand II. war Pontano mit diffizilen administrativen und diplomatischen Aufgaben beschäftigt und in ein komplexes politisches Umfeld und hoftypische Konfliktkonstellationen verwickelt.19 In Neapel galt es, die lokale Aristokratie auf die Seite des Königshauses zu ziehen und in Schach zu halten. Außenpolitisch mussten die Interessen des Königreichs in der Auseinandersetzung mit den übrigen italienischen Signorien und Fürstentümern durchgesetzt werden. Eine unmittelbare Bedrohung für die aragonesische Dynastie bildeten die französischen Ansprüche, die von Karl VIII. geltend gemacht wurden und 1494 zum Beginn der Italienischen Kriege führten. In den Vorreden der Admiranda, einer Beschreibung des römischen Reichs und der Stadt Rom, legt Justus Lipsius Rechenschaft darüber ab, dass die Konfessions- und Befreiungskriege in den Niederlanden, dem „Meer und Ozean selbst […] der Uneinigkeit und Verwirrung“,20 den Bezugspunkt des Traktats bilden. Konfessionelle Zersplitterun-
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Vgl. A. D. Fraser Jenkins: Cosimo de’ Medici’s Patronage of Architecture and the Theory of Magnificence. In: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 33 (1970), S. 162-170. Paula Spilner: Giovanni di Lapo Ghini and a Magnificent New Addition to the Palazzo Vecchio, Florence. In: Journal of the Society of Architectural Historians 52 (1993), S. 453-465. Ferner Louis Green: Galvano Fiamma, Azzone Visconti and the Revival of the Classical Theory of Magnificence. In: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 53 (1990), S. 98-113. Pontano: De liberalitate. In: I libri delle virtù sociali (wie Anm. 6), S. 43: „[…] quosdam rerumque publicarum administratores tantum a via curriculoque liberalitatis deflexisse, ut rapinae soli intendant inhientque popularium suorum divitiis direptionibusque ministrorum.“ Vgl. Mario Santoro: Il Pontano e l'ideale rinascimentale del prudente. In: Giornale italiano di filologia 17 (1964), S. 29-54, hier: S. 40-42. Einen Überblick gibt Jerry H. Bentley: Politics and Culture in Renaissance Naples. Princeton 1987. Speziell zu Pontano S. 127-134; 177-194. Justus Lipsius: Admiranda oder Wundergeschichten / Von der vnaußsprächlichen Macht / Herrlich: vnd Großmächtigkeit der Statt Rom / vnd Römischen Monarchey [übersetzt v. Johann Va-
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gen, Bürgerkriege und kriegerische Konflikte nach außen gehören zur Topik der Chaoserfahrungen, die Lebens- und Gedankenwelt von Lipsius und seinen Zeitgenossen mitbestimmten.21 Die Demonstration von Magnifizenz soll dem politicus helfen, sich unter irregulären Bedingungen zu behaupten, Herrschaft zu stabilisieren, Glaubwürdigkeit zu gewinnen und eine nicht mehr vorhandene Ordnung wiederherzustellen oder eine noch nicht vorhandene einzuführen.22 Insofern bildet Großartigkeit ein Seitenstück zu politischen Programmen der Frühen Neuzeit, die Herrschaft und Gemeinwesen gegen Zerfallserscheinungen fortifizieren und concordia unter den Untertanen stiften wollen. Die Admiranda, die das Römische Reich als Vorbild preisen, dürfen selbst zur Reihe der Machtstaatsentwürfe des ausgehenden 16. Jahrhunderts gerechnet werden.23 So sehr jedenfalls Architektur und Kunst der Frühen Neuzeit sich dem gegenwärtigen Betrachter im Zeichen von Pracht und Glanz präsentieren mögen – das Konzept der Magnifizenz bleibt in mancher Hinsicht mit einem utopischen Index ausgestattet. Dass Gelehrte und Künstler sich mit Vorliebe auf die Antike berufen, um Vorstellungen von Magnifizenz an ihr zu entwickeln, den Lesern Beispiele vor Augen zu führen und die MagnifizenzProgrammatik in die Praxis umzusetzen, ist kein Zufall. Ohne dass die Magnifizenz ihre Verwurzelung in der Ethik aufgeben würde, verschieben Autoren der Frühen Neuzeit den Akzent auf politische Aspekte. Freilich – darüber gerät die Tugend selbst in den Sog der politischen Komplikationen, der Klugheitslehren und Strategemata. In der Nikomachischen Ethik mag allenfalls die Formel vom „edlen Wetteifer für die Gemeinschaft“24 darauf schließen lassen, dass Magnifizenz mit der Konkurrenz unter den Wohlhabenden und Mächtigen in Verbindung stehe. Hingegen konnten Pontano wie Lipsius beobachten, in welchem Umfang ‚Großartiges‘ eingesetzt wurde, um Mitbewerber um ein Höchstmaß an Ansehen aus dem Feld zu schlagen – wenn sie sich nicht sogar veranlasst sahen, selbst die Anwendung prudentistischer Strategien zu empfehlen.25
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lentin Andreae]. Straßburg 1620. ND hg. von Martin Disselkamp. Hildesheim u.a. 2007, S. XCI* (aus der Übersetzung der Widmungsvorrede). Vgl. den biographischen Abriss in Gerhard Oestreich: Antiker Geist und moderner Staat bei Justus Lipsius (1547-1606). Hg. und eingeleitet von Nicolette Mout. Göttingen 1989, S. 49-60. Ferner Justus Lipsius: Saturnalium Sermonum libri duo, qui de gladiatoribus. Lipsius’ Saturnaliengespräche, eine textkritische Ausgabe mit Übersetzung, Einführung und Anmerkungen. Hg. von Andrea Steenbeek. Leiden/Boston 2011, Einführung, S. 33-40. Beispiele dazu in dem Sammelband „Luxus und Integration“ (wie Anm. 7). Vgl. Karl Enenkel: Ein Plädoyer für den Imperialismus. Justus Lipsius’ kulturhistorische Monographie Admiranda sive de magnitudine Romana (1598). In: Daphnis 22 (2004), S. 583-621. Aristoteles: Die Nikomachische Ethik (wie Anm. 5), S. 185. Vgl. Mario Santoro: Il Pontano e l’ideale rinascimentale del prudente. In: Giornale italiano di filologia 17 (1964), S. 29-54. Jerry H. Bentley: Politics and Culture (wie Anm. 19), S. 251f. – Pontano: De Magnificentia (wie Anm. 6), S. 192-196, gibt eine exemplarische Zusammenstellung von
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4. Materialität des Großartigen Auf welche Weise können, frühneuzeitlichen Autoren zufolge, großartige Errungenschaften Stabilität und Kohärenz generieren, die (noch) nicht vorhanden waren? Politisch betrachtet stellt Magnifizenz eine Art sichtbarer Erscheinungsform von Majestät und Reputation dar, die dazu bestimmt waren, eindruckgebietend auf Konkurrenten und Untertanen einzuwirken. Georg Lorentz von Spattenbach beschreibt 1668 den Weg von der Autorität über den äußeren Glanz zum Affekthaushalt der Wahrnehmenden: Die königliche Majestät sei unergründlich, weshalb „dero Hochheit die Menschen erschreckt / dero Glantz dieselbe verblent / ihro herrlicher Pracht / welcher die Bildnuß eines ewigen Tryumphs repräsentirt / halt zuruck die Kräfften / und Tugenden in ihren Seelen“.26 Der visuelle Eindruck übernimmt die Aufgabe, das Großartige dauerhaft im kollektiven Gedächtnis zu verankern und die „allesverzehrende Zeit“ zu überwinden. Dem Staatsräsontheoretiker Giovanni Botero zufolge ist zum Beispiel eine fürstliche Stadtgründung gleichsam als ein vnzerstörlicher theil der Macht / vnd ein lebendiges Ebenbilde der Weißheit dessen / der sie erstlich gebawet / lest sein Gedächtnis nimmermehr zu grund gehen vnd in vergeß fallen. Welche Kriegs verrichtungen / welche Siege / welche Triumph / haben dem Romulo zu mehrern vnd höheren ehren gereichet / als die Stadt Rom / Dem Antiocho / als Antiochia?27
Frühneuzeitliche Quellen, selbst manche Dissertationen, entwickeln deshalb ein besonderes Interesse an Darstellung, Bewerkstelligung und Wirkung des ‚Großartigen‘.28 In den Mittelpunkt rücken Fragen der Praxis, der Verwirklichung von Absichten unter Einsatz von Zeugnissen der Magnifizenz. Das Äußere, die Oberflächen und Erscheinungsformen sowie ihre Wahrnehmung, denen Aristoteles keine besondere Beachtung schenkt, entwickeln sich jetzt zum eigenständigen Thema. Den Effekt der Eindrück-
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Männern, die die Tugend der Magnificentia zeigten – vor allem, indem sie miteinander in Konkurrenz traten. Zur weniger ethischen als politischen Rolle von Tugendattitüden vgl. z.B. die Ausführungen von Michael Kreps: Teutsche Politick oder Von der Weise wol zu Regieren In Frieden vnd Kriegs zeitten. Frankfurt a.M. 1620, Teil I, S. 124-134, über die Tugend der Liberalitas. Georg Lorentz von Spattenbach: Politische Philosophie / welche von denen fürnehmsten Arcanis der allgemeinen Policey tractirt / dieselbe mit allerhand politischen Discursen erleutert / und mit unterschiedlichen schönen Historien bekräfftiget / nicht weniger auch heutiger Statisten subtile und Machiavellische Griff an das helle Taglicht stellet. Salzburg 1668, S. 45. Giovanni Botero: Spiegel hoher fürstlicher Personen […], mit sonderm fleiß aus Italiänischer / in Teutsche Sprach versetzt: Vnd nun zum andern mal gebessert. Lübeck 1603, S. 73. Vgl. Caselius: Magnificentia et magnanimitas (wie Anm. 4), S. 25f., Boecler: Institutiones Politicae (wie Anm. 12), S. 211-214 („De loco civitatis“). Bei Caselius: Magnificentia et magnanimitas (wie Anm. 4) ist es vor allem der dedikatorische Rahmen, der die in ihrer Botschaft durchaus traditionell operierende Dissertation literarisch an der Magnifizenz partizipieren lässt.
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lichkeit, so lehrt Pontano, erzielt man durch „Zierrat, Größe, das Edle des Materials und die Dauerhaftigkeit des Werks.“29 In dem Maß, in dem sich die Aufmerksamkeit den Erscheinungsformen zuwendet, wandelt sich der literarische Charakter einschlägiger Abhandlungen. Schon dem Umstand, dass Pontano dem Zwillingspaar liberalitas und magnificentia mit beneficentia (die auch Cicero kennt), splendor und convivalitas drei weitere Tugenden hinzufügt, verdanken seine Abhandlungen einen Zuwachs an Eindrücklichkeit. Die Dissertationen warten mit Serien von Beispielen auf, für die sich der Verfasser an einer panegyrisch angelegten Exempelliteratur orientieren konnte, die in seinem Umfeld blühte und ihrerseits bei Gelegenheit ‚großartige‘ architektonische Errungenschaften ins Licht setzt.30 In ihrer Masse schießen die Beispiele über die Aufgabe hinaus, den Begriff der Magnifizenz zu erläutern.31 Die Traktate, die für eine Kultur des äußeren Glanzes und des prachtvollen Erscheinens in die Schranken treten, werden selbst zu Bühnen, auf denen sich das Großartige in seiner Gegenständlichkeit zeigt. Justus Lipsius’ Admiranda verstehen sich als ROMANI imperii descriptio – als ‚Beschreibung des römischen Reichs‘.32 Die Rhetorik kennt das Beschreiben als Werkzeug, das dazu dient, emotional auf Hörer oder Leser einzuwirken, indem es Gegenstände zeigt, als wären sie material vorhanden.33 Den Text bestimmen der Wunsch nach der unmittelbaren Präsenz antiker Pracht und der Gestus des eindruckgebietenden Vorweisens. Lipsius platziert die Admiranda auf der Grenzlinie zwischen dem Geschriebenen und dem visuell Erfahrbaren. „So ist nun Rom also groß vnnd Volckreich gewesen“ – so meldet sich im fiktiven Dialog der Admiranda der Lehrer „Lipsius“ zu Wort – „jetz laß vns ein wenig darinn vmbspatzieren vnnd die besehen.“ Der Schüler gibt zurück: „O hette mich Gott das erleben lassen / oder solte ich sie nur im Traum sehen.“34 Noch im literarischen Rahmen ist die Darstellung dazu bestimmt, Staunen und Verwunderung zu
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Pontano: De Magnificentia (wie Anm. 6), S. 180: „Dignitas autem ipsa rebus his praecipue comparatur: ornatu, amplitudine, materiae praestantia, operis perennitate.” Zur Dauerhaftigkeit auch ebd., S. 186. Vgl. Antonio Beccadelli: De dictis & factis Alphonsi Regis Aragonvm et Neapolis libri qvattvor […]. Cvm respondentibus principum illius aetatis, Germanicorum potiß. dictis & factis similibus, ab Aenaea Sylvio collectis: & scholijs Iacobi Spiegelij: Quibus chronologia vitae Alphonsi et Ludovici XII. Gall. Regis […] accesserunt. Editae studio Davidis Chytraei. Wittenberg 1535, S. 28; 33; 35; 38. Vgl. Pontano: De Magnificentia (wie Anm. 6), v. a. S. 182-218. Lipsius: Admiranda (wie Anm. 20), Widmungsvorrede, S. LXXXI*. Vgl. A. W. Halsall/L. G.: Art. Beschreibung. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg. von Gerd Ueding. Bd. 1, Tübingen 1992. Sp. 1495-1510. Ulrich Schlegelmilch: Descriptio templi. Architektur und Fest in der lateinischen Dichtung des konfessionellen Zeitalters. Regensburg 2003. Lipsius: Admiranda (wie Anm. 20), S. 193.
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wecken. Der Schüler ruft aus: „wie die so vom Stral getroffen sein / schweigen vnd sich entsetzen: also geht’s mir“.35 Der wohl wichtigste Schauplatz für die Demonstration von Magnifizenz ist die Architektur. Im Weichbild von Pontanos Panorama des Freigebigen, Glanzvollen und Großartigen erkennt man urbanistische Maßnahmen der aragonesischen Fürsten im zeitgenössischen Neapel.36 Joseph Furttenbach, ein Architekturtheoretiker des beginnenden 17. Jahrhunderts, erklärt prachtvolle Bauten zu einem Ornat, in dem Größe standesgemäß, eindrucksvoll und nachhaltig zur Erscheinung kommt: Nichts Gründ- vnd Löblichers mag vorgebracht / vnd beschrieben werden / als ein Werck / welches schon in opera gesetzt / vnd noch in seinem esse, oder Wesen würcklich zu sehen ist. Fürnemblich aber solche Sachen die grosse Herren / vnd Potentaten haben erbawen lassen.37
Mit Pontano und anderen Gelehrten teilt Lipsius die Entscheidung, wichtige Beispiele aus dem antiken Rom zu gewinnen. Die antiquarische Literatur, auf die vermutlich auch Pontano zurückgreift, ist überhaupt eine ergiebige Fundstelle für Belege zum frühneuzeitlichen Interesse an Magnifizenz.38 Lipsius führt dem Leser das römische Reich und, im umfangreichsten der vier Kapitel, die Stadt Rom vor Augen. Der Verfasser preist die Größe der Bauwerke, der Paläste, Tempel, Theater, circensischen Bauten und Thermen unter besonderer Berücksichtigung von Höhe und Ausschmückung mit Zierrat und Sta-
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Lipsius: Admiranda (wie Anm. 20), S. 140. Vgl. die Neapel-Beschreibung von Pietro Summonte, abgedruckt in Roberto Pane: Il Rinascimento nell'Italia meridionale. 2 Bde. Mailand 1975. Bd. 1, S. 63-73. Weitere Quellen nennt Mauro de Nichilo: Retorica e magnificenza nella Napoli aragonese. Bari 2000, S. 129f. Joseph Furttenbach: Architectura civilis: das ist: Eigentliche Beschreibung wie man nach bester form / vnd gerechter Regul / fürs erste: Palläst / mit dero Lust: vnd Thiergarten / darbey auch Grotten: so dann Gemeine Bewohnungen: Zum Andern / Kirchen / Capellen / Altär / Gotshäuser: Drittens / Spitäler / Lazareten vnd Gotsäcker aufführen vnnd erbawen soll. Ulm 1628, S. 1. Vgl. auch Christian Herold: Von Ursprung und Aufnehmen der Städte / Ein sonderbares Historisches und Politisches Tractätlein / Darinnen Von denen Ursachen / warüm die Städte anfänglich erbauet / wordurch sie zugenommen / und iederzeit in treffliches Aufnehmen / Magnificentz / Hoheit / Ansehen und zu großer Herrlichkeit / Macht und Reichthum gekommen / noch gelangen können: Auch woher derselben Wohlfahrt und Beschwerden rühren / aus Jctis, Historicis und Politicis gründlich discurriret wird. Naumburg 1657, vor allem S. 19-56. Ferner die Beispiele bei Boecler: Libellus memorialis ethicus. In ders.: Institutiones politicae (wie Anm. 12), S. 525. Vgl. Giovanni Pontano: De Magnificentia (wie Anm. 6), S. 165f.; 187-192. Zu den Architekturbeispielen bei Pontano de Nichilo: Retorica e magnificenza nella Napoli aragonese (wie Anm. 36), S. 39-44. Ferner Joannis Servilius: De mirandis antiqvorvm operibus, opibus et veteris aevi rebus, pace, belloque magnifice gestis. Libri tres. Ad Ladislavm Vrsvlvm eqvitem avratvm v. clar. cvm indice […]. Lübeck 1600. Schon im Titel programmatisch ist Johannes Baptista Casalius: De Vrbis ac Romani olim imperii splendore. Opus Eruditionibus, Histoijs, ac Animaduersionibus, tam sacris quam profanis Illustratum. In quo etiam nonnulla ex occasione tanguntur, tam circa Romanae Acclesiae Principatum, quam circa alias reliquarum orbis Regionum res memoratu dignas. Rom 1650.
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tuen. Mit Blick auf das Reich sind es ungeheure Quantitäten, die das Große zur Anschauung bringen sollen – die Steuereinkünfte, die der Staat einzog, die riesigen Dimensionen des römischen Militärs, die Anzahl der Besucher, die römische Circusbauten und Thermen in geordneter Formation betreten konnten, und die Kosten, die veranschlagt werden mussten, um ‚großartige‘ Bauwerke zu errichten.
5. Das Thema des Luxus Allerdings macht sich die Luxus-Thematik als ständige, wenngleich nicht immer auffällige Begleiterin der Magnifizenz bemerkbar. Für sie ließe sich eine eigene Genealogie zusammenstellen, die ihrerseits in der Antike einsetzen müsste.39 Auch Aristoteles ordnet in seiner Aretologie, offenbar in erster Linie aus systematischen Gründen, der Magnifizenz das Exzesslaster des „Protzigen“ zu, das er jedoch nur en passant behandelt.40 Während Magnifizenz die Aufgabe hat, eine stabilisierende Wirkung zu entfalten, scheint der Luxus geordnete Verhältnisse zu bedrohen. Luxus war als Zersetzungsfaktor gefürchtet, der die Vielfalt der Standpunkte sowie die Vielzahl der Interessen vermehrte und Zerfalls- und Zersplitterungstendenzen im Gemeinwesen beschleunigte. Zu den Erscheinungsformen dieses Lasters gehören das Streben nach Besitz und Genuss,41 ebenso die unkontrollierte Neigung zu Ansehen und Ehre. Deshalb besteht zum Beispiel eine Verbindung zwischen Auseinandersetzungen mit dem Duellwesen und der Luxuskritik.42 Unter Berufung auf Seneca stellt Michael Kreps in seiner Teutschen Politick von 1620 fest, „kein Statt [sei] am kräncksten / dann wo man die vberflüssigkeit der Gastereyen / vnnd Kleider oder Pracht befindet.“43 Die Auseinandersetzungen zwischen Cäsar und Pompeius, wie Lucan sie um die Mitte des ersten nachchristlichen Jahrhunderts in seinem Epos De bello civili zum Thema gemacht hatte, dienen in einer Abhandlung De luxu Romanorum als Beispiel dafür, dass selbst der Bürgerkrieg, die wohl beunruhigendste Angstvision frühneuzeitlicher Theore-
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Für einen Überblick vgl. Christopher Berry: The Idea of Luxury. A Conceptual and Historical Investigation. Cambridge 1994. Dorit Grugel-Pannier: Luxus. Eine begriffs- und ideengeschichtliche Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung von Bernard Mandeville. Frankfurt a.M. u.a. 1996. Vgl. Aristoteles: Die Nikomachische Ethik (wie Anm. 5), S. 186. Zur klassischen Konstellation von Magnifizenz und Luxus auch Boecler: Libellus memorialis ethicus. In ders.: Institutiones politicae (wie Anm. 12), S. 525f. Vgl. Löhneyss: Hof- Staats- und Regierkunst (wie Anm. 7), S. 34. Für ein Beispiel vgl. François de la Noue: Discours Oder Beschreibung vnd vßführliches rähtliches bedencken/ von allerhand so wol Politischen/ als Kriegssachen […]. Frankfurt a.M 1592, S. 304-327 (zum Thema des Duells). Dort S. 193-219 auch Ausführungen zur Verschwendung. Kreps: Teutsche Politick (wie Anm. 25). Teil 1, S. 238f. Vgl. auch ebd., S. 256f., über das übermäßige Essen und Trinken der Fürsten.
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tiker der Politik, seine Ursache im Luxus habe.44 Autoren, die sich während der Zeit der Konfessionskriege mit Vorschlägen zu Wort meldeten, die „gute Disciplin“ wiederherzustellen – unter ihnen Justus Lipsius, der in der Abhandlung De militia romana die Vorbildlichkeit des römischen Militärwesens preist – griffen umgekehrt zu luxuskritischen Argumenten.45 Abhandlungen, denen an dem Thema der Großartigkeit gelegen war, standen vor der Aufgabe, Magnifizenz und Luxus voneinander zu unterscheiden. Klassische Differenzierungsargumente, die sich ihrerseits schon auf Aristoteles berufen können,46 stellt Johannes Caselius zusammen. Ihm zufolge endet die Zuständigkeit der Magnifizenz dort, wo der hohe Einsatz an Mitteln lediglich die Bedürfnisse des Auftraggebers befriedigen soll.47 Ähnliches liest man bei Lipsius, der verschwenderisch ausgestattete Bauten mancher römischer Kaiser wie auch zu üppig geratene Privathäuser als Luxuserscheinungen bewertet.48 So scheint es, als wäre der Luxus der Antagonist der Magnifizenz schlechthin. Doch tatsächlich befinden sich beide auch in einem Verwandtschaftsverhältnis und sind unlösbar ineinander verflochten oder stehen einander wie zwei Seiten derselben Medaille gegenüber – zum Beispiel in solchen Schriften, die sich mit Großartigkeit und Niedergang des antiken Rom befassen. Der humanistische Rom-Reisende Georg Fabricius schreibt 1551: „In keinen Bauwerken der Alten kann man mehr Luxus und Tollheit feststellen als in den Kaiserthermen“.49 Auch die Admiranda durchzieht eine Serie von
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Vgl. Stanislaus Kobierzycki: De luxu Romanorum commentarius, in quo Romanarum opum admiranda copia, vestium splendor, aedificiorum magnificentia, conviviorum luxuriosi apparatus proponuntur. In: Johannes Georg Graevius: Thesaurus antiquitatum Romanarum. Bd. VIII. Utrecht 1698, Sp. 1251-1402, hier: Sp. 1262: „Redeo ad bellum civile Caesaris & Pompeji: quod a luxuria excitatum, adeo rem Romanam concussit & perturbavit, ut ab illo tempore sol potentiae Romanae in occasum vergere coeperit, semelque virtus Romanorum fracta, nunquam vires majoribus dignas resumere ac reparare potuerit.“ Vgl. Justus Lipsius: De militia romana libri quinque. Commentarivs ad Polybivm. Editio vltima. Antwerpen 1614, S. 363. Vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik (wie Anm. 5), S. 185: „Denn der Großartige macht keine Ausgaben für sich selbst, sondern für die Gemeinschaft, und die Geschenke haben eine Ähnlichkeit mit Weihegaben.“ Vgl. Caselius: Magnificentia et magnanimitas (wie Anm. 4), S. 27. Caselius’ Ausführungen S. 2730, die sehr allgemein bleiben, verdeutlichen aber auch die Schwierigkeiten der Grenzziehung. Vgl. Lipsius: Admiranda (wie Anm. 20), S. 277-287. Georg Fabricius: Roma. In: Thesavrvs antiqvitatvm Romanarvm. Hg. von Johann Georg Graevius. Bd. III. Utrecht/Leiden 1696, Sp. 459: „In nullis antiquorum operibus plus luxus & insaniae cernitur, quam in thermis Imperatorum: quas in provinciarum modum fuisse extructas, Ammianus conqueritur, & reliquiae aliquarum adhuc testantur.“ Casalius: De Vrbis ac Romani olim imperii splendore (wie Anm. 39), S. 170; 142-144. Für einige Hinweise zur Luxuskritik in antiquarischen Schriften vgl. z. B. Ingo Herklotz: Cassiano Dal Pozzo und die Archäologie des 17. Jahrhunderts. München 1999, S. 218; 230; 243. Hubertus Günther: Albertis Vorstellung von antiken Häusern.
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kritischen Stellungnahmen zum Luxus.50 Eine Reihe von antiquarischen Abhandlungen konzentriert sich überhaupt auf die Üppigkeit als Signal des Verfalls, der im kaiserzeitlichen Rom um sich gegriffen habe.51 Während Rom-Beschreibungen gleichwohl die antike Pracht mit den Mitteln der antiquarischen Gelehrsamkeit rekonstruieren möchten, präsentiert Joachim Du Bellay in den Antiquitez de Rome von 1558, die er im Untertitel als générale description der antiken Stadt ankündigt, Bilder des Ruins. Den Untergang Roms führt der Verfasser auch auf das Laster des Luxus zurück.52 Welchen Gründen mag sich die Affinität von Magnifizenz und Luxus verdanken? In Fragen des Decorum, des gehörigen Maßes, auch mit Blick auf die Großartigkeit, können grundsätzlich keine allgemeinen Regeln angegeben, sondern nur Fallentscheidungen getroffen werden. Doch unter frühneuzeitlichen Konkurrenzbedingungen verdient eine Manifestation fürstlicher Großzügigkeit das Magnifizenzetikett überhaupt nur insofern, als sie vergleichbare Leistungen anderer übertrifft. Der Überbietungsimpetus, auf den die Großartigkeit zurückgeht, ist mit den Motiven des Luxus nahe verwandt. – Die Schiedsrichterrolle fällt einem Publikum zu, das nicht als überschaubares Ganzes existiert, keine verlässliche Instanz bildet und über keinen festen Satz an Werten und Maßstäben verfügt – ja, das sich als Adressat großartiger Werke erst zu konstituieren hat. Welche Werte, Mengen und Größen dem Decorum der Person und dem Anlass entsprechen und unter den Begriff der Magnifizenz fallen könnten, muss unter solchen Bedingungen jeweils erst ausgehandelt werden. Maßstäbe, mit deren Hilfe das Großartige sich näher hätte bestimmen lassen, verblassen im Spiel um Interessen und Dominanzen. Wer den Umgang eines Fürsten mit materiellen Gütern als großartig lobte oder ihn als luxuriös denunzierte, beurteilte ihn deshalb weder im Sinn absolut geltender Kriterien noch in demjenigen allgemein akzeptierter Konventionen, sondern setzte einen politischen Akzent. So legt Arnold Clapmarius zu Beginn des 17. Jahrhunderts im Rahmen von Ausführungen über die arcana dominationis – nicht rechtlich normierbare, aber psychologisch wirksame Mittel der Herrschaftspraxis – die Grenze privater Magnifizenz fest, die vom Fürsten toleriert werden könne. Jenseits dieser Markierung, so möchte man vermuten, liegt das Reich des Luxus: „Ein geheimer Griff der Herrschaft
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In: Theorie der Praxis. Leon Battista Alberti als Humanist und Theoretiker der bildenden Künste. Hg. von Kurt W. Forster und Hubert Locher. Berlin 1999, S. 157-202, hier: S. 164; 166f. Zu den Schwierigkeiten römischer Autoren, Liberalitas und Largitio scharf voneinander zu trennen, s. Guerzoni: Liberalitas, Magnificentia, Splendor (wie Anm. 3), S. 347-351. Z.B. Lipsius: Admiranda (wie Anm. 20), S. 279-285 (Palastbauten unter Nero und Domitian). Vgl. außer Kobierzycki: De luxu Romanorum commentarius (wie Anm. 44) auch Johannes Meursius: De Luxu Romanorum. In: Johannes Georg Graevius: Thesaurus antiquitatum Romanarum. Bd. VIII. Utrecht/Leiden 1698, Sp. 1215-1250. Vgl. Joachim Du Bellay: Antiquitez de Rome 23. In: Oeuvres poétiques. Édition critique publiée par Henri Chamard. Nouvelle édition mise à jour e complétée par Yvonne Bellenger. Paris 19821985. Bd. II, S. 22f.
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scheint es auch zu sein, dass niemand zu prachtvoll bauen soll. Eine solche Magnifizenz der Privatpersonen pflegt den Argwohn der Fürsten zu erregen.“53 So verliert die Linie, die Magnifizenz und Luxus voneinander scheiden soll, an Trennschärfe. Auf die Frage, ob ein triumphaler Einzug oder ein prachtvolles Bauwerk auf angemessene Weise Größe zeige oder nicht vielmehr das Gebot des rechten Maßes54 übertrete und den übertriebenen Ehrgeiz des Urhebers erkennen lasse, kann unter solchen Bedingungen keine allgemein verbindliche Antwort erfolgen.55 Ebenso schwierig wäre es, zu bestimmen, in welchem Sinn es Kriterien des Großartigen entsprach, dass Cäsar seine um hohe Kosten errichtete Villa am See von Nemi wieder einreißen ließ, weil er sie für seiner nicht würdig hielt, während Tiberius die Grenzen des Erlaubten übertrat, indem er unter Einsatz von beträchtlichen Mitteln Villen und Paläste baute.56 Auf den Umstand, dass der Luxusbegriff nicht (mehr) als Bezeichnung einer allgemeingültigen Norm zu verwenden ist, stoßen, eher ein wenig unfreiwillig, auch neuere Untersuchungen.57 So wenig Magnifizenz auf Luxus verzichten kann, so wenig fehlt dem Luxuriösen der Glanz des Großartigen. Der Verdacht liegt nahe, dass die destabilisierende Dynamik, die kritische Beobachter dem Luxus zuschrieben, in Wirklichkeit auch die Magnifizenz begleiten möchte. Der Problemlage, die sie beheben soll, ist die Magnifizenz nicht entgegengesetzt – vielmehr zeigt sie sich in sie verwickelt. Orte, an denen es gelingt, nutzenbringende Magnifizenz zu zeigen und gleichzeitig die Schäden zu vermeiden, die der Luxus anrichten könnte, findet man am ehesten in utopischen Schriften der Frühen Neuzeit, in denen das Komplexe frühneuzeitlicher Er-
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Arnoldi Clapmarii de arcanis rerumpublicarum libri sex, Bremen 1605, S. 114: „Arcanum etiam dominationis regiae videtur, ne quis nimis splendidè aedificet. Quae magnificentia privatorum, Principibus suspecta esse solet.“ Zum Thema etwa Pontano: De Magnificentia (wie Anm. 6), S. 172-176. Vgl. z.B. Pontanos Ausführungen über die Laster, die sich der Magnificentia zuordnen (De Magnificentia [wie Anm. 6], S. 168-172). Dort führt der Verfasser eine lange Reihe von Exempla lasterhaften Verhaltens an, von denen viele unter umgekehrten Wertungsvorzeichen ebenso gut als Beispiele der Magnifizenz gelten könnten. Vgl. Pontano: De Magnificentia (wie Anm. 6), S. 191; 173. Vgl. dazu manche Beiträge in dem Sammelband „Luxus und Integration“ (wie Anm. 7), die mit dem Luxusbegriff arbeiten, ohne ihn oder seinen historischen Gebrauch näher zu betrachten. Viele der Thesen zum Luxusgebrauch wären besser unter dem Stichwort der Magnifizenz aufgehoben. Einige Ausnahmen: Frédérique Lachaud: Freigebigkeit, Verschwendung und Belohnung bei Hofe (S. 85-104), der für das Mittelalter die Grenzziehungen zwischen Freigebigkeit und Verschwendung diskutiert; Ulf Christian Ewert und Jan Hirschbiegel: Nur Verschwendung? Zur sozialen Funktion der demonstrativen Zurschaustellung höfischen Güterverbrauchs (S. 105-121), die eine ökonomische Luxus-Definition aufgreifen (S. 109), die allerdings als historische Analysekategorie völlig unzureichend ist; Beatrix Bastl: Weder Fisch noch Fleisch: Wenn alle Gaben zwischen symbolischem und realem Kapital schwanken (S. 123-138, hier: S. 126), die, wenn ich recht sehe, als einzige Autorin auf den Umstand verweist, dass sich „Luxus“ der Definition entzieht.
Magnifizenz und Luxus
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fahrungswelten auf ein Minimum reduziert ist: Bei Thomas Morus, Tommaso Campanella und Johann Valentin Andreae steht dem weitgehenden Verzicht auf Geldverkehr, persönlichen Besitz, Ungleichheit und private Prachtentfaltung das eindrucksvolle Gesamtbild utopischer Stadtansichten gegenüber.58
7. Ästhetische Strategien Pontano und Lipsius wussten, dass es geboten war, Klugheitsmaßregeln zu befolgen und moralische Normen elastischer auszulegen, als es der Nikomachischen Ethik entsprochen hätte.59 Unter den politischen Fertigkeiten und Praktiken, die zu Lipsius’ Zeit in Staatsräsonlehren diskutiert und in die Form von Lehrsätzen gebracht wurden, finden sich die öffentlichkeitswirksame Gestaltung des eigenen Auftretens, die Simulation und die Dissimulation sowie das zweckmäßige Beeinflussen der öffentlichen Meinung. Hellsichtigen Zeitgenossen entging nicht, in welchem Maß das Erscheinungsbild von Tugendattitüden unter solchen Bedingungen an Vertrauenswürdigkeit verlieren konnte. Pontano sah Anlass, auf die Differenz zwischen dem großartigen Anschein und den Motiven im Hintergrund aufmerksam zu machen und der Dissimulation und Simulation entgegenzutreten.60 Doch gleichzeitig lehrt er selbst seine Leser, sich der Tugenden auch als Mittel zu bestimmten Zwecken im eigenen Interesse zu bedienen.61 Wilhelm Ferdinand von Efferen beklagt sich über Machiavellis Lehre, derzufolge der Fürst gut daran tue, den ‚Ruf der Freigebigkeit‘ (liberalitatis opinionem) auf Kosten des Eigentums anderer zu erwerben.62 Der Tacitus-Kenner Johann Heinrich Boecler schreibt:
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Vgl. u. a. Thomas Morus: Utopia. In: Der utopische Staat. [...] Übersetzt und [...] hg. von Klaus J. Heinisch, Hamburg 1983, S. 45 (Luxuskritik und Vermeidung von Privateigentum); 49 (öffentliche Pracht); 58 (Reduktion des Konsums); 60 (Schädlichkeit der Luxuskonkurrenz). Campanella: Der Sonnenstaat, ebd., S. 123 (kein Privateigentum); 141 („großartige“ Triumphfeiern nach militärischen Siegen); 155 (Festlichkeiten). Johann Valentin Andreae: Christianopolis. Deutsch und lateinisch. Eingeleitet und hg. von Richard van Dülmen, Stuttgart 1972, S. 38 („Mira [...] facies, et splendor“ der Stadt); 63-65 (kein Geldverkehr); 75 (theologisch begründete Luxuskritik; kein Kleiderluxus, keine prächtigen Einrichtungsgegenstände). Vgl. Lipsius: Von Vnterweisung zum weltlichen Regiment: Oder / von Burgerlicher Lehr / Sechs Bücher […] in vnsere Hochteutsche Sprach / transferirt vnd vbergesetzet. Durch Melchiorem Haganaeum. O.O. 1599, S. 194-200. Vgl. Pontano: De Magnificentia (wie Anm. 6), S. 176f. („In faciendis etiam sumptibus honestatem sequendam esse“). Vgl. z.B. Pontano: De conviventia (wie Anm. 6), S. 254: „Quorum quidem generum [unterschiedlicher Gastmähler] vir splendidus ac convivalis nullum repudiabit. Nam, etsi splendor ipse et haec, de qua disserimus, convivalitas per se honesta et laudabilis est ac gratuita esse debet, tamen ex hac etiam laude comparare sibi benivolentiam plurimorum tum civium, tum externorum, est non solum comitatis, verum etiam prudentiae.“ Vgl. Efferen: Manvale Politicvm christianvm de ratione statvs (wie Anm. 11), S. 197.
Martin Disselkamp
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Die Amtszeit des Tiberius ist voll von Beispielen, die den großartigen Anschein des Ehrenhaften [honestatis magnificam speciem] zeigen, bei genauerem Hinschauen jedoch zu den tyrannischen Kunststücken gerechnet werden müssen. In diesem Sinn sagt Tacitus, dass die Tugenden, wenn sie in übler Absicht erheuchelt und vorgetäuscht werden, nicht weniger schädlich sind als die Laster.63
Von ‚großartigen‘ Werken erhofften sich Autoren, Künstler, Architekten und ihre Auftraggeber eine Stabilisierung öffentlicher Verhältnisse. Zeugnisse, nicht weniger die Idee der Magnifizenz, waren jedoch Teil der Konfliktkonstellationen, die es zu kontrollieren galt. Dem Vorhaben, Ordnung mittels eines Werkzeugs zu stiften, das seinerseits mit Faktoren des Unordentlichen im Bund steht und nicht klar von seinem Gegenspieler geschieden werden kann, fehlt es nicht an Paradoxie. Auf welche Weise konnten Zeitgenossen dennoch die Darstellung von Magnifizenz einsetzen, um den Komplikationen entgegenzutreten, die sie vorfanden? Von den „sozialen Tugenden“, mit denen Pontano sich beschäftigt, gilt die Magnifizenz im höchsten Maß dem Äußeren, der Hülle, der Verpackung. Folgt man Pontano, so dürfen zwar großartige Stiftungen nicht vom öffentlichen Nutzen absehen; doch vor allem müssen sie „jene äußere Gestalt zeigen, die das Kennzeichen von Zierde und Schönheit ist.“ Die Wirkung, die der Magnificus erzielen will, wenn er die Tugend der Magnifizenz ausübt, ist der Eindruck der Größe.64 Unter dem Vorzeichen der Magnifizenz erscheinen daher die Gegenstände in besonderem Licht: Das Großartige will nicht unter dem Aspekt der Funktionalität betrachtet werden, sondern unter dem der Monumentalität, der Verwunderung und des ästhetischen Genusses. Lipsius beschäftigt sich auch mit römischen Wohnhäusern, Aquädukten, Kloaken, Straßen und Brücken. Doch das antike Rom, das er in den Admiranda entwirft, verdankt seine Großartigkeit den staunenswerten Dimensionen. So scheint sich der magnificus, wenn er ein großartiges Werk stiftet, wie ohne Hintergedanken und Zweitabsichten in seiner Eigenschaft als Aristokrat zu zeigen.65 Pontano schreibt: der Zweck der Magnifizenz ist, wie derjenige der übrigen Tugenden, ohne Interesse, jedenfalls wenn es zutrifft, dass ein Magnificus Großes tut, weil es für sich genommen schön, würdig und edel ist. Er erfreut sich des Umstands, dass er Großes bewirkt und sich dabei dem Decorum gemäß bezeigt hat.66
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Boecler: Institutiones politicae (wie Anm. 12), S. 323: „Plenus est principatus Tiberii talium exemplorum, quae honestatis magnificam speciem praeferunt: introspecta ad artes tyrannicas relata deprehenduntur. Hoc sensu etiam Tacitus noster dixit, virtutes non minus noxias esse, quam vitia, quotiens finguntur & simulantur prauos ad fines.“ Vgl. Pontano: De Magnificentia (wie Anm. 6), S. 166. Vgl. Caselius: Magnificentia et magnanimitas (wie Anm. 4), S. 18. Pontano: De Magnificentia (wie Anm. 6), S. 168: „[…] magnificentiae finis sit, ut coeterarum virtutum, gratuitus, siquidem magnificus magna efficit, quia per se pulchrum id sit, quia dignum, quia generosum, hoc solo contentus, quod magna effecerit quodque in illis efficiendis decenter se gesserit.“
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Magnifizenz transformiert die Konkurrenz um den politischen Vorrang in ein Spiel um den Eindruck der Größe und verlagert die Auseinandersetzungen in das Gebiet des Zeigens und Darstellens. Das Decorum der Magnifizenz ist an die beweglichen Codes des ästhetischen Urteilens und – avant la lettre – des guten Geschmacks gebunden. Als Größter unter den Großartigen gilt derjenige, dem es am überzeugendsten gelingt, magnificentia wie um ihrer selbst willen zu demonstrieren. Diese Freisetzung des Ästhetischen und seiner Medien als Verkehrsform betrachte ich als entscheidenden Beitrag der Frühen Neuzeit zur Geschichte der Magnifizenz-Konzepte. Im Sinn einer fortwährenden dissimulierenden Auseinandersetzung um Macht, Ansehen und ihre Regeln und Maßstäbe darf man die Darstellung von Magnifizenz als Verfahren ansehen, das es erlaubt, im komplexen und dynamischen Feld der Politik rational und kontrolliert zu handeln. Bei dem griechischen Philosophen ist Magnifizenz Bestandteil vornehmen Tugendverhaltens, das im Rahmen eines überschaubaren sozialen Gefüges ausgeübt wird und die Aufgabe hat, bestehende Strukturen zu bestätigen und zu erhalten; wenigstens mag man es sich so vorstellen. In der Frühen Neuzeit hingegen verwandelt sich Magnifizenz in einen Stabilisierungsfaktor, der greifen soll, wo eine von vielen anerkannte Ordnung nicht mehr vorhanden ist und vermisst wird. An deren Stelle tritt Magnifizenz als ästhetische Praxis.
Bianca Hufnagel (Tübingen) „Ein Tyrann in teutzschen landen“ als Catilina in der Unterwelt. Fünf Reden und ein Totengespräch als verdoppeltes Kampfmittel und als Begründer des (literarischen) Diskurses über Tyrannei bei Ulrich von Hutten In den Jahren 1515 bis 1519 schrieb der Humanist Ulrich von Hutten mehrere Texte, die ihre Entstehung einer am 7. Mai des Jahres 1515 in einem Teil der „teutzschen landen“1 sich ereignenden „boßhafftigen […] that“2 verdanken, bei der ein Fürst einen Ausritt dazu nutzte, einen ihm befreundeten und in seinen Diensten stehenden jungen Ritter zu ermorden. Trotz des eindeutigen Tatherganges wurde das Tötungsdelikt zum Anlass einer mit der Waffe der Schrift geführten langjährigen Fehde, bei der die Parteien ihre eigenen Interpretationen des Geschehens lieferten. Die vom Wortführer auf der Seite des Opfers, Ulrich von Hutten, aufgrund der Ermordung seines Verwandten Hans von Hutten durch Herzog Ulrich von Württemberg verfassten Schriften sind nun zwar durch den gleichen Anlass miteinander verbunden, gehören jedoch als Teile „einer gewaltigen, verschiedene literarische Formen durchspielenden publizistischen Kampagne“3 unterschiedlichen Gattungen an; indes findet sich auch hier eine Gemeinsamkeit, da sie jeweils die Werke eines antiken Autors rezipieren. Es handelt sich bei den genannten Texten um Huttens lateinische In Ulrichum Wirtenpergensem Orationes Quinque,4 die sich an Reden des antiken Philosophen, Politi-
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Ulrich von Hutten: Phalarismus. In: Ulrichs von Hutten Schriften. Hg. von Eduard Böcking. Neudruck der 1859-1861 bei B. G. Teubner erschienenen Ausgabe. Bd 4. Gespräche. Aalen 1963, S. 126, hier S. 5. Ausschreiben Ludwigs und anderer von Hutten gegen Herzog Ulrich von Wirtemberg. Zitiert nach Georg-Wilhelm Hanna: Mänade, Malefiz und Machtverlust. Herzog Ulrich von Württemberg und Hans von Hutten. Politische Folgen eines Mordfalls. Köngen 2003, S. 193-195, hier S. 193. Peter Ukena: Marginalien zur Auseinandersetzung zwischen Ulrich von Hutten und Herzog Ulrich von Württemberg. In: Wolfenbütteler Beiträge 1 (1972), S. 45-60, hier S. 46. Fünf Reden gegen Herzog Ulrich von Württemberg, genannt „die ‚Ulrichs-Reden‘, Hanna: Mänade (wie Anm. 2), S. 128. Siehe hierzu auch Erich Zimmermann: Ulrich von Huttens literarische Fehde gegen Herzog Ulrich von Württemberg. Diss. Greifswald 1922, sowie Leopold Wellner: Über die Beeinflußung einiger Reden Ulrichs von Hutten durch Cicero. In: Jahresbericht des K.-K. StaatsGymnasiums in Mährisch-Neustadt. Mährisch-Neustadt 1910, S. 5-23.
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kers und Redners Cicero orientieren,5 sowie um den zunächst auf Latein verfassten, später ins Deutsche übertragenen Dialog Phalarismus, mit dem Hutten die im mythologischen Hades spielenden Totengespräche des antiken Satirikers Lukian von Samosata wiederbelebt.6 Damit greift der Humanist auf Textsorten zurück, die sich sowohl formal als auch in ihrer Zielsetzung voneinander unterscheiden. Die Reden zeichnen sich durch eine „monologisch[e] Äußerungsform“7 aus, zumeist wird alles aus einer Perspektive beschrieben, die Stimme des Autors selbst ist zu hören. Der Dialog indes lässt andere Figuren sprechen und bietet eine „mehrstimmige[…] Argumentation“.8 Zudem rezipiert Hutten, bei dem „das aufgerufene Sujet […] für eine satirische Auseinandersetzung mit dem politischen und persönlichen Gegner genutzt [wird]“,9 mit den Reden Schriften, die (ihrerseits) politische Anlässe hatten,10 während der ‚Gattungsarcheget‘ der Totengespräche11 über allgemein menschliche Schwächen spottet. Die folgende Untersuchung der Schriften soll zeigen, auf welche Weise Hutten in ihnen versucht, als persönlich Betroffener eine objektive Beschreibung der Ereignisse zu geben und die eigene Partei dabei als schuldfrei darzustellen, auf welche Weise er Kritik übt aufgrund der ausbleibenden Bestrafung des Herzogs und wie er ein zunächst im privaten Umfeld anzusiedelndes Verbrechen politisiert und auf die Ebene eines staatsgefährdenden Skandals stellt. Durch die vergleichende Analyse der Reden und des Dialogs wird gezeigt, dass die unterschiedlichen Gattungen und die Übernahme bzw. Änderung von bereits in den antiken Texten Vorhandenem verschiedene Möglichkeiten eröffnen, zu argumentieren oder auf die Darstellungen der Gegenseite einzugehen.
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Hutten nutzte insbesondere die Reden In Catilinam, zudem auch die Philippicae und die Reden gegen Verres, allerdings auch noch weitere Schriften Ciceros, vgl. vor allem Wellner: Über die Beeinflussung (wie Anm. 4). Siehe zur ausführlichen Analyse des Phalarismus unter Zuhilfenahme der ‚Karnevalstheorie‘ von Michail Bachtin Bianca Hufnagel: „auß der vrsach das du ein Tyrann bist“. Die verkehrte Welt des lukianischen Totengespräches als politisches Kampfmittel bei Ulrich von Hutten. In: Daphnis 41 H. 1 (2012), S. 1-69. Hutten verfasste noch weitere Texte, so ein Trauergedicht auf den Toten und ein Trostschreiben an dessen Vater (vgl. hierzu auch Ukena: Marginalien [wie Anm. 3], S. 45f.). Als Kampfschriften gegen den Herzog haben besonders die hier behandelten Texte zu gelten. Wolfgang G. Müller: Dialog und Dialogizität in der Renaissance. In: Dialog und Gesprächskultur in der Renaissance. Hg. von Bodo Guthmüller und Wolfgang G. Müller. Wiesbaden 2004, S. 1731, hier S. 18. Müller: Dialog und Dialogizität (wie Anm. 7), S. 18. Manuel Baumbach: ‚Wenn Tote Politik betreiben‘ – Das Totengespräch und seine Rezeption im Humanismus am Beispiel von Erasmus und Hutten. In: Dialog und Gesprächskultur in der Renaissance. Hg. von Bodo Guthmüller und Wolfgang G. Müller. Wiesbaden 2004, S. 261-275, hier S. 271. Cicero schrieb z. B. seine Reden In Catilinam, um die Verschwörung seines Gegners bekannt zu machen. Vgl. Baumbach: Das Totengespräch (wie Anm. 9), S. 274.
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Die fünf Ulrich-Reden entstanden in den Jahren 1515 bis 1519. Die erste Rede wurde wenige Monate nach dem Mord an Hans von Hutten verfasst, hauptsächlich wird in ihr der Tatbestand zur Sprache gebracht. Die zweite Oratio, verfasst im April 1516, machten neue Untaten des Herzogs möglich, als die Ehefrau Ulrichs vor ihrem gewalttätigen Ehemann floh, die dritte wurde ein Jahr später geschrieben (im März 1517) und bringt Huttens Empörung darüber zum Ausdruck, dass zwei Jahre nach dem Verbrechen ein gemeinsames Vorgehen gegen Ulrich noch immer nicht gelungen war. Bereits im August 1517 schrieb Hutten die vierte Rede, in der er sich hauptsächlich mit Rechtfertigungen des Herzogs selbst auseinandersetzt. Im April/Mai des Jahres 1519 dann wurde der letzte Teil der Sammlung verfasst mit deutlichem zeitlichen und teilweise auch inhaltlichen Abstand zu den vorangehenden; in ihm wird der Sieg über den Herzog, der durch den Schwäbischen Bund aus Württemberg vertrieben wurde, gefeiert.12 Der Dialog entstand Ende 1516 bzw. Anfang 151713 in lateinischer Sprache und wurde – vermutlich von Hutten selbst –14 im Jahre 1519 ins Deutsche übersetzt. Verfasst wurde er damit wie die dritte Rede, als nach beinahe zwei Jahren die Tat des Herzogs noch keine bedeutenden Konsequenzen hatte. Der Phalarismus kann in zwei Teile gegliedert werden. Im ersten Part wird ein lebend in die Unterwelt hinabgestiegener neuzeitlicher Fürst, der lediglich als ‚Tyrann‘ bezeichnet wird, jedoch unschwer als Herzog Ulrich zu erkennen ist, von Götterbote Merkur und Unterweltsfährmann Charon zu Phalaris geführt, jenem berüchtigten Gewaltherrscher, der im 6. Jh. v. Chr. in Sizilien sein Unwesen getrieben hat. Hierbei kommt es zu Diskussionen über Fürstenlegitimation. Im zweiten Teil des Dialoges hingegen wird, nun von Phalaris und Ulrich, einvernehmlich erörtert, was das Wesen eines guten Tyrannen ausmacht.
1. Strategien, eine persönliche Beleidigung objektiv und die eigene Partei dennoch als schuldfrei darzustellen Wie Cicero in seinen Reden In Catilinam trotz der teilweise an Catilina gerichteten Worte letztlich den Senat und die Quiriten anspricht, so Hutten in den Orationes in Ulrichum den Kaiser und das ‚deutsche Volk‘, denn da „die I[nvektive] dadurch definiert ist, daß sie den Redegegner vernichten will, ohne ihn verbessern […] zu wollen, […] kann nicht der Redegegner selbst ihr Hauptadressat sein, sondern das Publikum“.15
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Vgl. zu diesen Datierungen Hanna: Mänade (wie Anm. 2), S. 129. Vgl. Hanna: Mänade (wie Anm. 2), S. 131. Vermutlich gab es zudem noch eine weitere Übersetzung, vgl. Ukena: Marginalien (wie Anm. 3), S.48ff. Vgl. zu der Übersetzungsfrage auch die Anmerkungen mit Berücksichtigung der Forschung bei Hufnagel: Die verkehrte Welt (wie Anm. 6), S. 2f., Anm. 8. Uwe Neumann: Invektive [Art.]. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg. von Gert Ueding. Bd. 4. Tübingen 1998, Sp. 549-561, hier Sp. 550. Bekannt sind die ersten Worte der ersten Catili-
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Hutten erklärt in der ersten Rede: „Sed iam credo locus est, ut brevibus rem gestam verbis exponam“,16 denn die Sache, über die er sprechen möchte, sei zwar bekannt, jedoch würden unterschiedliche Gerüchte über sie kursieren.17 Dass es so wichtig ist, die Ereignisse genau zu kennen, hat einen Grund: „audite, quaeso, facinus omni diritate atque immanitate deterius; deinde severe […] iudicate“,18 bittet Hutten, und erklärt damit, er wolle den Sachverhalt darlegen, damit die Zuhörer zu einem eigenständigen Urteil über Ulrich von Württemberg gelangen können. Noch vor dieser Aussage indes zweifelt Hutten den Sinn der Gattung ‚Rede‘ für seine Zwecke an, indem er klagt, er könne das Verbrechen des Herzogs nicht angemessen beschreiben. Spricht er wenig ausdrucksvoll, könnte die Sache unbedeutend erscheinen; spricht er mit zu großem Nachdruck, würde man ihm vorwerfen, er wolle alles übersteigern, um eine Verurteilung seines Gegners zu erreichen. nec ignorabam fieri posse, ut si vestrae expectationi non satisfacerem ego dicendo, ipsa levior contemptibiliorque causa fieret, ac tantum res ipsa vilesceret quantum mea laboraret facultas. Praesentius hoc, si in apparanda oratione parum operae insumpsissem, videbatur periculum, unde si me extricare vellem, illud obstabat, quod existimare aliquis poterat non sic damnatum istum, nisi ego sic dixissem, auctumque ei accusatione periculum et quaesitam studio ac arte calamitatem.19
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narischen Rede, die an den Gegner gerichtet sind, vgl. Marcus Tullius Cicero: In L. Catilinam. In: Marcus Tullius Cicero: Die politischen Reden. Bd. 1. Lateinisch-deutsch. Hg., übersetzt und erläutert von Manfred Fuhrmann. München 1993, S. 382-503, hier S. 382. Ulrich von Hutten: Vlrichi de Hvtten Eqvitis Germani in Vlrichvm Wirtenpergensem Orationes Quinque. In: Ulrichs von Hutten Schriften. Hg. von Eduard Böcking. Neudruck der 1859-1861 bei B.G. Teubner erschienenen Ausgabe. Bd. 5. Reden und Lehrschriften. Aalen 1963. S. 1-96, hier 1. Rede, S. 5 – „Doch ich muß nur die Sache kürzlich erzählen“. Ulrichs von Hutten fünf Reden gegen Herzog Ulrich von Würtemberg, nebst seinem Briefe an Pirkheimer. Aus dem Lateinischen übersetzt, und mit einer gedrängten Schilderung seines Zeitalters versehen von Gottlob Adolph Wagner. Chemnitz 1801, S. 109-394, hier S. 16. Hier sei angemerkt, dass Hutten Ulrich auch wörtlich als Catilina bezeichnet; vgl. Hutten: 3. Rede, S. 43. Übers. S. 232. Vgl. 1. Rede (wie Anm. 16), S. 5f.; Übers. (wie Anm. 16), S. 116. Hutten: 1. Rede (wie Anm. 16), S. 8. „Hört, ich bitte Euch, hört eine That, die noch weit unter allem Frevel, aller Unmenschlichkeit ist, und dann richtet streng“ (Übs. [wie Anm. 16], S. 124). Hutten: 1. Rede (wie Anm. 16), S. 3. „Ich […] sehe es gar wohl ein, daß meine Angelegenheit desto unbedeutender wird, je weniger meine Rede Eurer Erwartung entspricht, daß sie nothwendig in den Maaße verlieren muß, in welchem mein Rednertalent erschlafft. Wollte ich weniger Mühe auf meine Rede wenden, so mußte jene Besorgnis nur zu gegründet seyn; wollte ich dies vermeiden, so könnte man mir es ja wieder verargen, könnte sagen, das Urtel sey so ausgefallen, weil ich so gesprochen, meine Anklage habe die Gefahr nur vergrößert, ich habe absichtlich alle Kunst aufgeboten den Beklagten zu stürzen.“ (Übs. [wie Anm. 16], S. 109f.).
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Er kommt zu dem Schluss, dass es am besten ist, „nudam rem in medium ponere“,20 denn „ipsa se rectius ostenderet, ipsa vos moveret, ipsa excitaret, ipsa inflammatos redderet“.21 Angestrebt ist hiermit ein emotionsloses, sachliches Berichten der Tatsachen, doch auch dies ist nicht so einfach zu leisten, denn „dolor ipse mihi hoc propositum interverteret“.22 Hier zeigt sich, dass Hutten bereits das Problem des Zwiespaltes zwischen Subjektivität und Objektivität erkennt, welches in besonderem Maße gegeben ist, wenn ein Autor ein Verbrechen beschreiben möchte, durch welches er sich persönlich angegriffen fühlt; allzu leicht kann er der Parteinahme verdächtigt werden. Indem der Humanist sagt, dass die Tat alleine die Leser entflammen soll, erklärt er also nicht „mit exordialer Bescheidenheitstopik […], dass er in dieser Rede sein wesentliches Ziel, die Affekte der Leser gegen Herzog Ulrich aufzubringen […], nur schwer erreichen kann“,23 sondern er will gerade den Eindruck verhindern, dass dieses Ziel mit unlauteren Mitteln erreicht worden sei. Die Taktik, vorzugeben, mit anderen Gefühlen sprechen zu wollen als mit den wirklich empfundenen, übernimmt Hutten von Cicero, der in der ersten Catilinarischen Rede erklärt, er wolle mit dem Gegner mit Mitleid, nicht mit Hass sprechen.24 Hutten versucht nun indes, das dargelegte Problem zu verringern, indem er erklärt, an sich stehe das vernichtende Urteil der Angesprochenen über den Herzog bereits fest, nur ausgesprochen müsse es noch werden,25 womit er vorgeben will, dass seine Worte über gar keine so große Macht verfügen, Einfluss auf die Zuhörer zu nehmen, bzw. dass ein solcher ohnedies unnötig ist.26 Bevor er zu dieser Feststellung kommt, weist er allerdings mit figurenreicher Rede auf den entsetzlichen Verlust hin, den man mit dem Tod des jungen Mannes erlitten habe,27 und auch die nun folgende, anfangs zitierte Bitte, man möge ihm Gehör schenken, um anschließend selbst richten zu können, macht recht deutlich, dass er genau weiß, dass über den Herzog eben noch
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Hutten: 1. Rede (wie Anm. 16), S. 4. „[die Sache, B.H.] ganz nackt darzulegen“ (Übs. [wie Anm. 16], S. 110). Hutten: 1. Rede (wie Anm. 16), S. 4. „sie zeigte sich dann vielleicht grade von der richtigen Seite, sie selbst rührte, bewegte, entflammte Euch“ (Übs. [wie Anm. 16], S. 110). Hutten: 1. Rede (wie Anm. 16), S. 4. „da macht der Schmerz den Vorsatz unnütz“ (Übs. [wie Anm. 16], S. 111). Arnold Becker: Rhetorische Evidenz und dialogische Mimesis in Huttens literarischem Kampf gegen Herzog Ulrich von Württemberg. In: Norm und Poesie. Zur expliziten und impliziten Poetik in der lateinischen Literatur der Frühen Neuzeit. Hg. von Beate Hintzen und Roswitha Simons. Berlin/Boston 2013, S. 275-296, hier S. 278. Dieser Aufsatz wurde erst kurz vor Abschluss meines Manuskriptes publiziert. Erst danach erschien Arnold Becker: Ulrichs von Hutten polemische Dialoge im Spannungsfeld von Humanismus und Politik. Göttingen 2013. Vgl. Cicero: 1. Rede (wie Anm. 15), S. 396. Vgl. Hutten: 1. Rede (wie Anm. 16), S. 4; Übs. (wie Anm. 16), S. 111f. Mit Recht merkt Becker hier an, dass Hutten damit „bis an den Rand dessen, was im Rahmen des aptum geboten ist“ geht. Becker: Rhetorische Evidenz (wie Anm. 23), S. 281. Vgl. Hutten: 1. Rede (wie Anm. 16), S. 4; Übs. (wie Anm. 16), S. 111.
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kein Urteil gefällt wurde, erst recht nicht vom „Caesar“28 und allen „principes ac viri Germani”.29 Doch durch seinen dem Leser präsentierten Kampf zwischen Emotionen und dem Bemühen um objektive Berichterstattung versichert er, dass seine Texte ohne die Gefahr einer möglichen Beeinflussung gelesen werden können, und nimmt nebenbei den Leser schon einmal für sich und durch die hervorbrechenden Äußerungen über das Mordopfer auch für seine Sache ein. In Bezug auf Huttens Darstellung der Zweifel, ob die Rede eine geeignete Form sei für sein Vorhaben, von einem „spielenden Eingange“30 zu sprechen, ist damit verfehlt. Der Autor kommt nun zur eigentlichen Tat des Herzogs, und auch hier setzt sich das Ringen um Objektivität trotz Schmerzen fort. Über mehrere Seiten zieht sich Huttens Darstellung des gesamten Tatherganges bzw. der Ereignisse unmittelbar davor, wobei er sich selbst immer wieder unterbricht, um über das Geschehen hinausgehende wertende Anmerkungen einzuschieben, wenn er der Aussage, Hans sei ohne selbst Waffen zu führen vom Herzog mitgenommen worden,31 hinzufügt: „nescius miser ad quam cladem, ad quod exitium duceretur; quam non reversurus ad hunc fratrem, quam non revisurus hunc patrem exiret“,32 oder weil er den eigenen Emotionen nicht mehr standhalten kann: „Interturbor lachrymis, Germani, quo minus apte de his quae sequuntur decore et apposite dicam“.33 Eher knapp hingegen fällt die eigentliche Beschreibung der Tat selbst aus, wenn Hutten ausführt: „Placuit tandem in eam quae prope erat sylvam succedere. ibi tum illum qui sequebatur famulum in custodia relinquit carnifex, ipse inermem armatus, innocentem nocentissimus invadit ferro“,34 und beinahe sachlich klingt auch der Zusatz (durch den der Leser dennoch alle Informationen erhält): „utcunque evenerit, septem illud vulneribus omnibus letalibus confossum corpus repertum est“.35 Umso drastischer und unkontrollierter mutet hingegen Huttens Bericht der darauf folgenden Handlung an:
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Hutten: 1. Rede (wie Anm. 16), S.3. „Kayser“ (Übs. [wie Anm. 16], S. 109). Hutten: 1. Rede (wie Anm. 16), S. 3. „edle[n] teutsche[n] Männer[n]“ (Übs. [wie Anm. 16], S. 109). David Friedrich Strauß: Ulrich von Hutten. Mit 38 zeitgenössischen Bildern. Meersburg/Leipzig 1930, S. 93. Vgl. Hutten: 1. Rede (wie Anm. 16), S. 9; Übs. (wie Anm. 16), S. 125. Hutten: 1. Rede (wie Anm. 16), S. 9. „Ach der Unglückliche wußte nicht, zu welchem schrecklichen Tode er geführt wurde, daß er nicht zu seinem Bruder kehren, nicht seinen Vater wiedersehen würde“ (Übs. [wie Anm. 16], S. 126). Hutten: 1. Rede (wie Anm. 16), S. 9. „Ich muß weinen, teutsche Männe! ich kann nicht sprechen, wie es die Sache fordert.“ (Übs. [wie Anm. 16], S. 127). Hutten: 1. Rede (wie Anm. 16), S. 9f. „Endlich ritten sie in den nah gelegnen Wald. Hier ließ der Henker seinen Bedienten auf der Lauer zurück, und fiel ein Bewaffneter den Wehrlosen, ein Schuldiger einen Unschuldigen an.“ (Übs. [wie Anm. 16], S. 128). Hutten: 1. Rede (wie Anm. 16), S. 10. „Wie dem auch sey, man hat den Körper mit sieben tödtlichen Wunden gefunden“ (Übs. [wie Anm. 16], S. 128).
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quippe volutum ac revolutum, ut videre licuit, mortuum in sanguine lapsantem suo, varie laceratum ac divexatum loro qua succinctus fuerat, collo circumligato suspendit. […] ut videlicet infami ac maxime ignominioso supplicii genere notaret vitam innocentissimi iuvenis. 36
Sein Versprechen, den Tatbestand nackt darzulegen, hält er damit nicht ein, thematisiert dies durch die Bitte, man solle aufgrund seines Schmerzes doch nicht von ihm verlangen, auf angemessene Weise zu sprechen,37 indes selbst. Nun gehört zu einer objektiven Berichterstattung auch, dass sie sich mit der Stellungnahme der Gegenseite auseinandersetzt. In der Tat äußerte sich der Herzog zum Tathergang, wenngleich ausführlicher erst in seinem Ausschreiben vom September 1516, das „seinen Mord als Hinrichtung eines Übeltäters fadenscheinig rechtfertigte.“38 Er erklärt, man habe Hans, mit dem er zwischenzeitlich in Streit geraten war (der Gegenstand des Konfliktes wird noch zur Sprache kommen), gewarnt, mitzureiten, aber Hans wollte sich ‚gepanzert‘ dennoch anschließen.39 Als er aber syn bantzer damal nit zu Stutgarten gehabt, hat er nachmals wye er zu den andern die noch inn Leben, gesagt. Er wöll dannocht mit uns hinuß ryten, er wyß wol, wir werden ihm spitzige Wort geben, so wölle er uns gleich spitzige und stoltze wort wider geben.40
Das arrogante Gehabe des Hans von Hutten war dem Herzog schließlich zu viel, er habe „Ine daruff angeschryen, das er sich syn leibs und lebens wörn söllt“.41 Statt von einem hinterhältigen Mord ist von einer Aufforderung zum Zweikampf die Rede; zudem erklärt Ulrich, dass er „als ain Wissender Fryschoff“42 gehandelt habe, d. h. Hans wegen dessen Fehlverhalten nach dem Recht der Westphälischen Fehme gestraft habe, jenem oft heimlichen Gericht, bei dem Friedensbrecher mit Hängen bestraft wurden.43 Deshalb habe er ihn auch an den Baum gehängt, wie ihm „nach des fryen stuls recht, zu thon gebürt hat.“44 Da Ulrich sich erst eineinhalb Jahre nach dem Mord zu Wort meldete, konnte Hutten seine Argumente in den ersten beiden Reden nicht aufgreifen; doch auch später war es
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Hutten: 1. Rede (wie Anm. 16), S. 10. „Er wendet, wie man das gesehen, den Leichnam im Blute schwimmend, zerfetzt und zerrissen hin und her, und henkt ihn am Gürtel, den er umhatte, auf […] damit der schimpflichste, ehrloseste Tod den unschuldigen Jüngling brandmarkte“ (Übs. [wie Anm. 16], S. 129f.). Vgl. Hutten: 1. Rede (wie Anm. 16), S. 9; Übers. (wie Anm. 16), S. 127. Walther Ludwig: Der Ritter und der Tyrann. Die humanistischen Invektiven des Ulrich von Hutten gegen Herzog Ulrich von Württemberg. In: Neulateinisches Jahrbuch 3 (2001), S. 103-116, hier: S. 106. Vgl. Gedrucktes Ausschreiben Herzog Ulrichs wegen seiner an Hannsen von Hutten begangenen Handlung. Zitiert nach Hanna: Mänade (wie Anm. 2), S. 198-205, hier S. 201. Ausschreiben Ulrich (wie Anm. 39), S. 201. Ausschreiben Ulrich (wie Anm. 39), S. 201. Ausschreiben Ulrich (wie Anm. 39), S. 202. Vgl. zur Fehme auch Hanna: Mänade (wie Anm. 2), S. 60f. Ausschreiben Ulrichs (wie Anm. 39), S. 202.
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ihm damit nicht allzu eilig, wie er überhaupt auf die Hintergründe der Tat „in seinen ersten drei Reden nicht ein[geht]“.45 Erst in der vierten Oratio, beinahe ein Jahr nach Ulrichs Ausschreiben, kümmert sich Hutten um dieses, bemüht, die vom Herzog gegebene „neue narratio des Vorgangs“46 als absurd zu entlarven und argumentativ zu widerlegen;47 so fragt er u.a.: „Ubi mihi responde iterum, quid monere oportuit ut se defenderet, eum quem iure et ob delictum interimere licuit?“48 Zeitlich zwischen Ulrichs Ausschreiben und den Anmerkungen Huttens in den Reden jedoch steht der Dialog. Auch in ihm kommen die mit der Tat in Verbindung stehenden Fakten zur Sprache. In der Vorrede zum Totengespräch wird erklärt, dass Texte dieser Art geeignet sind, Dinge, über die offen nicht geredet werden darf, zur Sprache zu bringen.49 In der Tat ist es traditionell so, dass den in der Unterwelt aufeinandertreffenden Personen, weil im Hades keine Rücksichten mehr genommen werden müssen, das Aussprechen der „karnevalistischen Wahrheit“50 möglich ist, wobei diese eben nicht aus dem Munde der Autoren, sondern der Figuren zu hören ist; zudem ist die gegebene Dialogsituation immer eine Form der „objektiven Welt- und Gesellschaftsbetrachtung“,51 die deshalb gerne „als Verkleidung aktiver politischer Tendenz gewählt [wird].“52 Wenn nun jedoch mit Bezug auf Huttens Vorrede erklärt wird: „Wo die politischen Machtverhältnisse ein ungeschminktes Bekenntnis der Wahrheit verbieten, […] bedarf es also der Kunst ihrer geschickten Verpackung, damit sie […] überhaupt ans Licht dringen kann,“53 so wird übersehen, dass die Anmerkung in Huttens Vorrede nach Erscheinen von bereits zwei Reden zutiefst ironisch wirkt. Vielmehr ist sie dazu da, „um über Strategie und Technik [des] Vorgehens zu reflektieren“,54 denn Hutten nutzt das Unterweltsgespräch zu Zwecken „der Verfremdung und Perspektivenverschiebung“.55
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Hanna: Mänade (wie Anm. 2), S. 129. Ludwig: Die humanistischen Invektiven (wie Anm. 38), S. 111. Vgl. Ludwig: Die humanistischen Invektiven (wie Anm. 38), S. 111. Hutten: 4. Rede (wie Anm. 16), S. 64. „Sage, warum riethest du ihm, sich zu vertheidigen, da du ihn mit Recht seines Vergehens wegen umbringen durftest?“ (Übs. [wie Anm. 16], S. 302). Vgl. Hutten: Phalarismus (wie Anm. 1), S. 3. Michail M. Bachtin: Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur. Aus dem Russischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Alexander Kaempfe. Frankfurt a.M. 1990, S. 27. Wolfgang Mohr/Werner Kohlschmidt: Politische Dichtung [Art.]. In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. 2. Aufl. Hg. von Werner Kohlschmidt und Wolfgang Mohr. Bd. 3. Berlin/New York 1977, S. 157-220, hier S. 159. Mohr/Kohlschmidt: Politische Dichtung (wie Anm. 51), S. 159. Barbara Könneker: Satire im 16. Jahrhundert. Epoche – Werke – Wirkung. München 1991, S. 30. Könneker: Satire (wie Anm. 53), S. 28. Jürgen Brummack: Satire [Art.]. In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. 2. Aufl. Hg. von Werner Kohlschmidt und Wolfgang Mohr. Bd. 3. Berlin/New York 1977, S. 601-614, hier S. 602.
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Im Dialog stellt sich das Problem der subjektiven Rede des Autors nicht, denn ausführlich berichtet der Herzog selbst dem Tyrannen Phalaris vom Mord an Hans von Hutten: vnd als er auß sollichem geheiß mit mir geritten was, vnd in ein walt kommen, vberfiel ich ien ungewarnet, vnd bloß, grimmicklich vnd graußamlich tötend, Dan vber das ich mein schwert fünff mal in ien gestochen, vnd mit sieben tödtlichen wunden geletzet, hab ich noch gegen dem todten leichnam gewütet, darnach das vnschuldig blüt, als bei uns teutzschen vor sere schendtlich geacht würd, mit hencken geschmecht.56
Die Beschreibung des einfachen Tathergangs nun beruht auf Tatsachen und ist auch vom literarischen Ulrich nicht übertrieben dargestellt.57 Übertrieben dürfte indes das Behagen des Dialog-Herzogs sein, wenn er genüsslich beschreibt, wie er sein Schwert in Hans stach, und in Bezug auf den Mord erklärt: „jch hab mir eynnen lust wöllen schaffen“.58 Aus einem gewollten Zweikampf bzw. der Tötung nach dem Recht der Fehme aus Sicht des realen Herzogs wird ein ‚Lustmord‘ des Dialog-Ulrich. Der literarische Herzog überführt den realen der Lüge, indem er ausschließlich detailreich von den grausamen Einzelheiten der Tat berichtet und anders als Hutten in der Rede gerade bei der Beschreibung der Tötung sehr bildlich spricht. Nun hat dieser Mord, gleich, mit welchen Emotionen er ausgeführt wurde, auch ein Motiv, welches der Herzog in seinem Ausschreiben selbst nennt, wenn er darlegt: Zu dem allen hat er uns gesparter warhait, mit erdichter, gestiffter Lügin zugemessen und von uns ußgeben, das wir ein erentrych frawenbild, löblichs, eerlichs stammes, namens und herkummens, so sich gegen uns und meniglichem loblich, eerlich und wohlgehalten hat, sollten understanden und furgenummen haben, an iren eeren zu schwechen, schmehen, und unsern ungebürlichen willen mit jr zuuolbringen.59
Es handelt sich bei diesem „frawenbild“60 um die Ehefrau seines Opfers, „Ursula, Tochter des württembergischen Erbmarschalls Conrad von Thumm“,61 denn der Herzog hatte sich in sie verliebt und versuchte, bei Hans zu erreichen, dass dieser einer Affäre nicht im Wege stehe. Der Freund aber mochte „weder männlich reif noch lebenserfahren genug gewesen sein, dieses – wenn auch in der Form an die Grenze des Ritterlichen reichende – Geständnis seines ‚Freundes‘ für sich zu behalten“.62 Es ist wieder die vierte Rede, in der Hutten auf diese Vorwürfe eingeht. Er ist bemüht, das Verhalten des Hans von Hutten zu rechtfertigen, denn sicher war es verständlich, dass Hans, der fürchtete, durch eine Absage in Ungnade zu fallen, was mindestens „das Ende einer erhofften
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Hutten: Phalarismus (wie Anm. 1), S. 11f. Vgl. auch den Bericht des Tatherganges in der Geschichtsforschung, so bei Hanna: Mänade (wie Anm. 2), S. 55f. Hutten: Phalarismus (wie Anm. 1), S. 23. Ausschreiben Ulrichs (wie Anm. 39), S. 200. Ausschreiben Ulrichs (wie Anm. 39), S. 200. Ukena: Marginalien (wie Anm. 3), S. 45. Hanna: Mänade (wie Anm. 2), S. 53.
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Karriere“63 zur Folge gehabt hätte, Rat suchte, jedoch war die Sache einem größeren Personenkreis bekannt, als nötig war, möglicherweise sogar Personen, die Ulrich ohnehin nicht gewogen waren,64 und dem unaufhörlich argwöhnischen und hellhörigen Herzog Ulrich kamen spöttische Reden aus dem Freundeskreis zu Ohren. […] Er leugnete und verschwor sich, doch konnte er der Verbreitung dieses Geredes nicht Herr werden und sah letztlich in Hans von Hutten den Veranlasser.65
Hutten wollte mit seinen Schriften auch den hohen Adel erreichen, dem es missfallen konnte, dass mit Hans von Hutten ein Ritter einen Fürsten der Lächerlichkeit preisgegeben hatte. Es war nötig, das Mordopfer von jeglichem möglichen Vorwurf zu befreien, weil „eine gewisse Sympathie dem Täter gehörte, da der ermordete Höfling sich durch sein despektierliches Fehlverhalten unmöglich gemacht hatte“.66 Es heißt in den Reden im Versuch, das Verhalten des jungen Hutten zu erklären: „Interim veritus, ne (quod factum postea est) ex amore uxoris nasceretur sui odium, amicos monuit, patri scripsit, ac undique consilium coegit quomodo se tibi eriperet“.67 Die Aufgabe, Hans zu entlasten, übernimmt im Dialog Ulrich, der stolz berichtet, er hätte den „edlen jüngling“68 getötet, als er „in lieb gegen derselbigen [also dessen Weib, B.H.] entspan“.69 Die Tatsache, dass „ein verletztes Ehrgefühl durchaus auch ein Grund für die […] Tat sein konnte, lässt Hutten die Figur Ulrich wohlweislich ‚verschweigen‘“.70 Es existierte nun also die Aussage des realen Ulrich, bei dem Ermordeten handele es sich um einen „Trewloßen Flaischbößwicht“71 zugleich mit der über das „unschuldig blüt“72 des literarischen Fürsten. Dem Rechtfertigungsversuch in den Orationes stehen im Dialog damit die Aussage Ulrichs, die eine genaue Umkehrung der
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Hanna: Mänade (wie Anm. 2), S. 51. Vgl. auch Strauß: Ulrich von Hutten (wie Anm. 30), S.86f. Hanna: Mänade (wie Anm. 2), S. 53. Möglicherweise hatte sich Hans ursprünglich selbst zum Schweigen verpflichtet, vgl. Gustav Radbruch und Heinrich Gwinner: Geschichte des Verbrechens. Versuch einer historischen Kriminologie. Frankfurt a.M. 1990, S. 149, zudem auch Strauß: Ulrich von Hutten (wie Anm. 30), S. 86. Hanna: Mänade (wie Anm. 2), S. 75. Selbst Ludwig von Hutten, der Vater des Hans, war offensichtlich vorsichtig, wenn es mit Bezugnahme auf ein Schreiben von ihm heißt: „Er kann in der Kernfrage, ob sein Sohn schuldig oder unschuldig ist, noch keine Antwort geben.“ (Hanna: Mänade [wie Anm. 2], S. 78. Hutten: 4. Rede (wie Anm. 16), S. 60. „Indeß fürchtete er, was auch nachher geschah, seines Weibes Liebe zu dir möchte in Haß gegen ihn ausarten; da benachrichtigte er seine Freunde, schrieb an seinen Vater, zog überall Rath ein, wie er dir entgehen könnte.“ (Übs. [wie Anm. 16], S. 289). Hutten: Phalarismus (wie Anm. 1), S. 10. Hutten: Phalarismus (wie Anm. 1), S. 10. Hufnagel: Die verkehrte Welt (wie Anm. 6), S. 21. Ausschreiben Ulrichs (wie Anm. 39), S. 201. Hutten: Phalarismus (wie Anm. 1), S. 12.
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Rede des realen Herzogs ist, sowie das Verschweigen von für eine neutrale Beurteilung des Geschehens wichtigen Informationen gegenüber. Durch Zwischenrufe, durch eine wie nebenbei mit Details aufgeladene Berichterstattung sorgt Hutten in den Reden dafür, dass seine Darstellung nicht ganz so nüchtern ist, wie er es anfangs vorgibt, mit nicht allein beschreibenden, sondern wertenden Aussagen macht er seine Leser für die in seinen Augen größte Schändlichkeit des Verbrechens empfänglich; durch seine zur Schau getragene Bemühung um einen neutralen Bericht aber entzieht er sich dem Vorwurf der Parteilichkeit, durch den eigens thematisierten Schmerz, der ihm den objektiven Bericht angeblich schwer macht, kann er solche Emotionen auch bei den Lesern hervorrufen, ohne dass dieses Bewirken von Gefühlen als Mittel, eine Verurteilung des Gegners zu erreichen, ausgelegt werden könnte. Im Dialog indes tritt ein berechnender Mörder dem Leser entgegen, der beim Bericht vom Mord ganz offensichtlich den Genuss, den ihm diese Tat bereitete, erneut durchlebt. Das Totengespräch arbeitet insgesamt mit anderen Mitteln als die Reden, denn es bietet dem Herzog die Möglichkeit zur Selbstcharakterisierung. Ist Hutten in den Reden bemüht, seine Anklage des Fürsten als eher harmlos darzustellen, so ist der Phalarismus, in dem die Rezipienten „angewidert dem Gespräch lauschten“,73 zerstörerisch ohne anzuklagen,74 denn in ihm wälzt Hutten „die Verantwortung […] seiner bitteren Urteile auf die Schultern der Gestalten“.75 Will Hutten in den Reden die Leser mittels einer neutralen Berichterstattung, die er dann unterläuft, zu einem Urteil bringen, so gilt für den Dialog, dass die Rezipienten durch den Bericht des Herzogs „zu einer Art Richter über die Gesprächspartner wurden“.76 Wie bedeutend dieser Perspektivenwechsel ist, zeigt sich, wenn Hutten in der dritten Rede erklärt, es reue ihn aufgrund der Untätigkeit seiner Landsleute, Ulrich angeklagt zu haben, und er sich fragt, ob es denn nur diese Anklage gewesen sei, die den Herzog zum Verbrecher machte.77 Der kurz vor dieser Rede verfasste Dialog ist also eine Alternative zu den Orationes, demgegenüber wirkt die verzweifelte Erklärung in der dritten Oratio, Hutten wünsche sich, durch Verstellung seinen Schmerz verbergen zu können, wozu er leider aufgrund der Größe des Leides nicht fähig sei – womit er nahtlos an das gespielte Ringen um Objektivität der ersten Reden anschließt und indirekt gerade dadurch auf den Dialog verweist –, nahezu spöttisch.
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Baumbach: Das Totengespräch (wie Anm. 9), S. 273. Vgl. hierzu auch Hufnagel: Die verkehrte Welt (wie Anm. 6), S. 39 sowie Thomas W. Best: The Humanist Ulrich von Hutten. A Reappraisal of his Humor. Chapel Hill 1969, S. 62. Johannes Rentsch: Das Totengespräch in der Litteratur. In: Johannes Rentsch: Lucianstudien. Plauen 1895, S. 15-40, mit Anmerkungen zu ‚Lucian und Voltaire‘ sowie ‚Das Totengespräch in der Litteratur‘ bis S. 44, hier S. 15. Baumbach: Das Totengespräch (wie Anm. 9), S. 273. Vgl. Hutten: 3. Rede (wie Anm. 16), S. 44; Übers. (wie Anm. 16), S. 234f.
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2. Strategien, die mangelnde Handlungsbereitschaft des Reichsoberhauptes zu kritisieren Anders als in der ersten Rede angegeben, genügt es Hutten nicht, dass die Landsleute ihr eigenes Urteil über Ulrich fällen; vielmehr soll die Tat folgen. Am Beispiel des Kaisers soll gezeigt werden, wie Hutten dies zu erreichen sucht. Zu Beginn der Fehde ist Huttens Vertrauen in Maximilian I. ungebrochen, wenn er von ihm sagt: „de quo [Maximilian, B.H.] pertinaciter opinamur, etiamsi non accusassemus, utique futurum ut ultro hunc ad supplicium raperet“.78 Es sollte sich indes zeigen, dass der Kaiser um einen Ausweg verlegen war, denn zwar hatte er Ulrich im Oktober 1516, also kurz vor der Abfassung des Phalarismus, in Bann gesetzt, diesen aber bald durch den ‚BlaubeurerVertrag‘ ersetzt, der die Macht des Herzogs zwar einschränkte, an den sich Ulrich jedoch keineswegs zu halten gedachte.79 In der dritten Rede greift Hutten die Deutschen aufgrund ihrer noch immer anhaltenden Untätigkeit heftig an, doch gegenüber dem Kaiser ist er merklich zurückhaltender, so übt er Kritik dadurch, dass er unter dem Deckmantel der Besorgnis um Maximilians Ruf erklärt, in welchem Licht der Kaiser vor den Augen anderer Nationen stehen würde: „Tuum vero nomen, Maximiliane Caesar, ut tractabitur? […] Ausim dicere futurum, ut loquantur externi reges ‘Imperatorem imperio, imperium imperatore egere’“.80 Sogleich weiß er Maximilians zögerliche Haltung zu entschuldigen: „quia enim communis haec tibi nobiscum causa est, vis a suspicione alienus esse, ne privatam potius contumeliam ulcisci quam publicum punire crimen videaris“.81 Gemeint ist hier, dass der Eindruck entstehen könnte, Maximilian gehe nur deshalb gegen den Herzog vor, weil er ihm ohnehin zürne, denn Ulrich führte eine recht unglückliche Ehe mit Maximilians Nichte Sabina und Verwandte Sabinas hatten sich zudem mit den Huttens gegen den Herzog verbündet (dies wird im Folgenden noch zur Sprache kommen). Am Ende der dritten Rede merkt Hutten noch an, er habe alles nur ausgeführt, damit man ihm keine Vorwürfe machen könne: „nunc satis puto id a me factum quod in re tali debuit, quo ne
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Hutten: 1. Rede (wie Anm. 16), S. 12. „Ja ich bin fest überzeugt, wäre ich auch nicht als Kläger aufgestanden, er hätte doch den Verbrecher zum Richtplatz geschleppt.“ (Übs. [wie Anm. 16], S. 135). Vgl. Hanna: Mänade (wie Anm. 2), S. 114f. Hutten: 3. Rede (wie Anm. 16), S. 46. „Wie wird man dich, Maximilian, behandeln? […] Ich wage es zu behaupten, daß fremde Könige sagen werden, dem Kayser fehle ein Reich, dem Reiche ein Kayser.“ (Übs. [wie Anm. 16], S. 244). Hutten: 3. Rede (wie Anm. 16), S. 46f. „Die Sache betrifft dich, wie uns, du willst dir den Verdacht ersparen, als rächtest du mehr eine Privatbeleidigung, denn ein Vergehen gegen den Staat.“ (Übs. [wie Anm. 16], S. 244).
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quis dicat nostrae defuisse iniuriae“.82 Eindeutig folgt er mit dieser zuversichtlichen und erklärenden Art des Aufrufes Cicero, der in der vierten Catilinarischen Rede dem Senat sagt: „Atque haec, non ut vos qui mihi studio paene praecurritis excitarem, locutus sum, sed ut mea vox quae debet esse in re publica princeps officio functa consulari videretur.“83 Auch im Totengespräch kommt Hutten auf den Kaiser zu sprechen, denn Götterbote Merkur erklärt Fährmann Charon: jupiter, als er mir beualle mit diessem hierein zugehen, gebot er mir darneben, dem keißer Maximiliano zu sagen, dz er gedencke vnd der sachen acht habe, auff das sich nit weitter vnrad oder vffrur in dem reich erhebe, vnd jm zum öfftern mal in die oren bloß, die zween verß des kriechischen poeten Homerj, […] Der sol nit schlaffen die gantze nacht, dem beuolhen ist eine grosse macht.84
In den Reden wird Maximilians Zögern als bedächtige Überlegung darüber dargestellt, ob nicht ein Vorgehen gegen den Herzog missverstanden werden könnte; im Dialog verschläft Maximilian seine Pflicht ganz einfach, obwohl offensichtlich nicht allein eine private Angelegenheit zu ahnden ist, sondern die Gefahr von „vnrad oder vffrur“85 vorliegt, und wenn Charon skeptisch erwidert: „Ich förchte du werdest nit vil außrichten“,86 werden Zweifel an der Regierungsfähigkeit des Reichsoberhauptes deutlich. Merkurs Antwort auf Charons skeptische Bemerkung, „Ich werde, dann Maximilian ist ein redlicher fürst, darzu hasset er diesen wütterich seer vnd fast vmb sein missetadt also dz man meinet er wird im bald sein recht thun lassen“,87 ist denn auch als eine Art Fürstenspiegel zu verstehen, mit welchem dem Kaiser vor Augen geführt wird, wie er sich zu verhalten habe, in dem sich aber, ebenso wie in Merkurs Vorhaben, Maximilian durch Worte aufzurütteln, die Hoffnung äußert, dass dieser sich jenes Verhalten noch aneignen kann. Aus einer vorsichtigen, mit zuversichtlichem Lob angereicherten Handlungsaufforderung und schließlich einer den Adressaten des Tadels selbst entschuldigenden Kritik in den Reden wird das deutliche Zur-Sprache-Bringen der Pflichtvergessenheit des Kaisers im Dialog. Die unterschiedlichen Gattungen erfordern also je ganz eigene Aufforderungstechniken bzw. machen bestimmte erst möglich. Zudem muss Hutten in den Reden die eigenen Bedenken und die Zuversicht bezüglich der Tatkraft Maximilians durch ei-
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Hutten: 3. Rede (wie Anm. 16), S. 53. „Für jetzt habe ich soviel gethan, als nöthig war, daß niemand sagen könne, ich habe meine Beleidigung nicht verfochten“ (Übs. [wie Anm. 16], S. 267). Cicero: 4. Rede (wie Anm. 15), S. 498. „Und dies habe ich nicht gesagt, um euch, die ihr mir in eurem Eifer fast vorauseilt, anzutreiben, sondern damit man sieht, daß ich mit meiner Stimme, die sich in unserem Staate als die erste erheben muß, meiner konsularischen Pflicht genüge.“ (Übs. Fuhrmann ([wie Anm. 15], S. 499) Hutten: Phalarismus (wie Anm. 1), S. 9. Hutten: Phalarismus (wie Anm. 1), S. 9. Hutten: Phalarismus (wie Anm. 1), S. 9. Hutten: Phalarismus (wie Anm. 1), S. 9.
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ne Stimme, nämlich seine eigene, ausdrücken, ohne dabei in Widerspruch zu geraten, im Dialog kann er Zweifel und Hoffnung auf zwei Sprecher aufteilen und nebenbei Merkurs Vorhaben, den Kaiser mittels poetischer Worte aufzurütteln, durch deren Einbettung in den literarischen Text selbst ausführen.
3. Strategien, eine private Affäre als staatsgefährdenden Skandal darzustellen So wie nun Hutten Maximilian in den Reden damit entschuldigt, dass dieser nicht den Anschein erwecken möchte, eine private Angelegenheit zu rächen, so ist dem Autor daran gelegen, selbst nicht in diesem Verdacht zu stehen, denn „in der ersten Phase der Huttenschen Händel ist noch ein persönlicher, ein privater und unpolitischer Charakter zu erkennen“.88 In der ersten Rede erklärt Hutten: „Ad multos adeo unius interitus pertinet“,89 doch diese Vielen sind Familienangehörige, deren Leid er zuvor beschreibt. Der Mord war nun sicher verwerflich, aber er ging zunächst nicht das ganze deutsche Land etwas an; zudem hatte der Bruder des Mordopfers selbst einmal im Streit einen anderen Ritter ermordet,90 die Tat war also kein unerhörter Einzelfall. In den Reden findet sich eine Steigerung bezüglich der Versuche, das private Verbrechen als politischen Skandal erscheinen zu lassen. Hutten macht den Mord zu einer öffentlichen Angelegenheit, indem er sogleich den Kaiser und deutsche Männer anspricht, und die Tat für das ganze Land interessant, wenn er mit Bezug auf Deutschland erklärt: „optimam ac integerrimam huius nationis existimationem […] turpissimo hic probro, crudelissimo parricidio, nefaria proditione polluit“,91 und ausführt: „magisque in hoc reo publica causa quam noster luctus nostraque accusatio spectanda sit“.92 Die Tragweite des Verbrechens nun wird zwar auf Deutschland ausgeweitet, doch wird sie mehr in einen rein moralischen als in einen politischen Kontext gestellt. Im Dialog ist von vornherein alles in einen politischen Rahmen transferiert, denn der für seine Grausamkeit bekannte Phalaris ist „seinem deutschen Pendant im Traum erschienen […], um ihn in die Unterwelt zu sich einzuladen“,93 auf dass er ihn in der Kunst der Tyrannei unterrichten könne. Auch der Mord wird sogleich in den Kontext dieser Tyrannei gestellt, denn Ulrich erklärt: „Nach dem du mich etwan im schlaf
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Hanna: Mänade (wie Anm. 2), S. 74. Hutten: 1. Rede (wie Anm. 16), S. 5. „So geht eines Mannes Tod viele an“ (Übs. [wie Anm. 16], S. 114). Vgl. Hanna: Mänade (wie Anm. 2), S. 45. Hutten: 1. Rede (wie Anm. 16), S. 13. „Den unverletzten schönen Ruf dieser Nation […] hat er mit Schande, mit dem grausamsten Morde, mit dem schändlichsten Verrathe befleckt.“ (Übs. [wie Anm. 16], S. 138). Hutten: 1. Rede (wie Anm. 16), S. 13. „Und warlich, es gilt hier mehr dem Staat, als unserm Kummer, unsere Anklage“ (Übs. [wie Anm. 16], S. 139). Hanna: Mänade (wie Anm. 2), S. 132.
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vermanet, hab ich dir in etzlichen dingen gevolget“,94 und das erste Vergehen, mit dem er ihm folgte, war eben der Mord an Hans.95 Ulrichs Mord kann somit nicht als private Angelegenheit verstanden werden, sondern ist als die Tat eines Herrschers zu sehen, der bestrebt ist, eine Gewaltherrschaft zu errichten, womit zugleich impliziert ist, dass der Angriff „wenigstens dem Anspruch nach nicht rein privat motivierter Feindseligkeit entspringt“.96 Für Hutten nun wird die ein halbes Jahr nach dem Mord erfolgte Flucht der Ehefrau Ulrichs, Sabina, vor ihrem Mann, der zu Gewalt ihr gegenüber neigte, eine willkommene Gelegenheit, eine zweite Rede zu schreiben, insbesondere, da er schon jetzt bemerken muss, „wie schwierig es war, einen regierenden Fürsten für eine solche Tat [wie den Mord, B.H.] zur Rechenschaft zu ziehen“.97 Durch die nur scheinbar rein private Angelegenheit der Flucht Sabinas war per se ein weiterer Teil Deutschlands mobilisiert, denn sie reiste zu ihren herzoglichen Brüdern nach Bayern. „Was zunächst wie ein melodramatisches Rührstück ausgesehen hatte, wurde damit zu einer hochbrisanten politischen Angelegenheit, denn jetzt hatten die Huttens in den Bayern potente Verbündete gefunden.“98 Hutten hatte die Hoffnung, dass eine Verurteilung des Fürsten nun stärker im Fokus auch des höchsten öffentlichen Interesses stehen könnte, denn „[d]er Kaiser suchte zu vermitteln, aber er schwenkte immer stärker auf die Seite von Ulrichs Gegnern“.99 So ist der Autor sogleich bemüht, zu Anfang der zweiten Rede den Mord mit der weiteren Untat zu verbinden, wenn er Maximilian und die bayerischen Herzöge mit folgenden Worten anspricht: Quod enim meliores indicium voluntatis aut quod immutati animi signum praefert qui hoc suo tam atroci vigente periculo, te gravissime ad principes ac populum Germaniae de eius capite referente, uxori suae, nobilissimae ac pudicissimae foeminae, tuae, invictissime Caesar, nepti, vestrae, illustrissimi Bavari, sorori, […] necem intentavit.100
Bei Hutten wird die Herzogin „aufs Sympathischste gezeichnet“.101 So beschreibt er sie in den Reden auf folgende Weise: „ita species est eximia, ita iucunda conversatio; ita
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Hutten: Phalarismus (wie Anm. 1), S. 10. Vgl. Hutten: Phalarismus (wie Anm. 1), S. 10. Brummack: Satire (wie Anm. 55), S. 602. Ludwig: Die humanistischen Invektiven (wie Anm. 38), S. 106. Eckhard Bernstein: Ulrich von Hutten. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten dargestellt. Hamburg 1988, S. 51. Volker Press: Herzog Ulrich von Württemberg (1498-1550). In: Volker Press: Adel im alten Reich. Gesammelte Vorträge und Aufsätze. Hg. von Franz Brendle und Anton Schindling in Verbindung mit Manfred Rudersdorf und Georg Schmidt. Tübingen 1998, S. 71-91, hier S. 75. Hutten: 2. Rede (wie Anm. 16), S. 23. „Zeigt der wohl bessern Willen, oder Sinnesänderung, der bey dieser schrecklichen Gefahr, zu einer Zeit, wo du von der teutschen Nation und ihren Fürsten den Spruch über ihn einholst, seiner edlen, keuschen Gattin, deiner Nicht, Eurer Schwester, erlauchte Bayern, nach dem Leben trachtet?“ (Übs. [wie Anm. 16], S. 169). Bernstein: Ulrich von Hutten (wie Anm. 98), S. 52.
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omnia quae facit quaeque loquitur perdecent, ut pene magis mirum sit quod has ille dotes odisse quam quod illius haec intemperiem ferre potuerit“,102 und spricht von ihr als einer Frau, die Ulrich erst Glanz gab.103 In Wahrheit war Sabina wohl nicht so schön und angenehm, wie Hutten es zeigen möchte, sondern vielmehr „eine maskuline, herbe und streitlustige Person“.104 Nun ist es sicher richtig zu sagen: „Die Fiktion der […] forensischen Rede verlangte eine einseitige Parteinahme“,105 doch gerade da der Kaiser und die bayerischen Herzöge, und damit Verwandte Sabinas, angesprochen wurden, muss diese Beschreibung auch als Versuch gewertet werden, die potentiellen Parteigänger durch das in Reden beliebte Mittel des blandiri106 für sich einzunehmen. Auch im Dialog greift Hutten dieses Thema auf, so sagt Ulrich über Sabina: Vber massen hasset ich sie, wüste doch selbs nit auß was vrsach, Dan sie von schönheit ires leibs, auch zucht der geberen vnd sitten also geschickt, das sie billich, aller gunst vnd liebe würdig ist, darzu von altem vnd edlem geschlecht, also das grösser zier in mein haus vnd geschlecht nie kam, dan auß der selbigen Ehe.107
Wie sich über sich selbst wundernd, fügt er hinzu: „jedoch hasset ich sie.“108 Ganz anders aber mutet jetzt diese verfälschende Beschreibung der Herzogin an, denn hier demaskiert der Ehemann selbst seine an Sabina begangenen Untaten als unverständlich. Wenn Bauer erklärt, Hutten gelinge es mit der Selbstdarstellung des Herzogs diesen „in die Sphäre reiner Komik zu erheben“,109 so fragt sich, ob das auch für die Aussage über die Herzogin gilt. Die Wirkung des Lobes in den Reden, nämlich Sabinas mächtigen Verwandten zu schmeicheln, würde hier möglicherweise zugunsten der Karikatur des Herzogs unterlaufen. Da es nun also außer vom Mord mit der Flucht der Herzogin neue Untaten des Herzogs zu berichten gibt, fühlt Hutten sich in dieser zweiten Rede bereit, einen Schritt weiter zu gehen.
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Hutten: 2. Rede (wie Anm. 16), S. 24. „Ihr Äusseres ist so schön, ihr Umgang so angenehm, so sittig all ihr Thun und Lassen, daß es fast mehr zu verwundern ist, wie Er solche Gaben hassen, als wie sie seinen Umgang ertragen konnte.“ (Übs. [wie Anm. 16], S. 172). Vgl. Hutten: 2. Rede (wie Anm. 16), S. 24f., S. 25; Übs. (wie Anm. 16), S. 172, S. 174. Press: Herzog Ulrich von Württemberg (wie Anm. 99), S. 75. Bernstein: Ulrich von Hutten (wie Anm. 98), S. 52. Vgl. Stefanie Arend: Einführung in Rhetorik und Poetik. Darmstadt 2012, S. 38. So schreibt auch Strauß: „Die bayrische Sabine mit den lichtesten Farben zu malen, dazu war übrigens Hutten nicht bloß durch den rednerischen Kontrast, sondern auch durch das Verhältnis veranlaßt, in welches […] Sabinens Flucht die Huttenschen zu den Brüdern der Herzogin gebracht hatte.“ Strauß: Ulrich von Hutten (wie Anm. 30), S. 101. Hutten: Phalarismus (wie Anm. 1), S. 13f. Hutten: Phalarismus (wie Anm. 1), S. 14. Albert Bauer: Der Einfluss Lukians von Samosata auf Ulrich von Hutten. In: Philologus 76 (1920), S. 192-207, hier S. 195.
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Neben der üblichen Topik suggeriert die I[nvektive] häufig auch, daß die angegriffene Person eine Verkörperung des seit der attischen Tragödie geläufigen Tyrannentypus sei – eine Unterstellung, die besonders geeignet war, die Empörung beim Publikum zu erregen,110
und Hutten folgt diesem antiken Brauch, denn nun spricht er von Ulrich von einem Fürsten, „qui [Ulrich, B.H.] omnes tyrannos saevitia superavit“,111 womit er das entscheidende ‚Stigmawort‘ Tyrann nicht nur verwendet,112 sondern die Aussage, der Herzog sei ein solcher, sogleich überbietet, indem er Ulrichs Taten an die Spitze aller jemals von Gewaltherrschern verübten Verbrechen stellt. Aber auch dies ist für ihn noch auszuweiten. In der dritten Rede fragt Hutten die Leser, ob sie denn wollten, „ut hic primus in Germania tyrannidem occupet?“113 Aus einem deutschen Fürsten, der einen Mord beging und seine Frau schlecht behandelte, wird der erste, der das gesamte deutsche Land mittels einer Gewaltherrschaft unterwirft. Ohne Zweifel ist diese Aussage in den Reden als kühn zu bezeichnen; anders sieht es im Dialog aus, in dem sie von der für Angelegenheiten dieser Art höchsten Autorität geäußert wird, denn hier ist es Phalaris, der gleich nach der Erzählung vom Mord die Aussage des Ritters bestätigt: Vnd der halben gib ich dir etwas zu vor vnd weich dir in der Tyranney, als ein alter Tyrann einem jungen. Sage du bist seer zu loben, vmb dz du bißher sollichen sachen betrieben hast, die aller andern Tyrannen wercke zu rück werffen vnnd vbertreffen.114
Auch wenn im Dialog alles in den Rahmen der Tyrannei gestellt wird, so ist dieser doch keineswegs selbstverständlich. Merkur antwortet auf Charons Frage, warum denn der Herzog zu Phalaris kommen solle: „Umb des willen das Phalaris ein begir vnd verlangen hat, wie er mög anrichten, das in teutzschen landen auch Tyrannen seien, als vormals nie gewesen.“115 Und Charon reagiert fassungslos hierauf: „O wie wunderliche ding begeben sich nun, ein Tyrann in teutzschen landen? Das ist ein wonder ewiger gedechtniß würdigk.“116 Aus der Frage an die Deutschen, ob Ulrich der erste sein solle, der das Land tyrannisch beherrsche, wird eine Feststellung, auf die mit Charon eine Figur, die traditionell von weltlichen Dingen eher eine geringe Ahnung hat, mit einer be-
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Neumann: Invektive (wie Anm. 15), Sp. 555. Hutten: 2. Rede (wie Anm. 16), S. 31. „Der alle Tyrannen an Grausamkeit übertrifft“ (Übersetzung B.H.); Übs. Wagner (wie Anm. 16), S. 192. Vgl. zur Verwendung solcher Begriffe in politischen Kampfschriften Josef Klein: Politische Rede [Art.]. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg. von Gert Ueding. Bd. 6. Tübingen 2003, Sp. 1465-1520, hier Sp. 1485f. Hutten: 3. Rede (wie Anm. 16), S. 44. „daß nun dieser der erste sey, der Teutschland tyrannisch beherrscht?“ (Übers. [wie Anm. 16], S. 235). Hutten: Phalarismus (wie Anm. 1), S. 11. Hutten: Phalarismus (wie Anm. 1), S. 5. Hutten: Phalarismus (wie Anm. 1), S. 5.
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deutsamen Aussage über die politischen Verhältnisse Deutschlands in der Vergangenheit und der als deutlich negativer gewerteten Gegenwart reagiert. Indes ist Hutten bemüht, seine Aussagen über die Gefährlichkeit des deutschen Tyrannen auch zu belegen; seine Texte bieten also gewissermaßen wie bestimmte Polemiken nicht nur einen Angriff, sondern auch sachliche Argumentation.117 So möchte er erinnern, „si diuturnius haec protrahatur causa, futurum ut iste vi ac armis munitus hoc iudicium contemnat“.118 Bemerkenswert ist der Zusatz: „‚Unde istud‘ aliquis dicet ‚commentum?‘ […] non ex levi aliquo rumusculo aut vulgi sermone“.119 Die Warnung, der Feind wolle den Krieg, ist nun ein probates Mittel und wird auch von Cicero in den Catilinarischen Reden gebraucht.120 Bei Hutten liegt der Fall so, dass der Herzog wahrhaftig schon Ende 1515 angewiesen wurde, „wegen der Flucht der Herzogin keine kriegerische Auseinandersetzung mit Bayern [zu] führen“,121 so dass sich in Bezug auf Huttens Sorge, man würde ihm nicht glauben, wohl wirklich von „exordialer BescheidenBescheidenheitstopik“122 sprechen lässt. In den Reden kennt er noch weitere Techniken, vor dem Herzog zu warnen, so wenn er bittet: „nec illud moveat, quod demerendis vobis consilium invenit callidus: captiones sunt quae beneficia vocat”.123 Diese Warnungen finden sich auch im Dialog, ist doch hier „der Eifer unverkennbar, mit dem der Tyrann [Ulrich, B.H.] seinen Gesprächspartner zu beeindrucken sucht“:124 „Aber itzo rüste ich mich, als bald die Beyern mit krieg zu vberzihen“,125 und den Grund, welcher der gleiche ist wie jener in der Realität, gibt er auch gleich an: „im schein einer grossen billikeit, als mein weib, dz sie mir entfürt, von inen forderen, aber
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Vgl. hierzu Neumann: Invektive (wie Anm. 15), Sp. 551. Hutten: 2. Rede (wie Anm. 16), S. 26. „daß er, wenn sein Prozess noch verlängert werden sollte, mit Gewalt der Waffen, diese Richterversammlung verachten […] wird. (Übers. [wie Anm. 16], S. 179). Hutten: 2. Rede (wie Anm. 16), S. 27. Woher, dürfte man mich fragen, woher diese Erdichtung? […] Nicht aus einem flüchtigen Geflüster, oder dem Gerede der Menge weiß ich das.“ (Übs. [wie Anm. 16], S. 179). Vgl. Cicero: 2. Rede (wie Anm. 15), S. 426. Hanna: Mänade (wie Anm. 2), S. 91. Becker: Rhetorische Evidenz (wie Anm. 23), S. 278. Becker nutzt diesen Ausdruck allerdings an einer Stelle, wo er eben nicht passt. Hutten: 2. Rede (wie Anm. 16), S. 39. „Laßt es euch nicht rühren, daß der Listige ein Mittel ersonnen, sich um Euch verdient zu machen; was er Wohlthaten nennt, ist nur Buhlen um Eure Gunst.“ (Übs. [wie Anm. 16], S. 218). Becker: Rhetorische Evidenz (wie Anm. 23), S. 295. Wie Kühlmann zu Hutten selbst ausführt, so könnte man auch von Huttens literarischem Herzog sagen, dass er „zu einem stabilen Selbstentwurf zu gelangen sucht“. Vgl. Wilhelm Kühlmann: Edelmann – Höfling – Humanist. Zur Behandlung epochaler Rollenprobleme in Ulrich von Huttens Dialog ‚Aula‘ und in seinem Brief an Willibald Pirckheimer. In: Höfischer Humanismus. Hg. von August Buck. Weinheim 1989, S. 161-182, hier S. 164. Hutten: Phalarismus (wie Anm. 1), S. 14.
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doch mit grosser boßheit, vnd schalckhafftigem fürsatz.“126 „Hutten stellt es [im Dialog, B.H.] natürlich sehr in Frage, ob man dem Fürsten […] trauen könne, wenn er diesen Phalaris seine Pläne mitteilen lässt“,127 und zeigt, dass die Gefahr, die von Ulrich droht, auch zwei Jahre nach dem Mord noch nicht gebannt ist. Auch die Sorge, Ulrich könne mit Schmeicheleien Erfolge feiern, findet sich im Dialog, wenn sich das Gespräch zwischen Phalaris und Ulrich zum ‚Unterrichtsgespräch‘128 wandelt. “Darum sal dir nit wid’ sein, zu zeitten ein gut werck zuthun, es sei mit miltikeit, gerechtigkeit, mit starckmütickeit, oder mit gottes furcht, jst nit baldt zu glauben, wie förderlich dir dz würd sein“,129 rät Ulrichs Lehrmeister mit einer die verchristlichten Kardinaltugenden aufzählenden Art von Fürstenspiegel. Aus einer um die eigene Glaubwürdigkeit besorgten Äußerung und einer beinahe demütigen Bitte in den Reden werden selbstbewusste Pläne und Aufforderungen, deren Realisierung in der Zukunft mit Sicherheit zu erwarten ist. „Der Kategorie der Erfahrung und ihrer Vermittlung kommt damit in diesem Dialog große Bedeutung zu“.130 Hutten geht in den Orationes weiterhin eher defensiv vor, viel radikaler werden im Totengespräch die gewünschten Äußerungen aus dem Munde der Figuren hervor geschleudert, umso mehr, wenn Hutten dem Herzog weitere tyrannische Laster anhängen möchte. In den Reden erklärt er dies in der vierten Oratio mit der recht allgemeinen Äußerung: Ingenii quidem tui infiniti sunt et inexplicabiles nexus, ut ingens suspicio sit aliquos esse adhuc nondum apertos voluntatis tuae recessus, unde aliquid iterum, si tuum supplicium differatur, truculentum ac atrox in nos immineat.131
Im Dialog hingegen greift Hutten mit weiteren Ratschlägen des Phalaris „die Ansichten seines Gegenübers auf, treibt sie ‚logisch‘ auf die Spitze, bis sie sich von allein in lächerlicher Absurdität diskriminieren“:132 Darnach schick dir auch ein faß, wie etwan geweßen ist, dz die von Carthago brauchten, inwendig mit spitzenden negelen beschlagen, darinnen sie den Römer Marcum Regulum welgeten. […] Du solt etzlichen die augen lid abschneiden, vnd die selbigen darnach gegen
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Hutten: Phalarismus (wie Anm. 1), S. 14. Hufnagel: Die verkehrte Welt (wie Anm. 6), S. 28f. Vgl. hierzu Ernest W. B. Hess-Lüttich: Dialog [Art.]. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg. von Gert Ueding. Bd. 2. Tübingen 1994, Sp. 606-621, hier Sp. 616. Hutten: Phalarismus (wie Anm. 1), S. 20f. Becker: Rhetorische Evidenz (wie Anm. 23), S. 290. Hutten: 4. Rede (wie Anm. 16), S. 56. „Zwar unendlich, und unentwirrbar sind die Fäden und Winkelzüge deines Geistes, und man dürfte leicht argwöhnen, daß noch ungekannt im Hinterhalte deines Willens ein Etwas liege, was uns, wofern deine Strafe noch länger verzögert werden sollte, noch schreckliche Greuel droht“ (Übs. [wie Anm. 16], S. 276). Jörg Schönert: Roman und Satire im 18. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Poetik. Mit einem Geleitwort von Walter Müller-Seidel. Stuttgart 1969, S. 16.
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d’Sonnen stellen, dz sie in der scchein müssen sehen. […] Dz selbig haben die von Carthago erfunden. Nun soltu giessen lassen ein erens pferd, inwendig hol, darein glüend kolen legen, vnd darnach einen menschen daruff setzen.133
Hutten macht den Herzog, der sicherlich auch in der Realität „nicht die Tugenden im Sinne der Fürstenspiegel verkörperte“,134 mit diesem „pervertierten Fürstenspiegel […]“135 gänzlich unglaubwürdig, denn „die Ratschläge, die der Herzog in der Unterwelt von Phalaris erhält, sind als drohende Schatten für die Zukunft zu lesen“,136 sind diese Taten doch zum Teil historisch anekdotenhaft überliefert und ergeben zusammen mit dem Hinweis auf den Krieg, der tatsächlich drohte, ein geeignetes Mittel, um vor dem Herzog zu warnen. Mit seiner scheinbar subjektiven Äußerung über mögliche verborgene Gedanken bezüglich neuer Verbrechen des Herzogs in der vierten Rede verweist Hutten also zurück auf die Auflistung möglicher Taten durch Phalaris im Dialog, so dass der Rahmen, in dem der Herzog in Zukunft politisch agieren kann, äußerst begrenzt ist. Dadurch wird es Hutten auch möglich, in der Siegesrede unbegründet zu erklären: „qui primus omnium in Germania principum delatores aluit et accusatores constituit“,137 denn auch diese Generalverbrechen wie Bespitzelung und Günstlingswirtschaft sind in Phalaris’ Liste enthalten: „Vber das saltu angeber vnd verreter halten“.138 Dieses (gespielt) vorsichtige Taktieren in den Reden findet sich ähnlich bei Cicero, der auch in der zweiten Catilinarischen Rede, in der er sich bereits über einen Sieg freut, die Untaten des Feindes aufzählt.139 Nicht ohne Grund nun wird im Dialog diese Selbstentlarvung in die Unterwelt verlegt, denn das Totengespräch macht „das Zusammentreffen von Figuren unterschiedlicher Generationen [möglich]“,140 hier von zeitlich an sich getrennten Vertretern der Tyrannei. Indem Ulrich von dem antiken Tyrannen bestätigt wird, wird er als neuzeitlicher Despot hervorgehoben. Doch bei der Benennung Ulrichs als Tyrann, der ganz Deutschland gefährlich werden kann, bleibt Hutten nicht stehen. „Über den aktuellen Anlaß hinaus werden […] die Schriften gegen Herzog Ulrich zu Variationen über das Thema ‚Tyrannei‘.“141 Hutten weitet in der vierten Rede alles aus, denn er „destruiert die angemaßte Rolle [seines Gegenübers, B.H.] und legt das vermeintliche wirkliche Wesen
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Hutten: Phalarismus (wie Anm. 1), S. 17. Das Pferd ergänzt gewissermaßen den berühmten eisernen Ochsen des Phalaris; vgl. hierzu und zu diesem Ochsen generell auch Hutten: Phalarismus (wie Anm. 1), S. 4, S. 16 sowie S. 17. Hanna: Mänade (wie Anm. 2), S. 19. Hufnagel: Die verkehrte Welt (wie Anm. 6), S. 34. Baumbach: Das Totengespräch (wie Anm. 9), S. 271. Hutten: 5. Rede (wie Anm. 16), S. 93. „Er war der erste teutsche Fürst, der Angeber hielt, und Ankläger anstiftete.“ (Übs. [wie Anm. 16], S. 390). Hutten: Phalarismus (wie Anm. 1), S. 20. Vgl. Cicero: 2. Rede (wie Anm. 15), S. 420. Baumbach: Das Totengespräch (wie Anm. 9), S. 264. Ukena: Marginalien (wie Anm. 3), S. 46.
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offen“,142 indem er nach seiner Erklärung Ulrichs zum Tyrannen in einer Ansprache an den Herzog diesem den Fürstenstatus abspricht und dabei eine allgemeine Definition liefert: adhuc principem refers, vaesane? […] princeps est, in quo abunde sunt ista, gravitas, fides, prudentia, religio, consilium, humanitas, iustitia, moderatio, integritas; in tuos mores non cadit haec appelatio; non potes hanc molem sustinere: tua levitas, tuus tumor, tua insolentia, tua atrocitas, tuus furor non recipit hanc personam, quae summis tantum virtutibus debetur.143
Ähnliches findet sich im Dialog, vorbereitet indes durch einen Streit, der sich zwischen dem Unterweltspersonal und dem Herzog im ersten Teil entspinnt, und der damit in deutlichem Kontrast steht zum zweiten Part, in dem die Tyrannen durch ein überaus friedliches Beieinander beweisen, dass sich Gleich und Gleich gerne gesellen. Charon wird „mit allerlei lukianischen Kunstmitteln […] nähergebracht“,144 denn wie bei Lukian möchte er, dass man ihm rudern hilft,145 und er erklärt dem erbosten Ulrich, der die Meinung äußert, der andere habe ihm nichts zu befehlen: „das darff ich wol thun, einen sollichen fürsten als du bist. […] auß der vrsach das du ein Tyrann bist“.146 Charon „wird hier untypischerweise recht politisch“.147 Noch politischer zeigt sich der Götterbote, der, wie Hutten mit an Ulrich gerichteten Worten erklärt: Nit allein söllen Tyrannen genendt werden, die sich etwan in einer freien stadt ader landtschafft, mit vertruckung der freiheit eines regiments geweltiglich vnderwunden haben, sunder auch die jhenen so verlassen die grechtigkeit, miltikeit, starckmütigkeit, gotförchtickeit, messigkeit, sanftmütigkeit, barmhertzickeit, vnd ander künigliche vnd fürstliche tugent, haben, in gebrauch gewendt, grimickeit, geitzigkeit, vngeschicklicheit, weibisch vnd weich geber, vnreinickeit, vnmenschliche hartigkeit, vnd d’ gleichen böß sitten.148
In den Reden gibt Hutten indes eine Definition eines Fürsten und folgt damit den traditionellen Fürstenspiegeln, die das Wesen eines rechtschaffenen Herrschers beschreiben; seine in der Aufzählung der negativen Eigenschaften auch enthaltene Bestimmung des ‚Tyrannen‘ ist noch auf Ulrich beschränkt; Merkur hingegen geht allgemein vom ‚Ty-
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Neumann: Invektive (wie Anm. 15), Sp. 550. Hutten: 4. Rede (wie Anm. 16), S. 73. „Willst du, Wahnwitziger, noch immer den Fürsten spielen? […] Ein Fürst ist, wer im Überfluß diese Eigenschaften hat, ernste Würde des Handelns, Treue, Klugheit, Gewissenhaftigkeit, Menschlichkeit, Mäßigung, Gerechtigkeit, unbefangnen, unverfälschten Sinn. Das bist du doch nicht; unter dieser Tugenden Gewicht müßtest du erliegen. Deine leichtsinnige Schwäche, deine Aufgeblasenheit, dein Hochmuth, deine gräßliche Handlungsart, deine Wuth kann so nicht auftreten, diese Rolle ist nur für die höchsten Tugenden geeignet.“ (Übs. [wie Anm. 16], S. 331). Albert Bauer: Der Einfluss Lukians von Samosata auf Ulrich von Hutten. In: Philologus 75 (1918), S. 437-462, hier S. 460. So im Werk Cataplus (Die Überfahrt oder der Tyrann). Hutten: Phalarismus (wie Anm. 1), S. 7. Hufnagel: Die verkehrte Welt (wie Anm. 6), S. 42. Hutten: Phalarismus (wie Anm. 1), S. 7.
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rannen‘ aus (dabei beschreibt auch er – durch die Auflistung der Eigenschaften, die dem Gewaltherrscher fehlen – den ‚Fürsten‘), wobei dieser von der Definition des Gewaltherrschers ausgehende Spiegel die Definitionen vergangener Zeiten übersteigt. Man muss sich nicht mehr nur damit auseinandersetzen, was einen guten ‚Fürsten‘ ausmacht, vielmehr ist der ‚Tyrann‘ neu zu bestimmen. Mit diesen allgemeinen Definitionen zeigt sich die Warnung Huttens vor einem ganzen Stand, der mit zunehmender Machtfülle ein ‚Geschlecht der neuzeitlichen Tyrannen‘ hervorbringen könnte, als dessen Archetypus Ulrich von Württemberg zu gelten hat, von dem die Definitionen ihren Ausgang nehmen. Die Ausführlichkeit, mit welcher der ‚Tyrann‘ erklärt wird, und Charons Betonung der „teutzschen landen“ lassen darauf schließen, dass dieser Themenkomplex dem Leser relativ unbekannt war. In der Tat kommt er, zumal in dieser Ausführlichkeit, in deutschen Texten zu dieser Zeit erst ansatzweise vor. An prominentester Stelle wird er in Italien durch Machiavellis Il Principe erörtert, der 1532 publiziert, allerdings schon 1513 geschrieben wurde. Teile des Textes fanden nun schon vor der offiziellen Publikation Verbreitung, so dass der sich mehrmals in Italien aufhaltende Hutten (der Phalarismus entstand in Bologna) durchaus die Gedanken dieses Werkes aufnehmen konnte. Hierbei ist es sowohl möglich, dass Hutten den Italiener als den Propagandisten einer gewissenlosen Machtpolitik und einer zum Vergnügen ausgeübten Tyrannei ansah, als auch, dass er zwar dessen wirkliche Ziele (dem Staat in Zeiten der Unruhe ein festes Fundament zu geben) erkannte, doch Machiavellis Theorie trotzdem für seine Zwecke nutzbar machte, indem er eben Ulrich als genau den jederzeit gewaltbereiten Despoten zeigt, für den der machiavellische Fürst gehalten werden kann. Innerhalb Deutschlands ist Hutten einer der ersten, der den Tyrannen-Diskurs aufgreift, und der erste, bei dem in einem „literarischen Text […] die Diskussion (un)gerechter Herrschaft anhand des sizilianischen Erztyrannen Phalaris zentrales Thema ist“.149 Immerhin heißt es über den Ritter: „Es war bis dahin das erste […] Mal, daß ein deutscher Humanist seine Eloquenz einsetzte, um die Absetzung und Einkerkerung eines von ihm zum Tyrannen erklärten Herrschers, eines Angehörigen des hochadeligen deutschen Reichsfürstenstandes, zu erreichen.“150
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Johannes Klaus Kipf: Tyrann(ei). Der Weg eines politischen Diskurses in die deutsche Sprache und Literatur (14.-17. Jahrhundert). In: Wort – Begriff – Diskurs. Deutscher Wortschatz und europäische Semantik. Hg. von Heidrun Kämper und Jörg Kilian. Bremen 2012, S. 31-48, hier S.39. Ludwig: Die humanistischen Invektiven (wie Anm. 38), S. 105.
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4. Zusammenfassende Bemerkungen In der zweiten Rede warnt Hutten davor, dass der angeschlagene Herzog sich wieder erholen könnte,151 und in der dritten Oratio bestätigt er die Befürchtung: „nunc confestim ac subito quasi infecta facta sint, et pecuniam habet, et viris imperat, et contra nos auxulia instruit, et patriae eversionem molitur.“152 Zwischen diesen Aussagen steht der Dialog. Heißt es in der zweiten Rede: „habet suas vigilans, habet somniando poenas“,153 so ist im Dialog ein Ulrich zu erleben, dem im Traum ein Tyrann erscheint mit der Aufforderung zur Nachfolge. Als die ersten zwei Reden Huttens nicht den gewünschten Erfolg hatten, nutzt er die Möglichkeiten, die der Schauplatz der traditionell unpolitischen Gattung des lukianischen Totengespräches bietet.154 Die Strategie der Reden, die einzelne Kunstgriffe aus den Catilinarischen Reden Ciceros übernehmen, ist oftmals vorsichtiges Taktieren, der Dialog agiert deutlich aggressiver. Dem zur Schau gestellten sorgenvollen Kampf um Objektivität in den Reden stellt Hutten im Totengespräch den für sich selbst sprechenden Herzog entgegen. Auf die Rechtfertigung des realen Fürsten geht er ein, indem und nachdem er ihnen die Äußerungen des literarischen Ulrichs entgegenstellt bzw. entgegengestellt hat; für die eigene Partei kritische Details, die er in den Reden entschuldigt, lässt er die Figur nicht zur Sprache bringen. In den ‚Ulrich-Reden‘ muss auf einen Herzog reagiert werden, der öffentlich angeklagt wird und sich verteidigt – im Gespräch mit Phalaris aber sieht man den Fürsten in einer intimen Situation, mit einem Gesprächspartner, dem gegenüber er sich völlig öffnen kann. Im ersten Teil des Dialoges kommen von Hutten politisierte Unterweltsfiguren zu Wort, die sich bezeichnenderweise gegen den Tyrannen wenden (und damit Huttens Aussage aus der ersten Rede bestätigen, die Heiden selbst würden diese Untat missbilligen),155 wobei Hutten die Möglichkeit nutzt, „das Reich der Toten als eine ideale Welt dem irdischen Schauplatz der Tollheit und Bosheit […] gegenüberzustellen“. Hier kann Hutten heftige Kritik am Reichsoberhaupt formulieren, die in den Reden deutlich gemäßigter ausfällt, und die Verantwortlichen somit zur Tat aufrufen, ohne dass allerdings direkte Forderungen gestellt werden. Im Bemühen, Ulrichs Tat als politischen Skandal zu brandmarken, ernennt Hutten den Gegner zum Tyrannen und belegt dies durch den
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Vgl. Hutten: 2. Rede (wie Anm. 16), S. 41; Übers. (wie Anm. 16), S. 226. Hutten: 3. Rede (wie Anm. 16), S. 44. „Jetzt hat er auf einmal plötzlich, als wäre gar nichts vorgefallen, Geld, befiehlt über ein Heer, wirbt Hülfe gegen uns, und trachtet nach dem Untergange seines Vaterlandes.“ (Übers. [wie Anm. 16], S. 236). Hutten: 2. Rede (wie Anm. 16), S. 28. „ihn verfolgt, er wache, oder träume, seine Strafe.“ (Übers. [wie Anm. 16], S. 185). Denn „ein wirksameres literarisches Medium als das lukianische Totengespräch sah er für sein Anliegen jedenfalls nicht“. (Baumbach: Das Totengespräch [wie Anm. 9], S. 272f.) Vgl. Hutten: 1. Rede (wie Anm. 16), S. 12; Übers. (wie Anm. 16), S. 134.
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Hinweis auf weitere (mögliche) Taten des Herzogs. Unbewiesene Aussagen Huttens in den Reden werden hierbei im Dialog von Figuren, die es wissen müssen, bestätigt, sorgenvolle Überlegungen um die eigene Glaubwürdigkeit und Bitten weichen im Dialog einer „Didaktik und Methodik der Grausamkeit“.156 Gerade durch das Wechselspiel der verschiedenen Strategien können die beiden Textsorten, indem sie sich ergänzen und gegenseitig aufeinander aufbauen, ihre Wirkung entfalten.
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Baumbach: Das Totengespräch (wie Anm. 9), S. 269.
Ulrike Wels (Potsdam) Deviante Sexualmoral? Der Amadís von Gallien und seine Bearbeitungen
1. Der unkeusche Amadís und seine Wurzeln Eines der in vielen Varianten wiederkehrenden Stereotype der Romankritik in der Frühen Neuzeit ist die des Amadís-Romans1 als eines derjenigen Bücher, die „schädlich wären […] wegen 1. der Zauber-Kunst/ 2. unkeuscher unzüchtiger Liebe/ Kupplerey und Ehebruchs/ 3. Rachgier und Grawsamkeit/ 4. unmüglicher und ungereimter Fabeln/ etc. […].“2 Diese Kritik war umso schärfer geworden, je mehr sich der Text in der Frühen Neuzeit europaweit zunächst in adligen, dann aber in immer weiteren Leserkreisen großer Beliebtheit erfreut hatte.3 Der Vorwurf der unkeuschen und unzüchtigen Liebe, des „welt vnnd buelbuch[es]“,4 rührt daher, dass in diesem Roman und seinen Fortsetzungen das als ein wesentlicher Stützpfeiler der christlichen Gesellschaft verstandene Ehekonzept häufig außer Acht gelassen wird und stattdessen ein Ideal freier Liebe und Partnerschaft propagiert zu werden scheint. Hans Eggers hatte 1987 formuliert, dass in der Gesellschaftskultur des hohen Mittelalters „Minne, Liebe […] zum Gesellschaftsideal“ wurde, „und dieses Konzept einer
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Vgl. die grundlegende und ausführliche Darstellung bei Hilkert Weddige: Die „Historien vom Amadis auss Franckreich“. Dokumentarische Grundlegung zur Entstehung und Rezeption. Wiesbaden 1975, S. 235-291. Arnold Mengering: Scrutinium conscientiae catecheticum ampliatum […] Das ist/ Sünden=Ruge und Gewissens=Forschung […]. Altenburg 1651, S. 768. Zitiert nach: Weddige: Amadis. Entstehung und Rezeption (wie Anm. 1), S. 254. Vgl. Weddige: Amadis. Entstehung und Rezeption (wie Anm. 1), S. 1-95, bes. S. 29, 38-40. Weddige schätzt, dass zwischen 1569 und 1624 ca. 70.000 Exemplare der verschiedenen deutschen Bände gedruckt wurden (ebd. S. 109). Johann Baptist Fickler [Übs.]: Tractat Herrn Gabriel Putherbeien von Thuron/ [et]c. Von verbot vnnd auffhebung deren Bücher vnd Schrifften/ so in gemain one nachtheil vnnd verletzung des gewissens/ auch der frumb vnd erbarkeit/ nit mögen gelesen oder behalten verden. […] München 1581.
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wahren, werbenden Liebe […] bestürzend neu [sei].“5 Aber – so Ernst Schubert – die „Argumentation, welche dem 12. Jahrhundert die Entdeckung der Liebe zuschreibt“, gesteht „[…] nur einer literarisch gebildeten Oberschicht die Erfahrung der Liebe zu.“6 Wenn man also auch der Unterschicht den Liebesaffekt keineswegs vorenthalten mag, bleibt doch festzuhalten, dass die Oberschicht offenbar ein großes Interesse an der Liebe in ihren unterschiedlichsten Facetten hatte, und dass sich diese Beschäftigung in den verschiedensten Textgattungen, so auch im höfischen Epos niederschlug. Werbung und Ehe, Sehnsucht und Erfüllung, Inzest und dessen Bestrafung, Untreue, Betrug und Eifersucht waren Themen, die in mittelalterlichen Epen immer wieder behandelt wurden. Dass diese Epen europäisches Gemeingut waren, zeigen auch Romane wie der Amadís des Garci Rodríguez de Montalvo, der aus genau diesen Quellen schöpfte.7 So ist die Artus-Epik das wichtigste Vorbild für dessen Liebesgeschichten. Sie vermittelte ein Bild idealen Ritter- und Königtums, aber vor allem auch, so z. B. in den Tristan-Epen, eines der idealen, wenngleich unmöglichen Liebe zwischen zwei Menschen, die eigentlich für einander bestimmt sind. Aus den Karls-Epen stammt dann der realere Erzählhintergrund des Ritters, der auf Kreuzzügen gegen die Andersgläubigen zu Felde zieht. Weitere Quellen sind das spanische Epos des Cid (entstanden um 1140) und des Ritters Cifar (um 1300). Auf eine weitere wichtige Vorlage hat Walter Pabst8 hingewiesen, nämlich auf die Gregoriuslegende, die aus den Gesta Romanorum bekannt war und aus der der Autor des Amadís das Motiv der Aussetzung des Kindes und das der Selbstbestrafung des Amadís auf dem Armen Felsen (Buch II, Kap. 48-52) entlehnt. Allen Vorlagen gemein ist ein christlich-typologischer (Tristan, Gregorius) oder heilsgeschichtlicher (Karls-Epen) Bezug, der vom Autor des Amadís konsequent aufgelöst wird. Montalvo war kein Gelehrter, sondern Ritter im Dienste der Rejes Católicos Isabella I. von Kastilien und Ferdinand II. von Aragon. Eine Bekanntschaft mit theologischen oder philosophischen Traktaten über die Liebe kann man bei ihm fast gänzlich ausschließen. Wenn er Texte von Aristoteles oder Platon, von Augustinus oder Andrea
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Hans Eggers: Die Entdeckung der Liebe im Spiegel der deutschen Dichtung der Stauferzeit. In: Geist und Frömmigkeit der Stauferzeit. Hg. von Wolfgang Böhme. Stuttgart 1978, S. 10-25, hier S. 11. Ernst Schubert: Alltag im Mittelalter. Natürliches Lebensumfeld und menschliches Miteinander. Darmstadt 2002, S. 250. Vgl. zur Quellengeschichte des Amadís: Weddige: Amadis. Entstehung und Rezeption (wie Anm. 1), S. 2-9. – Fritz Rudolf Fries: Nachwort. In: Amadís von Gallien. Nach alten Chroniken überarbeitet, erweitert und verbessert durch Garcí Ordonez de Montalvo im Jahre 1508. Hg. von Fritz Rudolf Fries. Leipzig 1973, S. 741-745. Walter Pabst: Die Selbstbestrafung auf dem Stein. Zur Verwandtschaft von Amadís, Gregorius und Ödipus. In: Der Vergleich. Literatur- und sprachwissenschaftliche Interpretationen. Festschrift für Hellmuth Petriconi. Hamburg 1955, S. 33-49.
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Capellanus9 gekannt hat, fließt davon zumindest nichts in seinen Roman ein – oder zumindest nur so undeutlich, dass ihre Provenienz nicht klar wird. Die Profanierung des Stoffes durch Montalvo hatte sicherlich einen erheblichen Anteil an der Beliebtheit des Romans in der Frühen Neuzeit. Auf die religiöse Dimension der Vorlagen wurde verzichtet. Was blieb, war die unbedingte, einmalige und omnipräsente Liebe zwischen dem Titelhelden Amadís und seiner Dame Oriana. Allerdings gelang es Montalvo, durchaus noch andere Schattierungen dieses schönen menschlichen Gefühls in seinen Roman zu integrieren. Diese reichen von einem etwas abgeschwächten Ideal der Seelenverwandtschaft – die wahre Liebe kann es eben nur einmal geben –, bis hin zu rein sexuell konnotierter, entweder freiwilliger oder erzwungener Vereinigung.
2. Die Texte Im Folgenden soll es darum gehen, anhand einiger Beispiele aus der Rezeptionsgeschichte des spanischen Amadís zu zeigen, warum und inwieweit die Liebeskonzepte mit zeitgenössischen Moralvorstellungen kollidierten, d.h. wie deviant die Sexual- und Ehemoral im Amadís im Laufe der Jahrhunderte wahrgenommen wurde. Zunächst gehe ich von Garci Rodríguez de Montalvos Fassung von 1508 aus,10 die die Rezeptionsgrundlage für die europäische Amadís-Tradition bildet. Der französische Amadís (1540-1544) in der Übersetzung von Nicolas de Herberay, Seigneur des Essars, der für die deutschen Romane das entscheidende Vorbild wurde, kann hier nur gestreift werden. Anhand einiger Vorreden zu den deutschen Übersetzungen, die ab 156911 erschienen, werden die Argumente der Amadís-Verteidiger dargestellt. Interessante Parallelen dieser Verteidigungen ergeben sich zu dem ersten Versuch der dramatischen Adaption für ein höfisches Publikum, zu Andreas Hartmanns 1587 geschriebener Histo-
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Capellanus war in höfischen Kreisen ohnehin kaum bekannt. Vgl. Alfred Karnein: „[D]er amorTraktat [hat] weder auf die Konstitution noch auf die Entwicklung der höfischen Literatur Einfluß gehabt .“ (Ders.: De amore in volkssprachlicher Literatur. Untersuchungen zur AndreasCapellanus-Rezeption in Mittelalter und Renaissance. Heidelberg 1985 [= GermanischRomanische Monatsschrift, Beiheft 4], S. 262). Garci Rodríguez de Montalvo: Los quatro libros del Virtuoso cauallero Amadís de Gaula. Reprint der Erstausgabe des Exemplars der British Library, Zaragoza 1508. Einleitung von Víctor Infantes. Madrid 1999. Newe Historia, Vom Amadis auß Franckreich: seer lieblich vnd kurtzweilig, auch den junge nützlich zulesen, mit viel angehefften guten Leeren; newlich auß Frantzösischer, in vnser algemeine, geliebte Teutsche sprach gebracht. Franckfurt: Feyerabend 1569. – Als Reprint liegt folgende Ausgabe vor: Amadis. Buch 1-6. Reprint der deutschen Erstausgabe der Bücher 1-6, Frankfurt a.M. 1569-1572. Bern 1988. – Eine kritische Edition des ersten Bandes hat Adelbert von Keller vorgelegt: Amadis. Erstes Buch. Nach der ältesten deutschen Bearbeitung hg. von A.v.K. Unveränderter fotomechanischer Nachdruck der Ausgabe Stuttgart 1857. Darmstadt 1963.
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ria Amadisens.12 Nach 1630 ebbte die Welle der Amadís-Begeisterung allmählich ab.13 Andere Romane wurden ‚modern‘, und der Amadís wurde z.B. durch den Schäferroman und den höfisch-heroischen Roman verdrängt. Die Amadís-Begeisterung verlagerte sich in die Oper, auf die an dieser Stelle nicht eingegangen werden kann. Erst im 18. Jahrhundert, im Dunstkreis der Empfindsamkeit, wurde man wieder auf den Roman als solchen aufmerksam. In Christoph Martin Wielands Versepos Der neue Amadis, der 177114 entstand, wurde das amadisische Liebesideal ironisiert, in der 1779 entstandenen Neubearbeitung des ‚alten‘ Amadís durch den Grafen von Tressan15 feierte die Empfindsamkeit fröhliche Urständ. Diese Bearbeitung wurde 1782 von Christhelf Wilhelm Sigmund Mylius16 ins Deutsche übersetzt.17 Mit einem kurzen Blick ins 19. Jahrhundert auf die rassenideologische Pervertierung des Stoffes durch Arthur Gobineau18 wird ein sehr dunkler Punkt der Rezeption des Stoffes angerissen. Die Übersetzungen und Bearbeitungen aus dem 20. und 21. Jahrhundert beenden die Beobachtungen zu den Liebeskonzepten des Amadís. Dazu gehören die Übersetzung des spanischen Originals,19 eine
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Andreas Hartmann: Historia/ Von des Allermechtigsten/ Vnüberwindlichsten Ritters auff Erden/ weyland Herrn Amadisens aus Franckreich/ Hochfürstlichem vrsprung/ sorglichem/ mißlichem verlust/ vnd glücklicher errettung auff dem Meer/ auch desselben zum theil angehenden gewaltigen Thaten/ desgleichen von seiner vnuerhofften widerkunfft vnd erkenntnüs seiner hertzliebsten Eltern/ die aller erste Comoedia. Gar lieblich zu lesen/ auch lustig zu sehen vnd zu zuhören/ gestellet vnd zum ersten mal in Druck verfertiget Durch Andream Hartman. Notarium. Dresden 1587. Es gibt nur noch zwei Exemplare des Druckes, eines in der British Library und eines in der Russischen Staatsbibliothek. Ich danke Herrn Dr. Hilkert Weddige (München) herzlich für die freundliche Überlassung des Microfilms aus der British Library. Vgl. Weddige: Amadis. Entstehung und Rezeption (wie Anm. 1), S. 111. Christoph Martin Wieland: Der neue Amadis. Ein comisches Gedicht in achtzehn Gesängen. Leipzig 1771. Überarbeitete Fassung: Sämmtliche Werke, Bd. 4: Der Neue Amadis. Leipzig 1794. Reprint: Hamburg 1984. [Louis-Élisabeth de la Vergne, Comte de Tressan]: Traduction libre d’Amadis de Gaule, par M. le Comte de Tress***. A Amsterdam et se trouve à Paris, 1779., 2 Bde. Eine digitalisierte Fassung ist über EROMM abrufbar. [Louis-Élisabeth de la Vergne, Comte de Tressan]: Amadis aus Gallien. Neu übersetzt vom Grafen von Tressan. Aus dem Französischen von W[ilhelm]. C[hristhelf]. S[igmund]. Mylius. Leipzig 1782. Diese Ausgabe hatte Goethe gelesen. Vgl.: Sigmund J. Barber: Goethe and the Amadis von Gallien. A comparison of the sixteenth and eighteenth century Amadis editions. In: Daphnis 13 (1984), H. 1-2, S. 465-476. Arthur Gobineau: Amadis. Poëme. (Œuvre posthume). Paris 1887. Deutsche Ausgabe: Graf Arthur Gobineau: Amadis. Deutsch von Martin Otto Johannes. Leipzig 1914, 2. Aufl. Leipzig 1920. Bd. 1: Königskinder, Bd. 2: Schicksalswende, Bd. 3: Weltendämmerung. Montalvo [Übs. Fries]: Amadís (wie Anm. 7). Eine Lizenzausgabe erschien Stuttgart 1977. Leider enthält die Übersetzung nicht die Vorreden des Originals.
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Hörspielfassung20 und eine Bearbeitung als Kinderbuch21 des Autors, Hispanisten, Übersetzers und Journalisten Fritz Rudolf Fries (*1935). Mit einer spanischen graphic novel des Amadís22 schließe ich meine Überlegungen.
3. Die Liebeskonzepte des Amadís Die Liebesbeschreibungen im spanischen Amadís23 zeichnen sich durch eine Reihe typischer Versatzstücke aus, wie sie aus vielen mittelalterlichen Romanen bekannt sind. Das erste und zugleich wichtigste Liebeskonzept des Romans ist das des für einander bestimmten, seelenverwandten Paares. Eingeführt wird es anhand der Eltern des Amadís, Perion und Elisena. Diese Liebe ist zwar von vornherein als eine eheliche gedacht, aber doch vorehelich vollzogen worden, und es hat auch zwischen den beiden Protagonisten kein Eheversprechen stattgefunden. Allein die Magd der Elisena hatte ein solches Versprechen für ihre Herrin von Perion gefordert, dieses Versprechen war aber ohne jegliche Zeugen geblieben. Legitimiert wird diese Liebe dadurch, dass beide als von vornherein füreinander bestimmt erscheinen. Die Tatsache, dass Perion auf einer seiner Aventiuren mit einer anderen Frau Florestan zeugt, ist nur eine kleine, allerdings nicht unwichtige Abschweifung von diesem Konzept und weist auf Amadís voraus, der seinen Vater in dieser Hinsicht moralisch übertreffen wird. Die Eheschließung König Perions mit Elisena, das ist jedem Leser klar, kann nur eine Frage der Zeit sein. Der wichtigere Legitimationspunkt dieser Liebe ist aber die Zeugung des künftigen Helden Amadís. An ihm ist es nun, seinen Vater im Hinblick auf die Aventiure und seine Eltern im Hinblick auf die Liebe zu überbieten. In Amadís und seiner Dame Oriana erscheint damit das Konzept des für einander bestimmten, seelenverwandten Paares in seiner reinsten Form und wird dabei auf die Spitze getrieben. Er ist der tapferste, treuste und schönste Ritter, sie die schönste Frau. Es ist eine absolut treue Liebe, die an sittlichen Adel geknüpft ist und in ihrer Anlage als Dienstverhältnis auf den Minnedienst zurückgeht. Der Mann ist der Frau unterlegen, von ihrem Willen und ihren Entscheidungen völlig abhängig. Störungen dieser Liebe gehen nur von der Frau, von Oriana aus, die einige Male in brennende Eifersucht verfällt, die den Helden in eine fast tödliche Verzweiflung stürzt. Dass diese Eifersucht völlig unbegründet ist, braucht kaum betont zu werden. Nicht einmal in Gedanken würde Amadís Oriana untreu sein. Teil dieses Kon-
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Fritz Rudolf Fries: Amadis von Gallien, Hörspiel in vier Folgen frei nach Motiven des gleichnamigen Ritterromans aus dem 16. Jahrhundert. In: Ders.: Hörspiele. Rostock 1984, S. 47-108. Fritz Rudolf Fries: Es war ein Ritter Amadis. Erzählt nach alten Büchern und Begebenheiten. Berlin 1988. Garci Rodríguez de Montalvo: Amadís de Gaula. Guión de Ricardo Gómez. Dibujos de Emma Ríos. Madrid 2009. Ich verwende im Folgenden die Übersetzung: Montalvo [Übs. Fries]: Amadís (wie Anm. 7).
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zeptes des für einander bestimmten Paares ist aber auch hier, wie bei den Eltern, die sexuelle Vereinigung vor der Eheschließung. Sie wird wenig bis gar nicht problematisiert, und auch hier ist völlig klar, dass die folgende Ehe nur eine Frage der Zeit ist. Der Rat oder die Entscheidungen der Eltern sind – entgegen der herrschenden gesellschaftlichen Praxis – im Roman für die Wahl der Partner völlig irrelevant. Nachdem sie sich begegnet sind, kann es niemand anderen mehr geben. Sie sind seelenverwandt24 und bilden eine untrennbare Einheit. Diese ‚Seelenverwandtschaft‘ wird mit einer Reihe von Attributen beschrieben, die wir seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts gewohnt sind, als „romantisch“25 zu bezeichnen. Diese Begrifflichkeit ist zwar aus rein historischen Gründen auf die mittelalterlich-frühneuzeitliche Literatur nicht anwendbar, zeigt aber, dass wir es bei diesen Merkmalen wohl mit ‚anthropologischen Konstanten‘ zu tun haben. Die Liebe wird zur wichtigsten Determinante im Leben des Paares, sie hat oberste Priorität. Einzig die ritterlichen Pflichten vermögen es, den Helden vorübergehend von seiner Geliebten zu trennen. Für Amadís gibt es nur Oriana, für Oriana nur Amadís. Nichts ist ihnen wichtiger als ihre gegenseitige Liebe. Eltern, Geschwister, Freunde oder gesellschaftliche Pflichten treten dahinter zurück. Die ‚Seelenverwandtschaft‘ der beiden Liebenden schließt Sexualität mit ein. Nachdem Amadís und Oriana sich ihre gegenseitige Liebe gestanden haben – worin zunächst der Höhepunkt der Romanhandlung besteht – ist ihre sexuelle Vereinigung notwendiger Bestandteil der Beziehung, die Ehe hingegen nur akzidentell, denn die Partner sind aufgrund des Absolutheitsanspruchs ihrer Liebe ohnehin auf ewig für einander bestimmt. Allerdings fehlt auch in dieser Beziehung nicht der Wermutstropfen. Die Liebe hat, wie im Tristan, nicht nur existenzbestimmende Kraft, sondern kann auch existenzvernichtend sein, wie die BeltenebrosEpisode zeigt. Die Eifersucht Orianas nimmt Amadís die Lebenskraft. Er gibt sich einen anderen Namen, ‚Beltenebros‘ (der Dunkelschöne), und stirbt fast – der Gedanke des Selbstmordes aus Liebe liegt hier nicht fern – an seiner selbstauferlegten Buße auf einer einsamen Insel. Die verlorene Symmetrie der Beziehung bzw. der Verlust der Seelenverwandtschaft können tödlich sein und zeigen, wie stark die Liebenden aufeinander bezogen sind. Dieser ausschließlichen Bezogenheit aufeinander wohnt auch eine gewisse Asozialität gegenüber der Außenwelt inne. Amadís zieht sich in der Eifersuchtsszene auf den einsamen Felsen zurück, ohne die Ansprüche seines Königs auf seine Kampfkraft anzuerkennen. Diese Asozialität zeigt sich auch darin, dass die christliche Caritas gegenüber der Liebesbeziehung zurücktritt. Im Amadís wird sie zwar durch den ritterlichen Ehrenkodex auf Seiten des Titelhelden aufgefangen, Oriana hingegen lebt nur ih-
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Diese Vorstellung begegnet bereits in Platons Symposion, wo sie von Aristophanes durch den Mythos des Kugelmenschen erklärt wird. Vgl. Hartmann Tyrell: Romantische Liebe – Überlegungen zu ihrer „quantitativen Bestimmtheit“. In: Theorie als Passion. Niklas Luhmann zum 60. Geburtstag. Hg. von Dirk Baecker, Jürgen Markowitz und Rudolf Stichweh. Frankfurt a.M. 1987, S. 570-599.
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rer Liebe. Die Tugenden der christlichen Herrscherin, die vor allem in der Fürsorge im Sinne der Caritas26 bestehen, sucht man bei ihr vergebens. Auch die Beziehung zu Gott wird neben dieser Liebe unwichtig. Liebe wird zum Religionsersatz, sie wird sakralisiert und die Religion dadurch gleichzeitig profaniert. Oriana ist Amadís’ Göttin. Ähnlich wie die Liebe von Amadís und Oriana ist die von Amadís’ Ziehbruder Agrajes zu Olinda dargestellt – allerdings in etwas abgeschwächter Form. Neben dieser Liebe werden den Leserinnen und Lesern des Amadís aber noch vier weitere Liebeskonzepte angeboten, die fast für jeden Leser ein Identifikationsangebot bereithalten. Zum zweiten Konzept: Das Gegenbild zu Amadís bildet dessen jüngerer Bruder Galaor. Er ist ein ebenso vollkommener Kämpfer wie Amadís, aber in Liebessachen nicht nur unwiderstehlich, sondern auch wankelmütig. Er nimmt jede Gelegenheit zu erotischen Abenteuern – zu denen er seine Partnerinnen keinesfalls nötigen muss – wahr. Als dritte Erscheinungsform begegnet die unglückliche, unerwiderte Liebe, z. B. in der Liebe der Königin Briolanja zu Amadís, oder in der der rätselhaften Zauberin Urganda zu einem Ritter, den sie trotz all ihrer magischen Künste zu einem definitiv nicht zwingen kann: sie zu lieben. Als vierte Form begegnet die in langen Ehejahren etwas abgenutzte und erkaltete, dennoch aber achtungsvolle Liebe, wie die des Königs Lisuarte und seiner Gattin Brisena, als fünfte eine bewusst auf sexuelle Vereinigung verzichtende, das Tugendideal achtende, keusche Liebe, wie die des Ritters Balais und der Jungfrau, die er aus der Hand einer Räuberbande befreite.27 Der Grad der Liebe der einzelnen Figuren wird den Lesern sehr sinnfällig vor Augen geführt in der sogenannten Liebesprobe im 57. Kapitel, bei der nur der Ritter, der der intensivsten Liebe fähig ist, ein verzaubertes Schwert aus seiner Scheide ziehen ,und nur die Dame, die die reinste Liebe in ihrem Herzen trägt, einen verwelkten Blütenkranz, der auf ihr Haupt gesetzt wird, zum Blühen bringen kann. Der Schwerenöter Galaor kann das Schwert gar nicht bewegen, König Lisuarte nur eine Hand breit, der treue Agrajes schafft es fast bis zur Spitze, aber nur Amadís gelingt es völlig mühelos und vollständig. Ganz ähnlich verläuft die Kranzprobe. Keine der Damen kann den Kranz zum Blühen bringen, außer natürlich Oriana.28 Es sind also eine Reihe unterschiedlicher Identifikationsangebote für die frühneuzeitliche Leserin und den Leser vorhanden. Sie sind, neben dem Ritterideal, das im Text transportiert wird, der wichtigste Grund für die Beliebtheit des Textes, die ihm aber gleichzeitig auch den schärfsten Widerspruch eingetragen hat.
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Ein Gegenbeispiel für Oriana wäre Magelona, die ihre ‚romantische‘ Liebe zu Peter durch jahrelange karitative Tätigkeit im Kloster büßt und sich dadurch schließlich zur Herrscherin an der Seite des wiedergefundenen Geliebten qualifiziert. Vgl. Veit Warbeck: Die schöne Magelona. In der Fassung des Buchs der Liebe (1587). Hg. von Hans-Gert Roloff. Stuttgart 1969. Montalvo [Übs. Fries]: Amadís (wie Anm. 19), S. 288-289. Vgl. Montalvo [Übs. Fries]: Amadís (wie Anm. 19), S. 589-592.
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Er beruht im Wesentlichen auf drei Aspekten. Zum ersten bedarf ein Paar, das seelenverwandt ist, keiner ehevermittelnden Instanz. Weder Eltern oder andere Verwandte, noch die Gesellschaft haben hier ein Mitspracherecht. Zum zweiten wird durch die Idee der Seelenverwandtschaft die Ehe an sich akzidentell. Wesentlich ist nur, dass beide Partner sich finden. Wann und wo ihre Vereinigung – auch die sexuelle – stattfindet, ist eine Frage der Entwicklung innerhalb der Beziehung, nicht ihrer Sanktionierung durch die Ehe. Zum dritten musste die Darstellung der Liebe in ihren unterschiedlichen Schattierungen als Lehrbuch unkeuscher Lust par excellence erscheinen. Noch in Zedlers Universallexikon heißt es in diesem Sinne, dass „die Durchlesung des Buchs, Amadis genannt, in nicht genug gesetzten Gemüthern geile Regungen verursache.“29 Die genannten Punkte waren den Kritikern des Amadís ein steter Stein des Anstoßes und es ist ihnen sicherlich zuzustimmen, wenn sie den Amadís als Verhaltensratgeber in Sachen Liebe ablehnten. Denn es bleibt zu unterscheiden zwischen der literarischen Idee einer ‚romanhaften‘ Liebe, wie sie im Amadís propagiert wird, und ihrer Umsetzung innerhalb der realistischen Beziehungsnormen einer Gesellschaft, die die Ehe noch lange als Arrangement zwischen wie auch immer gelagerten Interessensverbänden ansah und Sexualität nur in einer legitimen Ehe sanktionierte.
4. Der spanische Amadís: Liebe als legendarischer Topos Der freizügige Umgang mit Sexualnormen – in drei der erwähnten Liebesvarianten spielt außer- bzw. voreheliche Sexualität eine Rolle – ist in der deutschen Literatur der Frühen Neuzeit ein seltenes Phänomen. Er ist mir weder aus anderen höfischen Romanen, noch aus Schäferromanen oder Schäferspielen, dem Prosaroman und schon gar nicht vom frühneuzeitlichen Drama bekannt. Dabei geht es nicht darum, dass vor- und außerehelicher Liebesvollzug stattfindet – das gibt es selbstverständlich in allen Epochen und Gattungen –, sondern vielmehr darum, dass diese voreheliche Liebe im spanischen Amadís und seinen Übersetzungen zwar punktuell kritisiert, aber nur wenig problematisiert wird. Albert Gier konstatierte in diesem Sinne, dass „die kirchliche Moral, die Geschlechtsverkehr nur in der Ehe […] gestattet, anscheinend außer Kraft gesetzt“ sei.30 Dies wird zwar vom Autor verschiedentlich getadelt, der Tadel wirkt aber gerade deshalb häufig nur aufgesetzt, weil es immer wieder zu diesen Normbrüchen kommt – und zwar, wie wir gesehen haben, bei Paaren höchsten gesellschaftlichen Ranges. Elisena gibt sich Perion hin, Oriana Amadís, Olinda Agrajes usw. Gier erklärt diese Seite des Romangeschehens mit der oben bereits erläuterten, offensichtlich dem Roman zu-
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Art.: Amadis. In: Zedlers Universallexikon. Leipzig 1732-1754, Bd. 1, Sp. 1279. Albert Gier: Garci Rodríguez de Montalvo: Los Quatro Libros del Virtuoso Cavallero Amadís de Gaula. In: Der spanische Roman vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Hg. von Volker Roloff und Harald Wentzlaff-Eggebert. Düsseldorf 1986, S. 16-32, hier S. 26.
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grundeliegenden allgemeinen Idee von Liebe und Beziehung, die eben nicht primär auf die Ehe ausgerichtet sei, sondern auf eine grundsätzliche Bestimmung eines Paares füreinander, die ‚Seelenverwandtschaft‘. Sie besteht darin, dass zwei Liebende ihrem „individuelle[n] und gesellschaftliche[n] Rang“31 nach einander ebenbürtig sein sollen und dass sich diese Idee in jeder der dargestellten Beziehungen auch verwirklichen lasse: „Jedem Mann ist seinem Rang nach eine und nur eine Frau bestimmt, die genau zu ihm paßt; diese gilt es zu finden, und wenn sie gefunden ist, gibt es für sie keinen Grund, sich dem Geliebten zu verweigern.“32 Demzufolge ist es „nebensächlich, ob und wann [diese] Beziehung von der Gesellschaft legitimiert wird“, und „der Eheschließung [kommt] eine ganz untergeordnete Bedeutung zu.“33 Dass der Autor mit der Darstellung solcher Liebesbeziehungen natürlich auch einer literarischen Tradition folgt, der zufolge nur eine unlegitimierte Liebe leidenschaftlich sein kann, weil jede legitimierte Liebe von dynastischen Voraussetzungen her gedacht wird, ist ein weiterer Erklärungsansatz für die Häufung solcher Fälle.34 Es ist also nur als Feigenblatt zu sehen, wenn Montalvo über die verliebte Elisena räsoniert, dass es den Frauen nicht genüge, sich zur „Rettung ihrer Seelen […] in karge Zimmer ein[zu]schließen,“ sondern dass sie „mit noch mehr Bedacht ihre Ohren verschließen sollten, ihre Augen zumachen, sich entschuldigend Nachbarn und Verwandten aus dem Wege gehen, sich bei den heiligen Übungen sammelnd, diese als wahre Vergnügungen erachten“ sollten, denn sonst ergehe es ihnen wie Elisena, die „in nur einem einzigen Augenblick, da sie die Herrlichkeit des Königs Perion erblickte, von ihrem Vorhaben (der Bewahrung der Keuschheit, Anm. U.W.) abließ.“35 Tatsächlich handeln sowohl Elisena als auch Oriana also völlig richtig, wenn sie sich ihren Geliebten hingeben – sie sind einander wert und würdig und gehören zusammen –, und die allzu schnelle Legitimierung ihrer Beziehung würde nur der Glaubhaftigkeit ihrer Leidenschaft abträglich sein, bzw. die Verwicklungen der Trennungen und Wiedersehen – und damit den Roman – abkürzen. Maxime Chevalier36 hat nachgewiesen – so Fries in seinem Nachwort zum Amadís –, „daß der ‚Amadís von Gallien‘ im 16. Jahrhundert die bevorzugte Lektüre der herrschenden Stände war, ein Hofbuch par excellence, die Lieblingslektüre Karls V. wie Philipps II.“37 Das Publikum, für das Montalvo seinen Amadís schrieb, war also ein vorrangig höfisches, das mit den literarischen Konventionen solcher Texte durchaus vertraut gewesen sein dürfte und dem somit bewusst war, dass solche Beziehungen nur
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Gier: Amadís de Gaula (wie Anm. 30), S. 27. Gier: Amadís de Gaula (wie Anm. 30), S. 28. Gier: Amadís de Gaula (wie Anm. 30), S. 28. Vgl. Gier: Amadís de Gaula (wie Anm. 30), S. 29. Montalvo [Übs. Fries]: Amadís (wie Anm. 7), S. 17. Vgl. Maxime Chevalier: El público de las novelas de caballerías. In: Ders.: Lectura y lectores en la Espana de los siglos XVI y XVII. Madrid 1976, S. 65-103. Fries: Nachwort. In: Amadís [Übs. Fries]: (wie Anm. 7), S. 752.
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in den Bereich des Legendarischen fielen, in der tatsächlichen Lebenswelt des Adels hingegen keine Rolle spielten. Hier galt vielmehr das Prinzip dynastisch und politisch bedingter, als Rechtshandel verstandener Eheschließungen, die freilich nicht nur für den hohen und niederen Adel galten, sondern in angepasster Form auch für die niedrigeren Stände. Bereits Juan Luis Vives reagierte aber im Jahr 1523 in seiner Schrift De institutione Christianae feminae völlig verständnislos auf die Tatsache, dass manche Väter und Ehemänner ihren Töchtern bzw. Frauen die Lektüre solcher Romane erlaubten: Weshalb liesest Du fremde Liebesabenteuer? Du saugst Schmeicheleien und giftige Lockungen, ohne es zu wissen, allmählich ein, meistens aber auch mit offenen Augen und vollem Verständnisse. […] Es wäre nicht nur besser, solche Schriften niemals gelesen zu haben, sondern auch die Augen zu verlieren, um sie nicht lesen, und die Ohren, um sie nicht hören zu können. Viel besser, sagt unser Heiland im Evangelium, ist es, wenn solche blind und taub ins ewige Leben eingehen, als mit beiden Augen und Ohren ins höllische Feuer geworfen zu werden! […] [Ich] wundere mich, daß vernünftige Väter es ihren Töchtern erlauben, und daß Ehemänner es gestatten […], daß sich die Frauen durch die Lektüre an Liederlichkeit gewöhnen. […] Dann auch betreffs der schlechten Bücher, wie in Spanien der Amadis, Splandian, Florisand, Tirant, Tristan; es giebt eine unendliche Menge solcher obscöner Schriften und täglich erscheinen neue: so Die Kupplerin Cölestina, Der schlechte Vater, Das Gefängnis der Liebe; in Franckreich: LAncilot vom See, Paris und Vienna, Panthus und Sidonia, Petrus Provincialis und Maguelona, Melusina, die unerbittliche Herrin; hier in Belgien: Floris, die weiße Blume, Leonella, die alte Närrin, Curias und Floreta, Pyramus und Thisbe. […] Was könnte in diesen Büchern Vergnügen gewähren, wenn nicht die schmeichelnde Schilderung der Laster? […] Die Frauen sollen also alle diese Bücher wie Schlangen und Skorpionen fliehen.38
Vives’ Kritik sollte in den folgenden Jahrhunderten den Kanon der Amadís-Kritik im Besonderen und der Romankritik im Allgemeinen grundlegend bestimmen. Er befürchtet, dass diese Romane nicht bloß zur Unterhaltung gelesen werden – was an sich schon Zeitverschwendung und Gotteslästerung wäre –, sondern als Verhaltensratgeber dienen könnten. Dass er damit nicht völlig unrecht hatte, zeigt die Rezeption des Amadís als eines Erziehungsratgebers in Fragen der Höflichkeit und Ritterlichkeit.39 Wenn man den Helden in diesen Tugenden nacheifern sollte, warum dann nicht, indem man ihre Liebeskonzepte nachahmte?
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Johannes Ludovicus Vives’ pädagogische Schriften. Hg. von Friedrich Kayser. Freiburg 1896, S. 377-379. Vgl. zur Rezeption an den deutschen Höfen Weddige: Amadis. Entstehung und Rezeption (wie Anm. 1), S. 138-180.
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5. Über Frankreich nach Deutschland – Galantisierung und Didaktisierung Auf seiner Wanderung über Europa hat der Amadís sein Gesicht verändert. Aus der schlichten Prosa des spanischen Amadís wurde in Frankreich, und in nochmals gesteigerter Form in Deutschland, ein ganz neuer Stil. Barbara Langholf hat dessen Tendenzen zusammenfassend charakterisiert: Mit der Übersetzung des „Amadis“ vollzieht sich ein Umbruch in der Sprache des 16. Jahrhunderts. Die einfachen Satzgefüge werden aufgegeben zugunsten eines äußerst schwierigen Satzbaus, der durch vielfache Subordinationen und Verschachtelungen bestimmt ist. Den Schwierigkeitsgrad der französischen Syntax steigert der Übersetzer durch die Wiedergabe von Parataxen als Hypotaxen und die Zusammenfassung mehrerer französischer Satzgebilde zu einer Periode. In den Passagen, die der Deutsche dem ursprünglichen Text hinzufügte, wo nicht der Zwang einer Vorlage seinen Willen zur komplizierten Bauweise einschränkte, sind die unübersichtlichsten und preziösesten Konstruktionen anzutreffen. Wenn sich der Übersetzer von seiner Vorlage löst, so geschieht es um zu verschachteln, zu subordinieren, zu komplizieren. […] Mit der Übersetzung des Romans wuchs der französische Einfluß auf die deutsche Sprache in jener Zeit. Die wichtigste Bedeutung des „Amadis“ für die Sprachgeschichte des 16. Jahrhunderts liegt jedoch in der Schaffung eines neuen, bisher ungewohnten Satzbaus im Bereich der unterhaltenden Literatur – in der Abwendung von dem einfachen verständlichen Bibeldeutsch Martin Luthers und in der Hinwendung zu einer komplizierten, schwer verständlichen Syntax.40
Wenngleich diese Veränderungen auf den ersten Blick nur ein sprachliches Phänomen zu sein scheinen, sind sie doch auch für die Liebeskonzepte von entscheidender Bedeutung. Denn der Amadís wurde ‚galant‘ – nicht nur in der Sprache, sondern auch im Inhalt. Lange, geschliffene Reden begleiteten die Werbung der Ritter um ihre Damen, in denen es um Gunst, Schönheit und natürlich Liebe ging. Nicht von ungefähr wurde dieser Sprachstil geradezu ein Synonym für die Schilderung erotischer Abenteuer. Da der Amadís nun auch immer breitere Leserkreise erreichte, rief er auch immer schärfere Kritik hervor. Das liegt an einer gegenüber dem Mittelalter veränderten Literaturauffassung und zeigt sich vor allem in der Nähe der Dichtung zur Moralphilosophie.41 Wenn die frühneuzeitlichen Autoren unmoralische Geschichten erzählen, geschieht das, um eine ‚Lehre‘ daraus abzuleiten. Im Amadís hingegen bleibt die Lehre vollkommen aus. Montalvo nimmt nicht die Position des überlegenen Mahners ein, es gibt keine moralische Distanz zu den Figuren. So bleibt ihr ‚Fehlverhalten‘ im Roman nicht nur unkritisiert, sondern auch unbestraft. Das heißt also, dass der innere moralische Diskurs, zumindest was die Frage der vorehelichen Liebe angeht, nicht mit einer äußeren Nutzanwendung von Seiten des Lesers – der applicatio – korrespondieren
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Barbara Langholf: Die Syntax des deutschen Amadisromans. Untersuchung zur Sprachgeschichte des 16. Jahrhunderts. Hamburg 1969, S. 209-210. Vgl. zur Wahrnehmung der Dichtung als Moraltheologie und -pädagogik Volkhard Wels: Der Begriff der Dichtung in der Frühen Neuzeit. Berlin/New York 2009.
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kann. Der Text steht damit im diametralen Gegensatz zur horazischen Forderung des prodesse et delectare, die ja in der Frühen Neuzeit in hohem Maße zur Legitimierung der Dichtung beiträgt. Die Kritiken der Zeitgenossen vom 16. bis zum 18. Jahrhundert entzündeten sich immer wieder an der Darstellung der Liebe im Amadís, erst in zweiter Linie an der Verlogenheit bzw. Unwahrheit des Textes. Die Autoren, Übersetzer und Herausgeber versuchten dieser Kritik entgegenzuwirken. Es zeigt sich aber, dass substanzielle Einwendungen gegen den Hauptvorwurf, der Amadís sei ein ‚Buhlbuch‘, nicht vorgebracht werden konnten – was der Beliebtheit des Textes allerdings keinerlei Abbruch tat. Diese Verteidigungsversuche, die generell nur in den Vorreden stattfinden, und die ich als ‚Didaktisierung‘ bezeichnen möchte, zeigen folgende Grundtendenzen:42 Im Sinne der captatio benevolentiae versuchen die Autoren der Vorreden, die im Allgemeinen auch die Übersetzer sind, zunächst sich selbst als tugendliebend, tugendhaft und bescheiden darzustellen. Sie handeln nur aus Vaterlandsliebe und Notwendigkeit. Zudem berufen sie sich auf die hohe Abstammung der Widmungsempfänger, deren Interesse für Kunst und Wissenschaften und deren Tugendhaftigkeit. Dann wird der sprachliche Nutzen betont und auf die vielgerühmte Zierlichkeit des Stils hingewiesen. Die Übersetzungen seien entstanden, um sich im Französischen zu üben und Müßiggang zu meiden. Ihre Französischkenntnisse verpflichteten sie nachgerade dazu, sie in den Dienst der Mitmenschen zu stellen. Die Lektüre wird – besonders für adlige Personen – als legitimer Zeitvertreib angesehen.43 So wird schließlich behauptet, die Exempel transportierten Muster von Tugendlohn und Sündenstrafe, wobei gleichzeitig versucht wird, die Dominanz der Liebeshandlungen zu verwischen, indem man auf ritterliche Abenteuer und Kriegshandlungen verweist und das Buch damit fast zu einem Fürstenspiegel stilisiert. Das prodesse et delectare wird somit in den Vorreden zur Legitimation wieder eingeführt, denn hier lerne man die Menschen und die Unbeständigkeit des Schicksals kennen, zudem seien – so z.B. Fischart in seiner Vorrede zum 6. Band –, unter der verzuckerten Hülle wichtige Lehren verborgen und schließlich wird an den mündigen Leser appelliert, der schon selber „das böse […] vnd lästerlich zu rück stellen“ könne.44 Bei allen Verteidigungsversuchen, die ähnlich auch in anderen Romanvorreden zu finden sind, ist jedoch eines auffällig: sowohl die Verfasser als auch die Übersetzer der deutschen Amadís-Bücher bleiben anonym, was nicht anders als mit einer gewissen Anerkennung des zweifelhaften moralischen Charakters des Buches erklärt werden kann.
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Die Vorreden zu Band 1 bis 6 sind im Reprint des Amadis (wie Anm. 11) enthalten. Vgl. zu den Verteidigungsversuchen auch Weddige: Amadis. Entstehung und Rezeption (wie Anm. 1), S. 283-291. Vgl. Keller (Hg.): Amadis (wie Anm. 11), S. 4. Keller (Hg.): Amadis (wie Anm. 11), S. 4.
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6. Moralisierung im Drama: Andreas Hartmanns Comoedia Amadisens Dieser zweifelhafte Charakter blieb ein Signum des Amadís. Exemplarisch lässt sich dies an einer dramatischen Bearbeitung des Romans aus dem Jahr 1587 zeigen, der Historia von des Allermechtigsten/ Vnüberwindlichsten Ritters auff Erden/ weyland Herrn Amadisens aus Franckreich, des Dresdner Notars Andreas Hartmann. Der Autor hat sie für den Dresdner Hof verfasst, wo sie auch einige Male aufgeführt worden ist,45 und Christian I. von Sachsen (1560-1591) und dessen Ehefrau Sofie (1568-1622) dediziert. Bereits Weddige hatte festgestellt, dass Hartmanns Comoedia Amadisens „außerordentlich aufschlußreich für das zeitgenössische Verständnis des Amadis“ sei,46 denn sie zeige, wie problematisch die Liebesszenen eines solchen Stoffes für eine Dramatisierung waren. Die im Knittelvers abgefasste Comoedia Amadisens basiert auf den ersten elf Kapiteln des 1. Buches, d. h. sie erzählt die Geschichte der Liebe der Eltern des Amadís und seiner unehelichen Geburt, seiner Aussetzung auf dem Wasser, der Erziehung bei Languines und endet mit der Wiedererkennung von Eltern und Sohn. Die moralisch überaus problematische Partie des Anfangs der Geschichte, nämlich die der heimlichen Liebesnächte von Elisena und Perion, musste also mit erzählt werden. Die Frage ist nun, wie derart pikante Liebesszenen für die Bühne eines protestantischen Fürstenhofes umgeformt wurden. Dass diese Szenen, die im Roman relativ breit ausgemalt wurden und einen nicht geringen Reiz des Textes ausmachten, nicht coram publico stattfinden konnten, liegt auf der Hand. Auch Teichoskopie – bei Kampf- oder Folterszenen gern angewendet – wäre hier wohl keine Lösung gewesen. Weglassen konnte Hartmann sie aber auch nicht ganz, denn schließlich verdankt der junge Held ihnen seine Existenz. In der Vorrede betont Hartmann, er habe „dasjenige was etwa züchtige Ohren vnd Frawenzimmer offendiren vnd beschemen mögen/ […] vbergangen.“47 Um das zu erreichen, wählt Hartmann allegorische Figuren und kommentiert durch sie das Liebesgeschehen von außen. So erscheint die Liebe zwischen Perion und Elisena als Rache von Venus und Cupido, die sich für die vorherige Unempfänglichkeit der beiden in Liebessachen revanchieren. Nachdem Perion der Dienerin Darioleta verspricht, dass er Elisena heiraten werde, beendet eine Figur mit dem sprechenden Namen Morio die Szene mit den Worten „Das mag mir wol ein Metze sein/ Die sich der Sach versiehet fein.“48 Mit der „Metze“ ist Darioleta gemeint. Ihre moralische Abqualifizierung, die im Roman nicht vorkommt, ist eindeutig. Die nächste Szene zeigt bereits den abreisewilligen Pe-
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Vgl. Weddige: Amadis. Entstehung und Rezeption (wie Anm. 1), S. 169. Weddige: Amadis. Entstehung und Rezeption (wie Anm. 1), S. 168. Vgl. zu Hartmanns Comoedia auch: Gerhart Hoffmeister: Andreas Hartmans ‚Comoedia des Amadis‘ (1587). In: Daphnis 9 (1980), H. 3, S. 463-475. Hartmann: Comoedia Amadisens (wie Anm. 12), Vorrede, S. A vi. Hartmann: Comoedia Amadisens (wie Anm. 12), S. Dij (v).
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rion. Die Liebesnächte werden nur als bereits geschehen angedeutet, und Perion verspricht der in Tränen aufgelösten Elisena, sobald er heimgekehrt ist, eine Legation abzuschicken, um formell um sie zu werben. Auch davon war im Roman keine Rede. Im Dialog des Paares wird Wert darauf gelegt, dass die körperliche Vereinigung nur zustande kommen konnte, weil beide sich über eine künftige Eheschließung einig waren. Es liegt also zumindest von beiden Seiten ein Konsens über diese wichtige Frage vor. Das bestätigt ein nochmaliger Blick auf die Vorrede des Spiels, denn dort spricht der Autor „Von König Perions vnd Fräwleins Elisene standthafftiger Ehelicher liebe und vermählung“49 (Hervorhebung U.W.), obwohl letztere noch gar nicht stattgefunden hat. Hartmann weicht der problematischen moralischen Fragestellung also dadurch aus, dass er eine Klandestinehe bzw. Gewissensehe postuliert, die im Roman nicht besteht, denn die beiden haben sich nicht gegenseitig die Ehe versprochen, sondern Perion hatte nur der Kammerfrau Darioleta gegenüber den Schwur abgelegt, er werde alles tun, was sie von ihm begehre. Sowohl die Vorrede als auch die Argumentation im Text zeigen, dass Hartmann sich der problematischen moralischen Vorgaben des Romans und damit einer offenbar als deviant empfundenen Sexualmoral bewusst ist, die er mit moralisierenden Figuren und Kommentaren entsprechend zu glätten versucht.
7. Wielands Neuer Amadis: Die Aufhebung der Moral in der Ironie In Wielands Neuem Amadis (1771) liegt die freieste Adaption des Stoffes vor. Bereits in seiner Vorrede räumt er ein: Weder mit diesem Amadigi des Bernardo Tasso, noch mit dem alten Amadis de Gaule, noch mit irgend einem andern Amadis in der Welt hat der gegenwärtige Neue Amadis außer dem Nahmen […] wenigstens mit Wissen und Willen des Dichters, nicht das mindeste gemein. Die Laune, deren Ausgeburt das Werk selbst ist, hat ihm auch den Nahmen geschöpft, und es könnte schwerlich ein andrer Grund angegeben werden, warum dieses Gedicht nicht der Neue E Plandian, oder der Neue Florismarte genannt worden, als weil der Nahme Amadis bekannter ist, und ich weiß nicht was für einen romantischen Klang hat, der ihn vorzüglich geschickt macht, einen Abenteurer von so sonderbarem Schlage zu bezeichnen.50
Sicherlich ist dem insoweit zuzustimmen, als Wieland sich für seinen Amadis nicht des Handlungsgefüges des frühneuzeitlichen Romans bedient, sondern eine ganz eigene, ziemlich verworrene, aber schlussendlich auf eine sehr einfache Lösung zulaufende Geschichte um sechs Damen und sechs Ritter konstruiert.
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Hartmann: Comoedia Amadisens (wie Anm. 12), S. Aiij (v). Wieland: Vorbericht der ersten Ausgabe von 1771. In: Wieland: Der neue Amadis (wie Anm. 14), S. VIII-IX.
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Damit er nicht den Verführungen der sinnlichen Liebe verfallen sollte, hatte man Amadis in völliger Isolation aufwachsen lassen. Genützt hat es nicht. Er wird ein Libertin – wenngleich ein unschuldiger und unfreiwilliger. Amadis ist hier nicht der kämpferisch und sittlich vollkommene Ritter, sondern einer, der seit geraumer Zeit seinem aus Tugend und Wollust zusammengesetzten Frauenideal Füllung zu verleihen suchte und dabei innerhalb von drei Jahren en passant 36 solcher weiblichen Ideale durchprobiert hat. Das immer neue Versagen seiner Ideale lässt ihn dabei keineswegs schwermütig werden, im Gegenteil, sein schlichtes Gemüt ist jedes Mal aufs Neue davon überzeugt, die Richtige gefunden zu haben. Wieland ironisiert und persifliert in der Figur des neuen Amadis das Minneideal, das im alten Amadís-Roman begegnet. Ebenso wie der alte Amadís ist der neue bereit, Minnedienst zu tun. Dass dabei die niedere Minne überwiegt, ändert nichts daran, dass er an das Ideal der hohen Minne glaubt – womöglich sieht er gar keinen Unterschied. Stets ist er bereit, im Dienste der Damen, die er auf seinem Weg trifft, Kämpfe auszufechten, auch wenn er sie regelmäßig verliert. Die Frau ist für ihn das ideale Wesen – von kleinen Irritationen abgesehen. Gegenüber all den anderen seltsamen Rittern des komischen Epos hat der neue Amadis sich eine wesentliche Eigenschaft bewahrt, die ihn dem alten Amadís ähnlich macht – seine Unschuld, die er auch nach 36 Affären nicht verloren hat. Die Geschichte endet damit, dass der neue Amadis tatsächlich sein Ideal findet. Der klugen und tugendhaften, aber grauenvoll hässlichen Olinde war wegen ihres früheren Hochmutes ein hässliches Gesicht gegeben worden, und erst die reine Liebe eines Ritters – eben des Amadis – gibt ihrem Antlitz im Moment der Eheschließung wieder seine ursprüngliche Schönheit zurück, wobei ihre neu gewonnene Klugheit erhalten bleibt. Allerdings war Amadis’ Liebe zu Olinde keineswegs das Ergebnis einer inneren Entwicklung, sondern nur Macht der Gewohnheit – und tröstlich war für Amadis doch immerhin, dass ihr Körper der hässlichen Verwandlung entgangen war. So bleibt die Bekehrung von der körperlichen zur geistigen Liebe eine vorgebliche. Fest steht jedoch, dass Amadis kein idealer Ritter ist, sondern von Anfang bis Ende ein schwärmerischer Tor. Die Frage aber, ob er ein Tor ist, weil er wie Parzival in der Isolation aufgewachsen ist, oder ob er es ohnehin war, bleibt ungeklärt und ist letztendlich auch unwichtig. Wieland setzt in seinem Epos das promiske Verhalten des Helden, der doch eigentlich nur monogam sein will, persiflierend in Bezug zu einer empfindsamen Vorstellung des ritterlichen Minneideals. In der Ironie wird die Aufhebung der Moral möglich.
8. Die ‚empfindsame‘ Amadis-Adaption des Comte de Tressan Auf die Vorstellung des idealen, tugendhaften Ritters hingegen rekurriert die Übersetzung, die Christhelf Wilhelm Sigmund Mylius im Jahr 1782 vorgelegt hat. Sie basiert auf der Neubearbeitung des Amadís-Stoffes durch den Grafen von Tressan für seine Bibliothèque universelle des romans aus dem Jahr 1779 und ist ein echtes Produkt der
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Empfindsamkeit. Es geht dem Herausgeber nicht darum, den Roman in alter, originaler Gestalt einem historisch interessierten Publikum nahezubringen, sondern ihn einem modernen, empfindsamen Leser schmackhaft zu machen. Zur Figur des Amadis sagt er in der Vorrede: „Zu den erhabnen oder liebenswürdigen Zügen, welche die Handlungen, die Grundsäze und die Liebe des zärtlichen und treuen Amadis karakterisiren, habe ich nichts hinzufügen können.“51 Erhaben, liebenswürdig, zärtlich, treu – das sind die Attribute, die der Autor dem alten Amadís zuerkennt und die – damit sei auf meine eingangs erwähnten ‚romantischen‘ Zuschreibungen verwiesen – den Stoff für das empfindsame Publikum so überaus interessant machten. Eine bessere Vorlage für einen empfindsamen Helden konnte man sich tatsächlich kaum wünschen, die Behauptung allerdings, Tressan habe nichts verändert, trifft nicht zu. Er hat das Kriegsgeschehen wesentlich verkürzt und den Akzent auf die Liebeshandlungen verlagert.52 Dabei hat er besonderen Wert darauf gelegt, das Verhalten der Personen psychologisch zu motivieren. So erklärt er das Verhalten der Kammerfrau Darioleta, die Elisena ja ohne Not in der Nacht – nur bedeckt mit einem Nachthemd – zu Perion in die Kammer führte, und deren Verhalten man ohne böswillig zu sein als kupplerisch bezeichnen kann, indem er erzählt, Darioleta selbst habe in ihrer Jugend geliebt und wisse, „[w]ie unnüz jene langwierige Kämpfe sind, welche zwei junge Liebende so grausam peinigen, und die sich stets mit ihrer Besiegung endigen.“53 Die implizite rhetorische Frage lautet also: Warum gegen die Affekte kämpfen, wenn man weiß, dass man ihnen letztlich doch stattgeben wird? Eine moralische Diskreditierung der Helden scheint damit obsolet. Allerdings sieht Tressan sich dennoch genötigt, ähnlich wie Hartmann eine Geheimehe zwischen Perion und Elisena zu suggerieren. Als Darioleta Elisena in Perions Kammer bringt, wird betont, dass „Amor und Hymen“ sie ihm zuführen und Darioleta sagt explizit: „Eure Gemahlin überliefr‘ ich hier Euren Armen“54 (Hervorhebung U.W.). Die nun folgende Liebesszene wird ohne Worte, nur mit dem nicht zu überbietenden Unsagbarkeitstopos „…“ geschildert. Ebenso gestaltet der Erzähler die Szene der ersten Vereinigung von Amadis und Oriane: Amadis und die gefühlvolle und treue Oriane blieben allein… Der Himmel empfing ihre Schwüre, und seit denjenigen, die unsre erste Aeltern in dem Garten Eden thaten, brachten nie einigere und mehr biedre Herzen deren vor den Ewigen!55
Man ist sich also „einig“ und darüber hinaus „bieder“ – das legitimiert offensichtlich den Beischlaf. Um das noch zweifelnde Publikum restlos von der moralischen Integrität der Helden zu überzeugen, folgt eine kurze Ansprache an die Leser:
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Tressan [Übs. Mylius]: Vorwort Tressan. In: Amadis (wie Anm. 16), o. S. Vgl. Weddige: Amadis. Entstehung und Rezeption (wie Anm. 1), S. 311. Tressan [Übs. Mylius]: Amadis (wie Anm. 16), S. 9. Tressan [Übs. Mylius]: Amadis (wie Anm. 16), S. 13. Tressan [Übs. Mylius]: Amadis (wie Anm. 16), S. 241.
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O Jhr, deren reine und dem Eid der Treue unterwürfige Seelen, nicht der Geseze bedürfen, um ihn zu halten […], nein Ihr könt nicht die reizende Oriane verdammen, daß sie im Amadis den Beschüzer, den Gefärten, den Gemal zu sehn glaubte, den ihr der Himmel bestimte … Möchten doch die Schleier der Schaam, und die Schwingen Hymens unheiligen Blikken das Glük dieser beiden Liebenden verbergen!56 (Hervorhebungen U.W.)
Auch hier wird also versucht, das deviante Moralverhalten der Protagonisten über eine zumindest suggerierte Gewissensehe annehmbar zu machen. Der entscheidende Unterschied zum frühneuzeitlichen Amadís liegt in der starken Akzentuierung der Liebeshandlungen, die ein hohes Maß an Emotionalität produziert. Die häufigen Leerstellen dienen der Spannungssteigerung und der Anregung der Phantasie des Lesers. Es ist keinesfalls mehr nötig, alles zu sagen, zu begründen, zu rechtfertigen – man soll still lesen und sich seinen Teil denken…
9. Arthur Gobineau: Arische Pervertierung des Amadís Die Wirkungsgeschichte des Amadís ist damit keinesfalls beendet. Er ist offenbar Teil des gemeinsamen europäischen Kulturguts, was ihm – wenn auch nicht in dem Maße wie den Artus- und Karls-Epen – auch nach dem 18. Jahrhundert einen festen Platz innerhalb der europäischen Kulturgeschichte gesichert hat.57 Eine sehr düstere Seite der Amadís-Rezeption zeigt sich in der Bearbeitung des Stoffes durch den französischen Schriftsteller Arthur Gobineau (1816-1882), der durch seinen Essai sur l’inégalité des races humaines (1853-1855) (dt.: Versuch über die Ungleichheit der Menschenracen 1898ff.) zweifelhafte Berühmtheit als einer der Väter des Rassismus erlangt hat, auf den sich auch der Nationalsozialismus gerne berief. Gobineau bildete in seinem Essai eine Theorie aus,58 nach der die weiße Rasse die einzige sei, die mit schöpferischer Kraft ausgestattet sei, während die gelbe sich vor allem durch die Befähigung zum Handel auszeichne und die schwarze grundsätzlich wenig Wert habe. Da sich die Rassen im Laufe der Menschheitsgeschichte immer weiter vermischt hätten, seien mittlerweile alle Menschen mehr oder weniger minderwertige Mischlinge, die die Menschheit letztlich zum Untergang führen würden. Den im nordwestlichen Mitteleuropa lebenden langschädligen germanischen Ariern gesteht Gobineau dabei den höchsten Rang zu, weil sie sich am wenigsten vermischt hätten. Hier
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Tressan [Üb. Mylius]: Amadis (wie Anm. 16), S. 241. Die „Veroperung“ des Amadís war ein wichtiger Nebenstrang dieser Kulturgeschichte, die sich allerdings bereits im Zeitraum von 1684-1727 abgespielt hatte und hier nicht mehr untersucht werden kann. Vgl. hierzu Weddige: Amadis. Entstehung und Rezeption (wie Anm. 1), S. 292-308. Vgl. zum Folgenden: Hans Fenske: Rassismus, Sozialdarwinismus, Antisemitismus: Gobineau. In: Geschichte der politischen Ideen. Hg. von dems. u.a. Aktualisierte Neuausgabe, Frankfurt a.M. 2003, S. 482-483.
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zeigt sich ein absurder Brückenschlag einerseits zu Gobineaus eigener Familie, die er diesen Ariern zuzählte und deren Genealogie er auf Odin zurückführte,59 andererseits zu Amadís, dem Gallier, den er ebenfalls dieser Rasse zurechnet. Im Vorwort der deutschen Ausgabe von 1914 heißt es: „Das vorliegende Buch vervollständigt die Beschäftigung mit Gobineaus Lehre. Denn es behandelt den Menschen als Einzelwesen, das Urbild der weißen Rasse.“60 Gobineaus konsequenter Degenerationsgedanke zeigt sich in seiner unvollendet gebliebenen Amadís-Adaption, die er gegen Ende seines Lebens verfasst hat, sehr klar. Im dritten und letzten Band steht die Welt vor dem Untergang. Gobineau lässt die Helden im Kampf mit der „entarteten […] Bevölkerung“ zwar sterben, aber von Feen auf den Parnaß in die Unsterblichkeit und Verklärung entrücken. In einer zeitgenössischen Rezension der deutschen Übersetzung heißt es: „Im Schicksal des gallischen Ritters ‚Amadis‘, des ‚Herrn vom Meere‘, ist der Untergang der weißen Edelrasse symbolisch dargestellt und zugleich ihre Apotheose im Reiche der Werte.“61 Eine graduelle Parallele zu Gobineaus Freund und Anhänger Richard Wagner und dessen Heroisierung mittelalterlicher Epen im Sinne germanischer Ursprungssagen lässt sich nicht von der Hand weisen.62 In Gobineaus Amadis wird das mittelalterliche Ritterideal zu einem rassischen Ideal pervertiert, die Liebe zwischen Amadis und Oriana wird zu einer RassenkundeLehrstunde, in der Amadis Oriana den Vorrang der weißen vor der gelben und schwarzen Rasse verdeutlicht. Deviant sind in Gobineaus absurder Vorstellung nicht Amadis und Oriana, die natürlich alles Recht hätten, ihre „Edelrasse“ fortzupflanzen, sondern die unfähigen Mischlinge, die der Menschheit den Untergang bringen.
10. Besinnung auf den ‚alten‘ Amadís In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben sich die Vorzeichen für die Betrachtung des Amadís-Stoffes wieder aufgehellt. Mit seiner kritischen Übersetzung63 hat Fritz Rudolf Fries das spanische Original einem interessierten modernen Publikum wieder zugänglich gemacht. In der Hörspielfassung bietet er vordergründig eine geistreiche, ironische Sicht auf alle Figuren der Geschichte und die junge Liebe von Amadis und
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Vgl. Eugen Kretzer: Joseph Arthur Graf von Gobineau. Sein Leben und sein Werk. Leipzig 1902, S. 7. Mathilde de la Tour: Vorrede zur Originalausgabe. In: Gobineau: Amadis. Königskinder (wie Anm. 18), S. I-XXXV, hier S. XVI. Fritz Lenz: Gobineau, Arthur Graf: Amadis. Erstes Buch: Königskinder. Verdeutscht von M.O. Johannes. In: Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie11 (1914/15), H. 4, S. 553. Vgl.: Günther Deschner: Gobineau und Deutschland. Der Einfluß von J. A. de Gobineaus ‚Essai sur l’inégalité des races humaines‘ auf die deutsche Geistesgeschichte 1853-1917. Erlangen 1967, S. 120-121. Fries [Übs.]: Amadis (wie Anm. 7).
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Oriana. Oriana ist eine verwöhnte, etwas zickige junge Dame, die ihre Eifersucht auf die Königin Briolanja mit Liebeskummer zu bezahlen hat, Amadis ein „jugendlicher Held und tumber Tor“, der eine Neuauflage Parzivals zu sein scheint, und – im Gegensatz zum alten Amadís – zunächst vielleicht doch ein wenig zwischen den beiden Damen schwankt. Hintergründig verweist das Hörspiel, das 1980 geschrieben wurde und damit in die Zeit kurz nach dem Nato-Doppelbeschluss fällt, auf das damals vieldiskutierte Wettrüsten zwischen der NATO und der UdSSR. Die Großmächte werden personifiziert von König Lisuarte und dem Zauberer Arcalaus, der sagt: „Meine Riesen von heute kann ich per Knopfdruck überallhin jagen, in fünfzehn Minuten…“64 Mit Arcalaus, der als personifizierter Krieg und eine Art „Erlkönig“65 die Verführbarkeit des jungen Ritters Amadis zu allerhand politischen Intrigen aufzeigt, werden resignierende politische Anspielungen auf die Zeitläufe deutlich. Er fragt Amadis: „Willst schöner Knabe du mit mir gehen?“ und verspricht ihm nicht nur, der beste Ritter zu werden, sondern auch gelehrt in den Wissenschaften und der schwarzen Magie – und – nicht zuletzt, ihm Oriana zuzuführen. Der Schluss ist uneindeutig. Urganda sagt über Amadis: „Er lebte seinem Ideal und konnte nicht sterben. Amadis lebt, solange Arcalaus lebt.“66 Damit scheinen die beiden Konstanten der Menschheitsgeschichte, die Liebe und der Krieg, auf ewig aneinander gefesselt und es liegt im Ermessen des Hörers, über diese menschliche Schwachheit zu weinen, oder zu schmunzeln – Fries scheint für letzteres zu plädieren. In dem Kinderbuch67 hat Fries sein Personal und die Fabel aus dem Hörspiel nochmals aufleben lassen. Er gibt hier zwar eine etwas positivere, märchenhafte und ebenfalls leicht ironische Sicht auf die Kraft der Liebe, aber auch hier bleibt Arcalaus das böse Prinzip, gegen das der edle Ritter Amadis immer wird kämpfen müssen. Abschließend sei auf eine spanische Comic-Fassung des Amadís68 hingewiesen, die mit opulenten Bildern die Geschichte von Amadís’ Eltern und seiner Geburt, seiner Liebe zu Oriana bis zur Geburt des Sohnes Esplandian und der endgültigen Vereinigung der Liebenden erzählt. Ganz dem Original verpflichtet, werden in dieser graphic novel die Akzente einerseits auf die Kampfhandlungen mit Riesen, Löwen und Drachen gelegt, andererseits aber auch auf die Schilderung der kompromiss- und alternativlosen Liebesbeziehung. Trotz der extrem verknappten Darstellung im Comic gelingt es, die wesentlichen Handlungsstränge klar darzustellen – was die Schlichtheit der Fabel des alten Amadís zeigt. Der spielerische Ernst, mit dem die Geschichte erzählt wird, legt auf die beiden Aspekte der Liebe, die Seelenverwandtschaft mit dem vorehelichen Vollzug
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Fries: Amadis. Hörspiel (wie Anm. 20), S. 78. Fries: Amadis. Hörspiel (wie Anm. 20), S. 50. Fries: Amadis. Hörspiel (wie Anm. 20), S. 108. Fries: Ritter Amadis (wie Anm. 21). Montalvo [Gómez, Ríos]: Amadis (wie Anm. 22).
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der Ehe und deren Legitimierung, einen ganz entscheidenden Schwerpunkt und führt damit die alte Geschichte mit der Liebes- und Sexualmoral des westlichen Europas im 21. Jahrhundert zusammen. Man kann zwar vor oder ohne Ehe lieben und Kinder zeugen, der Ewigkeitsanspruch einer Beziehung gilt aber heute mehr denn je. Das wird im letzten Bild der Geschichte deutlich, auf dem Amadís und Oriana den Bogen der treuen Liebenden durchschreiten. Gleich danach folgt die Hochzeit: „Pasado el tiempo, Oriana y Amadís contrajeron matrimonio público tras pasar la prueba del arco de los leales amadores.“69 Die Ehe bildet den märchenhaften Schluss der Geschichte – im Deutschen würde stehen: „Und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute.“ Im spanischen Comic ist dagegen zu lesen, dass die Geschichte ihre Lebendigkeit bis heute erhalten habe: „Las gestas de Amadís, Galaor, Esplandián y sus descendientes continuaron durante varios siglos, hasta llegar a nuestros dias.“70
11. Schluss Die Rezeptionsgeschichte des Amadís, das hat schon Hilkert Weddige mit seiner profunden Untersuchung gezeigt, ist weit verzweigt und zieht sich bis in die Moderne. Zwar hat der Amadís nicht die Berühmtheit von Cervantes’ Don Quijote erlangt, in dem der Liebes- und Ritterwahn des Amadís, der besonders in den fast unendlichen Fortsetzungsbänden um sich gegriffen hatte, auf das treffendste persifliert wurde, aber in der Schlichtheit seiner Fabel und dem alles andere überstrahlenden Liebesideal seines Helden liegt offenbar eine Qualität, die ihn als Vorlage für alle möglichen Bearbeitungen tauglich machte. Die ‚deviante‘ Sexualmoral war in diesem Sinne der Beliebtheit des Stoffes äußerst zuträglich. Er zählt zu den schlichten Mythen des Abendlandes, und in diesem Sinne hoffen wir auf eine baldige Verfilmung des Stoffes durch Hollywood.
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Montalvo: Amadis (wie Anm. 22), S. 32. Montalvo: Amadis (wie Anm. 22), S. 32.
Thomas Althaus (Bremen) Topik und Komödie. Andreas Gryphius� Horribilicribrifax Teutsch
Die Barockkomödie leitet ihre Texte in hohem Maße von einem Fundus ab, erheblich mehr als das barocke Trauerspiel. Deshalb sind die Komödien der Zeit nur schwer gegeneinander aufzuwerten; noch diejenigen von Reuter oder Weise sind mehr oder weniger aus einem Bestandsverzeichnis, einem Thesaurus der Gattung rekrutiert. Der Bausteincharakter impliziert die Typenkomödie, wiedererkennbare Figuren, Szenarien, Konflikte, die jeweils neu arrangiert werden. Das liegt in der Konsequenz eines kompilatorischen Genreprozesses,1 den sowohl das Jesuitendrama und das Schultheater als auch die Wanderbühne und die commedia dell'arte mit Komponenten speisen. Entsprechend kann die bekannte Komödiendefinition im Buch von der Deutschen Poeterey, Scaliger folgend, ohne eine Intentionsbestimmung auskommen: Die Comedie bestehet in schlechtem wesen vnnd personen: redet von hochzeiten / gastgeboten / spielen / betrug vnd schalckheit der knechte / ruhmrätigen Landtsknechten / buhlersachen / leichtfertigkeit der jugend / geitze des alters / kupplerey vnd solchen sachen / die täglich vnter gemeinen Leuten vorlauffen.2
Bei so versatzstückartiger Textorganisation scheint in der Barockkomödie die Entwicklung des Genres zu stagnieren, anders als dies für das barocke Trauerspiel gelten mag. Die Tragödie hat einen „End-Zweck“ über die allgemeine Forderung der Tugendbeförderung und Lastervermahnung hinaus, wofür auch bereits Opitz früh, in der Vorrede zu Senecæ Trojanerinnen (1625), auf die constantia-Lehre des Neostoizismus verweist. Hier gehe es um „Beständigkeit“, die „vns durch beschawung der Mißligkeit des Menschlichen Lebens in den Tragedien zu föderst eingepflantzet“ werde.3 Hingegen ist
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Vgl. dazu für die frühneuzeitliche Dramenproduktion im Grundsätzlichen die Beiträge des Sammelbandes: Christel Meier/Bart Ramakers/Hartmut Beyer (Hgg.): Akteure und Aktionen. Figuren und Handlungstypen im Drama der Frühen Neuzeit. Münster 2008. Martin Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey. In: Gesammelte Werke. Kritische Ausgabe. Hg. von George Schulz-Behrend. Bd. II/1. Stuttgart 1978, S. 331-416, hier S. 365. Martin Opitz: L. Annæi Senecæ Trojanerinnen / Deutsch übersetzet vnd mit leichter Außlegung erkleret [...]. In: Gesammelte Werke (wie Anm. 2), Bd. II/2, S. 424-522, hier S. 430.
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für die Komödie kaum sicherzustellen, dass ihre kaleidoskopartige Lasterdarstellung auch wirklich der Lastervermahnung dient, statt hierin auf prekäre Weise funktionslos zu sein. Es geht „manche Matron oder Jungfrau / die schamhaftig u[n]d züchtig in das Spielhaus gegangen / geil und frech wieder nach Haus“.4 Im Folgenden soll aber gezeigt werden, wie die Komödie im Fall von Gryphius’ Horribilicribrifax Teutsch an jenen Zielvorsprung der Tragödie heranreicht, hier zu Normbefragung vordringt und dies gerade über die topische Ausarbeitung ihrer Problematik erreicht. Beobachtet wird, wie und mit welchem Ertrag diese Komödie dispositionelle Darstellungsmuster des Genres im Sinne einer zentralen Wissenspraxis der Frühen Neuzeit aufschlussreich konstelliert. Das schließt methodisch die Voraussetzung ein, dass spezifische Darstellungsintentionen des Horribilicribrifax Teutsch diesem Verfahren nicht vorgängig sind, sondern aus ihm resultieren.5
1. Nachkriegskomödie Als die Komödie entsteht (einer Selbstangabe nach „dieses tausend sechshundert acht und viertzigsten Jahres“6), tut dem ‚friedewünschenden Teutschland‘ eine solche Normbefragung bitter Not. Der lange Krieg hat die Ordnungen menschlichen Zusammenlebens zerstört. Die Bestandsaufnahme für den Frieden danach fällt vernichtend aus. Die „Mittel sind in dem Kriege zerronnen“7, bis wirklich auf das letzte Hemd,8 was den spielerischen Umgang der frühneuzeitlichen Komödie mit der Ständeklausel9 nun
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Sigmund von Birken: Teutsche Rede- bind- und Dicht-Kunst. Nachdruck der Ausgabe Nürnberg 1679. Hildesheim/New York 1973. Das XII. Redstuck. Von den Schauspielen. De Ludis Scenicis, § 231, S. 337. Das entspricht der methodischen Entscheidung, mit der Deleuze das Barock primär als eine „operative Funktion“ der Entfaltung versteht (Gilles Deleuze: Die Falte. Leibniz und das Barock. Übersetzt von Ulrich Johannes Schneider. Frankfurt a.M. 2000, S. 11). In zugespitzter Formulierung finden sich damit das ästhetische und das semantische Programm und die Wissensbestände der Epoche ursächlich auf einen modus operandi bezogen. Zitiert wird die kritische Ausgabe: Andreas Gryphius: Horribilicribrifax Teutsch. Scherzspiel. Hg. von Gerhard Dünnhaupt. Bibliographisch ergänzte Ausgabe. Stuttgart 2002, hier S. 115. Die Komödie wurde erst mit der Ausgabe letzter Hand von 1663 (Andreae Gryphii Freuden und Trauer-Spiele auch Oden und Sonnette) als deren Anhang zum Druck gebracht. Weitere Zitate im fortlaufenden Text, stellenbezogen mit Worterklärungen aus dem Anmerkungsapparat in eckigen Klammern. Gryphius: Horribilicribrifax Teutsch (wie Anm. 6), S. 18. Gryphius: Horribilicribrifax Teutsch (wie Anm. 6), S. 18 und 22. Albrecht Christian Rotth: Vollständige Deutsche Poesie 1688. Hg. von Rosmarie Zeller. 2 Teilbände (Deutsche Neudrucke Reihe Barock 41/1, 2). 2. Teilband. Tübingen 2000. Tit. VII. Von der neuen Comödie / wie sie bey uns Deutschen gebräuchlich ist, S. [891f.]: Es können „allerhand Standespers[sonen] [...] die Materie zu einer Comödie heutige[n] Tages geben / obgleich vor diesem alleine gemeiner Personen Verrichtung darzu genommen worden.“
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historisch berechtigt. Denn – so wird es der „Adeliche[n] Jungfrau“ Sophia10 von ihrer Mutter Flacilla erklärt – „was nützet aus hohem Geschlecht entsprossen seyn“,11 wenn „das Wasser biß an die Lippen laufft“12. Nun betrifft die Ständeklausel nicht notwendig den Ausschluss adligen Personals von der Komödie, nur ihren Ausschluss von „degradativer Komik“13. Werden Figuren von Stand aber vor der Verlachkomödie bewahrt, droht hier mit dem Zwang der Verhältnisse beinahe folgerichtig ein stattdessen tragischer Vollzug, sofern nicht doch noch das Scherzspiel den derart gewonnenen Ernst nivelliert. Sophia, bald aus schierer Not des Lasters verdächtig, wird von ihrem Entführer Cleander auf eine Tugendprobe gestellt und will sich ihre Ehre durch einen Stich ins Herz erhalten. Direkt erst da wird eine Fortführung der Komödie als Tragödie verhindert, nachdem sie dergestalt nahegelegt ist: Sophia. O GOTT! [...] Gute Nacht Himmel! sey zum letzten mahl gegrüsset Erde! Was verziehe ich weiter? Sie holet aus mit einem blossen Messer. Cleander fället ihr in die Armen: die andern kommen alle herzu gelauffen. Cleander. Genung meine wertheste! Jhre Keuschheit hat wie ein lauteres Gold durch eine so hefftige Anfechtung bewehret werden müssen. [...]14
Wie in der Tragödie sind Leib und Leben für die Tugend einzusetzen, zum Erweis, dass es sie wirklich noch gibt. Solche Umstände macht sich freilich das eigentliche Lasterpersonal dieser Komödie nicht. Hier sind zwei ausgemusterte, „weiland reformirete Hauptleute“15 die Protagonisten. Für sie bezeichnet der Frieden von 1648 das Ende der allerletzten Ordnung, die der Krieg eben selbst noch war.16 Sie müssen sich nun als „ruhmrätige Landtsknechte“ mit ihrem großen Mund weiterhelfen. In der Sprachmischung und im Redeschwall der Aufschneider wird satirisch um das Deutsche als Kultursprache gekämpft, so wie der Schmelztiegel Krieg und die nomadisierende Soldateska jener Jahre diesen Kampf negativ spiegeln: Der Krieg ist nun vorbei, aber als Folge davon befinden sich diese Maulhelden mit unsäglichen makkaronischen Entstellungen auf einem Feldzug durch die Lexika der europäischen Sprachen. Schon die hypertroph auswuchernden Namen Horribilicribrifax und Daradiridatumtarides bezeugen ihre groteske Rhetorik. Den Dreißigjährigen Krieg wollen sie allein ausgefochten haben
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Gryphius: Horribilicribrifax Teutsch (wie Anm. 6), S. 13. Gryphius: Horribilicribrifax Teutsch (wie Anm. 6), S. 21. Gryphius: Horribilicribrifax Teutsch (wie Anm. 6), S. 23. Wilhelm Kühlmann: Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat. Entwicklung und Kritik des deutschen Späthumanismus in der Literatur des Barockzeitalters. Tübingen 1982, S. 404. Gryphius: Horribilicribrifax Teutsch (wie Anm. 6), S. 112. Gryphius: Horribilicribrifax Teutsch (wie Anm. 6), S. 13. Vgl. dazu Thomas Althaus: Es ist nichts unnatürlicher als der Frieden. Lebensform Krieg und Friedenskunst im 17. Jahrhundert. In: Klaus Garber u. a. (Hgg.): Erfahrung und Deutung von Krieg und Frieden. Religion – Geschlechter – Natur und Kultur. München 2002, S. 691-713.
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und sie schwadronieren darüber, wie es ihnen ein Leichtes sein kann, die Welt wieder in die Angeln zu heben. Bei aller Komik betrifft das die Aporie des Subjekts nach der Aufhebung von ordo-Vorstellungen, aber vor Eintritt in die Geschichte seiner Selbstbestimmung. Horribili und Daradiri trachten ihre Bezugslosigkeit durch unmögliche Polbildung und Totalität wettzumachen: „Jch halte / daß das Ostliche Theil des Bartes mit der West Seiten nicht allzuwol überein komme“;17 „so erwische ich den StephansThurm zu Wien bey der Spitzen / und drück ihn so hart darnieder / si forte in terra, daß sich die gantze Welt mit demselben umkehret / als eine Kegel-Kaul.“18 Nur ist das eben lächerlich. Das partikuläre Subjekt ist kein Riese Gargantua, nach dem sich die Dinge richten. Für eine Lektüre, die auf die historische und bewusstseinsgeschichtliche Problematik der Darstellung sieht, sind unter diesem Aspekt auch die „Hochzeiten über Hochzeiten!“19 wichtig, in denen der Horribilicribrifax Teutsch sein ausnahmslos gutes Ende finden soll. Der avisierte Komödienschluss von acht Heiratsangelegenheiten gehört zu einem „Schertz-Spiel“,20 in dem die meisten Figuren unterkommen und sehen müssen, wo sie bleiben (dies konkret unter dem Aspekt der Versorgung), und in dem durchweg alle einer wechselseitigen Verortung bedürfen, auf dass man noch irgendwo hingehört. Das gilt selbst ja für das Lasterpersonal. Im geschlossenen Modell der Karikatur erscheint es dennoch als ergänzungsbedürftig. So dient seine Typisierung auch der Akzentuierung dieses Problems.
2. Komödientopik Die Maulhelden markieren mit ihren Rodomontaden raumgreifend den Typus des plautinischen miles gloriosus, davon abgeleitet den des Capitano der italienischen Stegreifkomödie, den Heinrich Julius von Braunschweigs Komödie Von Vincentio Ladislao (1594) mustergültig für das frühneuzeitliche Theater literarisierte.21 In der Doppelung der stark schematisierten Figur ist dazu noch einer spiegelbildlich die Variation des anderen. „Sempronius. Ein alter verdorbener DorffSchulmeister von grosser Einbildung“22 ist der Dottore der commedia dell'arte, aber bereits als Persiflage dieses Stereotyps. Im Unterschied zu den Aufschneidern sprudelt das „Wunder [...] inter eruditos hujus secu-
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Gryphius: Horribilicribrifax Teutsch (wie Anm. 6), S. 15. Gryphius: Horribilicribrifax Teutsch (wie Anm. 6), S. 31. Gryphius: Horribilicribrifax Teutsch (wie Anm. 6), S. 113. Gryphius: Horribilicribrifax Teutsch (wie Anm. 6), S. 15. Vgl. dazu Richard E. Schade: Studies in Early German Comedy 1500-1650. Columbia/SC 1988, S. 123-148; Fausto De Michele: Der „Capitano“ der Commedia dell'arte und seine Rezeption und Entwicklung im deutschsprachigen Theater. In: Daphnis 31 (2002), S. 529-591. Gryphius: Horribilicribrifax Teutsch (wie Anm. 6), S. 13.
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li“23 Klassikerzitate hervor, womit sich auch die alten „Sprachen under einander hacken“ lassen.24 Dabei kann Sempronius das Zitierte pedantisch nachweisen („Aber quid haec suspiria solus montibus & sylvis? Virgilius Ecloga 2“25), als sei er gar keine Figur, sondern ein Florilegium. Sein weibliches Pendant im Lasterpersonal der Komödie, „Cyrilla, eine alte Kuplerin“26 wirkt in der Publikationsfolge der dramatischen Schriften von Gryphius27 auch innerhalb des eigenen Werks als Duplikat: Cyrilla ist „Frau Salome eine alte Kuplerin“ aus Die gelibte Dornrose, Gryphius’ anderem Scherzspiel, in letzter Übertreibung. Hier erweist sich das Stück als Typenkomödie aus Typenkomödien. Das sorgt für einigen Erklärungsaufwand, wenn es trotzdem um den historischen Stellenwert des Textes gehen soll.28 Noch schwieriger einzuschätzen ist, dass die Komödie durch die Staffelung der Komödientopoi irritierend unfertig wirkt. Auf Ungeschlossenheit verweist markant schon eine Titelumbenennung. Nach den Paratexten, der satirischen Widmungsvorrede Daradiris an Horribili und dem Personenverzeichnis, heißt das Stück nicht mehr (nur) Horribilicribrifax Teutsch, sondern – mit einer Titelausstellung durch die Gattungsangabe – Wehlende Liebhaber. Schertz-Spiel.29 Damit ist nicht mehr so recht klar, als was sich dieser Text eigentlich präsentieren will, als Aufschneiderkomödie oder als Liebeskomödie. Im Weiteren unterlaufen Figurenumbenennungen (der Diener Florian ist später Florentin, die adlige Selene fallweise Selenissa). Andere Figuren, so der vornehme Bonosus, werden funktionslos und wirken dann wie nie dagewe-
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Gryphius: Horribilicribrifax Teutsch (wie Anm. 6), S. 24. Tommaso Garzoni: PIAZZA UNIVERSALE: Das ist Allgemeiner Schawplatz / Marckt vnd Zusammenkunft aller Professionen / Künsten / Geschäfften / Händeln vnd Handtwercken / etc. [...] anjetzo [...] auffs trewlichste verteutscht. Frankfurt a.M. 1659. Vierdter Diskurß. Von Grammaticis, Schulmeistern vnd Schulfüchsen, S. 103. Für den Zusammenhang mit der Pedantensatire und der comedia pedantesca, konkret auch in Bezug auf den Horribilicribrifax vgl. Kühlmann: Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat (wie Anm. 13), S. 285-454. Gryphius: Horribilicribrifax Teutsch (wie Anm. 6), S. 24. Gryphius: Horribilicribrifax Teutsch (wie Anm. 6), S. 13. Andreas Gryphius: Verliebtes Gespenst. Die geliebte Dornrose. Hg. von Eberhard Mannack. (Komedia 4) Berlin 1963, Spilende [...] Jn dem Schertz-Spill, S. 8. Die gelibte Dornrose erscheint 1660, drei Jahre vor dem bereits zur Jahrhundertmitte entstandenen, aber erst spät publizierten Horribilicribrifax. Zu Textvorgaben vgl. hier u. a. Egbert Krispyn: Vondel's „Leeuwendalers“ as a source of Gryphius' „Horribilicririfax“ and „Gelibte Dornrose“. In: Neophilologus 46 (1962), S. 134-144. Vgl. den Versuch von Nicola Kaminski (Ex Bello Ars oder Ursprung der „Deutschen Poeterey“. Heidelberg 2004, S. 339-400), der mit einer Fülle von Referenzen gegen „die ahistorische Fehlrezeption des Horribilicribrifax Teutsch als miles-gloriosus-Komödie“ (S. 400) argumentiert. Gryphius: Horribilicribrifax Teutsch (wie Anm. 6), S. 15.
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sen.30 Eudoxia, die zweite Geliebte des Hofmanns Palladius, wird im Personenverzeichnis „als Redende“ eingeführt,31 kommt aber einer entsprechenden Regieanweisung wegen32 bestenfalls „als Schweigende“33 vor. Eigentlich wird nur in der Figurenrede wiederholt auf sie referiert.34 Am Ende verkündet der Edelknabe Florentin als ein anderer Amor, es werde nun von der für Komödien gebotenen Problemauflösung durch Hochzeiten ein nachgerade inflationärer Gebrauch gemacht. Da sollen zum großen Kehraus auch Personen heiraten, die in dem Scherzspiel gar nicht vorgekommen sind. Der „Heyraths-Contract. Herren Sempronii und Frauen Cyrille“35 mündet als abschließender Paratext in eine Liste von Trauzeugen. Über diese Liste werden andere Narren aus anderen Texten beigezogen (aus der Absurda Comica. Oder Herr Peter Squentz, Brants Narren schyff und Ariosts Orlando furioso), was die Komödie werkgeschichtlich und intertextuell verzahnt. So wartet sie zum Schluss aber auch mit einem ganz neuen Personenverzeichnis auf. Die aus all diesem folgenden Einschätzungsschwierigkeiten sind womöglich zu vernachlässigen, wenn auf die Aggregation von Stereotypen als Verfahren, nämlich auf die dabei geübte Kombinationskunst, in ihrer wissensgeschichtlichen Relevanz gesehen wird.36 Diese ars combinatoria zeigt sich nicht erst an den Darstellungsmustern der Komödie und deren Konfiguration, sondern im Detail bereits an der Zuordnung von Redewendungen, prägnanten Formeln, Sentenzen im Argumentationsverhalten der Figuren. Solche Wendungen werden von den frühneuzeitlichen Sprichwörter- und Apophthegmensammlungen bezogen oder tragen zu ihrer Vermehrung bei. Die gnomische Rede verdichtet sich mit dem Grad der Auseinandersetzung. In der zweiten Szene streiten Selene und ihre Mutter Antonia, zwei verarmte Frauen von Stand, über mögliche Heiratskandidaten. Ein Argument gibt das andere. Dabei wechselt die Evidenz so oft, wie die streitenden Frauen einander jeweils noch eine sinnfällige Wendung zu entgeg-
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Das sagt aber noch nichts über die situative Geltung von Nebenfiguren in ihrer „Kommentar- und Kritikfunktion“ (Armin Schlienger: Das Komische in den Komödien des Andreas Gryphius. Ein Beitrag zu Ernst und Scherz im Barocktheater. Bern 1970, S. 183). Gryphius: Horribilicribrifax Teutsch (wie Anm. 6), S. 13. Gryphius: Horribilicribrifax Teutsch (wie Anm. 6), S. 111. Gryphius: Horribilicribrifax Teutsch (wie Anm. 6), S. 14. Vgl. Gryphius: Horribilicribrifax Teutsch (wie Anm. 6), S. 76, 83 und 113f. Gryphius: Horribilicribrifax Teutsch (wie Anm. 6), S. 114-120. „Der kaleidoskopartige Wechsel der Zuordnungen“ in „Erprobung der verschiedensten Kombinationen“ (Gerhard Kaiser: Die Dramen des Andreas Gryphius. Eine Sammlung von Einzelinterpretationen. Stuttgart 1968, S. 241), „die auffälligen Doppelbesetzungen und strukturanalogen Handlungsmuster“ (Nicola Kaminski: Andreas Gryphius. Stuttgart 1998, S. 180) sind natürlich immer wieder beobachtet worden (vgl. auch Ingrid Schieweck: Ein altes Scherzspiel im Kontext des 17. Jahrhunderts. Überlegungen zum ‚Horribilicribrifax‘ des Andreas Gryphius. In: Weimarer Beiträge 26,5 [1980], S. 77-105, hier S. 82), dies jedoch nicht mit systematisch darauf bezogener Argumentation.
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nen wissen. Die Mutter drängt: „Das Küh- und Schaaff-Fleisch gilt itzt schier mehr / als Jungfern Fleisch.“ Die Tochter zögert: „wohl bedacht / hat niemand Schaden bracht. [...] Es ist bald genommen / aber nicht so leicht davon zu kommen.“ Die Mutter erwidert: „Man wird dir mahlen müssen / was dir tügen solle“, empfiehlt der Tochter einen klugen Kopf nach dem anderen, der es bei Hofe geschafft hat, erhält aber diesen sprichwörtlichen Bescheid: „Gelehrte: Verkehrte. Ein Gebündlin Bücher / und ein Packetlin Kinder ist ihre gantze Verlassenschafft.“37 Sinnfindung überhaupt erweist sich als ein Prozess, in dem es auf eine Abwägung von loci communes ankommt. Das gewährleistet eine möglichst aspektreiche Berücksichtigung so vieler Gründe, wie ausreichend verbürgte, vorgeprägte Argumente zur Klärung einer Frage aufzubringen sind. Solche loci communes disponieren zu dialogischer Weiterführung nach den Optionen der frühneuzeitlichen Topik. Die Topik hat das von der antiken Rhetorik bezogene Modell einer Erkenntnis, die mustergültigen Argumentationsregeln folgt, auf thematisch bestimmte Vorstellungseinheiten geblendet, auf ‚Örter‘, loci, und Topoi in diesem Sinn.38 Unter solcher Voraussetzung behandelt Jacob Masen im Abschluss seiner Palaestra Eloquentiae Ligatae (1654) die Darstellungsmuster und Figurenkonzepte der Komödie insgesamt wie loci communes. Masen stellt damit methodisch den Zusammenhang von Topik und Komödie her, wofür er auf genregeschichtliche Anfänge, die plautinischen Komödien, zurückgeht, um von hierher gleichzeitig das frühneuzeitliche Verfahren der Textproduktion zu resümieren.39 Die Sicht-
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Gryphius: Horribilicribrifax Teutsch (wie Anm. 6), S. 18f. Zu den wissensgeschichtlichen und poetologischen Zusammenhängen vgl. die grundlegenden Arbeiten von Barbara [Mahlmann-]Bauer: Jesuitische ‚ars rhetorica‘ im Zeitalter der Glaubenskämpfe. Frankfurt a.M./Bern/New York 1986; Manfred Beetz: Rhetorische Logik. Prämissen der deutschen Lyrik im Übergang vom 17. zum 18. Jahrhundert. Tübingen 1980; Joachim Dyck: Ticht-Kunst. Deutsche Barockpoetik und rhetorische Tradition. 3., ergänzte Aufl. Mit einer Bibliographie zur Forschung 1966-86. Tübingen 1991; Wilhelm Schmidt-Biggemann: Topica Universalis. Eine Modellgeschichte humanistischer und barocker Wissenschaft. Hamburg 1983; Franz Günter Sieveke: Topik im Dienst poetischer Erfindung. Zum Verhältnis rhetorischer Konstanten und ihrer funktionsbedingten Auswahl oder Erweiterung (Omeis – Richter – Harsdörffer). In: Jahrbuch für Internationale Germanistik 8 (1976), H. 1-2, S. 16-48. Vgl. Jacob Masen: Palaestra Eloquentiae Ligatae Dramatica. Pars III & ultima. Nova editio. Köln 1683. Appendix. Selectorum ex Plauto discursuum, Phrasium, Verborum maximè imitatione dignorum, S. [4]97- [5]78. In Marginalglossen werden den Komödien solche loci topici entzogen. Das Register zitierfähiger Sentenzen („Cum furiosa muliere non pugnandum“ [S. 501]. „Pudicitia decet mulieres.“ [S. 502] „Vinum lingua solvit“ [S. 511] etc.) wird dabei um Handlungsschemata („Verbera mereri.“ [S. 504] „Amore teneri.“ [S. 505] „Herus curiosam ancillam abigit.“ [S. 510] etc.) und Figurenschemata („Servus bonus“ [S. 503], „Avarus“ [S. 513], „Gloriosus[] pugnator“ [S. 520], „Senex ludificatus“ [S. 545] etc.) erweitert. Vgl. den grundsätzlichen Hinweis dazu von Daniel Fulda: Schau-Spiele des Geldes. Die Komödie und die Entstehung der Marktgesellschaft von Shakespeare bis Lessing. Tübingen 2005, S. 246. Der Katalog Masens verzeichnet die argumenta, aus denen eine Komödie zu erstellen ist. Für die Wissenskultur der Zeit zeigt das auch,
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weise ist für den Horribilicribrifax Teutsch von grundsätzlichem Belang. Hier werden nicht nur Dialogsequenzen in der gezeigten Weise rhetorisiert, sondern es wird für die Entfaltung des Geschehens insgesamt das Kompilationsverfahren der Textproduktion auf die methodischen Optionen der Topik eingeschworen. Über den Zusammenhang von Topik und Komödie verweist dies grundsätzlich auf einen Zusammenhang von Wissensdiskurs und literarischem Diskurs. Deshalb wirkt die Nachkriegskomödie von Gryphius aber auch wie aus der Reservatenkammer der Genretradition zusammengestellt. Einsichten und Aufschlüsse beruhen dann wesentlich auf Gruppierungseffekten. Darin dokumentiert sich ein Verständnis von Wissenschaft, in dem einer vergleichenden Behandlung der Erkenntnisinhalte besonderes Gewicht zukommt. Dies gibt Harsdörffer im Poetischem Trichter Gelegenheit, den Gleichnisbegriff hierauf abzustellen, um vor dem Hintergrund einer solchen Rhetorik des Wissens literarische Strategien mit kognitiven Operationen zu identifizieren. Dazu heißt es im Kapitel „Von den Gleichnissen“, im 3. Teil des Trichters (1653): Der Lehrbegierige Verstand hat zwey Mittel sich zuvergnügen: 1. in Erkantniß der Sachen selbsten / ohne Betrachtung / was derselben Eigenschaft / und Beschafenheit seye / wann sie mit andern vereinbaret wird. 2. Durch die Gegenhaltung gleichständiger Sachen / wann man vil auf einmahl anschauet / und solche gegeneinander hält / ihre Gleichheit und Ungleichheit betrachtet / und diese Erkäntniß vergnüget den Verstand so vielmehr / so viel weiter sie sich erstrecket / eine Sache vollständiger an das Liecht setzet / und gleichsam von einer Warheit in die andre leitet.40
Dieses topisch-inventive Verfahren hilft erklären, warum der Horribilicribrifax Teutsch als Textsammelsurium mit wenig Kohärenz dennoch nicht den Eindruck von fehlender literarischer Konzentration macht. Intensität und Genauigkeit der Darstellung werden nur nicht über einen linearen Aufbau der dramatischen Handlung erreicht. Genaue Handlungsführung widerspricht dem Kompositionsprinzip der frühneuzeitlichen Komödie und vollends dieser hier als Zusammensetzung aus topisch verfügbaren Genreelementen. Natürlich lassen sich die aggregatartigen Zuordnungen und Umgruppierungen trotzdem einigermaßen bruchlos prozessualisieren und zu einer Handlung strecken. Aber der Ausschöpfung von Kombinationsmöglichkeiten wird gegenüber der Regel von der Einheit der Handlung entschieden Vorrang gewährt. Dass der Text auf Versatzstü-
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wie unwirksam die Differenz zwischen formaler und materialer Topik geworden ist. Sie wird vom Interesse an dispositionellen Verfahren überspielt. Georg Philipp Harsdörffer: Poetischer Trichter. Nachdruck der Ausgabe Nürnberg 1648-53. Darmstadt 1969. Dritter Theil, S. 57. Zum Erkenntniswert der Analogie in der Wissensarchitektur des 17. Jahrhunderts vgl. Leander Scholz: Das Archiv der Klugheit. Strategien des Wissens um 1700. Tübingen 2002, S. 26-30; Peter-André Alt: Literarische Imagination als ars combinatoria. Zum Verhältnis von Bildpoetik, Fiktion und Epistemologie bei Harsdörffer. In: Georg Philipp Harsdörffers Universalität. Beiträge zu einem uomo universale des Barock. Hg. von Stefan Keppler-Tasaki und Ursula Kocher. Berlin/New York 2011, S. 23-38, hier S. 27f.
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cken des Genres basiert, ermöglicht es ihm, die Elemente dieses Katalogs gegeneinander zu verschieben und damit zu experimentieren, welchen Effekt es macht, wenn der Aufschneider auf den Aufschneider trifft,41 – wenn sich der Aufschneider eine Redeschlacht mit dem eingebildeten Gelehrten liefert,42 – wenn die Kupplerin auf den eingebildeten Gelehrten trifft43 und wenn sie sich selbst mit ihm verkuppelt.44
3. Kombinationskunst oder Fliegen ohne Federn Die anders textorganisierende Kraft dieses Verfahrens wird von der Komödie selbst an einer Art Fallbeispiel topischer inventio demonstriert. Sie führt den Dialog aus einer schwierigen Argumentationssituation heraus, mit Wirkung auf das Ganze und hier wiederum mit einiger Gelegenheit zu produktiver Fortsetzung der topischen Erwägung, die also durchaus auch entwicklungstragende Qualität gewinnt. Nachdem in der zweiten Szene Selene als „hochmüthige / doch arme / Adeliche Jungfrau“ von ihrer Mutter Antonia zur Heirat gedrängt worden ist, wird in der dritten Szene Sophia als „keusche / doch arme / Adeliche Jungfrau“45 von ihrer Mutter Flaccilla ebenfalls mit der Notwendigkeit einer guten Partie konfrontiert. Das geht jetzt natürlich anders aus. Die keusche Sophia reagiert auf die Zumutung der Mutter mit der Gegenrede, man müsse sich doch noch anders durchhelfen können und es sei ihr unmöglich, sich dergestalt „von der Tugend abzusetzen“.46 Flaccilla fertigt dies mit einem jener Sprichwörter ab: „Fleug Vogel sonder Federn!“47 Das aber führt Sophia zu einem Handlungsentschluss, einer performativen Auswertung und Variation des Topos. Sophia nimmt die Formel als einen realisierbaren Imperativ wörtlich. Sie schreckt nicht davor zurück, in der Not ihr eigenes Haar zu versetzen: „Schneidet mir diese Haar von dem Haupt / und verkauffet sie irgens einer Hoff Damen.“48 Die Komödienhandlung entzieht der Formel den rettenden Gedanken, dass man ein Vogel sein kann, der unter Preisgabe seines Federkleides gerade dadurch flügge wird: Sophia gibt ihr Haar preis und nicht sich selbst mit Haut und Haar. Als Flacilla die Haarpracht ihrer Tochter dann dem Cleander anbietet, dass er damit „einem vortrefflichen Fräulin auffwarte“,49 erhält der locus topicus durch den auf Tugend bedachten Mann folgende Ausprägung: „Weil der Vogel nicht gelten will / so ver-
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Vgl. Gryphius: Horribilicribrifax Teutsch (wie Anm. 6), S. 105-107. Vgl. Gryphius: Horribilicribrifax Teutsch (wie Anm. 6), S. 63-71. Vgl. Gryphius: Horribilicribrifax Teutsch (wie Anm. 6), S. 24-30, 50-53, 58f. Vgl. Gryphius: Horribilicribrifax Teutsch (wie Anm. 6), S. 108-111. Gryphius: Horribilicribrifax Teutsch (wie Anm. 6), S. 13. Gryphius: Horribilicribrifax Teutsch (wie Anm. 6), S. 22. Gryphius: Horribilicribrifax Teutsch (wie Anm. 6), S. 23. Gryphius: Horribilicribrifax Teutsch (wie Anm. 6), S. 23. Gryphius: Horribilicribrifax Teutsch (wie Anm. 6), S. 77.
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kaufft ihr die Federn!“50 Als aber eben diesem Cleander dennoch der Sinn nach der ganzen Ware steht und er dafür den Raub Sophias als Tugendprobe, „Prüfe“,51 verbrämt, weiß sein Diener Dionysius dieses Weitere kritisch zu folgern: „Mein Herr hat die Federn gesehen / es scheinet er wil den Papagoy selbst haben.“52 Die Entführung wird sich freilich mit jener beinahe tragischen Zuspitzung des Geschehens in der Tat als eine Tugendprobe erweisen, die Sophias „Keuschheit“ wie „lauteres Gold“ erglänzen lässt.53 Doch mit der subversiven Folgerung von Dionysius more topico ist trotzdem auch klar, inwiefern es sich bei Cleander um einen Mann von Prinzipien handelt, nämlich mit Maßstäben v. a. für andere. Allein schon an den Parallelszenen „Antonia. Selene“, „Flaccilla. Sophia“ demonstriert der Text die Möglichkeiten amplifikatorischer Variation innerhalb der Komödienhandlung. Er führt vor, wie hier der Voraussetzungswechsel („Eine hochmüthige / doch arme“ und „Eine keusche / doch arme / Adeliche Jungfrau“54) unterschiedliche Konsequenzen zeitigt, bei im Übrigen genau ausgeführter Parallele, gleicher Notlage und einem ähnlichen Gesprächsverlauf. Darin exerziert die Komödie mustergültig Harsdörffers „Gegenhaltung gleichständiger Sachen“, indem sie deren „Gleichheit und Ungleichheit betrachtet / und [...] von einer Warheit in die andre leitet.“55 Die hier erzeugte Differenz macht deutlich, wie sehr moralische Vorentscheidungen für die topische Reflexion verbindlich bleiben. Aber die ars combinatoria reduziert ihre Vergleichs- und Versetzungsmöglichkeiten nicht einfach auf eine Normbestätigung. Dafür sind die Szenen einander doch zu ähnlich. In beiden Fällen sind alle Ressourcen aufgebraucht, woraus jeweils die Heiratszumutung folgt. In dem ersten Fall läuft das hierauf hinaus, ohne dass moralische Bedenken dawider sind, und in dem zweiten auch, trotz solcher Bedenken. Gibt sich die eine Tochter – zumindest phasenweise – aus Hochmut keusch, so die andere – zumindest phasenweise – aus Keuschheit hochmütig. „Ha! Frau Mutter / [...] lieber hättet ihr mich in dem ersten Bade ertränckt“,56 erklärt die lasterhafte Selene mit Entschiedenheit. Dafür wirft sich Sophia gleichtönend zu einer neuen Virginia auf: „Ha! Frau Mutter! / [...] warum mir nicht eher ein Messer durch die Brüste gestecket“?57 Gerade ihre Mutter versteht einen solchen Rigorismus unter den gegebenen Bedingungen als unzeitige Attitüde, von der man sich nichts kaufen kann und die nicht satt macht: „Diese Worte füllen den Magen nicht / und tügen weder zu sieden noch zu braten.“58
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Gryphius: Horribilicribrifax Teutsch (wie Anm. 6), S. 79. Gryphius: Horribilicribrifax Teutsch (wie Anm. 6), S. 80. Gryphius: Horribilicribrifax Teutsch (wie Anm. 6), S. 81. Gryphius: Horribilicribrifax Teutsch (wie Anm. 6), S. 112. Gryphius: Horribilicribrifax Teutsch (wie Anm. 6), S. 13. Harsdörffer: Poetischer Trichter (wie Anm. 40), S. 57. Gryphius: Horribilicribrifax Teutsch (wie Anm. 6), S. 19. Gryphius: Horribilicribrifax Teutsch (wie Anm. 6), S. 22. Gryphius: Horribilicribrifax Teutsch (wie Anm. 6), S. 22.
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So sehr wird auf Ähnlichkeit insistiert, dass sich manches im Dialog zwischen Flaccilla und Selene eher nach der hohen Gesinnung anhört, die im Dialog zwischen Flaccilla und Sophia schließlich doch handlungsanleitend bleibt, dort aber aus einer Vagheit heraus, die sich zeitweise sehr nach dem Kategorienschwund ausnimmt, der die Figuren der vorlaufenden Szene auf ihren Vorteil sehen lässt. Jedenfalls will Antonia ihre Tochter trotz der Rede vom „Jungfern Fleisch“59 auch nicht einfach zu einem guten Preis losschlagen wie ein Stück Vieh. Es geht ihr bei der Kandidatenwahl um „Vermögen“, „Reichthum“,60 aber auch um die Aufrichtigkeit von Liebe: „Er [...] liebet dich von gantzer Seele.“61 Hingegen lenkt die ‚gute‘ Mutter Flaccilla nicht anders als Antonia und kaum diskreter vom Wert der eigenen Tochter auf ihren Tauschwert. Sie erklärt Sophia rundheraus: „deine Tugenden sind an diesem Orte ungangbare Müntze“,62 und dann ist es gerade Flaccilla, die in problematischer Analogie die Grenze zum Prekären überschreitet, als sie sich Sophia gegenüber den Satz erlaubt: „Wenn du jenem Edelman werest etwas besser an die Hand gegangen / oder noch gehen woltest / es stünde bequemer um mich und dich.“63 Auch ist es Sophia, nicht Selene, die dem Satz der Mutter „Wir haben nichts zuverkauffen / nichts zu versetzen“64 eine Zuspitzung gibt, die statt an Geldheirat eigentlich nur noch an ein Leben als öffentliche Person denken lässt: „Wir haben nichts / als uns selbst zu versetzen oder zu verkauffen.“65 Genau hier bedarf es der überraschenden Pointe, mit der Sophia sich doch noch ohne Ehrverlust der Zwangslage entzieht und die letzte Konsequenz, ihren Körper zu verkaufen, auf ein in äußerster Not verzichtbares Moment dieses Körpers ableitet. Bei solcher Lösung funktioniert die Spiegelung als Kontrastierung von Tugend und Laster, aber eben auch als Spiegelung. Danach wird die klügliche Auswertung des Topos „Fleug Vogel sonder Federn!“ in der Handlung zelebriert und so ein Ausweg aus der Aporie beschrieben. Allerdings bedeutet dies auch, dass sich das moralische Verhalten nicht mehr durch sich selbst definieren und aus sich selbst erhalten kann, sondern dass dies allein noch durch eine raffinierte Schlussfolgerung und argutia-Leistung zuwege zu bringen ist. Dazu steht die Inszenierung des Tugendsieges als acutum, denkbar Unerwartetes, wirklich nur ums Haar von Kuppelei ab. Die Normbehauptung kennt sich insofern bestens mit dem Normverlust aus. Diese frühen Dialoge im Horribilicribrifax Teutsch lehren, dass nun um ein Kleines vom einen ins andere zu geraten ist und dass Tugend für sich, ohne die topisch ausgeklügelte Verhaltensvariante, genau da nicht mehr weiterhilft, wo sie sich eigentlich zu bewähren hätte.
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Gryphius: Horribilicribrifax Teutsch (wie Anm. 6), S. 19. Gryphius: Horribilicribrifax Teutsch (wie Anm. 6), S. 21. Gryphius: Horribilicribrifax Teutsch (wie Anm. 6), S. 19. Gryphius: Horribilicribrifax Teutsch (wie Anm. 6), S. 22. Gryphius: Horribilicribrifax Teutsch (wie Anm. 6), S. 22. Gryphius: Horribilicribrifax Teutsch (wie Anm. 6), S. 22. Gryphius: Horribilicribrifax Teutsch (wie Anm. 6), S. 23.
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Das ergibt als Ertrag aus der ‚Quelle des Vergleichs‘66 eine denkbar kritisch deduzierte Tugend. Ihre Abhängigkeit von Scharfsinn garantiert unter anderem Blickwinkel jedoch auch den Zusammenhang von moralischem Handeln und Kognition. An beidem fehlt es, wenn die eingebildete Selene ausgerechnet Daradiri für eine glänzende Partie hält. So setzen die Parallelszenen nicht nur Normverlust und Normerhalt, sondern in gleicher Verteilung unbedachte und situationskluge Entscheidungen voneinander ab. Antonia ist „dem Narrenfresser / dem Auffschneider / Capitain Lügner / von der Bernhäuterey“67 schon auf die Schliche gekommen. Aber die Tochter sieht in Daradiri den Mann von Welt, als der er sich gibt. Sie lässt sich von der Mutter, die ihr „den redlichen Cavalier verkleinert“68, nicht beirren und glaubt in ihrer Verblendung für jene mitdenken zu müssen. Damit zeigen die Szenen im Verhältnis auch, wie (vermeintliche) Weltkenntnis sich selbst zur Falle wird, während sich gerade die Tugend auch findig in die Verhältnisse zu schicken weiß. Aber die Unterwertigkeit der Antonia-Selene-Szene lässt leicht einen weiteren Ertrag des topischen Textaufbaus übersehen. Diese Szene fungiert nicht einfach nur als negative Folie der Folgeszene, auch wenn der erste Mutter-Tochter-Dialog zur Unterstützung einer solchen Hierarchie noch sogar die intern gültige Absicht verfehlt. Dort entscheidet anderes über richtig und falsch. Es gilt das Gebot, „eine glückliche Wahl“69 zu treffen, nicht das Gebot der Keuschheit. Die dabei anfallenden Probleme verlangen eine ihnen adäquate Lösung, die sich an der Relation von Sein und Schein ausrichtet. Das ist entweder gar nicht mit der Tugend-LasterDichotomie abzugleichen oder stellt diese Dichotomie auf sich ein. Bevorzugt werden Qualitäten, die ein guter Leumund verbürgen kann: „Er ist reich / von hohem Ansehen / im blühenden Alter / hat vornehme Freunde / stehet wol zu Hofe [...]“.70 Insofern bildet der erste Mutter-Tochter-Dialog durchaus eine eigene Ethik aus, wie der zweite nicht weniger eine eigene Pragmatik. Bei so verändertem Maßstab ist Selenes Verhalten nicht deshalb problematisch, weil es das Ideal Sophias verfehlt. Das lässt sich nicht über einen Kamm scheren. Derart schließt denn die ‚Gegenhaltung gleichständiger Sachen‘ einen Wechsel der Urteilssphären nicht aus.
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Magnus Daniel Omeis: Gründliche Anleitung zur Teutschen accuraten Reim- und Dicht-Kunst / durch richtige Lehr-Art / deutliche Reguln und reine Exempel vorgestellet [...] 2. Aufl. Nürnberg 1712, S. 186: „Fons Comparatorum, wann gleiche / oder auch ungleiche / Dinge unter sich artig verglichen werden.“ Omeis bezieht sich übersetzend auf die Fontes-Lehre Jacob Masens: Ars Nova Argutiarum Eruditæ & Honestæ Recreationis, in duas Partes divisa. Editio nova auctior & elegantior. Köln 1711, S. 83. Gryphius: Horribilicribrifax Teutsch (wie Anm. 6), S. 20. Gryphius: Horribilicribrifax Teutsch (wie Anm. 6), S. 20. Gryphius: Horribilicribrifax Teutsch (wie Anm. 6), S. 19. Gryphius: Horribilicribrifax Teutsch (wie Anm. 6), S. 19.
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4. repraesentatio – Sein und Schein Unter solcher Voraussetzung diskutiert die Komödie Verhaltensoptionen, die an jenen Trennschemata Sein/Schein und Tugend/Laster orientiert sind, um dabei die Unterscheidungen auch selbst zu hinterfragen. Im zweiten Aufzug wird der Bund zwischen Daradiri und Selene durch ein Schenken und Gegenschenken besiegelt. Er überreicht ihr die „güldenen Ketten / welche mir der unsterbliche Soldat von Pappenheim mit eigenen Händen an den Hals gehangen / als ich zu erst mich auff die Magdeburger Mauren gewagt“, sie dafür ihm „diesen Demant“ als „Zeichen meines standhafftigen Gemüths und reinen Hertzens“.71 Aber da sind, wie sich bald herausstellt, zwei Falschspieler aneinander geraten und hat „ein Teuffel den andern beschissen“.72 Als die Mutter Antonia das Hochzeitsgeschenk des Daradiri bei dem Rabbi Isaschar „mit zwey oder dreyhundert Reichsthalern“ beleihen will, hat der Kenner das gute Stück schnell auf seinen eigentlichen Wert taxiert: „Fünff Silbergroschen! und ist noch heediph“,73 mehr als genug. Nicht anders ist es um Daradiris Heldenmut und Heldentaten bestellt, nicht anders um den Edelstein Selenes und um den Edelstein ihrer Tugend. Die Gegenstände sind so wenig echt, wie die Zuschreibungen wahr sind. Die Zeichen trügen. Im direkten Zusammenhang mit der Entdeckung, dass Daradiris „treffliche Kette“ bloß „von Messing“74 ist, wird aber wieder eine neue Variante durchgespielt. Bevor Antonia den Rabbi Isaschar unverrichteter Dinge verlässt, erläutert dieser an einer anderen Situation gerade jetzt, wie man Eindruck schinden kann: Glück zu / Frau Antonia, ich muß [...] dieses silberne aggan [Becken] mit der Gießkanne einschliessen. Schaut dieses hat mir auch ein Cavalier, der den Fürsten heute eingeladen / zu Pfande gegeben / gleich als sich die Gäste gewaschen / damit ich ihm Keseph [Silber] zu Brodt liehe. Wenn sie werden Taffel gehalten haben / hat er mir versprochen das Saltzfaß mit den Tellern und Schüsseln dargegen zuschicken / damit ich ihm das Becken wieder folgen lasse / daß sie sich nach der Mahlzeit wider Thaharn [reinigen] können.75
Auch hier wird Besitz vorgetäuscht. Nur beruht die Täuschung nicht auf leeren Zeichen, sondern tatsächlich auf Edelmetall, und wie hier unter Edelleuten mit Edelmetall geprangt wird, folgt das nun offensichtlich dem Zwang durchaus angemessener Repräsentation. Die Täuschung scheint legitim, und sie ist im Raffinement der Durchführung perfekt. Lediglich unter diesen Aspekten, aber nicht als Blendwerk, wird der neue Fall kommentiert. Das Problem der Zeichenunsicherheit, das Daradiri und Selene in die Irre führt, ist damit allerdings nicht behoben. Vielmehr wirkt nun ein Kalkül vorbildlich, das ebenfalls auf einer Differenz zwischen Schein und Sein beruht. Die Komödie besteht
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Gryphius: Horribilicribrifax Teutsch (wie Anm. 6), S. 53f. Gryphius: Horribilicribrifax Teutsch (wie Anm. 6), S. 97. Gryphius: Horribilicribrifax Teutsch (wie Anm. 6), S. 72f. Gryphius: Horribilicribrifax Teutsch (wie Anm. 6), S. 73. Gryphius: Horribilicribrifax Teutsch (wie Anm. 6), S. 75.
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denn auch im topisch-variativen Zugriff auf bedingungsgenauer Problemabwägung. Was nämlich die Vortäuschung falscher Tatsachen anbelangt, entspricht das fürstliche Mahl einem Festessen, zu dem Daradiri Antonia und Selene geladen hatte: „als er uns in den Garten tractiret / war ja der gantze Tisch mit Gold und Silber besetzet.“76 Vorgeblicher Luxus und der Eindruck von Reichtum trotz fehlender Ressourcen lassen sich nach den Verhaltensregeln der Zeit demnach sehr unterschiedlich bewerten. Das überspielt hier wie dort die Not, dient dabei hier dem Betrug, genügt dort aber dem decorum und ist dann standesgemäß, selbst wenn der glänzende Eindruck nur noch durch eine kompliziert arrangierte Pfandwirtschaft durchgehalten werden kann. Zur genaueren Bewahrheitung dieses zweiten Falls wird direkt nach der Pfandleiherszene mit wieder leicht verschobenen Bedingungen ein dritter Fall geboten. Palladius und Bonosus sind einer Einladung des Statthalters Cleander gefolgt. Das Gastmahl bringt die ranghöchsten Figuren des Stücks zusammen, denen sich Palladius „als von ihrer Fürstl. Durchl. selbst erkohrner Mareschall“77 gerade zugezählt findet. Die Gäste bedanken sich beim Gastgeber und dieser bei ihnen mit Komplimenten nach wohlgesetzten Formeln. Dazu gehört auch Cleanders Bescheidenheitsgeste, dass er sie „nach Würden vor diesesmal nicht habe bewirthen können: Doch verhoffe ich mein guter Wille werde die Taffel / stat der Speisen besetzet haben.“78 Der Hinweis auf ökonomische Zwänge ist jetzt Teil des Redespiels, was nicht ausschließt, dass dennoch solche Zwänge damit auch angezeigt sind. In der Folgeszene reichen Bonosus und Palladius dem Gastgeber das zunächst nicht weniger doppelwertige Lob nach, er sei bis zum Extrem auf sein Ansehen bedacht und dabei rücksichtslos gegen sich selbst: „Der Stadthalter läst an Magnificentz nichts gebrechen / und verleuret lieber sechs Pfund Blut / als eine scrupel reputation.“79 Mit solcher Übertreibung schließt nun aber das in seinem Scheincharakter immer noch fragwürdige Repräsentieren zum Verhaltensideal der honnêteté auf.80 Die Verbreitung äußerlichen Glanzes wird zu einer Leistung, die den gentilhomme ausweist. Die ganze Bedingungslage kehrt sich um. Der Inszenierungsgrad macht den Wert
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Gryphius: Horribilicribrifax Teutsch (wie Anm. 6), S. 21. Gryphius: Horribilicribrifax Teutsch (wie Anm. 6), S. 57. Gryphius: Horribilicribrifax Teutsch (wie Anm. 6), S. 75. Gryphius: Horribilicribrifax Teutsch (wie Anm. 6), S. 76. Mit solchen eklatanten Umgewichtungen argumentiert Baltasar Graciáns wirkungsvolles Oráculo manual: So wie man „zu sagen pfleget / daß zwei Loth Prunck und äusserliche Parade, mehr als ein gantzer Centner Wissenschafft werth sey“ (Johann Leonhart Sauter: L'homme De Cour Oder Der heutige politische Welt- und Staats-Weise / fürgestellet von Balthasar Gracian [...] in unsere hochteutsche Sprache übersetzet / anitzo aus dem Original vermehret / und zum Andernmahl heraus gegeben. Mainz 1687, 277. Maxime. Worinne eigentlich die Geschickligkeit bestehe / daß man seinen Actionen einen Glantz geben / und in der Welt ein Ansehen machen könne, S. 678). Vgl. dazu: Jean-Daniel Krebs: Harsdörffer als Vermittler des „honnêteté“-Ideals. In: Georg Philipp Harsdörffer: Ein deutscher Dichter und europäischer Gelehrter. Hg. von Italo Michele Battafarano. Bern u. a. 1991, S. 287-311.
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selbstständig, er tritt daran als solcher hervor. So betrachtet, erweist es sich als gestiegene Anforderung und genügt es besonders der Artifizialität repräsentativen Verhaltens, wenn der kostbare Schein künstlich improvisiert sein will, weil es in kargen Zeiten dafür fast vollständig an Mitteln gebricht. Der Text experimentiert mit der an Daradiri und Selene aufgewiesenen Problematik so lange, bis sie in eine Perspektive auf kultiviertes Gebaren überführt ist. Mit derselben Schrittfolge ist aber auch die repraesentatio aus der Vortäuschung falscher Tatsachen deduziert und erkennbar gemacht, dass ihr hiervon noch entschieden etwas anhaftet.81 Doch damit sind die Variations- und Einschätzungsmöglichkeiten des äußeren Ansehens zwischen Dissimulation und Reputation noch nicht völlig ausgeschöpft. In der nächsten Szene werden dazu extrem unterschiedliche Einstellungen entwickelt: Hier soll aus der Schönheit Sophias jenes Geschäft gemacht werden, das ihrer Keuschheit ansteht. Flaccillas Umgang mit dieser Situation lenkt auf den merkwürdigen Fall einer Trennung von Sein und Schein, der Zusammenhang stiftet. Äußerliche Schönheit verwandelt sich als abgeschnittenes Haar in Seelenschmuck. Wo das Haar Sophia selbst nicht mehr kleidet, wird durch den Mut zur Entäußerung das ästhetische auch zu einem moralischen und dadurch substantiellen Zeichen: „werthestes Pfand der keuschesten Seelen“, „zwar mit keinen Perlen / aber doch mit den Thränen der Keuschesten gezieret.“82 Vor dem Schnitt bezeichnet es das angenehme Äußere der Figur, nicht mehr und nicht weniger. Aber mit dem Schnitt, der Inneres und Äußeres wirklich trennt, bewahrheitet sich am nun fremd Gewordenen die Identität der Figur. Hier äußert sich im Schein das Sein, und dies sogar im Verbund mit einer Zeichenminderung. Denn wie das Haar der Sophia jetzt von ihrer Tugend zeugt, ist es doch zugleich Handelsware geworden, die verhökert sein will und als Zweitfrisur für künftige Trägerinnen herhalten soll. Flaccilla trägt das Haar nicht zu Markte, sondern bringt es an den Hof und zeigt sich auch dort wählerisch, was den Käufer betrifft. Er muss diesen Schmuck schon auch zu schätzen wissen. Die Mutter stellt sich eine Verwendung vor, die vom Wertesystem und
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Grundsätzlich verbinden Zeremonialwesen und Höflichkeitskonzept die Betonung des äußeren Eindrucks auch mit entsprechenden Erwartungen: „Wahr ists / und nicht zu leugnen / daß die Parade und Scheinbarkeit viel außrichtet / und gleichsam ein doppelt Wesen der Sache gibt / absonderlich wenn etwas rechtes dahinder steckt / und die Würckligkeit vor den Prunck / und die Parade gleichsam Caution bestellet.“ (Sauter: L'homme De Cour [wie Anm. 79], S. 672f.) Das ist die ethische Implikation und Rechtfertigung der politisch-prudentistischen Verhaltenslehren. Zu ihren skeptischen Prämissen und zu ihrem Anspruch gehört aber ausschließlich eine Legitimation durch Erfolg, der davon unabhängig ist, wenn er nicht gar nach dem Gegenteil einer Inkongruenz von Sein und Schein verlangt: „Der sich in die Karten sehen lässet / stehet in Gefahr zu verlieren.“ (98. Maxime. Wohl und klüglich zu dissimuliren wissen, S. 268). Täuschung ist geboten, weil es anders eben kaum geht: „wann die Excellenz und die Apparenz beysammen seyn / kan man einen Wundermenschen sehen“; das muss jeder wissen, der „auff der universal Schaubühne agiren“ will (277. Maxime, S. 679 u. S. 680). Gryphius: Horribilicribrifax Teutsch (wie Anm. 6), S. 77.
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Lebensstil der Höflichkeit geprägt ist und so dem Schönheitszeichen die Würde zurückgibt, die ihm der Handel nimmt. Die Wahl fällt auf Cleander: „keiner ist / dem ich meine Wahre lieber feil bieten wolte als ihm [...] Jch weis doch wol / daß er einem vortrefflichen Fräulin auffwarte / welcher dieses ein angenehm Geschencke seyn würde“,83 ein Zierrat und mehr als das, Ausdruck idealisierter Beziehungen, darin Teil einer nicht nur sinnvollen, sondern auch sinnfördernden repraesentatio, die Wahrnehmungsmaßstäbe setzt. Auf solcher Höhe lässt sich die Argumentation jedoch nicht halten. Flaccilla gerät bei Cleander an den Falschen. Plötzlich wird kein Gedanke mehr daran verschwendet, die Natur durch Kunst zu erhöhen. Der Gestus des Artifiziellen wird im szenischdialogischen Vollzug völlig demontiert. Alles spricht dagegen: Cleander. Trefflicher Handel! ich höre in Ost-Jndien nehme man den Weibern Wolle von den Köpffen / und mache Schnuptücher draus. Was wird man bey uns nicht zu letzte mit den Haaren anfangen! last schauen eure Kramerey. Diß ist ein schönes Haar! wo der Baum so anmuthig als die Blätter / wolten wir uns wol in dessen Schatten ergetzen. Flaccilla. Jhr Genaden können ihrer Liebsten mit diesem Geschencke nicht unangenehm seyn. [...] Die Vornehmsten unter dem Frauen-Zimmer pflegen fremde Haare mit einzuflechten. Cleander. Die offt an dem Galgen abgefaulet / oder von den Frantzosen außgefressen. Flaccilla. Jch versichere eure Gnaden / daß von diesen Haaren nichts derogleichen zuvermuthen. Cleander. Räudige Schaafe lassen die Wolle gerne gehen: und wenn der Fuchs kranck wird / so stäubet ihm der Balg.84
Cleander holt zu radikaler Infragestellung des ästhetischen Scheins aus. Dabei ist er als Statthalter der entscheidende Vertreter von Hofkultur in dieser Komödie. Gleichwohl bricht er mit dem ‚kunstsinnigen‘ Bewusstsein,85 das Flaccilla als höfisch voraussetzen und dem das Haar ihrer Tochter als Perückenstoff eine Kostbarkeit sein kann. Zunächst schließt er von der schönen Ware wohl noch auf Schönheit zurück, aber eben auch schon auf Ware. Ab da entwickelt die Wertaufhebung weitertreibend ihre eigene Evidenz. Alsbald ekelt ihn der Schmuck eines Körpers, den er mitverhandelt sieht, und er denkt zur moralischen die physische Zerrüttung hinzu. Der vorgewiesene Schopf wird wohl das Beste an der Sache sein. Unter solchen Bedingungen wird es sich auch nicht um abgeschnittenes, sondern um ausgefallenes Haar handeln. Da Cleander sich nicht vom Glanz solchen Verfalls bestimmen lassen will, traut er seinen Augen nicht. Folglich münzt er das Zeichen des Ästhetischen direkt in ein Zeichen des Hässlichen um. So
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Gryphius: Horribilicribrifax Teutsch (wie Anm. 6), S. 77. Gryphius: Horribilicribrifax Teutsch (wie Anm. 6), S. 78. Durch die ästhetische und artifizielle Situation dieser Kultur, ihren Scheincharakter, wird „die Kontamination mit dem verhindert, was bloß ist“ (Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Hg. von Gretel Adorno und Rolf Tiedemann. Frankfurt a.M. 1973, S. 36). Es wird eine „Fassade“ errichtet, die aber zugleich „konstituierendes Moment der Ordnung ist, die sie repräsentiert.“ (Ansgar M. Cordie: Raum und Zeit des Vaganten: Formen der Weltaneignung im deutschen Schelmenroman des 17. Jahrhunderts. Berlin/New York 2001, S. 61).
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unterläuft Cleanders Fehleinschätzung den Schein, damit aber auch alles, und fördert statt einer Sphäre des Seins nichts als Unnatur zutage. Aus dem vermeintlichen Rekurs auf das Wesentliche wird abgründige Negation, die aber gar nichts aufdeckt. Die kritische Absicht ruft nur eine eigene Art von Täuschung hervor. Das topische Wechselspiel, hier auskommend, problematisiert nach der Intention auf den Schein auch diejenige auf das Sein. Der Glanz treibt Cleander zu Gegenannahmen, die aber ebenfalls eindrucksbestimmt sind und nur an Äußerlichem haften. Auf Umwegen, die für das Verfahren der Blickverschiebung kennzeichnend sind, geht das alles noch gut aus. Während sich Cleander gegenüber Flaccilla scharf verbittet, was er ihr als Absicht unterstellt, verhält er sich in der Folge genau dieser Absicht entsprechend. Er bringt, vom Haar Sophias eben doch animiert, die ganze Person durch Raub und Entführung in seine Gewalt. Wegen der Anziehungskraft des Schönheitszeichens erklärt er sich das selbst aber gegenteilig: „Diese Haarlocken sind es / welche uns gefangen“,86 nämlich ihn, Cleander. Als der Raub auf die Tugendprobe hinausläuft, vermutet er bei Sophia „verstellete Thränen und falsche Geberden“: „Wir kennen der Weibes Personen Art und wissen / wie heilig sie sich stellen / wenn sie ihre Wahre hoch außbringen wollen.“87 Wie es sich hierbei aber natürlich schon um die Tugendprobe handelt, wird Cleander seinerseits zu einem Täuscher, wenn auch zu einem solchen, der so den Schein durchdringen will. Sophia hingegen kann von sich erst vollends überzeugen, als sie statt des Scheins, der ihr ja gar nicht anhaftet, das Sein abzulegen bereit ist, sich nämlich zu entleiben trachtet. Durch Scheinverfallenheit (Daradiri und Selene) oder im Reputationsehrgeiz der Standespersonen (Cleander, Bonosus, Palladius), im Zusammenhang von Zeichen- und Wertbildung (Sophia), im Problem der Zeichenkontingenz und durch blinde Entlarvung (Cleander) wird die vorderhand klare Differenz von Sein und Schein zur kritischen Prüfung damit verbundener Einstellungen jeweils anders modelliert. Das sind alles Glieder einer nach Widerspruch süchtigen topischen Permutation, die das Sowohl und das Alsauch artifiziellen Verhaltens hervortreibt und so dessen dialektische Beschreibung leistet.
5. constantia – gute und schlechte Beständigkeit Anders als die keusche Sophia verhält sich die ebenfalls tugendhafte Coelestina. Sie vergibt sich nichts, wenn sie dem Hofmann Palladius aufwartet, mit fast unmöglicher Insistenz, schließlich ist sie der weibliche Part in dieser Buhlersache. Palladius jedoch will lange nichts von Coelestina wissen. Mit dem daraus entwickelten Geschehen richtet sich die topische Beobachtung auf den Richtwert der constantia.
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Gryphius: Horribilicribrifax Teutsch (wie Anm. 6), S. 112. Gryphius: Horribilicribrifax Teutsch (wie Anm. 6), S. 112.
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Hier vor allem greift der Zweittitel der Komödie Wehlende Liebhaber als Problembezeichnung, wie ein Absagungsschreiben des Palladius kenntlich macht, als er sich endlich zu Coelestina durchgefunden hat und mit der falschen Selene abrechnet: Selenisse (lieset den Brieff): Wehlende und unbesonnene Jungfrau / die Zeit ist nunmehr aus / in welcher ich meiner Vernunfft beraubet / euch einig zu Gebote gestanden. Jzt erkenne ich meine Thorheit / und schertze mit eurer Unbedachtsamkeit.88
Das Wählen ist Ausdruck von Unbeständigkeit. Unbeständig ist freilich die Welt insgesamt, fortuna-Geschehen, heute so und spätestens morgen schon wieder anders. Wie darüber mit der Erfahrung auch die Orientierungen und Werte schwanken, unsicher werden, jedenfalls soweit sie eine Bindung an die wechselvolle Immanenz haben, wird constantia, Beständigkeit, zur entscheidenden Bezugsgröße. Sie genügt der wertethisch eigentlich neutralen Forderung, dass der Mensch standfest bleibe und sich dadurch selbst zum Pol in der Unbeständigkeit des Ganzen werde. Wehlende Liebhaber meint dann das genaue Gegenteil: Liebesverwicklungen, die der Wankelmut verursacht.89 Der Zweittitel verweist auf jene Figuren des Stücks, die sich hin und her entscheiden, auf Gelegenheiten aus sind, dabei im Grunde aber nur unsicher agieren, ersten Eindrücken folgen und schlicht schon deshalb sich und andere betrügen. Ihrem Verhalten mangelt es an der Verbindlichkeit des Kategorialen. Das rückt umgekehrt Standfestigkeit ins helle Licht der Tugend. Damit scheint auch für die Komödienhandlung alles andere als eine Bestätigung des Prinzips ausgeschlossen zu sein. Über kurz oder lang ist erkennbar, wer und was sich gleich bleibt, z. B. nicht Selene, die Daradiri von ihrem „standhafftigen Gemüth“90 überzeugen will. Heute macht sie dem Aufschneider schöne Augen, gestern war sie Palladius günstig und ist es alsbald wieder, wenn Rangerhöhung ihr Interesse neu weckt. Aber auch in Bezug auf die constantia haben Experiment und Variation statt, die das Konzept durch Konstellationsveränderung befragbar machen und ein Für und Wider seiner Befolgung zu erkennen geben. Es braucht lange, bis Coelestina und Palladius im Kontrast zu den wankelmütigen Paaren am Ende des Stücks neben Sophia und Cleander das zweite ideale Paar bilden, ein beständiges. Bis dahin ist Palladius unangenehm von dem Durchsetzungswillen berührt, mit dem Coelestina rollenverkehrt ihm aufwartet, ja ihn geradezu abpasst auf seinen Wegen. Insgesamt viermal wird diese Konstellation durchlaufen, entweder als szenisches Geschehen selbst91 oder in dialogischer Reinsze-
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Gryphius: Horribilicribrifax Teutsch (wie Anm. 6), S. 97. Vgl. dazu Bernhard Asmuth: Edle Liebe und arge Komik. Gryphius’ Scherzspiel „Horribilicribrifax Teutsch“. In: Deutsche Komödien. Vom Barock bis zur Gegenwart. Hg. von Winfried Freund. München 1988, S. 16-31, hier S. 21. Gryphius: Horribilicribrifax Teutsch (wie Anm. 6), S. 54. Vgl. Gryphius: Horribilicribrifax Teutsch (wie Anm. 6), S. 38-40, 81-84.
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nierung zwischen Coelestina und ihrer Zofe Camilla.92 Palladius will jedes Mal an Coelestina schnell vorbei und versucht dies als l'homme du cour mit höfisch-höflichen Formeln. Von seinen „löblichen Gemühtes Neigungen“,93 derentwegen Coelestina ihn liebt, ist da kaum noch etwas zu erkennen. Coelest. [...] Palladius ist verhanden! O daß nu meine Augen reden könten. Camilla. Es ist doch vergebens! Meine Jungfrau ist bey ihm in so grossem Ansehen / als ich bey dem Printzen von Peru. Coelest. Jch hoffe durch Standhafftigkeit meiner Liebe ihn zugewinnen. Palladius. [...] Coelestina kommet mir so recht entgegen / als wenn sie bestellet were / mir etwas in den Weg zulegen. Was thu ich nun? kehr ich um? diß solte zu rauhe scheinen. Jch wil nur fürüber / und sie mit kurtzen Worten abfertigen. Der Jungfrauen meine Dienst! Coelest. Ach mein Herr Palladi, wie ist er so freygebig mit Dienst-Anbittungen / und so fest mit der Liefferung! [...] er eile doch nicht so hefftig! befiehlet er sich in meine Gunst / und wil mir seine Gegenwart nicht einen Augenblick vergönnen!94 Coelest. Noch ein Wort / Herr Palladi. Pallad. Die Jungfrau verzeih / ich seh daß eine Person sie ansprechen wil! Sie fahre wohl. Coelest. Wie kaltsinnig zeucht er darvon. Ach! Camilla, Camilla, wie schmertzlich ists auff unfruchtbaren Sand säen!95
Für das mehr und mehr falsche Spiel, das Palladius mit ihr treibt, gibt es allerdings eine ethische Rechtfertigung, die Coelestina nur nicht zum Vorteil gereicht. Palladius handelt gegen sie unredlich, um es nicht gegen jene zu tun, die er statt Coelestina liebt oder zu lieben glaubt, zuerst Selene, dann jene vom Stück gar nicht präsentierte Eudoxia, deren alleiniger Zweck es ist, Palladius eine zweite Beziehung durchlaufen zu lassen (die dramatische Funktion der Figur reduziert sich auf die topische), bis ihm drittens Coelestina zugeordnet wird. So treffen denn in Coelestina und Palladius zwei Figuren aufeinander, deren eine tugendfest ist, deren andere aber auch, und die dennoch, ja gerade deshalb für lange nicht aufeinander beziehbar sind. Coelestina mag noch so sehr darauf hoffen, es möge „ihm doch vielleicht meine unvergleichliche Standhafftigkeit zu Gemüthe dringen.“96 Indem dies immer wieder nicht gelingt, macht der Text auf die Missachtung eines Unterschiedes aufmerksam, die sich aus der Popularisierung der neostoizistischen Beständigkeitslehre ergibt. Für die constantia-Lehre selbst ist standhafte Liebe letztlich ein Paradox. Im Feld des Begehrens gibt es keine Beständigkeit. Wer affektbestimmt handelt, kann unmöglich „still sitzen vnd des seinen warten“: „Heut begert er dieses / Morgen veracht ers: diß lobt er / bald schilt ers“ und „ist nur in allen
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Vgl. Gryphius: Horribilicribrifax Teutsch (wie Anm. 6), S. 32, 59-61. Gryphius: Horribilicribrifax Teutsch (wie Anm. 6), S. 32. Gryphius: Horribilicribrifax Teutsch (wie Anm. 6), S. 38f. Gryphius: Horribilicribrifax Teutsch (wie Anm. 6), S. 40. Gryphius: Horribilicribrifax Teutsch (wie Anm. 6), S. 60.
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dingen dem Leibe vnnd den Sinnen zu willen.“97 Andererseits schafft Coelestinas Haltung hier doch Verlässlichkeit. Nur folgt aus der Unbeirrbarkeit von Liebe kein Anspruch auf Gegenliebe. Aus dem hier inszenierten Fall von constantia folgen weitere Probleme. Die Komödienhandlung führt zu einer sukzessiven Perversion des Verhaltensideals. Palladius wird ein ums andere Mal an Coelestina vorbeigeführt. Dabei erwartet sie, dass ihrer Standhaftigkeit die seine weiche. Camilla stellt klar: „Ach / meine Jungfrau! [...] kennet ihr Palladii unveränderlichen Vorsatz nicht? Eher wolte ich [...] Felsen bewegen / als ihn / wenn er einen Schluß einmal gefasset.“98 Wie Coelestina davon aber doch nicht ablässt, verkehrt sich ihre constantia in störrische Insistenz: Aus guter Beständigkeit wird in solcher Folge zunächst halbwegs gute Beharrlichkeit, daraus dann halbwegs schlechte Hartnäckigkeit99 und daraus dann ein völliger Starrsinn, der sich eines Besseren einfach nicht mehr belehren lässt. Die Kammerzofe Camilla kann es nicht mitansehen: „Sie liebe / was sie liebet / und lasse fahren / was nicht bleiben wil.“100 Ist die Situation entsprechend, rückt das Gegenteil von Beständigkeit, die Fähigkeit zum Gesinnungswandel, auf der Werteskala nach oben. Coelestina muss sich diesbezüglich Rat gefallen lassen und sucht doch immer wieder als tugendhaft und zwanghaft Beständige auf ihre Weise durchzudringen. In Palladius verkehrt sich die Tugend noch anders. Er wird derart zum Opfer seiner Prinzipien, dass er darüber die hohe Gesinnung eines beständigen Gemütes auch als solche verfehlt. In seinem Fall wird das gute Kriterium der Beständigkeit nachgerade von Wankelmut durchdrungen. Seine Art, beständig zu sein, zieht nämlich die Probleme des anderen, vorteilsuchenden Verhaltens ‚wählender Liebhaber‘ nach sich. Sein strikter Wille, das constantia-Ideal in der Liebe zu realisieren, wird nachgerade an häufigem Partnerwechsel kenntlich gemacht. Er legt sich nacheinander ohne Wenn und Aber auf eine Geliebte fest: erst Selene, dann Eudoxia, dann Coelestina. Als Selene statt mit ihm „mit dem Großsprecher [...] fest“ ist,101 kann ihn Eudoxia in ihren Bann ziehen, wie dies in einem Gespräch darüber unter den Hofleuten registriert wird: „Er ist getrof-
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Justus Lipsius: Von der Bestendigkeit. [De constantia]. Neudruck der deutschen Übersetzung des Andreas Viritius in der 2. Aufl. Leipzig 1601. Hg. von Leonard Forster. Stuttgart 1965, Bl. 2r u. 14r. „vnbewegliche stercke des gemüts“ bedeutet deshalb, das „Joch der Affecten“ abzuwerfen (Bl. 10r u. 16v). Gryphius: Horribilicribrifax Teutsch (wie Anm. 6), S. 60. Zur Abwehr solcher Konsequenz macht Lipsius „die Hartneckigkeit“ als „zwar eines eigensinnigen Gemüts stercke“ moralisch verdächtig und bringt sie mit dem alten Laster der superbia in Verbindung: „Dann diese auffgeblasene vnd verhärtete Leute können zwar nit leichtlich vntergedrückt / aber gar leicht erhebt vnnd stoltz gemacht werden: nicht anders als ein Schlauch / welcher von dem Winde auffgeblasen / gar schwerlich vntergetaucht wird“ (Lipsius: Bestendigkeit [wie Anm. 97], Bl. 10r – Bl. 11v). Gryphius: Horribilicribrifax Teutsch (wie Anm. 6), S. 40. Gryphius: Horribilicribrifax Teutsch (wie Anm. 6), S. 55.
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fen / man merckt es aus allen seinen Geberden.“102 In diesem Fall braucht es für den nächsten Partnerwechsel nicht einmal mehr eine Enttäuschung durch Unzuverlässigkeit wie im Fall Selene. Dass Eudoxia, die ‚mit dem guten Ruf‘, auch eine wählende Liebhaberin sei, wird nirgendwo gesagt. Die Zuwendung zu Coelestina ist paradoxerweise dadurch bedingt, dass die Standfeste sich ihm endlich nicht weiter zumuten will. Was dies betrifft, erweist die topische Entschlüsselung nun zum wiederholten Male, dass ein Problem sich anders und wieder anders denken lässt und ein feiner Unterschied dabei zur Perspektive werden kann. Coelestina gibt nur Palladius, nicht jedoch ihre Haltung ihm gegenüber auf. Sie entsagt ihm in selbstloser Liebe: „Solte sich aber Gelegenheit finden / [...] wolte ich kein Bedencken tragen / dieses mein weniges Leben vor das seine auffzusetzen.“103 Nun ist Palladius von Coelestina und ihrer festen Haltung begeistert: „sie geruhe zu glauben / daß sie die einige sey / welche durchaus und allein über Palladium gebieten mag.“104 Da hat der Tugendbegeisterte aber seine Eudoxia auch sofort vergessen. – Niemand in diesem Stück wechselt so oft die Partnerin als in Palladius gerade derjenige, der das wechselnde Liebhaben am meisten verabscheut.
6. Verwerfungen und Rettungen Die Komödie kennt sich schließlich bestens mit Verkehrungen aus. Wie sie zunächst Versatzstücke ihres Genres gegeneinander verschiebt, so dass der Aufschneider an den Aufschneider gerät und die Kupplerin sich selbst verkuppelt, lässt sie in Coelestina und Palladius die Beständige auf den Beständigen treffen. An Cleander und Sophia, an der Geschichte ihres Haars, führt sie vor, wie sich Substanz an Akzidenzien hervortreiben lässt, modische Surrogate auch Insignien der Tugend sein können. Das geschieht zur höchsten Rechtfertigung einer Ästhetik des Scheins, aber bei gleichzeitiger Unterstellung von Täuschung und in einer Sphäre von Dissimulation, die dafür Gründe genug liefert, sogar im Verhalten des Kritikers Cleander. Aus Sorge um jede „scrupel reputation“105 ist bei ihm selbst alles perfekt inszeniert. In der eigenen Dialektik gefangen, operiert er für die Tugendprobe mit der Vorspiegelung von Gefahr und erzeugt so vom Schein befreienden Schein. Verdrehung ist das Prinzip der Textorganisation. Die topische inventio spielt ihre Möglichkeiten durch. Erst unter dieser Vorgabe wird dramaturgischen Erfordernissen genügt, was zu den monierten Brüchen in der Darstellung führt, die sich eher episodisch und eben ständig umperspektivierend vollzieht. Konsistenz wird allerdings insoweit erreicht, als die Problemvariationen bis jeweils zu einem Aufmerksamkeitswechsel selbst
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Gryphius: Horribilicribrifax Teutsch (wie Anm. 6), S. 76. Gryphius: Horribilicribrifax Teutsch (wie Anm. 6), S. 84. Gryphius: Horribilicribrifax Teutsch (wie Anm. 6), S. 84. Gryphius: Horribilicribrifax Teutsch (wie Anm. 6), S. 76.
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das Prinzip der Szenenfolge bilden und sie außerdem nicht ständig zum Aufbau neuer Thematiken führen, insofern auf die kritische Verhandlung der Repräsentationskultur und der Beständigkeitslehre fokussierbar sind.106 Hier allerdings macht der Aspekt-
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Das gilt – in der Perspektive dieser Analyse – mit einer Ausnahme, die nach weiterer literaturwissenschaftlicher Arbeit am Text verlangt. Es kommt hier auch zu einer satirischen Adaption des topischen Verfahrens selbst, mit der die Komödie also ihre eigene Methode der Textgenese kritisch thematisiert. Das zeigt grundsätzlich schon die Figurenrede des Lasterpersonals, wie sie sich ohne Erkenntniswert an loci communes entlanghangelt, und diese sind im Extrem von der unsinnigen Art der Merkverse Cyrillas: „Ach du lieber heiliger Sqventz, bewahre mir Hüner und Gäns“ (30). Zudem ist die für diese Analyse nur randhaft vermerkte Übererfüllung des glücklichen Komödienschlusses durch ein allgemeines Heiraten auch auf eine Travestie der ars combinatoria angelegt. Hier gibt es Verbindungen, die über die Metapher der Hochzeit als konjugale Vorstellungen, conubium und coniugium terminologisiert werden, so in der Logica des Johannes Bisterfeld: „Etenim rerum ac terminorum, adeoque notionum primarum ac secundarum (cujus fidelissima ac f[e]licissima pronuba est Logica) connubium cogitationum ac disciplinarum, est utilissimum.“ (Logica. In: Bisterfeldius redivivus. Tomus Secundus. Den Haag 1661, S. 1-451. Lib. I. Cap. 4, S. 19). Vgl. dazu Thomas Leinkauf: Mundus combinatus. Studien zur Struktur der barocken Universalwissenschaft am Beispiel Athanasius Kirchers SJ (1602-1680). Berlin 1993, S. 125. In solcher Hierogamie gehen Elemente und Begriffe, Qualitäten und Potenzen Synthesen ein, die durch die Verschiebung topisch verfügbarer Einheiten gestiftet werden. Das wird in den „Hochzeiten über Hochzeiten!“ parodiert, wenn z. B. Horribili „unsre grosse/ dicke/ derbe/ alte/ vierschrötige/ ungehobelte/ trieffäugichte/ spitznäsichte/ schlüsseltragende Schleusserin“ abbekommt (113f.). Noch entschiedener ist das der Fall, wenn durch die Konfiguration der Textelemente Horribili und Daradiri zusammentreffen und sich – wie sie es sehen – als Naturkräfte und Faktoren der Geschichte finden. Im ersten Anrennen droht man sich ein Blutbad unter Giganten an, das die Welt mit in eine rote Sintflut reißt: „Jch [...] will dich also tractiren daß das Blut von dir flüssen soll/ biß die oberste Spitze des Kirchturmes darinnen versuncken.“ (105) Dann trumpft jeder vor dem anderen als Schlachtenlenker des Dreißigjährigen Krieges auf, bis beide darum wissen, dass solche Elementargewalten einen brüderschaftlichen Verkehr miteinander unterhalten müssen, der das Schlimmste verhindert. „Welch ein Blutvergiessen! masssacre & strage, wenn wir einander nicht erkennet hätten!“ (107) Parität schafft da aber natürlich nur die völlig gleichrangige Minderwertigkeit der Maulhelden im differenzlosen „Zusammenprall zweier Vakua“ (Walter Hinck: Das deutsche Lustspiel des 17. und 18. Jahrhunderts und die italienische Komödie. Commedia dell'arte und Théâtre italien. Stuttgart 1965, S. 115). – Kircher physikalisiert in den 1640er und 50er Jahren, als die Komödie entsteht und Gryphius ihn in Rom besucht, immer wieder neu die idealtypische Verbindung von Attraktions- und Konnexionskräften, die die Welt zusammenhalten. Er macht sie im Magnetismus (Magnes [1641]) und in den Phänomenen der Strahlung aus (Ars magna lucis et umbrae [1646]) oder versteht sie als Spährenmusik (Musurgia universalis [1650]). Die Komödie parodiert solches Bemühen im „rencontre“ (107) ihrer Maulhelden und reichert damit die dramatischen Adaptionen des coniugium um diese leere Variante an, die am meisten, aber eben in der Parodie, an mundane Vermittlungen im „kosmischen Rahmen“ (Désirée Bourger: Schwert und Zunge: Über die zweifache Prahlerei in Andreas Gryphius „Horribilicribrifax“. In: Daphnis 28 [1999], S. 117136, hier S. 127) erinnert. So entspricht es der zyklopischen Selbstüberhebung dieser Figuren. Zum Einfluss von Kircher auf Gryphius vgl. John Fletcher: Athanasius Kircher: a man under
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wechsel topischer Reflexion Zuschreibungen konsequent unsicher und kehrt Einschätzungen um, wo immer dies mit einiger Evidenz erreichbar ist. Der Fall ist möglich, dass der Schein so qualifiziert werden kann oder muss, als sei er das Sein, und ebenso der andere Fall, dass die Tugend der Beständigkeit zum Laster wird. Dergestalt erprobt die Komödie die Relativität historischer Orientierungsangebote. Dazu gehört in der Umkehrung der Umkehrung aber auch, dass Diskreditiertes in Bestätigung rückgeholt wird, so dass es zu Verwerfungen und zu Rettungen kommt, die erst zusammen das Reflexionsniveau des Textes bezeichnen. Die literarische Erkenntnis eines solchen Verfahrens liegt in der Abkehr von kriterienfestem Denken. Es wird ein Bewusstsein gleichzeitig von der Fehlbarkeit und von der Notwendigkeit der historischen Kategorien entwickelt. Die Einsicht in ihre bedingte Geltung läuft deshalb nicht auf Nivellierung hinaus. Die Kombination von Topik und Komödie ist ausschließlich an einer versuchsweisen Nivellierung interessiert, deren kritischer Ertrag für eine um manches Wenn und Aber klügere Wertbestätigung einsetzbar bleibt. Nach Balthasar Kindermanns Bestimmung haben Komödien zu zeigen, „wie man das gemeine Leben und Thun / recht und weißlich anstellen und führen solle“;107 nicht aber haben sie diesem Leben und Tun Maßgaben zu entziehen. Ebenso ist die Topik auf die Entwicklung von Argumentationsmöglichkeiten ausgelegt, bei der Sichtweisen nicht zu ihrer Aufhebung, sondern zu ihrer Ergänzung um weitere relativiert werden. Entsprechend dient das Wechselspiel, das über den Zusammengang von Topik und Komödie organisiert wird, der vielfältigen und aspektreichen Erprobung ihm ausgesetzter Kategorien, nicht jedoch ihrer Widerlegung. Der Horribilicribrifax Teutsch begnügt sich nicht mit Aufhebung und Umkehrung, sondern will ein Mehr, das Bestätigungen einschließt. Die Komödie lässt denn auch produktiv unentschieden, wie es um die Durchsetzung von Normen unter den wenig günstigen Bedingungen der Stunde Null von 1648 bestellt ist, vielleicht gerade da sogar wieder recht gut. Wichtiger allerdings als die Hervorhebung dieser Komödie von Gryphius, die ja ohnehin zum Kanon gehört, dürfte eine Einschätzung ihrer Reflexionsweise schlicht als Verfahrenskonsequenz topischer Textorganisation sein, als eine im Sinne barocker Wissenschaft methodisch genaue literarische Praxis, weil damit barocker Wissenskultur grundsätzlich die Fähigkeit zur kontroversiellen Verhandlung ihrer Orientierungen zukommt. Aus der komödiantischen Travestie von Zuordnungen und Verschiebungen geht eine kritische ars combinatoria hervor. Für eine solche Kombinationskunst steht die zielgerichtete Erörterung eines Problems hinter seiner variativen Erkundung zurück.
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pressure. In: Athanasius Kircher und seine Beziehungen zum gelehrten Europa seiner Zeit. Hg. von John Fletcher. Wiesbaden 1988, S. 1-16, hier S. 7; Peter Cersowsky: Magie und Dichtung. Zur deutschen und englischen Literatur des 17. Jahrhunderts. München 1990, S. 52f. Balthasar Kindermann: Der deutsche Poet. Nachdruck der Ausgabe Wittenberg 1664. Hildesheim/New York 1973. Das III. Buch, Kap. I. Von den unterschiedenen Arten der Gedichten [...], § 7, S. 242.
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Sie ist um so viele Möglichkeiten reichere Erkenntnis. Das genügt allerdings nur sehr bedingt einer ‚Excolirung des Verstandes‘ im Sinne der barocken Polymathie. Erweiterte Weltkenntnis betrifft nun rückbezüglich die Auseinandersetzung mit bestimmenden Kriterien ihrer selbst, eine Ausfächerung des Wissens, die vor der Erkundung eigener Prämissen nicht aufhört. Durch den ständigen Aspektwechsel der Variation werden leitende Wertvorstellungen und Verhaltensregeln, denen auch der Text pflichtig bleibt, literarisch und kritisch in ihrer Anwendung erprobt. Am Horribilicribrifax Teutsch ist deshalb zu sehen, was passiert, wenn die Diskursivierung des Wissens die Form der Infragestellung annimmt.
Yvonne Al-Taie (Kiel) Medienwechsel als Diskurswechsel? Johann Christoph Gottscheds Sittenlehre und die Moralischen Wochenschriften
1. Der junge Gottsched zwischen Theologie und Philosophie Innerhalb der Moraldiskurse, die das beginnende 18. Jahrhundert prägen, lassen sich zwei Hauptströmungen unterscheiden, die sich – wohlgemerkt – keineswegs als homogene Bewegungen darstellen. Zum einen wären hier die christlich-theologischen Morallehren zu nennen, als deren wichtigste protestantische Spielarten der Pietismus und die Orthodoxie gelten müssen. Zum anderen gewinnen die philosophischen Morallehren zunehmend an Bedeutung, deren bekannteste Vertreter in Deutschland die dem Rationalismus verpflichteten Philosophen Johann Gottfried Leibniz und Christian Wolff sind. Johann Christoph Gottsched beginnt 1714 als junger Student der Theologie in Königsberg seinen akademischen Werdegang in einer Zeit, die von diesen konkurrierenden Morallehren geprägt ist. Unter seinen Königsberger Professoren, deren Namen Gottsched selbst überliefert hat,1 deren Lehrinhalte jedoch nur schwer zu rekonstruieren sind, scheint Johann Jacob Quandt für Gottsched einer seiner wichtigsten Lehrer gewesen zu sein. Quandt war als Schüler und Vertrauter Johann Franz Buddes aus Jena ein Vertreter einer Orthodoxie, die eng an Buddes Vorbild angelehnt war.2 Zugleich hörte Gottsched auch Vorlesungen zur Philosophie, wodurch er auf die philosophischen Morallehren Grotius’, Pufendorfs und Lockes aufmerksam wurde. Erst die Lektüre von Leibnizens Theodizee und der Schriften Wolffs beschreibt er jedoch als ein Schlüsselerlebnis, das richtungsweisend für sein späteres Denken werden wird.3 Bekannt ist, dass Gottsched bereits in Königsberg eine erste Dissertation bei seinem Lehrer Quandt vorgelegt hat. Nicht mehr rekonstruierbar ist jedoch das Jahr, in dem
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Vgl. Johann Christoph Gottsched: Ausgewählte Werke. Hg. von P.M. Mitchell. Berlin/New York, 1968ff., Bd. V/2: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit (Praktischer Teil), S. 7. Vgl. Andres Strassberger: Johann Christoph Gottsched und die „philosophische“ Predigt. Studien zur aufklärerischen Transformation der protestantischen Homiletik im Spannungsfeld von Theologie, Philosophie, Rhetorik und Politik. Tübingen 2010, S. 36-38. Vgl. z.B. Gottsched: Ausgewählte Werke (wie Anm. 1), Bd. V/2, S. 9-14 sowie die wiederholten Bezugnahmen auf Leibniz und Wolff in seinen philosophischen Schriften.
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dieser erste Promotionsversuch erfolgte. Somit muss auch ungeklärt bleiben, ob diese Arbeit bereits unter dem Eindruck der Wolff- und Leibniz-Lektüre verfasst wurde.4 In dieser Schrift ließ Gottsched jedenfalls bereits einen so kritischen Blick auf die theologische Rechtfertigungslehre erkennen, dass sie als heterodox eingestuft und nie verteidigt wurde.5 Über die Problemstellung dieser Arbeit gibt Gottsched in einer späteren Schrift Auskunft: Sonderlich qua leten mich die Lehren von der Gnade Gottes, in Bekehrung des Menschen; die in unsern Lehrbu chern allemal fu r zureichend ausgegeben wird […] Als ich mir nun von dieser go ttlichen Gnade in dem Su nder; und von der Art ihrer Wirkung […] einen deutlichen Begriff zur Richtigkeit gebracht zu haben glaubete; schrieb ich eine akademische Dissertation: DE CONVERSIONE HOMINIS, & GRATIA DEI IN EADEM EFFICACI, & SUFFICIENTE. […] Hr. Abt Schubert und Hr. D. Bertling haben unla ngst davon gestritten.6
Gottscheds Argumentation sowie sein Lösungsansatz lassen sich aus diesen Ausführungen jedoch nicht rekonstruieren. Auch wenn die Forschung sicher berechtigterweise seinen späteren Hinweis, diese Dissertation habe die Schubert-Bertling-Debatte7 vorweg genommen, als Stilisierungsversuch betrachtet, der den jungen Academicus zu einem seiner Zeit vorausweisenden Genie erheben möchte,8 mag im Kern doch richtig sein, dass es in dieser frühen Arbeit zur Rechtfertigungslehre bereits um die Frage nach der Art der Gnadenwirkung ging. Was sich in dieser frühen Arbeit schon anzudeuten scheint, wird Gottscheds weiteres Denken und Schaffen prägen: Er ist bestrebt, die beiden im beginnenden 18. Jahrhundert in Konkurrenz stehenden Positionen einer Morallehre – die theologische und die rationalistisch-philosophische – miteinander zu harmonisieren. Sein Ziel ist eine theologische Morallehre mit rationalistisch-philosophischer Begründung.9 Ein weiteres Anliegen geht damit einher: Während es in erster Linie die theologische Sittenlehre war, die mit ihrer Erbauungsliteratur auch die nicht-gelehrten Bevölkerungsschichten erreichte, war die philosophische Morallehre bis dahin ausschließlich eine
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Gottscheds spätere Ausführungen legen allerdings eine Kenntnis dieser Autoren nahe. So schreibt er über sein Theologiestudium: „Allein die philosophische Art zu denken, die ich mir aus der cartesianischen, thomasischen und wolfischen Art zu philosophiren gela ufig gemacht hatte, machete mich begieriger nach deutlichen Begriffen in theologischen Materien, als es manchmal meinen Lehrern lieb seyn mochte.“ (Gottsched: Ausgewählte Werke [wie Anm. 1], Bd. V/2, S. 7). Vgl. auch: Strassberger: Gottsched und die „philosophische“ Predigt (wie Anm. 2), S. 51f. Vgl. Strassberger: Gottsched und die „philosophische“ Predigt (wie Anm. 2), S. 50f. Gottsched: Ausgewählte Werke (wie Anm. 1), Bd. V/2, S. 8. Vgl. zur Schubert-Bertling-Debatte: Strassberger: Gottsched und die „philosophische“ Predigt (wie Anm. 2), S. 54f. Vgl. Strassberger: Gottsched und die „philosophische“ Predigt (wie Anm. 2), S. 55. Vorbilder dafür hatte er bei Leibniz und bei Wolff.
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Angelegenheit der Gelehrten.10 Die Möglichkeit der Verbreitung der philosophischen Sittenlehre in breitere Schichten des aufstrebenden Bürgertums sieht Gottsched mittels Literatur gegeben. Ein ganz eigenes literarisches Genre, das sich um 1709 in England herauszubilden beginnt, sind die Moralischen Wochenschriften, die in besonderer Weise dazu geeignet sind, vernünftige Reflexion in literarischem Gewand an die Stelle des christlichen Erbauungsschrifttums treten zu lassen. Im Folgenden möchte ich aufbauend auf Beobachtungen an Gottscheds theoretischen Schriften sowohl zur Sittenlehre als auch zur Poetik aufzeigen, dass in seinen Moralischen Wochenschriften Die vernüfftigen Tadlerinnen sowie Der Biedermann seine Vorstellung von einer durch Literatur vermittelten, auf Vernunft gründenden Moral ihre Umsetzung erfahren hat.
2. Gottscheds Sittenlehre In seinem philosophischen Hauptwerk, den 1733 in erster Auflage erschienenen Ersten Gründen der gesammten Weltweisheit hat Gottsched seine philosophische Sittenlehre niedergelegt, die an die rationalistische Tradition Wolffs und Leibnizens anknüpft. Anders als die Anweisungen zur christlichen, tugendhaften Lebensführung, wie sie sich in der Erbauungsliteratur sowohl in orthodoxer Ausrichtung als auch in pietistischer Spielart des 17. und frühen 18. Jahrhunderts finden und wie sie sich großer Beliebtheit in relativ breiten Bevölkerungsschichten erfreuten, argumentiert Gottsched in seiner Sittenlehre nicht auf Grundlage der Rechtfertigungslehre und der Heiligen Schrift, sondern trifft eine klare Unterscheidung zwischen den „höheren“ Tugenden der geoffenbarten Religion und einer philosophischen Sittenlehre, die Weisungen zum alltäglichen Lebensvollzug bereit hält. Die Etablierung einer eigenen philosophischen Sittenlehre wird angesichts des bestehenden, dominierenden Moraldiskurses der Theologie dadurch zu legitimieren versucht, dass man die philosophische Sittenlehre als ein Element betrachtet, das bereits in der christlichen Sittenlehre angelegt ist. Gemeint ist jener Teil einer Morallehre, der Verhaltensregeln für den alltäglichen Lebensvollzug bereithält und damit innerhalb der christlichen Morallehre, die auf die Erlösung des Menschen ausgerichtet ist, eine untergeordnete Stellung einnimmt. Aufgrund seiner im Heilsprozess geringeren Bedeutung ist der auf das weltliche Handeln des Menschen bezogene Teil der theologischen Sittenlehre unterdifferenziert. Dieser Teil nun, so geht die Argumentation, soll aus der theologischen Morallehre – die dadurch keinesfalls an Bedeutung verliert – herausgelöst werden und in einer eigenen, philosophischen Sittenlehre eine weitere Ausdifferenzierung er-
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Vgl. Albrecht Beutel: Kirchengeschichte im Zeitalter der Aufklärung. Ein Kompendium. Göttingen 2009, S. 55.
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fahren. Entsprechend unterscheidet Gottsched zwischen den Autoritäten dieser beiden Spielarten einer Sittenlehre: Bleibt die Offenbarung als Autorität der theologischen Sittenlehre unangetastet, so ist die Autorität der philosophischen Sittenlehre die Vernunft. Obwohl Gottsched streng zwischen der biblischen, geoffenbarten Tugend und der philosophisch-rationalen Tugend unterscheidet, betont er dennoch die Übereinstimmung beider Lehren und betrachtet sie als komplementäre Wissensbereiche.11 So betont er zum Abschluss seiner allgemeinen Sittenlehre: Schließlich merken wir hier noch an, daß alle bisher gegebene Lehren, und die vorgeschlagenen Mittel, tugendhaft zu werden, noch weiter zu nichts, als zu einer philosophischen Tugend, verhelfen werden; die aber, in Ansehung der christlichen, noch allezeit unvollkommen bleibt. [...] Denn ob gleich ein christlicher Weltweiser, die Offenbarung und ihren großen Werth sehr wohl kennet: so hu tet er sich doch billig, vor der Vermengung zweyer unterschiedener Lichter; und überla ßt die ho hern Bewegungsgru nde zur Tugend, denen, die berufen sind selbige aus der heiligen Schrift zu lehren.12
Der Gestus, dessen sich Gottsched hier bedient, um einen Konflikt mit den theologischen Sittenlehrern zu vermeiden und ihnen ihren Anspruch auf eine (höhere) Morallehre zuzubilligen, konnte er bereits bei Thomasius finden, der in seiner Sittenlehre in einer Haltung der Demut schreibt: Beyde [Menschen und wahre Christen, Y.A.] werden erkennen/ daß ich die Vernunfft und Offenbarung nicht miteinander vermischt / sondern nur in so weit die Tugend beschrieben habe / als man dieselbe vermo gend ist / durch natu rliche Kra ffte zu erlangen. […] Ihr Aergerniß wird bald auffho ren / wenn sie betrachtet werden / daß ich mir nicht fu rgenommen / meine Zuho rer zu Christen / sondern zu Menschen zu machen. Mein Beruff gehet nicht weiter / und ich gebe mich in dem Chrsitenthum selbst noch fu r einen Schu ler / nicht aber für einen Lehrer aus.13
Die Vernunft setzt Gottsched in Beziehung zu einer anderen Gemütskraft des Menschen: dem Willen. Das Begriffspaar „Vernunft/Wille“ ist seit Augustinus in der theologischen Morallehre etabliert und hat sich bis ins Erbauungsschrifttum tradiert. Gottsched greift dieses Begriffspaar auf, dreht dabei die etablierte Rangordnung der beiden Geistesvermögen jedoch um. So heißt es etwa in den im frühen 18. Jahrhundert äußerst populären Vier Bücher[n] von dem wahren Christenthumb von Johann Arndt:14
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„Ob nun wohl diese philosophische Tugend noch nicht an die Vollkommenheit der christlichen langet; die vermittelst der geoffenbarten Religion in dem Menschen gewirket werden kann: so erhellet doch aus allem, daß sie durchaus nicht zu verwerfen ist. Denn das Gesetz der Natur ist ja ein go ttliches Gesetz, und stimmet selbst mit dem Worte Christi u berein: Ihr sollet vollkommen seyn, denn euer Vater im Himmel ist vollkommen.“ (Gottsched: Ausgewählte Werke [wie Anm. 1], Bd. V/2, S. 101). Gottsched: Ausgewählte Werke (wie Anm. 1), Bd. V/2, S. 156. Christian Thomasius: Einleitung zur Sittenlehre. In: Ders.: Ausgewählte Werke. Hg. von Werner Schneiders. Hildesheim/Zürich/New York 1993ff., Bd. 10, Vorrede, S. b5f. So gilt dieses Erbauungsbuch, das zwischen 1605 und 1740 95 Auflagen erreichte, als die „in dieser ganzen Epoche einflußreichste und im deutschsprachigen Protestantismus am weitesten ver-
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Ihr viel meinen es sey gar genug und überflu ssig zu ihrem Christenthumb / wenn sie Christum ergreiffen mit irem Verstandt durch Lesen und Disputieren […] und bedencken nicht / daß die ander vornehme Krafft der Seelen nemlich der wille und Herliche Liebe auch dazu geho re. […] Durch den ersten Weg wirstu deinen inwendigen Schatz nicht finden. Durch den andern Weg aber findestu denselben in dir.15
Gottsched hingegen argumentiert: „Es hebt sich also die Bekehrung eines Menschen von dem Verstande, und nicht von dem Willen an.“16 Dementsprechend empfiehlt Gottsched zur Erlangung der Tugend auch anders als das Erbauungsschrifttum nicht das Gebet, sondern die Unterweisung des Menschen in der Sittenlehre und die Schulung seiner Vernunft, so dass es ihm leichter falle, gute von schlechten Handlungen zu unterscheiden.17 Zu einer beständigen Übung in der moralischen Urteilsfähigkeit sollen die Handlungen anderer stets genau beobachtet und nach ihrer sittlichen Qualität beurteilt werden.18 Für eine sittliche Unterweisung der Menschen, die die Vernunft schulen und zur eigenständigen, sittlichen Beurteilung von Handlungen befähigen soll, bedarf es neuer Unterweisungsmethoden. Das Erbauungsschrifttum hat ausgedient. Nicht minder ist jedoch ein Medium vonnöten, mit dessen Hilfe sich größere Kreise des Bürgertums ansprechen lassen. Die Textgattungen, die Gottsched für diese Art von Unterweisung empfiehlt, weisen bereits deutlich auf die neue Rolle hin, die der schönen Literatur in diesem philosophischen Moraldiskurs zukommt. So können laut Gottsched die musterhaften Lebensläufe „großer Leute“ und die Lektüre der „Schriften der alten und neuen Sittenlehrer“ ebenso eine Hilfestellung zur Einübung solchen Nachdenkens über und Beurteilens von Handlungen leisten wie die Dichtung. Die Gattungen, die Gottsched hierbei nennt – das Heldengedicht und das Trauerspiel – weisen auf seine Bemühungen
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breitete Erbauungsliteratur“. Vogler betont, dass der moralische Einfluss dieses Werkes, insbesondere auf Laien, weitaus größer gewesen sei als das dogmatische Schrifttum der Orthodoxie. (Bernard Vogler: Das Luthertum. In: Die Geschichte des Christentums. Religion, Politik, Kultur. Hg. von Jean-Marie Mayeur u.a. Freiburg i.Br. u.a., 1998, Bd. 9: Das Zeitalter der Vernunft (1620/30–1750). Hg. von Marc Venard, S. 414). Johann Arndt: Vier Bücher vom wahren Christenthumb. Die erste Gesamtausgabe (1610). Mit einem Anhang hg. von Johann Anselm Steiger. In: Philipp Jakob Spener: Schriften. Hg. von Erich Beyreuther und Dietrich Blaufuß. Sonderreihe: Texte – Hilfsmittel – Untersuchungen. Hildesheim/Zürich/New York 2007, hier: Bd. V.3, Vorrede, Buch 3, S. 6-8. Gottsched: Ausgewählte Werke (wie Anm. 1), Bd. V/2, S. 133. Vgl. bzgl. des Erbauungsschrifttums: Arndt: Vier Bücher vom wahren Christenthumb (wie Anm. 15), Buch 3, Vorrede. „Zu diesem Ende ist es auch sehr dienlich, daß man sich in der Welt umsehe, und alle Handlungen der Menschen anmerke, die entweder wohl oder u bel ausschlagen. Man erwege bey denselben, woher eins oder das andere gekommen sey? was man für Absichten gehabt? was man für Mittel gebrauchet habe? Was dabey unno thig, oder wohl gar scha dlich gewesen sey? so wird man aus fremdem Schaden allma hlig weise werden.“ (Gottsched: Ausgewählte Werke [wie Anm. 1], Bd. V/2, S. 330).
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zur Theaterreform hin.19 Da viele Menschen sogar auf eine solche Hilfestellung angewiesen seien, fordert Gottsched diese geradezu ein. Eine literarische Form, deren Eignung Gottsched für eine solche moralische Unterweisung besonders hervorhebt, sind die Moralischen Wochenschriften: Nun haben aber nicht alle Menschen, so viel Scharfsinnigkeit, und Nachsinnen in ihrer Gewalt: daher ist es die Pflicht derer, die eine Gabe besitzen, solche Betrachtungen anzustellen, andern mu ndlich und schriftlich Anleitung dazu zu geben: wie in England der Zuschauer, in Deutschland aber der Patriot, die Tadlerinnen, der Biedermann, die Matrone, der alte Deutsche, der Freyma urer, u.a.m. gethan haben.20
Und obschon die Vernunft als das wichtigste Erkenntnisvermögen bei der sittlichen Erziehung des Menschen betrachtet wird, betont Gottsched auch die Bedeutung, die der Affekt und die sogenannte anschauende Erkenntnis für die sittliche Unterweisung haben – eine Argumentation, die durchaus an die moral sense-Lehre der Engländer denken lässt und eine Begründung für die besondere Eignung der Literatur auf diesem Gebiet liefert:21 Wenn wir hier der Exempel gedenken, so thun wir es deswegen, weil sie ein anschauendes Erkenntniß geben: welches bey den meisten Menschen einen tiefern Eindruck machet, als die besten Vernunftschlu sse.22
Die Tugend als abstraktes, moralisches Ideal soll vom Dichter anhand von beispielhaft handelnden Figuren dargestellt werden. Durch diese Konkretion soll die abstrakte philosophische Lehre auf den Leser einen stärkeren Eindruck ausüben und die Befolgung der Tugenden erleichtern.
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„Um nun alle diese Vorschriften desto besser zu beobachten, werden folgende Mittel gute Dienste thun. Erstlich bemu he man sich ta glich, seinen Verstand mehr und mehr aufzukla ren: und zu dem Ende lese man fleißig die Schriften der alten und neuen Sittenlehrer. [...] Hierna chst ist zweytens sehr dienlich, daß man sich die Exempel großer Leute zu Mustern vorstelle. [...] Ja selbst die Schriften der besten Poeten sind hier nicht allerdings ohne Nutzen; ob sie wohl mehrentheils die wahren Begebenheiten mit fabelhaften Umsta nden ausschmu cken. Sonderlich sind Heldengedichte und Trauerspiele diejenigen Stu cke der Dichtkunst, darinnen die meisten Bilder großer Ma nner, mit so lebhaften Farben abgeschildert werden, als ob man sie vor Augen sa he.“ (Gottsched: Ausgewählte Werke [wie Anm. 1], Bd. V/2, S. 154f.). Gottsched: Ausgewählte Werke (wie Anm.1), Bd. V/2, S. 330. „Will man nun einen Menschen allma hlich zur Bekehrung vorbereiten: so mache man den Anfang mit einem Unterrichte, von dem Unterschiede der guten und bo sen Handlungen. [...] Man zeige ihm auch an andern Beyspielen, wie unglu cklich das Laster seine Sclaven machet; und wie glu cklich hergegen die Tugendhaften werden ko nnen. Hierbey ist sehr dienlich, wenn man sehr lebhafte Beschreibungen von dem Verdrusse, Schmerze und Kummer machet, die ein unweiser Wandel gemeiniglich zu Gefa hrten hat, oder doch nach sich zieht: imgleichen wenn man die Ruhe, Zufriedenheit und Freude recht sinnlich abschildert, die einen weisen und ordentlichen Wandel begleiten.“ (Gottsched: Ausgewählte Werke [wie Anm. 1], Bd. V/2, S. 135). Gottsched: Ausgewählte Werke (wie Anm. 1), Bd. V/2, S. 115.
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Hier malet ein rechtschaffener Poet das an sich selbst scho ne Wesen der Tugend, in der Person eines tugendhaften Menschen so liebenswu rdig ab, daß es alle, die es sehen, in sich verliebt macht.23
Diese Einschätzung der Relevanz der anschauenden Erkenntnis für die moralische Unterweisung wird dabei von anderen Herausgebern Moralischer Wochenschriften geteilt. So betonen auch die Schweizer Bodmer und Breitinger, dass ein solches Exemplum der Beförderung der Tugenden bessere Dienste leiste als eine lehrhafte Unterweisung. Entsprechend räumen sie in ihrer Moralischen Wochenschrift Discourse der Mahlern diesbezüglich der Literatur den Vorrang vor dem philosophischen Traktat ein.24 Da solche Aufgaben der sittlichen Unterweisung des Menschen nun auch von der Literatur übernommen werden sollen, stellt Gottsched entsprechende Anforderungen an den Dichter. So fordert er in seiner Critischen Dichtkunst von den Poeten ein tugendhaftes Wesen.25 Die Poesie sieht Gottsched ganz im Dienste der Sittenlehre; die Pflicht des Poeten ist demgemäß die Erziehung des Menschen zur Tugend durch die Schilderung tugendhafter Vorbilder.26
3. Die Moralischen Wochenschriften Wie sah nun die Umsetzung dieser Forderungen nach einer sittlichen Unterweisung mit Hilfe der Literatur aus? Welche moralischen Konzeptionen spiegeln sich in den Journalen und mit welchen Strategien versuchen sie, die anschauende Erkenntnis der Leser zu aktivieren?
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Gottsched: Ausgewählte Werke (wie Anm. 1), Bd. VI/1, S. 163f. Vgl. Johann Jakob Bodmer/Johann Jakob Breitinger: Discourse der Mahlern. Vier Teile in einem Band. Reprographischer Nachdruck der Ausgabe Zürich 1721-1723. Hildesheim 1969, XXI. Discours: „Bei diesem Anlaß gebe ich euch eine Maxime: Daß es von einem unendlich gro ssern Nachdruck seye / wenn man die Morale durch die Exempel erlernet / als wenn sie in blossen Regeln vorgestellet wird.“ „Außer allen diesen Eigenschaften des Verstandes, die ein wahrer Poet besitzen und wohl anwenden muß, soll er auch von rechtswegen ein ehrliches und tugendliebendes Gemu the haben.“ (Gottsched: Ausgewählte Werke [wie Anm. 1], Bd. VI/1, S. 159). „Vielmehr erfordert es seine [des Poeten] Pflicht, die ihm, als einem redlichen Bu rger obliegt, die Tugendhaften auf eine vernunftige Art zu loben, ihr Gedachtniß zu verewigen, und durch die Be schreibung ihrer ruhmwurdigen Exempel, theils die zu ihrer Zeit Lebenden, theils auch die Nach kommen, zu loblichen Thaten aufzumuntern.“ (Gottsched: Ausgewählte Werke [wie Anm. 1], Bd. VI/1, S. 163).
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196 3.1 Schreibweisen der Moralischen Wochenschriften
Was Gottsched hier theoretisch empfiehlt, hat er schon einige Jahre zuvor praktisch erprobt. Und so verweist er auch im oben angeführten Zitat aus den Ersten Gründen auf die Moralischen Wochenschriften,27 einschließlich seiner eigenen Journale, als Beispiele gelungener moralischer Unterweisung. Die Vorbilder für diese Art einer praktischen Sittenlehre fand er in den beiden englischen Journalen The Tatler und The Spectator, beide herausgegeben von Joseph Addison und Richard Steele. Gottsched, der zusammen mit seiner Ehefrau Luise Adelgunde Victorie diese beiden Journale ins Deutsche übersetzte, war hinlänglich mit deren Schreibart und deren Themen vertraut. Auch die bereits vorliegenden deutschsprachigen Nachahmungen dieses Zeitschriftentypus – Bodmers und Breitingers Discourse der Mahlern sowie der Hamburger Patriot – waren ihm bekannt. Dabei orientieren sich auch die deutschsprachigen Journale an den wesentlichen Gattungsmerkmalen der englischen Vorbilder. Sie sind aus der Sicht einer Verfasserfigur geschrieben, die typenhaft einen bestimmten Charakterzug verkörpert, der wiederum namensgebend für das Journal ist. Behandelt werden Themen zum sittlichen Verhalten in Alltagssituationen ebenso wie Fragen zum rechten Sprachgebrauch oder zur Literatur. Zudem werden immer wieder (fiktive) Leserbriefe eingefügt und diskutiert.28 Vergleicht man Gottscheds Journale mit seinen deutschsprachigen Vorgängern (allen voran dem Patrioten), so fällt auf, dass Gottsched die Gattung zunehmend literarisiert. Die Themen bleiben dabei weitestgehend identisch – es werden in erster Linie Fragen des sittlichen Betragens in bestimmten Alltagssituationen besprochen. Sowohl im Patrioten als auch in Gottscheds Wochenschriften gewinnt die Verfasserfigur gegenüber den Discoursen der Mahlern deutlich an narrativer Tiefenschärfe.29 Bodmer und Breitinger setzen unter ihre Stücke jeweils den Namen eines berühmten Malers, häufig den ihres Landsmannes Hans Holbein, aber ebenso auch Albrecht Dürer, Michelangelo, Rubens und andere. Diese bekannten Namen allein müssen dabei genügen, den Verfasserfiguren eine konkrete Gestalt in der Vorstellung des Lesers zu verleihen. Biographische Hinweise sucht man in dem Text (meist) vergebens. Die Hamburger und Gottsched orientieren sich hier genauer am englischen Vorbild. Statt ihre Ausführungen bekannten Persönlichkeiten in den Mund zu legen, entwerfen sie Verfasserfiguren, deren Namen typisierend auf einen Charakterzug verweisen (der Patriot, die Tadlerinnen, der Biedermann), der ihre Betrachtungen leitet. Im ersten Stück der Journale
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Noch immer als ein Standardwerk zur Gattung der Moralischen Wochenschriften kann Wolfgang Martens’ Monographie: Die Botschaft der Tugend. Die Aufklärung und die deutschen Moralischen Wochenschriften. Stuttgart 1968, angesehen werden. Vgl. Martens: Die Botschaft der Tugend (wie Anm. 27), S. 15-36. Vgl. hierzu auch Martens: Die Botschaft der Tugend (wie Anm. 27), S. 51.
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stellen sich diese Verfasserfiguren jeweils vor und geben dem Leser Einblick in ihre Biographie.30 Der Name des Patrioten bestimmt dabei sein Anliegen, das er im ersten Stück ebenfalls begründet: die Beförderung der Tugenden in seiner Heimatstadt Hamburg. Seine Ausführungen in den einzelnen Stücken richten sich an die Bürger Hamburgs und sind eher diskursiv als narrativ angelegt. Exemplarisch möchte ich das dritte Stück näher betrachten, das die Erziehung der Kinder zum Thema hat – ein in den Moralischen Wochenschriften äußerst beliebtes Thema, das auch Gottsched in beiden seiner Journale aufgreift. Die Ausführungen sowohl bezüglich der Bedeutung der Kindererziehung als auch der Gefahren, die eine Vernachlässigung derselben mit sich bringt, werden stets allgemein gehalten, illustrierende Fallbeispiele sucht man vergebens. So verbleiben die Ausführungen stets im Pluralis, wiederholt fragt die Verfasserfigur besorgt „wie viele Eltern“ oder „wie viele Ha user“ er kenne, in denen auf die Erziehung keine Acht gegeben werde. Die Erziehung wird dabei nicht als rein private Angelegenheit betrachtet, denn „die Kinder geho ren ja den Eltern nicht, daß sie daraus machen mo gen, was sie nur wollen, sondern vielmehr der Republick, zu deren Dienste sie daraus machen mu ssen, was sie nach aller Mo glichkeit ko nnen.“31 Konkretisiert wird das Problem schließlich hin zur Ausbildung der Töchter: „Wir geben uns durchga ngig viel weniger Mu he, unsere To chter wohl aufzubringen, als unsere So hne, und glauben zudem, daß wir Recht darin haben. Wir meynen, die Wissenschafften seyn dem Frauenzimmer nichts nu tze“.32 Schließlich stellt er das Vorhaben einer „Kauffmanns-Wittwe“ vor, eine Akademie für junge Frauen zu gründen. Die Organisation und Struktur einer solchen Akademie wird im Folgenden näher beschrieben. Im Zentrum der Ausbildung soll dabei die Hauswirtschaft stehen: Sie [die To chter, Y.A.] sollen in sorgfa ltigster Pflege und Zucht gehalten, und in allen ihnen nutzbaren Ku nsten und Wissenschafften unterwiesen, hauptsa chlich aber in einer guten Haußhaltung und zu einem richtigen Begriff von GOtt und ihren Pflichten, auch zu besta ndiger Ausu bung derselben, angefu hret werden.33
Diese Überlegungen münden schließlich in die Auflistung einer Reihe von „Gesetze[n] einer bloß fu r Frauenzimmer anzurichtenden Academie, nach ihrem ersten Entwurff“.34 Was die Autoren des Patrioten hier vorlegen, ließe sich als Popularisierung einer philosophischen Sittenlehre beschreiben. Auf eine theoretische Einkleidung und philosophische Terminologie wird ebenso verzichtet wie auf die starre Form einer Deduktion
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Vgl. auch Martens: Die Botschaft der Tugend (wie Anm. 27), S. 36-56. Der Patriot, nach der Originalausgabe Hamburg 1724-1726 in drei Textbänden und einem Kommentarband. Hg. von Wolfgang Martens. Berlin 1969f., Bd. 1, Nr. 3, S. 21. Der Patriot (wie Anm. 31), S. 21. Der Patriot (wie Anm. 31), S. 22. Vgl. Der Patriot (wie Anm. 31), S. 24f.
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einzelner Tugenden. Die Stücke des Patrioten nehmen sich vielmehr konkrete Einzelprobleme vor, die erörtert werden. Die Art und Weise dieser Erörterung verbleibt jedoch auf einem rein diskursiven Level. Die Gefahren, die eine vernachlässigte Kindererziehung mit sich bringt, ebenso wie die Vorzüge einer guten Ausbildung – auch der Töchter – werden stets nur allgemein diskutiert, ohne dass narrative Schilderungen die Thesen illustrieren würden. Anders verfährt Gottsched in seinen Vernünfftigen Tadlerinnen. In seinen Stücken bringt er das zur Umsetzung, was er später in seiner Sittenlehre über das Exemplum und die anschauende Erkenntnis sagen wird. Auch Gottsched behandelt in den Vernünfftigen Tadlerinnen die Bildung der Frauen, seine Darstellungsweise des Problems ist jedoch eine gänzlich andere als im Patrioten. Eine von den Amazonen handelnde Lektüre gibt den Anstoß zu einer Reflexion über eine ganz aus Frauen bestehende Republik, die das Stück einleitet. Diese Vorstellung wird konkret-bildlich ausgeführt, so werden nicht nur sämtliche Ämter durchgespielt, die von Frauen bekleidet würden, auch die optisch veränderte Erscheinungsweise solcher Beamten wird vorgestellt: „Alle Kla ger, die vor demselben Recht suchten, kamen nicht mit Ma nteln, Degen und Sto cken, sondern mit leinenen Schu rtzen, geputzten Ko pffen und Fa chern aufgezogen.“35 Auf eine kurze Schilderung eines weiblichen Heeres folgt eine eingehende Darstellung eines rein weiblichen Gelehrtenstandes, die mit der Beschreibung von unterschiedlichen akademischen Lagern und deren Verhaltensweisen sehr konkret ausgeschmückt wird. An diese Passage schließt eine Traumsequenz an, in der die zuvor entworfene weibliche Republik als groteskes Zerrbild erscheint: Ich sahe zwar allenthalben Frauenzimmer, aber ich konte sie kaum mehr davor halten, was sie doch waren. Das macht, alle ihre Gestalt, Putz und Kleidung war vera ndert. Man hielte unter ihnen nichts mehr auf die Scho nheit des Angesichts, nichts auf die weisse Haut des Halses und der Brust, nichts auf die geschickte Stellung des Leibes. [...] Wo sind, dachte ich bey mir selbst, alle Annehmlichkeiten unsers Geschlechts? Wo ist das holdselige La cheln der Lippen? Wo sind die blinzenden Augen?36
Diese kontrastierenden Beschreibungen des gleichen Sachverhaltes – einer ausschließlich aus Frauen bestehenden Republik – werden nach Erwachen aus dem Traum von einer Reflexion der Erzählerfigur begleitet. Dabei wendet sie sich an den Leser und antizipiert eine mögliche Deutung des soeben Vorgetragenen, wobei sie klarstellt, wie sie ihre Erzählung verstanden wissen will:
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Johann Christoph Gottesched: Die Vernünfftigen Tadlerinnen. Siebendes Stück, 14. Februar 1725. In: Die Vernünfftigen Tadlerinnen 1725-1726: Hg. von Johann Christoph Gottsched, neu herausgegeben und mit einem Nachwort, einer Themenübersicht und einem Inhaltsverzeichnis versehen von Helga Brandes. Hildesheim/Zürich/New York 1993, Erster Teil 1725, S. 49f. Gottsched: Die Vernünfftigen Tadlerinnen (wie Anm. 35), Bd. 1, S. 52.
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Ganz recht! wird manche Mode-Schwester, die ta glich 6 Stunden vor dem Spiegel stehet, bey sich gedencken. Das ist eben meine Entschuldigung, wenn mir mein Vater manche scharffe Lection giebt, daß ich nicht so eitel in Kleidungen seyn soll, und es ist mir lieb, daß ihr vernu fftige Tadlerinnen auf meiner Seite stehet, und mir das Wort redet. Doch u bereilet euch nicht, liebe Freundinnen ! ihr habt mich noch nicht ausgeho ret. Ich mache einen großen Unterschied unter einer ma ßigen Bemu hung wohlgearteten Leuten zu gefallen, und einer unermu deten Begierde eitle Manns-Personen zu reitzen, zu entzu cken, zu bezaubern. [...] Jene kan mit einer wahren Tugend wohl bestehen: diese ist aber mit Recht ein Laster zu nennen.37
Gottsched misstraut offensichtlich der alleinigen Wirkung der Erzählung, deren Auslegung durch den Leser durchaus von der intendierten Belehrung abweichen könnte. Um dem vorzubeugen, fügt er der Erzählung sogleich eine Anleitung zu deren rechter Auslegung bei. Dieser Deutung der einleitenden Allegorie folgt die Schilderung zweier Beispiele, der beiden jungen Frauen Modesta und Corinna, die – ihre Namen sind sprechend – eine in ihrem Putz zurückhaltende und eine sich übermäßig schmückende Person vorstellen. Kontrastierend werden hier die zuvor unterschiedenen Formen des gebotenen, mäßigen Achtens auf die äußere Erscheinung und des lasterhaften, übermäßigen Aufputzens gegenübergestellt. Bei dem Negativbeispiel Corinnens greift Gottsched dabei auch zu persiflierenden Beschreibungsweisen, die dazu dienen sollen, das Verhalten in den Augen der Leser herabzusetzen. So heißt es in der Schilderung mit einer gewissen Komik, die auf den heutigen Leser recht schwerfällig wirken muss: Denn gehet es u ber den Haupt-Putz her. Sie schla get die Haare bald so, bald anders auf. Jetzt krauset sie einen Pusch derselben, sie schmieret sie mit Jeßmin, sie streuet den Puder daruber. Doch es steht nicht recht: Sie ka mmet alles wieder aus, und fa ngt von neuen an. Auch dieses gera th ihr nicht; Allein sie wird nicht u berdru ßig, drey biß viermahl einerley Arbeit zu thun. In anderhalb Stunden sind die Haare fertig. Darauf sieht sie nicht anders aus, als eines Mu llers Magd die einen halben Tag in dem dicksten Staube gestanden. Sie schabet den Puder mit Messern vom Gesichte, und wenn sie die Kleider ausschu ttelt, wird der Boden ihres Zimmers weisser, als die Straße ist, wenn es eine Nacht durch geschneyet hat.38
Diesem Vergleich schließt eine recht weit ausholende Feststellung an, dass das Motiv dieser Putzsucht stets in der „Begierde denen jungen Manns-Personen zu gefallen“ zu suchen sei. Begründet wird diese Kritik an der Gefallsucht mit dem Motiv der Glückseligkeit, die als Ziel hinter der Gottschedschen Tugendlehre steht. Gerade weil das Aufputzen nicht den erwünschten Erfolg eines glücklichen Eheschlusses zu bewirken vermag, lässt es sich als lasterhaft ausweisen: Denn so lange werde ich alle ihre Mu he im Putzen vor eine vergebliche und auslachenswu rdige Arbeit halten / biß man mir ein einziges Exempel zeigen wird / da eine Weibs-Person
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Gottsched: Die Vernünfftigen Tadlerinnen (wie Anm. 35), Bd. 1, S. 54. Gottsched: Die Vernünfftigen Tadlerinnen (wie Anm. 35), Bd. 1, S. 55.
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um des grossen Schmuckes halber eine vortheilhaffte Ehe getroffen / und also durch ihre Eitelkeiten glu cklich geworden.39
Diese literarischen Elemente, die in Gottscheds erster Moralischer Wochenschrift noch in das enge Korsett der rahmenden Deduktion einer sittlichen Unterweisung gezwängt sind, werden in dem zwei Jahre später erscheinenden Biedermann deutlich freier ausgestaltet. Zunehmend tritt die Erzählung in den Vordergrund, die die theoretischen Reflexionen immer weiter zurückdrängt.40 Auch aus dem Biedermann soll wieder ein Stück herausgegriffen werden, das die Erziehung der Töchter zum Thema hat; man findet ein solches im zehnten Blatt vom 7. Juli 1727. Die aus Gottscheds Sittenlehre bekannten Thesen über die Erziehung des Menschen zur Tugend werden als eine Art Rahmenerzählung in einer einleitenden Reflexion der Erzählerfigur referiert. So heißt es über die pädagogischen Methoden, mit denen Syphrosine, die „Ehegattin eines Freundes“, darum bemüht ist, ihre Töchter zu einem tugendhaften Gewissen zu erziehen: Zu diesem Ende hat sie sich ohn Unterlaß bemu het, den Verstand derselben wohl zu unterrichten. Sie hat demselben diejenigen Grundsa tze beygebracht, die nachmahls zur Richtschnur ihres Wandels dienen ko nnen. Dahin geho rt diese wohlgegru ndete Lehre, daß eines jungen Frauenzimmers gantze Ehre in ihrer Zucht und Unschuld bestehe. Diese herrliche Wahrheit hat sie denenselben nicht nur oft vorgesagt; sondern bey allen vorfallenden Gelegenheiten mit deutlichen Gru nden und Exempeln lebendiger Personen dargethan. Daß sie aber auch die Historien alter Zeiten zu diesem Ende geschickt anwendet, habe ich nur neulich aus einer augenscheinlichen Probe gesehen.41
Dabei bedient sie sich der aus Gottscheds Sittenlehre bekannten Methode des (literarischen) Exempels. Die Ausführungen der Erzählerfigur bezüglich dieser Unterweisungstechnik enthalten zugleich eine Art poetologischer Metareflexion auf die Funktion und die Schreibweise der Zeitschrift. Diese allgemeinen Beobachtungen leiten über zur Wiedergabe einer Erzählung, in deren Lektüre die Töchter Syphrosines beim Eintritt der Erzählerfigur des Biedermann gerade vertieft waren. Die Binnenerzählung handelt von einer jungen, unverheirateten Frau aus dem Bürgertum namens Charlotte, an der ein junger Prinz Gefallen findet. Der Prinz versucht Charlotte, da sie ihm für eine Heirat nicht standesgemäß erscheint, zu einer unehelichen Liebschaft zu verführen. Auf Char-
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Gottsched: Die Vernünfftigen Tadlerinnen (wie Anm. 35), Bd. 1, S. 56. Gabriele Ball hält fest, der Biedermann sei „gelehrter und […] weniger dem ‚delectare‘ verpflichtet“ (Gabriele Ball: Moralische Küsse. Gottsched als Zeitschriftenherausgeber und literarischer Vermittler. Göttingen 2000, S. 85). Für das Spektrum an behandelten Themen ist dieser Beobachtung zuzustimmen – nicht jedoch in Hinblick auf ihre Schreibart, die im Biedermann deutlich narrativer gestaltet ist. Johann Christoph Gottsched: Der Biedermann. Faksimiledruck der Originalausgabe Leipzig 1727-1729, mit einem Nachwort und Erläuterungen. Hg. von Wolfgang Martens, Stuttgart 1975, S. 37.
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lottes Zurückweisung hin lässt er sich immer neue Listen einfallen, durch die er Charlotte zu verführen versucht – doch alle Anstrengungen sind vergeblich. Die Schilderung dieser immer neuen Verführungsversuche nimmt beträchtlichen Raum ein, wobei Gottsched der Erzählung zusätzliche Spannung verleiht, indem er sich eines Mittels bedient, das sich noch heute allenthalben in der Populärkultur findet: Er gestaltet seine Erzählung als Fortsetzungsgeschichte, die erst im übernächsten Stück des Biedermann vom 21. Juli zu Ende geführt wird. Dieses Ende geht zu Gunsten Charlottes aus: So sind ihre Standhaftigkeit und Tugend einem Hofbedienten des Prinzen zu Ohren gekommen, der Charlotte heiratet und „durch diese Heyrath gerieth sie in den glu cklichsten Ehstand“. Mit diesem glücklichen Ausgang der Binnenerzählung endet zugleich auch das Stück des Biedermann.42 Gottsched ist hier, anders als im oben besprochenen Stück der Vernünfftigen Tadlerinnen, nicht mehr auf eine Auslegung der Erzählung für den Leser angewiesen. Die Erzählung vermag für sich zu stehen und die intendierte Tugendlehre verständlich zu transportieren. Die breite Ausgestaltung der Erzählung, insbesondere der wechselnden Schicksalsfälle im Leben Charlottes vermögen überdies, den Leser emotional anzusprechen und die Sittenlehre eher über den Affekt als über den Verstand zu transportieren. 3.2 Der Religions- und Moraldiskurs in den Moralischen Wochenschriften Während sich der neue philosophische Moraldiskurs in England recht ungehindert ausbreiten kann, eröffnet das neue literarische Medium Gottsched in Deutschland, wo die Kirchen und theologischen Fakultäten noch ungleich größeren Einfluss genossen und man in Halle zwei Jahre zuvor, 1723, die Vertreibung Christian Wolffs aufgrund seiner rationalistischen Philosophie erfolgreich betrieben hatte, erstmalig die Möglichkeit, vor einem größeren Publikum im literarisch-erzählenden Modus Fragen der Moral jenseits theologischer Festschreibungen zu behandeln. Zwar ähnelt das Themenspektrum den englischen Vorbildern. Gerade wenn man den Blick aber auf die Behandlung theologischer Fragen oder die Darbietung rationalistischmoralischer Argumentationen richtet, fallen die Unterschiede zwischen den englischen und den deutschen Journalen deutlich ins Auge. So können bei Gottsched und dem bereits ein Jahr zuvor erschienenen Hamburger Patrioten im Vergleich zu den Engländern auffällige Übereinstimmungen gefunden werden, die den politischen Verhältnissen in Deutschland Rechnung tragen. Man kann beobachten, dass die Stücke des Spectator in ihren rationalistisch-philosophischen Reflexionen über Tugend und Sünde ohne eine Rechtfertigung ihrer Methode angesichts offenbarungstheologischer Positionen und Vorrangstellungen auskommen. Die eigene Methode wird selbstbewusst propagiert,
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Vgl. Gottsched: Der Biedermann (wie Anm. 41), S. 48.
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ohne dass eine ängstliche Selbstbeschränkung angesichts theologischer Wahrheiten eingeräumt werden müsste.43 Die Vorsicht, mit der die ersten Herausgeber Moralischer Wochenschriften in Deutschland ihre Texte verfassen, kann man bereits am Hamburger Patrioten ablesen. Schon in der – für die Gattung typischen – Vorstellung der Verfasserfigur in der ersten Ausgabe betont diese ihre gottesfürchtige Bildung.44 Und im vierten Stück, in dem die Beschreibung eines Patrioten gegeben wird, nimmt der Gottesdienst neben der Vaterlandstreue und der Achtung der Obrigkeit eine so wichtige Stellung ein, dass der Begriff auf den „christlichen Patrioten“ hin präzisiert wird.45 Dabei wird zwischen Patriot und Christ unterschieden, die gleichsam als die Personifikationen von Glaubenserkenntnis und Vernunfterkenntnis erscheinen. Wird der Patriot und damit die vernünftige Sittenlehre auch klar dem Christen subordiniert, so wird doch auf dessen unterstützende Funktion für die sittliche Unterweisung hingewiesen: „Glaubet aber auch, daß die wahre Gottes-Gelahrtheit gar wohl eine kluge aus der gesunden Vernunfft fliessende SittenLehre, als eine nutzbare Dienerin, hinter sich mo ge hertreten lassen.“46 Hier bedient man sich der gleichen Argumentationsfigur einer Komplementarität von Offenbarung und Vernunfterkenntnis, wie sie die eingangs vorgestellten philosophischen Moraldiskurse im Deutschland der Frühaufklärung auszeichnet. Überdeutlich zeichnet sich zugleich auch das Werben um Akzeptanz für die philosophisch-rationalistische Morallehre ab. Gottsched wagt auch Kritik an (falschen) religiösen Praktiken. Ein Stück der Vernünfftigen Tadlerinnen geht mit der pietistischen Auslegung der Rechtfertigungslehre scharf ins Gericht und erinnert damit an ein Thema, das die Gottschedin in einer anderen literarischen Gattung, dem Drama Die Pietisterey im Fischbein-Rocke, ebenfalls bearbeitet hat. So berichtet Calliste, eine der Vernünfftigen Tadlerinnen, im Stück vom 9. Mai 1725 von einem geizigen und unbarmherzigen Kaufmann, der stets nur danach trachtet, sein Geld zu vermehren und zur Erlangung dieses Ziels auch vor Betrug nicht zurückschreckt. Dabei erweist sich der Kaufmann als äußerst frommer Mann, der davon überzeugt ist, dass allein sein religiöser Eifer seine Übeltaten ausgleichen würde:
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In der Ausgabe des Spectator vom 22. November 1712 findet sich etwa eine Beweisführung, die die Existenz Gottes aus der Vollkommenheit aller irdischer Lebewesen, wie man sie empirisch untersuchen kann, herleitet, ohne dabei einer offenbarungstheologischen Rechtfertigung zu bedürfen. Vgl. The Spectator, Nr. 543, 22.11.1712. In: Joseph Addison/Richard Steele: The Spectator. Repr. Hg. von Gregory Smith. London 1950f., Bd. 4, S. 211-214. Vgl. Der Patriot (wie Anm. 31), Nr. 1, S. 1-8. Vgl. Der Patriot (wie Anm. 31), Nr. 4, S. 26f. Der Patriot (wie Anm. 31), Nr. 4, S. 27.
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[…] allein ob er gleich die ganze Woche u ber seinen Nechsten betru get, in soweit sich solches thun la st, ohne die Gesetze zu beleidigen; so schmeichelt er sich doch, daß die a usserliche Andacht davon er des Sonntags Staat machet, nebst der Enthaltungen von allem dem was ihm sein Geitz versaget, den Ho chsten schon vermo gen werde, ihm alle seine Su nden zu u bersehen.47
Unmissverständlich wird hier Kritik an einer Auslegung der Rechtfertigungslehre geübt, wonach allein die durch Frömmigkeit bewirkte Gnade Gottes die Sünden vergeben könne, ohne dass die Handlungen des Menschen in Betracht gezogen würden.48 Dabei führen diese Beobachtungen nicht zu einer Ablehnung jeglicher Religion, sondern zur Korrektur einer falsch verstandenen Frömmigkeit: Woher kommt dieser Selbstbetrug? Aus dem unrichtigen Begriffe den die meisten von Tugenden und Lastern haben. Die wahre Tugend ist eine Fertigkeit dem go ttlichen Willen der auf unsre und aller andern Menschen Wohlfahrt abzielet nicht nur in diesem oder jenem, sondern in allen Stu cken ein Gnu gen zu thun.49
Gottsched wagt sich in manchen Stücken noch etwas weiter vor. So mündet das 1726 erschienene 16. Stück der Vernünfftigen Tadlerinnen, das als Kritik an der Freidenkerei angelegt ist, in der Unterscheidung von Religion und Aberglaube, der sich eine rationalistische Deduktion einer Rangfolge der Religionen anschließt, in der das Christentum als vernünftigste Religion den ersten Rang einzunehmen vermag. Das Christentum duldet hier die Vernunft nicht mehr nur als Dienerin in seinem Schatten, sondern die Vernunft wird zum inhärenten Bestandteil des Christentums selbst erhoben, der dessen Bedeutung gerade ausmache. Deutlich zeigt sich hier eine Abgrenzung des Moraldiskurses der Moralischen Wochenschriften nach zwei Seiten: Sowohl die ausschließlich auf Offenbarungsglauben und Frömmigkeit beruhenden, traditionellen Spielarten der Theologie werden abgelehnt als auch der im Gewand der Freidenkerei auftretende, sich besonders in England eines wachsenden Zuspruchs erfreuende Atheismus wird zurückgewiesen. Die Positionierung erfolgt in der Mitte zwischen beiden Extremen als ausgleichender dritter Weg zwischen christlichem (Offenbarungs-)Glauben und vernunftbegründeter Erkenntnis. Vernunft und Offenbarungsreligion werden – dem Vorbild Leibnizens und Wolffs folgend – miteinander harmonisiert. Das Christentum zieht dabei seine Berech tigung aus dem Umstand, dass es gerade die „vernufftigste aller Religionen“ sei – dass
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Gottsched: Die Vernünfftigen Tadlerinnen (wie Anm. 35), Bd. 1, S. 151. „Sein eigenes Gewissen muß ihm nothwendig diese Dinge vorhalten: allein er sagt daß dieses Wu rckungen der menschlichen Schwachheit seyn, und daß doch kein Mensch ohne Fehler und Gebrechen gefunden werde. Bey dem allem fa hrt er fort eben die Person zu spielen und die Andacht mit den a rgsten Lastern zu vermischen.“ (Gottsched: Die Vernünfftigen Tadlerinnen [wie Anm. 35], Bd. 1, S. 152). Gottsched: Die Vernünfftigen Tadlerinnen (wie Anm. 35), Bd.1, S. 152.
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es, anders als die freidenkerische Religionskritik unterstellt, gerade nicht vernunftfeindlich sei, sondern in der Vernunft gründe.50 Damit ist die theologische Positionierung von Gottscheds Moralischen Wochenschriften im Bereich der sog. „Übergangstheologie“ zu verorten, die für die Frühaufklärung prägend war und vor allem dadurch gekennzeichnet ist, dass sie zwischen dem Offenbarungsglauben der Orthodoxie (und des Pietismus) und der neuen Vernunftbezogenheit Wolffs zu vermitteln versucht.51 Gottsched neigt sich dabei zunehmend dem theologischen Wolffianismus zu, was nicht zuletzt seiner breiten Rezeption der Wolffschen Schriften und seiner außerordentlichen Hochschätzung dieses Denkers geschuldet sein dürfte. Dass Gottsched in seiner theologischen Positionierung zunächst noch schwankte, lässt sich anhand der Liste seiner in den Vernünfftigen Tadlerinnen erschienenen Frauenzimmerbibliothek aufzeigen, die in der zweiten Auflage eine gründliche Überarbeitung erfahren hat und nun teilweise gänzlich andere Werke enthält. So wurden in der ersten Auflage von 1725 noch die Werke Vom wahren Christenthumb von Johann Arndt, Kleine Postille des Hallenser Pietisten August Hermann Francke sowie Irrdisches Vergnügen in Gott des Physikotheologen Barthold Heinrich Brockes empfohlen.52 In der zweiten Auflage von 1738 sind diese gegen Werke Johann Lorenz von Mosheims, des vielleicht bedeutendsten Übergangstheologen,53 Reinbecks54 sowie Wolffs selbst ausgetauscht.55 Dass sich die Waage bei Gottsched zunehmend zu Gunsten des Rationalismus zu neigen scheint, ist in dem breiten Raum, den er den Ausführungen zur Vernunft und zur Anwendung einer vernunftgeleiteten Methode der Morallehre in seinen Schriften ein-
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Diese Postulierung des Christentums als Vernunftreligion erfährt in den folgenden Jahrzehnten eine Art Kanonisierung. So schreibt Zedlers Universallexikon im Jahr 1742 unter dem Artikel „Religion, christliche“, dass das Christentum „höchst vernünfftig“ sei. (Vgl. Wolf-Heinrich Schäufele: Von „Aberglaube“ bis „Zweifel“. Grundsätze theologischer Frühaufklärung im Spiegel von Zedlers „Universal-Lexicon“ (1732-1754). In: Aufgeklärtes Christentum. Beiträge zur Kirchen- und Theologiegeschichte des 18. Jahrhunderts. Hg. von Albrecht Beutel, Volker Leppin, Udo Sträter und Markus Wriedt. Leipzig 2010, S. 11-22, hier S. 21f.). Vgl. Beutel: Kirchengeschichte im Zeitalter der Aufklärung (wie Anm. 10), S. 96-98. Prägnant formuliert er auf Seite 97: Die Übergangstheologen versuchten „die kooperative Harmonie von Vernunft und Offenbarung zu erweisen.“ Vgl. Gottsched: Die Vernünfftigen Tadlerinnen (wie Anm. 35), Bd. 1, S. 184. Vgl. Beutel: Kirchengeschichte (wie Anm. 10), S. 102-104. J. G. Reinbeck war zugleich Gründer der Societas Alethophilorum, deren Ziel es war, „die Wolffische Philosophie zu popularisieren“, und die Gottsched zu ihren Mitgliedern zählte. (Vgl. Beutel: Kirchengeschichte [wie Anm. 10], S. 108). Vgl. die Frauenzimmerbibliothek im 23. Stück der ersten Auflage in: Gottsched: Die Vernüfftigen Tadlerinnen (wie Anm. 35), Bd. 1, S. 183f. mit der Frauenzimmerbibliothek der zweiten Auflage in: Gottsched: Die Vernünfftigen Tadlerinnen (wie Anm. 35), Bd. 2, Anhang, S. 199f. Vgl. hierzu auch Ball: Moralische Küsse (wie Anm. 40), S. 72-75.
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räumt, schon vorgezeichnet, während er es meist bei einem Verweis auf die Offenbarung belässt, ohne je dogmatische oder exegetische Reflexionen in seine Ausführungen mit einzubinden. Was bei Gottsched und den frühen Moralischen Wochenschriften noch einer Vorsicht gegenüber den kirchlich-theologischen Institutionen geschuldet ist und – bei dem Theologen Gottsched zumindest – einem ernsthaften Bemühen um die Versöhnung von religiöser und rationalistisch-philosophischer Morallehre entsprungen sein mag, hat sich im Laufe der zunehmenden Popularisierung und Trivialisierung des Mediums zu einem starren Topos entwickelt, der mehr Worthülse zu sein scheint als aufrichtiger Versuch, religiöse Überzeugungen und Anleitung zur Lebenspraxis miteinander zu verbinden. So zumindest sieht es ein führender Denker der Aufklärung, der in seinen Berliner Literaturbriefen im Sommer 1759 den Nordischen Aufseher einer geradezu vernichtenden Kritik unterzieht. Gotthold Ephraim Lessing, bekannt für seine eingehende Auseinandersetzung mit den Offenbarungsreligionen ebenso wie für seinen durchaus kritischen Blick auf dieselben, schreibt über das Kopenhagener Journal: Die Orthodoxie ist ein Gespötte worden; man begnügt sich mit einer lieblichen Quintessenz, die man aus dem Christentume gezogen hat, und weichet allem Verdachte der Freidenkerei aus, wenn man von der Religion überhaupt nur fein enthusiastisch zu schwatzen weiß. Behaupten Sie z. E. daß man ohne Religion kein rechtschaffner Mann sein könne; und man wird Sie von allen Glaubensartikeln denken und reden lassen, was Sie immer wollen.56
Diese Einschätzung der Bemühungen, Offenbarung und Vernunft miteinander zu versöhnen, spiegelt Lessings Haltung sowohl den Spielarten einer „Übergangstheologie“ als auch der daraus hervorgehenden Neologie gegenüber wider. Dass er die Orthodoxie einer – beide verwässernden – Harmonisierung von Vernunft und Offenbarung vorzieht, macht er auch in einem fünfzehn Jahre später verfassten Brief an seinen Bruder deutlich: Darin sind wir einig, daß unser altes Religionssystem falsch ist: aber das möchte ich nicht mit Dir sagen, daß es ein Flickwerk von Stümpern und Halbphilosophen sei. Ich weiß kein Ding in der Welt, an welchem sich der menschliche Scharfsinn mehr gezeigt und geübt hätte, als an ihm. Flickwerk von Stümpern und Halbphilosophen ist das Religionssystem, welches man jetzt an die Stelle des alten setzen will; und mit weit mehr Einfluß auf Vernunft und Philosophie, als sich das alte anmaßt. Und doch verdenkst Du es mir, daß ich dieses alte verteidige?57
Was als Fortschritt angesichts einer verhärteten, vernunftfeindlich orientierten Theologie geschätzt wurde, der es noch Anfang der 20er Jahre des 18. Jahrhunderts gelang, ei-
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Gotthold Ephraim Lessing: Briefe, die neueste Literatur betreffend, 1759-1765. In: Ders.: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hg. von Wilfried Barner u.a. Frankfurt a.M. 1989ff., hier: Bd. 4: Werke 1758-1759, 49. Literaturbrief, S. 602. Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe. Hg. von Wilfried Barner u.a. Frankfurt a.M. 1989ff., Bd. 11/2: Briefe von und an Lessing 1770-1776, Brief Nr. 957, 2.2.1774, S. 615f.
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nen Philosophen wie Christian Wolff aus Halle zu vertreiben, wird schon wenige Jahrzehnte später von dem Aufklärer Lessing in seiner sowohl Philosophie als auch Theologie korrumpierenden Wirkung entlarvt. Dass Lessing seine Gedanken letztendlich im Fahrwasser dieser von den Frühaufklärern popularisierten Akzeptanz des philosophisch-rationalistischen Denkens entfalten und artikulieren konnte, sollte dabei nicht vergessen werden.